Romane auf der Bühne
Form und Funktion von Dramatisierungen im deutschsprachigen Gegenwartstheater
0415
2014
978-3-8233-7852-5
978-3-8233-6852-6
Gunter Narr Verlag
Dr. Birte Lipinski
Was in den Feuilletons heiß und zuweilen polemisch diskutiert wird, ist inzwischen aus den Spielplänen der meisten deutschsprachigen Theater nicht mehr wegzudenken: Im Gegenwartstheater werden immer mehr Romane auf die Bühne gebracht. Doch was passiert beim Dramatisieren eines Romans für die Bühne? In welchem Verhältnis steht der Ausgangstext zum daraus entstehenden Theaterstück? Unterscheiden sich Romandramatisierungen von anderen Stücken der Gegenwartsdramatik? Und wie kommt es zu der wachsenden Zahl solcher Adaptionen seit den 1990er Jahren? Diese Studie ordnet das Phänomen in die gegenwärtige Theaterlandschaft und Dramenproduktion zwischen Literaturtheater und Postdramatik ein. Sie unternimmt in fundierten Analysen eine ausführliche Gegenüberstellung von Roman und Drama, die in einem Beschreibungsmodell für weitere Untersuchungen von Dramatisierungen münden. Nicht zuletzt leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zur Gattungstheorie, zu einer transgenerischen Erzähltheorie und zu einer historisch fundierten Intertextualitätsforschung.
<?page no="0"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 43 Birte Lipinski Romane auf der Bühne Form und Funktion von Dramatisierungen im deutschsprachigen Gegenwartstheater <?page no="1"?> Romane auf der Bühne <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 43 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Birte Lipinski Romane auf der Bühne Form und Funktion von Dramatisierungen im deutschsprachigen Gegenwartstheater <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Norbert Wendel als „ Mittler “ in der Inszenierung der „ Wahlverwandtschaften nach Goethe “ , Regie: Albrecht Hirche, Oldenburgisches Staatstheater. Foto: © Andreas Etter. © 2014 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72 070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6852-6 <?page no="5"?> Dank Die vorliegende Studie wurde im Sommer 2011 von der Fakultät für Sprach- und Kulturwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation angenommen und im darauffolgenden Jahr dort verteidigt. Zur Veröffentlichung wurde sie leicht überarbeitet. Ich freue mich, sie in der Reihe Forum Modernes Theater publizieren zu können. Für die intensive Betreuung meiner Arbeit, für die vielen hilfreichen Anregungen und den fachlichen Rat möchte ich Frau Professor Sabine Doering danken, deren Begeisterung für die Literatur und das Theater ich bereits als Studentin kennenlernen durfte. Ihr Vertrauen hat mich stets motiviert. Mein Dank gilt außerdem den weiteren Gutachtern dieser Dissertation, Frau Professor Sabine Kyora und Herrn Professor Hans-Peter Bayerdörfer. Für meine Arbeit war der Kontakt zu verschiedenen Theatern von besonderer Bedeutung. Die Einblicke in den Entstehungsprozess der Dramatisierungen und ihrer Inszenierungen sowie die vertrauensvolle Überlassung auch unveröffentlichter Manuskripte haben meine Studien in dieser Form erst ermöglicht. Das literaturwissenschaftliche Doktorandenkolloquium der Fakultät für Sprach- und Kulturwissenschaften an der Universität Oldenburg war über die gesamte Dauer der Arbeit an der Dissertation ein Forum für offene Fragen und konstruktive Kritik und hat dieses Projekt damit vorangebracht. Viele Freunde und Kollegen haben die Entstehung dieser Dissertation mit ihren Ideen, Anmerkungen und kritischer Lektüre begleitet. Ihnen verdanke ich auch persönlich viel. Hervorheben möchte ich Cornelia Leune, Uwe Schwagmeier, Anne Wallrath und insbesondere Thomas Boyken, die zum Entstehen dieser Arbeit entscheidend beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern, Iris und Reinhard Lipinski, für den liebevollen Rückhalt und das Vertrauen, das sie mir stets schenken. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Bonn, Januar 2014 Birte Lipinski V <?page no="7"?> Inhaltsübersicht Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1. Dramatisierungen im deutschsprachigen Gegenwartstheater: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.2 Die Romandramatisierung: eine Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3 Fragestellungen und Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Das Phänomen Romandramatisierung: Spannungsfelder und Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1 Dramatisierung als Wiederholung: Identität und Differenz . . . 27 2.1.1 Prinzipien von Originalität und Epigonalität . . . . . . . . . . 29 2.1.2 Merkmale und Leistungen der Wiederholung: Identität und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1.3 Wiederholung und Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1.4 Bedeutungskonstruktion durch Wiederholung als Verfahren in Literatur und Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.1.5 Rezeptionssicherheit und -unsicherheit in der Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.2 Dramatisierung als Gattungswechsel: epische und dramatische Strukturmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.2.1 Problematik und Notwendigkeit von Gattungsbegriffen 44 2.2.2 Gattungsmerkmale von Roman und Drama . . . . . . . . . . . 50 2.2.3 Gemeinsamkeiten von Roman und Drama: die Geschehensdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2.4 Unterschiede zwischen Roman und Drama: die mediale Ausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.2.5 Gattungswechsel: Positionen aus der Intertextualitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.3 Dramatisierung und Alterität: historische und kulturelle Nähe und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.3.1 Die Mittlerfunktion des Textes: Adaptionen und historisches Textverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.3.2 Intertextualität und kulturelle Alterität . . . . . . . . . . . . . . . . 72 <?page no="8"?> 2.3.3 Vom Chronotopos zur Dialogizität: Beschreibungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Analysemethoden für die vergleichende Untersuchung von Dramen und Erzählliteratur: ein methodischer Gattungswechsel 85 3.1 Dramen in erzähltheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.2 Erzähltexte in dramentheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . 102 4. Vergleichende Analysen von Romanen und ihren Dramatisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.1 Thomas Mann und John von Düffel: Buddenbrooks (1901 und 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.1.1 Situierung des Geschehens und Handlungsablauf . . . . . 119 4.1.2 Figurenauswahl und Figurenzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . 128 4.1.3 Erzählerkommentare und die Darstellung der Tony Buddenbrook: von der ‚ Gans ‘ zur tragischen Figur . . . . 131 4.1.4 Monologische Elemente in der Dramatisierung von Buddenbrooks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.1.4.1 Auktorialer Monolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.1.4.2 Traditioneller dramatischer Monolog . . . . . . . . . . 144 4.1.4.3 Briefe als Monologe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4.1.5 Innenansichten und Sensibilisierung des Thomas Buddenbrook: eine Verfallsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.1.6 Christian Buddenbrook als Entertainer und Narr: intermediale Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.1.7 Metareferenzen und das Schauspielen im Schauspiel . . 160 4.1.8 Buddenbrooks im Gattungswechsel: epische Verfallsstrukturen und eine dramatische Lösung . . . . . . . . . . . . . . 164 4.1.9 Exkurs: Buddenbrooks in einer Dramatisierung von Tadeus Pfeifer (1976/ 77) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4.2 E. T. A. Hoffmann und Thomas Jonigk: Die Elixiere des Teufels (1815/ 16 und 2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.2.1 Handlungsablauf und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4.2.2 Personal und Figurenzeichnung: das Komische und das Schauerliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4.2.3 Künstlichkeit: Intertextualität und Sprachspiel . . . . . . . . . 191 4.2.4 Der Mönch als Künstler: Identität, Individualität und Versuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4.2.5 Dramatische Innenansichten: Gedanken und Gefühle . . 201 VIII <?page no="9"?> 4.2.6 Das Spiel im Spiel im Spiel: Wiederholungsstrukturen und metareflexive Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 4.3 Johann Wolfgang von Goethe und Albrecht Hirche: Die Wahlverwandtschaften (1809 und 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 4.3.1 Die Wahlverwandtschaften aktualisiert: Verortung in Zeit und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4.3.2 Struktur und Handlungsaufbau: eine Beschleunigung . 224 4.3.3 Personal und Figurenzeichnung: Beziehungsmuster . . . 229 4.3.4 Symbolische Strukturen im Roman, im Drama und auf der Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4.3.5 Filmische Erzählmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4.3.6 Intertextualität als Metaebene: die Selbstthematisierung der Literaturadaption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 4.3.7 Die Bühne als Ort des Experiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 4.4 Alfred Döblin und Frank Castorf: Berlin Alexanderplatz (1929 und 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4.4.1 Die Dramatisierung als Bühnenfassung . . . . . . . . . . . . . . . 260 4.4.2 Aufbau und Handlungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 4.4.3 Figurenzeichnung und Säkularisierung der Handlung . 266 4.4.4 Konsequente Aktualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4.4.5 Erzählsituation und Eingang der montierten Texte des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.4.5.1 Kohärenz der Handlung: Chronologie, Zeitstrukturen, Orte und deren Auswirkungen auf die Handlungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 4.4.5.2 Bruch der Kohärenz: Wechsel der Erzählebene, Simultanhandlungen und die Desemantisierung von Sprache und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4.4.6 Politische Interpretation: Endspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4.5 Theodor Fontane, Amélie Niermeyer, Sandra Schüddekopf, Edith Ehrhardt und andere: Effi Briest (1894/ 95 und 1999 ff.) . 293 4.5.1 Opfer der Gesellschaft: die Dramatisierung von Amélie Niermeyer und Thomas Potzger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 4.5.2 Retrospektive Gegenüberstellung: die Dramatisierung von Sandra Schüddekopf und Alexandra Henkel . . . . . . 312 4.5.3 Pubertät und Pädagogik: die Dramatisierung von Edith Ehrhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4.5.4 „ Effi, wie du nur sprichst. Sonst sprachst du doch ganz anders. “ Weitere Dramatisierungen von Effi Briest . . . . . 329 IX <?page no="10"?> 4.5.5 Symbolik, Allusion und Historizität: eine vergleichende Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 4.6 Nach dem Gattungswechsel: Ergebnisse der Analysen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 4.6.1 Handlungsauswahl und Kürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4.6.2 Grobstruktur: Aufteilung in Szenen und Akte . . . . . . . . . 347 4.6.3 Spannungsverlauf und Informationsvergabe . . . . . . . . . . 349 4.6.4 Zeitstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 4.6.5 Orte, Ortswechsel und Raumkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 4.6.6 Personal: Anzahl, Auswahl und Charakterisierung . . . . 352 4.6.7 Ersatz des Erzählers: Stimme und Modus (Distanz und Fokalisierung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 4.6.8 Redeformen: Dialogstrukturen, konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 4.6.9 Darstellung von Gefühlen und Gedanken . . . . . . . . . . . . . 360 4.6.10 Symbolsystem, Leitmotive und Allusionen . . . . . . . . . . . . 363 4.6.11 Form der Nebentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 4.6.12 Grenzen der Darstellbarkeit: Phantastisches, Wunderbares, mythische Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 4.6.13 Intertextualität und Metareferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 5. Wiederholung, Gattungswechsel und Alterität: Ergebnisse . . . . . 374 5.1 Wiederholung: Autorschaft zwischen Wiedererkennbarkeit und Neudeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 5.2 Gattungswechsel: Veränderungen zwischen Roman und Dramatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 5.3 Alterität: zwischen Annäherung und Fremdheit . . . . . . . . . . . . . 387 5.4 Formen der Adaption: Verbreitung in der Gegenwartsdramatik und Kriterien für ihre Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 6. Das Phänomen Romandramatisierung im Kontext . . . . . . . . . . . . . . 403 6.1 Voraussetzungen in der Theater- und Mediengeschichte . . . . . 403 6.1.1 Rückgriffe auf die Formsprache von Drama und Film des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 6.1.2 Literatur und Theater: zur Verortung der Romandramatisierung im aktuellen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 6.2 Die Funktion der Dramatisierung in der Gegenwartsdramatik und der gegenwärtigen Theaterpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 X <?page no="11"?> 6.2.1 Textexterne Gründe für die Beliebtheit der Romandramatisierung: institutioneller Rahmen, Situation der Gegenwartsdramatik, Publikumszusammensetzung . . . 418 6.2.2 Textinterne Funktionspotentiale der Dramatisierung: Zitatlust, Intertextualität und Aufführung . . . . . . . . . . . . . 427 6.3 Von der Einzeltextreferenz zur Stoffgeschichte: Dramatisierung als Verselbstständigung einer Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 6.3.1 Zur Rolle der Adaption in der Verwendung des Terminus ‚ Stoff ‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 6.3.2 Die Auflösung von Chronologie und Hierarchie und die Wahrnehmung des Stoffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 6.3.3 Begünstigende Faktoren für die Wahrnehmung als Stoff 437 7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 I. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 a. Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 b. Dramatisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 c. Filme und Hörspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 d. Weitere Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 II. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 III. Journalistische Texte und Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 a. Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 b. Interviews und Veröffentlichungen der Theater . . . . . . . . . . . 465 c. Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 XI <?page no="13"?> 1. Dramatisierungen im deutschsprachigen Gegenwartstheater: Einleitung Früher habe ich mich immer gesehnt, einmal hinter die Kulissen zu kommen - ja, jetzt bin ich da ziemlich zu Hause, das kann ich sagen. Stellt euch vor . . . (Christian Buddenbrook in John von Düffel, Buddenbrooks, S. 53) Im November 2008 prangte auf dem Titelblatt der Zeitschrift Theater heute ein großes Portraitfoto von Thomas Mann. „ Dramatischer Nachwuchs “ war darunter als Schwerpunktthema der Ausgabe zu lesen. Dieser zunächst widersprüchlichen Kombination war die Erklärung beigefügt: „ Thomas Mann, Kafka, Dostojewski, Camus, Koeppen, Kehlmann, Roche - Romane erobern die Bühne “ . 1 Denn mit Recht kann Thomas Manns oben zitierte Figur Christian Buddenbrook inzwischen von sich behaupten, auf dem Theater ‚ ziemlich zu Hause ‘ zu sein. Allein in der Spielzeit 2008/ 2009 wurde Thomas Manns Roman Buddenbrooks an 14 Theatern inszeniert und stand mit 268 Aufführungen auf Platz acht der meistgespielten Stücke der Saison. Thomas Manns postume Karriere als Theaterautor vollzieht sich rasant, und auch der übrige ‚ Nachwuchs ‘ aus der Sparte der Romanciers kann sich nicht über mangelndes Interesse beklagen. Zurzeit erfreuen sich Aufführungen von Romanen auf Bühnen im deutschsprachigen Raum besonders großer Beliebtheit. Mit der textlichen Basis solcher Bühnenstücke befasst sich diese Arbeit. Dabei soll analysiert werden, ob Romandramatisierungen spezifische Darstellungsformen entwickeln und ob und inwiefern ihre Form durch den Gattungswechsel und das intertextuelle Verhältnis bestimmt ist. Ihre Erscheinungsformen werden kontextualisiert und dabei in ihrer Funktion innerhalb der Gegenwartsdramatik und im Gegenwartstheater bestimmt. Schon rein quantitativ ist die Entwicklung der Romandramatisierungen seit den 1990er Jahren bemerkenswert. Die Werkstatistik mit dem Titel Wer spielte was? , in der der Deutsche Bühnenverein alljährlich die meistgespielten Stücke 1 Theater Heute 11 (2008). S. 1. 1 <?page no="14"?> der Spielzeit auswertet, zeichnet den Trend ab. Ein Vergleich der Jahrgänge 1990/ 1991 und 2008/ 2009 macht deutlich, dass sich in der Spielzeit 1990/ 1991 zwar epische Texte unter den meistgespielten Stücken finden, doch dabei handelt es sich vorrangig um Bühnenadaptionen von Märchen für das Kindertheater, das traditionell auf epische Stoffe zurückgreift und durch Weihnachtsstücke schnell große Aufführungszahlen erlangt. Dass es also Das Dschungelbuch und Pippi Langstrumpf auf Platz fünf und zwölf schaffen und gleich sieben Märchenadaptionen unter den Stücken mit den höchsten Aufführungszahlen verzeichnet sind, vermag kaum zu überraschen. Dramen auf Basis epischer Texte, die nicht dem Kindertheater zuzurechnen sind, tauchen unter den häufig gespielten Dramen nicht auf. 2 Das heißt nicht, dass keine Romandramatisierungen gespielt wurden; allerdings kommen sie selten vor. So wird Theodor Fontane in der Werkstatistik desselben Jahres zwar angeführt, aber nur mit einer einzigen Inszenierung: einer Lesung lyrischer Werke. Goethe ist fast ausschließlich als Dramenautor präsent, hinzu kommen eine Inszenierung der Wahlverwandtschaften und drei einer Bearbeitung von Reineke Fuchs. Thomas Mann ist lediglich mit drei Inszenierungen eines zum Monolog umgearbeiteten Kapitels aus dem Zauberberg, dem Abschnitt „ Fülle des Wohllauts “ , vertreten. Zu Kafkas epischen Texten sind immerhin acht Inszenierungen angegeben. 3 Ganz andere Werte für die Dramatisierung epischer Werke zeigt die Statistik für die Spielzeit 2008/ 2009. Unter den ersten 15 Plätzen der meistgespielten Stücke sind gleich drei Adaptionen zu finden: auf Platz acht Thomas Manns Buddenbrooks in der Dramatisierung durch John von Düffel, auf Platz zwölf Goethes Werther und auf Platz 14 Mondscheintarif von Ildikó von Kürthy, jeweils in verschiedenen Adaptionen. 4 Buddenbrooks übertrifft damit so beliebte Stücke wie Schillers Kabale und Liebe oder Die Räuber. Die Aufführungszahlen zum Werther rücken nahe an die von Faust I heran; unter den Texten Heinrich von Kleists wird Michael Kohlhaas häufiger gespielt als Das Käthchen von Heilbronn oder Amphitryon und steht auf Platz 50 der Stücke mit den höchsten Aufführungszahlen. Fontanes Effi Briest erreicht respektable neun Inszenierungen; die Liste der Inszenierungen nach epischen Texten 2 Abgeschlagen auf Platz 54 liegt mit 188 Aufführungen im Jahr 1990/ 91 eine Adaption von Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry, die sicher sowohl für erwachsenes Publikum wie für Kinder gedacht ist und insofern einen Grenzfall darstellt. Der Befund ist kein Einzelfall; die umliegenden Jahrgänge zeichnen dasselbe Bild. Vgl. Wer spielte was? Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins 44 (1990/ 91). S. 230. 3 Vgl. ebd. S. 131, 136 f., 173 und 158. 4 Vgl. Wer spielte was? 62 (2008/ 09). S. 330. 2 <?page no="15"?> Franz Kafkas füllt, ebenso wie die zu Romanen Thomas Manns, beinahe eine ganze Seite. 5 Diesem auffälligen Interesse des Theaters für epische Texte begegnen Rezensionen in den Feuilletons oft mit massiver Kritik. Die Romandramatisierung ist eine umstrittene Theaterform: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung beschwert sich darüber, dass das Thalia Theater 2005 die „ Unsitte der Romanbearbeitung “ zum Spielzeitthema erhebe. 6 Peter Kümmel erklärt, das Theater fürchte sich vor dem Neuen und „ kriecht ins Vorgefundene “ 7 , Christopher Schmidt verurteilt Romandramatisierungen als „ [p]lappernde Buchstützen “ 8 , Andreas Rossmann spricht von einer „ Trittbrettfahrt “ des Theaters auf dem Erfolg des Romans. 9 Gerhard Stadelmaier, der schon 2004 die Bühnenfassung von Max Frischs Roman Stiller als „ [e]pisches Gelaber “ 10 getadelt hat, ist bis 2010 nicht von der Qualität von Romandramatisierungen überzeugt. In Bezug auf die Spielzeit 2010/ 2011 polemisiert er: „ In Frankfurt sind nur ungefähr zwanzig Prozent des Spielplans episch verseucht, an den Münchner Kammerspielen dagegen gut achtzig, im Berliner Gorki Theater an die neunzig Prozent. “ 11 Solch polemischen Äußerungen steht nicht nur die große Präsenz der Dramatisierungen auf den Spielplänen entgegen, die belegt, dass Theaterpraktiker und Publikum dieser Theaterform weit positiver gegenüberstehen. Dem quantitativen Argument lassen sich Hinweise auf die qualitative Wertschätzung der Romandramatisierungen hinzufügen: Beim Berliner Theatertreffen, zu dem jährlich „ die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der vergangenen Saison “ 12 eingeladen werden, wurden in den letzten Jahren zunehmend Romandramatisierungen gespielt. 13 Darunter finden sich 5 Vgl. ebd. S. 176 f., 211 f.,168 f., 205 f. und 231. 6 Anonymus: Die Unsitte der Romanbearbeitung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 83 (11. 4. 2005). S. 33. 7 Peter Kümmel: Saison der Einsiedlerkrebse. In: Die ZEIT 38 (9. 9. 2004). S. 49. 8 Christopher Schmidt: Plappernde Buchstützen. Romanstoffe sollen dem Theater aus der Not helfen. In: Süddeutsche Zeitung 230 (2./ 3. 10. 2008). S. 11. 9 Andreas Rossmann: Trittbrettfahrt. Schon wieder ein Roman auf der Bühne. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 47 (22. 11. 2009). S. 26. 10 Gerhardt Stadelmaier: Das Salz, bitte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 223 (24. 9. 2004). S. 35. 11 Gerhardt Stadelmaier: Heraus mit euch, ihr Feiglinge, ihr seid erzählt! . In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 149 (1. 7. 2010). S. 35. 12 So die Angabe auf der Homepage der Festspiele.www.berlinerfestspiele.de/ de/ aktuell/ festivals/ 03_theatertreffen/ tt11_auswahl/ tt11_auswahl_1.php (letzter Zugriff 23. 6. 2011). 13 Während vom ersten Theatertreffen 1964 bis 1989 nur drei Dramatisierungen unter den Eingeladenen zu finden sind, sind es in den 1990er Jahren bereits vier; seit dem Jahr 2000 wurden zehn Inszenierungen, die auf einem Roman beruhen, mit einer Einladung 3 <?page no="16"?> gleich drei Dramatisierungen russischer Romane durch Frank Castorf (2000, 2002, 2003), aber auch Stefan Puchers Inszenierung von Max Frischs Homo Faber (2005), Jan Bosses Die Leiden des jungen Werthers nach Johann Wolfgang Goethe (2007) und Andreas Kriegenburgs Adaption von Franz Kafkas Der Prozess (2009). Romandramatisierungen sind heute aus der Praxis der Theater nicht wegzudenken und werden zunehmend auch in Fachzeitschriften diskutiert, wie die oben zitierte Ausgabe von Theater heute zeigt. Das Phänomen ist weder neu noch eine deutsche Besonderheit. Mindestens für den englischen und für den slavischen Raum konstatieren Forschungsarbeiten eine ähnliche Verbreitung von Romandramatisierungen - im Gegenwartstheater genauso wie in der Dramen- und Theatergeschichte. 14 Eine ausführliche diachrone Betrachtung der Formen ist für den deutschsprachigen Raum noch ein Forschungsdesiderat; für England haben mehrere Arbeiten Spezifika der Romandramatisierung im 18. und 19. Jahrhundert dargestellt; Michael Anthony Ingham gibt einen Überblick über die Bühnenadaption im 20. Jahrhundert. 15 Eine grobe Orientierung zur Entwicklung im deutschen Sprachraum soll im Folgenden gegeben werden: Die Adaption epischer Stoffe ist eine Konstante im europäischen Theater. 16 Bereits in der Antike bearbeiteten Dramatiker Homers Epen, seit dem Mittelalter wurden Bibelpassagen für Passionsspiele umgeschrieben, Dramatisierungen von Sagen-, Mythen- und Märchenstoffen sind (in unterschiedlicher Menge und Qualität) aus fast allen literarischen Epochen bekannt. Schon seit Bestehen der vergleichsweise jungen Gattung Roman wurde auch diese für die Aufführung im Theater dramatisiert. Teilweise lehnten sich die Adaptionen nur in einigen Motiven oder im Personal an ihre Vorlagen an. Doch auch die detailgetreuere Bearbeitung eines Werkes war nicht selten. Dabei sind unterschiedliche Funktionen und damit auch unterschiedliche Arten der Dramatisierung auszumachen: Während die Passionsausgezeichnet. Seit kurzem finden sich auch vermehrt Filmadaptionen unter den dort aufgeführten Stücken. 14 Michael A. Ingham stellt für England fest: „ By the mid-to-late nineties adaptations from novel sources accounted for over twenty per cent of new theatre performances [. . .]. “ Michael Anthony Ingham: The Prose Fiction Stage Adaptation as Social Allegory in Contemporary British Drama. Staging Fictions. Lewiston u. a.: Mellen 2004. S. 9. Walter Koschmal betont, die „ hohe Zahl der Dramatisierungen verweist auf ihren besonderen Stellenwert in den slavischen Literaturen “ . Walter Koschmal: Zur Dramatisierung narrativer Texte (in slavischen Literaturen). In: Balagan 1 (1995). S. 7 - 26. Hier S. 7. 15 Vgl. Ingham, The Prose Fiction Stage Adaptation. S. 1 - 9. 16 Julie Paucker, Dramaturgin am Theater Basel, bewertet deshalb die Romandramatisierung gelassener als im Feuilleton üblich und spricht (durchaus positiv) vom Theater als grundsätzlich diebischem Medium. Julie Paucker: Das Theater als diebisches Medium. In: Neue Zürcher Zeitung 72 (26. 3. 2011). S. 25. 4 <?page no="17"?> spiele in rituelle Zusammenhänge eingebunden waren und die Dramatisierung von Legenden und Sagen als theatrale Praxis fungiert, die stark an das Vorwissen der Rezipienten anknüpft, muss die Romandramatisierung in ihrem Zusammenhang mit Literatur- und Theaterbetrieb betrachtet werden. Über die Romandramatisierung werden Literatur und Theater zueinander in Beziehung gesetzt. Einerseits wurden die frühen Romane über das angesehene Medium des Theaters beworben, popularisiert und durch den Gattungswechsel akzeptiert. 17 Einige Autoren dramatisierten aus diesem Grund ihre Romane selbst und sicherten damit ihr finanzielles Auskommen. Später (gerade im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert) wurden andererseits gerade solche Exemplare der nun etablierten Gattung Roman dramatisiert, von deren Beliebtheit das Theater zu profitieren hoffte. Während gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele mittelalterliche Epen ihren Weg ins deutsche Theater fanden (die im 19. Jahrhundert etablierte historische Germanistik, das Nationalgefühl und nationalistische Tendenzen dürften zum verstärkten Rückgriff auf diese Texte beigetragen haben), wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermehrt auch Novellen und Romane für die Bühne adaptiert. Auch hier orientierten sich viele der Dramatisierungen am Publikumsgeschmack und stellten besonders populäre Romane der Unterhaltungsliteratur, aber auch anerkannte Romane und Novellen der sogenannten Hochliteratur auf die Bühne: Beliebt waren um die Jahrhundertwende Novellen der Romantik wie E. T. A. Hoffmanns Bergwerke zu Falun und Eichendorffs Taugenichts sowie zeitgenössische (oder zumindest jüngere) Literatur wie Storms Schimmelreiter oder Conrad Ferdinand Meyers Jürg Jenatsch. Erstaunen mag die große Präsenz von Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas auf der Bühne um 1900, als die (Wieder-)Entdeckung Kleists gerade erst begann. Seine Novelle wurde als Versdrama und in Prosa, als Lustspiel, Trauerspiel und Tragödie bearbeitet. Weiterhin wurden erfolgreiche Unterhaltungsromane dramatisiert: Albert Emil Brachvogels Friedemann Bach oder Willibald Alexis ‘ Die Hosen des Herrn von Bredow sowie die beliebten Geschichten um Eulenspiegel oder Münchhausen, die allerdings wohl eher unabhängig von einem Einzeltext (somit als Stoff) bearbeitet wurden. Häufiger als heutzutage dramatisierten Autoren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ihre Werke selbst, wie es zum Beispiel Erich Kästner mit Emil und die Detektive oder Georg Hermann mit Henriette Jacoby und Jettchen Gebert vornahmen. Anfang der 1930er Jahre wurde auch Literatur mit stark politisch-ideologischem Inhalt dramatisiert; so schrieb Edwin Erich Dwinger, der später für seine nationalistische Kriegs- 17 Philip Cox weist dies für den englischen Sprachraum nach. Philip Cox: Reading Adaptations. Novels and Verse Narratives On the Stage, 1790 - 1840. Manchester u. a.: Manchester University Press 2000. Vgl. zum Beispiel S. 166. 5 <?page no="18"?> literatur von den Nationalsozialisten ausgezeichnet wurde und als SS-Obersturmführer und Kriegsberichterstatter agierte, mehrere seiner Romane selbst zu Dramen um. Die Varianz der Prätexte, Formen und Funktionen von Dramatisierungen ist also gerade im beginnenden 20. Jahrhundert sehr groß, sodass sich keine eindeutige Entwicklungsrichtung weder in Bezug auf die Prätexte noch auf die daraus entstehenden Dramatisierungen ausmachen lässt. 18 Auffällig ist aber der häufige Dreischritt vom Roman über die Bühne zum Film: So folgte auf die Veröffentlichung von Vicki Baums Menschen im Hotel 1929 nach nur zwei Jahren die Dramatisierung und im Jahr darauf die erste Verfilmung. Ähnlich schnell schloss sich 1931 eine Filmversion von Mädchen in Uniform an die autographe, also von der Autorin selbst erstellte, Dramatisierung von Christa Winsloes Ritter Nérestan von 1930 an. Dabei wurden teilweise dieselben Schauspieler eingesetzt. Das Drama wurde durch die Parallele im Schauspiel als Annäherung des Romanstoffes an die filmische Darstellung angesehen und wegen der bereits ausgearbeiteten Dialoge im frühen Tonfilm gern als textliche Basis genutzt. Für die Entwicklung zu gegenwärtigen Formen der Romandramatisierung ist von Bedeutung, dass die Dramatisierung immer stärker die Aufmerksamkeit der Theaterreformer verschiedener Richtungen erlangte. Unter den Autoren der Dramatisierungen fanden sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so namhafte Vertreter des Theaters wie Konstantin Stanislawski, der die naturalistische Spieltradition mitbegründete, oder Ernst Toller, Erwin Piscator und Bertolt Brecht. Gerade ein Zusammenhang mit dem epischen Theater liegt nahe, und tatsächlich stammen zwei bis heute bekannte Dramatisierungen aus der Feder Brechts. Er dramatisierte 1928 gemeinsam mit Erwin Piscator Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk; 19 seine Adaption von Maxim Gorkis Roman Die Mutter wurde 1932 uraufgeführt. Piscator dramatisierte eine ganze Reihe von Romanen und musste sich dabei ähnlicher Kritik aussetzen, wie sie heute in den Feuilletons anklingt. Er verteidigt seine Dramatisierung von Leo Tolstois Krieg und Frieden 1955 in einer Rede: 18 Eine Auflistung der Dramatisierungen von 1890 bis Anfang der 1930er Jahre unternimmt Ruth Dieffenbacher. Sie leitet daraus keine weiteren Schlüsse zur historischen Entwicklung ab; die Titelliste bietet aber heute eine Basis für eine diachrone Betrachtung des Phänomens. Vgl. Ruth J. Dieffenbacher: Dramatisierungen epischer Stoffe (vom Mittelalter bis zur Neuzeit) in der deutschen Literatur seit 1890. Speyer am Rhein: Pilger-Druckerei 1935. S. 127 - 133. 19 1959 hatte eine weitere Dramatisierung des Romans unter dem Titel Schwejk im Zweiten Weltkrieg ihre Uraufführung, die Brecht schon 1943 im Exil verfasst hatte. 6 <?page no="19"?> Ich meine, man muß die Frage stellen - nicht, wie die Kritik es tut: kann man überhaupt einen solchen Roman bearbeiten? - sondern nur so: bleiben Gedanken, Ideen, Begebenheiten wichtig genug, daß man sie in dieser Form präsentiert, und können sie trotz der Einschränkungen und Beschränkungen ein eigenes Leben gewinnen? 20 Angesichts der skeptischen Einschätzungen von außen sind nur wenige Dramatisierungen aus dem vergangenen Jahrhundert heute noch bekannt und Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung worden: Brechts Die Mutter sowie Brechts und Piscators Schwejk dürfen sicher dazu gezählt werden; Max Brods Das Schloss (1953) und Amerika (1957) nach Kafkas Romanfragmenten, außerdem Peter Weiss ’ Kafka Adaptionen Der Prozeß und Der neue Prozeß (entstanden 1974 und 1981) und Tankred Dorsts Kleiner Mann, was nun? nach dem Roman von Hans Fallada (1972) gehören zu den wenigen Texten dieser Art, die über ihre Zeit hinaus eine größere Bekanntheit erfahren haben. Die Aufzählung zeigt, dass offenbar die Namen der Autoren die Romandramatisierungen in den Status ‚ wissenschaftlich relevanter ‘ Kunst erhoben haben, wie es vielen anderen Werken nicht zuteil wurde. Mit Dorsts Adaption, die von Peter Zadek mitgestaltet und inszeniert wurde, lässt sich bereits der Bogen zum neuen Regietheater schlagen. Seit den 1970er Jahren wurden Dramatisierungen epischer Texte zum Gegenstand des Regietheaters, dem sie im günstigsten Fall dreierlei zu bieten hatten: erstens eine interessante Geschichte, die auf die Bühne zu bringen zweitens per se Provokation bedeutete und die drittens formal stark verändert werden musste, um auf der Bühne neu präsentiert zu werden - ein Vorgang, der der Theaterpraxis des Regietheaters entgegenkam. In diese Tradition reihen sich auch die vielen Adaptionen von Frank Castorf in den 1990er und 2000er Jahren ein. Die Linie setzt sich also bis heute fort. Daneben hat aber in den letzten Jahren eine Konventionalisierung eingesetzt: Gerade Dramatisierungen berühmter Romane der deutschen Literaturgeschichte werden zunehmend selbstverständlicher rezipiert und provozieren Publikum und Feuilleton offenbar weniger. Kritik ziehen sie zwar immer noch auf sich, doch wird diese insgesamt sachlicher, und es kommen häufiger lobende Rezensionen vor. Dabei werden auch formal konservative Dramen auf Basis der Romane geschrieben. Starke Missbilligung der Kritiker rufen inzwischen eher Adaptionen hervor, die jüngst erschienene Romane - meist Bestseller - zum Prätext nehmen. Hier liegt die Annahme ökonomischer Motive nahe. Mit kurzem 20 Erwin Piscator: Bekenntnistheater und das Unbehagen der Kritik. In: Ders.: Zeittheater. ‚ Das politische Theater ‘ und weitere Schriften von 1915 bis 1966. Ausgewählt und bearbeitet von Manfred Brauneck und Peter Stertz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986. S. 308 - 315. Hier 310. 7 <?page no="20"?> Abstand zur Buchveröffentlichung wurden zum Beispiel Publikumserfolge wie Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, preisgekrönte Romane wie Uwe Tellkamps Der Turm und skandalträchtige und viel diskutierte Werke wie Helene Hegemanns Axolotl Roadkill dramatisiert. Zeitnahe Adaptionen kommen inzwischen immer häufiger vor. Damit sind bereits einige Schwerpunkte der aktuellen Praxis von Dramatisierung und Aufführung genannt: Einerseits werden erfolgreiche Romane der Gegenwart aus verschiedensten Genres adaptiert (Kriminalromane, Pop-Literatur und andere Bestseller). Einen zweiten Schwerpunkt bilden Romandramatisierungen für das Kinder- und Jugendtheater, 21 die traditionell in großer Zahl erstellt werden, weil es nicht immer eine umfangreiche Produktion spezifischer Kindertheaterstücke gab. Zum Dritten finden sich unter den dramatisierten Werken viele komplexe Romane aus den letzten 250 Jahren, die man wohl zu den einflussreichsten und bekanntesten Werken der deutschen Literatur zählen darf. Hier seien nur einige wenige Beispiele genannt: Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werther, Theodor Fontanes Effi Briest und Frau Jenny Treibel, Thomas Manns Der Zauberberg, Heinrich Manns Professor Unrat, Hermann Hesses Der Steppenwolf und Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Günter Grass ’ Die Blechtrommel sowie Thomas Bernhards Holzfällen waren in den letzten Jahren auf den deutschsprachigen Bühnen zu sehen. 22 Diese zuletzt beschriebene Praxis hat in den letzten 20 Jahren besonders stark zugenommen. 23 Diese Arbeit befasst sich mit den Dramatisierungen bekannter deutschsprachiger Romane, die man als ‚ kanonisch ‘ bezeichnen könnte. Neben 21 Das Verlagsprogramm spezieller Verlage für Kinder- und Jugendtheater zeigt oft eine deutliche Dominanz von Romanadaptionen gegenüber anderen Stücken. Beliebt sind Dramatisierungen bekannter Kinderbücher wie Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf oder Ronja Räubertochter, Michael Endes Momo oder Der Wunschpunsch und Paul Maars Eine Woche voller Samstage. Zurzeit werden Cornelia Funkes Kinderbücher besonders gern auf die Theaterbühne gebracht. Aber auch ‚ Klassiker ‘ der Kinderliteratur aus In- und Ausland wie Pinocchio, Der Zauberer von Oz, Alice im Wunderland, Das Dschungelbuch oder die kinderliterarischen Werke Erich Kästners werden inszeniert. 22 Etwas weniger häufig, aber immer noch auffällig oft wurden Romane aus den osteuropäischen Literaturen für die deutschen Bühnen adaptiert. 23 Einen weiteren Schwerpunkt auf den Spielplänen stellen Filmadaptionen für die Bühne dar. Die Einschätzung, dass es sich dabei um den jüngeren Trend handelt, muss allerdings bezweifelt werden. In den Jahren 1988 und 1989 gehörten zu den erfolgreichsten Stücken in der DDR Einer flog über das Kuckucksnest und Der Kuß der Spinnenfrau. Beides sind zwar Titel von Romanen, bekannter sind allerdings die zugehörigen Verfilmungen geworden. Vgl. Wer spielte was? Bühnenrepertoire der DDR. Spieljahre 1988, 1989 und 1. Halbjahr 1990. Hrsg. v. Deutschen Bühnenverein. Darmstadt: Mykenae 1990. S. 237. 8 <?page no="21"?> der aktuellen Präsenz auf den Spielplänen deutscher Theater machen zwei Aspekte die Romandramatisierungen so besonders interessant: An den wenigen Stellen, an denen die historische Gattungstheorie auf Gattungswechsel eingeht, betonen die Arbeiten oft, dass gerade diese Transformation schwierig und kaum erfolgreich durchzuführen sei. Während andere Gattungen, wie die Novelle oder die Ballade, dem Drama als verwandt zugerechnet werden, bilde der Roman einen besonderen Gegensatz dazu. 24 Zweitens gibt der Roman eine sehr komplexe inhaltliche und formale Struktur vor - nicht nur eine Grundformel (wie zum Beispiel der Mythos). Damit bieten sich in der Gegenüberstellung von Roman und Dramatisierung viele Vergleichspunkte auf unterschiedlichen Ebenen. Gerade die Verfahren der Geschehensdarstellung in Roman und Drama lassen sich so genau verfolgen. Für die Romandramatisierung im Gegenwartstheater gilt darüber hinaus, dass im Laufe des vergangenen Jahrhunderts normative Gattungszuschreibungen, die insbesondere für das Drama lange existierten, inzwischen relativiert wurden. Damit gelten für die Romandramatisierung andere Bedingungen als zum Beispiel im 19. Jahrhundert. Angesichts der deutlich weicheren Gattungsgrenzen zwischen Epik und Dramatik wird von besonderem Interesse sein, welche dramatischen Formen in der Übertragung dominant sind. Dazu habe ich möglichst unterschiedliche Romane als Prätexte gewählt, sodass zu erwarten ist, dass die Autoren der Dramatisierungen auf verschiedene Formen des epischen Texts variantenreich reagieren. 25 Alle Prätexte wurden allograph dramatisiert. Solche Adaptionen weisen zusätzlich zum Gattungswechsel eine Neuinterpretation durch den Autor des Dramas auf. Besonders bekannte Romane wurden deshalb gewählt, weil damit von einer spezifischen Rezeptionssituation ausgegangen werden kann: Das Theater- 24 Gustav Freytag hält die Stoffe moderner Romane für „ wenig dankbar “ für das „ ernste Drama “ : „ Bei den ausgeführten epischen Erzählungen der Gegenwart dagegen erweist die Phantasie eines Andern sich gerade in Wirkungen, welche den dramatischen innerlich feind sind, und die geschmückte und behagliche Ausführung ihrer Menschen und Situationen wird dem Dramendichter die Phantasie eher abstumpfen als reizen. “ Gustav Freytag: Technik des Dramas. Leipzig: Hirzel 1863. S. 292. Friedrich Spielhagen erklärt Novelle und Drama als ‚ ökonomische Formen ‘ für einander ähnlich und siedelt den Roman konträr dazu an. Er kommt daher zu dem Schluss: „ Kein Romanstoff ist zugleich ein Dramenstoff, folglich kann kein Roman in ein Drama umgebildet werden. “ Friedrich Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig: Staakmann 1883. S. 282. Bis heute, das zeigen die Feuilletonreaktionen auf die Romandramatisierungen, gehen viele Rezipienten zunächst von der Unvereinbarkeit von Romanstoff und Dramenform aus. 25 Genauere Angaben zur Textauswahl sind den Analysen in Kapitel 4 vorangestellt. 9 <?page no="22"?> publikum kennt die Geschichte oder zumindest Grundzüge ihres Handlungsverlaufs bereits, was ein besonderes Augenmerk auf das intertextuelle Spiel zulässt. Ich habe dabei Texte gewählt, die den intertextuellen Bezug als Spezifikum der Romandramatisierung über den Titel und direkte Hinweise im Untertitel sowie über die Namen des dramatischen Personals klar herausstellen. Eine Romandramatisierung als Übertragung im Sinne einer vollständigen Entsprechung zwischen Roman und Adaption kann es schon aus gattungstheoretischen Gründen nicht geben. Wenn ich hier von Romandramatisierungen spreche, sind damit dramatische Texte gemeint, die sich eindeutig (aber in unterschiedlichem Maße detailliert) auf eine epische Vorlage, eben einem Roman, beziehen. Gegenstand dieser Arbeit sind ausdrücklich die dramatischen Texte. Die Inszenierungen bedürften einer gesonderten Analyse, werden hier jedoch einbezogen, wenn der Dramentext spezifische Angaben zur medialen Situation der Aufführung macht oder Passagen nur aus der Inszenierungspraxis heraus zu verstehen sind. Nach einem Überblick über die Forschungslage zu Dramatisierungen epischer Prätexte in Abschnitt 1.1 soll in 1.2 eine genauere Definition Spezifika der Romandramatisierung darstellen, aus der in 1.3 die Hauptfragestellungen dieser Arbeit abgeleitet werden. 1.1 Zum Stand der Forschung Die zahlreichen Romandramatisierungen im Gegenwartstheater sind bislang kaum wissenschaftlich untersucht worden. Hans-Peter Bayerdörfer legte parallel zu und unabhängig von der vorliegenden Studie einen Aufsatz zum gegenwärtigen deutschsprachigen „ Erzähltheater “ 26 vor. Er skizziert darin Romandramatisierungen als Teil eines Theaters, das „ mittels szenischen Anordnungen und Verläufen den geordneten Wechsel von narrativen und impersonierenden Partien von Geschehensdarstellung ermöglichen “ . 27 Sie ließen sich damit als ein Mittel der „ Wiedergewinnung der Erzähldimension der Bühne verstehen “ . 28 Bayerdörfer regt eine Untersuchung der erzählerischen Leistung der Romandramatisierungen auch in Bezug zur neueren Erzähltheorie an, was in der vorliegenden Studie ausführ- 26 Hans-Peter Bayerdörfer: Zurück zu ‚ großen Texten ‘ ? Dramaturgie im heutigen Erzähltheater. In: Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945. Hrsg. v. Artur Pelka und Stefan Tigges. Bielefeld: transcript 2011. S. 159 - 181. 27 Ebd. S. 179. 28 Ebd. S. 180. 10 <?page no="23"?> licher geleistet werden kann. Darüber hinaus liegen zum Thema vor allem Rezensionen und einige Artikel in Fachzeitschriften wie Theater heute oder Die Deutsche Bühne 29 vor, aber keine umfangreiche wissenschaftliche Studie. Neben der Spezifik dieser aktuellen Ausprägung bedarf auch die literarische Form allgemein noch einiger Bestimmung. Etwas ausführlicher wurden historische Formen der Adaption untersucht, dabei stärker der englische als der deutsche Sprachraum. Während zur Adaption epischer Werke in England zur Zeit Shakespeares sowie im 18. und 19. Jahrhundert einige Monographien vorliegen, wurde das Phänomen für den deutschen Sprachraum auch in Bezug auf einzelne Autoren oder literarhistorische Epochen wenig erforscht: Vor Ende des 19. Jahrhunderts wurden Dramatisierungen zwar geschrieben und gespielt, aber literaturwissenschaftlich kaum beachtet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre erschienen einige vergleichende Einzelbetrachtungen, 30 möglicherweise weil das literaturwissenschaftliche Interesse am Roman stieg. Ruth Dieffenbachers Dissertation zu Dramatisierungen epischer Stoffe (vom Mittelalter bis zur Neuzeit) in der deutschen Literatur seit 1890 wurde 1935 als erste Studie mit dem Ziel einer zeit- und autorenübergreifenden Betrachtung der Texte veröffentlicht, fasst einen Zeitraum von etwa 45 Jahren und eine große Menge epischer Texte verschiedener Untergattungen. 31 Dieffenbacher lässt allerdings eine wirkliche Textanalyse vermissen. 32 Da sie von einer grundsätzlichen Gegensätzlichkeit 29 Vgl. Dramatische Prosa. In: Theater Heute 11 (2008). S. 4 - 15. - Theater der Adaptionen. In: Die Deutsche Bühne 6 (2009). S. 20 - 39. 30 Hauptsächlich handelt es sich um Zeitungsartikel. Es sind jedoch auch wissenschaftliche Arbeiten und Miszellen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen darunter: Kurt Mühlbrecht: Die Dramatisierungen der Daudetschen Romane. Königsberg i. Pr.: Lankeit 1916. - Alfons Hayduk: ‚ Der Taugenichts ‘ . Ein Spiel mit Gesang und Tanz in 5 Akten von Konrad Karkosch. Grundsätzliches und Beiläufiges anlässlich einer Dramatisierung. In: Aurora 5 (1935). S. 126 f. 31 Ruth J. Dieffenbacher: Dramatisierungen epischer Stoffe (vom Mittelalter bis zur Neuzeit) in der deutschen Literatur seit 1890. Speyer am Rhein: Pilger-Druckerei 1935. Aufschlussreich ist die tabellarische Auflistung aller nachweisbarer Dramatisierungen von 1890 bis Mitte der 1930er Jahre, die Dieffenbacher zusammenstellt: Hier lässt sich nicht nur die große Zahl der Romanadaptionen gerade zwischen 1920 und 1935 ablesen, sondern auch die Varianz ihrer Prätexte und die Dominanz der Dramatisierungen mittelalterlicher Epen vor 1900. Der diesem Kapitel vorangestellte historische Abriss stützt sich in Teilen auf Dieffenbachers Auflistung. 32 Nach einem Kapitel zur Gattungstheorie und den verschiedenen epischen Formen als Dramenvorlagen kommt sie zur Analyse einzelner Dramen. Diese werden jeweils unter Bezug auf die Dramentheorie betrachtet. Während den Epen des Mittelalters dabei noch verhältnismäßig viel Raum zugestanden wird, werden „ Stoffe der Neuzeit “ auf etwa 25 Druckseiten abgehandelt. Romanen und ihren Dramatisierungen kommen davon nur gut sieben Seiten zu. Die Einzelanalysen beschränken sich insofern auf kurze Bemerkungen zum Inhalt und einen wertenden Kommentar zur dramatischen Form. 11 <?page no="24"?> von Roman und Drama ausgeht, werden Romandramatisierungen mit großer Skepsis betrachtet. Kriterium der Bewertung stellt vor allem die „ Beachtung und Wahrung der dramatischen Gesetze “ 33 dar: Die geschlossene Form des Dramas setzt Dieffenbacher normativ voraus, aber auch das inhaltliche Kriterium des Kampfes zweier polarer Kräfte will sie im Drama verwirklicht sehen. Dieser Standpunkt ist nach dem modernen Dramenverständnis und angesichts der aktuellen Offenheit der Formen am Theater nicht mehr haltbar. Weitere Monographien nehmen jeweils einen einzelnen Autor, Prätext oder kurzen Zeitraum in den Fokus: Ulrike Sydow vergleicht epische Texte und ihre Dramatisierungen in den 1960er Jahren in der DDR, fokussiert dabei aber Inhalte, da sie insbesondere die „ kulturpolitische Funktion “ 34 , mithin die „ gesellschaftliche Tragfähigkeit der erzählten Stückfabel - Grundvoraussetzung sozialistischer Theaterkunst “ 35 verwirklicht sehen will. Gerade Dramatisierungen der Romane Franz Kafkas haben in der germanistischen Forschung einige Beachtung gefunden. 36 Mit der Dramatisierung im deutschsprachigen Gegenwartstheater am Beispiel verschiedener Dramatisierungen von Johann Wolfgang Goethes Leiden des jungen Werther befasst sich die Magisterarbeit von Astrid Kohlmeier. 37 Kohlmeier baut auf aktueller 33 Dieffenbacher, Dramatisierungen epischer Stoffe. S. 135. Abweichungen von der dramatischen Form (und sei es auch nur als „ Reihentypus “ ) dürfe sich „ nur das Genie erlauben “ (ebd.). 34 Ulrike Sydow: Dramatisierungen epischer Vorlagen dargestellt an einigen Beispielen der DDR- Literatur aus den 60er Jahren. Mschr. Dissertation. Berlin: Humboldt-Universität 1973. S. 189. 35 Ebd. S. 186. 36 Ausführliche Studien dazu haben vor allem Nicola Albrecht, Ulrike Zimmermann und Paul M. Malone vorgelegt. Albrecht nimmt eine recht ausführliche Strukturuntersuchung zu Max Brods Dramatisierung von Amerika vor. Interessante Ergebnisse bieten vor allem die vergleichenden Gegenüberstellungen der verschiedenen medialen Adaptionen, die offenbaren, dass sich die Adaptionen nicht immer vorrangig auf Kafkas Roman beziehen, sondern sich auch untereinander stark beeinflussen. Nicola Albrecht: Verschollen im Meer der Medien. Kafkas Romanfragment ‚ Amerika ‘ . Zur Rekonstruktion und Deutung eines Medienkomplexes. Heidelberg: Winter 2007. Paul M. Malone vergleicht Dramatisierungen von Der Process und bezieht sich dabei stark auf Übersetzungstheorien. Paul M. Malone: Franz Kafka ’ s ‚ The Trial ‘ . Four Stage Adaptions. Frankfurt a. M.: Lang 2003. Ulrike Zimmermann untersucht Peter Weiss ’ Kafka Adaptionen im Zusammenhang mit zeitgenössischen politischen Entwicklungen. Ulrike Zimmermann: Die dramatische Bearbeitung von Kafkas ‚ Prozeß ‘ durch Peter Weiss. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1990. 37 Astrid Kohlmeier: Vom Roman zum Theatertext. Eine vergleichende Studie am Beispiel der ‚ Leiden des jungen Werther ‘ von Johann Wolfgang Goethe. Saarbrücken: Müller 2010. Der Text wurde 2009 als Magisterarbeit an der Karl-Franzens-Universität Graz und der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz eingereicht. Schwerpunktmäßig analysiert Kohlmeier zwei Adaptionen von Nicolas Stemann sowie Jan Bosse mit 12 <?page no="25"?> Dramen- und Theatertheorie auf und zeichnet ausführlich Argumente und Motivationen für die Produktion von Romandramatisierungen in Selbstaussagen von Theaterschaffenden nach. 38 Auch empirische Ergebnisse kann Kohlmeier präsentieren: Sie zeigt anhand der Statistiken des Deutschen Bühnenverbands auf, dass die Varianz der Romanvorlagen groß ist, die Stücke auf den deutschsprachigen Bühnen einen gewichtigen Platz einnehmen und dabei von den Nationalliteraturen und dem „ literarischen und außerliterarischen Selbstverständnis der Nation “ geprägt seien. 39 Die Auswahl sowohl der theoretischen Basis als auch der Kategorien verwundert ein wenig: Als grundlegende Faktoren, „ welche für die Umarbeitung eines Romans in einen Theatertext von äußerster Relevanz sind “ , nennt Kohlmeier auf Basis von Pfisters Bestimmung des Dramas den „ Umgang mit der fehlenden Erzählinstanz “ sowie die „ Einschränkung des quantitativen Umfangs und der Komplexität “ 40 . Doch Stemanns Werther! wird in weiten Teilen anhand von Konzepten aus Hans-Thies Lehmanns Postdramatischem Theater 41 beschrieben - ein Konzept, das der Orientierung an konventionellen Dramenformen entgegensteht. Das Fazit zeigt, dass Kohlmeier den ‚ Theatertexten ‘ (im Sinne Gerda Poschmanns 42 ) weit mehr Interesse entgegenbringt als denjenigen Dramatisierungen, die sich stark an literarischen Dramenformen orientieren. Die Analysen enthalten dennoch aufschlussreiche Beobachtungen zu den untersuchten Dramatisierungen. Gerade die Auswahl einer monologisch und einer dialogisch organisierten Dramatisierung des Werther bietet Potential für die Interpretation. 43 Eine systematische Erfassung der literarischen Form Dramatisierung aus germanistischer Sicht muss trotz der oben genannten Arbeiten als Forschungsdesiderat bezeichnet werden. Literaturwissenschaftliche Lexika Andrea Koschwitz. Sie arbeitet praktisch als Regisseurin und als Dramatikerin; diese Praxisorientierung ist offenkundig. 38 Vgl. ebd. S. 39 - 42. 39 Ebd. S. 60. Diese letzte These bleibt allerdings vage: Warum gerade die Beliebtheit von Cervantes ‘ Don Quijote in Österreich zum Beleg für die nationale Spezifik der Textauswahl wird, wird nicht geklärt. 40 Ebd. S. 133. 41 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. 2. Auflage. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2001. 42 Vgl. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen: Niermeyer 1997. 43 Im Fazit erfolgt kein systematischer Vergleich der beiden Fassungen mehr, sodass die Einzelanalysen unverbunden stehen. Das mag nun allerdings auch der Textsorte Magisterarbeit geschuldet sein, die naturgemäß nicht alle Aspekte des Themas ausführen kann. 13 <?page no="26"?> geben zwar Kriterien für die dramatische Bearbeitung epischer Stoffe an, 44 allerdings weitgehend ohne auf aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen zurückzugreifen, sodass hier weder von der Vollständigkeit der Kriterien noch von der Richtigkeit und Relevanz der angegebenen Merkmale ausgegangen werden kann. Die vorliegende Arbeit soll deshalb zwar Texte der Gegenwartsdramatik untersuchen, in der Definition und theoretischen Bestimmung des Gegenstandes (Kapitel 1.2 und 2) aber historisch übergreifend gelten. Das germanistische Forschungsdefizit zur Romandramatisierung entsteht möglicherweise durch die oft negative Bewertung der Dramatisierungen als rein handwerkliche, unkünstlerische Kopien - eine Abwertung, die in Anbetracht der aktuellen Forschung zu Intertextualität und Intermedialität überholt ist. Zudem wird die zeitgenössische Dramatisierung womöglich eher als theatrale denn als literarische Praktik betrachtet. 45 Insgesamt scheint der strukturelle Vergleich von Epik und Drama methodisch ein Problem darzustellen, sodass in den vorhandenen Studien oft nur Inhalte und weniger die Darstellungsstrukturen aufgenommen werden. In der anglistischen Literaturwissenschaft scheint die Akzeptanz größer: Im Zuge der rasanten Entwicklung der ‚ adaptation studies ‘ in den letzten zehn Jahren hat die anglistische Literaturwissenschaft auch dem Phänomen Romandramatisierung, gerade in seiner historischen Dimension, Aufmerksamkeit geschenkt. Aber auch diese Veröffentlichungen mit anglistischem Schwerpunkt äußern sich selten ausführlich zu Konkreta des Gattungswechsels. Ein aktueller Band zu Adaptionen widmet der Romandramatisierung zwei Aufsätze. 46 Zudem wurden einige Monographien veröffentlicht, 44 Zum Beispiel „ Raffung und steigernde Konzentration der Handlung durch Streichung episod[ischen] Beiwerks, Einschränkung der Figuren und Situationen, verschärfte Herausarbeitung der Gegensätze “ . Gero v. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kröner 2001. S. 192. 45 Weder im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft noch in der Vorgängerausgabe Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte finden sich Einträge zu Dramatisierungen. Auch unter dem Stichwort ‚ Intertextualität ‘ werden Dramatisierungen nicht explizit erwähnt. Im Theaterlexikon von Manfred Brauneck und Gérard Schneilin ist ein Eintrag zu finden; das könnte ein Indikator für die starke Bindung der Dramatisierung an die Theaterpraxis sein. Vgl. Monika Sandhack: Dramatisierung. In: Theaterlexikon 1. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Hrsg. v. Manfred Brauneck und Gérard Schneilin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001. S. 300 - 301. 46 Michael Fry: Playing the Novel. A Partial and Promotional Survey of Recent Methodologies of Stage Adaptations. In: Adaptations - Performing across Media and Genres. Hrsg. v. Monika Pietrzak-Franger und Eckart Voigts-Virchow. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2009. S. 81 - 95. Der Aufsatz versucht vor allem die künstlerische Leistung in der Adaption zu betonen. Da der Autor theaterpraktisch tätig ist, liest sich der Text zeitweise 14 <?page no="27"?> von denen sich die Mehrzahl mit den Dramatisierungen des 18. und 19. Jahrhunderts beschäftigt. 47 Dabei konzentrieren sich die Analysen oft auf die soziokulturellen Bedingungen der Adaptionen, selten auf den eigentlichen Gattungswechsel, der in der vorliegenden Studie im Zentrum stehen soll. 48 Im Hinblick auf die Bedeutungsveränderungen, die angesichts historischer und gesellschaftlicher Veränderungen in den Dramatisierungen vorgenommen werden, bieten die Arbeiten dennoch einige Anknüpfungspunkte: Max Bluestones Arbeit zur Adaption von Prosastoffen in Dramen des elizabethanischen Zeitalters betont beispielsweise die moralischen Veränderungen durch zeitgenössische Positionen der Gesellschaft zu Familie, Frauen und Sexualität, Liebe und Heirat - ein Effekt, der in meiner Analyse in Bezug auf die Frage nach dem historischen Abstand untersucht wird. 49 Auch stärker institutionelle Faktoren werden in den historischen Studien analysiert: Sylvia Patsch, die autographe Dramatisierungen englischer Romane im 19. Jahrhundert untersucht, legt dabei allerdings das Hauptaugenmerk auf die Motivation des Autors, einen Gattungswechsel vorzunehmen, sodass sie vor allem biographische und historische Faktoren untersucht. 50 Unter wesentlich ergiebigerer Fragestellung betrachtet Philip Cox die Dramatisierungen im 18. und 19. Jahrhundert: Sie seien Ausdruck des sich neu definiewie eine Verteidigung seiner Arbeit. Davide Maschio: Dermot Bolger ’ s ‚ A Dublin Bloom ‘ . In: Adaptations - Performing across Media and Genres. Hrsg. v. Monika Pietrzak-Franger und Eckart Voigts-Virchow. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2009. S. 113 - 126. 47 Max Bluestone: From story to stage. The Dramatic Adaption of Prose Fiction in the Period of Shakespeare and His Contemporaries. The Hague/ Paris: Mouton 1974. - Philip Cox: Reading Adaptations: Novels and Verse Narratives on the Stage, 1790 - 1840. Manchester u. a.: Manchester Univ. Press 2000. - Sylvia Maria Patsch: Vom Buch zur Bühne: Dramatisierungen englischer Romane durch ihre Autoren. Eine Studie zum Verhältnis zweier literarischer Gattungen. Innsbruck: Sundt 1980. - Astrid Sebastian: Auf dem Schnittpunkt zweier Gattungen. Dramatisierungen englischer Romane des 18. Jahrhunderts. Egelsbach: Hänsel-Hohenhausen 1994. 48 Strukturelle Analysen des Gattungswechsels nimmt Astrid Sebastian in der Analyse der Dramatisierungen englischer Romane im 18. Jahrhundert vor. Sie befasst sich zum Beispiel mit Techniken der Auslassung und Kürzung sowie der Auswirkung der Erzählperspektive auf das entstehende Drama; allerdings erfolgt keine methodisch differenzierte Auswertung der Texte, weil sie kein adäquates Analyseinstrumentarium entwickelt. Deshalb muss Sebastian nach dem „ Einfluß der Romanvorlagen “ und dem „ Einfluß der Bühnenkonventionen “ trennen. Sebastian, Auf dem Schnittpunkt zweier Gattungen. S. 67 und 111. 49 Vgl. zusammenfassend Bluestone, From Story to Stage. S. 299. 50 Eine Studie zum Verhältnis zweier literarischer Gattungen, die der Untertitel verspricht, findet zumindest nicht im Sinne einer vergleichenden Textanalyse statt. Schon die Fragestellungen muten in dieser Richtung wenig zielführend an: „ Ist künstlerisches Schaffen leichter als das Nach-Schaffen? Läßt sich ein literarisch bereits einmal geformter Stoff in eine andere Gattung umgestalten? “ . Patsch, Vom Buch zur Bühne. S. 11. 15 <?page no="28"?> renden Gattungs(selbst)verständnisses in der literarischen Klassik und Romantik, als sich das Drama zum erfolgreichen Roman in Beziehung setzen muss. 51 In einem literatursoziologischen Zugriff befasst er sich mit dem ‚ Marktwert ‘ der jeweiligen Gattung, mit der Bewertung des Romans als niederer und des Dramas als hoher Literatur. Dies bezieht er auf Differenzen zwischen den sozialen Schichten in einer sich verändernden Gesellschaft, die in der Diskussion um die Gattungsmischung ein Medium des Ausdrucks finden. Einige seiner Fragestellungen lassen sich auch in Bezug auf die Romandramatisierung in Deutschland heute stellen: Welche ökonomischen und gesellschaftlichen Gründe gibt es für die große Zahl der Adaptionen? Wie sind sie institutionell, wie im literarischen und im Theaterbetrieb begründet? Wie wirken sie im Diskurs um das Gattungsverständnis des Dramas? 52 Die besondere Rezeptionssituation von Dramatisierungen (vor der Folie des Romans) setzt Astrid Sebastian als Definitionsmerkmal für die Romandramatisierung. Die spezifische Situation von Roman und Theater im England des 18. Jahrhunderts lässt eine Übertragung der Überlegungen auf deutschsprachige Dramatisierungen um das Jahr 2000 nur in Einzelaspekten zu. Sebastian betrachtet Dramatisierungen als eigene Entwicklungslinie in der Geschichte des Dramas mit anderen Eigenschaften und Funktionen als andere Dramen. Gerade diesen Funktionen geht sie durch den rezeptionsorientierten Ansatz nach. 53 Michael Anthony Ingham sieht die Bühnenadaptionen des vergangenen Jahrhunderts in zwei Traditionslinien begründet: in Zolas Forderung eines naturalistischen Theaters auf der einen und Brechts illusionsbrechendem, epischem Theater auf der anderen Seite. Die naturalistische (und illusionsstiftende) Adaption sei inzwischen dem Medium Film eher angemessen, das Theater solle deshalb stärker eine von der Quelle abstrahierende Form annehmen und die Brecht ’ sche Richtung weiter ausbauen. Für die beiden Arbeitsweisen wählt Ingham unterschiedliche Begriffe: Die Dramatisierung bezeichnet danach eine möglichst genaue Wiedergabe des Romans auf der Bühne, die Adaption eine Interpretation dieser angesichts veränderter sozia- 51 „ [Poetry] and drama had both in their different ways to define themselves in relation to the novel which, as a genre, appeared to relate most effectively to contemporary social structures. It is the process of generic self-definition at a time of economic transformation that is forgrounded in the act of adaptation. “ Cox, Reading Adaptations. S. 19. 52 Die Arbeit erklärt außerdem die oft negative Bewertung der Dramatisierungen einleuchtend und plädiert überzeugend für eine Betrachtung der Adaptionen als Möglichkeit der Neuausrichtung eines Werks und seiner Bedeutung angesichts sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Veränderungen. 53 Vgl. Sebastian, Auf dem Schnittpunkt zweier Gattungen. S. 148. 16 <?page no="29"?> ler und kultureller Umstände. Weder die mediale Teilung noch die Trennung von Dramatisierung und Adaption, die Ingham für den britischen Raum feststellt, lassen sich vollständig auf den deutschen Sprachraum übertragen. 54 „ [The] stage adaptation imposes an intrinsically present cultural and ideological perspective on to a fictional representation of the past “ , 55 beobachtet er. Dieser Aspekt ist auch für meine Arbeit von Bedeutung und soll in Bezug auf die aktuellen Dramatisierungen im deutschsprachigen Theater genauer analysiert werden. Neben diesen Monographien liegen mehrere Beiträge zur Bühnenbearbeitung einzelner englischsprachiger Werke vor. 56 Mehrere Forschungsarbeiten zu Dramatisierungen teilen wie Ingham ihren Gegenstand in solche Texte, die illustrativ, handwerklich und ohne eigenen ästhetischen Anspruch den Prätext wiedergeben (sollen), und solche, die sich diesem gegenüber als ästhetische Entgegensetzung, als unabhängig und kritisch präsentieren. In der Regel wird der zweite Fall begrüßt, der erste herabgestuft. Solche polaren Typisierungen finden sich auch in Arbeiten zur Adaption oder Intertextualität im Allgemeinen: Gérard Genette nennt die Romandramatisierung in seiner Typologie intertextueller Formen unter dem Oberbegriff der intermodalen Transmodalisierung. 57 Bernd Lenz versucht in einem Aufsatz zu Intertextualität und Gattungswechsel zwei Kategorien - „ hier primär Gattungswechsel, doch im wesentlichen Reproduktion, dort Innovation, doch nur sekundär Gattungswechsel “ 58 - zumindest theoretisch zu trennen. In allen Fällen ähneln sich die Kriterien und Beschreibungen zur 54 Der deutsche Autorenfilm hat sehr eigenständige Literaturadaptionen hervorgebracht. Auch die Differenz zwischen einem institutionalisierten ‚ mainstream theatre ‘ an den großen Bühnen und einer besonders innovativen Off-Theater-Szene lässt sich so kaum auf Deutschland übertragen. 55 Ingham, The Prose Fiction Stage Adaptation. S. 334. Siehe auch S. 336: „ In the stage adaptation a dialogue is created between source and target cultures [. . .]. “ 56 Sie beschäftigen sich vor allem mit den Dramatisierungen der Romane Walter Scotts, Henry James ’ , Charles Dickens ’ und Lewis Carrolls und gehen teilweise gar in den Anwendungsbereich über - wie John Glavin, der eine Umsetzung von Dickens ’ Werken nach den Theateridealen Jerzy Grotowskis vorschlägt. Vgl. John Glavin: After Dickens. Reading, Adaptation and Performance. Cambridge: Cambridge University Press 1999. 57 Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig nach der ergänzten 2. Auflage. Hrsg. v. Karl Heinz Bohrer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. S. 382 - 388. Der Terminus der Transmodalisierung (unter den die Dramatisierung gefasst wird) beschreibt eine rein formale Veränderung, keine inhaltliche. 58 Bernd Lenz: Intertextualität und Gattungswechsel. Zur Transformation literarischer Gattungen. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen: Niemeyer 1985. S. 158 - 178. Hier S. 169. Die Schwierigkeit, fakultative und obligatorische Ver- 17 <?page no="30"?> Ausdifferenzierung der beiden Formen, die Begriffszuordnung fällt hingegen konträr aus. 59 Nicht nur aus Gründen der Wertung und der terminologischen Differenzen ist solch eine diametrale Anordnung mit großer Vorsicht zu betrachten: Denn faktisch sind beide Ausrichtungen nicht trennbar. 60 Ohne Einbezug der Autorintention muss deshalb immer von einer Mischung von formalem Gattungswechsel, Anlehnung, Interpretation und Neuschöpfung ausgegangen werden. 1.2 Die Romandramatisierung: eine Definition Der Überblick über die Forschung zeigt, dass der Terminus Dramatisierung unterschiedlich benutzt wird und weitere Begriffe synonym oder konkurrierend gebraucht werden. Auch Lexikoneinträge sind nicht immer eindeutig. 61 In der vorliegenden Arbeit bezeichnet der Begriff ‚ Dramatisierung ‘ eine spezielle Form der Adaption. Als Adaption gilt die Anpassung eines Werkes änderungen zu trennen, merkt er selbst an (vgl. S. 177) und plädiert deshalb für Einzelfallstudien. 59 Walter Koschmal nennt die ‚ illustrativen ‘ Werke Adaptionen, Ingham die ‚ schöpferischen ‘ . Der Unterschied entsteht nicht durch die Sprache, denn in der englischsprachigen Adaptionstheorie von Julie Sanders bedeutet Adaptation ebenfalls eine auf Analogie ausgerichtete Transposition. Vgl. Koschmal, Zur Dramatisierung narrativer Texte (in slavischen Literaturen). Hier v. a. S. 10 - 13. - Julie Sanders: Adaptation and Appropriation. London/ New York: Routledge 2006. 60 In Bezug auf Dramatisierung und Adaption fällt eine Trennung schon Ingham selbst schwer. Er muss am Ende seiner tabellarischen Gegenüberstellung feststellen: „ The heterogeneous nature of the plays discussed in this study makes it difficult to establish a rigorously applicable set of aesthetics for the stage adaptation genre. “ Ingham, The Prose Fiction Stage Adaptation. S. 331. Dem darf hinzugefügt werden, dass die Unterscheidung zwischen Dramatisierung und Adaption kaum absolut, sondern in den allermeisten Fällen höchstens in Abstufungen möglich sein wird. 61 Der Begriff wird in einigen Begriffslexika der Literaturwissenschaft definiert. Im Metzler Lexikon Literatur bestimmt Birte Werner die Dramatisierung als „ Erarbeitung eines Theaterstücks aus einem epischen Text; seltener aus Lyrik oder nicht-lit[erarischen] Texten “ . Birte Werner: Dramatisierung. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hrsg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moenninghoff. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2007. S. 169. Monika Sandhack definiert die Dramatisierung als „ Bearbeitung eines epischen Stoffs oder anderer literarischer Texte für das Theater, d[as] h[eißt] Anpassung an die Gesetze der dramatischen Gattung und der Bühne durch Erstellen einer Dialog-Fassung “ . Sandhack, Dramatisierung. S. 300. Die Definition könnte differenzierter sein, indem sie zwischen Dramatisierung und Stoffbearbeitung sowie zwischen Dramatisieren als Verfahren und Dramatisierung als literarisches Werk trennte. Zudem suggeriert sie normative, grundsätzliche Gattungsgesetze. 18 <?page no="31"?> an die Erfordernisse einer anderen Gattung oder eines anderen Mediums. 62 Der Terminus ‚ Adaption ‘ spezifiziert damit den Begriff der ‚ Bearbeitung ‘ , bei dem Vorlage und Folgetext auch innerhalb einer Gattung oder eines Mediums bleiben können. 63 Als ‚ Dramatisierung ‘ gilt somit eine Adaption, deren Ergebnis ein Drama, deren Prätext aber keines ist. Basis ist häufig ein literarischer Text, die Definition legt dies allerdings nicht fest. Häufig sind derzeit Dramatisierungen, die auf Filmen beruhen, aber sogar Dramatisierungen nichtliterarischer Texte sind denkbar. Ich möchte unter einer Dramatisierung keine Stoffbearbeitung im weiteren Sinne verstehen, sondern nur solche dramatischen Texte, bei denen ein nicht-dramatischer Prätext identifizierbar ist. 64 Die Romandramatisierung, da ist der Begriff eindeutig, steht also in intertextueller Beziehung zu einem Roman und übernimmt wesentliche Inhalte aus diesem. Der Begriff ‚ Dramatisierung ‘ wird umgangssprachlich, aber auch in wissenschaftlichen Zusammenhängen gleichzeitig für einen Vorgang und das Produkt daraus verwendet (vgl. Birte Werner im Metzler Lexikon Literatur, Fußnote 61). Ich werde damit ausschließlich den im intertextuellen Verfahren entstandenen Dramentext bezeichnen. Für den Vorgang verwende ich das Verb ‚ dramatisieren ‘ oder dessen subjektivierte Form ‚ das Dramatisieren ‘ . 65 62 So definiert Martin Leubner die Adaption als eine „ Transformation eines lit[erarischen] oder medialen Werks, die durch einen Gattungs- oder Medienwechsel bei Wahrung wesentlicher Handlungselemente gekennzeichnet ist “ , beziehungsweise das Produkt daraus. Martin Leubner: Adaption. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hrsg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moenninghoff. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2007. S. 5. 63 In der Theaterpraxis gilt als Bearbeitung die Einrichtung eines dramatischen Textes für die jeweilige Inszenierung. Die Bühnenbearbeitung zeigt somit schon Striche und Umstellungen, Anpassungen in der Sprache, eventuell montierte Texte und ähnliche Interpretationen und künstlerische Veränderungen für die Bühne. Unklar definiert ist der Begriff der Bühnenfassung. Heute wird er oft als Bezeichnung für Dramatisierungen, aber auch als Synonym für die Bühnenbearbeitung gebraucht. Ich selbst werde den Terminus deshalb meiden, aber seine Verwendung in den Paratexten der Dramatisierungen untersuchen. 64 Gero von Wilpert differenziert nicht zwischen der Transposition eines Einzeltextes und einer Stoffbearbeitung, wenn er definiert: „ Bearbeitung eines (epischen) Stoffes für die Bühne “ . Von Wilpert, Dramatisierung. S. 192. Damit ist aber die Spezifik der Dramatisierung nicht benannt. Dabei sind einzelne Verweise auf andere Werke der Literatur und auch auf andere Adaptionen desselben Prätextes möglich. Sie bestimmen den Text aber nicht im selben Maße. 65 Zum Begriffswirrwarr zwischen Adaption, Dramatisierung, Bühnenfassung, Theateralisierung und vielen Bezeichnungen mehr vgl. Kohlmeier, Vom Roman zum Theatertext. S. 50 - 56. Kohlmeier kommt aufgrund ihres Beobachtungsschwerpunktes auf der Theatralität des Textes zu dem Entschluss, vorrangig den Begriff der „ Theatralisierung “ und des „ Theatertextes “ verwenden zu wollen (S. 56). Die meisten aktuellen Roman- 19 <?page no="32"?> Ich betrachte die Romandramatisierung als Textsorte, die in drei Spannungsfeldern steht und dadurch ihre spezifischen Eigenschaften erhält: Erstens ist sie eine intertextuelle Wiederholung und steht als solche zwischen den Polen von Identität mit ihrem Prätext und Differenz zu diesem. Zweitens liegt ein Gattungswechsel vom Roman zum Drama vor. Die Dramatisierung bewegt sich also zwischen zwei unterschiedlichen literarischen Bezugssystemen. Als drittes Spannungsfeld sehe ich den historischen und/ oder personellen Abstand zwischen Autor der Romanvorlage und Autor (und Publikum) der Dramatisierung, durch die ein Alteritätsverhältnis entsteht. Da erstes und letztes beschriebenes Spannungsfeld für alle Texte gelten, die wesentlich durch intertextuelle Bezüge bestimmt sind, der Gattungswechsel vom Roman zum Drama aber das Alleinstellungsmerkmal der Romandramatisierung gegenüber anderen intertextuellen Formen darstellt, wird dieser zweite Aspekt in den Analysen schwerpunktmäßig berücksichtigt. Zur näheren Bestimmung des Gegenstands werden aber alle drei Felder relevant: 1) Die Pole von Identität und Differenz stehen wesentlich im Zusammenhang mit dem intertextuellen Charakter der Dramatisierung. Die Romandramatisierung basiert auf einem oft besonders umfangreichen und inhaltlich komplexen epischen Werk, sodass ein ebenfalls recht komplexes intertextuelles Bezugssystem zwischen beiden Texten zu erwarten ist. Es bestehen ganze Ketten von Referenzen auf unterschiedlichen Ebenen. In einer genauen Struktur- und Inhaltsuntersuchung kann festgestellt werden, worin genau (bis in einzelne Form- und Inhaltsmerkmale sowie bestimmte Ausdrücke) sich der intertextuelle Bezug manifestiert. Die zur Analyse in dieser Arbeit vorliegenden Dramatisierungen tragen alle den Bezug zum Roman bereits in ihrem Titel. Die intertextuelle Beziehung zwischen beiden Texten wird also von vornherein explizit festgelegt. Der intertextuelle Bezug ist vom Autor der Dramatisierung intendiert - es handelt sich um bewusst hergestellte Intertextualität. In der Regel legt der Autor der Dramatisierung Wert darauf, dass der intertextuelle Bezug vom Rezipienten auch erkannt wird. Der Intertextualitätsbegriff soll im Folgenden in seiner engeren Bedeutung gelten, wie sie Ulrich Broich und Manfred Pfister spezifiziert haben. 66 adaptionen für die Bühne bedienen sich allerdings einer recht konventionellen dramatischen Form, wie zu zeigen sein wird. Der Begriff der Dramatisierung ist deshalb nicht nur eindeutiger, sondern der Mehrzahl der Texte durchaus auch angemessen. 66 Vgl. Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen: Niemeyer 1985. 20 <?page no="33"?> Der Roman wäre in diesem Sinne als Prätext zu bezeichnen, den nachfolgenden Text bezeichne ich als Dramatisierung, (Bühnen-)Adaption oder Folgetext. Entscheidendes Kriterium ist der (formale) Gattungswechsel bei gleichzeitiger Wahrung wesentlicher - nicht unbedingt nur inhaltlicher - Merkmale des Prätextes. Die Romandramatisierung ist also durch eine Einzeltextreferenz bestimmt. Dem gegenüber steht die Systemreferenz, die den Bezug auf eine literarische Tradition in Form einer intertextuellen Serie beschreibt. Von Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist dabei insbesondere die Gattungszugehörigkeit als Systemreferenz im Sinne einer Erfüllung von Gattungstraditionen und -normen. 2) Durch den Gattungswechsel beziehen sich die Texte auf unterschiedliche literarische Traditionen. Daher muss auf Ebene der Systemreferenz von starken Unterschieden ausgegangen werden. Das Typische einer Dramatisierung liegt also darin, dass eine klare Einzeltextreferenz vorliegt, sich Prätext und Bearbeitung jedoch auf unterschiedliche literarische Formsysteme und -traditionen beziehen, insofern also Einzeltext- und Systemreferenz diametral angeordnet sind. 67 Daraus entsteht ein widerstrebendes Moment, das überwunden werden muss oder - positiv ausgedrückt - das die Spezifik der Romandramatisierung ausmacht und das im Akt des Dramatisierens produktiv gemacht werden kann. Wenn formale Merkmale der epischen Gattung ins Drama übernommen werden, stellt das einerseits eine Einzeltextreferenz dar, kann sich andererseits aber auch um einen Bruch mit der Gattungstradition des Dramas handeln und ist insofern auch auf sein provokatives Potential auf dem Theater hin zu prüfen. Denn charakteristisch für die Dramatisierung ist weiterhin, dass sie einen Medienwechsel vorbereitet. Der nicht-dramatische Prätext wird zum Drama, das wiederum als Basis für die Inszenierung auf der Theaterbühne gedacht ist. Die Dramatisierung bildet damit ein Übergangsstadium in ein anderes Medium und nimmt dessen Konventionen in versprachlichter Form eventuell auf (Licht- und Tonanweisungen, Hinweise zum Spiel mit dem Publikum oder den Räumlichkeiten). Lenz führt das darauf zurück, dass das Drama „ generell auf dem Schnittpunkt zweier Medien angesiedelt “ sei. 68 Diese Ausrichtung auf ein neues Medium gilt für die Romandramatisierung in besonderem Maße, da in der aktuellen Praxis Dramatisierungen fast immer direkt für die Aufführung am Theater, nur selten ohne Auftrag und nicht für ein Lesepublikum geschrieben werden. 67 Vgl. auch Lenz, Intertextualität und Gattungswechsel. S. 163. 68 Ebd. S. 159. 21 <?page no="34"?> 3) Wie jede Art der Textbearbeitung ist auch das Dramatisieren als autographer oder allographer Vorgang denkbar. Die Häufigkeit der beiden Verfahren variiert je nach Epoche und literarischer Form. Aktuell sind allographe Dramatisierungen deutlich häufiger zu finden. Für meine Analysen ergibt sich dadurch ein weiterer Beobachtungsschwerpunkt: die Romandramatisierung in ihrem Alteritätsverhältnis zum Prätext. Romane, deren Veröffentlichung lange zurückliegt, sind so als Prätexte von besonderem Interesse. Der historische Abstand verdeutlicht das Interpretationsverhältnis zwischen Roman und Dramatisierung. Die Romandramatisierung ist somit als Deutung des Romans zu betrachten und repräsentiert eine bestimmte Sichtweise auf das Werk. Neuausrichtungen des Textes stellen einen Teil der Rezeption dar und können auch auf diese zurückwirken. Bachtin spricht in seiner Abhandlung zum Roman von der Dialogizität des Erzählens als besonderer Eigenschaft des Romans. Nur im Roman sei es durch die Erzählinstanz möglich, zwei Stimmen, zwei Sichtweisen oder zwei soziale Bezugssysteme innerhalb einer Äußerung sprechen zu lassen. Aus einem zwischen diesen Stimmen angelegten Widerspruch ergebe sich ein fruchtbarer Dialog beider Anschauungen. Bachtin spricht dem Drama und dem Theater diese Fähigkeit explizit ab, da in diesem nur (linear aufeinander folgend) direkte Äußerungen gemacht werden könnten. 69 Es liegt nahe, dass die Spezifik der Dramatisierung genau darin besteht: Durch den Bezug zum Prätext, den eventuellen Widerspruch zu diesem, sind hier wiederum zwei synchrone Äußerungen möglich; genauer gesagt enthält die Dramatisierung zu jeder Zeit zwangsläufig mindestens zwei Stimmen. In der Dramatisierung ist Dialogizität über den intertextuellen Bezug herstellbar und erfahrbar. Insofern ist die kritisch durchgeführte intertextuelle Bearbeitung eines Romans auch eine Stellungnahme zur bisherigen Praxis seiner Deutung, kann also in die Nähe literaturwissenschaftlicher Betrachtungen von Texten rücken. Dieser Aspekt macht die Romandramatisierung zu einem besonders interessanten Objekt für die Literaturwissenschaft. Sie bildet als Textsorte in besonderer Weise einen Schnittpunkt zwischen kunstpraktischer und literaturwissenschaftlicher Arbeit. 69 Vgl. Michael M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. Rainer Grübel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. S. 154 - 300. Hier S. 215. 22 <?page no="35"?> 1.3 Fragestellungen und Erkenntnisinteresse In meiner Arbeit werde ich die literarischen Spezifika der Romandramatisierung, also formale und strukturelle Eigenschaften und die Art ihres Bezugs zum Prätext herausarbeiten, aber auch die Wirkung des zeitgenössischen Theaterbetriebs auf diese literarische Form sowie ihre Funktion darin untersuchen. Die drei in der Definition beschriebenen Spannungsfelder sollen für die Fragestellungen leitend sein. In Bezug auf Identität und Differenz, also den Wiederholungscharakter der Werke, werde ich insbesondere Fragen der Markierung von Intertextualität, der (Selbst-)Verortung im Paratext und in den Medien der Verlage und Theater nachgehen. Fragen von Autorschaft spielen dabei eine große Rolle. l Markiert die Romandramatisierung ihren Status als intertextuelles Werk? l Welche Übereinstimmungen zwischen Prä- und Folgetext kommen besonders häufig vor? Gibt es Strukturen oder Textteile, die besonders häufig stark verändert, ausgelassen oder hinzugefügt werden? l Welches Autorschaftsverständnis zeigt sich in den Texten? In welchem Zusammenhang steht dieses zu den mit dem Prätext identischen und den differierenden Passagen im Werk? Hauptgegenstand meiner Arbeit bildet der Gattungswechsel selbst: Ich werde Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Romanen und ihren Dramatisierungen herausarbeiten und so die für den Gattungswechsel relevanten Strukturmerkmale kategorisieren. Dazu entwickele ich in Kapitel 3 (basierend auf Ansätzen der transgenerischen Narratologie) ein Analyseinstrumentarium, welches es erlaubt, die Romane und ihre Adaptionen trotz ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Hauptgattungen vergleichend zu betrachten. Ich erwarte mir von der vergleichenden Analyse auch eine Systematisierung der Dramatisierungen in gattungstheoretischer Hinsicht und werde dazu der Frage nachgehen, welches die charakteristischen Merkmale dieser Texte sind und ob sie sich in diesen Spezifika von anderen Dramen abgrenzen. Wie oben skizziert, interessiert mich dabei besonders die dramatische Form jenseits einer normativen Dramenpoetik sowie das Verhältnis von Literatur und Theater, wie es sich in den Texten abzeichnet. l Inwiefern übernimmt das entstandene Drama erzählerische Mittel seines Prätextes, wie grenzt es sich davon ab? Wie beeinflussen die gewählten Darstellungsformen seine Gesamtstruktur und seine Wirkungspotentiale? l Wie verhalten sich Übernahmen und Veränderungen in Bezug auf konventionelle Dramenformen? 23 <?page no="36"?> l Gibt es Spezifika, durch die sich Romandramatisierungen von anderen Werken der Gegenwartsdramatik unterscheiden? Nicht nur der Autor der Dramatisierung beeinflusst das Verhältnis zum Prätext durch seine spezifische Sicht, auch der historische Abstand wirkt in diese Beziehung hinein. Umwertungen, die durch die Alterität in der Weltwahrnehmung vom Autor des Prätextes und vom Autor der Dramatisierung entstehen, soll ebenfalls nachgegangen werden. l Wie reagiert die Dramatisierung auf die historische Fremdheit? Was wird als vertraut dargestellt? l Markiert der Dramentext den historischen und personellen Abstand? Wo er eine solche Markierung vornimmt: Wie geschieht sie, auf was für eine Art von Fremdheit bezieht sie sich? Die definitorische Bestimmung, die Beschreibung über die drei Spannungsfelder sowie einige grundlegende Feststellungen zum Gattungswechsel gelten für Romandramatisierungen unabhängig vom historischen Vorkommen. Ergebnisse zu den gelockerten Gattungsgrenzen, zum Bezug auf den Theaterbetrieb und die Gegenwartsdramatik sowie zu den Funktionen der Dramatisierung hängen dagegen in hohem Maße vom gegenwärtigen Theater- und Literaturbegriff und den institutionellen Bedingungen ab. Bei der Auswertung der Analysen wird deshalb darauf zu achten sein, wo grundsätzliche Spezifika der Romandramatisierung und wo historische Formen beschrieben werden. Um das Phänomen Romandramatisierung näher zu beschreiben, ein Begriffsrepertoire, Beobachtungsschwerpunkte und differenziertere Fragestellungen zu entwickeln, sollen die drei genannten Spannungsfelder in Kapitel 2 jeweils einzeln ausgeführt und in ihrer Relevanz für die aktuelle Romandramatisierung bestimmt werden. Dabei werden sie jeweils mit Blick auf das Drama, aber vielfach auch mit Blick auf die Praxis des Theaters dargestellt. In Kapitel 3 folgt eine Reflexion zur Anwendung von Methoden der Erzähltextanalyse auf das Drama und zur Anwendbarkeit wesentlicher Beobachtungsschwerpunkte der Dramenanalyse auf Erzähltexte. Über die Kombination beider Verfahren kann ein gemeinsames Analyseinstrumentarium (weiter-)entwickelt werden, mit dem epische Prätexte und dramatische Folgetexte zu beschreiben sind und das auch epische Formen im dramatischen Text erfassen kann, also zur Untersuchung aktueller Dramenformen geeignet ist. Die Textanalysen folgen in Kapitel 4 und sind Kernstück dieser Arbeit. Es handelt sich um vergleichende Untersuchungen von Roman und Dramatisierung, die formale, strukturelle und inhaltliche Aspekte in ihrem Zusam- 24 <?page no="37"?> menhang berücksichtigen. In einigen Fällen werden verschiedene Dramatisierungen zum selben Prätext vergleichend betrachtet. Der Analyse der literarischen Texte folgt eine zusammenfassende Auswertung der Darstellungsformen der Dramatisierungen in Kapitel 4.6. Die Ergebnisse der Analysen werden, orientiert wiederum an den drei oben beschriebenen Spannungsfeldern, in Kapitel 5 dargestellt. Hier erfolgt außerdem eine Einschätzung zur Varianz der Formen und zur Häufigkeit dieser in der gegenwärtigen Theaterpraxis. Kapitel 6 stellt die Romandramatisierung der Gegenwart in ihrem Bezug auf theatergeschichtliche Entwicklungen, in ihren Funktionen für das Gegenwartstheater und in Zusammenhang zur Stoffgeschichte dar. Hier werden also Kontexte verschiedener Art aufgezeigt. Die Arbeit schließt mit einem kurzen Ausblick in Kapitel 7. 25 <?page no="38"?> 2. Das Phänomen Romandramatisierung: Spannungsfelder und Terminologie Wenn mir jemand ins Buch sieht, so ist mir immer, als wenn ich in zwei Stücke gerissen würde. (Eduard in Albrecht Hirche, wahlverwandtschaften nach goethe, S. 4) Drei Spannungsfelder, so meine Definition (vgl. Kapitel 1.2), bestimmen die Romandramatisierung: Die intertextuelle Wiederholung stellt sie in ein Wechselverhältnis von Identität und Differenz, der Gattungswechsel bringt eine Spannung zwischen epischen und dramatischen Darstellungsmöglichkeiten und -konventionen mit sich und das Alteritätsverhältnis im historischen Abstand ein Changieren zwischen Nähe und Fremdheit. Die folgenden Ausführungen sollen erstens die Romandramatisierung über diese Aspekte genauer definieren. Dazu wird zweitens eine exakte Definition der zentralen Begriffe notwendig, die hier geleistet werden soll. Die Termini werden jeweils mit Blick auf die Entstehungs- und Wirkungshintergründe der Romandramatisierungen skizziert: in Bezug auf literarische Verfahren, aber auch in Zusammenhängen der Theaterpraxis. Drittens werden die theoretischen Begriffe und Instrumentarien, wo es möglich ist, in Fragestellungen für die Analyse der Texte in Kapitel 4 überführt. So kann die theoretische Bestimmung der Romandramatisierung in diesem Kapitel Beobachtungsschwerpunkte für die Analysen anbieten. In 2.1 wird die Wiederholung als literarisches und theatrales Phänomen dargestellt: Ich frage nach der Gültigkeit von Kriterien wie Originalität und Kopie (die im Theater anders bewertet werden als in der Literatur) und dem Verhältnis von Reproduktion und Innovation beim Dramatisieren. Dramatisierungen verstehe ich als eine besondere Form der Rezeption und Interpretation von Literatur, die ihrerseits produktiv wird. Der Gattungswechsel von Roman zu Drama wird in Abschnitt 2.2 definiert. Die Geschehensdarstellung bestimmt dabei die Gemeinsamkeit von Roman und Drama, die mediale Ausrichtung die Differenz. Gerade die Dramatisierung wird über ihr Zielmedium Theater bestimmt, sodass ich in diesem Kapitel den Gattungswechsel als avisierten Medienwechsel betrachte und den damit einhergehenden Veränderungen in der Rezeptionsweise nachgehe. 26 <?page no="39"?> Abschnitt 2.3 betrifft allographe Dramatisierungen insbesondere bei großem historischem Abstand zwischen Prä- und Folgetext. Damit möchte ich ein zusätzliches Spannungsfeld untersuchen, das die Intertextualitätstheorie bisher nur am Rande behandelt: den diachronen Abstand. Ich kombiniere dazu Rezeptionstheorien mit der Intertextualitätstheorie und beschreibe das entstehende Kommentarverhältnis als Dialogizität. 2.1 Dramatisierung als Wiederholung: Identität und Differenz Fürchtest du nicht, Franz, die Kopie eines Vaters zu sein, dessen Original unvergleichlich unerreichbar ist? [. . .] Ist dir nicht die Freiheit verleidet, für dich selbst entscheiden können müssen zu dürfen [. . .]? (Franz in Thomas Jonigk, Die Elixiere des Teufels, S. 49) Das vorangestellte Zitat aus Thomas Jonigks Dramatisierung der Elixiere des Teufels von E. T. A. Hoffmann zeigt Franz ’ Angst vor der Wiederholung, genauer: davor nur ‚ Kopie ‘ zu sein. Diese Angst wird für ihn zu einem zentralen Lebensproblem, weil er sich als Künstler (denn als Künstlerfigur zeigt Jonigk den Protagonisten) über seine Originalität definiert. Er spricht damit ein Thema an, das gerade im deutschsprachigen Literaturraum eine ernstzunehmende Karriere gemacht hat und das seit dem Geniekult im Sturm und Drang geradezu gepflegt wurde: Die Fülle an vorausgegangenen Werken wird für den Schriftsteller zur Belastung, sieht er sich doch in der Gefahr, angesichts der berühmten und geschätzten ‚ Originale ‘ nur als unbedeutender Nachfolger, vielleicht sogar Kopist, jedenfalls als epigonal angesehen zu werden. Am Beispiel der literarischen Klassik, die in (wenngleich problematischen) teleologischen Epochenmodellen gern als Hochzeit literarischen Schaffens betrachtet wird, lässt sich jedoch exemplarisch nachvollziehen, dass sich das künstlerische Streben nach Originalität und Einzigartigkeit und die Bearbeitung vorhandener Stoffe nicht ausschließen. Die Autoren der Epoche knüpfen programmatisch an vorhandene Werke an. Die ‚ Wiederholung des Alten im Neuen ‘ kann gar das erklärte Ziel sein, wie es Karl Philipp Moritz in seinem Roman Anton Reiser durchdenkt. Rüdiger Görner bemerkt dazu, dass hier eine wechselseitige Spiegelung des Neuen und Alten 27 <?page no="40"?> intendiert ist, nicht mehr der Vorrang des Originals vor der Nachbildung. 1 Das Schlagwort des ‚ Epigonentums ‘ oder der ‚ Epigonalität ‘ , das sich gerade im Anschluss an die literarische Klassik entwickelt, 2 verkennt also die Rechtmäßigkeit der Möglichkeit, wenn nicht gar Notwendigkeit jeder literarischen Produktion, sich an bekannten Texten, Stoffen und Formen zu orientieren, sie umzuarbeiten und neu zu werten. Die starre Dichotomie der genannten Prinzipien von Kunstproduktion und Kunstbetrachtung muss daher nicht erst in der Postmoderne fragwürdig erscheinen. Obwohl die Opposition von Neuschöpfung und Nachahmung in der Praxis nie so klar bestanden hat, prägen die damit zusammenhängenden binären Oppositionspaare seit mehr als zwei Jahrhunderten die Betrachtung und Bewertung von Literatur und anderen Kunstwerken. Sie werden dabei stets in hierarchischer Reihung gedacht: Das Original steht der Kopie vor, das Primäre dem Sekundären, 3 das Ereignis (im Sinne eines einzigartigen Vorgangs) der Wiederholung, das Genie dem Kopisten oder Epigonen, die highculture der low-culture. Mit solchen Begriffen von Kunst und Originalität wird auch die Bewertung von Dramatisierungen vorgenommen, die per definitionem Wiederholungen sind und deren ‚ Schöpfung ‘ eine ‚ Praktik des Sekundären ‘ 4 sein muss. Da Fragen der Originalität in der Kritik zu Romandramatisierungen oft berührt 1 Vgl. Rüdiger Görner: Sinn der Wiederholung. Zur Morphologie einer erfahrenen Idee. In: Goethe at 250 = Goethe mit 250. Hrsg. v. Terence J. Reed. München: Iudicum 2000. S. 209 - 222. Hier S. 210. 2 Burkhard Meyer-Sickendiek geht der Begriffsverwendung in unterschiedlichen Bereichen des Literaturbetriebs, seiner Bewertung und Verbreitung in diachroner Perspektive nach. Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann - Keller - Stifter - Nietzsche. Tübingen/ Basel: Francke 2001. 3 In den Begriffen des Primären und Sekundären drückt sich besonders deutlich der Zusammenfall eines beobachtbaren Phänomens, nämlich der zeitlichen Komponente (das Primäre als das Vorgängige), mit einer hierarchischen Ordnung aus. 4 ‚ Praktiken des Sekundären ‘ möchte ich nach Fehrmann, Linz u. a. verstanden wissen als kulturelle und mediale Verfahren, „ die gezielt auf den Status des Vorgefundenen, des Nicht-Authentischen oder des Abgeleiteten ihres Gegenstands bzw. Materials setzen - oder aber derartige Zuschreibungen bewusst problematisieren. Es ist die dezidierte Aneignung, die Praktiken des Sekundären von Produktionsweisen unterscheidet, die zwar notwendig auch auf Traditionsbestände zurückgreifen, dies jedoch - häufig unter den Vorzeichen von Originalität und Authentizität - unterschlagen, verdrängen oder zumindest nicht explizit ausweisen. “ Gisela Fehrmann, Erika Linz, Eckhard Schumacher und Brigitte Weingart: Originalkopie. Praktiken des Sekundären - Eine Einleitung. In: Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Hrsg. v. dens. Köln: DuMont 2004. S. 7 - 17. Hier S. 7. 28 <?page no="41"?> werden, soll dieser Aspekt hier als erster ausgeführt und in Diskurse um Literatur und Kunst (auch historisch) eingeordnet werden. Anschließend werde ich das Prinzip der Wiederholung allgemein, dann im Zusammenhang mit der Intertextualität betrachten. Durch den Blick auf die Kunst, spezieller auf Literatur und Theaterpraxis, soll das Phänomen der Dramatisierung als explizit wiederholende Praktik näher bestimmt und in Bezug auch auf die Rezeption untersucht werden. 2.1.1 Prinzipien von Originalität und Epigonalität Die Entstehung des Paradigmas der künstlerischen Originalität wird oft mit dem neuen Künstlerbild in der aristotelischen Poetik erklärt. Dadurch dass Aristoteles von der platonischen Lehre der Ideen abweicht, bildet nach seiner Theorie der Künstler keine Abbilder, sondern Wirklichkeit ab. Seine Aufgabe wird die Mimesis auf erster Stufe. Denn Aristoteles geht davon aus, dass sich die Idee erst aus den Phänomenen ergibt - also nicht vorgefertigt vorliegt. 5 Der Anspruch der mimetischen Darstellung der Wirklichkeit in der Kunst soll auch darin liegen, allgemeine Wahrheit in eine Form zu bringen. So ergibt sich zwangsläufig ein höheres Bild vom Dichter, das sich nicht mehr (wie noch bei Platon) mit dem Vergleich zum Handwerker vereinbaren lässt. Dichtung wird zur Interpretation von Welt, zu einem nicht rein abbildenden, sondern abstrahierenden Akt. Bezogen auf den Dichter gibt das neunte Kapitel der Poetik Auskunft, „ daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte “ . Er solle das „ Allgemeine “ darstellen. 6 Ein schöpferischer Akt sowie eine denkerische Abstraktionsleistung sind also grundlegend. Gerade im Vergleich zu Platons Abwertung des Künstlers zeigt sich hier eine Neudefinition, die sich in der Neuzeit durchsetzen wird. Dieser Anspruch auf Originalität hat sich seit der Neuentdeckung antiker Konzepte in der Renaissance gehalten und wird gerade in Bezug auf (im Nachhinein) als besonders bedeutend eingeschätzte Epochen und Künstler zum Problem. Der Begriff des Epigonalen hat seine pejorative Konnotation dabei erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt; Konnotationen wie die des ‚ Unvermögens ‘ , des ‚ Reaktionären ‘ oder der ‚ Kopie ‘ sind nicht von Anfang an intendiert. Immermann, der wesentlich zur Verbreitung des Begriffs beiträgt, sieht darin eher eine Erbfolge, die Nachdichtung als 5 Als Grundlage dieses Gedankens muss die Substanzlehre in der Metaphysik betrachtet werden. Die Poetik selbst thematisiert diese Zusammenhänge nicht. 6 Aristoteles: Poetik. Griechisch/ Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 1994. S. 29. 29 <?page no="42"?> Erinnerung, als Reminiszenz an frühere literarische Werke. Er stützt damit das Originalitäts- und Autorschaftsprinzip und sieht sich als Nachfolger, muss darüber aber nicht klagen. Reminiszenzen in seinem Sinne seien Teil der Herstellung kultureller Tradition und bildungsbürgerlicher Identität durch einen bestimmten Code. So konnotiert Markus Fauser den Begriff des Epigonalen und setzt ihn in Beziehung zur Intertextualität: Ob Dilettant oder Meister, mit den Reminiszenzen reflektiert die Kunst Rezeptionsphänomene. Das ist entscheidend, denn dadurch erst bekommt die Kunst in der Moderne die Aufgabe, an vergangene Kunst zu erinnern und fordert vom Rezipienten bestimmte Leistungen. Die Reminiszenz der Kunst liegt demnach nicht vorrangig in ihrer Zitathaftigkeit, sondern darin, daß der Rezipient überhaupt zur intertextuellen Lektüre angeregt wird, daß der Text den dialogischen Lektüreprozeß einleitet. 7 Die Reflexion über Rezeptionsphänomene, die Fauser hier als typisch für erinnerndes Schreiben und eine Poetik der Epigonalität nennt, ist wohl ein Kennzeichen allen intertextuellen Schreibens, ob nun als positiv angelegte ‚ Reminiszenz ‘ oder kritische Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten und Formen. 8 Entscheidender ist das Selbstbild des Künstlers und die Wahrnehmung des Rezipienten: Inwieweit schätzen Dichter und Leser ein Werk als Folgewerk, inwieweit als Neuschöpfung ein? Die Art der Bewertungsmaßstäbe und der Sicht auf Kultur scheint hier einflussreicher als die inhaltlichen Korrelationen zwischen Werken. Burkhard Meyer-Sickendiek bemerkt: „ Die Wiederholung tradierter Themen und Motive als epigonal zu empfinden, ist letztlich der Ausdruck einer subjektiven Wertschätzung. Diese jedoch ist keineswegs konstant, sondern vielmehr von Autor zu Autor verschieden. “ 9 Einig sind sich Fauser und Meyer-Sickendiek darüber, dass es entscheidend für die Bewertung eines Textes sei, wie er sich zu seinem Vorgänger stelle, wie transparent er seine Absicht mache. Nimmt ein Dichter sich selbst als epigonal wahr, wie bewertet er diese Selbsteinschätzung und welche Schreibstrategien verwendet er daraufhin? Wie stark legt er den Bezug offen? Deutlich wird auch hier, dass der Status als Original oder Kopie „ immer auf Zuschreibungen und Konventionen zurückzuführen “ 10 ist und somit von kulturellen Rahmenbedingungen abhängt sowie von Zuschreibungen von 7 Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien. München: Fink 1999. S. 52. 8 Insofern wird diese These der besonderen Situation im 19. Jahrhundert, die Fauser untersucht, nur bedingt gerecht, charakterisiert dafür aber Intertextualität als solches. 9 Meyer-Sickendiek, Die Ästhetik der Epigonalität. S. 15. 10 Fehrmann, Linz u. a., Originalkopie. S. 9. 30 <?page no="43"?> Singularität sowohl in der raumzeitlichen Situierung als auch in der Abhängigkeit von einer bestimmten Autorperson: Die Unterscheidung von Original und Kopie als Produkt transkriptiver Prozesse zu betrachten, heißt zunächst einmal, sie aus ihrer zeitlichen Definitionslogik von Ursprünglichem und Nachfolgendem zu lösen. Originale begründen nicht nur eine Vielzahl von kulturellen Diskursen, sondern werden über diese allererst als Originale konstituiert. 11 Bei der Arbeit mit den Dramatisierungen soll deshalb untersucht werden, wie die Werke veröffentlicht werden: Wird der intertextuelle Charakter offengelegt, als selbstverständlich angesehen oder besonders betont? Wie werden insbesondere im Paratext Fragen der Autorschaft verhandelt? Von besonderem Interesse wird sein, ob und wie sich die Dramatisierungen mit ihrem sekundären Status innerhalb des Textes auseinandersetzen, wie sie also ihr Verhältnis zum Prätext gestalten und explizieren. 2.1.2 Merkmale und Leistungen der Wiederholung: Identität und Differenz In Bezug auf die Kunstproduktion wird der Begriff der Wiederholung innerhalb der oben beschriebenen Wertungskategorien oft mit pejorativer Bedeutung benutzt: als Gegenteil von Originalität, als Routine, als Kopie. Aus diesen Zusammenhängen herausgelöst, zeigen sich hingegen Aspekte des Phänomens, die nicht zwangsläufig negative Inhalte tragen müssen. Dazu gehören das Überdenken eines Sachverhalts, der damit verbundene Erkenntnisgewinn sowie die Eröffnung von neuer Bedeutungsqualität. Mit diesen ganz anderen Kategorien arbeiten zentrale philosophische Abhandlungen zur Wiederholung. Kierkegaard erhebt die Wiederholung (in Abgrenzung von der Erinnerung) zu einem Gegenstand philosophischer Betrachtung. 12 Er deutet Wiederholung positiv als möglichen Neubeginn, als Gelegenheit der Selbstverbesserung und damit als innersten Ausdruck der Freiheit des Menschen. Jenseits der christlichen Metaphysik, die Kierkegaard an die Kategorie der Wieder- 11 Ebd. 12 Wenn Dorothea Glöckner erklärt: „ Die ‚ Wiederholung ‘ ist Kierkegaards originelle Kategorie “ , dann klingt diese These durch die darin enthaltenen gegensätzlichen Begriffe fast paradox. Doch tatsächlich rückt Kierkegaard den Terminus in den Kanon philosophischer Grundbegriffe: „ Es gibt keine Vorbilder in der europäischen Geschichte der Philosophie, die das Phänomen der Wiederholung in den Rang eines ethisch relevanten Begriffes oder einer Existenzkategorie erhoben hätten. “ Dorothea Glöckner: Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Berlin/ New York: de Gruyter 1998. S. 12. 31 <?page no="44"?> holung anschließt, sind mehrere Aspekte seiner Beobachtungen für die Kunst von Belang. Zunächst betont Kierkegaard das dialektische Wesen jeder Wiederholung: Die Dialektik der Wiederholung ist leicht; denn das, was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht wiederholt werden, aber gerade, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu etwas Neuem. [. . .] [W]enn man sagt, daß das Leben eine Wiederholung ist, so sagt man: das Dasein, das dagewesen ist, entsteht jetzt. 13 Neben dieser doppelten Ausrichtung der Wiederholung wird ein weiterer Aspekt zentral: Kierkegaard bringt die Wiederholung in Zusammenhang mit dem Erinnern, grenzt aber klar gegen die rein summarische Reproduktion von Vorgängen ab: „ Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. “ Somit sei die Wiederholung eine „ Erinnerung in vorwärtiger Richtung “ . 14 In einem etymologischen Ansatz erklärt Dorothea Glöckner am dänischen Begriff ‚ Gentagelse ‘ und der deutschen Übersetzung ‚ Wiederholung ‘ , dass der Begriff das sich erneute Aneignen, also einen aktiven Prozess der Aneignung darstellt. In einer solchen Bedeutung werde das Wort „ zum Werkzeug von Kommunikation, Verstehen und Verständigung “ . 15 Glöckner drückt dies durch die getrennte Schreibung ‚ Wieder-holen ‘ aus. 16 Ihre Definition zeigt, dass der Wiederholung ein veränderndes Moment innewohnen kann, auf jeden Fall aber ein Moment des erneuten Aneignens einer Sache, ein Moment der erneuten Reflexion, auch der Selbstreflexion. Dabei wird die Zeit beziehungsweise der zeitliche Abstand von Ereignis und Wiederholung zu einem entscheidenden Faktor: Er begründet bei Kierkegaard die Unmöglichkeit einer echten Wiederholung und grenzt die vorwärtsgerichtete (also die vergangene Zeit nicht leugnende) Wiederholung von der (rückwärtsgewandten) Erinnerung ab. 17 In Bezug auf Wiederholungen in der Kunst werden vorrangig die Differenz und die Art der Differenz betrachtet. Interpretationen fragen mit Vorliebe nach der Veränderung von Stoffen und Motiven, nach Umwer- 13 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. Übersetzt, mit Einleitung und Kommentar hrsg. v. Hans Rochol. Hamburg: Meiner 2000. S. 22. 14 Ebd. S. 3. 15 Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung. S. 13. 16 So trennt auch Kierkegaard das Wort in anderem Zusammenhang. Vgl. Kierkegaard, Die Wiederholung. S. 45. 17 Hier soll der zeitliche Abstand zunächst nur für die Definition und Funktion der Wiederholung interessant sein. In Bezug auf die konkrete Arbeit mit den Dramatisierungen werde ich auf das Zeitkriterium in Kapitel 2.3 noch einmal genauer eingehen. Dennoch zeigt sich hier, dass die skizzierten Spannungsfelder miteinander verknüpft sind. 32 <?page no="45"?> tung oder Erweiterung von Bedeutung. Dass das Spannende an einer Wiederholung die Differenz sei, ist eine Haltung, die sich in den Bewertungen aller sekundären Praktiken zeigt. Damit aber werden die gewohnten Bewertungsmaßstäbe von Originalität und Neuheit wieder angewandt.Definiert man hingegen die Wiederholung im Bereich der Kunst und ihrer Betrachtung (dabei insbesondere auch der Literatur) als erneute Rezeption, dann ermöglicht sie die Differenzbildung, den vertieften Zugang, die Neubewertung aus einer veränderten Situation heraus. Damit erlaubt es die Wiederholung, neue Sinnpotentiale zu realisieren. Der Doppelcharakter der Wiederholung, Identität und Differenz, muss also in der Kunstbetrachtung berücksichtigt werden. Dietrich Mathy erläutert: Einseitiges Beharren auf dem Identitätsaspekt dementiert diesen, weil ein folgendes nicht zugleich ein Voraufgegangenes [sic! ] ist, wie umgekehrt ein einseitiges Beharren auf dem Differenzaspekt im Wiederholungsmodus diesen dementiert, weil eine Differenzerfahrung stets Identifikation voraussetzt, womit die Bestimmung der Wiederholung nur als Identität und Differenz ihrer Momente zugleich festzuhalten ist. Nur durcheinander vermittelt haben Identität und Differenz Bestand. 18 Was das für intertextuelle Verfahren bedeutet, möchte ich im Folgenden darstellen. 2.1.3 Wiederholung und Intertextualität Jede Form von Intertextualität wiederholt (in sehr unterschiedlichem Umfang und auf verschiedene Art und Weise sowie mit unterschiedlicher Funktion und Wertung) einen bestehenden literarischen Text. Auch Intertextualität muss als Wiederholung immer beides sein: Identität und Differenz. 19 Je nach Art der Intertextualität wird die Wiederholung im Sinne von Identität als Normalfall oder als Ausnahme betrachtet. Entscheidend sind dabei das Kontextwissen und die Erwartungshaltung des Rezipienten. Letztere wird 18 Dietrich Mathy: Vorab ergänzend. In: Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung. Hrsg. v. Carola Hilmes und Dietrich Mathy. Opladen/ Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. S. 7 - 11. Hier S. 8. 19 Untersucht man diesen Aspekt an Genettes System zur Intertextualität, so zeigt sich zwar, dass die Identität Grundlage für die Feststellung jeder Art von Transtextualität ist. Die Differenz wird jedoch genutzt, um das vornehmlich betrachtete Phänomen der Hypertextualität in Kategorien näher zu spezifizieren. Die verschiedenen Typen von Persiflage und Pastiche, von Parodie und Travestie, insbesondere auch von Transpositionen werden durch die Art ihrer Differenz zum Prätext bestimmt. 33 <?page no="46"?> durch die Markierung 20 des intertextuellen Bezugs bestimmt: Wird der intertextuelle Bezug zum Beispiel durch den Paratext (Titel und Untertitel) oder durch Personennamen, die sich eindeutig zuordnen lassen, markiert, dann wird das Zitat beziehungsweise die Identität als Normalfall angesehen. In der Analyse wird folglich der Differenz zum Prätext besondere Beachtung geschenkt: Was macht der Folgetext anders? Handelt es sich hingegen um einen Text, der seinen intertextuellen Bezugspunkt nicht von vornherein preisgibt, der also beispielsweise unmarkierte Zitate enthält, dann wird die Identität zur Besonderheit und steht als solche im Mittelpunkt der Betrachtung: Welche Teile des Prätextes werden angegeben und welche Konnotationen des Prätextes werden so in den neuen Zusammenhang integriert? Die Markierung über den Titel ist auch deshalb von besonderer Relevanz, weil der Text damit angibt, dass er als Gesamtheit auf einem anderen aufbaut, welcher den Folgetext durchgehend prägt. Bei einer punktuellen Intertextualität geschieht die Referenz auf den Prätext unerwartet, gerade wenn sie unmarkiert bleibt. Insofern wird die Gleichheit, das Zitat, als Ausnahmefall aufgefasst. Entscheidend sind also drei Kriterien: Handelt es sich um eine punktuelle Intertextualität oder um den Bezug auf einen Gesamttext? Wird die Intertextualität als solche markiert? An welcher Stelle des Textes wird sie markiert? Für die hier betrachteten Dramatisierungen, die alle den Bezug zum Prätext im Titel tragen, heißt das in der Erwartung der Rezipienten: Das Zitat wird als Normalfall betrachtet, Differenz als betrachtungswürdig. Denn hier ist die Wiederholung, das Zitat, über den Titel programmatisch angegeben, die Wiedergabe scheint im Vordergrund zu stehen. 2.1.4 Bedeutungskonstruktion durch Wiederholung als Verfahren in Literatur und Theater Die Wiederholung, auch als Intertextualität, ist grundlegend für Kultur: „ Unsere kulturelle Tradition baut sich auf Wiederholungen auf, aber sie dürfen nicht als solche erscheinen. “ 21 Die Wiederholung gehört also nicht zu 20 Zu den möglichen Arten der Markierung von Intertextualität siehe Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen: Niemeyer 1985. S. 31 - 47. 21 Mathias Spohr: Wiederholung und Neugestaltung im Theater. In: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft 43 (2000, Heft 4). S. 19 - 23. Hier S. 19. Zu ergänzen wäre: Sie dürfen nur unter bestimmten Bedingungen als solche erscheinen, nämlich unter Wahrung des Autorschafts- und Originalitätskonzepts, also in deutlicher 34 <?page no="47"?> vermeintlich ‚ epigonalen Zeiten ‘ , sie ist vielmehr künstlerisches Basisprinzip und grundlegend für jede künstlerische Wirkung. Selbst die Kritik an bekannten Strukturen ist auf das Prinzip der Wiederholung angewiesen. Knut Hickethier stellt deshalb die Moderne als Bruch mit der Tradition dar: Die Moderne bestand auf Einmaligkeit. Das Gleichbleibende und sich ständig Wiederholende wurde zerstört, die Splitter, die bei der Zerschlagung der Form entstanden, hatten als Fragmente einmalig und in ihrer neuen bizarren Form überraschend und Erkenntnis freisetzend zu sein. 22 Der Gestus des Wiederholens änderte sich in der Moderne von der Reminiszenz zur Rebellion. Damit stand weiterhin die Autorschaft mit Begriffen von Originalität und Schöpfertum in Verbindung. Eine kritische Revision dieser Konzepte folgt erst später und zunächst im theoretischen Diskurs. Die Erkenntnis, dass alle Kunst auch Wiederholung ist, man also ‚ immer schon im Zitat lebe ‘ und produziere, hat erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bewertung von Wiederholungen verändert. Mit der Einsicht, dass künstlerisches Schaffen ohne (zumindest unbeabsichtigtes) Zitieren gar nicht möglich ist, gewinnt das bewusste Zitat an Wert. Helge Nowak stellt fest, dass sich Praktiken des Sekundären erst dadurch als Kunst verbreiten können: Eine wichtige Rahmenbedingung stellt dabei der langfristig sich vollziehende [. . .] Wandel ästhetischer Leitvorstellungen dar: weg von einer nach-aristotelischen Ästhetik einerseits sowie einer romantischen Originalitätskonzeption andererseits und hin zu einer Akzeptanz transtextueller Bezugnahme. 23 In den 1960er und 1970er Jahren wurde das Zitat als Popstrategie „ in den Dienst einer programmatischen Durchkreuzung der kulturellen high/ low- Unterscheidung gestellt, die traditionell mit der Dichotomie von Original und Kopie verbunden ist “ , 24 in den 1980er Jahren thematisierte die Kunst gerade die Originalität als Zuschreibung, stellte Kunst sich als Kopie aus. Das Sekundäre, das Zitat, wird inzwischen also mit größerer Selbstverständlichkeit eingesetzt und hat eine Aufwertung erfahren. Die Betonung der Rezeptionsseite steht in Konkurrenz zur Produktionsästhetik. Doch das Prinzip der Absetzung von Plagiat und Kopie und mit Betonung auf dem Erneuerungsaspekt. Diese Konzepte sind außerdem historisch gebunden. 22 Knut Hickethier: The same procedure. Die Wiederholung als Medienprinzip der Moderne. In: Die Wiederholung. Hrsg. v. Jürgen Felix, Bernd Kiefer u. a. Marburg: Schüren 2001. S. 41 - 62. Hier S. 43. 23 Helge Nowak: „ Completeness is all “ . Fortsetzungen und andere Weiterführungen britischer Romane als Beispiel zeitübergreifender und interkultureller Rezeption. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1994. S. 399. 24 Fehrmann, Linz u. a., Originalkopie. S. 12. 35 <?page no="48"?> Originalität hat damit nicht ausgedient: Gerade in den neuen Medien wird um das Urheberrecht gekämpft, die Frage nach Original und Kopie also ausdrücklich verhandelt. Daran, so erklären die HerausgeberInnen von Originalkopie, scheitere die postmoderne Behauptung, man befände sich immer schon im Zitat. 25 Man darf wohl zuspitzen: Der vielbeschworene ‚ Tod des Autors ‘ hört beim Urheberrecht auf. Auch jenseits von rechtlichen Fragen besteht das Originalitätskonzept weiterhin. Dennoch ist festzuhalten: Auch wenn derartige Praktiken nicht immer darauf abzielen müssen, Schöpfermythen des Originären zurückzuweisen, zeitigt die implizite oder offensiv ausgestellte Selbstverständlichkeit im Umgang mit der eigenen ‚ Sekundarität ‘ bemerkenswerte Effekte, Probleme und Irritationen auf dem Feld kultureller Wertzuweisungen - und damit auch im Kontext kultur- und medienwissenschaftlicher Analysen. 26 Die Aufwertung der Praktiken des Sekundären bei gleichzeitigem Weiterbestehen des Originalitätsprinzips betrifft die Romandramatisierung in mehreren Punkten: Zum einen weisen die Dramatisierungen aus verschiedenen Gründen ihren intertextuellen Bezug - ihre Wiederholungsfunktion - deutlich aus. Dadurch tritt nicht nur die gewünschte Wiedererkennung leichter ein (auch ein ökonomischer Faktor), sondern die Betonung des Sekundären lenkt gleichzeitig den Fokus auf die Veränderungen, die der Autor des Folgetextes vorgenommen hat. Somit wird wiederum die Originalität als Bewertungsmaßstab bestätigt 27 und bildet sich auch in den Kritiken zu Dramatisierungen insbesondere der als ‚ Klassiker ‘ der deutschen Literatur bekannten Werke ab. Das erstaunt deshalb, weil die Bewertung von Wiederholungen in starker Abhängigkeit vom kulturellen Bereich steht, in dem sie wirksam wird, also von den kulturellen Traditionen eines Mediums: Das Theater ist ein Medium, das über das Prinzip der Inszenierung grundlegend auf Wiederholungen aufbaut. Sie werden dort in besonderem Maße als Neuinterpretationen bekannter Stoffe betrachtet. Ich möchte im Folgenden die für die Romandramatisierungen zentralen Bereiche der Literatur und des Theaters betrachten. Dass sich kulturelle Systeme immer über Wiederholungen herstellen, liegt in ihrem Zeichencharakter begründet. Gerade ästhetisch geformte Sprache 25 Ebd. S. 7. 26 Ebd. S. 8. 27 Das Ausweisen des Prätextes schützt auch gegen den möglichen Vorwurf des Plagiats: Ein offengelegter Bezug ist kein geistiger Diebstahl, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Vorgänger. Gerade bei Texten, die aufgrund ihres Alters nicht mehr unter das Urheberrecht fallen, wäre diese Markierung nicht zwingend notwendig. 36 <?page no="49"?> zeichnet sich durch Wiederholungen aus. Dabei kann es sich einerseits um rhetorische Wiederholungen handeln, andererseits bietet die Wiederholung gerade auf der inhaltlichen und semantischen Ebene 28 literarischer Texte die Möglichkeit zum Spiel mit Symbolstrukturen und Leitmotiven. Verlässt man die Einzeltextebene, so machen erst Wiederholungen von Strukturen Systemreferenz und damit jede Art von Gattungseinteilung möglich, Wiederholungen von Stoffen und Inhalten eröffnen die Möglichkeit einer literarischen Tradition. Der Mythos wäre ohne Wiederholung undenkbar. Wiederholung macht also ästhetisch geformte Sprache und literarische Tradition erst möglich. Darüber hinaus bietet sich die Wiederholung als Instrument der Selbstreflexion von Sprache und Literatur an - vielleicht ist sie (auf verschiedene Arten) die einzige Möglichkeit einer selbstreflexiven Wendung, da Selbstreflexion immer das Wiederbetrachten einschließt, das Wieder-Holen auf einer Metaebene. Nicht nur auf Ebene der Textproduktion, sondern auch auf der der Rezeption ist die Wiederholung also von Bedeutung. Lektüre wiederholt das Geschriebene, wiederholte Lektüre wiederholt die Rezeption, produktive Rezeption 29 wiederholt einen Schaffensprozess, der dem Text zugrundeliegt. Rüdiger Görner stellt fest: „ [Erst] die wiederholte Rezeption eines Werkes verleiht ihm Dauer und womöglich kanonische Präsenz." 30 Insofern ist die Wiederholung als Akt der Hervorbringung einer literarischen Tradition zu verstehen. Gerade die produktive Rezeption, die dem bekannten Stoff ein neues Forum gibt, ihn neu deutet, Schwerpunkte setzt und Änderungen vornimmt, kann in diesem Sinne literarische Tradition durch Folgetexte konstruieren und kulturelles Wissen hervorbringen und verändern. Gerade wenn es sich bei den Prätexten um Werke von großer Bekanntheit 28 Lobsien unterscheidet dabei qualitativ zwischen ‚ rhetorischer Wiederholung ‘ , die als direktes Sprachereignis vorliegt (wie Paronomasie und Reim, Anapher und Epipher usw.) und ‚ ästhetischer Wiederholung ‘ , die auf semantischer Ebene wirksam wird (wie Leitwörter, Floskeln, poetische Topoi, Wiederholung von Szenen oder Situationen, Wiederholungen der Bibel und der episch-poetischen Prätexte seit Homer). Vgl. Eckhard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache. München: Fink 1995. S. 124. 29 Damit ist eine Form der Rezeption gemeint, die die Rezeptionserfahrung in eine wiederum künstlerische Äußerung umsetzt. Der Begriff wurde von Wilfried Barner in Bezug auf Lessings Aneignung und modernisierende Aufnahme der Tragödien Senecas geprägt. Vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München: Beck 1973. Theoretisch genauer bestimmt den Terminus Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. München: Fink 1977. Vgl. S. 147 - 153. 30 Görner, Sinn der Wiederholung. S. 209. 37 <?page no="50"?> handelt, ist die produktive Rezeption, sind die Praktiken des Sekundären auch als Arbeit am kulturellen Gedächtnis, als Arbeit an der Literatur und an der Bedeutung einzelner Werke und Stoffe zu betrachten. Die Problematik von Einmaligkeit und konstitutiver Wiederholung in der Literatur fasst Eckhard Lobsien mit den Begriffen ‚ Wörtlichkeit ‘ und ‚ Wiederholung ‘ . Er problematisiert einen Grundkonflikt, der sowohl von Seiten der Produktion als auch der Rezeption von Texten zentral ist. Eine Wiederholung markiere Bedeutsamkeit, indem sie ein Element mehrfach hervorbringe und damit mehrfach in die Wahrnehmung des Rezipienten rücke. Gleichzeitig werte sie das Element in seiner singulären Präsenz, also in seiner Wörtlichkeit ab. 31 Damit nicht genug: Trägt die literarische Wiederholung durch diesen Widerspruch bereits Potential für Verunsicherungen in sich, so komme erschwerend hinzu, dass mit der Wiederholung durch den zeitlichen Abstand eine Differenzerfahrung stattfinde. Damit schafft die literarische Wiederholung Unsicherheit - insbesondere dort, wo von der Geschlossenheit eines Werkes ausgegangen wird und Bedeutung gesichert scheint. „ Der Tendenz nach hebt jede Wiederholung die bis dato geleistete Synthesearbeit und die in ihr begründete und durch sie erworbene Sicherheit in der Lektüre wieder auf [. . .]. “ 32 Durch den Erfahrungsgewinn des Rezipienten sei das wiederholte Lektüreerlebnis grundsätzlich vom ersten zu unterscheiden. Darin bestehe das Erkenntnispotential der Wiederholung, weshalb Lobsien ihr einen hohen Eigenwert zuschreibt: Durch die Wiederholung gelangen wir gleichsam zu einer Wörtlichkeit zweiter Stufe, die zwar nicht mehr distanzlos und unreflektiert, dafür aber ebenso ereignishaft ist wie jenes Lesen im Augenblick, jenes Konzentriertsein auf den magischen Punkt. Was sich zunächst als erfüllte, glückliche Präsenz (in) der Wörtlichkeit ausnahm, konnte dies nur um den Preis einer gewissen Naivität sein. 33 Daraus ergibt sich mit jedem Wiederholen eine strukturelle Offenheit von Bedeutung. Dem Text wird seine Abgeschlossenheit genommen, sie erscheint im Nachhinein als beschränkte Sicht. Dagegen zeigt die Wiederholung die semantische Vielfalt des Textes. 31 Vgl. Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung. S. 16. 32 Ebd. S. 11. 33 Ebd. S. 12. Vgl. auch S. 17 und 27: Lobsien erklärt dort den Erfahrungsunterschied beim Rezipienten zur Basis dieses Neuerlebens. Seine Theorie vom Erkenntnisgewinn durch Wiederholung speist sich damit aus eben jenem zeitlichen Abstand, den auch Kierkegaard betont. 38 <?page no="51"?> Ein solches Verständnis von Wiederholung als Ausloten des semantischen Potentials von Texten ist im Theater sehr verbreitet. Gerade zwischen bildenden und darstellenden Künsten besteht hier ein großer Unterschied. Das Theater der westlichen Welt hat als darstellende Kunst immer einen reproduzierenden Charakter und „ verlangt nach Wiederholung der szenischen Repräsentation “ 34 . Besonders im textbasierten, dramatischen Theater wiederholt der Schauspieler nicht nur den Dramentext in einem anderen Medium, führt also eine Art körperliche oder performative Wiederholung des Schriftlichen durch. Im Repertoiretheater wie auch im En-suite-Spielbetrieb wird außerdem jede Inszenierung mehrfach aufgeführt. Es ergibt sich auch hier ein wiederholender Gestus. Besonders signifikant für die wiederholende (produktive) Rezeption von literarischen - in der Regel dramatischen - Werken ist das Konzept der Inszenierung: Das Theater trägt die Wiederholung und die Neuinterpretation des Bekannten seit Jahrhunderten als Grundmuster in sich. In seinen Inszenierungen werden immer wieder neue Varianten desselben Textes gespielt. Dennoch werden Regisseure ohne Frage als Künstler betrachtet. 35 Niemand würde einer neuen Faust-Inszenierung mangelnde Originalität oder gar Epigonalität vorwerfen, weil sie eine schon bekannte Geschichte darstellt. Der Gewinn liegt in der Neuinterpretation, im ungewohnten Seherlebnis. Der Begriff von Originalität ist also in diesem kulturellen Bereich ein anderer: Zum einen gilt die Umsetzung in ein anderes Medium (nämlich vom Drama der Schrift in eines der performativen Aufführung) als künstlerischer Akt, zum anderen wird die Neuinterpretation als originell bewertet. Visualisierung, Wiederholung und Differenz sind ästhetische Grundkategorien des künstlerischen Schaffens am Theater. 36 Die Differenz in der Wiederholung ist auch im Theater auf verschiedenen Ebenen zu erkennen: Knut Hickethier betont in diesem Zusammenhang, dass die Aufführung auf der Bühne „ im Grunde - selbst bei strikter Einhaltung 34 Helmut Schanze: Da capo. Kleine Mediengeschichte der Wiederholung. In: Die Wiederholung. Hrsg. v. Jürgen Felix, Bernd Kiefer u. a. Marburg: Schüren 2001. S. 31 - 40. Hier S. 32. Aufgebrochen wird dieser Wiederholungscharakter allerdings im Bereich der Performance und der LiveArt. Das sind jedoch Bereiche, die sich eher in Richtung der bildenden Kunst orientieren. 35 Hier lohnt der Vergleich zum Film und vor allem zur Literaturverfilmung. Auch dort werden Regisseure als Künstler angesehen, Drehbuchautoren oft weniger. 36 Um zu demonstrieren, wie stark das Theater mit dem Verständnis von Wiederholung und Differenz verbunden ist, möchte ich an dieser Stelle noch einmal auf Kierkegaard verweisen, der seine Theorie der Wiederholung mit dem Theater beziehungsweise dem Bild des Schauspielers illustriert: Kierkegaard nimmt, um Aussagen über die Wiederholung machen zu können, eine Art Selbstversuch vor, bei dem er ein Theaterstück ein zweites Mal ansieht und dabei feststellen muss, dass es die eigentliche Wiederholung im Sinne völliger Identität nicht geben kann. Vgl. Kierkegaard, Die Wiederholung. S. 42. 39 <?page no="52"?> aller genauen Verabredungen und Ablaufplanungen - nie wirklich eine Wiederholung, sondern jedes Mal eine neue Aufführung “ ist. 37 Darüber hinaus besteht aber auch auf Ebene der Inszenierung das Streben nach Neuerung: „ Jede Inszenierung eines Theaterklassikers sieht sich dem Anspruch gegenüber, etwas Innovatives bieten zu müssen, und jede Aufführung will für sich etwas ganz Neues und Lebendiges sein. “ 38 Mit dem Regietheater hat sich diese Sichtweise noch verstärkt. Es räumt dem Regisseur größere Freiräume ein und versteht den Text als Material, das zur Modifikation und Aktualisierung der Aussage bearbeitet, neu kombiniert, ergänzt und radikal gekürzt werden darf. Es arbeitet insofern gegen die Forderung nach ‚ Werktreue ‘ an und schätzt die Bearbeitung als künstlerische Eigenleistung des Regisseurs. 39 Für die Romandramatisierungen, die fast ausnahmslos im direkten Theaterumfeld entstehen, bedeutet dies ein besonderes Verhältnis zu den Prätexten. Die Wiederholung bekannter Stoffe und die relativ unbefangene Aneignung dieser ist hier nichts Ungewöhnliches. Sie werden als Material und Vorlage betrachtet. Auch Strichfassungen sind üblich; das Zusammenkürzen von Stoffen auf bestimmte Schwerpunkte hin (auch wenn man damit bestimmte Bedeutungspotentiale ausschließt) gehört zum dramaturgischen Alltag und zum Handwerk der Regisseure. Im Dramatisieren und in der Bewertung dieser Praktik konkurrieren zwei unterschiedliche Auffassungen von Wiederholung und Originalität. Die 37 Hickethier, The same procedure. S. 47. 38 Spohr, Wiederholung und Neugestaltung im Theater. S. 19. 39 Gerade in der jungen Dramatik und in den Inszenierungen des Gegenwartstheaters hat außerdem das Spiel mit Intertextualität und Intermedialität stark an Bedeutung gewonnen. Der wiederholende Charakter kann also auch zum Thema werden. So stellt Christopher Balme für das zeitgenössische englischsprachige Theater fest, Realität werde „ zunehmend über ihre mediale, wiederholbare Vermittlung bezogen: die Popularität von Talkshows, Soap Operas und ‚ Reality Soaps ‘ wie BIG BROTHER ist signifikant für diese Entwicklung. Auch eine Reihe zeitgenössischer Dramen konfrontiert uns mit Figuren, die in ebendieser medialen Endlosschleife gefangen sind. “ Christopher Balme und Peter M. Boenisch: Re-Play. Wiederholung der Welt - Welten der Wiederholung im zeitgenössischen britischen Drama. In: Die Wiederholung. Die Wiederholung. Hrsg. v. Jürgen Felix, Bernd Kiefer u. a. Marburg: Schüren 2001. S. 269 - 284. Hier S. 270. Das Spiel mit Wiederholungen und dem Schon-Gesehenen wird also auch explizit gemacht. Diese These trifft auch auf das deutschsprachige Theater zu: Albert Ostermaiers The Making Of. B.-Movie (UA 1999) ist dafür ebenso ein Beispiel wie Lutz Hübners Creeps (UA 2000) oder Klaus Schumachers Playback Life (UA 2004). Vgl. Albert Ostermaier: The Making Of./ Radio Noir. 3. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. - Lutz Hübner: Creeps. Köln: Hartmann Stauffacher 2000. - Klaus Schumacher: Playback Life. München: Theaterstückverlag 2005. 40 <?page no="53"?> Bewertung von Romanen erfolgt nach Regeln des Literaturbetriebs, genauso das Schreiben von Dramentexten. Hier wirkt das Originalitätsdenken stark in Produktion und Wertung. Die Inszenierung erkennt die verändernde Wiederholung in der Bühnenfassung und anschließenden Inszenierung stärker an. Weil die Dramatisierung meist für die konkrete Aufführung geschrieben wird, steht ihr Produktionsprozess dem der Erstellung einer Bühnenfassung durchaus nahe. Die Dramatisierung steht damit im Spannungsfeld zwischen Literaturproduktion und Inszenierung, zwischen bildender Kunst und darstellender Kunst. 2.1.5 Rezeptionssicherheit und -unsicherheit in der Wiederholung Für den Rezipienten scheinen Wiederholungen durch die Identität Sicherheit zu bieten, erwartet er doch, dass er das Werk wiedererkennt. Durch die Differenzerfahrung wird dieses Sicherheitsgefühl möglicherweise wieder gestört. Wie bereits erwähnt, verneint eine Wiederholung im künstlerischen Bereich die Geschlossenheit und Einmaligkeit des Kunstwerks und dessen Bedeutung: „ Die Wiederholung nimmt, indem sie das Wiederholte erneuernd verändert, dem Ende sein Recht. “ 40 Insbesondere die allographe ‚ Werkwiederholung ‘ widerspricht außerdem dem Mythos der einen, unumstößlichen Autorintention und schafft semantische Offenheit. Das Vertrauen in die eigene ‚ Kennerschaft ‘ kann bei der wiederholten Lektüre zu einer Rezeptionshaltung führen, die Wiederholung mit Beständigkeit gleichsetzt. Durch die Veränderung des eigenen Erfahrungshorizonts und durch die Bearbeitung werden möglicherweise Rezeptionserwartungen ge- oder enttäuscht. Um die Wiederholung als verständlich und produktiv zu erleben, muss das Bild des ‚ Originals ‘ verändert werden. Die Wiederholung wirkt somit auf die vorherige Wahrnehmung zurück. Deshalb mag die einzelne Dramatisierung als Bedeutungsverengung wahrgenommen werden, im Zusammenhang mit dem zugrunde liegenden Roman aber muss sie als semantischer Mehrwert 41 betrachtet werden: Die Wiederholung eines Elementes A als A° ist immer „ die Konstitution einer komplexeren Gegebenheit, als es A und A° für sich je sein könnten [. . .] “ 42 . Lobsien erklärt die Wiederholung auch deshalb zum Werkzeug der Herstellung von Einzu Mehr- oder gar Unstimmigkeit. 40 Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung. S. 200. 41 Dieses Prinzip gilt unabhängig von der Qualität der einzelnen Bearbeitung. 42 Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung. S. 183. 41 <?page no="54"?> Die bisherige Einstimmigkeit (A konnte immer wieder an seiner früheren Zeitstelle als A aufgefunden werden) wandelt sich zu einer Mehr, - gar Unstimmigkeit, und zwar so weit die retentionale Reihe bzw. die Vergangenheitsstrecke entlang, wie die Einheit des gegenständlichen Sinnes (der relevante Kontext von A) reicht. 43 Ähnlich argumentiert Anselm Haverkamp, wenn er erklärt, die zweite Lektüre schaffe gerade keinen festen Sinn, kein symbolisches Resultat, sondern bringe den „ Prozeß der Reflexion in Gang “ : „ Sie hält dazu an, die im temporalen Schema der Allegorie erstarrten Erinnerungszeichen des ‚ Andenkens ‘ in der erinnernden Wiederholung durchzugehen “ . 44 Helge Nowak untersucht im Rahmen seiner Arbeit über die Weiterführung von Romanen, wie das Kriterium der Originalität als Wertmaßstab angewandt wird. Er konstatiert einen Wechsel in der Betrachtungsweise literarischer Folgetexte. Von Vorwürfen der Piraterie, des Plagiats oder der mangelnden Originalität habe sich das Verständnis hin zur Auffassung von Folgetexten als produktive und verjüngende Rezeption des Vergangenen gewandelt, als Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Nimmt man diesen, in meinen Augen vorteilhafteren Blickwinkel ein, dann werden Weiterführungen interessant als Teile des vom Prätext ausgelösten Rezeptions- und Wirkungsprozesses, sie scheinen diesen Prätext nicht [. . .] zu beschädigen oder gar zu zerstören, sondern im Gegenteil gerade lebendig zu erhalten bzw. wiederzubeleben. 45 Damit wird die literarische Wiederholung auch zu einem kanonbildenden Mittel. Über sie wird einerseits ein gesellschaftliches Verständnis literarischer Texte als bedeutende Werke hergestellt, andererseits konstituiert sich das Subjekt über deren Kenntnis als Teil einer gesellschaftlichen Gruppe. Die Kenntnis und das Gespräch über bestimmte literarische Werke gehören zum Identität und Zugehörigkeit stiftenden Diskurs. Wiederholung wird hier zur Selbstvergewisserung des Subjekts über seine Zugehörigkeit zur angestrebten Schicht. So verwundert es nicht, dass Dramatisierungen oft auf sehr bekannte und als literarisch hochwertig anerkannte Texte zurückgreifen und dass gerade Inszenierungen dieser Dramatisierungen sehr gut besucht werden. Über den Besuch dieser Aufführungen wird dem Publikum ein als bekannt vorausgesetzter Text nochmals zugänglich, kann wieder(ge)holt, neu hergestellt und 43 Ebd. S. 200 f. 44 Anselm Haverkamp: Allegorie, Ironie und Wiederholung. (Zur zweiten Lektüre.) In: Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. Hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Wolfhart Pannenberg. München: Fink 1981. S. 561 - 565. Hier S. 564 f. 45 Nowak, „ Completeness is all “ . S. 31. 42 <?page no="55"?> diskutiert werden. Hier wird ein Gegenstand, der eigentlich dem privaten Rezeptionsraum vorbehalten ist, in ein Medium transponiert, das gemeinsame Rezeption und mehr als andere Medien öffentlichen Austausch ermöglicht. Bietet jede literarische Wiederholung bereits einen „ ausgezeichneten Modellfall literarischer Erfahrung und Darstellung überhaupt “ , 46 so stellt die Dramatisierung diese Art von Selbstreflexion über Literatur zudem in einen medialen Kontext, der traditionell eine Diskussion über den Gegenstand fördert. Eine solche Umwertung in der Betrachtung kann die zu Kapitelbeginn thematisierte Sorge um die Epigonalität relativieren: Die Wiederholung erlaubt Lust an der Beschäftigung mit dem Gewesenen. Die Wiederholung als Intertextualität birgt dabei die Möglichkeit der Selbstreflexion und der Reflexion über Literatur überhaupt. 2.2 Dramatisierung als Gattungswechsel: epische und dramatische Strukturmerkmale eduard Ich will lesen! ! ! hauptmann Jetzt! Lesen? mittler Ein Buch, bringt ein Buch! ! charlotte Was denn für eins! mittler Egal. Irgendeins. charlotte Irgendeins? mittler Ja, Hauptsache dick! (Albrecht Hirche, wahlverwandtschaften nach goethe, S. 47) Wenn die Dramatisierung als eine wiederholende Praktik oder Praktik des Sekundären eine Differenz zwischen Roman und Folgetext hervorbringen muss, so besteht diese Differenz nicht nur auf rein phänomenologischer Ebene (in ihrer zeitlichen und räumlichen Situation). Auch ein struktureller Unterschied muss qua definitionem vorhanden sein, denn durch das Dramatisieren wird ein Gattungswechsel vorgenommen. Romandramatisierungen stellen also einen literarischen Bereich dar, der ohne eine Vorstellung von ‚ Gattung ‘ nicht auskommt, trägt doch schon der Begriff gleich zwei Gattungsbezeichnungen in sich. Problematisch wird die Definition bei einem genaueren Blick auf die enthaltenen Gattungsbezeichnungen: Während das Drama 46 Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung. S. 124. Siehe auch S. 29: „ Die Wiederholung setzt durch die Potenzierung und Selbstthematisierung des Zeichens eine metasemiotische Reflexion frei. “ 43 <?page no="56"?> eine der drei großen, übergeordneten Gattungen bezeichnet, benennt der ‚ Roman ‘ (je nach Definition) eine der Gattung Epik untergeordnete Form. Damit erfolgt dennoch ein Wechsel von einer großen Gattung zur anderen. Doch sind die notwendigen Veränderungen beim Gattungswechsel immer strukturell-formaler Art? Oder sind auch inhaltliche Transpositionen nötig, um einen Text bühnenfähig zu machen? Inwieweit bringen strukturelle Veränderungen auch Bedeutungsverschiebungen und Neuwertungen mit sich? Untersuchungsschwerpunkte lassen sich über die Gattungstheorie und Analyseinstrumentarien für Roman und Drama erschließen. 47 2.2.1 Problematik und Notwendigkeit von Gattungsbegriffen Der Begriff ‚ Gattung ‘ wird von vielen Literaturwissenschaftlern mit Skepsis verwendet, die aus unterschiedlichen Gründen resultiert. Zunächst ist die klassifikatorische Einordnung literarischer Texte problematisch, da sie als künstlerische Produkte eben nicht an bestimmte (ontische) Formen gebunden sind und tradierte Grenzen auch intentional sprengen können. Die Vorstellung literarischer Grundformen als geschlossene Systeme, die gar hierarchisch geordnet und ahistorisch betrachtet werden könnten, scheitert nicht erst an avantgardistischen Formen des 20. Jahrhunderts. Doch selbst wenn man die Gattung für die Literaturwissenschaft als ordnenden Begriff anerkennt und ihn mit dem Bewusstsein seiner Konstruiertheit zur Beschreibung ähnlicher Texte verwendet, bleibt ein Definitionsproblem. Er wird sowohl für die Gattungstrias, die lange als überhistorisch und überkulturell galt 48 , als auch für historisch und kulturell eng begrenzte literarische Formen benutzt. Schwierig bleibt die Einteilung außerdem, weil es sich bei Gattungen um offene und sich ständig verändernde Systeme handelt, sodass eine fixe Struktur oft nicht beschreibbar ist. Im Gegenteil bildet erst die Menge der darunter gefassten Phänomene den Oberbegriff und die Zugehörigkeitskriterien. Denn Gattungsbegriffe fassen als Abstrakta Phänomene zusammen, die in sich heterogen sind. Bisweilen teilen die unter einem Gattungsbegriff gefassten Texte nicht einmal ein gemeinsames Merkmal, sondern besitzen nur Anteile aus einem Merkmals- 47 Die folgenden Ausführungen sowie einzelne Thesen in Kapitel 3 ergeben sich also deduktiv aus den Gattungsbestimmungen und werden in den Einzeltextanalysen zu überprüfen sein. 48 Dass auch diese Dreigliederung ein historisches Produkt des 18. Jahrhunderts ist, zeigt Genette. Gérard Genette: Genres, ‚ type ‘ , modes. In: Poétique 32 (1977). S. 389 - 421. Insbesondere Goethes Vorstellung von den ‚ Naturformen ‘ der Dichtung behauptet ontologische Differenzen und hat sich in der Folgezeit durchgesetzt. 44 <?page no="57"?> bündel in unterschiedlichen Schnittmengen. Während die Zusammenfassung historisch auftretender, spezieller Textsorten unter einem Begriff noch verhältnismäßig gut funktioniert, fassen gerade die Begriffe Epik, Dramatik und Lyrik als die drei literarischen Großgattungen sehr heterogene Werke zusammen. Gattungen sind als Konstruktionen zu betrachten, die sich immer neuen Formen anpassen, die aber auch auf die literarische Produktion zurückwirken. Im Sinne einer Systemreferenz 49 beziehen sich Werke auf bekannte literarische Muster, stellen sich in eine Formtradition. Gattungen bestimmen so den Produktionsgenauso wie den Rezeptionsprozess der Werke. Ulrich Suerbaum führt dies in einem Aufsatz zur gattungsspezifischen Leseweise vor. 50 Das Wissen des Rezipienten um die Gattung seiner Lektüre beeinflusse stark den Rezeptionsprozess: Die Gattungszugehörigkeit und Gattungshaftigkeit eines Textes ist das Resultat einer bestimmten gattungsspezifischen Leseweise. Diese Leseweise besteht vor allem darin, daß auf den Text feste Regeln [. . .] angewandt werden. 51 Dem Leser biete sich damit ein ordnendes Prinzip, das es gleichzeitig möglich mache, Besonderheiten des Werkes als solche zu erkennen. Textimmanente Strukturen und Hinweise im Paratext fungieren als Signale für die angemessene Lesart. Irritationen durch enttäuschte Erwartungshaltungen, die bei der Rezeption von Romandramatisierungen auftreten können, wurden in Kapitel 2.1.5 in Bezug auf den Wiederholungscharakter bereits angesprochen. Solche Irritationen ergeben sich möglicherweise besonders dann, wenn die Erwartungshaltungen in Bezug auf die Gattung und diejenigen, die sich auf den Inhalt beziehen, widersprechen. 52 49 Die Theorie von Gattungen als Systemreferenzen folgt aus der Intertextualitätstheorie. Vgl. Manfred Pfister: Zur Systemreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen: Niemeyer 1985. S. 52 - 58. 50 Ulrich Suerbaum: Warum Macbeth kein Krimi ist. Gattungsregeln und gattungsspezifische Leseweise. In: Poetica 14 (1982). S. 113 - 133. 51 Ebd. S. 114. 52 Ein Rezipient, der eine möglichst enge Orientierung am Roman erwartet, gleichzeitig aber eine normative Vorstellung vom Drama an die Dramatisierung heranträgt, wird zwangsläufig Irritationen erfahren. Manfred Pfister beschreibt beide Kriterien, Gattungserwartungen und Dramentitel, in seiner Dramentheorie als Wege der Informationsvermittlung, an denen das Werk (ob gelesen oder aufgeführt) gemessen werde. Eine solche Angabe im Paratext sei allerdings nicht verbindlich, sondern könne auch kontrastiv und irreführend sein, „ aber auch dort, wo sie durch den Text modifiziert oder dementiert wird, beeinflußt sie als Kontrastfolie die Informationsabläufe in der Rezeption des Textes. “ Gerade solche Fragen der Gattungserwartung sowie der thematischen 45 <?page no="58"?> Der Begriff der Gattung und das Gattungswissen des Rezipienten haben somit eine zentrale Funktion für die literarische Kommunikation. Die wissenschaftliche Verwendung des Terminus sollte jedoch im Bewusstsein über die Grenzen des Gattungsbegriffs geschehen. Gattungsbegriffe sollten nicht als Normen oder Bewertungsmaßstäbe für Literatur angesetzt werden. Suerbaum bemerkt kritisch: „ Wir [. . .] wenden gattungshistorische und gattungsanalytische Untersuchungsmethoden vorzugsweise auf Werke an, die wir nicht für erstrangig halten." 53 Für die Dramatisierung, die im Spannungsfeld von Original und Kopie diskutiert wird, würde das einen erhöhten Fokus auf die dramatische Form bedeuten, die durch den Gattungswechsel ohnehin in den Vordergrund rückt. So geschieht leicht eine Bewertung anhand der Strukturmerkmale tradierter Dramen, die auf andere Werke der Gegenwartsdramatik in so normativer Weise gar nicht angewandt würden. Zur Betrachtung von Romandramatisierungen ist trotz der problematischen Implikationen des Terminus ein Gattungsbegriff notwendig - zumal einer, der auf Strukturen innerhalb des Textes basiert. Da Romane und Dramatisierungen dieselben Themen verhandeln (wenn auch die Handlung verändert oder mit anderen Schwerpunkten versehen sein kann), schließe ich einen (auch im weiteren Sinne) inhaltlich begründeten Gattungsbegriff sowie einen, der auf Befindlichkeiten von Autor oder Protagonist beruht, aus. 54 Vorinformation sind in Bezug auf Romandramatisierungen von hoher Relevanz. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Auflage. München: Fink 2001. S. 70. 53 Suerbaum, Warum Macbeth kein Krimi ist. S. 132. Für komplexe Werke gelten Regelbrüche hingegen fast als Regel. Gattungsspezifische Regeln seien somit „ Regeln, die fast immer Lizenzen, Ausnahmen, Durchbrechungsmöglichkeiten einschließen und die ein hohes Maß an Redundanz, notwendiger und nicht-notwendiger, und eine extreme Varianz der möglichen Leseweisen zulassen. “ (S. 133) Er weist darauf hin, dass bei Werken, die als hochwertig gelten, gerade diese Regelbrüche zum Qualitätskriterium erhoben werden. 54 Rüdiger Zymner erläutert in seiner Monographie zur Gattungstheorie, wie sich im 18. Jahrhundert die Betrachtung von Gattungen als normative Regeln zu einem Verständnis von Gattungen als ästhetisch-anthropologische oder psychologische Grundkonstanten verschiebt, wodurch „ allerlei spekulative Wesensbestimmungen in der Gattungspoetik seit 1800 vorbereitet wurden “ . Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: mentis 2003. S. 32. Der große Einfluss der Goethe ’ schen ‚ Naturformen ‘ -Lehre ist hier zu beachten. Die psychologischanthropologische Bestimmung der Gattungstrias Epik, Lyrik und Drama setzt sich aber bis weit ins 20. Jahrhundert fort (und wird erst mit dem Strukturalismus weitgehend abgelöst), wie hier exemplarisch die Definition Emil Staigers von 1946 zeigen kann: „ Lyrik, Epos und Drama gibt es nur, weil die Bereiche des Emotionalen, des Bildlichen und des Logischen das Wesen des Menschen konstituieren, als Einheit sowohl wie als 46 <?page no="59"?> Gerade Romandramatisierungen scheinen solche Theorien zu widerlegen. Für die Anwendung auf Dramatisierungen eignen sich Gattungsbegriffe, die auf formalen Merkmalen des Textes und der kommunikativen Funktion eines Werkes basieren. 55 Wichtig ist dabei, dass nicht normativ feste Kriterien angewandt werden, sondern Gattungen als offene Systeme zu betrachten sind, in die Texte nach unterschiedlichen Formmerkmalen und pragmatischen Funktionen eingeteilt werden. Rüdiger Zymner betont, dass Gattungen „ nicht aufgrund eines einzelnen Kriteriums bestimmt werden können “ : Er spricht stattdessen von einem „ Merkmalsbündel “ . 56 Davon geht auch Alastair Fowler aus und bestimmt die Gattungszugehörigkeit als ein Partizipationsmodell: Es muss nicht jedes einzelne Werk allen Kriterien einer abstrakten Gattungseinteilung entsprechen, sondern möglicherweise nur bestimmten Aspekten. 57 In einem solchen offenen System können auch Grenzüberschreitungen und hybride Gattungen betrachtet werden. Weitgehender Konsens besteht inzwischen über die Relevanz des Präsentationsmediums für Gattungsstrukturen. Selbst eine Gegnerin der traditionellen Gattungseinteilung wie Margret Schnur-Wellpott, die eine Semiotik der ‚ écriture ‘ als alternativen Diskurs der Gattungstheorie vorzieht, 58 stellt der Folge, worin sich Kindheit, Jugend und Reife teilen. “ Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. 2. erweiterte Auflage. Zürich: Atlantis 1951. S. 213. 55 Eine prominente Gegenposition zu inhaltlichen Bestimmungen stellt in der deutschen Literaturwissenschaft die Gattungstheorie Klaus Hempfers dar. Er widerlegt ausführlich psychologische sowie inhaltliche Ansätze. Stattdessen betont Hempfer die Unterscheidung zwischen Begriffs- und Objektebene und entwickelt eine eigene Gattungstheorie, die vor allem textimmanente Kriterien und die Kommunikationssituation der literarischen Werke berücksichtigt. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München: Fink 1973. Vgl. v. a. S. 150 (zu textimmanenten Kriterien) und S. 221 bis 228, auf denen Hempfer seine zentralen Thesen zusammenfasst. Problematisch bleibt seine Annahme einer ahistorischen Tiefenstruktur. Vgl. die Kritik bei Zymner, Gattungstheorie. S. 143. 56 Zymner, Gattungstheorie. S. 109. 57 Vgl. Alastair Fowler: Kinds of Literature. An Introduction to the Theory of Genres and Modes. 4. Auflage. Oxford: Clarendon 1997. S. 38 sowie die Erläuterungen am Beispiel der Tragödie: „ We can specify features that are often present and felt to be characteristic, but not features that are always present. “ Alastair Fowler spricht deshalb von der Kategorie ‚ Genre ‘ nicht als Klasse, sondern lieber als Typ oder als Gruppe mit Familienähnlichkeit. Das Konzept der Familienähnlichkeit (nach Wittgenstein) zeige die Verbundenheit der Werke einer Gruppe, auch wenn sie nicht alle Merkmale teilen. Vgl. S. 41. 58 Margrit Schnur-Wellpott: Aporien der Gattungstheorie aus semiotischer Sicht. Tübingen: Narr 1983. Gemeinsam mit anderen neueren Gattungstheorien ist ihr der Bezug zur Intertextualitätstheorie. Schnur-Wellpott sucht nicht nach den übergreifenden Systemen, sondern nach der ‚ kleinsten Einheit ‘ im Schreiben und richtet sich im Unterschied zu den Gattungstheorien vorwiegend an der Differenz der Texte (und nicht an deren Gemeinsamkeit) aus. Bei aller Kritik insbesondere an der klassifikatorischen und 47 <?page no="60"?> Lehre von den ‚ Naturformen ‘ „ das ursprünglichere und unverfänglichere Kriterium des Mediums “ entgegen. Dies macht sie insbesondere für den Bereich der dramatischen Texte stark, denn das Medium Theater sei dort sehr bestimmend. 59 Dieser Zusammenhang ist für die Betrachtung von Dramatisierungen von besonders Relevanz: Dramatisierungen, die explizit als Vorbereitung eines Stoffes für die Theaterbühne gedacht werden müssen, werden sich sehr stark an der medialen Form orientieren, auf die sie zielen. Das Drama als Gattung und die Dramatisierung als eine besondere Form des Dramas sind deshalb mit einem medial begründeten Gattungsbegriff am besten zu fassen. 60 Bernhard Asmuth definiert das Drama über sein Zielmedium, indem er die sinnliche Darbietung zum zentralen Merkmal der Gattung erklärt: „ Gewöhnlich heißt schon der schriftliche Text Drama, doch seine wahre Bestimmung findet er erst auf der Bühne. “ 61 Die szenische Darbietung nennt er das ‚ Medienkriterium ‘ , welches Drama und Epik besonders gut unterscheidbar mache. Zu ergänzen bleibt bei dieser Definition, dass der dramatische Text dieses Medium bereits in sich aufnimmt und deshalb die Figurenrede, die Asmuth als ein weiteres wichtiges Merkmal bestimmt, 62 ebenfalls in Abhängigkeit zum Medienkriterium steht. Die unterschiedlichen Darstellungsstärken und somit inhaltlichen Schwerpunkte in Drama und Epik, die vielfach zu inhaltlichen Bestimmungen der Gattungen geführt haben, resultieren aus diesen medialen Unterschieden. Sie sind aber nur als Schwerpunkte zu benennen und dürfen nicht zum Definitionsmerkmal erhoben werden, denn sie sind lediglich eine Folge der medialen Unterschiede, erfassen deshalb vor allem bestimmte historische Lese- und verallgemeinernden Grundhaltung der Gattungstheorie gesteht Schnur-Wellpott ihr in bestimmten literarischen Bereichen, nämlich in „ geschlossenen oder populären Kulturen “ sowie in „ normativen Poetiken oder literarischen Schulen “ , dennoch ein Erkenntnispotential zu. Implizit betont auch sie die Relevanz der Gattungsfragen für Produktions- und Rezeptionsprozesse von Literatur (S. 233). 59 Im Bereich der Untergattungen bestimme die Institution und der Aufführungsanlass Form und Inhalt. Im Drama sei das Medium besonders einflussreich: „ Aufgrund dieser relativen medialen Unbestimmtheit “ in den anderen literarischen Bereichen könne sich die „ Auflösung der ‚ Gattungen ‘ auch am ehesten hier vollziehen “ . Vgl. Schnur-Wellpott, Aporien der Gattungstheorie. S. 233 ff. Hier S. 235. 60 Eine Ausnahme bildet das Lesedrama, das nur auf Grund seiner Unterteilung in Haupt- und Nebentext zum Drama gezählt wird. Doch auch hier muss unterschieden werden: Ist der Text wirklich als Lesedrama konzipiert oder nur zu einem solchen geworden, weil er Bühnenkonventionen der Zeit überschreitet und somit als undarstellbar gilt? Zudem kann ein Stoff auch bewusst in die Dramenform gebracht worden sein, um auf die Tabuisierung seiner Darstellung aufmerksam zu machen. 61 Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. 6. Auflage. Stuttgart: Metzler 2004. S. 10 f. Asmuth argumentiert auf Basis des aristotelischen Dramenbegriffs. 62 Vgl. ebd. S. 8. 48 <?page no="61"?> Bühnenkonventionen. Denn wenn sich die Aufführungs-und Produktionsbedingungen am Theater verändern, ändern sich möglicherweise auch die oben beschriebenen ‚ Merkmalsbündel ‘ . 63 Definiert man das Drama als ein im Hinblick auf die Bühnenaufführung konzipiertes Kunstwerk, so erhebt man allerdings die (Produktions-)Intention des Autors zur Definitionskategorie. Über den Paratext und den Vermarktungsweg wird die mediale Zielrichtung meist festgehalten. Um ein Drama auch darüber hinaus als solches bestimmen zu können, bieten Formmerkmale, die aus der medialen Zielführung entstehen, einen Anhaltspunkt. Hauptmerkmal ist dabei die Trennung von Haupt- und Nebentext 64 , dabei die typische Sprecherangabe ohne Inquitformel sowie Regieanweisungen, beides meist typografisch (durch Majuskeln, Kursivdruck, Sperrdruck oder Klammern) gekennzeichnet. 65 Ich werde deshalb meinen Ausführungen zur Dramatisierung einen Gattungsbegriff zugrundelegen, der die Ansätze Suerbaums und Fowlers um die mediale Komponente erweitert: Gattungen sind Ordnungsbegriffe für literarische Texte. Als Gattung bezeichnet man eine Gruppe von Texten, die bestimmte strukturelle Merkmale teilen. Im Sinne eines Partizipationsmodells können Texte in vielen oder in wenigen Merkmalen mit dem Merkmalsbündel der Gattung übereinstimmen. Die Merkmalsbündel kommen vor allem durch die pragmatische 63 Veränderungen der Theaterbedingungen können also Veränderungen der als historisch zu betrachtenden Dramenformen bedingen. Die grundsätzliche Ausrichtung auf das Medium Theater aber bleibt. Das Drama kann sich dabei auch auf eine nur imaginäre Bühne beziehen und über einen Bruch mit den Darstellungskonventionen sogar besonders produktiv und provokativ wirken. Nicht die tatsächliche Aufführung ist also Kriterium der Definition, sondern eine generelle Orientierung an einer - und sei es nur gedachten - Bühne. Manchmal allerdings holt die Bühnenrealität solche Texte wieder ein und ein vermeintlich bühnenuntaugliches Drama wird doch gespielt. 64 Im Reallexikon definiert Martin Ottmers das Drama deshalb wie folgt: „ Poetischer Text, der neben einer Lektüre auch die Inszenierung auf dem Theater ermöglicht. [. . .] Drama bezeichnet eine Gattung von Texten, in denen zwei Textsorten miteinander kombiniert sind, und zwar sowohl fiktive direkte Rede (Haupttext) als auch Textpassagen (als Minimum: ein Symbol für den Sprecherwechsel), welche diese Rede(n) in nichtnarrativer Weise arrangieren, situieren, kommentieren (Nebentext). [. . .] Durch die Kombination zweier funktional aufeinander bezogener Textsorten grenzt sich das Drama von den beiden anderen Hauptgattungen Erzählung und Lyrik ab. “ Martin Ottmers: Drama. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. v. Klaus Weimar, gemeinsam mit Harald Fricke u. a. Bd. I. Berlin/ New York: de Gruyter 1997. S. 392 - 396. Hier S. 392. 65 Medienbezogen wären neben der strukturellen Trennung von Haupt- und Nebentext auch die Textlänge und die Raumkonzepte der Stücke oder ihre sprachliche Form. Die Romandramatisierungen sind dabei besonders pragmatisch ausgerichtet und deshalb medial meist gut an die Aufführungsbedingungen angepasst. 49 <?page no="62"?> Funktion von Texten zustande. Entscheidenden Einfluss hat darauf ihre mediale Bestimmung, die insbesondere für das Drama von Bedeutung ist. Das Drama in seiner Schriftform avisiert (noch vor der eigentlichen medialen Darbietung) das Zeichensystem der Bühne. Darüber lassen sich auch Strukturmerkmale erklären, die sich in dieser literarischen Form durchgesetzt haben. Sie sind flexibel und verändern sich eventuell mit den medialen Darbietungskonventionen. Die Gattungen selbst (bzw. das Wissen über sie) wirken stark auf den Produktions- und Rezeptionsprozess literarischer Werke zurück. Gattungsmerkmale sind dadurch stark tradierte Formen und können in diesem Zusammenhang auch als intertextuelle Muster benannt werden. Um das literarische Drama von Formen der Performancekunst abzugrenzen, muss ein weiteres Merkmal in Rechnung gestellt werden, das allerdings nicht ausschließlich für das Drama gilt: Die Gattungen Drama und Epik werden maßgeblich dadurch bestimmt, dass sie eine Geschichte erzählen, und unterscheiden sich darin zum Beispiel von großen Teilen der Lyrik. Diese Ausführungen zu den Gattungseinteilungen machen in Bezug auf das Verhältnis von Epik und Dramatik (und damit natürlich für Roman und Dramatisierung) bereits deutlich, dass sich diese Gattungen in einigen Bereichen sehr nahe kommen, in anderen wiederum stark voneinander abweichen. In der nun folgenden Gegenüberstellung der Gattungen werde ich diese hinsichtlich ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten untersuchen. 2.2.2 Gattungsmerkmale von Roman und Drama Die zunehmende Offenheit in den Gattungsformen sowie der Definition des Gattungsbegriffs im Allgemeinen erschwert eine zutreffende Aufzählung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beiden Hauptgattungen. Am Beispiel des Dramas lässt sich diese Problematik verdeutlichen: Grundsätzlich ist festzustellen, dass Dramentexte heute nicht mehr die Strukturmerkmale aufweisen, nach denen man sie Jahrhunderte lang bestimmt und definiert hat. Damit sind keine Traditionen wie die ‚ Drei Einheiten ‘ der Tragödie gemeint, die schon seit Langem als historische Form gelten. Ebenso wenig geht es um inhaltliche Bestimmungen, die zum Beispiel einen Konflikt zwischen Spieler und Gegenspieler im Zentrum sehen oder um Spannung als Voraussetzung des Dramas. Das aktuelle Drama bricht jenseits der inhaltlichen Kriterien viel grundlegender auch mit formalen Kriterien, die häufig zu den festen Merkmalen des Dramas gezählt werden. Das Diktum der Unmittelbarkeit der Darstellung wurde schon im epischen Theater relativiert, das Kommentare aus einer Außensicht abgibt (über 50 <?page no="63"?> Erzählerfiguren, über Schrift und Film, über Gesang). Eine neuere Form, die mit der Unmittelbarkeit bricht, ist das Sprechen der Figuren über sich selbst und die Geschichte, von mir später als auktorialer Monolog bezeichnet (vgl. Kapitel 4.1.4). Das kann in der Ich-Form geschehen, aber durchaus auch in Nullfokalisierung oder externer Fokalisierung. So wird eine Distanz zur Geschichte angezeigt, die sonst eher in Erzähltexten gerade mit beobachtendem oder auktorialem Erzähler zu finden ist. Ein bekanntes Beispiel für solche Techniken ist das Stück Unschuld von Dea Loher, in dem Figuren über sich sprechen. 66 Im selben Text wird teilweise auf einen in Haupt- und Nebentext geteilten Textkörper verzichtet. Lange Chorpassagen ersetzen die Handlungsherstellung durch Figurendialoge. Auch die Verteilung des Sprechtextes auf die Rollen ist nicht mehr immer klar vorgenommen. In Tom Lanoyes Die Wolf- Gang 67 heißen alle Sprecher Wolfgang. Der Sprecherwechsel ist zwar vorgegeben, die Aufteilung des Textes auf die Figuren jedoch nicht. Auch die Figurenanzahl liegt im Ermessen des Regisseurs. Hier wird deutlich mit zwei Dramenkonventionen gebrochen. Felicia Zellers Drama Bier für Frauen 68 ist zwar dialogisch aufgebaut, es gibt aber keinerlei Nebentext, der Angaben zu den sprechenden Figuren machen würde. Wo nur noch ein Fließtext ohne Sprecherwechsel abgedruckt wird, geschieht ein noch grundlegenderer Bruch mit der Tradition des Dramas. In Elfriede Jelineks Sportstück 69 findet eine solche Aufteilung gar nicht mehr statt. Der Epik nähert sich Peter Handkes Der Ritt über den Bodensee 70 an (1971), der mit Inquitformeln und einer Erzählinstanz arbeitet. Was bleibt, ist das Medienkriterium: Grundlegend für die Definition des Dramas ist auch in diesen Fällen, dass es sich dabei um einen für die Aufführung geschriebenen literarischen Text handelt. 71 Die Teilung in Haupt- 66 Dea Loher: Unschuld/ Das Leben auf der Praça Roosevelt. Zwei Stücke. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2004. Vgl. exemplarisch S. 7. 67 Tom Lanoye: Die Wolf-Gang (De Jossen). Deutsch von Rainer Kersten. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2004. 68 Felicia Zeller: Bier für Frauen. Berlin: Henschel 2000. 69 Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998. 70 Peter Handke: Der Ritt über den Bodensee. 10. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999 [1971]. 71 So bestimmen auch die meisten Lexikonartikel das Drama zunächst über seine mediale Ausrichtung. Vgl. exemplarisch Michael Ott: Drama. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hrsg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moenninghoff. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2007. S. 167 - 169. Hier S. 167. Vgl. Anja Müller-Wood: Drama. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. v. Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe, Sascha Seiler 51 <?page no="64"?> und Nebentext resultiert aus diesem, denn sie ist eine Anpassung an die Bedürfnisse des Theaters. Sie gestaltet den Text für Schauspieler und Regisseure übersichtlich, lässt Überflüssiges weg und orientiert sich an Probenbedürfnissen. Die Aufführung selbst kann dann abgelöst vom Text betrachtet werden. Der Prozess ihrer Entwicklung jedoch ist wesentlich von der Schriftform abhängig. Die Ausrichtung des literarischen Dramas auf das neue Medium, die Aufführung auf der Bühne, ist deshalb so zentral und dem neuen Medium bereits durch grundlegende Form- und Strukturprinzipien inhärent. Nur dadurch hat sich diese Form so lange durchgesetzt. Sie wird wohl auch in Zukunft weiter bestehen: Dramatische Texte, die (wie die Beispiele oben) nicht dieser Form folgen, werden vor Probenbeginn durch Regisseur und Dramaturg in eine probentaugliche Form gebracht. Ein Autor, der auf die tradierte Form verzichtet, ist sich der Tatsache bewusst, dass sein Text in größerem Maße als Material betrachtet und umgearbeitet wird. Der Verzicht auf dramatische Konventionen wird zur Aufforderung zu einer bestimmten Arbeitsweise mit dem Text, zur Herausforderung einer größeren Variationsbreite oder bezweckt, dass eine besonders intensive interpretatorische Beschäftigung mit dem Werk vorgenommen wird. Aus diesem Grund kann die Teilung in Haupt- und Nebentext weiterhin als häufiges Formmerkmal des Dramas gelten. Jede andere Form ist legitim, aber meist bewusst als ‚ Durchgangsstadium ‘ angelegt. In einigen dezidiert für das Theater geschriebenen Stücken allerdings fällt das zentrale Merkmal der Geschehensdarstellung weg. Sie entfernen sich von der Präsentation von Handlung und nähern sich der Performance oder stellen Diskurse (ohne handelnde Figuren) dar. Elfriede Jelineks bereits erwähntes Sportstück verhandelt eher Themen, als dass es Geschehen präsentiert, weist sich über den Titel jedoch als ‚ Stück ‘ und damit als theaterbezogen aus. Nun werden in diesem Fall zumindest Ereignisse erzählt. In Peter Handkes Publikumsbeschimpfung 72 dagegen wird auf Handlung im eigentlichen Sinne verzichtet. Laut Medienkriterium wäre Handkes Text ein Drama; es erzählt aber keine Geschichte mehr. Gerda Poschmann führt den Begriff ‚ Theatertext ‘ als Oberbegriff und Alternativbegriff zum Drama ein, um auch solche Texte bezeichnen zu können, die im Dramenbegriff implizierte Bestandteile wie Haupt- und Nebentext, Dialog und Figurenspiel sowie eine (durchgängige) und Frank Zipfel. Stuttgart: Kröner 2009. S. 143 - 157. Hier S. 143. In Müller-Woods Definition zeigt sich neben der medialen Grundbestimmung des literarischen Dramas, dass vielen die Aufführung ebenfalls als Drama gilt, der Begriff also auf beide Medien (Theater und Schrift) angewandt wird. 72 Peter Handke: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966. 52 <?page no="65"?> Handlung nicht mehr aufweisen. 73 Wo keine Handlung mehr erzählt wird, ist ein alternativer Begriff besonders angebracht. Denn hier kann nicht wie im Falle des ungegliederten Textkörpers von einem bewusst angelegten Durchgangsstadium ausgegangen werden. Die Darstellung einer oder mehrerer Geschichten oder Handlungen darf im Falle der Romandramatisierung jedoch als erwartbar gelten. Denn mit der Gattung Roman als Prätext greifen die Adaptionen auf Werke zurück, die ebenfalls als geschehensdarstellend zu charakterisieren sind. Zur Definition der Gattung Roman wird ebenfalls das Medienkriterium stark gemacht. Lexika geben neben dem fiktionalen Erzählen übereinstimmend die Prosaform und den großen Umfang zur Gattungsbestimmung an. Während diese Merkmale aber relativiert werden müssen, ist die Definition über die selbstständige Veröffentlichung in Buchform bisher die Regel. 74 Eine generelle Definitionsschwierigkeit über Textmerkmale scheint auch hier problematisch. Christian Schärf gibt deshalb an, der Roman sei keine feste Gattung. Er macht dabei aus der Not eine Tugend und erklärt die Offenheit in der Struktur des Romans zu dessen Voraussetzung überhaupt. 75 Der Roman, erklärt Schärf in Anlehnung an Walter Benjamin, sei angewiesen auf das Buch, also erst nach Erfindung des Buchdrucks möglich. Hier nun findet sich der Verweis auf das Medium der Gattung, das wiederum Merkmale wie die Mittelbarkeit der Erzählung und die Rezeptionshaltung des Lesens als Akt der Einsamkeit nach sich ziehe. 76 Das Medienkriterium taugt in diesem Sinne auch für einen Vergleich der Gattungen Drama und Roman. 73 Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen: Niemeyer 1997. Vgl. S. 22. 74 Vgl. Hartmut Steinecke: Roman. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III. Hrsg. v. Jan Dirk Müller gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke u. a. Berlin/ New York: de Gruyter 2003. S. 317 - 326. Hier S. 317. Monika Fludernik betont noch stärker die Buchform: „ Generell kann der ‚ Roman ‘ definiert werden als eine längere Erzählung in Prosa, die in der Regel als Buch, manchmal auch in mehreren Bänden, veröffentlicht wird. “ Monika Fludernik: Roman. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. v. Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe, Sascha Seiler und Frank Zipfel. Stuttgart: Kröner 2009. S. 627 - 645. Hier S. 627. Die starke Bindung ans Buch lockert sich zurzeit durch digitale Verkaufswege. Vielleicht wäre auch hier eine Funktionsbestimmung günstig: Romane werden in der Regel in individueller Lektüre rezipiert. 75 Vgl. Christian Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2001(= Sammlung Metzler 331). S. 21. 76 Vgl. ebd. S. 5. 53 <?page no="66"?> 2.2.3 Gemeinsamkeiten von Roman und Drama: die Geschehensdarstellung Als größte Gemeinsamkeit der literarischen Gattungen Drama und Roman ist die Darstellung einer Geschichte anzusehen. 77 Geschichte ist hierbei ganz im Sinne der Erzähltheorie als eine logische Verknüpfung einzelner Handlungselemente zu definieren. Mindestens aber wird in beiden Gattungen Geschehen wiedergegeben, also eine Aneinanderreihung von Ereignissen, die nicht unbedingt einem logischen Aufbau folgen müssen. Holger Korthals benutzt den Begriff ‚ geschehensdarstellende Literatur ‘ für Epik und Dramatik und führt damit Erzähltexte und Dramen näher aneinander, als es in der triadischen Anordnung der Hauptgattungen gewöhnlich geschieht. Korthals stellt die These auf, dass Drama und Erzählung keine weit auseinanderliegenden Pole in einer Gattungstrias Lyrik - Epik - Dramatik, sondern zwei eng verwandte ‚ Proto-Gattungen ‘ der literarischen Geschehensdarstellung sind, die einander nicht nur hinsichtlich ihrer von Ereignissen, Akteuren und Schauplätzen gebildeten Tiefenstruktur gleichen, sondern auch an der Textoberfläche in viel höherem Maße strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, als dies insbesondere dem Drama zugetraut worden ist. 78 Sieht man von Korthals These, auch in der Textstruktur gebe es starke Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gattungen, zunächst einmal ab, so bleibt 77 Genette erklärt die Geschichte zum konstitutiven Element der Erzählung: „ Geschichte und Narration existieren für uns also nur vermittelt durch die Erzählung. Umgekehrt aber ist der narrative Diskurs oder die Erzählung nur was sie ist, sofern sie eine Geschichte erzählt, da sie sonst nicht narrativ wäre [. . .]. “ Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort herausgegeben von Jochen Vogt. 2. Auflage. München: Fink 1998. S. 17. Genette unterscheidet so zum Beispiel Erzählung und philosophischen Text (er nennt exemplarisch Spinozas Ethik). Ähnlich könnte man in Bezug auf das Drama argumentieren, man vergleiche zum Beispiel mit den Lehrdialogen des Sokrates. Für die Theateraufführung hieße das Wegfallen der Geschichte einen Wechsel in den Bereich des postdramatischen Theaters oder der Performance. 78 Holger Korthals: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin: Schmidt 2003 (= Allgemeine Literaturwissenschaft - Wuppertaler Schriften 6). S. 12. Geschehensdarstellende Texte definiert er auf S. 98 wie folgt: „ Literarische Texte, die beim Rezipienten die Vorstellung einer temporalen Abfolge von Ereignissen hervorrufen, die von einem oder mehreren Akteuren an einem oder mehreren Schauplätzen bewirkt oder erlebt werden, können und sollen [. . .] samt und sonders als geschehensdarstellende Texte betrachtet werden. Erst die Art der Darstellung entscheidet, ob man sie darüber hinaus mehr oder weniger eindeutig entweder dem dramatischen oder dem narrativen Modus, den Proto-Gattungen ‚ Drama ‘ oder ‚ Erzählung ‘ zuzuordnen vermag. “ 54 <?page no="67"?> als verbindendes Element die Handlung, die Geschichte oder das narrative Element. Narrativ ist dabei im weiteren Sinne als Wiedergabe einer Geschichte gemeint, setzt also nicht die Mittelbarkeit der Erzählung voraus. Nur in dieser Definition ist der Begriff auch auf Dramen und auf andere Medien wie Film oder Computerspiel anwendbar. In der neueren Narratologie wird ein gattungs- und medienübergreifender Begriff des Narrativen vertreten. 79 Korthals weist an verschiedenen historischen Gattungsbestimmungen nach, dass diese Gemeinsamkeit durchaus bekannt ist und lange für zentral gehalten wurde. Schon Aristoteles nennt die Nachahmung handelnder Menschen in seiner Poetik als verbindendes Element von Epos und Drama und handelt deshalb beide gemeinsam ab. 80 Ähnliche Argumentationen zeigt Korthals in Johann Jakob Engels Über Handlung, Gespräch und Erziehung, in den Vorlesungen Georg Wilhelm Friedrich Hegels und in Otto Ludwigs Abhandlung Romane und Romanstudien auf. 81 Von der Dramentheorie und Theaterwissenschaft sei allerdings lange gerade der Unterschied zwischen Dramatik und Epik betont worden. Die Annäherung finde eher von Seiten der Erzähltheorie statt. 82 Die gemeinsame Grundkonstante Narration macht einen Vergleich möglich, die unterschiedliche mediale Ausrichtung aber verlangt nach einer unterschiedlichen formalen Umsetzung der Inhalte. Die folgenden Ausführungen sollen die Gründe dafür beschreiben. 79 Entscheidend geprägt hat diesen Begriff des Narrativen Marie-Laure Ryan, die sich sowohl mit dem Narrativen in verschiedenen Gattungen als auch in unterschiedlichen Medien beschäftigt. Vgl. unter anderem Marie-Laure Ryan: Narrative across Media. The Language of Storytelling. Lincoln/ London: University of Nebraska Press 2004. Eine Textsammlung zum Narrativen und seiner Theorie in verschiedenen Gattungen und Medien bietet der Band Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. v. Ansgar und Vera Nünning. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2002. Nicole Mahne bietet eine kurze Zusammenfassung zum Narrativen in verschiedenen Medien, die allerdings das Theater nicht in ihre Betrachtungen aufnimmt. Vgl. Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. Vgl. v. a. S. 12 - 24. 80 Aristoteles, Poetik. Vgl. v. a. S. 5 - 7. 81 Vgl. Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 81 f. Korthals betont gemäß seiner Hauptthese diese Gemeinsamkeit. Einige der Texte könnte man auch (und dies tut er auch teilweise) heranziehen, um die historische Diskussion von Unterschieden zwischen den beiden Gattungen aufzuzeigen. Vgl dazu sein Kapitel II. 82 Vgl. ebd. S. 82. 55 <?page no="68"?> 2.2.4 Unterschiede zwischen Roman und Drama: die mediale Ausrichtung Im Gegensatz zur dramatischen Darstellung kann keine Erzählung ihre Geschichte ‚ zeigen ‘ oder ‚ nachahmen ‘ . Sie kann sie nur möglichst detailliert, präzis oder ‚ lebendig ‘ erzählen und dadurch eine Mimesis-Illusion hervorrufen, die die einzige Form narrativer Mimesis ist, aus dem einzigen aber hinreichenden Grund, weil alle Narration [hier im engeren Sinne als Vermittlerrede; Anm. B. L.], mündliche sowie schriftliche, sprachlicher Natur ist und weil die Sprache bezeichnet ohne nachzuahmen. Es sei denn, der bezeichnete (erzählte) Gegenstand gehört selbst zur Sprache. 83 Genette erläutert hier einen grundlegenden Unterschied zwischen den Modi der Darstellung auf dem Theater und der Darstellung in der Erzählung. Obwohl er beide Formen als Präsentation einer Geschichte versteht, verweist Genette auf einen Unterschied im Bereich der Mimesis. Die Unterscheidung findet allerdings nicht auf Ebene der literarischen Texte Drama und Erzählung statt, für die die gleichen Bedingungen zur Mimesis beziehungsweise ‚ Mimesis-Illusion ‘ gelten würden. Genette vergleicht vielmehr Theateraufführung und Erzählung, also zwei Formen medialer Präsentation. Die konstitutive Ungleichheit zwischen Epik und Dramatik rührt also zunächst von der unterschiedlichen medialen Ausrichtung beider Gattungen her. Als literarische Gattungen stellen Roman wie Drama das Geschehen im literarischen Zeichensystem dar. Das Drama allerdings antizipiert, wie oben erläutert, einen Wechsel des Zeichensystems. Während der Roman im literarischen Zeichensystem verbleibt, das sehr flexibel ist und nahezu alle denkbaren Inhalte transportieren kann, passt sich das ebenfalls literarische Drama bereits den Darstellungsformen der Bühne an und berücksichtigt Theatertraditionen und spezielle Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung durch den Schauspieler. Das Zeichensystem der Bühne ist wesentlich komplexer, weil es als multimediales System neben Sprache auch visuelle Zeichen aufnimmt. Erika Fischer-Lichte macht für die Bühneninszenierung ein ganzes System von theatralen Zeichen auf, die Bedeutung produzieren. Die sinnlich wahrnehmbaren Zeichen können visuell oder akustisch, lang oder kurz andauernd, auf Schauspieler oder Raum bezogen sein. 84 Trotz der Variationsbreite der Zeichen bringt die Umsetzung auf dem Theater aber 83 Genette, Die Erzählung. S. 117. 84 Dazu gehören Geräusche und Musik, linguistische und paralinguistische Zeichen, mimische, gestische und proxemische Zeichen, außerdem Maske, Frisur und Kostüm. Auch die Raumkonzeption mit Beleuchtung sowie Dekoration und Requisiten sind Teil des „ theatralischen Codes “ . Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 1. Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen: Narr 1983. Vgl. den Überblick auf S. 25 - 30 und insbesondere die schematische Darstellung auf S. 28. 56 <?page no="69"?> Einschränkungen mit sich: Durch den Anspruch der Mimesis ist das Theater weniger flexibel in den transportierbaren Inhalten. Da viele Faktoren des späteren Zeichensystems nicht im Text aufgenommen werden können, muss das Drama notwendigerweise Auslassungen machen und besteht somit zu großen Teilen aus Leerstellen. Dieser Umstand zeigt sich in den Romandramatisierungen ganz besonders stark, da ein epischer Vergleichstext vorliegt. 2.2.5 Gattungswechsel: Positionen aus der Intertextualitätsforschung Der Gattungswechsel ist in theoretischer Sicht bisher vor allem von der Intertextualitätstheorie verhandelt worden. Genette fasst solche Wechsel der Gattung, die stark die Form eines Textes betreffen, unter den Begriff „ Transmodalisierung “ als „ (im Prinzip) rein formaler Typus der Transposition “ zusammen. Er definiert die Transmodalisierung als „ jegliche Art der Modifikation, die am charakteristischen Darstellungsmodus des Hypotextes vorgenommen wird “ . 85 Der Wechsel zwischen diesen müsse immer eine semantische Veränderung beinhalten und falle deshalb unter die Gruppe der inhaltlichen Transpositionen. In Bezug auf Epik und Dramatik spricht er von einem Wechsel zwischen zwei Modi der Darstellung, dem epischen und dem dramatischen Modus. 86 Aus dieser Bezeichnung ergibt sich auch der Begriff ‚ Transmodalisierung ‘ . Auch Bernd Lenz unterscheidet zwischen dem Gattungswechsel auf der triadischen Ebene und dem Wechsel innerhalb dieser. Wie Genette betont er, dass in letzterem Bereich der Gattungswechsel immer von Sinnabweichung, also von inhaltlicher Veränderung geprägt sein müsse, eine reproduktive Arbeit sei nicht möglich. 87 Da inhaltliche Veränderungen sowohl von Lenz als auch von Genette höher geschätzt werden als strukturelle, die als handwerklich gelten, klingt eine Vorrangstellung der Wechsel innerhalb einer der drei großen Gattungen an, da diese immer von „ Sinnabweichung “ geprägt und 85 Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig nach der ergänzten 2. Auflage. Hrsg. v. Karl Heinz Bohrer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. S. 382. Wenn Genette auf derselben Seite erklärt, Gattungswechsel fielen nicht darunter, so liegt das an seinem Gattungsbegriff, der untergeordnete Gattungen, wie Epos, Roman, Tragödie oder Posse, umfasst. Ein thematischer Wechsel (auch Veränderungen der Perspektive, Zeitstruktur usw.) innerhalb einer Hauptgattung wäre ein „ intramodale[r] Wechsel “ (S. 382 f.). 86 Vgl. ebd. S. 383. 87 Vgl. Lenz, Intertextualität und Gattungswechsel. S. 175. 57 <?page no="70"?> „ reproduktive “ Absichten somit nicht möglich seien. 88 Auf der Ebene der Gattungstrias seien zwar generell sechs Arten des Gattungswechsels möglich; aus der Lyrik und in die Lyrik werde jedoch wegen der unterschiedlichen Quantität der Texte selten transponiert, zwischen Drama und Erzählung dafür besonders häufig. 89 Gründe dafür sieht Lenz in einer Verwandtschaft von Epik und Dramatik, wie sie auch Korthals betont: die beiden Hauptgattungen stimmten in ihrem mimetisch-fiktionalen Charakter überein und würden somit durch „ [ähnliche] oder gleiche Elemente der Textkonstitution - z. B. die zentrale Funktion des Dialogs, die Figuren als Träger der Handlung, raumzeitliche Situierung und Plotsegmentierung “ bestimmt. 90 Genette nennt „ Dramatisierung und Narrativisierung “ die „ zwei antithetischen Typen der intermodalen Transmodalisierung bzw. des Wechsels von einem Modus zum anderen “ . 91 Die Narrativisierung erklärt er dazu mit Recht zu einem viel selteneren Phänomen und vermutet vor allem ökonomische Gründe. Sie komme wenig vor, weil es kommerziell vorteilhafter sei, eine Erzählung auf eine Bühne oder Leinwand zu bringen. 92 Für die Leinwand mag dieses Kriterium heute noch stärker gelten als für die Bühne. Lenz erklärt das Phänomen ebenfalls recht pragmatisch: Die Dominanz der Dramatisierung von Erzähltexten bestehe „ möglicherweise deshalb, weil eine Reduktion einfacher als eine Ausdehnung vorgenommen werden kann “ . 93 Diesen (zumindest implizit wertenden) Gründen ist ein weiterer, grundsätzlicherer hinzuzufügen: Mit dem dramatischen Text liegt bereits eine lesbare Fassung des Stoffes vor, wenngleich sie weniger stark auf die Lektüre ausgerichtet sein mag als der epische Text. Einen epischen Stoff aufführbar zu machen, erfordert dagegen unbedingt eine Umformung. Genette sieht die Korrelation zwischen Darstellungsmodus und Handlungstypus nicht mehr als bestimmend an, bei der Dramatisierung müsse also kein der Gattung Drama entsprechendes Thema in die Handlung eingefügt werden. 94 Im Gegenteil zielt sein Konzept der Transmodalisierung vor allem auf die möglichst genaue Bedeutungsübertragung bei rein formaler Ver- 88 Ebd. Die Kategorien von Originalität und Reproduktion (s. Kapitel 2.1) werden also auch in Bezug auf den Gattungswechsel angewandt. 89 Vgl. ebd. S. 164. 90 Ebd. S. 165. 91 Genette, Palimpseste. S. 391. Den Wechsel zur Lyrik nimmt er dabei nicht mit auf, da das Konzept der Darstellungsmodi keine Kategorie für die Lyrik enthält. Genette beschäftigt sich ausschließlich mit geschehensdarstellenden Texten. 92 Vgl. ebd. S. 388. 93 Lenz, Intertextualität und Gattungswechsel. S. 166. 94 Vgl. Genette, Palimpseste. S. 388. 58 <?page no="71"?> änderung. Er vergleicht die Mittel der Darstellung zwischen Drama und Erzählung in den Kategorien seiner Erzähltheorie miteinander und kommt zu dem Schluss, dass man „ beim Übergang von der Erzählung zur dramatischen Aufführung eine beträchtliche Einbuße an textuellen Mitteln “ 95 feststellen müsse. Wenn Genette erklärt, die Einschränkungen in der textuellen Darstellung gingen in der Regel mit einer Kürzung des Textes und Amplifikation der Bedeutung einher, 96 so deutet diese These bereits an, dass der reine Wechsel des Modus ohne semantische Veränderung eigentlich nicht möglich ist. Genette erklärt, die Dramatisierung als nur formale Transposition wäre „ kaum mehr als eine Szenisierung “ . 97 Er wendet aber ein: „ Diese verschiedenen Merkmale der Dramatisierung lassen sich nicht immer leicht isolieren, weil diese Praktik selten im Reinzustand auftritt und sich somit selten für einen engen Vergleich zwischen dem narrativen Hypotext und dem dramatischen Hypertext eignet. “ 98 Insofern ist die Transmodalisierung ein Konstrukt. Der Vergleich mit dem Prätext ist nur dann sinnvoll, wenn andere Arten der Veränderung mit einbezogen werden. Was Genette über die Hilfskonstruktion der Transmodalisierung versucht, ist eine Trennung von obligatorischen und fakultativen Veränderungen im Zusammenhang mit dem Wechsel zwischen Erzählung und Drama, die nur in der Theorie gelingen kann. Genette zieht deshalb das Zwischenfazit, es könne „ keine unschuldige Transposition “ geben, ich will sagen: keine, die nicht auf die ein oder andere Weise die Bedeutung ihres Hypotextes modifiziert. Bei der Übersetzung, der Versifikation und bei den meisten ‚ formalen ‘ Transpositionen, die wir vorhin erwähnt haben, sind diese semantischen Modifikationen gewöhnlich allerdings unfreiwillig hingenommene und eher pervers geartete als absichtlich angestrebte. 99 Lenz versucht eine ähnliche Trennung der Kategorien. Obwohl er erklärt, dass fakultative und obligatorische Veränderungen im Gattungswechsel kaum zu trennen seien, weil die formale Veränderung immer eine inhaltliche in sich trage, entwickelt er die Vorstellung von zwei Formen der Verbindung von Intertextualität und Gattungswechsel (vgl. auch Abschnitt 1.1). Es gäbe 95 Ebd. S. 386. 96 Vgl. ebd. S. 383. 97 Ebd. S. 388. 98 Ebd. S. 386. 99 Genette, Palimpseste. S. 403. Die negative Konnotation in den Begriffen ist unpassend: Das Semantische in der Veränderung wird als ‚ schuldig ‘ oder ‚ schuldbeladen ‘ bezeichnet, besonders negativ wird die ungewollte semantische Veränderung bewertet, die er als ‚ pervers ‘ bezeichnet. Man wird davon ausgehen dürfen, dass sich zumindest die Autoren formaler Transpositionen in jüngerer Zeit der semantischen Veränderungen bewusst sind. 59 <?page no="72"?> Werke, die vor allem den Wechsel der Gattung vornähmen und wenig inhaltliche Veränderung intendierten, auf der anderen Seite aber Werke, welche die Umdeutung in den Mittelpunkt stellten. 100 In dieser Argumentation koppelt er zwei unterschiedliche Phänomene, nämlich Innovation und Gattungswechsel, durch Gegenläufigkeit. Dazu wäre es nötig, dass man erstens fakultative und obligatorische Veränderungen im Gattungswechsel trennen kann, um die Dominanz des einen oder des anderen im Werk nachzuweisen, und das zweitens tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen den Kategorien nachweisbar ist. Beides muss nicht der Fall sein. Wie oben erläutert, erklärt sich durch die Orientierung am Medium Theaterbühne auch die Teilung in Haupt- und Nebentext, wenngleich sie (wie oben beschrieben) weder notwendig noch hinreichend für die Definition ist. Für die Arbeit mit Dramatisierungen hingegen ist sie zentral, weil eben durch diese Umstrukturierung des Textes der Schritt zum Wechsel ins Aufführungsmedium vorbereitet wird. Überzeugend ist deshalb die Kopplung von Gattungswechsel und Medienwechsel in Lenz ’ Argumentation: Die enge Verknüpfung von Gattungs- und Medienwechsel läßt sich historisch weit zurückverfolgen. [. . .] Definiert man Gattungen im Sinne der Trias, dann impliziert die Umarbeitung eines Romans oder eines Gedichtes in ein Drama, ein Gattungswechsel also, zugleich auch wieder einen Medienwechsel, wenn man an Inszenierung und Aufführung denkt. 101 Lenz wählt hier nicht zufällig das Beispiel der Dramatisierung. Die Gattung Drama ist in besonderer Weise auch heute noch medial bestimmt. Gattungswechsel und Medienwechsel müssen bei der Dramatisierung in Kombination gedacht werden. Der Grund dafür liegt in der medialen Definition des Dramas: Wenn der Medienwechsel das einzige ‚ harte Kriterium ‘ ist, welches das Drama von anderen Gattungen unterscheidet, 102 dann muss die Dramatisierung auch eine ‚ Theatralisierung ‘ sein. Für die Analyse der Romandramatisierungen in dieser Arbeit ergeben sich daraus folgende weitergehende Fragen: Inwieweit richten sich die Adaptionen an Theaterkonventionen aus? Gehen sie dabei über die tradierten literarischen Formen des Dramas hinaus? Wie konsequent verfolgen sie den avisierten Medienwechsel? Wie verhalten sie sich also zwischen Literarizität und Theatralität? Explizieren sie ihre Überlegungen zur generischen und medialen Transposition? 100 Vgl. Lenz, Intertextualität und Gattungswechsel. S. 169. Siehe auch die zusammenfassenden Thesen auf S. 177. 101 Ebd. S. 159. 102 Das ebenfalls notwendige Kriterium der Geschehensdarstellung teilt das Drama mit den epischen Texten (vgl. oben). 60 <?page no="73"?> Der Medienwechsel vom Drama zur Aufführung ändert nicht nur grundlegend das Zeichensystem der Darstellung, sondern auch die Rezeptionsform des Werkes. Denn der Wechsel vom Roman ins Drama bereitet den Wechsel vom Medium der privaten Lektüre in eines der öffentlichen Rezeption vor. Dramatisierungen, die (wie in Kapitel 1 erklärt) meist für die konkrete Aufführung geschrieben sind, stellen eine Geschichte in den öffentlichen Raum. Insofern ist der Medienwechsel ein ‚ Ins-Gespräch-bringen ‘ . Judith Mayne stellt dies am Beispiel von Literaturverfilmungen dar, die sie hinsichtlich ihrer sozialen und kommunikativen Funktion untersucht und dabei insbesondere den Schritt in den öffentlichen Diskussionsraum betont. 103 Die Textfassung der Dramatisierung ist auch hier nur die Vorlage zum Schritt in den öffentlichen Raum. Dennoch kann sie diesen einkalkulieren. Ganz konkret ist die Einbeziehung des Publikums in die Aufführung möglich. Darüber hinaus setzt die Dramatisierung den Stoff aber auch einer neuen Diskussionssituation aus: Dramatisierungen, die bewusst verändern, die provozierende, erheiternde oder verstörende Elemente enthalten, können die Diskussion über die Romanvorlage in Gang setzen. Schon der Dramentext kann somit einen Diskurs bewusst anlegen. Wenn ein Roman dramatisiert wird, werden einerseits Leerstellen gefüllt, andererseits neue hergestellt. Durch Kürzungen öffnet der dramatisierte Text gegenüber seinem Prätext Bedeutungsspielraum, der dann in der Inszenierung wieder gefüllt werden kann. Auf Grund seiner Struktur kann das Drama zwar bestimmte Schwerpunkte festlegen, muss aber immer Deutungsspielraum in bedeutendem Maße offenlassen. Die Dramatisierung wird so nicht nur selbst Teil des Rezeptionsprozesses eines Romans, indem sie im öffentlichen Raum Stellung zum Roman, zu eventuellen anderen Fassungen oder Verfilmungen nimmt. Darüber hinaus nutzt sie das Medium der Theateraufführung, das über Leerstellen und den institutionellen Rahmen eine Anschlusskommunikation über das Gesehene fördert. Eine solche Herausforderung zur Diskussion bieten natürlich vor allem Dramatisierungen, die durch Form oder Umwertung und inhaltliche Veränderung beziehungsweise Fokussierung provozieren. Das folgende Kapitel behandelt deshalb die Neuerungen und alternativen Deutungen, die sich durch den zeitlichen Anstand und den bearbeitenden Autor ergeben können. 103 Vgl. Judith Mayne: Private Novels, Public Films. Athens: University of Georgia Press 1988. 61 <?page no="74"?> 2.3 Dramatisierung und Alterität: historische und kulturelle Nähe und Distanz Es steht so, daß ich unendlich unglücklich bin. Ich hätte nie geglaubt, daß die Zeit, rein als Zeit, so wirken könne. Und dann als zweites: Ich liebe meine Frau, ja . . . ich liebe sie noch. (Instetten in Reinhard Göber, Effi Briest, S. 23) Mit Dramatisierungen von Juli Zehs Spieltrieb, Karen Duves Regenroman, Charlotte Roches Feuchtgebiete, Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt oder Uwe Tellkamps Der Turm finden auch Werke der Gegenwartsliteratur immer schneller den Weg auf deutsche Bühnen. Ein Blick auf die Spielpläne offenbart jedoch eine Affinität für Stoffe, die bereits in den literarischen ‚ Kanon ‘ eingegangen sind. Das mag zunächst verwundern, denn ökonomische Gründe sprechen stärker für die Bühnenversion des Kehlmann ’ schen Bestsellers, des Buchpreisträgers und des skandalträchtigen Werks Roches. Die Geschichte und Figuren aus Karl Philipp Moritz ’ Anton Reiser oder gar Grimmelshausens Abenteuerlichem Simplicissimus dürften durch den historischen Abstand dem heutigen Zuschauer zunächst fremder sein als zeitgenössische Literatur. Dennoch werden in der aktuellen Bühnenpraxis besonders häufig solche Werke aufgeführt, deren Prätexte man unter rein zeitlinearen Gesichtspunkten wohl als ‚ alt ‘ beschreiben müsste. Es gibt Anzeichen dafür, dass dieses Phänomen auch in Bezug auf sekundäre Praktiken der Kunstproduktion in anderen Bereichen auftritt. Helge Nowak stellt in seiner Untersuchung zu Fortsetzungen von englischsprachigen Romanen ein über die Jahrhunderte verändertes Adaptionsverhalten fest: In einer gegenläufigen Bewegung finden sich Folgetexte, die mit geringem Abstand erscheinen, im 18. Jahrhundert sehr häufig, im 19. Jahrhundert immer noch recht oft. 104 Im 20. Jahrhundert treffe man sie hingegen kaum an. Folgetexte, die mit Jahrzehnten zeitlicher Distanz zum Prätext erscheinen, zeigen sich umgekehrt vermehrt im 20. Jahrhundert, einen signifikanten Anstieg verzeichnet Nowak dabei seit den 1970er Jahren, spricht gar von einem „ Boom “ 105 solcher Werke. 104 Vgl. Nowak, „ Completeness is all “ . S. 23 f. Nowak definiert einen geringen Abstand als einen Zeitraum von nicht mehr als drei Jahren. 105 Ebd. S. 23. Nowak möchte die These widerlegt wissen, alle Fortführungen seien lediglich aus finanziellen Motiven geschrieben worden. Die Rezipientengruppen des Prätextes und seiner Weiterführung seien gerade bei zeitlichem Abstand unterschiedliche (vgl. S. 25), mehr Einfluss hätten dagegen die Frage des Urheberrechts (vgl. S. 83) 62 <?page no="75"?> Für die Romandramatisierung sind mehr als 100 Jahre zeitliche Distanz zum Prätext nicht ungewöhnlich. Deshalb werde ich neben den konstitutiven Phänomenen des intertextuell wiederholenden Charakters der Werke (Kapitel 2.1) und des Gattungswechsels (Kapitel 2.2) auch die historische Distanz zwischen Roman und Dramatisierung zum Gegenstand der Analyse machen. 106 Ein wiederholendes literarisches Verfahren in der zeitlichen Distanz betont dabei die Geschichtlichkeit des Werkes, 107 aber durch die Bühnenpräsenz in der Inszenierung, durch Verfahren der Aktualisierung und Neudeutung eventuell auch dessen Aktualität. Der Rezipient weiß gerade bei sehr bekannten Texten, dass es sich um die Bearbeitung eines älteren Romans handelt. Gleichzeitig erscheint das aktualisierte Werk durch die Bühnendarstellung in absoluter Präsenz; denn das epische Präteritum der Redeeinleitung verschwindet im direkten Dialog des Dramas. Die ‚ jetztzeitige ‘ Darstellung wirkt vor der Folie des ‚ raunenden Imperfekts ‘ der Romanerzählung doppelwertig in ihrer Zeitlichkeit. So kann sich ein Changieren der Dramatisierung zwischen diesen beiden Polen ergeben. Doch auch innerhalb des dramatischen Textes ergibt sich ein ambivalentes Verhältnis zum Roman, insbesondere dann, wenn die Dramatisierung auf einen größeren historischen Abstand reagieren muss. In den Theorien zur Intertextualität spielt die Dimension der zeitlichen Distanz keine große Rolle. Während dieses Desiderat in der ontologischen Begriffsverwendung als programmatisch betrachtet werden kann, 108 wäre es sowie eine grundsätzlich gewandelte Einstellung zu Fragen nach Original und Kopie (vgl. S. 85). 106 Fragen der Alterität, darunter zum Beispiel die mögliche Markierung von Distanz, sind an jeder - zumindest jeder allographen - Adaption verhandelbar. Das gilt auch für Dramatisierungen, die in geringem zeitlichen Abstand erscheinen. Ein Beispiel für die Verhandlung von Distanz in einer Dramatisierung, die in sehr geringem zeitlichen Abstand erschienen ist, bietet Helene Hegemanns Axolotl Roadkill in der Adaption des Thalia Theaters Hamburg. Dort wird zu Beginn das Publikum begrüßt, indem Sätze aus dem Roman mit dem Lamento „ Oh Gott ist das alles schrecklich! “ , und herzlichen Willkommensgrüßen an die Zuschauer gemischt werden. Hier wird also die Theateradaption als Metaverhandlung des Romans gezeigt, die auch die Reaktionen auf die Veröffentlichung diskutiert. [Bastian Kraft und Tarun Kade: ] Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Fassung Thalia Theater, Stand 27. 09. 2010 (UA: Thalia Theater Hamburg am 21. 11. 2010, Regie: Bastian Kraft). S. 3. 107 Vgl. Haverkamp, Allegorie, Ironie und Wiederholung. S. 561. 108 Deshalb bildet ein weiter, poststrukturalistischer Intertextualitätsbegriff für den Textvergleich in dieser Arbeit keinen angemessenen theoretischen Hintergrund. Die universalisierende Setzung eines ‚ texte général ‘ (Derrida) macht die einzelne Äußerung ahistorisch. Die Annahme eines Lesers, der den Text erst als solchen konstituiert, ist zwar auch für dramatische Adaptionen relevant, da sich wesentliche Bedeutungsebenen bei jeder Art ‚ sekundärer Praktik ‘ (vgl. Kapitel 2.1) erst über das Vorwissen des 63 <?page no="76"?> gerade in einer fortgeführten deskriptiv-strukturalistischen Forschung von Bedeutung, die Texte auch in ihrem Verhältnis zu ihrer Historizität und in ihrer diachronen Anordnung zu betrachten. Nur so lässt sich nach den Folgen des historischen Abstands für die Adaptionen sowie für deren literaturwissenschaftliche Analyse fragen: Was bedeutet der zeitliche Abstand für die Romandramatisierung und welche Schwerpunkte ergeben sich damit für eine vergleichende Untersuchung von Prä- und Folgetext? Mit welchen Begriffen lässt sich das intertextuelle Verhältnis in seiner historischen Dimension beschreiben? Für diese Arbeit ist dabei weniger von Interesse, wie sich tatsächliche zeitgeschichtliche Umstände in den Romanen manifestieren, welche geistesgeschichtlichen Einflüsse und sozialen Realitäten sich in der Darstellung der Geschichte zeigen. Wenn man jedoch von einer historischen Differenz zum heutigen Publikum ausgeht, dann rückt die Reaktion des Folgetextes auf diese Differenz in den Status eines zentralen Untersuchungsgegenstands. Denn Differenzen zum Prätext entstehen beim Dramatisieren selbstverständlich nicht nur durch den Gattungswechsel, sondern auch durch eine Umdeutung, die in der historischen Fremdheit des Romans begründet liegen kann. Hier soll also nicht historisch-kritisch oder soziologisch der zeitgeschichtliche Hintergrund zur Entstehungszeit untersucht und mit dem des heutigen Rezipienten verglichen werden. Stattdessen wird in einer dezidiert intertextuell werkbezogenen Analyse die literarische Reaktion auf den zeitlichen Abstand analysiert. An dieser Stelle soll zunächst die Rolle des historischen Abstands für den intertextuellen Bezug definiert werden, indem die Mittlerfunktion des Textes herausgestellt wird (Abschnitt 2.3.1). In mehreren Schritten werden eine theoretische Basis und zentrale Forschungsfragen für die spätere Anwendung in der Textanalyse skizziert. Die Adaption als ‚ exemplarischer Lesevorgang ‘ kann den Effekt der kulturellen Alterität sichtbar machen (Abschnitt 2.3.2). Zur Beschreibung des kritischen Potentials des so entstandenen intertextuellen Verhältnisses, gerade in seiner zeitlichen und kulturellen Differenz, bietet sich der Begriff der ‚ Dialogizität ‘ an, den ich im letzten Teil 2.3.3 zur Charakterisierung intertextueller Bezüge in Adaptionen heran- Rezipienten erschließen. Allerdings muss dieser Rezipient in seinem sozialen, historischen und kulturellen Kontext betrachtet werden. Zudem nimmt der Rezipient die Texte in ihrer historischen Dimension wahr: Das wesentliche Vergnügen, der Reiz des Spiels mit Zitaten und anderen Arten der Intertextualität liegt in der Wiedererkennung und Wiedereinordnung der Äußerung. Wenngleich als theoretische Annahme reizvoll, ist der ‚ texte général ‘ deshalb in seiner Auflösung historischer Dimensionen zur literaturwissenschaftlichen Arbeit mit Adaptionen ungeeignet. 64 <?page no="77"?> ziehe. Der Frage nach Deutung und Umdeutung durch intertextuelle Verfahren wird in den Analysen besondere Beachtung geschenkt werden. 2.3.1 Die Mittlerfunktion des Textes: Adaptionen und historisches Textverständnis Der historische Abstand zwischen zwei Texten rückt selten in den Fokus der Intertextualitätsforschung. In einzelnen Textanalysen finden sich zwar Überlegungen zu den unterschiedlichen historischen Kontexten; dies geschieht vor allem da, wo nicht einzelne Zitate, sondern Bearbeitungen von ganzen Werken betrachtet werden (wie zum Beispiel Parodien, Travestien, Adaptionen, Versfassungen und ähnliche Phänomene). In der Theoriebildung hingegen spielt die diachrone Dimension kaum eine Rolle. Ein „ gespanntes Verhältnis zur Geschichte “ , wie es Manfred Geier dem Intertextuellen attestiert, sollte insofern eher der Intertextualitätsforschung als ihrem Gegenstand zugeschrieben werden. 109 Als symptomatisch darf der von Ulrich Broich und Manfred Pfister herausgegebene Sammelband Intertextualität 110 gelten, der sein Thema (aus strukturalistischer Sicht) von allen Seiten angeht. Im Vorwort betonen die Herausgeber die Bedeutung der grundlegenden Arbeit Genettes, kritisieren jedoch, dieser nutze die Vielfalt seiner Beispiele „ primär als Lieferant “ zur Vervollständigung seiner Systematik. 111 Sie selbst geben an, die „ historische Dimension der Intertextualität stärker in den Blickpunkt “ nehmen zu wollen, und sehen dies als wichtigen „ Schritt auf dem Weg zu einer noch zu schreibenden Geschichte der Intertextualität “ . 112 Damit setzen 109 Manfred Geier: Die Schrift und die Tradition. Studien zur Intertextualität. München: Fink 1985. S. 14. Geier sieht das spannungsvolle Verhältnis darin begründet, dass sich die Intertextualität der Chronologie widersetze. Das Intertextuelle brauche zwar ein Vorher und Nachher als Werkzeug und Material im Sinne des bricolage-Begriffs von Claude Lévi-Strauss, auf den Geier auf S. 11 f. verweist (Vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 29 ff.). „ Dieses Vorher/ Nachher jedoch schneidet in das Innere der Textäußerungen ein, um in ihnen einen Schnitt zu hinterlassen, an dem sich die Signifikanten reiben und so ihre ganz spezifische Wärme erhalten. Das Diachrone des Intertextuellen ist, um im räumlichen Bild zu bleiben, eher ‚ dazwischen ‘ als chronologisch-hintereinander. “ 110 Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen: Niemeyer 1985. 111 Die Kritik ist insofern berechtigt, als dass eine wirklich historisierende Betrachtung der Texte nicht stattfindet. Grund dafür ist die Zielsetzung einer Typologie, die naturgemäß eher synchron als diachron arbeitet. Ein Desiderat der Forschung bleibt dieser Aspekt dennoch. 112 Broich und Pfister, Intertextualität. S. XI. Das Desiderat beklagt auch Heinrich F. Plett, der in einem Band zur Intertextualität wie Broich und Pfister auch einige Aufsätze zur 65 <?page no="78"?> sie zwar das wichtige Ziel, unterschiedliche Arten und Funktionen intertextueller Bezüge in verschiedenen literarischen Epochen zu untersuchen, vernachlässigen jedoch die historische Dimension dieser Verweise selbst. Zur zeitlichen Distanz der Texte innerhalb der intertextuellen Relation findet sich im systematischen Teil des Bandes kein Artikel. 113 Der folgende Versuch eines Zugangs zu diesem Phänomen kann nicht im strengen Sinne strukturalistisch sein, weil die hier zentrale Kategorie der Wahrnehmung von Fremdem und Eigenem systematisch und überzeitlich kaum denkbar ist. Vielmehr soll ein Brückenschlag zwischen (fortgeführter) Hermeneutik und Rezeptionsanalyse die Konstruktion von Bedeutung bei zeitlicher und kultureller Distanz zu erfassen helfen. Warum aber ist ein historisches Textverständnis in der Intertextualitäts- und Adaptionsforschung besonders notwendig? Ein literarischer Text wird [. . .] nicht einfach von den sozialen, politischen und literarischen Gegebenheiten seines Kontextes determiniert, sondern steht gleichsam in einem Dialog mit seinem Kontext, gibt eine Antwort auf ihn, wobei diese Antwort sowohl affirmativ als auch kritisch sein kann, erklärt Ulrich Broich - hier nicht im Hinblick auf intertextuelle Verweise - und plädiert dafür, „ den Erwartungshorizont der Leser, für die ein Text bestimmt war, und den ‚ Dialog ‘ , den er mit seiner Zeit führte, zumindest ansatzweise zu rekonstruieren “ . 114 Der Zusatz ‚ ansatzweise ‘ weist bereits auf die Problematik für den Literaturwissenschaftler hin: „ Wie der Text so steht auch der Interpret historischen Verbreitung von Intertextualität zusammenstellt. Im systematischen, theoriebildenden Teil findet sich jedoch ebenso wenig ein Ansatz zum historischen Abstand, also zur diachronen Dimension der Verweise selbst. Heinrich F. Plett: Intertextualities. In: Intertextuality. Hrsg. v. Heinrich F. Plett. Berlin/ New York: de Gruyter 1991.S. 3 - 29. 113 Da das formalistisch-strukturalistische Arbeiten in seinem starken Bezug auf das ästhetische Verfahren der Werke diese vor allem synchron betrachtet, verwundert dies nicht grundsätzlich, sondern nur vor dem Hintergrund der Kritik an Genette. Jauß konstatiert zwar, dass das diachrone Verstehen in die formalistische Analyse insofern wieder eingehe, als das Werk auch als Teil einer Reihe, also in Bezug auf Gattungskonventionen und Vorgänger zu betrachten sei. Dabei sei aber noch nicht an einen historischen (Verstehens-)Hintergrund oder an Wirkung und Funktion gedacht. Vielmehr handele es sich um den Ansatz, ein Werk als Teil einer literarischen Reihe zu betrachten - also in seiner Historie innerhalb eines ihm eigenen Systems. Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970. S. 164 - 167. Die Interpretationstradition dieser literaturwissenschaftlichen Strömung kann also trotz der historischen Wendung zur Gattung als Systemreferenz als eher ahistorisch betrachtet werden. 114 Ulrich Broich: Die Geschichtlichkeit von Texten. In: Ein anglistischer Grundkurs. Einführung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Bernhardt Fabian. In Zusammenarbeit mit Ulrich Broich, Dieter Kranz u. a. 9., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin: Schmidt 2004. S. 126 - 151. Hier S. 129. 66 <?page no="79"?> in einem historischen Kontext. Von diesem Kontext wird er nie völlig abstrahieren können. Anders ausgedrückt: Es gibt für ihn keinen Archimedischen Punkt außerhalb der Geschichte. “ 115 Ein historisierender Zugriff bei der Textanalyse hat also seine Grenzen; das obige Zitat weist durch die Betonung der ebenfalls historischen Position des Interpreten aber deutlich in Richtung der Rezeptionstheorie. Mit Blick auf Studien, die Intertextualität unter dominant rezeptionsästhetischer Perspektive betrachten, 116 muss festgestellt werden, dass dieser Ansatz gerade in Bezug auf den historisch-situierten Leser und damit auf die historische Dimension von Intertextualität bisher wenig erfolgreich war. Mag sich eine übertragbare Theorie der ‚ absoluten ‘ Geschichtlichkeit der intertextuellen Bezüge auch als schwierig erweisen, so ist die ‚ relative ‘ Dimension des Abstands und der Ausdruck derselben im Text zumindest für die Adaptionsforschung ein lohnendes und erreichbares Beschreibungsziel. Auf dem Weg zu einer rezeptionsorientierten Intertextualitätstheorie kann bei Paul Ric œ urs Untersuchung zu Zeit und Erzählung angesetzt werden. Obwohl er in seiner Suche nach der zeitlichen Ordnung als übergreifendem Prinzip erzählender Texte gerade nach dem Ahistorischem sucht, verweist er immer wieder auf solche leserorientierten Theorien. Ric œ ur entwickelt im ersten Band von Zeit und Erzählung drei Arten der Mimesis, durch die er literarische Werke mit den historischen Lebenswelten zur Zeit ihrer Pro- 115 Ebd. S. 135. 116 Peter Stocker verfolgt einen solchen Ansatz, indem er die Lektüre in den Fokus seiner Intertextualitätstheorie stellt. Doch das für die Theoriebildung sinnvoll dargelegte Konzept eines ‚ Modell-Lesers ‘ , der intertextuelle Bezüge über seinen spezifischen Horizont erschließt, erweist sich wiederum als ahistorisch. Denn der Modell-Leser stellt das Ideal eines Lesers dar, der alle „ vor dem Lektüre-Ereignis entstandenen und zu diesem Zeitpunkt zugänglichen Texte “ in sein Verständnis des Werkes einbringt, zwar kein allwissender Mensch, aber doch einer, der „ alles weiß, was nötig ist, um einen Text adäquat zu lesen “ . Damit lässt sich das Potential des Textes zwar ausloten, die Dimension der Nähe oder Fremdheit aber kann mit dem idealen, alles verstehenden Leser nicht untersucht werden. Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien. Paderborn/ München u. a.: Schöningh 1998. S. 11 und 97. Die Rezeption stellt auch Susanne Holthuis in den Mittelpunkt ihrer Intertextualitätstheorie. Susanne Holthuis: Intertextualität: Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen: Stauffenburg 1993. Vgl. v. a. S. 31. Der Text verfüge dabei über eine intertextuelle Disposition (vgl. S. 33), die aber vom Leser aktiviert werden müsse. Das so durchdachte Konzept, das vor allem auf die Betrachtung kommunikativer und pragmatischer Aspekte des Textes aufbaut, gerät an die Grenze, wenn es um die individuelle Position des historischkulturell situierten Lesers geht. Es muss ebenfalls einen Modell-Leser annehmen, um als Theorie nicht die empirische Einzelstudie, sondern Übertragbarkeit zu gewährleisten (vgl. S. 226) und stellt eine hinreichende „ Modellierung von Lesertypen “ als Desiderat in eine eher ferne Zukunft (S. 233 f.). 67 <?page no="80"?> duktion und ihrer Rezeption verknüpft. 117 Für erzählende Texte, zu denen Ric œ ur epische und dramatische Texte rechnet, 118 nimmt er in seinem Stufenmodell aufeinander aufbauende Momente der Bedeutungskonstruktion an. Kernstück dabei ist die ‚ mime ˜ sis II ‘ , die Darstellung der Handlung in der Geschichte (im Sinne der histoire). Sie sei jedoch nur rezipierbar, solange sie auf die Weltwirklichkeit zurückgreife. Diesen Rückbezug, diesen Teil der Bedeutungskonstruktion nennt er ‚ mime ˜ sis I ‘ und erklärt sie zur Grundlage jeder Erzählung: „ Eine Geschichte verstehen heißt, zugleich die Sprache des ‚ Tuns ‘ und die kulturelle Überlieferung zu verstehen, auf der die Typologie der Fabeln beruht. “ 119 Das Referenzsystem in diesem Verstehensprozess bilde die Weltwirklichkeit, die symbolisch vermittelt in den Text eingehe. Die mime ˜ sis II, unter der er die Darstellung der Handlungen im Text versteht, sei durch ihre Literarizität frei in der Darstellung, nutze Abstraktion und Verschiebung, referiere dabei aber immer auf die mime ˜ sis I. Sie habe somit sowohl eine Bruchals auch eine Verbindungsfunktion in Bezug auf die Weltwirklichkeit. Entscheidend für einen rezipientenorientierten Ansatz ist aber die ‚ mime ˜ sis III ‘ , die sich auf den Lesevorgang bezieht: Der Akt des Lesens begleite „ die Konfiguration der Erzählung und aktualisiert ihre Nachvollziehbarkeit. Eine Geschichte mitvollziehen heißt, sie lesend zu aktualisieren. “ 120 Aktualisieren kann hier sowohl als ‚ vergegenwärtigen ‘ als auch als ‚ auf den Stand des Rezipienten bringen ‘ verstanden werden, denn die Narrativität der Geschichte vollzieht sich über ihre Referenz. Mit Bezug auf Gadamers Vorstellung einer ‚ Horizontverschmelzung ‘ erklärt Ric œ ur: Kommuniziert wird über den Sinn des Werkes hinaus letztlich die Welt, die es entwirft und die seinen Horizont bildet. In diesem Sinne nehmen der Hörer oder der Leser sie ihrer eigenen Aufnahmefähigkeit entsprechend auf, die wiederum durch eine zeitlich begrenzte und zu einem Welthorizont offenstehende Situation bestimmt ist. Der Begriff des Horizonts und der korrelative der Welt erscheinen somit zweimal in der oben angedeuteten Definition der mime ˜ sis III: als Überschneidung zwischen der Welt des Textes und der Welt des Hörers oder Lesers. 121 117 Dazu kombiniert er Zeittheorien aus den Bekenntnissen des Augustinus und aus Aristoteles ’ Poetik. Vgl. Paul Ric œ ur: Zeit und Erzählung. Bd. I. Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München: Fink 1988. 118 Vgl. ebd. S. 62. Kriterium für Narrativität ist somit hier die Geschehensdarstellung (vgl. auch Kap. 2.2.3). Diese sieht er auch in bestimmten faktualen Texten wie denen der Geschichtsschreibung gegeben, sofern sie Handlungen darstellen. 119 Ric œ ur, Zeit und Erzählung. Bd. I. S. 93. 120 Ebd. S. 121. 121 Ebd. S. 122. 68 <?page no="81"?> Zur Welt gehört bei Ric œ ur nicht nur die lebensweltliche Situation, sondern auch Sinnbezüge innerhalb dieser, Werthaltungen, Sprache als Teil der Umwelt und Basis ihrer Bedeutungskonstruktion und damit auch der literarische Erfahrungshorizont, nämlich „ die Gesamtheit der Referenzen [. . .], die durch alle Arten von deskriptiven oder dichterischen Texten zugänglich gemacht werden, die ich gelesen, gedeutet und geliebt habe. “ 122 Ric œ ur versucht anschließend, diejenigen Erfahrungswerte zu finden, die von Rezipienten jeder historischen Zeit wieder rekonstruiert werden können, und versteht besonders die zeitliche Struktur von Handlungen als eine Grunderfahrung menschlichen Seins, die für jeden Leser eine konstitutive Größe seiner Welterfahrung und somit im Text wiedererkennbar sei. Dem gegenüber gewinnen für die Intertextualitätsforschung diejenigen Aspekte an Relevanz, die stark historisch und damit nicht mehr zugänglich sind. Ric œ urs (nur in der Theorie vollziehbare) Trennung der drei Schritte der Mimesis lässt sich aber auch hier anwenden, legt sie doch die Mittlerfunktion des Textes offen. Das literarische Kunstwerk als Träger von Handlung, kausalen Verknüpfungen, Motivationen, gesellschaftlichen Ordnungen und politischen Systemen, Kunstverständnis und kulturellem Wissen muss in seinen Referenzen auf die jeweilige Lebenswelt erschlossen werden und bietet durch die ‚ Als-ob ‘ -Relation und den metaphorischen Wert der Sprache Deutungsmöglichkeiten und Leerstellen. 123 Folgt man Ric œ urs Argumentation und begreift mit Wolfgang Iser den Lesevorgang als Realisation der Textbedeutung, so wird die „ eigene Erfahrung “ 124 zum einzigen Bezugspunkt, anhand dessen der Leser die Inhalte verstehen kann. Die Unbestimmtheit des literarischen Kunstwerkes „ bildet in jedem Falle die Möglichkeit, den Text an die eigenen Erfahrungen beziehungsweise die eigenen Weltvorstellungen anzuschließen “ , 125 und führe zu einer speziellen „ Schwebelage “ des literarischen Textes, der zwischen der Welt realer Gegenstände und den Dispositionen und Erfahrungen seines Rezipienten oszilliere. Der Leser müsse sich an der Konstruktion der Inhalte beteiligen, um die Geschehnisse mitvollziehen zu können. 126 Diese Anerkennung der Leserleistung für den Akt der Bedeutungskonstruktion hat Folgen für das Verständnis des Textes als historisches Produkt. Wenn die Sinnkonstruktion nicht im Werk, sondern in der Einbildungskraft des Lesers 122 Ebd. S. 126. 123 Hier argumentiert Ric œ ur mit Wolfgang Iser und übernimmt dessen Terminologie. 124 Wolfgang Iser: Die Apellstruktur der Texte. Hrsg. v. Gerhard Hess. 4., unveränderte Auflage. Konstanz: Universitätsverlag 1974. S. 12. 125 Hier und im Folgenden Iser, Die Apellstruktur der Texte. S. 13. 126 Vgl. ebd. S. 16. 69 <?page no="82"?> geschieht, dann liegt zwar ein „ historisches Substrat “ 127 in den Textinhalten, die Hervorbringung von Bedeutung liegt aber wesentlich auf Seiten eines - ebenfalls historischen - Lesers. Isers Postulat, literarische Texte seien durch ihre offene Struktur weniger geschichtlich als andere Textsorten, kann nur zugestimmt werden, wenn man die Differenz in der Bedeutungsdimension mitbedenkt. Dann darf behauptet werden: Zwar sind auch literarische Texte davon [von ihrer Geschichtlichkeit; B. L.] nicht frei, doch indem ihre Realität in der Einbildungskraft des Lesers liegt, besitzen sie prinzipiell eine größere Chance, sich ihrer Geschichtlichkeit zu widersetzen. Daran läßt sich der Verdacht anknüpfen, daß literarische Texte wohl in erster Linie nicht deshalb als geschichtsresistent erscheinen, weil sie ewige Werte darstellen, die vermeintlicherweise der Zeit entrückt sind, sondern eher deshalb, weil ihre Struktur es dem Leser immer wieder von neuem erlaubt, sich auf das fiktive Geschehen einzulassen. Für diesen Vorgang bilden die Leerstellen die zentrale Voraussetzung. 128 Literarische Texte können also relativ zeitunabhängig Bedeutung entfalten, diese Bedeutung aber hängt in besonderer Weise von der Geschichtlichkeit und Erfahrungswelt ihrer Rezipienten ab. Sie sind also nicht eigentlich geschichtslos, sondern eher ‚ aktualisierbar ‘ . Broich erklärt am Beispiel von Hamlet-Inszenierungen im historischen Wandel: Spreche man von der ‚ Zeitlosigkeit ‘ eines Werkes, so könne das nicht ein Leugnen des Entstehungshintergrundes bedeuten, sondern vielmehr „ dessen Bedeutung für seine eigene Zeit “ 129 zu finden sowie wahrzunehmen, dass jede Zeit eine andere Füllung der Leerstellen, eine andere Interpretation der Geschichte vornehme. Die Theorie Wolfgang Isers stärker in ihrer historischen Dimension zu denken, heißt deshalb zu berücksichtigen, dass sich die Bedeutungsdimension des Textes immer in Bezug auf die soziokulturelle und politische Gebundenheit seines Lesers ergibt. Nicht jeder Leser wird zu jeder Zeit dieselben Leerstellen füllen, dieselben Themen als Anknüpfungspunkte wählen und dieselben Aspekte als unbestimmt empfinden. Insbesondere wenn es in der Füllung der Unbestimmtheiten darum geht, Motivationen von Handlungen zu erschließen, so werden Rezipienten zu unterschiedlichen Zeiten ‚ Füllungsbedarf ‘ an ganz verschiedenen Stellen des Textes sehen. Was sich dem zeitgenössischen Leser als selbstverständlich darstellt, kann in 127 Ebd. S. 7. 128 Ebd. S. 34. 129 Broich, Die Geschichtlichkeit von Texten. S. 136. Dass auch Broich für die Neuinterpretation eine Drameninszenierung als Beispiel wählt, unterstreicht noch einmal, wie selbstverständlich die Neudeutung und Füllung der Leerstellen im Theaterbetrieb ist (vgl. auch Kap. 2.1 zur Wiederholung). 70 <?page no="83"?> einem späteren Rezeptionsakt als Leerstelle bewusst oder gar widerständig werden. Die Wahrnehmung der (Deutungs-)Differenz im Widerstand des Textes, im Missverständnis oder im Bewusstwerden der Leerstellen wertet Jauß dabei nicht als Mangel oder Fehler. In Anlehnung an Bachtins Romantheorie argumentiert er: Literarisches Verstehen wird erst damit dialogisch, daß die Alterität des Textes vor dem Horizont der eigenen Erwartungen gesucht und anerkannt, daß nicht eine naive Horizontverschmelzung vorgenommen, sondern die eigene Erwartung durch die Erfahrung des anderen korrigiert und erweitert wird. 130 Deshalb bedeutet für Jauß die erfolgreiche Rezeption von ‚ Klassikern ‘ der Literatur ein dialogisches Verstehen, das Differenz (an-)erkennt, aber dennoch Bedeutung aus den historischen Inhalten zu entwickeln vermag. Er illustriert die Neuinterpretation als dialogisches Verstehen am Beispiel des Theaters, speziell an Iphigenie-Deutungen in verschiedenen Inszenierungen. Ziel solle bei der ‚ Klassikerrezeption ‘ die „ dialektische Vermittlung der Horizonte von Vergangenheit und Gegenwart “ 131 sein. Die ‚ Neuschreibung ‘ literarischer Werke, beispielhaft nennt er Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. sowie Mary Stuart von Wolfgang Hildesheimer, scheint ihm besonderes Zeichen dialogischer Auseinandersetzung mit einer historischen literarischen Vorlage zu sein. Es bleibt also in der Kombination mit der Mimesis-Konzeption Ric œ urs zu ergänzen: Leerstellen bieten dem Rezipienten Raum für Rätselhaftes, für Nicht- oder Missverständnisse, für Aktualisierung und Neudeutung. Sie können als offene oder unklare Passagen in dessen Bewusstsein rücken, müssen also nicht unwillkürlich gefüllt werden. Die Unbestimmtheiten, die tatsächlich vom Leser aktualisiert, also ausgefüllt werden, können ebenfalls differieren. Je weiter die Momente von mime ˜ sis I und mime ˜ sis III dabei voneinander entfernt liegen (sei es historisch oder durch den kulturellen oder sozialen Hintergrund bedingt), desto mehr Deutungsraum wird durch diese Faktoren entstehen. Die Offenheit der Textbedeutung korreliert mit dem Auseinanderdriften der Erfahrungshorizonte. Dies gilt nicht nur für Adaptionen, sondern für jeden literarischen Text. In der Regel allerdings ist diese Differenz, da sie erst auf Ebene der mime ˜ sis III zum Tragen kommt, kaum nachweisbar. Für die von intertextuellen Bezügen bestimmten Werke einer sekundären literarischen Praxis wird sie jedoch in besonderer Weise bedeutend, denn hier manifestiert sie sich im Text. 130 Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. S. 671. 131 Ebd. S. 700. 71 <?page no="84"?> 2.3.2 Intertextualität und kulturelle Alterität Für die Adaptionsforschung ergibt sich der Vorteil, dass die Differenz und die Reaktion darauf in den Texten dauerhaft lesbar werden. Adaptionen lassen sich als exemplarische Lesevorgänge verstehen; hier wird das Alteritätsverhältnis sichtbar. 132 Ohne sich auf sekundäre Praktiken zu beziehen, erklärt Jauß: Es [das literarische Werk; B. L.] ist kein Monument, das monologisch sein zeitloses Wesen offenbart. Es ist vielmehr wie eine Partitur auf die immer erneuerte Resonanz bei der Lektüre angelegt, die den Text aus der Materie der Wörter erlöst und ihn zum aktuellen Dasein bringt [. . .]. 133 Jauß verwendet hier das Bild der Partitur und damit das Bild eines Medienwechsels, um das Zeitlich-Werden der Literatur im Lesevorgang, das Aktualisieren des Textes zu illustrieren. Dieser Vergleich liegt nahe. Denn nimmt man das Bild wörtlich, so lässt sich jeder Vorgang der Adaption, gerade in der medialen Ablösung vom Text hin zu einer Aktualisierung des Geschehens auf der Bühne, als ‚ erneuerte Resonanz ‘ erkennen. Adaptionen wie Romandramatisierungen werden als die Sichtbarmachung eines solchen Aktualisierungs- und Verbildlichungsprozesses lesbar; sie zeigen in einem konkreten Produkt, was Jauß hier bildsprachlich fassen muss, weil es im Lesevorgang innerhalb der ‚ black-box ‘ Rezipient und somit unsichtbar bleibt. Diese Explizitheit bezahlt die Adaptionsforschung mit einer komplizierten, weil gedoppelten Untersuchungssituation: Denn den Gegenstand bilden mindestens zwei Texte, die ihren jeweils eigenen historischen Ort und Kontext aufnehmen. Der Folgetext verweist dabei zusätzlich auf seinen Prätext und muss sich zu dessen Zeitlichkeit verhalten. 134 Er wird die Leerstellen des Textes teilweise füllen und dies aus der gegenwärtigen Sicht tun. Dabei ergeben sich zwangsläufig zwei Referenzpunkte: der historisch gewordene Text und die Gegenwart des Bearbeiters und des Rezipienten. Letzterer steht in der Rezeption vor dem Paradoxon, dass er ein Werk rezipiert, das aus unterschiedlichen Händen hervorgegangen ist (Autor des Prätextes, Autor der Dramatisierung, Regisseur) und das in seinen Zeitbezügen in verschiedene Richtungen weist: Er kann erstens die historische Situierung der histoire des Prätextes wahrnehmen. Diese muss zweitens 132 Während der Terminus ‚ Differenz ‘ also einen nachweisbaren Unterschied bezeichnet, bezieht sich der Begriff ‚ Alterität ‘ wesentlich stärker auf die Wahrnehmung von Fremdheit. Alterität ist somit eine subjektivere Kategorie, die empirisch schwieriger nachweisbar ist und stark von sozialen und individuellen Normen abhängt. 133 Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. S. 171 f. 134 Das heißt nicht, dass er bewusst darauf reagieren oder die Distanz explizieren muss. 72 <?page no="85"?> nicht mit dem Entstehungshintergrund des Romans übereinstimmen. Drittens fließt der Entstehungshintergrund der Bearbeitung in den Dramentext ein, der viertens wiederum eine zeitlich situierbare Geschichte erzählt. Entstehungszeitpunkt und Rezeptionszeitpunkt der Dramatisierung können wiederum auseinandergehen, liegen aber in der Praxis meist nah beieinander, sodass hier keine große Differenz im Horizont zu erwarten ist. 135 Daraus ergibt sich ein besonderer Fokus auf die Zeitbezüge der Bearbeitung. Wie wird die Geschichte zeitlich situiert? Inwiefern ergeben sich Veränderungen und Neuinterpretationen durch den zeitlichen Abstand? Wie reagiert die Dramatisierung auf die Distanz zu ihrem Prätext - wird sie direkt thematisiert? Als Begriff für das dialektische Verhältnis zwischen Verständnis und Fremdheit, das beim Lesen eines kulturell fremden Textes entsteht, hat sich in der interkulturellen Literaturwissenschaft schon lange der Terminus ‚ Alterität ‘ durchgesetzt. Der zunächst für die historisch-zeitliche Differenz genutzte Begriff, mit dem Jauß 136 das Verhältnis zwischen Mittelalter und Moderne beschreibt, wird inzwischen weniger für den zeitlichen Abstand als für die Differenzen zwischen verschiedenen Kulturen genutzt. Dass diese Umdeutung eigentlich keine ist, macht Norbert Mecklenburg deutlich, wenn er erklärt: „ Fremd ist uns das zeitlich oder räumlich Ferne in der Regel gerade in dem Maße, wie es uns kulturell fremd ist. “ 137 Der Begriff der Alterität lässt also eine Verwendung auf den Abstand zwischen Texten in mehreren Dimensionen zu. Zudem wird gerade in der Interkulturalitätsforschung auf einen festen Begriff von Kultur verzichtet. Der Fokus ist stärker auf die Aufnahme des vermeintlich Anderen gerichtet, auf die Wahrnehmung von Differenz und Nähe, weniger auf eine genaue Beschreibung der einzelnen Kulturen. Ziel ist somit nicht eine empirisch angelegte Beschreibung der Differenzen. Dieser Ansatz ermöglicht der 135 Deshalb und weil diese Arbeit die Inszenierung der Dramen weitgehend ausspart, wird diese Differenz hier nicht weiter von Belang sein. 136 Hans Robert Jauß: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956 - 1976. München: Fink 1977. Dass hier wiederum Jauß angeführt werden kann, zeigt, wie stark der Begriff mit der Rezeption des Anderen und Reaktion auf das Fremde verknüpft ist. Die Mediävistik greift zurzeit wieder vermehrt auf den Alteritätsbegriff zurück, wofür die 2009 abgehaltene Konferenz Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren als Indiz stehen darf (07. 05. 2009 bis 09. 05. 2009, Leitung durch Anja Becker und Jan Mohr, München). 137 Norbert Mecklenburg: Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik. In: Hermeneutik der Fremde. Hrsg. v. Alois Wierlacher und Dietrich Krusche. München: Iudicum 1990. S. 80 - 102. Hier S. 82. 73 <?page no="86"?> Adaptionsforschung, den Darstellungsmodus und die Frage der Reaktion auf das Andere in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Der Begriff der Alterität beinhaltet dabei immer ein komplexes und spannungsreiches Verhältnis zwischen dem Fremden und dem Eigenen, zwischen Differenz und Identität. 138 Mecklenburg erklärt deshalb, der Terminus werde „ am angemessensten dann benutzt, wenn die in kulturwissenschaftlicher Arbeit notwendige Doppelperspektive von Beobachter- und Mitspielerrolle, Distanzierung und Identifikation, Erklären und Verstehen gegenwärtig gehalten werden soll. “ 139 Wenn also von der Alterität der Texte die Rede ist, beinhaltet diese nicht nur die historischen Differenz, sondern immer schon vermittelbare Gemeinsamkeiten, eine Nähe, die die Rezeption erst möglich macht. Die Literatur erhält so eine Mittlerposition; die denkerische Parallele zu Ric œ urs Schritten der Mimesis scheint in dieser Betonung der Zwischenposition auf. 140 Was beiden Positionen verständlich ist und was sie einander fremd erscheinen lässt, muss in seiner Verknüpfung betrachtet werden: „ Weder das Individuelle noch das Allgemeine ist zum obersten Prinzip zu erheben, vielmehr ist den Differenzierungs- und Vermittlungsphänomenen innerhalb der Kulturen und Texte wie auch zwischen ihnen nachzugehen. “ 141 Adaptionen werden in dieser Sichtweise zum Mittler des Mittlers. Sie müssen darauf reagieren, was im Text fremd erscheint, müssen aber ebenso den gemeinsamen ‚ Horizont ‘ finden, um interessant und verständlich zu bleiben. „ Die Annäherung an die Wirklichkeit, und zwar unabhängig davon, wie man diese Annäherung im einzelnen konzipiert, kann nur in der Synthese verschiedener Perspektiven erfolgen “ , 142 erklärt Schlieben-Lange und erhebt damit die Kombination aus Eigenem und Fremdem zum Prinzip der Welterschließung. Dieses Postulat besitzt für die Texterschließung genauso Gültigkeit. Betrachtet man wiederum Adaptionen als exemplarischen Lesevorgang, dann ist mit dem Begriff der Alterität das Verhältnis von Prätext und Adaption in ihrer historischen Differenz gut gekennzeichnet. Abstand muss 138 Forschungsarbeiten zur Alterität betonen meist diese Doppelperspektive. Exemplarisch sei hier Brigitte Schlieben-Lange genannt, die ihrem Band zur Alterität ein Vorwort voranstellt, das die „ beunruhigende Mehrdeutigkeit von Alterität (das virtuell Gleiche und das Unverfügbare) “ als konstitutives Element der Alterität heraushebt. Brigitte Schlieben-Lange: Vorwort. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110 (1998). S. 5 - 6. Hier S. 6. 139 Mecklenburg, Über kulturelle und poetische Alterität. S. 82. 140 Wenig überraschend greift auch Mecklenburg auf Jauß ’ Horizontbegriff und damit Gadamer zurück. Vgl. ebd. S. 88. 141 Ebd. S. 86. 142 Brigitte Schlieben-Lange: Alterität als sprachtheoretisches Konzept. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110 (1998). S. 41 - 57. Hier S. 55. 74 <?page no="87"?> dabei nicht negativ wirken, sondern kann im Gegenteil das Textverständnis bereichern. Anton Schwob zitiert Wittgensteins berühmten Satz, nach dem sich das Auge nicht selbst sehen könne, und schließt: „ Zeitlicher und räumlicher Abstand des ‚ Ich ‘ vom zu beobachtenden Objekt erweitern demnach die Beobachtungsmöglichkeiten. “ 143 Wie es Schwob für den Leser und Interpreten historischer Texte feststellt, hat auch die Adaption „ die wahrlich nicht langweilige Aufgabe, das Fremde und das Bekannte, die Alterität und das Vertraute herauszufinden und eine angemessene Verteilung der Gewichte vorzunehmen. “ 144 Literarische Texte haben als Kunstwerke ästhetischen Charakter und sind demnach immer schon von einer ‚ Differenzqualität ‘ im Gegensatz zur Alltagssprache bestimmt. Spezifische literarische Verfahren wie „ Deformation, Überstrukturierung, Herstellung von Mehrdeutigkeit “ 145 kennzeichnen Dichtung in ihrer ‚ ästhetischen Differenz ‘ und rufen so eine andere Art der Alterität hervor, als sie zum Beispiel Sprachwandel und historische Inhalte erzeugen. Auch das Fiktions- oder Didaktikverständnis sowie Symbole und Metaphern können im zeitlichen Abstand ungebräuchlich werden. 146 Dennoch heben sich die poetische Sprache und die Form des literarischen Werks auch ohne diese diachronen Veränderungen von anderem Sprachgebrauch ab. Mecklenburg schließt sich dialektischen und strukturalistischen Literaturtheorien an, um in diesem Sinne einen literarischen Text nicht nur als Träger und Mittler „ außerästhetische[r] Gestalten von Alterität “ zu definieren, sondern ihn „ als Synthesis heterogener Elemente, als ‚ innere Alterität ‘ , zu untersuchen. “ 147 Grundlegend sei dabei die Spannung von Poiesis und Mimesis, die das Kunstwerk in diesem Sinne bestimme. Letztlich sei der literarische Text somit durch zwei Arten der Alterität bestimmt: „ Auch in der dichterischen Verfremdung nehmen wir den von ihr bearbeiteten kulturellen Kontext wahr. Ist dieser ein anderer als unser eigener, so sind wir mit einer doppelten Alterität konfrontiert. “ 148 Diese poetische Alterität ist wesentlich durch den offenen Charakter, die Mehrdeutigkeit des Kunstwerks oder, um auf Iser zurückzukommen, durch 143 Anton Schwob: Alterität und Vertrautheit. Historische Texte heute. In: Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag der Germanistik zur Kulturwissenschaft deutschsprachiger Länder. Hrsg. v. Bernd Thum. München: Iudicum 1985. S. 227 - 233. Hier S. 228. 144 Ebd. S. 232. 145 Mecklenburg, Über kulturelle und poetische Alterität. S. 90. 146 Schwob nennt diese Veränderungen als Gründe für die Fremdheit, die historische Texte beim Leser evozieren. Vgl. Schwob, Alterität und Vertrautheit. S. 231. 147 Mecklenburg, Über kulturelle und poetische Alterität. S. 93. 148 Ebd. S. 95. 75 <?page no="88"?> die Leerstellen des literarischen Kunstwerks und durch seine Artifizialität geschaffen. Sie schafft die Möglichkeit einer zeitübergreifenden Rezeption, einer Aktualisierung in beiderlei Wortsinn. Wenn diese poetische Alterität Offenheit zur Aktualisierung bietet, liegt die These nahe, dass die historischkulturelle Alterität ebenfalls zur Aktualisierung einlädt. Von rezeptionsästhetischer Seite stellt Mecklenburg deshalb die Frage: Wie stellt sich die ‚ Appellstruktur ‘ , der Unbestimmtheitsgrad poetischer Texte bei fremdkulturellem Lesen dar? Inwiefern ermöglicht die Lektüre eines fremdsprachigen Textes durch Verlangsamung und Störungen eine Entautomatisierung, die - analog zu oder identisch mit der poetischen Funktion? - die Aufmerksamkeit vom Sinn auf die Zeichen selbst lenkt? 149 Mecklenburg beantwortet seine Frage leider nicht explizit, stellt nur heraus, dass der Text immer auch etwas „ Nicht-Fremdes “ 150 enthalten müsse, um den Lesevorgang zu ermöglichen. Dennoch lässt diese Frage sicher folgende Replik zu: Die aus kulturellen Gründen hervorgerufenen Widerstände und Leerstellen erzwingen ebenso wie die poetischen eine Reaktion. Der Folgetext als exemplarischer Lesevorgang kann die Fremdheit bewusst oder unbewusst negieren, der Text wird dann dem Rezipienten historisierend erscheinen. Er kann sie aber auch zu überwinden versuchen, kann die Themen und Motive der Referenzwelt seines Rezipienten anzupassen versuchen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die historische Differenz offenzulegen, ohne sie zu überbrücken. Der Fremdheitscharakter von Handlungsmotiven und Sprache wird dann besonders zu Tage treten und Brüche in der Illusion bewirken. 151 Die Dramatisierung kann die Alterität der poetischen Sprache oder Form nutzen, um die historische Alterität zu thematisieren. Zu untersuchen ist also in jedem Fall, wie die Alterität innerhalb des Textes verhandelt wird, ob und wie also der Folgetext die kulturelle Nähe und Distanz zu seinem Prätext markiert. Denn wo Fremdheit markiert wird, kann dies auf verschiedenen Ebenen - über den Paratext, innerdiegetisch (zum Beispiel über Figurenkommentare) oder über sprachliche Mittel - geschehen. Hier ergeben sich Parallelen zur literarischen Übersetzung, die notwendig mit dem kulturellen Abstand von Texten konfrontiert ist. 152 Ähnlich wie in der 149 Ebd. S. 97. 150 Ebd. S. 98. 151 Regisseur Jan Bosse erklärt das in einem Interview zum Ziel der Inszenierung historischer Dramen: „ Wenn die Kluft [zwischen historischer Vorlage und zeitgenössischer Umsetzung; B. L.] noch da ist, das liebe ich sehr. Wenn da dieses Knirschen von Menschenbildern, Epochen, Sprachen hörbar bleibt. “ Jan Bosse in: Romane, Romane! Prosatexte auf dem dramatischen Prüfstand. In: Theater Heute 11 (2008). S. 12 - 15. Hier S. 12. 152 Die Übersetzungswissenschaft thematisiert diesen Abstand und analysiert ihn bewusst und systematisch. So plädiert Gideon Toury aus Richtung der Polysystemtheorie für die 76 <?page no="89"?> strukturalistischen Übersetzungstheorie kann von exotisierenden und naturalisierenden Adaptionen gesprochen werden.Exotisierende zielen darauf, die kulturelle Fremdheit in die neue Sprache zu übernehmen; naturalisierende gleichen Sprache und sozio-historischen Kontext an das Zielpublikum an. 153 Doch das Begriffspaar ist im Falle von Adaptionen unzureichend. Denn hier spielt nicht nur das Verhältnis des Rezipienten zur Herkunftskultur des Prätextes und der historischen Dimension der histoire eine Rolle, sondern auch das zum Prätext als literarisches Werk. Ist dem Rezipienten der zugrundeliegende Roman vertraut, so kehrt sich das Verhältnis um: Eine Veränderung, die naturalisierend/ normalisierend an den neuen Rezeptionshintergrund angepasst wird, wirkt in paradoxer Weise exotisierend in Bezug auf die Werkkenntnis. Anders als bei der Übersetzung, die in der Regel eine möglichst genaue Wiedergabe des Prätextes anstrebt, kann bei der Adaption der Prätext mit einer größeren Freiheit behandelt werden. Da das entstehende Werk ein künstlerisch-artifizielles ist, das autonom wirken soll, kann es frei mit der poetischen wie historischen Alterität verfahren und muss auch nicht wie eine besondere Beachtung der Rolle der Normen bei der Übersetzung. Er betont deren soziokulturelle Spezifik und grundsätzliche Instabilität und Wandelbarkeit, welche die historische Dimension bei der Kontextualisierung von Sprache und Handlung notwendig macht. Gideon Toury: Descriptive Translation Studies and beyond. Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins 1995. Vgl. insbesondere S. 62 f. Seine grundsätzliche Unterscheidung zwischen ‚ adequacy ‘ (der Übersetzer folgt den Normen der Ausgangskultur) und ‚ acceptability ‘ (der Übersetzer folgt den Normen der Zielkultur) zeigt zwei Arten der Reaktion auf das Alteritätsverhältnis. 153 Einen solchen Systematisierungsversuch unternimmt James S. Holmes: Rebuilding the Bridge of Bommel. In: Dutch quarterly review of Anglo-American letters 2 (1972). S. 65 - 72. Siehe hier S. 67 und 68. Holmes unterscheidet drei Ebenen, auf denen sich die Übersetzung zur Vorlage positionieren muss: „ linguistic context “ (spezifisch sprachliche Eigenheiten und Ausdrucksmöglichkeiten), „ literary intertext “ (literarische Traditionen, Formen usw.) und „ socio-cultural situation “ . Alle diese Aspekte können im Transfer exotisiert oder normalisiert/ naturalisiert werden, also der Ursprungskultur entsprechend dargestellt oder an die Zielkultur angepasst werden. Eine weitere Entscheidung betrifft den Umgang mit der historischen Dimension des Textes: „ historicizing versus modernizing “ . In einem Achsensystem ordnet Holmes den Umgang mit dem Aspekt der Zeitlichkeit und der kulturellen Abhängigkeit von Texten zueinander an und möchte so eine strukturelle Unterscheidung zwischen Übersetzungen mit erhaltender ( ‚ retentive ‘ ) und schöpferischer ( ‚ re-creative ‘ ) Tendenz zumindest systematisch möglich machen. Überzeugend ist dabei die Trennung der drei Ebenen, die es möglich macht, sprachliche, literarische und soziokulturelle Aspekte getrennt voneinander in ihrer Anpassung oder Neudeutung zu betrachten. Für die Romandramatisierung, die grundsätzlich Änderungen der literarischen Form wahrnimmt, werden in Bezug auf den historischen Abstand vor allem sprachliche und soziokulturelle Fremdheit oder Anpassung bedeutend sein. 77 <?page no="90"?> wissenschaftliche Beschäftigung die Bedeutungen falsifizieren. Das bedeutet, dass „ abweichende Lektüre “ nicht wie so oft „ als defizitär dargestellt “ werden muss. 154 Aus historischer Fremdheit entstandene Veränderungen und Umdeutungen sind dann nicht ‚ falsch ‘ , sondern zunächst Ausdruck einer gesellschaftlichen Neuformung, eines Umdenkens, welches die Rezeption der Literatur beeinflusst. 2.3.3 Vom Chronotopos zur Dialogizität: Beschreibungskategorien In Theorien zur Alterität wird der Terminus ‚ Dialogizität ‘ oft genutzt, um das besondere Verhältnis von Fremdem und Eigenem zu beschreiben. 155 Es wird als dialogisches betrachtet, als gegenseitiges Kommentarverhältnis. Ich gehe in diesem Kapitelabschnitt zurück auf Bachtin, um das Verhältnis von Prä- und Folgetext in ihrem zeitlichen Abstand zu beschreiben, greife also vor das ontologische Verständnis von Intertextualität zurück. Die einzelne Äußerung erscheint hier noch in ihrer historischen Dimension - insbesondere mit Bezug auf den Sprecher, der als historisch und sozial verwurzelt aufgefasst wird. Deshalb kann Bachtin der Dialogizität eine kritische Dimension zuschreiben. Dialogizität wird hier dezidiert als Verhältnis zwischen verschiedenen soziokulturellen und politischen Redeweisen verstanden, ist also entgegen der Begriffsverwendung in der poststrukturalistischen Theorie stark an gesellschaftliche Kontexte, historische Begebenheiten und kulturelle Unterschiede gebunden und geht von nachvollziehbaren sprachlichen und intertextuellen Relationen aus. 156 154 Dietrich Krusche: Alterität und Methode. Zur kommunikativen Relevanz interpretatorischer Verfahren. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110 (1998). S. 58 - 75. Hier S. 58. Krusche stellt dies vor allem für die Deutschdidaktik fest. 155 So stellt Mecklenburg fest: „ Ein zentraler Aspekt poetischer Vermittlungsleistung und eine besonders wichtige Erscheinungsform ‚ innerer Alterität ‘ ist das, was in der Literaturtheorie unter den Begriffen Dialogizität und Intertextualität behandelt wird. “ Er verweist dabei direkt auf Bachtin. Mecklenburg, Über kulturelle und poetische Alterität. S. 93 f. 156 Vgl. hierzu den Aufsatz Ralf Grüttemeiers, welcher der Intentionalität in Bachtins Dialogizitätsbegriff sowie dem implizierten Subjekt-Begriff in dessen Romantheorie nachgeht. Grüttemeier betont dabei, Bachtin sehe Sprache und Subjekt „ als soziale Phänomene “ (S. 771), insofern auch als historische. Mit dieser „ historischen Hermeneutik “ nehme „ Bachtin bereits Gedanken vorweg, wie sie Hans-Georg Gadamer in seiner Hermeneutik entwickeln sollte “ (S. 777), betone dabei allerdings stärker als dieser die Bedeutung der Rezeption. Im Rezeptionsakt würden die Stimmen in einen Dialog treten, wobei die Autorintention nicht mehr den Text zentral organisiere, sondern vielmehr als eine Stimme im Verstehensprozess behandelt werden könne. Der Text stehe zudem notwendig im Spannungsverhältnis zur Wirklichkeit (vgl. S. 782 f.). Ralf Grüt- 78 <?page no="91"?> Eine Verknüpfung mit den vorhergehenden Ausführungen über den Horizont des Textes und des Rezipienten, über die Leerstellen des Textes sowie den Konstruktionsakt in der Lektüre fällt leicht: Bachtin selbst nutzt den Begriff des ‚ subjektiven Horizonts ‘ 157 in Bezug auf den Rezipienten. Als Konnex zwischen zeitlicher Dimension und Dialogizitätsbegriff bietet sich Bachtins Konzept des ‚ Chronotopos ‘ an. 158 Danach steht jeder Text notwendigerweise in einem raumzeitlichen Bezug, in seiner historischen und räumlich-sozialen Dimension. 159 Literatur werde zur „ Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes sowie des - in ihnen zutage tretenden - realen historischen Menschen “ . 160 Insofern ist Literatur nur im kulturellen Kontext verständlich. So sehr Bachtin auch für eine Trennung von Welt und Fiktion eintritt, so sehr macht er doch deutlich, dass Autor und Leser ebenfalls in chronotopisch situiert sind: in einer Welt, die er als „ den Text erschaffende Welt “ 161 bezeichnet. Diese Welt bestimme sowohl die Produktion als auch die Lektüre. Das Ergebnis beschreibt Bachtin eben nicht als ein Verschmelzen der Horizonte, sondern als ständige Wechselwirkung, in der sich das Werk auch im späteren Rezeptionsprozess in der schöpferischen Wahrnehmung durch die Hörer und Leser ständig erneuert. Dieser Austauschprozeß ist natürlich selbst chronotopisch: Er vollzieht sich vor allem in der sich historisch entwickelnden sozialen Welt, wobei er sich jedoch gleichfalls nicht von dem sich wandelnden historischen Raum löst. Man kann sogar auch von einem besonderen schöpferischen Chronotopos sprechen, in dem temeier: Dialogizität und Intentionalität bei Bachtin. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 67 (1993, Heft 4). S. 765 - 783. 157 Vgl. Michael M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. Rainer Grübel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. S. 154 - 300. S. 175. 158 Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Berlin: Suhrkamp 2008. Die Ausgabe gibt den zwischen 1937 und 1938 entstandenen Aufsatz Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik wieder. 159 Bachtin verwendet diesen Begriff vor allem für raumzeitliche Dimensionen innerhalb der Diegese einer Erzählung und differenziert mit seiner Hilfe Gattungen des Romans voneinander. Dies zeigen bereits die einleitenden Worte auf S. 7: Zentraler Gegenstand der Theorie sei der „ grundlegend[e] wechselseitig[e] Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen “ , eine „ Form-Inhalt-Kategorie der Literatur “ und, vgl. Seite 8, die genrebildenden Aspekte des Phänomens. Bachtin, Chronotopos. S. 7 f. Diesen ‚ inneren ‘ Chronotopos, der die Darstellung der Welt der Diegese betrifft, unterscheidet er vom ‚ äußeren ‘ . Letzterer meint die Realität der Entstehungszeit und des Entstehungsraumes sowohl eines Werkes wie auch der Rezeption. Er ist damit für die historische Dimension von Texten bestimmend (vgl. S. 58). 160 Ebd. S. 7. 161 Ebd. S. 191. 79 <?page no="92"?> dieser Austausch zwischen Werk und Leben vor sich geht und in dem sich das besondere Leben des Werkes abspielt. 162 Die Art der Wechselwirkung ist nicht nur eine schöpferische, sondern wird außerdem als dialogisch gekennzeichnet. Der Dialog bestehe zwischen den Chronotopoi von dargestellten Welten, künstlerischer Interpretation, Welt des Autors und des Rezipienten. 163 Über diesen Aspekt verbinden sich die Phänomene von Chronotopos und Dialogizität. 164 Die chronotopische Situierung von Text, Autor und Rezipienten prägt den schöpferischen Dialog, in dem Stimmen unterschiedlicher Herkunft nicht verschmelzen, sondern in Wechselwirkung eine Welt deuten und diskutieren. Intertextuelle Bezüge lassen sich vor diesem Hintergrund mit dem Begriff der Dialogizität auch in ihrem historischen Abstand zwischen Prä- und Folgetext fassen, ohne der Bearbeitung ‚ falsche ‘ Sichtweisen zu unterstellen oder ihre Eigenständigkeit zu bestreiten. Denn eine „ lebendige Äußerung “ geht nicht nur „ sinnvoll aus einem bestimmten historischen Augenblick, aus einer sozial festgelegten Sphäre “ hervor, sondern muss „ notwendig Tausende lebendiger Dialogstränge berühren, die vom sozioideologischen Bewußtsein um den Gegenstand der Äußerung geflochten sind “ . 165 Bachtin führt das Phänomen Dialogizität als spezifische Eigenschaft des Romans in seiner Schrift Das Wort im Roman ein. Die „ individuelle Stimmenvielfalt “ des Romans entstehe aus der „ sozialen Redevielfalt “ 166 . Er spricht sich damit dezidiert gegen die Idee einer einzigen Sprache und einer einheitlichen Nationalsprache aus. Das Dynamische der Gattung Roman sowie ihr kritisch-politisches Potential fänden sich in der Darstellung einer im inneren aufgespaltenen Rede wieder. Das Wort trage in seiner Lebendigkeit und Dynamik notwendig auch eine Stellungnahme zu seinem (Verwendungs-)Kontext in sich, es gehe in die „ dialogisch erregte und gespannte Sphäre der fremden Wörter, Wertungen und Akzente ein “ , es „ verflicht sich 162 Ebd. S. 192. 163 Vgl. Ebd. S. 190. 164 Um diese Dimension erweitert, vernachlässigt Bachtins Konzept der Dialogizität nicht, wie es Jauß bemängelt, „ nach der hermeneutischen Differenz zwischen Intention des Autors, Sinn des Textes und Bedeutung für den jeweiligen Leser “ zu fragen. Er setzt die „ Transparenz des poetischen Wortes “ nicht voraus. Hans Robert Jauß: Zum Problem des dialogischen Verstehens. In: Dialogizität. Hrsg. v. Renate Lachmann. München: Fink 1982. S. 11 - 24. Hier S. 22. Die Berücksichtigung der erst 1986 in der DDR und erneut 1998 übersetzten Schrift zum Chronotopos kann somit eine vermeintliche Schwachstelle des Dialogizitätskonzepts schließen. 165 Bachtin, Das Wort im Roman. S. 170. 166 Ebd. S. 157. 80 <?page no="93"?> in ihre komplexen Wechselbeziehungen, verschmilzt mit den einen, stößt sich von den anderen ab, überschneidet sich mit dritten “ . 167 Diese lebendige Sprache abbilden zu können, sei die spezifische Leistung des Romans. Obwohl die dialogische Orientierung „ jedem Wort eigentümlich “ 168 sei, erlange sie ihre ganze „ Tiefendimension und zugleich künstlerische Vollkommenheit “ 169 nur in dieser Gattung. Bachtin hatte zur Entstehungszeit des Aufsatzes zwischen 1934 und 1935 sicher ein anderes Gattungsbild vor Augen, als es sich heute darstellt. 170 Die Formauflösung in Lyrik und Drama hat neue narrative wie stilistische Elemente ermöglicht, die Regelpoetiken sind nicht mehr wirksam, wenngleich sich bestimmte Formelemente aus bühnenpraktischen Gründen weiter im Drama finden oder aus Traditionsgründen halten. Doch die Abbildung von Redevielfalt sowie der implizite Kommentar, also zwei Stimmen innerhalb einer Äußerung, wie es nur durch die erzählte Rede erreicht werden könne, 171 ist durch neue Dramenformen auf der Bühne durchaus üblich. Spätestens aber durch den intertextuellen Bezug finden sich auch im Text der Dramatisierung immer mindestens zwei Stimmen in jeder Äußerung, denn sie wird vor der Folie des Romans mehrstimmig rezipierbar. 172 Die Polyvalenz der Wörter ergibt sich auch durch die unterschiedliche chronotopische Situation der Autoren und Rezipienten, 167 Ebd. S. 169. 168 Ebd. S. 172. 169 Ebd. S. 171. Vgl. auch S. 209. 170 Das geht aus seiner Abgrenzung des Dramas gegen den Roman hervor: „ Das Drama intendiert eine einheitliche Sprache, die einzig von den dramatis personae individualisiert wird. Der dramatische Dialog wird vom Konflikt zwischen Individuen innerhalb ein und derselben Welt und im Rahmen einer einheitlichen Sprache strukturiert. “ Bachtin, Das Wort im Roman. S. 285. Die einheitliche Wertung der Menschen und ihrer Eigenheiten sowie im Drama, eine für das Drama gattungsbestimmende „ normative und unveränderliche Idee vom Menschen “ (S. 286) ist der Gegenwartsdramatik kaum vorzuwerfen. Lachmann sieht in Bachtins Fokussierung auf den Roman viel eher eine Fokussierung auf die lebendige (in der Literatur: konzeptuelle) Mündlichkeit des Wortes, die der Idee einer hierarchisch organisierten einheitlichen poetischen Sprache entgegenstehe und generell gattungsunabhängig sei: „ Es ist der Vokalismus, der die Gattungsgrenzen über die hierarchisierenden, zentripetalen Tendenzen hinweg der Spontanität der Polyphonie, der Vielsprachigkeit öffnet. “ Renate Lachmann: Dialogizität und poetische Sprache. In: Dialogizität. Hrsg. v. ders. München: Fink 1982. S. 51 - 62. Hier S. 54. 171 Vgl. Bachtin, Das Wort im Roman. S. 195. 172 Astrid Sebastian definiert deshalb die Romandramatisierung über ihre besondere Rezeptionssituation: Die Bekanntheit der Prätexte ergebe eine vergleichende Rezeptionssituation und dadurch a) eine Erhöhung des dramatischen Sinnpotentials durch Bezug zur Vorlage und b) eine Kommentarinstanz. Vgl. Astrid Sebastian: Auf dem Schnittpunkt zweier Gattungen. Dramatisierungen englischer Romane des 18. Jahrhunderts. Egelsbach: Hänsel-Hohenhausen 1994. S. 35. 81 <?page no="94"?> denn „ nicht der Gegenstand dient hier als Arena für die Begegnung, sondern der subjektive Horizont des Hörers “ . 173 Damit wird die Bearbeitung eines Werkes insbesondere bei großem zeitlichen Abstand zu einer Aushandlung von Sinn: Die Romandramatisierung kann einen Versuch darstellen, das literarische Werk im neuen Kontext und vor dem eigenen (subjektiven) Horizont und dem der zeitgenössischen Rezipienten zu verstehen: „ Erst in der Antwort reift das Verstehen heran. Verstehen und Antwort sind dialektisch miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig, das eine ist ohne das andere nicht möglich. “ 174 In der intertextuellen Antwort auf eine ästhetische und inhaltliche Frage wird die Adaption zum Prozess der Erkenntnis - in der Entstehung der Textfassung ebenso wie in der Inszenierung und der Rezeption durch den Zuschauer. Das kritische Potential liegt dann insbesondere in der Frage nach Distanz und Nähe zur Sprache und Bedeutung des Prätextes: Die Sprache ist kein Neutrum, das rasch und ungehindert in das intentionale Eigentum des Sprechers übergeht; sie ist mit fremden Intentionen besetzt, ja überbesetzt. Ihre Beherrschung, ihre Unterordnung unter die eigenen Intentionen und Akzente ist ein mühevoller und komplexer Prozeß. 175 Dieser Prozess gelinge nicht immer, viele Wörter „ leisten hartnäckig Widerstand “ , blieben fremd im Mund des Sprechers. Für die Wörter in intertextuellen Referenzen gilt das sicher in besonderem Maße; und für die Romandramatisierung mag gelten, dass die Sprache in der späteren Inszenierung sogar im direkten Dialog erprobt wird. Bachtin würde an dieser Stelle gegenhalten: Die organisch aus der gespaltenen und in der Rede differenzierten Sprache hervorgehende innere Dialogizität des authentischen Prosawortes kann nicht substantiell dramatisiert und dramatisch vollendet (wirklich beendet) werden, sie geht im Rahmen des direkten Dialogs, im Rahmen eines Gesprächs von Personen nicht restlos auf, ist nicht in deutlich abgegrenzte Repliken zu scheiden. 176 Für den eigentlichen Dialog (nicht für andere Formen der narrativen Redewiedergabe im Drama) mag das bedingt gelten. Durch die historische Distanz werden Ausdrücke aber auch im direkten Dialog eine eigentümliche Mischung aus Fremdheit und Aneignung erhalten. Mindestens durch den intertextuellen Bezug aber wird sich das Dialogische im Ausdruck einstellen. Die innere Zweistimmigkeit liegt dann zwar auf anderer Ebene als von Bachtin definiert. Es bleibt aber das kritische Potential des zweistimmigen 173 Bachtin, Das Wort im Roman. S. 175. 174 Ebd. S. 174. 175 Hier und im Folgenden Bachtin, Das Wort im Roman. S. 185. 176 Ebd. S. 215. 82 <?page no="95"?> Wortes, das ausgangslose „ Dialoge von real getrennten Stimmen aus sich erzeugen “ und so die Überbelastung der Sprache mit Intentionen als die „ unvermeidbaren Begleiterscheinungen des sozial widersprüchlichen historischen Werdens der Sprache “ zeigen kann. 177 Es präsentiert Inhalt und Sinn nicht als gegeben, sondern konstruiert und bewertet sie in unterschiedlichen Sichtweisen; Gegenstände und Themen macht es so strittig und in ihrer sozialen Bestimmung und geschichtlichen Wandelbarkeit erfahrbar. Die damit verbundene „‚ Vorbehaltlichkeit ‘ der Welt und der ‚ Gesprächscharakter ‘ der Sprache “ gehe einher mit der Beteiligung des Wortes am „ historischen Prozeß und am sozialen Kampf “ . 178 Über die Redewiedergabe - das kann auch für das (intertextuelle) Zitat gelten - wird Sprache beziehungsweise Literatur neu kontextualisiert. Denn das Wort trete in ein dialogisches Verhältnis zum Kontext ein. 179 Bachtins Ausführungen zur Einbettung fremder Rede in der Prosa klingen in Hinblick auf die Neudiskussion, Kontextualisierung und Veränderung wie eine Theorie der Intertextualität in historischer Dimension. Den Vorgang der Adaption nutzt Bachtin wenig später in seinem Argumentationsgang. Bachtin bezeichnet jede Weiterführung, Aufnahme einzelner Figuren in Folgewerken oder auch die Bearbeitung sowie „ Übertragung in andere Künste - in Drama, Oper, Malerei “ 180 mit dem Begriff der „ Umakzentuierung “ und versteht darunter immer auch den historisch-sozialen Wandel in ihrer Bedeutung: Das historische Leben der klassischen Werke ist im Grunde der ununterbrochene Prozeß ihrer sozioideologischen Umakzentuierung. Dank der in ihnen angelegten intentionalen Möglichkeiten offenbaren sie in jeder Epoche vor dem neuen sie dialogisierenden Hintergrund immer neue Sinnmomente; ihr Sinnbestand wächst buchstäblich weiter, er wird ausgearbeitet. Auch schließt ihr Einfluß auf das nachfolgende Schaffen die Umakzentuierung notwendig ein. 181 177 Ebd. S. 218. Die Relativität und damit Verhandelbarkeit der Gegenstände betont Bachtin hier besonders: „ Für den Autor des Prosaromans ist der Gegenstand vom fremden Wort umhüllt, er ist vorbehaltlich, strittig, unterschiedlich mit Sinn versehen und bewertet, er ist nicht zu trennen von seiner in der Rede differenzierten sozialen Erkenntnis. “ 178 Ebd. S. 219. 179 „ [Die] in einen Kontext eingeschlossene fremde Rede wird, wie genau sie auch wiedergegeben sein mag, stets in gewisser Weise in ihrem Sinn verändert. Der das fremde Wort einfassende Kontext schafft einen dialogisierenden Hintergrund, dessen Einfluß sehr groß sein kann. Mit Hilfe der Verfahren der Einrahmung kann man eine genau wiedergegebene fremde Äußerung wesentlich verändern. “ Bachtin, Das Wort im Roman. S. 227. 180 Hier und im Folgenden Bachtin, Das Wort im Roman. S. 299. 181 Ebd. S. 299. Die Passage erinnert an Hans Blumenbergs Mythos-Theorie: „ Zeit schleift die Prägnanzen nicht ab, sie holt aus ihnen heraus, ohne daß man hinzufügen dürfte: ‚ was darin ist ‘“ , formuliert dieser und sieht in jeder weiteren Bearbeitung eine „ Vermehrung der Sichtbarkeit des Potentials der Mythe “ , einen Gewinn an „ Dimension “ . 83 <?page no="96"?> Die Adaption kann auf diese Weise neue Sinnmomente ergänzen und im dialogischen Verfahren schöpferisch Bedeutung potenzieren. Der Prätext verliert an Abgeschlossenheit und wird im Bezug zur Gegenwart diskutabel, weil auch Bedeutung nicht einseitig und unveränderbar ist. 182 Dem Prozess der Umakzentuierung sei außerdem eine hohe produktive Bedeutung in der Literaturgeschichte zuzubilligen. In der objektiven stilistischen Untersuchung von Romanen zurückliegender Epochen muß man diesen Prozeß stets bedenken und den zu untersuchenden Stil streng mit dem ihn dialogisierenden Hintergrund der Redevielfalt der Epoche in Beziehung setzen. Dabei sind die nachfolgenden Umakzentuierungen der Bilder des betreffenden Romans - zum Beispiel der Gestalt des Don Quijote - von hohem heuristischen Belang, sie vertieft und erweitert [sic! ] ihr künstlerisch-ideologisches Verständnis, da die großen Romangestalten, wir wiederholen es, wachsen und sich fortentwickeln und sich noch in anderen Epochen, die weit von Tag und Stunde ihrer ursprünglichen Geburt entfernt sind, schöpferisch verändern können. 183 Hier ist nicht nur der Prätext für die Adaption bestimmend, sondern letztere auch für die Interpretation der Romanvorlage von Belang. Adaptionen wie Dramatisierungen haben dadurch eine Relevanz für das ‚ Leben ‘ des zugrundeliegenden Werkes und seiner Figuren. Ich lese das Verhältnis zwischen einem Roman und seiner Dramatisierung in diesem Sinne als dialogisches - insbesondere dann, wenn Prä- und Folgetext sehr unterschiedlichen soziokulturellen und politischen Kontexten entstammen und diese verhandeln. Die Dramatisierung trägt vor der Folie des Romans zwei oder mehr Stimmen in ihren Äußerungen. Diese können einander kommentieren, kritisieren, Distanz oder Nähe schaffen; sie enthalten das Potential für kritische Stellungnahmen und ein verschärftes Verhältnis zum Wort. „ Profiltiefe “ sei nicht von Anfang an angelegt, sondern entstehe mit der Zeit und durch die Varianten. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. S. 79 f. 182 Vgl. Michail M. Bachtin: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. In: Ders.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. v. Edward Kowalski und Michael Wegner. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1989. S. 210 - 251. Siehe hier vor allem S. 240: „ In diesem unabgeschlossenen Kontext verliert der Sinn des Gegenstands den Charakter des Unveränderlichen: Sinn und Bedeutung des Gegenstands erneuern sich und wachsen in dem Maße, wie sich der Kontext weiter entfaltet. [. . .] Die Gestalt erlangt eine spezifische Aktualität. “ 183 Bachtin, Das Wort im Roman. S. 300 84 <?page no="97"?> 3. Analysemethoden für die vergleichende Untersuchung von Dramen und Erzählliteratur: ein methodischer Gattungswechsel Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich eben so zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung . . . (Der Hauptmann in Albrecht Hirche, wahlverwandtschaften nach goethe. S. 6) Erzählliteratur und Dramen werden in der Regel mit unterschiedlichen Schwerpunkten analysiert und mit verschiedenen Begriffssystemen beschrieben. Als literarische, fiktionale und geschehensdarstellende Texte lassen sie sich jedoch auch in ihren Gemeinsamkeiten erfassen. Dieses Kapitel zur Methodik wird deshalb die Analyseinstrumente und Begriffe ausgewählter Erzähl- und Dramentheorien daraufhin überprüfen, inwieweit sie oder einzelne ihrer Kategorien auf die jeweils andere Gattung übertragbar sind. So sollen Möglichkeiten einer vergleichenden Beschreibung ausgelotet werden. Zur Analyse von Erzähltexten hat Gérard Genette ein sehr genaues Begriffssystem entwickelt, 1 in dessen Kategorien sich die meisten Formen von Erzählen beschreiben lassen. Ein entsprechend ausführliches, ebenfalls strukturalistisches Analysewerkzeug hat für das Drama Manfred Pfister ausgearbeitet. 2 Beide bilden Begriffe, die gattungsspezifische Besonderheiten erfassen und die idealerweise auf alle zugehörigen Texte anwendbar sind. Das besonders flexible Analyseinstrumentarium Genettes soll in dieser Arbeit vorwiegend genutzt, allerdings um Perspektiven der Dramentheorie erweitert werden. Will man Dramatisierungen nicht nur inhaltlich, sondern gerade in Bezug auf ihre Struktur sowie hinsichtlich gattungsspezifischer Verände- 1 Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hrsg. v. Jochen Vogt. 2. Auflage. München: Fink 1998. 2 Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Auflage. München: Fink 2001. In der Eindeutigkeit des Titels ist der Anspruch erkennbar, ein System zur Gesamtdarstellung der Gattung zu bieten. 85 <?page no="98"?> rungen im Vergleich zum epischen Prätext untersuchen, so müssen gleichzeitig Entsprechungen in Struktur und Inhalt und gattungsspezifische Besonderheiten benannt werden. Das vorliegende Kapitel geht deshalb auch der Frage nach, wo die Übertragung des Instrumentariums auf die andere Gattung an ihre Grenzen gerät. Die hier vorgeschlagene Annäherung von zwei Seiten bietet sich auch deshalb an, weil es ein gattungsübergreifendes Begriffssystem (noch) nicht gibt. Von Seiten einer ‚ postklassischen Narratologie ‘ wird hier ein Desiderat festgestellt, und der traditionellen Narratologie wird vorgeworfen „ neben ihrer Textzentriertheit und ihrem ahistorischen, synchronen und universalistischen Erkenntnisinteresse “ auch zu eng in ihrem Anwendungsgegenstand zu sein: Erstens ist die ‚ klassische ‘ Narratologie insofern dominant mono- und intragenerisch ausgerichtet, als sie sich vor allem mit (literarischen) Erzähltexten beschäftigt hat. Erscheinungsformen des Narrativen in anderen Gattungen wurden zwar punktuell berücksichtigt, spielten für die Theoriebildung aber in der Regel allenfalls eine untergeordnete Rolle. 3 Der Erzähltheorie, die hier als ‚ klassische Narratologie ‘ bezeichnet wird, ihren Fokus auf Erzähltexte vorzuwerfen, geht sicherlich zu weit. Für ihren Gegenstand hat sie umfassende Analysesysteme entwickelt. 4 Erst die Ausweitung des Begriffs ‚ Narratologie ‘ lässt sie für bestimmte Bereiche unzulänglich erscheinen. Es handelt sich also um Unterschiede in der Begriffsverwendung. Im Deutschen bietet sich die Unterscheidung zwischen dem Begriff der ‚ Erzähltheorie ‘ als gattungsspezifisches Instrument und der ‚ Narratologie ‘ als Theorie aller narrativen (im Sinne aller geschehensdarstellenden) Genres und Medien an. Vera Nünning und Ansgar Nünning warnen zu Recht vor einer einseitigen und unkritischen Übertragung vorhandener Modelle auf neue Bereiche; wenn sie allerdings dazu anregen, die „ blind spots “ der traditionellen Narratologie zu berücksichtigen, die sich diese „ durch eine allzu starke Konzentration auf bestimmte Textgenres eingehandelt hat “ 5 , vernachlässigen sie, dass diese ‚ blinden Flecken ‘ keine sind, solange man das Modell auf den 3 Vera Nünning und Ansgar Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen. Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. v. Vera Nünning und Ansgar Nünning. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2002. S. 1 - 22. Hier S. 10. 4 Umgekehrt hat bislang niemand der Dramentheorie vorgeworfen, sie sei nicht auf Erzähltexte anwendbar. 5 Nünning und Nünning, Produktive Grenzüberschreitungen. S. 11 f. 86 <?page no="99"?> ihm zugedachten Bereich anwendet. Für genrevergleichende Untersuchungen und insbesondere für die Adaptionsforschung und Forschung zu Formen von Inter- und Transmedialität sind gerade diese ‚ blinden Flecken ‘ interessant, die man allerdings neutraler als medienbeziehungsweise gattungsspezifische Grenzen beschreiben kann. Von Interesse können also folgende Fragen sein: Wo finden sich in den gattungsspezifischen Analysemodellen parallele Strukturen, die lediglich anders benannt sind? Warum werden bestimmte Phänomene, die in beiden Bereichen bestehen, nur in einem Bereich benannt und warum ist gerade dort das Interesse so hoch, das betreffende Phänomen zu benennen? Für welche Phänomene und Begriffe findet sich in der anderen Gattung keine direkte Entsprechung, und: Handelt es sich dabei um echte Darstellungsgrenzen oder lediglich um Abweichungen von tradierten Formen? Gibt es in beiden Gattungen Phänomene, die dieselbe Funktion haben, also als wirkungsäquivalent betrachtet werden können? 3.1 Dramen in erzähltheoretischer Perspektive Genette nimmt in Palimpseste eine kurze Beschreibung der häufigen Veränderungen bei Dramatisierungen vor. Seine Thesen sollen hier nicht als Untersuchungsergebnisse verwendet werden, sie lassen im Gegenteil erahnen, dass eine Beschäftigung mit diesem Gegenstand, wie bei einem Projekt wie Palimpseste zu erwarten, nur am Rande stattgefunden hat. Die Passage zeigt allerdings, dass Genette sein erzähltheoretisches Vokabular auf das Drama anwendet. 6 Genettes Begriffssystem lässt eine wesentlich differenziertere Sichtweise zu, als er selbst an dieser Stelle suggeriert. 7 Kombiniert mit dramentheoretischen Ansätzen werden dabei Möglichkeiten zur Umsetzung erzählerischer Formen auf der Bühne wesentlich genauer bestimmbar. 6 Als Beispiel seien hier seine Ausführungen zur Zeitlichkeit zitiert: Eine „ der häufigsten und offensichtlichsten Konsequenzen der Dramatisierung “ sei es, „ die Dauer der Handlung zu raffen, um sie möglichst an die Dauer der Aufführung anzugleichen “ . Schwankungen der Geschwindigkeit oder der Frequenz seien nicht möglich, die Bühne daher „ naturgemäß gezwungen, in der Echtzeit zu funktionieren: Sie kennt definitionsgemäß nur die isochrone Szene und die Ellipse (zwischen den Akten und Bildern) [. . .]. “ Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig nach der ergänzten 2. Auflage. Hrsg. v. Karl Heinz Bohrer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. Hier und im Folgenden S. 384 f. Vgl. zu Genettes weiterer Darstellung der Dramatisierung Kapitel 2.2.5. 7 Wo Genette Differenzen zwischen Drama und Erzählung anhand erzähltheoretischer Überlegungen aufzeigt, handelt es sich oft um Einschränkungen durch Konventionen und historische Dramenformen, nicht unbedingt um wirkliche Grenzen der Darstellung. 87 <?page no="100"?> Bisher wurden zwei systematische Versuche einer Anwendung von Erzähltheorien auf dramatische Texte vorgenommen: Holger Korthals betrachtet in seiner Untersuchung Drama und Erzählung als geschehensdarstellende Literatur und geht von einem Kontinuum zwischen dramatischem und narrativem Modus aus, wobei die Prototypen jeder Gattung an den äußeren Positionen zu finden seien. 8 Er nutzt dazu umfassend Genettes Begriffsrepertoire. Eike Muny überträgt im Sinne einer transgenerischen Narratologie Erzähltheorien, darunter auch diejenige Genettes, auf das Drama und erweitert und modifiziert bekannte Konzepte. 9 Er konzentriert sich auf eine Theorie zu Fokalisierung und Fokussierung im Drama, leitet diese aber notwendigerweise mit Bemerkungen zur Erzählinstanz in dramatischen Texten ein. Dass Beiträge zur (entstehenden) transgenerischen Narratologie so häufig Genettes Erzähltheorie aufgreifen, gründet in der Trennung zwischen Diskurs und Geschichte. Allen Gattungen und Medien, die - fiktional wie faktual - Geschehen darstellen, ist gemeinsam, dass die histoire nur aus dem discours erschlossen werden kann. Die Genauigkeit, Eindeutigkeit und Detailliertheit mit der dies geschieht, variiert weniger zwischen den verschiedenen Gattungen und Medien als von Kunstwerk zu Kunstwerk. Während sich Kategorien wie Ordnung, Dauer und Frequenz leicht übertragen lassen, entsteht beim Kriterium der Mittelbarkeit (Modus) und bei der Annahme einer Erzählinstanz (Stimme) für das Drama Erklärungsbedarf. Dass Drama und Vermittlerrede sich ausschließen, galt in den Philologien lange als anerkannt, was aber vor allem darauf verweist, dass die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Drama einsetzte, als normative Gattungstheorien sowohl die Dramenproduktion als auch die Dramenrezeption bestimmten. Tatsächlich gibt es vermittelnde Geschehensdarstellung im Drama wesentlich häufiger als angenommen. 10 Diese Dis- 8 Holger Korthals: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin: Schmidt 2003 (= Allgemeine Literaturwissenschaft - Wuppertaler Schriften 6). S. 80: „ Je nachdem, ob in einem Text der dramatische oder der narrative Modus dominiert, gehört der Text zum Bereich des Dramas oder der Erzählung. Jene beiden Bezeichnungen wiederum verstehe ich als die Namen zweier Protogattungen [. . .]. “ 9 Eike Muny: Erzählperspektive im Drama. Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie. München: Iudicum 2008. 10 Seit Beginn des europäischen Dramas wurde Vermittlerrede genutzt. Von Prolog und Epilog, kommentierenden Chorpartien und montierten Versen im Prosadrama, Botenberichten und Teichoskopie, Monologen und Beiseitesprechen sowie Kommunikation über die Rampe hinaus, über die Erzählerfigur, die (als Teil des Geschehens oder außerhalb dessen) gleichzeitig oder rückblickend die Ereignisse einem Publikum 88 <?page no="101"?> krepanz akzentuieren auch Ansgar Nünning und Roy Sommer, betonen dabei die Gemeinsamkeiten zwischen epischen und dramatischen Texten und vermuten sogar, „ daß es sich beim Erzählen im Drama nicht um seltene Ausnahmefälle, sondern um Grundelemente und konstitutive Bauformen des Dramas handelt “ . 11 Zur Anwendung der Kategorie der Stimme aus der Erzähltheorie Genettes müssen jedoch zwei Prämissen akzeptiert sein: Erstens muss von einem System ausgegangen werden, das dynamisch ist und Wechsel der Erzählinstanz oder der Stimme zulässt. 12 Zweitens kann die Übertragung nur dann relevante Ergebnisse bringen, wenn die Anwesenheit einer vermittelnden Instanz auch dann angenommen wird, wenn die Stimme gerade ‚ nicht hörbar ‘ ist. Im Drama ebenso wie in der Erzählung geht der Rezipient davon aus, alle relevanten Informationen zu erhalten. Er verlässt sich also auf eine ordnende Instanz. Manfred Jahn greift in seiner Untersuchung deshalb Seymour Chatmans Konzeption des ‚ covert narrator ‘ auf, die die Anwesenheit einer Erzählinstanz auch dann annimmt, wenn diese nicht explizit oder gar als Figur in Erscheinung tritt. Er verändert Genettes Kategorie der Stimme als Sprechinstanz zu der eines Arrangeurs der Handlung: In Chatman ’ s model, the narrator need not speak at all and may have no voice at all. [. . .] Hence, functionally, the narrator is not so much the one who answers to Genette ’ s question ‘ who speaks? ‘ or who betrays herself or himself by using the first-person pronoun but the agent who manages the exposition, who decides what is to be told, how it is to be told (especially, from what point of view, and in what sequence), and what is to be left out. 13 Überzeugend leitet Muny her, dass die Annahme einer vermittelnden Instanz im Drama für die Textanalyse von großem Nutzen sein kann. Er begründet dies zunächst mit der Fiktionalität der Texte; insbesondere der Nebentext erzähle fiktive Ereignisse, als seien sie geschehen. 14 In Anlehnung an Wolf Schmidt sieht er vier Leistungen eines Erzählers, die auch für den Dramentext darstellt, bis hin zum Spiel im Spiel existiert in fast allen dramatischen Genres und allen literarhistorischen Epochen Vermittlung im Drama. Hinzu kommen vermittelnde Passagen im Nebentext. 11 Ansgar Nünning und Roy Sommer: Drama und Narratologie: Die Entwicklung erzähltheoretischer Modelle und Kategorien für die Dramenanalyse. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. v. Vera Nünning und Ansgar Nünning. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2002. S 105 - 128. Hier S. 111. 12 Darauf verweist unter anderem Gerhard Tschauder: Wer ‚ erzählt ‘ das Drama? Versuch einer Typologie des Nebentexts. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 68 (1991). S. 50 - 67. Vgl. hier S. 66. 13 Manfred Jahn: Narrative Voice and Agency in Drama. Aspects of a Narratology of Drama. In: New Literary History 32 (2001). S. 659 - 679. Hier S. 670. 14 Vgl. Muny, Erzählperspektive im Drama. S. 53 und 69. 89 <?page no="102"?> gelten: 15 Der Erzähler bestimme die „ Auswahl von Momenten “ und damit die „ Bildung einer Geschichte “ , zweitens die „ Konkretisierung und Detaillierung der ausgewählten Geschehensmomente “ und drittens die „ Komposition des Erzähltextes “ , gemeint ist die Ordnung der Elemente. Zudem nehme er viertens über die „ [sprachliche] Präsentation “ eine implizite Bewertung der Ereignisse vor. Jegliche Art der „ Einmischung “ des Erzählers über Kommentare oder Reflexionen sei dagegen zwar eine fünfte, aber nur fakultative Leistung. Diese Explizitheit des Vermittelns liegt zwar nicht in allen Dramen vor, kann aber auch in dieser Gattung beobachtet werden. Geht man von einer nicht zwingend als Stimme präsenten Vermittlerinstanz aus, so ist beim Begriff ‚ Erzähler ‘ allerdings Vorsicht geboten. Angemessener scheint die Bezeichnung bei Korthals als „ Vermittlerrede “ , die er von der Teilnehmerrede (also der Figurenrede) abgrenzt, 16 wobei mit Vermittlerrede im Drama nicht nur Sonderformen wie Beiseitesprechen oder Botenbericht, Erzählerfigur und andere Formen des Erzählens innerhalb der Diegese gemeint sind: Der Nebentext müsse als Vermittlerrede gedacht werden, 17 er sei „ ausschließlich als heterodiegetisch vorstellbar “ . 18 Eine tatsächlich unvermittelte Rede gebe es dabei nicht oder nur scheinbar. Korthals plädiert deshalb dafür, die verschiedenen Formen der Vermittlung in ihrer Explizität als verschiedene Formen der Einbettung von Zitaten zu verstehen. 19 Die Explizität der Vermittlung wird in beiden Ansätzen, bei Korthals und Muny, zum Gegenstand der Analyse. Ich gehe in Anlehnung an diese Vorschläge für die Zwecke dieser Arbeit von einer ordnenden und vermittelnden Instanz im Drama aus, die unmerklich (als ‚ covert narrator ‘ ) oder explizit auftreten kann. Damit ist die Relevanz des Nebentextes für die Analysen der Dramatisierungen evident. Anke Detken erklärt außerdem, dass gerade die Regiebemerkungen weniger normierenden Vorstellungen unterworfen sind und sich deshalb darin häufig Innovationen offenbaren: 15 Hier und im Folgenden Muny, Erzählperspektive im Drama. S. 72. Angelehnt an Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin: de Gruyter 2005. S. 72 f. 16 Vgl. Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 102 f. 17 Vgl. ebd. S. 111. 18 Ebd. S. 299 und 300 f. Er erläutert: „ Auch in insgesamt dramatisch strukturierten Texten ist homodiegetische Geschehensdarstellung auf der Ebene des Nebentextes nicht wirklich unmöglich, sondern lediglich dermaßen untypisch, daß sie beinahe als unmöglich gilt. Der Grund hierfür dürfte in der problematischen theatralen Umsetzung eines solchen literarischen Dramas liegen [. . .]. “ Allerdings vermischt Korthals bei der Darstellung des Nebentextes die Ebenen von Autor und Vermittler: „ Der Nebentext, in dem ihre Namen [die der Figuren; Anm. B. L.] genannt und ihre Handlungen beschrieben werden, stammt nicht von ihnen, sondern vom Autor des Dramas in seiner Eigenschaft als heterodiegetischer Geschehensvermittler. “ (S. 299). 19 Vgl. ebd. S. 116. 90 <?page no="103"?> Durch die geringere literarische Formung und Regelung dieser Texträume ergeben sich [. . .] in Dramentexten Freiräume, die sehr unterschiedlich genutzt werden können, hochkonventionell, aber auch innovativ, so dass hier in bestimmten Fällen anderes und mehr ausgedrückt werden kann als im Redetext. 20 Für die Analyse von Dramatisierungen ist der Nebentext von ganz besonderer Bedeutung, weil sich darin nicht nur medienspezifische Angaben und innovative Dramenformen zeigen können, sondern die Rede gerahmt und kommentiert wird, sodass Deutungen und Umdeutungen gerade im Zusammenspiel von Regiebemerkung und Figurenrede entstehen können. Damit offenbaren sich in diesem Verhältnis eventuelle Neubewertungen der Figuren und ihrer Aussagen, die für die intertextuelle Beziehung zum Roman von Bedeutung sein können. 21 Weiterhin müssen drei grundlegende Eigenschaften des Dramas berücksichtigt werden: Erstens muss, das ist beinahe eine Selbstverständlichkeit, zwischen schriftlichem Drama und Theateraufführung unterschieden werden. Denn während im geschriebenen Drama die Figurenrede und der vermittelnde Nebentext zusammen rezipiert werden, sind in der Bühnenpräsentation ganz andere Zeichensysteme zu berücksichtigen. Hier wird also nur die Anwendung der Genette ’ schen Beschreibungskategorien auf den Dramentext vorgenommen. Wo dieser explizit auf die Aufführung verweist, liegt eine besondere Situation vor, die nicht mehr über die Trennung von histoire und discours zu erklären ist, sondern sich auf ein anderes Medium bezieht und pragmatische Züge annimmt. Muny vernachlässigt diese pragmatische Dimension, die eben nicht mehr mit dem Fiktionalitätskriterium zu begründen ist, und sieht deshalb in solchen Hinweisen auf die spätere Aufführung keine besondere Form, sondern eine gewöhnliche Erzählerrede. 22 Hier ist ein ‚ blinder Fleck ‘ der Erzähltheorie oder besser: eine Gat- 20 Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 2009. S. 40. 21 Detken analysiert Dramen unter besonderer Berücksichtigung der Regiebemerkungen neu und kommt durch die Kombination der verschiedenen Aussageebenen zu neuen und anderen Erkenntnissen als redeorientierte Ansätze. Sie plädiert folgerichtig für eine gleichwertige Betrachtung von Figurenrede und Regiebemerkung (vgl. S. 386). Detken kritisiert aus diesem Grund den Begriff ‚ Nebentext ‘ als hierarchisch. Wenn in dieser Arbeit trotzdem der Begriff Nebentext benutzt wird, soll dies keine hierarchische Wertung der beiden Textebenen implizieren. Ich möchte jedoch den Begriff ‚ Regiebemerkung ‘ meiden, um auch Nebentexte, die auf das diegetische Geschehen verweisen (und nicht so sehr durch den pragmatischen Zusammenhang gekennzeichnet sind), zu benennen. 22 Deshalb geraten die Beispielanalysen bei Muny in diesen Momenten an ihre Grenzen. Muny, Erzählperspektive im Drama. Zum Beispiel S. 82 f. 91 <?page no="104"?> tungsgrenze erreicht. Die pragmatischen Hinweise und die Verweise auf die Bühne, die nicht innerhalb der Diegese zu erklären sind, müssen als Teil des avisierten Mediums und dessen äußeren Kommunikationssystems gedacht werden und bedürfen deshalb einer gesonderten Betrachtung. Zum Zweiten müssen die unterschiedlichen Ebenen der Handlungsdarstellung im Drama beachtet werden. Die Trennung in Haupt- und Nebentext wird immer zu berücksichtigen sein, wenn die Art der Vermittlung analysiert wird. Der Figurentext bringt alle Arten von narrativer Darstellung des Geschehens hervor, die auch der Erzählliteratur zur Verfügung stehen, denn wie diese ist er an die Bedingungen der Sprache geknüpft. Längere oder fiktionale Erzählungen auf dieser Ebene können als seine Art Binnenerzählung betrachtet werden. Der Nebentext wird hingegen stärker über pragmatische Dimensionen bestimmt. Wo er Elemente der Diegese beschreibt, kann er dennoch als Rede einer ordnenden Vermittlerinstanz betrachtet werden. Aus diesem Grund ist eine Übertragung der erzähltheoretischen Termini auf die Figurenrede problemlos möglich und soll hier nur am Rande betrachtet werden. Der Nebentext und das Gesamtarrangement des Dramas 23 stehen also im Fokus, wenn im Folgenden die Übertragbarkeit einzelner Kategorien geprüft wird. Drittens heißt eine Übertragbarkeit nicht, dass diese Art der Geschehensdarstellung im Drama auch regelmäßig vorkommt. Obwohl im literarischen Drama, also in der Schrift, dieselben Darstellungsmöglichkeiten bestehen wie im epischen Text, bewirkt das Medienkriterium Darstellungskonventionen. Durch die Ausrichtung auf die Bühne werden bestimmte Formen häufiger, andere selten vorkommen. Zwischen möglichen und üblichen Formen muss hier unterschieden werden. An die Kategorie der Stimme ist bei Genette die der ‚ Zeit der Narration ‘ geknüpft, welche fasst, ob der Vermittler das Geschehen im Nachhinein wiedergibt, wie es in der Erzählung am häufigsten vorkommt, vor dessen Eintreten davon erzählt, eine sehr seltene Form, oder parallel zum Ereignis berichtet. Dies lässt sich in Erzählungen sicher bestimmen, weil die dort verwendeten Verben in ihrer konjugierten Form zeitlich eindeutig sind. 24 23 Von besonderem Interesse sind neben dem Nebentext also die Handlungsauswahl und das zeitliche und kontrastive Arrangement der Szenen, außerdem alle Sprechakte, die sich nicht aus der Diegese heraus verstehen lassen, also nicht im engeren Sinne Figurenrede darstellen. Dazu gehören auch montierte Texte, Lieder und Projektionen, die nicht aus der Handlungsmotivation einer Figur zu erklären sind. 24 Vgl. Genette, Die Erzählung. S. 153. 92 <?page no="105"?> Für die Gattungstheorie zum Drama stellt Korthals fest, dass diese fast vollständig der Meinung ist, das Geschehen trete in die Gegenwart des Rezipienten ein und werde als gegenwärtig dargestellt. Er schlägt hingegen vor, zunächst „ besser bescheiden von einem Schein der Gegenwärtigkeit zu sprechen “ . 25 Die Aufführung verführe dazu, an die Vermittlung in Gegenwart zu glauben, weil die Anwesenheit der Zuschauer Direktheit erzeuge. Das literarische Drama muss keine Verben im Nebentext aufweisen, sodass diese Art von zeitlichem Bezug unter Umständen nicht bestimmbar ist. Insofern kann es eine Nicht-Zeitlichkeit der Vermittlerposition geben. Häufiger allerdings geben Verben im Nebentext (vor allem in den Regieanweisungen) durch ihre Präsensform an, dass das Geschehen gleichzeitig mit seiner Vermittlung geschieht, erzeugen also den Schein der simultanen Wiedergabe. Dies schließt die Illusion der Unabgeschlossenheit der Erzählung mit ein. Korthals bemerkt richtig, dass diese Unabgeschlossenheitsillusion, die im Drama meist vorherrscht, der Instanz der Geschehensvermittlung auf extradiegetischer Ebene (sichtbar vor allem im Nebentext) deutlich weniger Möglichkeiten lässt, das Geschehen zu ordnen und zu arrangieren als in einem Erzähltext. Doch auch im Drama ist Abgeschlossenheit und Vermittlung vergangenen Geschehens signalisierbar: Raum dafür bieten zum Beispiel Prologe oder Epiloge, achronologisches Erzählen, Inhaltsverzeichnisse oder Szenentitel. Wie bei der Betrachtung der Fokalisierung eines Textes muss hier gerade im Drama jede Sequenz für sich untersucht werden. Die Unabgeschlossenheitsillusion bleibt innerhalb der Szenen meist charakteristisch. Eine Aufhebung dieser geschieht vor allem an den Rändern und Übergängen. 26 Kategorien der Geschehensdarstellung, die an zeitliche Abläufe geknüpft sind, lassen sich sehr leicht auch am dramatischen Text bestimmen. Da die „ Linearität “ 27 der sprachlichen Signifikanten auch im Dramentext gegeben ist, auch hier eine Lektürezeit (wie bei der Erzählung nur als Konstrukt zu denken) gegeben ist, sind die Kategorien von Ordnung, Dauer und Frequenz relativ leicht zu übertragen. 28 Anachronien kommen vor, müssen aber als solche markiert sein. Für die spätere Aufführung ist besonders entscheidend, 25 Vgl. Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 347. 26 Für Dramatisierungen sehr bekannter Romane gilt darüber hinaus, dass durch den intertextuellen Bezug der Ausgang der Geschichte dem Rezipienten eventuell schon im Verlauf der Handlung präsent ist. 27 Genette, Die Erzählung. S. 21. 28 Pfister unterscheidet im Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit deshalb auch in seiner Dramentheorie zwischen „ fiktiver gespielter Zeit und realer Spielzeit “ beziehungsweise „ Handlungszeit “ und „ Darbietungszeit “ . Pfister, Das Drama. S. 369. Vgl. dort auch Fußnote 80 auf S. 418. 93 <?page no="106"?> ob die Markierung im Haupt- oder Nebentext erfolgt. Erfolgt sie im Nebentext, so ist sie auch ein Hinweis für den Regisseur, einen Zeitsprung mit theatralen Mitteln sichtbar zu machen. Typisch galt für das Drama lange die chronologische Abfolge der Handlung. Diese Auffassung ist aber lediglich haltbar, wenn man die Figurenrede von vergangenen Ereignissen, die in Dramen aller Zeiten und Typen sehr häufig stattfindet, nicht als Analepse anerkennt. Die Ordnung der Ereignisse muss deshalb, wie es Genette für die Erzählung angibt und wie es für das Drama besonders gilt, auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden. 29 Laut Korthals sind einige Formen der Ordnung, die in der Erzählung seltener auftreten, in dramatischen Texten sogar häufiger zu finden. Syllepsen, als nur thematisch, nicht zeitlich verknüpfte Szenen, seien in Erzählungen die Ausnahme, in modernen Dramen häufiger zu finden. Auch die achronische Darbietung von Geschehen sei im Drama durch expressionistische und surrealistische Traumspiele sowie das absurde Theater verbreitet. 30 Korthals moniert an Genettes System das Fehlen der Gleichzeitigkeit. 31 Die ist allerdings auch für den Dramentext nicht relevant. In der Erzählung wie im Dramentext kann Gleichzeitigkeit nur auf der Geschehensebene bestehen, nie auf der Diskursebene. Insofern wäre die Kritik erst für eine transmediale Narratologie zutreffend. Analepsen und Prolepsen werden meist als vom Vermittler abhängig angesehen und wurden deshalb für das Drama lange nicht beachtet. Tatsächlich finden sich im Drama Analepsen häufig auf Ebene der intradiegetischen Figurenrede. Extradiegetische Analepsen kommen seltener vor und müssen durch Zeichen in der Rede, Veränderung der Figuren oder der Kulisse oder durch eine extradiegetische Darstellungsinstanz (Projektion, Stimme aus dem Off, Bühnenfigur als Erzähler) als solche gekennzeichnet werden. 32 Weitere Differenzierungen - wie beispielsweise die zwischen interner und externer Analepse - greifen ebenso für das Drama. Genauso ist das Modell von homodiegetischer und heterodiegetischer Analepse auf das Drama übertragbar. Verschiedene Möglichkeiten der Kennzeichnung von Anachronien können kombiniert werden. Da die Dauer, die das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit erfassen soll, aufgrund des subjektiven Lesetempos immer nur eine Relation erfassen kann, ist die Anwendung hier etwas schwieriger. Für den Dramentext als Narration im Schriftmedium können jedoch dieselben Prämissen gelten wie für die Erzählung. Auch hier ist eine isochrone Geschehensdarstellung nicht 29 Vgl. Genette, Die Erzählung. S. 26. 30 Vgl. Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 194 f. 31 Vgl. ebd. S. 198. 32 Vgl. ebd. S. 210 f. 94 <?page no="107"?> oder nur annähernd möglich. 33 Auch wenn das für das Drama häufig angenommen wird, muss es keine Annäherung von Erzählzeit und erzählter Zeit anstreben. Ausufernde Nebentexte zum Beispiel in naturalistischen Dramen und kurze Skizzen langer Vorgänge auf der Bühne können auch im schriftlichen Drama einen Rhythmuseffekt erzielen (der dann möglicherweise vom Rhythmus der Aufführung stark abweicht). Korthals fasst weitere Formen der Geschwindigkeitsvariation zusammen: Mit unterschiedlichen narrativen Geschwindigkeiten sind dramatische Texte zumindest dann konfrontiert, wenn Figuren des dramatischen Geschehens in Expositionserzählungen, Botenberichten etc. zu narrativen Vermittlern metadiegetischen Geschehens werden und sich aus diesem Anlaß des gesamten Inventars narrativer Darstellungstechniken bedienen. 34 Ellipsen kommen im Drama häufig vor und liegen typischerweise zwischen den Szenen. 35 Eine Pause im Drama ist ebenfalls möglich, wenn beispielsweise eine Figur Zusammenhänge erläutert oder reflektiert; der Verlauf der Geschichte stünde solange still. Die Pause in der Theaterkonvention dagegen, bemerkt Korthals richtig, ist keine im erzähltheoretischen Sinne. 36 Die Möglichkeit der Raffung oder Dehnung der Zeit wurde in der Dramentheorie bisher kaum beachtet. Beides kann in der Figurenrede und im Nebentext vorkommen. 37 Korthals weist außerdem darauf hin, dass in älteren Dramen auch im Chor oder durch Prologsprecher geraffte Passagen auftreten. Diese werden in der Regel sprachlich markiert, wie es in Erzähltexten ebenfalls üblich ist. Während bei Dramen die Raffung auf das ganze Stück gesehen den Normalfall darstellt, sind die Szenen im konventionellen Drama aus Gründen des avisierten Medienwechsels oft zeitdeckend angelegt. Die Raffung kommt dann durch Ellipsen zwischen den Szenen zustande. Die beschriebene Form ist zwar besonders häufig, schließt aber ein anderes Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit nicht aus. 33 Vgl. Genette, Die Erzählung. S. 62. Damit hat Genette einen Begriff geprägt, der für die Erzählung gar nicht einsetzbar ist, sehr wohl aber für eine transmediale Anwendung zum Beispiel auf die Theateraufführung. 34 Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 221 f. 35 Genette bestimmt Ellipsen näher dadurch, ob und wie sie im Text markiert werden, ob der Umfang angegeben ist und ob in der ausgelassenen Handlungszeit etwas für die Geschichte Relevantes geschieht. Diese Fragen kann man zu Ellipsen im Drama identisch formulieren. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, auf welcher Ebene die Markierung der Ellipse vorliegt (im Nebentext oder im Dialog). Vgl. Genette, Die Erzählung. S. 76 - 78. 36 Vgl. Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 229 f. Sie kann aber als solche genutzt werden, wie eine in dieser Arbeit analysierte Dramatisierung (Albrechts Hirche: wahlverwandtschaften nach goethe) zeigt. 37 Vgl. ebd. S. 231 f. 95 <?page no="108"?> Wie schon zur Dauer so gibt es auch zur Frage der Frequenz der Geschehensdarstellung in der Dramentheorie die Vorstellung, eine bestimmte Variante sei die einzig mögliche, nämlich der Typus der singulativen Darstellung. Den anaphorischen Typus der singulativen Darstellung sieht man im absurden Theater. Die Darstellung repetitiver Muster auf der Bühne sieht Korthals für das Drama als schwieriger an. 38 Vorstellbar ist zum Beispiel die Schilderung desselben Ereignisses aus der Sicht unterschiedlicher Figuren, die die Szenen über expositorische Sätze als ihre Erinnerung einleiten. Für ungerahmte repetitive Darstellungen kann das Drama auf Mittel anderer Medien zurückgreifen. Auch iterative Darstellungen sieht Korthals als problematisch an. Sie könnten im Nebentext oder in der Figurenrede angegeben werden. 39 Ein sprachlicher Hinweis einer Figur auf die Wiederholung ist ausreichend und ist in der späteren Inszenierung deutlicher sichtbar als ein über den Nebentext angegebenes Körpersignal für routinemäßige Handlungen. Eine Übertragung der Kategorie des Modus 40 der Darstellung mag zunächst schwieriger erscheinen, ist bei Annahme einer ordnenden Vermittlungsinstanz aber möglich. Genette unterscheidet in Fragen des Modus ’ zwischen der Darstellung von Ereignissen und der Darstellung von Worten, worunter er sowohl Figurenrede als auch Gedanken der Figuren fasst. Die unterschiedliche Distanz zwischen Geschehen und Vermittler und den Blickwinkel (wer sieht? ) auf das Geschehen fasst Genette zusammen als „ die beiden wesentlichen Weisen jener Regulierung der narrativen Information, die der Modus darstellt “ . 41 Die zugehörigen Kategorien, Distanz und Fokalisierung, müssen sehr genau in ihrer Übertragbarkeit auf das Drama geprüft werden. Die Distanz in der Geschehensdarstellung hängt wesentlich mit der Präsenz der vermittelnden Instanz zusammen. 42 Oben wurden nach Schmid und Muny die vier obligatorischen Aufgaben des Erzählers dargestellt; die fünfte Darstellungsfunktion, die nur fakultative Einmischung, stellt einen 38 Vgl. ebd. S. 241. 39 Vgl. ebd. S. 243 f. 40 Vgl. Genette, Die Erzählung. S. 115 - 149. 41 Ebd. S. 115. 42 Im Drama ist die für Erzählliteratur als typisch angesehene Kombination von ausführlicher Beschreibung mit dem Zurücktreten des Erzählers versus stark raffende Beschreibung und Hervortreten des Vermittlers so nicht häufig zu beobachten (im Nebentext naturalistischer Dramen kommt das vor). Der Nebentext verbindet üblicherweise eine starke Raffung mit Zurückhaltung des Vermittlers. Es ist also für eine Übertragung auf das Drama wichtig, die Kategorie der Distanz nicht als Kombination verschiedener Faktoren zu betrachten, sondern als Kategorie der Präsenz beziehungsweise des Zurücktretens des Vermittlers. 96 <?page no="109"?> besonders offensichtlichen Fall der Distanzerzeugung dar. Genette macht die Distanz am Verhältnis von mimêsis, im Sinne von unmittelbarer Geschehensdarstellung als direkte Nachahmung, und diêgêsis, also der Dominanz des Vermittlungsvorgangs, fest. Letztere zeige sich in der starken Thematisierung des Erzählens, oft raffend, kommentierend und aus der Distanz. Reine mimêsis allerdings könne es nur in der direkten Wiedergabe von Rede geben. Alle nicht sprachlichen Inhalte dagegen müssen vermittelt dargestellt werden. Es sei deshalb richtiger von Graden einer „ Mimesis-Illusion “ zu sprechen. 43 Für die Anwendung der Kategorie der Distanz auf Dramentexte wird die Differenzierung zwischen Erzählung von Ereignissen und Vermittlung von Rede sehr wichtig. Der Dialog, von Genette als die einzige Form echter mimetischer Darstellung bezeichnet, ist im Haupttext des Dramas der Normalfall. Der Nebentext ist ein Ort, an dem auch im literarischen Drama, allen Zuschreibungen seiner besonderen Direktheit zum Trotz, Distanz zwischen Vermittler und Geschehen signalisiert werden kann. 44 Genette übernimmt die Theorie zur Darstellung von Rede in unterschiedlicher Distanz auch für die Analyse der Gedankenwelt der Figuren, für die ‚ innere Rede ‘ . 45 Da das Drama durch seine Ausrichtung auf die Bühne für die Gedankendarstellung besondere Darstellungsformen entwickeln muss, ist hier die Übertragung in den dramatischen Text von der auf die Bühne zu differenzieren. Die Vermittlung von Gedanken setzt eine bestimmte Art von Fokalisierung voraus, da sie dem Blickwinkel und der Gefühlswelt einer Figur folgt. Das Drama hat dafür eigene Formen entwickelt, denn bei einer Aufführung werden sowohl Rede als auch Gedanken laut geäußert. Im literarischen Drama markieren bestimmte Zeichen Monolog oder Beiseitesprechen als Teil der Innenwelt einer Figur. 46 Es bedarf der Kenntnis der Theaterkonventionen, um zu akzeptieren, dass es sich bei solcher Rede um innere Rede handelt. Zur Lösung des Widerspruchs, also der Notwendigkeit des Sprechens und der Stille der Gedanken, hat das Theater weitere Möglichkeiten entwickelt, die Innenwelt einer Figur zu präsentieren. Dazu gehören der Rückgriff auf andere Medien (wie Ton- und Texteinspielungen aus dem 43 Genette, Die Erzählung. S. 117. 44 Korthals erläutert überzeugend die Abstufungen der Distanz im literarischen Drama. Vgl. Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 248. 45 Vgl. Genette, Die Erzählung. S. 122. 46 Über Regieanweisungen kann deutlich werden, dass die Figur allein ist und somit zu sich selbst spricht. Die Kennzeichnung ‚ beiseite ‘ gibt an, dass es sich um einen Text handelt, der von anderen Personen der Diegese nicht gehört wird. 97 <?page no="110"?> Off oder der montierte Film 47 ) sowie der Auftritt bestimmter Figuren als Repräsentanten des Bewusstseins einer Person. 48 Diese Mittel betreffen alle die Wiedergabe von Gedanken in direkter Rede, sind somit für das literarische Drama wie für den Aufführungstext von Bedeutung und im Haupttext sichtbar - im Nebentext, wie oben angegeben, meist markiert. Der Nebentext enthält selten Darstellungen von Gedanken, können diese doch nur beim Lesen des Textes wahrgenommen werden und als Hinweis für Regie und Schauspieler verstanden werden. Für die literaturwissenschaftliche Arbeit mit Dramatisierungen ist zu bedenken, dass die Begriffe des ‚ narrativen ‘ und des ‚ dramatischen Modus ‘ , mit dem Martinez und Scheffel 49 das System Genettes erweitern, in einer vergleichenden Analyse von Erzähl- und Dramentexten verwirren können, suggerieren sie doch die Zugehörigkeit zu einer Gattung. Wenn Korthals dieselben Begriffe adaptiert, um sie als zwei Protogattungen, als Pole zwischen denen sich eine graduelle Abstufung der Gattungszugehörigkeit entwickelt, zu setzen, dann zeigt das bereits, dass eine klare Nutzung zur vergleichenden Analyse mit dieser Terminologie nicht möglich ist. Die Begriffspaare ‚ mimetisch ‘ und ‚ diegetisch ‘ 50 oder einfacher: ‚ ohne Distanz/ direkt ‘ und ‚ mit großer Distanz ‘ , leisten dasselbe, ohne auf Gattungsbezeichnungen zurückzugreifen. Mit der Trennung von Sprecher und Blickwinkel ( ‚ wer spricht? ‘ und ‚ wer sieht? ‘ ), die Genette vornimmt, werden Fragen der Fokalisierung im Drama analysierbar. Grundlegend ist auch hier die Definition des Geschehensvermittlers als Arrangeur in der Präsentation der Handlung. In Dramen ist es dabei durchaus möglich, dass Informationen gegeben werden, die nur eine bestimmte Figur haben kann - etwa, indem Handlungen dargestellt werden, bei denen eine Figur allein ist. Ein bestimmter Blickwinkel wird auch dann eingenommen, wenn Wissen vermittelt wird, dass nicht allen Figuren der Handlung zugänglich ist. Hier zeigt sich, dass die Anwendung der Kategorie Fokalisierung auf das Drama eine etwas veränderte Sicht verlangt, die der Analyse von Erzähltexten aber nicht widerspricht. Muny unterscheidet zu 47 Dieser fällt schon durch den Medienwechsel aus dem Drama heraus und kennzeichnet seinerseits durch bestimmte Mittel Innendarstellungen von Figuren. 48 Vgl. Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 265 f. Dieses Mittel verlagert die Darstellungsproblematik auf eine inhaltliche Ebene. Es kommt daher in der Erzählung wie im Drama vor. In den folgenden Analysen wird darauf insbesondere in Bezug auf die Dramatisierung von E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels die Rede sein. 49 Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Auflage. München: Beck 2005. S. 49. 50 Vgl. Genette, Die Erzählung. S. 116. 98 <?page no="111"?> diesem Zweck zwischen Fokussierung als Blickwinkel einer Figur und Fokalisierung als Einblick in deren inneres Erleben. 51 Das Kriterium der „ Informationsvergabe “ 52 beziehungsweise der „ Wissensunterschiede “ , 53 wie es in der Dramentheorie angewandt wird, kann mit beidem in Verbindung gebracht werden, wird aber in der Regel stärker als Fokussierung gedacht. Da aber das Drama selbstverständlich auch Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt einer Figur geben kann, ergänzt die erzähltheoretische Kategorie der Fokalisierung besonders gut das Repertoire der Dramenanalyse. 54 Genette betont, dass sich der Fokalisierungstypus im Laufe der Erzählung verändern kann, eine Fokalisierung deshalb für „ ein bestimmtes narratives Segment “ gelte, „ das mitunter sehr kurz sein kann “ . 55 Bei der Anwendung auf das Drama sollten in diesem Sinne Haupt- und Nebentext sowie einzelne Szenen gesondert analysiert werden - Elemente also, an deren Schnittpunkten oft ein Wechsel der Fokalisierung stattfindet. Eine Bestimmung des Fokalisierungstypus für ein gesamtes Drama ist daher selten sinnvoll. Zu beachten ist außerdem, dass nicht nur monologische Passagen intern fokussiert und fokalisiert sein können: Auch über äußere Vorgänge kann der 51 Vgl. zusammenfassend Muny, Erzählperspektive im Drama. S. 149 f. 52 Diesen Begriff benutzt Pfister für alle Arten der „ Perspektivenstruktur “ (S. 90) von dramatischen Texten, für das Verhältnis von Figurenwissen und Zuschauerwissen, für epische Elemente und deren kommunikative Funktion sowie für Fragen zur Informationsvergabe im Bezug auf die Zeit und den Fortgang der Handlung (auch Spannungsbildung). Vgl. Pfister, Das Drama. S. 67 - 148. Zentral ist für ihn dabei die Differenzierung von Haupt- und Nebentext: „ Ein und dasselbe sprachliche oder außersprachliche Signal hat im Normalfall im äußeren und inneren Kommunikationssystem unterschiedlichen Informationswert. “ (S. 67) Er kommt über diese Betrachtungen zu einer Analyse der ‚ Perspektivenstruktur ‘ im Drama, die zum Teil durch die „ Relation von Figuren- und Zuschauerinformiertheit “ bestimmt werde (S. 90). 53 Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. 6. aktualisierte Auflage. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2004. S. 114 - 134. Für Bernhard Asmuth ist das Drama deshalb „ nicht nur eine Handlungsfolge, sondern auch ein - mehrperspektivischer - Wissensprozeß “ (hier S. 114). Er leitet dies aus der Ungleichzeitigkeit von Geschehen und Bericht sowie aus dem perspektivischen Charakter der berichtenden Figurenrede ab. Wissensunterschiede seien entscheidend bei Vorausdeutungen, dramatischer Ironie sowie allen Arten von Intrigen, Verstellungen und Irrtümern. Zu unterscheiden sei das Wissen der Figuren auf Ebene der histoire vom an den Rezipienten vermittelten Wissen. 54 Da die Dramenanalyse dabei die Vermittlerposition oft aus den Augen verliert, muss Pfister auf den Begriff der „ intendierten Rezeptionsperspektive “ zurückgreifen, der mir aber für den Vergleich beider Gattungen ungünstig erscheint, stellt er doch direkt das außertextuelle Kommunikationssystem in Rechnung und lässt die Ebene der ordnenden und vermittelnden Instanz aus. Gegen den eigenen Anspruch kombiniert Pfister hier außerdem die Betrachtung von Dramentext und Aufführung, was gerade in Bezug auf die Informationsvermittlung problematisch ist, kommen doch zur Aufführung ganz andere Zeichensysteme hinzu. Pfister, Das Drama. S. 90 (vgl. auch S. 94). 55 Genette, Die Erzählung. S. 136. 99 <?page no="112"?> Blickwinkel einer Figur durch bestimmte Präsentationsformen vermittelt werden. Zu diesen Techniken gehören unter anderem die Teichoskopie oder die Betonung des Zeugen- oder Teilnehmerstatus einer Figur. Besonders stark zeigt sich laut Korthals interne Fokalisierung dort, „ wo die Figur das Wahrgenommene nicht bloß ausspricht, sondern quasi interpretiert, wo es sich mit ihrer Ideologie oder ihren Wünschen mischt, wo sie mithin sieht, was sie sehen will. “ 56 Eine Markierung ist hier genauso wie bei montierten Traumpassagen an den „ Rändern der Traumeinleitung und der Traumausleitung “ 57 nötig. Auch dialogische Szenen können dann das innere Erleben einer Figur darstellen. Für die vergleichende Analyse von Werken unterschiedlicher Gattung oder medialer Form scheinen mir die Begriffe der Paralipse und Paralepse geeignet: Sie bezeichnen ein Ausbrechen aus dem vorherrschenden Blickwinkel der Erzählinstanz, begründet mit dem Bruch tradierter oder normierter Formen: [Ein] Fokalisierungswechsel, vor allem wenn er isoliert in einem kohärenten Kontext auftritt, läßt sich auch als momentaner Verstoß gegen einen Code verstehen, der diesen Kontext beherrscht, ohne daß dies die Existenz des Codes in Frage stellen würde [. . .]. 58 Ein Überspielen der Rampe, das Beiseitesprechen, auktoriale Erzählpassagen oder der Gedankenmonolog haben im Drama trotz der großen Verbreitung noch immer den Charakter eines Bruchs mit der rein mimetischen Darstellung des Geschehens. Infolgedessen bekommt ein solcher Wechsel der Fokalisierung eine besondere Bedeutung und ist darüber hinaus oft mit illusionsbrechenden Formen verknüpft. Die Theorie zu den verschiedenen Ebenen der Handlung lässt sich leicht auf das Drama übertragen. Genette trennt die verschiedenen Ebenen der Narration, wobei nicht jede Art von Sprechhandlung eine metadiegetische Erzählung eröffnet. Sie muss dazu selbst narrativ sein, also Geschehen darstellen. Genette definiert die metadiegetische Erzählung wie folgt: „ Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt in der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist. “ 59 Nebentext und große Teile der Figurenrede im Drama zeigen die intradiegetische Handlung. Metadiegetisches Geschehen wird meist über die Figurenrede vermittelt und darin als Erzählung gekenn- 56 Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 281. 57 Ebd. S. 287. 58 Genette, Die Erzählung. S. 138. Im Folgenden vergleicht er eine solche „ Alteration “ mit einem vorübergehenden Tonartwechsel in der Musik. 59 Ebd. S. 163. 100 <?page no="113"?> zeichnet (zum Beispiel durch Verwendung des Imperfekts). In selteneren Fällen werden metadiegetische Handlungen auch als Dialog ausgetragen. Dann muss der Ebenenwechsel in der Rahmung markiert sein. Genette unterscheidet verschiedene Arten der metadiegetischen Erzählung dadurch, wie das Verhältnis zwischen diegetischer und metadiegetischer Erzählung gestaltet ist. 60 Wenn hiermit bereits ein inhaltliches Element in die Strukturanalyse einfließt, dann darf noch ergänzt werden, dass bei einer Übertragung auf andere Medien und Gattungen die Frage nach der gattungsspezifischen und medialen Vermittlung der metadiegetischen Geschehens eine große Rolle spielt. Handelt es sich um die Erzählung einer Figur, ein Rollen- oder Theaterspiel, einen Film oder ein Buch, dessen Handlung wiedergegeben wird? Entspricht das Medium der metadiegetischen Geschichte dem des gesamten Werkes (Buch im Buch, Spiel im Spiel)? Ist die vermittelte Geschichte innerhalb der Diegese als fiktional gedacht (in diesem Fall sind Metalepsen möglich) oder als intradiegetisch real? Neben Binnenerzählungen sind auch Spiel im Spiel-Varianten in der Dramatik häufig. Wenn Korthals erklärt, das Spiel im Spiel verweise stärker auf die Fiktionalität der Binnenhandlung als die Erzählung in der Erzählung, so hat dieser Effekt seine Ursache darin, dass die Erzählung eine Form ist, die der menschlichen Grundkommunikation nachgebildet ist. 61 Das Theaterspiel dagegen ist (zumindest in unserer Kultur) stärker durch seinen Kunstcharakter geprägt. Wenn der Kunstcharakter der Binnenerzählung oder des Spiels im Spiel deutlich ist, ist die Grenze zwischen den Welten eigentlich nicht übertretbar. Überwindungen und Brüche dieser Grenze werden von Genette als Metalepsen bezeichnet und von ihm selbst auch auf die Gattung des Dramas angewandt. 62 Metalepsen im Drama können nur zwischen intradiegetischer und metadiegetischer Erzählung geschehen. Denn weil der extradiegetische Erzähler auf der Bühne nicht präsent sein kann, kann 60 Vgl. ebd. S. 166 f. 61 Diese Erkenntnis stammt aus der Linguistik, insbesondere der Soziolinguistik und der Diskursanalyse (besonders prominent bei William Labov: Language in the Inner City. Studies in the Black English Vernacular. Philadelphia: University Press 1972). Darauf aufbauend hat unter anderem Monika Fludernik ihre Theorie zu einer „‚ natural ‘ narratology “ entwickelt, die davon ausgeht, dass das Erzählen zu den Grundverhaltensmustern des Menschen gehört. Sie betont hierzu, dass deshalb das Narrative und das Fiktionale nicht genuin miteinander verbunden sind. Vgl. Monika Fludernik: Towards a ‚ Natural ‘ Narratology. London/ New York: Routledge 1996. S. 311. 62 Vgl. Genette, Die Erzählung. S. 168. 101 <?page no="114"?> zwischen extra- und intradiegetischer Ebene keine Metalepse entstehen. 63 Das Spiel im Spiel, das Genette wie Korthals als Beispiel für Metalepsen im Drama anführen, ist dabei eigentlich keine typische Metalepse. Wenn hier zwischen Diegese und Metadiegese gewechselt wird, stellt das keinen Bruch mit der Erzählebene dar: Die innerhalb der erzählten Welt schauspielernden Figuren legen lediglich ihre Rolle ab. Durch den selbstreflexiven Charakter des Spiels im Spiel rückt es aber zumindest in die Nähe dieser Form. Selbstreflexivität kann in dramatischen Texten auf mehrerlei Weise entstehen. Eine Systematisierung der Formen hat Werner Wolf vorgelegt und ihre Anwendung in verschiedenen Medien vorgeführt. 64 Er geht von einem mehrstufigen Modell von Selbstreferenz im Kunstwerk aus. Für die Dramatisierung von besonderem Interesse ist Wolfs Kategorie der Metareferenz, die innerhalb des Kunstwerkes dessen Status als Kunstwerk betont, indem sie zum Beispiel auf dessen Medialität verweist. Die Verweise können dabei in verschiedenen Graden der Explizität und in unterschiedlichem Umfang vorkommen. Wo also im Roman Bezüge auf die Literatur, die Schrift und das Schreiben, Autorschaft und Buchmedium von Interesse sind, fallen im Drama Spiel im Spiel-Varianten, Brüche der vierten Wand, Thematisierungen des Schauspielens und des Theaters unter diese Begriffe. Die Dramatisierung, das sei vorweggenommen, vermag durch den doppelten Bezug auf Theater und Buchmedium sowie auf Fragen von Intertextualität und Autorschaft besonders vielfältig auf die Metaebene zu verweisen. 3.2 Erzähltexte in dramentheoretischer Perspektive Wenngleich Genettes System bereits ein recht umfangreiches Analysesystem bietet, um literarische Texte zu untersuchen, ist es für den Vergleich dramatischer und epischer Texte sinnvoll, auch die Spezifika der Dramenanalyse einzubeziehen: Welche Aspekte können das erzähltheoretische Modell noch ergänzen? Wo zeigen sich Parallelen zwischen den Betrachtungen, ohne dass diese über gleiche Begriffe herausgestellt werden? Kategorien, die sich auf die Aufführung im Theater beziehen, also den Medienwechsel thematisieren, werden nicht übertragbar sein. Hier sollen nur diejenigen Aspekte der Dramenanalyse behandelt werden, die auch auf Erzähltexte anwendbar 63 Vgl. auch Korthals, Zwischen Drama und Erzählung. S. 331. 64 Vgl. Werner Wolf: Metareference across Media. The Concept, its Transmedial Potentials and Problems, Main Forms and Functions. In: Metareference across Media. Theory and Case Studies. Hrsg. v. dems. in Zusammenarbeit mit Katharina Bantleon und Jeff Thoss. S. 1 - 85. Vgl. insbesondere S. 21 f. und 30. 102 <?page no="115"?> sind und das Genette ’ sche System in der vergleichenden Analyse plausibel ergänzen. 65 Zu den spezifischen Beobachtungsschwerpunkten der Dramenanalyse (gerade im Vergleich zur Erzähltheorie) gehören die Analyse der Gliederung des Textes sowie der Dialogführung. Dass außerdem der Figurenanalyse eine besondere Bedeutung zukommt, liegt sicher daran, dass eine dominante Vermittlerfigur in der Regel nicht konstant vorhanden ist, Handlungskonstitution und -lenkung deshalb erheblich über das Personal der Geschichte erfolgen müssen. Die Betrachtung von Figurenkonstellation und Figuren als Funktionsträger der Handlung verlässt die bisher stark strukturell geleitete Betrachtung zwar in Richtung einer teilweise inhaltlichen Analyse, kann aber ebenfalls für den Vergleich von Roman und Drama nützlich sein. Die starke Aufmerksamkeit auf die Gliederung von Dramentexten in der Theorie ist der historischen Entwicklung des Dramas und den dabei ausgebildeten charakteristischen Formen dramatischer Texte geschuldet. 66 Wenngleich inzwischen (wieder) dramatische Texte ohne Gliederung in Akte und Szenen entstehen, ist der Aspekt der Gliederung in der Dramentheorie weiter sehr präsent. Da die Szenen- und insbesondere die Akteinteilung in zeitgenössischen Dramen nicht mehr selbstverständlich ist, schlägt Asmuth in seiner Einführung vor, Strukturierungselemente unabhängig von ihrer Benennung als Akt oder Szene zu betrachten: Zu erfassen bzw. verstärkend hervorzuheben sind dabei 1. jede Unterbrechung der raumzeitlichen Handlungskontinuität, d. h. hauptsächlich Schauplatzwechsel, aber auch Vorhänge und evtl. die leere Bühne, soweit sie Zeitsprünge symbolisiert, 2. jeder Personenwechsel, verstanden als Auftreten oder Abgehen mindestens einer Person. 67 Oft gehen solche Momente mit der expliziten Szeneneinteilung überein. Aus den Ausführungen Pfisters lassen sich als weitere strukturgebende Elemente 65 Mit dem Prinzip der Fokalisierung wurde oben bereits das Kriterium der Informationsvergabe oder der Wissensvermittlung verglichen, das deshalb hier nicht mehr gesondert beschrieben wird. 66 Das abendländische Drama hat durch seinen Ursprung in den Kulthandlungen der griechischen Antike, wo sich aus Liedern von Chor und Solisten und später Schauspielern erste Tragödien im heutigen Sinne entwickelten, bereits eine gegliederte Struktur durch den Wechsel der chorischen Passagen mit anderen Sprechern erhalten. In den normativen, insbesondere klassizistischen Poetiken wurde das Kriterium der Gliederung in Akte und Szenen festgeschrieben und an weitere Kriterien geknüpft, sich nur teilweise aus der Bühnenpraxis herleiteten (der Auftritt als Szenenwechsel, der Aktwechsel als Vorhang zur Umdekoration, aber auch die Verbindung der Akte mit Stationen der Handlungs- und Spannungsentwicklung). 67 Asmuth, Einführung in die Dramenanalyse. S. 40. 103 <?page no="116"?> eingeschobene Zwischenspiele, Chorlieder sowie die Pause ergänzen. Er weist außerdem auf den Wechsel des Versmaßes als strukturgebend hin. 68 Viele dieser Aspekte sind auf Erzähltexte anwendbar. Da eine explizite Gliederung epischer Texte weniger stark tradiert ist, 69 wird dort die Kapiteleinteilung oder Einteilung in Bücher in der Regel nicht in Erzähltheorien aufgenommen. Selbst Einführungen verzichten oft darauf. 70 Für die Analyse von Dramatisierungen ist die Übernahme oder Veränderung vorhandener Gliederungen von großer Bedeutung, weil mit der Gliederung dramatischer Texte oft funktionale Aspekte verbunden sind. Sie verdeutlichen Orts- oder Zeitwechsel, zeigen eine veränderte Personenkonstellation an oder trennen verschiedene Aspekte der Handlung. Gerade die Art der Verknüpfung der Szenen gibt Aufschluss über Veränderungen der Raum- und Zeitkonstellation, die im Drama mit Blick auf die spätere Aufführung sonst schwer vermittelbar sind. Pfister widmet deshalb der Segmentierung mehrere Teilkapitel seiner Dramentheorie. Dabei unterscheidet er zwischen Sequenzen unterschiedlicher Stufen, je nachdem, ob eine Handlung einer anderen beigeordnet, über- oder untergeordnet ist. Außerdem betrachtet er, ob die Sequenzen unverbunden nebeneinander stehen oder ob und durch welche Art der Beziehung sie verbunden sind. 71 Die Verknüpfung der Sequenzen kann laut Pfister durch verschiedene Interferenzen geschehen. Möglich ist eine „ HANDLUNGS- oder GESCHEHENSINTERFERENZ, bei der eine Handlung oder ein Geschehen der einen Sequenz gleichzeitig eine Handlung oder ein Geschehen in einer anderen Sequenz konstituiert oder auslöst “ . 72 Man kann von kausalen oder konditionalen Bezügen sprechen. Die Verknüpfung kann auch über eine „ ÜBERSCHNEIDUNG DER FIGURENKON- STELLATION “ geschehen sowie über „ SITUATIVE und THEMATISCHE ÄQUIVALENZEN “ , 73 womit auch episodische Texte beschreibbar sind. Begreift man die Gliederung in Bücher und Kapitel als handlungsgliedernde Elemente wie Akte und Szenen, so lassen sie sich mit diesen Kriterien ebenfalls beschreiben. Interessant in der vergleichenden Analyse ist also, wo Gliederungen in den dramatischen Text übernommen und wo sie verändert wurden. Solche Beobachtungen weisen eventuell auf Veränderungen in der Handlung, ihrer Gewichtung oder der kausalen Verknüpfung auf. Über 68 Vgl. Pfister, Das Drama. S. 313 f. 69 Betrachtet man auch Absätze als solche, ist sie ebenso tradiert wie im Drama. Kapiteleinteilungen scheinen weniger verbindlich, was möglicherweise durch den pragmatischen Zusammenhang begründbar ist. 70 Vgl. exemplarisch Martinez und Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 71 Vgl. Pfister, Das Drama. S. 285. 72 Hier und im Folgenden Pfister, Das Drama. S. 289. 73 Ebd. S. 290. 104 <?page no="117"?> die Gliederung kann einzelnen Figuren, Handlungen oder Aussagen eine besondere Bedeutung zugeschrieben werden. Während das Kriterium der Zeit in Erzählanalyse und Dramenanalyse gleichermaßen Beachtung findet, bleibt die Konzeption des Raumes in der Erzähltheorie (nur metaphorisch) bezogen auf die Ebenen der Narration. Für den Vergleich von Dramen und Erzähltexten kann aber von Bedeutung sein, wie das Geschehen im Raum situiert wird. Was in Erzähltexten der Vermittler leistet, kommt auch im Drama oft im Vermittlertext vor: Der Nebentext macht Angaben zum Ort des Geschehens, seiner Größe und Einrichtung, zu Auf- und Abgängen von Figuren, über die sich die Grenzen des Raumes definieren. Die Position der Figuren zueinander und ihr Handeln (besonders Bewegungen) bestimmen den Raum, genau wie die Gegenstände, die dort benutzt werden. Hinweise auf solche Positionen, Aktivitäten oder Dinge im Raum können auch in der Figurenrede vorkommen. Schon der deiktische Verweis auf ein Hier und ein Dort zeigt Raum an; als besonders starke Anzeige von Raum funktioniert innerhalb der Figurenrede das teichoskopische Erzählen. Die Konstituierung des Raumes kann sich also in Erzählungen wie in Dramen unterschiedlich vollziehen; die beiden Hauptgattungen haben dazu gemäß ihren Darstellungskonventionen unterschiedliche Schwerpunkte entwickelt. Im literarischen Text - ob Drama oder Erzählung - findet laut Pfister eine „ Semantisierung des Raumes “ statt, die im realen Raum unserer Lebenswirklichkeit nicht stattfände. 74 Das Drama, das für die spätere Aufführung im realen (Bühnen-)Raum konzipiert ist, impliziert im Nebentext über den Raum der Diegese hinaus einen Bühnenraum, der auch ganz explizit genannt werden kann. 75 Nicht nur der Ort als notwendige Konstante geschehensdarstellender Literatur muss in Drama und Erzählung hergestellt werden, auch die Figuren müssen konstituiert werden. Im literarischen Drama geschieht dies zunächst sprachlich. Angaben können wiederum im Nebentext stehen, sie können sich aber auch in der Rede der Figur selbst oder - ein häufiges Mittel - in der Rede 74 Ebd. S. 339. Die Opposition zum realen Raum ist hier nicht ganz richtig beschrieben. Auch realer Raum trägt Bedeutung, sobald er von Menschen betreten oder auch nur wahrgenommen wird, da er dann immer im Kontext kultureller Praxis erscheint. Genauer wäre es deshalb, in Bezug auf literarische Texte von ‚ ästhetischer Semantisierung ‘ zu sprechen. 75 Zu Bezügen zwischen Raum der Diegese und Raum der Aufführung und dem darin enthaltenen Wertmoment vgl. Birte Lipinski: „ Wenn möglich, bitte wenden. “ Das Roadplay als dramatisches Genre im Spannungsfeld von innerem, äußerem und medialem Chronotopos. In: Literarische Räume. Architekturen - Ordnungen - Medien. Hrsg. v. Martin Huber u. a. Berlin: Akademie Verlag 2012. S. 195 - 208. 105 <?page no="118"?> anderer Figuren finden. Dabei ist entscheidend, durch welches Mittel die Figur eingeführt wird: Ist es eine Selbsteinschätzung der Figur oder eine Fremdeinschätzung durch andere Figuren? Wenn der Nebentext die Figur einführt, wird Beschreibung meist als verbindlicher betrachtet, die Einführung durch andere Figuren wird als subjektive Meinung eher in Frage gestellt. Pfister hat zu den Techniken der Figurencharakterisierung ein Schaubild entworfen, das allerdings die theatrale Umsetzung mit einschließt. Dennoch lassen sich zwei seiner Differenzierungen leicht auf Erzähltexte übertragen, nämlich die zwischen impliziter (optische Darstellung und Handeln) und expliziter (sprachlich beschreibender) sowie zwischen figuraler und nicht-figuraler 76 Charakterisierung. Figuren im Drama werden gern nach Typen geordnet, sie werden als Träger von Handlungsfunktionen beschrieben und in ihrer Konstellation und mit typischen ‚ Konfliktarten ‘ dargestellt. 77 Dies ist wohl weniger den dramatischen Texten selbst geschuldet als einer normativen Gattungstheorie, die Figuren in Dramen als wenig veränderbar, als eine Darstellung des ‚ Allgemeinen ‘ , und Dramen insgesamt als handlungsstark und wenig reflexiv ansieht. Eine solche Figurentypologie kann natürlich nicht alle Dramenfiguren fassen und muss immer ungenau bleiben. Insofern ist sie nicht unbedingt geeignet für eine vergleichende Analyse von Romanen, deren Figuren oft das Gegenteil bescheinigt wird, zumal dieser Aspekt bereits deutlich auf Ebene des Inhalts liegt. In Ansätzen verwendbar, wenngleich ebenfalls vor allem inhaltlich bestimmt, scheint mir hingegen die Idee der Figuren als Träger von Handlungsfunktionen. Dieser Ansatz ist in den strukturalistischen Erzähltheorien behandelt und dort auch entwickelt worden, hat sich aber in der Dramenanalyse durchgesetzt. Bei einer Analyse nach diesen Merkmalen darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei der Zuordnung von Handlungsfunktionen meist um vereinfachende Darstellungen handelt. Einen zentralen Punkt der Dramenanalyse bildet die Untersuchung der Figurenrede. Diese ist in weiten Teilen auch mit erzähltheoretischen Begriffen 76 Pfister nennt diese ‚ auktorial ‘ . Vgl. Pfister, Das Drama. S. 252. Zur besseren Trennung der verschiedenen Aspekte auf Begriffsebene ziehe ich den Terminus ‚ nicht-figural ‘ vor. Die Kategorien zeigen wiederum Nähe zu Genettes Fragen des ‚ wer spricht? ‘ und ‚ wer sieht? ‘ , werden hier allerdings auf ein Spezifikum geschehensdarstellender Texte bezogen, nämlich ihr Personal und dessen Darstellung. 77 Asmuth kombiniert Figurenmodelle von Etienne Souriau und Manfred Pfister. (Funktions-)Typen wären zum Beispiel: die zielgerichtete Kraft, das gewünschte Gut (kann Person, Sachgut oder ideeller Wert sein), der gewünschte Erwerber, der Gegner, der Situationsmächtige, der Helfer und der Informant. Außerdem gebe es Kontrast- und Korrespondenzfunktionen. Vgl. Asmuth, Einführung in die Dramenanalyse. S. 99 f. 106 <?page no="119"?> beschreibbar. Einige Spezifika hat die Dramentheorie zu ergänzen: Dazu zählt die besondere Beachtung der Formen der Rede, ihrer Adressaten und ihrer Funktionen im inneren Kommunikationssystem (also der Diegese) und im äußeren Kommunikationssystem (auf den Rezipienten bezogen). 78 Diese Faktoren gelten auch für die Rede in der Erzählung. Eine Übertragung muss allerdings in Rechnung stellen, dass die Aufnahme im äußeren Kommunikationssystem stark durch die Rahmung der extradiegetischen Vermittlungsinstanz geschieht. Hier kann eine Kombination von Erzähl- und Dramentheorie Kommunikationssituationen in literarischen Texten genauer bestimmen. Rede wird im Drama außerdem als Handlung wahrgenommen, sie sei „ die beherrschende Art des Handelns und zugleich Medium außersprachlicher, z. B. innerer Vorgänge “ . 79 Figurenrede kann also im Vergleich von Drama und Erzähltext in ihrer Handlungsfunktion betrachtet werden, aber auch in ihrem deiktischen Verweis auf außersprachliche Handlungen der Figuren und auf Aussagen als Voraussetzung, Auslöser oder Ersatz von Handlungen. In der Untersuchung der Rede in Dramen hat sich außerdem die Praxis der Betrachtung von Redeanteilen und anderen quantitativen Relationen im Dialog etabliert. Auch diese sind für eine vergleichende Anwendung auf epische und dramatische Texte relevant. Von Interesse für den Textvergleich zwischen Erzählung und Drama können auch Pfisters Überlegungen zur Sukzession der Informationsvergabe sein. 80 Einige der dort verhandelten Aspekte beziehen sich zwar auf bestimmte Typen von Exposition und Dramenschluss, und insgesamt lassen sich viele der behandelten Aspekte mit Genettes Begriffen zu Kategorien der Zeit beschreiben. Was dort in der Regel nicht thematisiert wird, ist der Bezug zur Entstehung von Spannung im Text. Spannung wird hier mit Pfister „ nicht primär als Kategorie des Rezeptionsprozesses im äußeren Kommunikationssystem [. . .], sondern als intertextuelle Relationierung, als ‚ Spannungspotential ‘ des dramatischen Textes selbst “ oder seine „ linearsequentielle Ablaufstruktur “ verstanden. 81 In diesem Sinne lässt sich die Entstehung von Spannung an jedem geschehensdarstellenden Text betrachten. Spannung entstehe nicht im totalen Nichtwissen oder totalen Wissen von Figuren und Rezipienten, sondern realisiere sich immer im Zusammenhang von „ Nichtwissen und antizipierender Hypothese aufgrund gegebener Informa- 78 Vgl. Pfister, Das Drama. S. 151 f. 79 Asmuth, Einführung in die Dramenanalyse. S. 8. 80 Vgl. Pfister, Das Drama. S. 122 - 148. 81 Ebd. S. 142. 107 <?page no="120"?> tion “ . 82 Pfister differenziert weiter zwischen einer Spannung, die auf das ‚ Was ‘ , also auf den Handlungsausgang gerichtet ist, und einer Spannung, die auf das ‚ Wie ‘ , also den Verlauf gerichtet ist - je nachdem, welche Informationen vermittelt werden. Bei Dramatisierungen berühmter Romane ist ein Fokus auf das ‚ Wie ‘ zu erwarten, da der Ausgang einem großen Teil des Publikums bekannt sein wird. Hier wird zu prüfen sein, ob die Dramatisierung deshalb eine andere Folge der Informationsvergabe vornimmt als der Roman. Abschließend seien folgende Thesen zur Anwendung von Erzähltheorie und Dramenanalyse in der vergleichenden Untersuchung von Roman und Dramatisierung formuliert: Die Trennung von Diskurs und Geschichte ist für beide Gattungen grundlegend, sodass sich die Kategorien Genettes, die auf dieser Unterscheidung basieren, recht gut auf das Drama übertragen lassen. Auch einige Dramentheorien nehmen eine solche Trennung vor. Die Kategorie des Erzählers wurde für eine breitere Anwendbarkeit umbenannt in die der ‚ ordnenden und vermittelnden Instanz ‘ . Auf einer intragetischen Ebene bestehen im Drama alle Möglichkeiten, die der Erzähltext hat, denn dort ist Sprache tatsächlich Erzählen. In solchen Fällen erscheint das Erzählen immer als ‚ Akt ‘ des Erzählens, wird also auf Geschehensebene thematisiert. 83 Auf Ebene der extradiegetischen Erzählung tritt ein Vermittler mehr oder weniger explizit auf. Mit der Annahme einer (auch impliziten) Vermittlerinstanz lassen sich die meisten Kategorien, die Genette zur Beschreibung von erzählerischen Phänomenen verwendet, für die Dramenanalyse übernehmen: Problemlos kann dies mit Fragen der Ebene der Vermittlung geschehen, ebenso mit den Kategorien der Zeit. Der Modus, also Distanz und Fokalisierung, bietet sich insbesondere zur Beschreibung episierender Elemente im Drama, aber auch zur Analyse des Nebentextes an. 84 Die Möglichkeiten eines Bruches der Vermittlungsebene und selbstreflexiver Bezüge auf Narration, Gattung oder Medium sind, gerade wenn das Kriterium der späteren Aufführung 82 Ebd. S. 143. 83 Der Fokus fällt damit auf den performativen Akt des Geschichtenerzählens. Da meist andere Figuren im Raum bleiben oder das Publikum angesprochen wird, wird das Erzählen im Drama mit Blick auf die spätere Aufführung auch zu einer sozialen Praktik, die eine bestimmte Funktion für die Beziehung zwischen den Figuren oder der Figur und dem Publikum hat. 84 In der Häufigkeit des Vorkommens und in der Ausprägung bestimmter Kategorien der Erzähltheorie werden starke Unterschiede bestehen. Dies steht einer vergleichenden Analyse jedoch nicht im Weg, sondern kann im Gegenteil Spezifika der verschiedenen literarischen Formen aufdecken. 108 <?page no="121"?> mit einbezogen wird, sehr vielfältig und bedürfen einer genauen Benennung ihres Bezugspunkts. Kombiniert mit der dramentheoretischen Frage nach den Wissensunterschieden und der Sukzession der Informationsvergabe lässt sich auch die intratextuelle Spannung von Dramen und Erzählungen vergleichen. Die Dramenanalyse fokussiert außerdem die Gliederung beziehungsweise Segmentierung von Texten und die Verknüpfung der einzelnen Sequenzen - ein Vorgehen, das auf Erzähltexte teilweise übertragbar ist. Neben diesen Gemeinsamkeiten hat die wechselseitige Überprüfung der Theorien auch gezeigt, dass beide Gattungen unter den denkbaren Darstellungsformen typische oder bevorzugte Techniken der Geschehensvermittlung zeigen. Bei einer so bühnenbezogenen literarischen Form wie der Dramatisierung muss die mediale Mittlerfunktion des Textes besonders berücksichtigt werden. Eine Analyse auf Basis der Erzähltheorie kann bestimmte pragmatische Züge des Dramas nicht fassen und muss spätestens da unzureichend ausfallen, wo der literarische Dramentext explizit auf die Bühnenaufführung verweist. 109 <?page no="122"?> 4. Vergleichende Analysen von Romanen und ihren Dramatisierungen Fünf Romane und dazu schwerpunktmäßig jeweils eine Dramatisierung aus den 2000er Jahren sollen in den folgenden Kapiteln untersucht werden. In einigen Fällen werde ich vergleichend weitere Dramatisierungen hinzuziehen und in unterschiedlicher Ausführlichkeit analysieren. Die Ausführungen beziehen sich auf jene Parameter, die in Kapitel 2 skizziert wurden: auf die Wiederholung in der Intertextualität, den Gattungswechsel und den damit vorbereiteten Medienwechsel sowie das Alteritätsverhältnis zwischen Prätext und Folgetext. Auf der Analyse des Gattungswechsels von der Epik zur Dramatik soll dabei der Schwerpunkt liegen, da dieser dasjenige Kriterium bildet, das ausschließlich für die hier untersuchte Textsorte gilt. Jedes Kapitel verfolgt darüber hinaus einen weiteren Aspekt, der sich an der Form des Prätextes sowie den Spezifika der jeweiligen Dramatisierung selbst orientiert. Das auf den Gattungswechsel und Formkriterien bezogene Vorgehen legt eine Auswahl der Quellen nach der Struktur der Romanvorlagen nahe: Sie sollen spezifische Formen epischen - insbesondere romanhaften - Schreibens abdecken. In Anbetracht der Schwierigkeiten der Gattungstheorie, den Roman als Gattung eindeutig zu definieren, 1 gestaltet es sich nicht einfach, nach formalen Kriterien möglichst ‚ romantypische ‘ Werke auszuwählen. Christian Schärf erklärt gar, „ das einzig sichere Merkmal “ des Romans sei dessen „ permanente Metamorphose “ . 2 Die große Offenheit der Form lässt als noch bestimmbare, gemeinsame Merkmale aller Romane wohl nur zwei zu: den (relativ) großen Umfang der Werke (sowohl pragmatisch über die 1 Vgl. hierzu die Zusammenfassung der Probleme der Romantheorie bei Christian Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2001 (= Sammlung Metzler 331). Insbesondere S. VII-XVI und S. 1 - 21. Schärf greift hier auf Genettes Begriff der „ Architextualität “ zurück, um Merkmale zu finden, „ die dazu beitragen, dass wir einen Roman als solchen erkennen, ohne doch über normative oder poetologisch über das einzelne Werk hinausweisende Kategorien zu verfügen “ (S. 1). Hartmut Steinecke und Fritz Wahrenburg beobachten, dass die Romantheorie weit stärker als die Diskussion über andere Gattungen „ eher induktiv als deduktiv, punktuell als systematisch “ vorgeht. Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Hartmut Steinecke und Fritz Wahrenburg. Stuttgart: Reclam 1999. Hier S. 15. Tatsächlich lassen sich in den in ihrem Band gesammelten Texten kaum systematisch umfassende Theorien oder epochenübergreifend übereinstimmende Merkmalsbestimmungen des Romans ausmachen. 2 Schärf, Der Roman im 20. Jahrhundert. S. XIV. 110 <?page no="123"?> Wortzahl als auch über strukturelle Merkmale wie eine hohe Komplexität und oft attestierbare Mehrsträngigkeit der Handlung ermittelt) sowie die seit dem 17. Jahrhundert weitgehend verbindliche Prosaform. 3 Beide Kriterien sind mit Vorsicht zu betrachten, denn das erste lässt sich nur in Relation zu anderen Gattungen bestimmen und ist außerdem, wie das zweite, diachron unterschiedlich stark ausgeprägt (man denke an das Poesie-Konzept der Romantik, das bewusst eine Verbindung von lyrischen und epischen Formen im Roman vornimmt). Darüber hinaus darf konstatiert werden, dass die Erzählsituation des Romans meist stark von der Mittelbarkeit einer Erzählinstanz geprägt ist. Romanhaftes Schreiben kann am besten induktiv über eine Beschäftigung mit den historischen Ausprägungen der Gattung erfasst werden: Bei Betrachtung der Entwicklung des Romans in den letzten 250 Jahren lassen sich besonders prägnante Formen feststellen, deren Einfluss auf die weitere Gattungsentwicklung und auf die Wahrnehmung späterer Werke als Teil der Gattung Roman unumstritten ist. 4 Denn Gattungskonzepte sind immer als Orientierung im literarischen System anzusehen. Es ist daher angebracht, Werke zu wählen, bei denen sich das Gattungsbewusstsein schon gefestigt hat, die also ohne Frage als Romane rezipiert werden. Die ausgewählten Quellen entsprechen den oben beschriebenen ‚ Minimalkriterien ‘ . Sie sollen weiterhin möglichst unterschiedliche Formen und Inhalte der Gattung vertreten und damit für das Dramatisieren unterschiedliche Potentiale bieten und Herausforderungen stellen. Von Interesse sind deshalb unterschiedliche Arten von Erzählinstanzen und Unterschiede in der Anordnung der Erzählebenen und der Handlungsstränge, außerdem diffe- 3 Diese beiden Kriterien gibt Hartmut Steinecke zur Merkmalsbestimmung der Gattung Roman an: „ Der Roman ist so vielgestaltig, daß den unterschiedlichen Definitionen nur noch die allgemeinen Merkmale der Form und des Umfangs gemeinsam sind. Selbst diese bedürfen der Einschränkung. “ Hartmut Steinecke: Roman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III. Hrsg. v. Jan Dirk Müller gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke u. a. Berlin: de Gruyter 1997. S. 317 - 322. Hier S. 317. 4 Die exemplarische Vorgehensweise macht es unmöglich, alle diese Formen abzudecken. Dennoch soll eine große Varianz erreicht werden. Die spezifische Form des Briefromans ist hier nicht aufgenommen. Mit den Elixieren des Teufels von E. T. A. Hoffmann befindet sich unter den Prätexten aber auch ein Roman, in dem ein schreibendes Ich als Erzählinstanz den Text bestimmt. Im Kapitel 4.1.4.3 werden die verschiedenen Möglichkeiten der Briefübertragung auf die Bühne am Beispiel der Briefe in Buddenbrooks thematisiert. Zu den Dramatisierungen von Goethes Die Leiden des jungen Werther vgl. außerdem die Arbeit von Astrid Kohlmeier: Vom Roman zum Theatertext. Eine vergleichende Studie am Beispiel der ‚ Leiden des jungen Werther ‘ von Johann Wolfgang Goethe. Saarbrücken: Müller 2010. 111 <?page no="124"?> rierende Konzepte von Mimesis und Fiktion sowie eine große Varianz in den innerdiegetischen Zeit- und Ortsstrukturen und in der Form der Redewiedergabe. Dass die gewählten Prätexte diachron eine große Streuung aufweisen, ist auch eine Folge dieser Suche nach Varianz. Alle ausgewählten Romane sind als Werke der deutschsprachigen Romanliteratur sehr bekannt und appellieren geradezu an das Verständnis von einem literarischen Bildungskanon. Diese Zusammenstellung repräsentiert zum einen das häufige Vorkommen von Dramatisierungen zu solchen Prätexten auf den Spielplänen, zum anderen liegt der Vorteil der Auswahl in der Bekanntheit der Stoffe: Die Dramatisierungen werden von der Mehrzahl der Zuschauer vor der Folie des Romans betrachtet und die Frage nach der Eigenständigkeit und Geschlossenheit des Bühnenstücks erhält Bedeutung. Die Wahl ist außerdem in einem Zusatzinteresse begründet, welches diese Arbeit verfolgt: Die Neubewertung der Geschichte im historischen Abstand soll mit in den Blick genommen werden (vgl. Kapitel 2.3). Durch die ‚ Kanonisierung ‘ ist zusätzlich die Frage der ‚ gattungstypischen ‘ Auswahl (siehe oben) berührt, denn die Texte bestimmen das Bild von der Gattung Roman in seiner Vielgestaltig mit und sind deshalb gleichzeitig gute Repräsentanten ihrer Art. Die Auswahl der Dramatisierungen soll die Vielfalt der Bearbeitungsmöglichkeiten zeigen und damit einen Eindruck davon vermitteln, welche Formen der Romandramatisierung aktuell auf den Bühnen im deutschsprachigen Raum vertreten sind. Ich habe darauf geachtet, Autoren unterschiedlicher Art zu präsentieren (Dramatiker, Dramaturgen, Regisseure), außerdem Stücke, deren Rechte in Verlagen vertrieben werden, sowie Bühnenfassungen in engerem Sinne, also spezielle Textgrundlagen für die einzelne Inszenierung. Auch in der Textmenge, in der Anzahl der Figuren und der Art der Narration variieren die Dramatisierungen. Die meisten ausgewählten Dramatisierungen sind seit 2000 entstanden, repräsentieren also die gegenwärtige Praxis. Die Strukturanalyse verfolgt dabei das Ziel, notwendige und mögliche Veränderungen bei der Dramatisierung zu ermitteln und somit die Problemstellung beim Gattungswechsel vom Roman zum Drama zu charakterisieren. Jede Dramatisierung wird deshalb in Bezug zu ihrem Prätext und den Potentialen und Aufgaben, die sich aus dessen Form ergeben, zu betrachten sein. 5 Die erste Analyse gilt dabei der Dramatisierung des Romans Buddenbrooks (1901) von Thomas Mann durch John von Düffel. Diese Adaption gehört zu 5 Zitate aus den Dramatisierungen wurden an die Regeln der deutschen Rechtschreibung stillschweigend angepasst, sofern eindeutige Fehler vorlagen, die den Lesefluss beeinträchtigen. 112 <?page no="125"?> den erfolgreichsten überhaupt, ist 2005 mit großem Zuspruch am Hamburger Thalia Theater inszeniert und anschließend an zahlreichen Bühnen nachgespielt worden. An diesem umfangreichen Prätext mit einer starken auktorialen Erzählinstanz und an seiner Umsetzung als Bühnenstück zeigt sich besonders deutlich die Arbeit an der Übersetzung vom Epischen ins Dramatische. Schwerpunkte der Betrachtung sind deshalb Fragen des Modus der Rede sowie die Übertragung von Passagen, die das Romangeschehen kommentieren (durch Erzählerkommentare, Ironie und Leitmotive). Von Düffels Buddenbrooks werden im Verlag vertrieben und entsprechen trotz epischer Passagen einer recht traditionellen dramatischen Textform. Darin ähnelt die Dramatisierung Thomas Jonigks Adaption von E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels (1815/ 16) aus dem Jahr 2003, die als zweite betrachtet werden soll. Jonigks Drama verfolgt im Kontrast zu dem von Düffels keine psychologische Figurenzeichnung, sondern präsentiert Figuren und Handlungsablauf als hoch artifiziell. Es kulminiert in einer expliziten Thematisierung des Mediums Theater und der erzählten Geschichte. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf dieser Metareferenz und (damit im Zusammenhang stehend) der Übertragung der im Roman angelegten Erzähler- und Herausgeberfiktion. Wiederum in einer Ähnlichkeitsbeziehung und einer großen Differenz schließt sich die nächste Analyse an: Albrecht Hirche legt seine Dramatisierung von Johann Wolfgang von Goethes Die Wahlverwandtschaften (1809) wie Jonigk metareferentiell an. Die Form des Dramentextes allerdings weicht stark von den vorher betrachteten ab. Denn Hirches Drama von 2006 nimmt die Regiearbeit mit auf und ist deutlich als Bühnenfassung zu erkennen. Außerdem soll das komplexe Symbolnetz als Spezifikum der Wahlverwandtschaften und seine Übertragung ins Drama untersucht werden. Auch Frank Castorfs 2001 uraufgeführte Dramatisierung von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929) ist leicht als Bühnenfassung erkennbar und ähnelt hierin Hirches wahlverwandtschaften nach goethe. Im Gegensatz zu dessen recht stringenter Handlungsanlage wird Castorfs Text ausufernd und bricht mit dem Prinzip eines kontinuierlichen Handlungsablaufs und einer steten Bedeutungsentwicklung. Die Form ist einerseits durch die Art der Romanvorlage (mit ihrer Episodenstruktur und dem Mittel der Collage oder Montage) veranlasst, andererseits zeigt sich in ihr Castorfs Handschrift als Regisseur. Die Frage nach Kontinuität und Kohärenz steht deshalb in dieser Analyse im Mittelpunkt. Zuletzt soll ein Roman in den Fokus genommen werden, der auffällig häufig dramatisiert wurde: Theodor Fontanes Effi Briest (1894/ 95). Hier weicht das Vorgehen von den anderen Kapiteln ab, indem acht verschiedene 113 <?page no="126"?> Bühnenadaptionen verglichen werden. 6 Dabei wird besonders die dem Roman inhärente Polyvalenz des Erzählten (mittels impliziter Andeutungen und durch die Motivstruktur) verfolgt. Der vergleichende Ansatz macht zudem die Reaktion auf den historischen Abstand besonders anschaulich, indem Deutungen und Wertungen zum historisch gewordenen Frauenbild und zum Ehrbegriff in verschiedenen Adaptionen gegenübergestellt werden. 4.1 Thomas Mann und John von Düffel: Buddenbrooks (1901 und 2005) Denn obgleich die mündliche Rede lebendiger und unmittelbarer wirken mag, so hat doch das geschriebene Wort den Vorzug, daß es mit Muße gewählt und gesetzt werden konnte, daß es feststeht und in dieser vom Schreibenden wohl erwogenen und berechneten Form und Stellung wieder und wieder gelesen werden und gleichmäßig wirken kann. (Jean Buddenbrook in Thomas Mann, Buddenbrooks, S. 160) Ich muß davon mündlich erzählen, sonst schreibe ich mich tot. (Tony Buddenbrook in Thomas Mann, Buddenbrooks, S. 336) Die vorangestellten Motti sind Teil der in den Roman Buddenbrooks. Verfall einer Familie 7 montierten Briefe und zeigen, dass geschriebenes und gesprochenes Wort ihre jeweils eigenen Qualitäten haben: Der ‚ lebendigen ‘ und ‚ unmittelbaren ‘ Rede, die - darauf verweist ausdrücklich Tony Buddenbrook - große Mengen von Informationen schnell an das Gegenüber zu 6 Die Dramatisierungen stammen von Ulrike Dietmann (1999), Edith Ehrhardt (2003), Matthias Brenner (2005), Maria Grühn (2004), Holger Teschke (2001), Amélie Niermeyer und Thomas Potzger (1999), Reinhard Göber (2004) sowie Sandra Schüddekopf und Alexandra Henkel (2006), sind alle in Verlagen veröffentlicht und werden dort teilweise unter dem Namen Fontane angeboten. 7 In diesem Kapitel werden Zitate aus Buddenbrooks mit der Sigle TM angegeben. Sie folgen der Ausgabe: Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke - Briefe - Tagebücher. Hrsg. v. Heinrich Detering, Eckhard Heftrich u. a. Bd. 1.1. Hrsg. v. Eckhard Heftrich und Stephan Stachorski unter Mitarbeit von Herbert Lehnert. Frankfurt a. M.: Fischer 2002. (Sigle und Seitenzahl finden sich in Klammern im laufenden Text.) 114 <?page no="127"?> bringen vermöge, steht nach Konsul Jean Buddenbrook die sorgfältig gewählte und fixe Ausdrucksform der schriftlichen Mitteilung gegenüber. Diese biete jedoch nicht nur dem Schreibenden, sondern auch dem Leser die Möglichkeit zur Überarbeitung beziehungsweise Relektüre und wirke so mehrfach und ‚ gleichmäßig ‘ . Konsul Buddenbrook überdenkt gerade an dieser Stelle die Wirkung seiner Äußerungen, da dem Ausschnitt die vielleicht berühmtesten Worte des Romans folgen, eine Essenz der Buddenbrook ’ schen Familienpolitik und ein Plädoyer für die Unterordnung der individuellen Bedürfnisse unter die Bedürfnisse der Familien- und Firmengemeinschaft. Er richtet sich in einem Brief an seine Tochter: Wir sind, meine liebe Tochter, nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und ohne nach Rechts oder Links zu blicken, einer erprobten und ehrwürdigen Überlieferung folgten. (TM 160 f.) Jean Buddenbrook wählt die schriftliche Form, um seine Tochter Tony zum Umdenken zu bewegen, ihr seine Meinung anzuempfehlen, wenn nicht gar unter Androhung des Ausschlusses aus der Familie aufzuzwingen. Sie solle ihren Bedürfnissen und Wünschen gegenüber eine distanziertere Haltung einnehmen, und fast möchte man sagen: Der Erzähler des Romans schließt sich diesem Duktus an. Die Darstellung der Geschichte der Familie Buddenbrook ‚ wirkt ‘ , wie es Jean Buddenbrook als Ziel der schriftlichen Form formuliert, in ihrer Schriftlichkeit und gestützt durch eine starke Erzählinstanz ebenfalls in Richtung einer Distanz des Lesers zum Geschehen. Da ereignen sich persönliche Tragödien, Schicksalsschläge und Trauerfälle, doch der auktoriale Erzähler weiß die Tragik und Plötzlichkeit der Ereignisse durch Vorausdeutungen, Komik in der Figurendarstellung und einen relativierenden Blick von außen zu durchbrechen. Er verleiht ihnen die heitere, ironische Note, für die Thomas Manns Roman bekannt wurde. Viele Interpretationen betonen gerade diese distanzierte Form der Darstellung, die auf die Mittelbarkeit des Erzählens angewiesen ist. 8 8 Thomas Mann verweist selbst vielfach auf sein ironisches Erzählen, sodass es nicht weiter verwundert, dass Ludwig Reiners ihm in seiner Stilkunst die Hälfte des Kapitels zur Ironie widmet (S. 668 - 678). Vgl. Ludwig Reiners: Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. Ungekürzte Sonderausgabe. München: Beck 1976. (Die Erstauflage von 1943 enthält noch keinen Abschnitt zu Thomas Mann, der erst in den Auflagen nach Ende des Nationalsozialismus so umfangreich zitiert wird.) In Beda Allemanns Monographie zur Ironie erhält Thomas Mann ein eigenes, besonders umfangreiches Kapitel. Beda Allemann: Ironie und Dichtung. 2. Auflage. Pfullingen: Neske 1969 [1956]. Hier 115 <?page no="128"?> Nichtsdestotrotz sind seit dem Erscheinen des Romans 1901 zahlreiche Adaptionen der Buddenbrooks in verschiedene Medien gewagt worden, die ohne diese Erzählinstanz auskommen müssen. Hörbuch und Hörspiel, die häufig mit Erzählerkommentaren arbeiten, sollen hier nicht weiter berücksichtigt werden. Von Interesse sind die Umsetzungen in Medien, die auf direkte Körper- und Raumdarstellung sowie Dialog angewiesen sind: in Film, Fernsehen und Theater sind mehrere Übertragungen des Stoffes versucht worden. John von Düffel, Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und Autor der populärsten Buddenbrooks-Dramatisierung, hält den Roman nicht wegen der starken Erzählinstanz, sondern vor allem wegen seiner Bekanntheit für einen problematischen Prätext. Er greift die Bezeichnung als „ Bibel des Bürgertums “ 9 auf und erläutert den Prozess des Dramatisierens entsprechend in religiösen Bildern: „ Und uns stand der Angstschweiß auf der Stirn, das war überhaupt keine Nummer Sicher. Die ‚ Buddenbrooks ‘ sind eine heilige Kuh, und wir waren gar nicht sicher, ob die Leute goutieren würden, dass wir sie nicht in Weihrauch hüllen wollten. “ 10 Doch auch die szenische Qualität von Buddenbrooks wird von Literaturwissenschaftlern hervorgehoben. Jochen Vogt baut seine (als exemplarisch präsentierte) erzähltheoretische Analyse des Eingangskapitels von Buddenbrooks auf dem Wechsel von szenisch-dialogischer Darstellung und episch S. 137 - 175. Ulrich Karthaus differenziert zwischen verschiedenen Arten der Ironie in Manns Werken und beschreibt sie als „ die poetische Form der philosophischen Skepsis “ (S. 96), als Erkenntnisweise und Analysewerkzeug. Ulrich Karthaus: Zu Thomas Manns Ironie. In: Thomas Mann Jahrbuch 1 (1988). S. 80 - 98. In Gesamtdarstellungen zum Buddenbrooks-Roman wird die Ironie Manns stets erwähnt. Als Beispiel mag hier Eberhard Lämmert gelten. Eberhard Lämmert: Thomas Mann. Buddenbrooks. In: Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Struktur und Geschichte. Bd. II: Vom Realismus bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf: Bagel 1963. S. 190 - 233. Auf S. 213 beschreibt der Lämmert die Ironie eines auktorialen Erzählers als distanzbildende Objektivierungsmaßnahme. 9 John von Düffel in: Romane, Romane! Prosatexte auf dem dramatischen Prüfstand. In: Theater heute 11 (2008). S. 12 - 15. Hier S. 12. Der Begriff wird durch von Düffel auf Buddenbrooks angewandt. Typischer ist die Betitelung von Gustav Freytags Roman Soll und Haben als ‚ Bibel des Bürgertums ‘ , der mit Buddenbrooks immerhin die ökonomisch-bürgerliche Orientierung gemein hat. Vgl. Sabina Becker: Die ‚ Bibel ‘ des Bürgertums. Gustav Freytags ‚ Soll und Haben ‘ . In: 150 Jahre ‚ Soll und Haben ‘ . Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Hrsg. v. Florian Krobb. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S. 29 - 46. 10 John von Düffel in Romane, Romane! Prosatexte auf dem dramatischen Prüfstand. In: Theater heute 11 (2008). S. 12 - 15. Hier S. 12. Das Bild, welches er für den Stellenwert des Prätextes verwendet, mag dem Leser ebenfalls den Schweiß auf die Stirn treiben - angesichts der in der Einleitung zitierten negativen Bewertungen der Romandramatisierung in den Feuilletons ist seine Sorge allerdings verständlich. 116 <?page no="129"?> beschreibenden Ausführungen auf. 11 Walter Erhart bestätigt gar dramatische Gattungskonventionen als grundsätzliche Strukturmerkmale des Romans; er sei „ gleichzeitig ein Epos, eine Komödie (mit Christian Buddenbrook als ‚ Komödiant ‘ - so wird er eingeführt und tituliert, mit Tony Buddenbrook als komische Figur) und vor allem eine Tragödie (das Leben und vor allem das Sterben der vielen Buddenbrooks). “ 12 Den Anfang in der Reihe der filmischen Adaptionen machte 1923 ein Stummfilm unter der Regie von Gerhard Lamprecht; es folgten der bekannte Zweiteiler von Alfred Weidemann 1959 sowie eine TV-Serie, die 1979 unter der Regie von Hans-Peter Wirth gedreht wurde. Die neueste Verfilmung von Heinrich Breloer erschien 2008 in den deutschen Kinos. 13 Adaptionen des Romans für die Theaterbühne gibt es mindestens drei, von denen jedoch die früheste nie in einem Verlag veröffentlicht wurde: Erstmals wurde 1928 unter dem Titel Visionen im Buddenbrookhaus eine Szenenfolge mit Figuren aus dem Roman aufgeführt. Dazu eingeladen hatte die Gesellschaft Lübecker Kunstfreundinnen, die die Veranstaltung im Buddenbrookhaus in der Lübecker Mengstraße ausrichtete. 14 1976 feierte eine Bühnenfassung von Tadeus Pfeifer 11 Vgl. Jochen Vogt: Thomas Mann. ‚ Buddenbrooks ‘ . München: Fink 1983 (= Text und Geschichte. Modellanalysen zur deutschen Literatur 10). Er erklärt unter anderem: „ Es wird also relativ breit erzählt, und zwar im Wechsel von szenischer (meist: Gesprächs-)Darstellung und übergreifenden Erzählerbeiträgen (Beschreibungen usw.). “ (S. 27) Auch wenn hier das Szenische im Sinne der Erzählanalyse gemeint ist, so ist diesem Begriff doch die Orientierung an dramatischen, theatralen Formen implizit. Genette verweist auf den dramatischen Charakter der mimetischen Darstellungsform und erklärt die Verbreitung der berichteten Rede in der Erzählliteratur mit der langen Vorherrschaft des Dramas und dessen großem Einfluss auf die Epik, insbesondere auf die Geschichte des Romans. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort herausgegeben von Jochen Vogt. 2. Auflage. München: Fink 1998. Vgl. S. 123. 12 Walter Erhart: Thomas Manns ‚ Buddenbrooks ‘ und der Mythos zerfallender Familien. In: Familienmuster - Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur. Hrsg. v. Claudia Brinker-von der Heyde und Helmut Scheuer. Frankfurt a. M.: Lang 2004. S. 161 - 184. Hier S. 164. 13 Einen Überblick über die unterschiedlichen Inhalte der filmischen Adaptionen gibt der Artikel von Britta Dittmann: Buddenbrooks heute. In: Die Welt der Buddenbrooks. Hrsg. v. Hans Wißkirchen. Frankfurt a. M.: Fischer 2008. S. 187 - 249. Die letztgenannte Verfilmung kann dort selbstverständlich nur als kurzer Ausblick einbezogen sein (vgl. S. 221). Dittmann beschreibt auch die Dramatisierungen der Buddenbrooks (ab S. 223). 14 Es handelte sich freilich nicht um eine geschlossene Aufführung des Romans mit Ziel, das ganze Werk abzubilden. Die Umstände der Liebhaberaufführung und ihre Rezeption beschreibt Holger Pils: Die Buddenbrooks-Visionen der Magdalena Müller. Eine Aufführung im Buddenbrookhaus 1928. In: Buddenbrooks. Neue Einblicke in ein altes Buch. Hrsg. v. Manfred Eickhölter und Hans Wißkirchen. Lübeck: Dräger Druck 2000. S. 144 - 153. 117 <?page no="130"?> am Theater Basel Premiere. 15 Regie führte damals Hans Hollmann, die Aufführungsrechte liegen heute beim S. Fischer Verlag, der auch die Rechte am Roman hält. Die Fassung wurde im Anschluss noch 44mal vor ausverkauftem Haus gespielt, anschließend allerdings 33 Jahre lang nicht an anderen Häusern inszeniert. 16 Derselbe Verlag vertreibt die Dramatisierung von John von Düffel, die 2005 am Thalia Theater in Hamburg Premiere feierte und Grundlage der folgenden Analyse sein soll. 17 Von Düffels Adaption wurde im Dezember 2005 vom Verlag in den offiziellen Vertrieb aufgenommen und allein in den vier folgenden Jahren an 24 anderen Häusern inszeniert. 18 Es handelt sich also um ein ökonomisch äußerst erfolgreiches Stück über den ökonomischen Verfall. Die meisten Pressestimmen zur Uraufführung in Hamburg loben die Inszenierung und haben so, neben den bekannten Namen des Prätextes, des Dramaturgen und Autors John von Düffel und des Regisseurs Stephan Kimmig, zur Verbreitung sicher beigetragen. 19 Die Dramatisierung hat auch wissenschaftlich Beachtung gefun- 15 Buddenbrooks von Tadeus Pfeifer nach dem Roman von Thomas Mann. Frankfurt a. M.: Fischer 1977 (UA: Theater Basel am 10. 12. 1976, Regie: Hans Hollmann). Tadeus Pfeifer, geboren 1949 in Freiburg im Breisgau, ist Journalist und Schriftsteller, vornehmlich Lyriker. Die Dramatisierung von Buddenbrooks ist seine einzige dramatische Arbeit. 16 Der Verlag kann hierzu zumindest keine Angabe machen. Erst im Herbst 2009 wurde die Fassung dann am Theater Freiburg unter der Regie von Jarg Pataki und Viola Hasselberg wieder aufgenommen. 17 Buddenbrooks. Nach dem Roman von Thomas Mann von John von Düffel. Frankfurt a. M.: Fischer 2005 (UA: Thalia Theater Hamburg am 3. 12. 2005, Regie: Stephan Kimmig). Zitate aus der Dramatisierung werden in diesem Kapitel im Folgenden mit der Sigle JvD und unter Angabe der Seitenzahl in Klammern im laufenden Text nachgewiesen. John von Düffel war zur Zeit der Entstehung der Buddenbrooks-Dramatisierung Dramaturg am Thalia Theater. Er ist Autor mehrerer Theaterstücke und Romane und hat zudem Lotte in Weimar, die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Doktor Faustus sowie die Tetralogie Joseph und seine Brüder (außerdem Heinrich Manns Professor Unrat) dramatisiert. 18 Der Verlag gibt in den Jahren bis 2009 Aufführungen in Bern, Rendsburg, München (Schauburg), Braunschweig, Bregenz (Festspiele), Darmstadt, Frankfurt, Marburg, Stuttgart (Altes Schauspielhaus), Wien (Theater in der Josefstadt), Dortmund, Düsseldorf, Dresden, Lübeck, Magdeburg, Saarbrücken, Celle, Freiburg, Heilbronn, Krefeld, Nürnberg, Regensburg, St. Gallen und Halle an. (Wo allein der Städtename angegeben ist, wurde das Stück an der jeweiligen städtischen oder staatlichen Bühne aufgeführt.) Eine solche Verbreitung eines Werkes der Gegenwartsdramatik ist äußerst bemerkenswert, denn kaum die Hälfte aller Stücke der Gegenwartsdramatik erlebt überhaupt eine zweite Inszenierung. Die allerwenigsten erreichen mit mehr als zehn Inszenierungen in den ersten Jahren größere Bekanntheit. 19 Das Presseecho auf die Uraufführung war beeindruckend. Die überregionalen Zeitungen veröffentlichten Kritiken, aber auch in vielen regionalen Zeitungen aus ganz Deutschland erschienen Rezensionen zu von Düffels Buddenbrooks. Heftige Kritik äußern lediglich (allerdings von einflussreicher Stelle) Eberhard Rathgeb in der Frank- 118 <?page no="131"?> den: Ortrud Gutjahr organisierte am 23. 4. 2006, also nur wenige Monate nach der Premiere am Thalia Theater, ein Symposium, auf dem sich Literaturwissenschaftler und Theaterschaffende über die Bühnenadaption austauschten. Aus der Veranstaltung ist ein Sammelband mit Aufsätzen und Interviews hervorgegangen. 20 Eine ausführliche vergleichende Textanalyse zu Roman und Drama steht gleichwohl noch aus und soll im Folgenden mit einem Überblick über die übernommenen Handlungsstränge sowie die historische Situierung des Geschehens begonnen werden. 4.1.1 Situierung des Geschehens und Handlungsablauf John von Düffels dramatisierte Version der Buddenbrooks zeitlich einzuordnen, fällt nicht leicht. Dass sich die Ereignisse im Roman mit großer Genauigkeit historisch verorten lassen, zeigt die ausführliche Zeittafel, die Ken Moulden im Buddenbrooks-Handbuch 21 aufstellt: Die Handlung beginnt mit den Feierlichkeiten zur Einweihung des Hauses in der Mengstraße Mitte Oktober des Jahres 1835 und endet mit Gerdas Rückkehr nach Amsterdam im Herbst 1877. Die Vorgeschichte zur Romanhandlung ist in ebenso genauen Daten festgehalten wie die zentralen Ereignisse im Handlungsverlauf. Dazu tragen neben den direkten Angaben durch die Erzählinstanz wesentlich die Daten aus der Familienchronik bei, aus der immer wieder zitiert wird. Die genaue Notiz der Daten rührt nicht von ungefähr: Das historische Denken der furter Allgemeinen Zeitung sowie Lien Kaspari in der BILD-Zeitung. Rathgeb schreibt in einem wahren Verriss über einen langweiligen Theaterabend und eine „ Rodung “ des Romans, die „ nichts Originelles “ hervorgebracht habe. Eberhardt Rathgeb: Da waren ’ s nur noch drei. Hamburger Rodung: Stephan Kimmig inszeniert ‚ Buddenbrooks ‘ am Thalia Theater. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 283 (5. 12. 2005). S. 42. Lien Kaspari beurteilt die Reaktion des Premierenpublikums als „ verhalten “ , das Stück als spannungslos und resümiert: „ Wer den Roman gelesen hat, kann mit dieser Version nicht glücklich sein. “ Ob sich allerdings das Problem des Vergleich mit der Vorlage der Mehrzahl der BILD- Leser stellt, darf ebenso infragegestellt werden wie der Vergleich mit dem Roman als Bewertungsmaßstab überhaupt. Lien Kaspari: Die ‚ Buddenbrooks ‘ im Thalia Theater. Drei Stunden lang vereiste Gefühle. In: BILD (HH) 284 (5. 12. 2005). S. 10. Neben wenigen Artikeln mit leiser Kritik steht ansonsten eine große Zahl von lobenden Kritiken. 20 Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Generation und Geld in John von Düffels Bühnenfassung und Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Hrsg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006 (= Theater und Universität im Gespräch 4). Einige Beiträge widmen sich einzelnen Figuren oder Aspekten des Romans und stellen ihre Thesen nur teilweise in den Kontext der Inszenierung am Thalia Theater. Die Dramatisierung zum Hauptgegenstand hingegen macht der Aufsatz Bernd Hamachers, dessen Thesen unten referiert werden. 21 Ken Moulden: Zeittafel der Familie Buddenbrook. In: Buddenbrooks-Handbuch. Hrsg. v. Ken Moulden und Gero von Wilpert. Stuttgart: Kröner 1988. S. 31 - 35. 119 <?page no="132"?> Familie Buddenbrook scheint (bezogen auf ihre Familiengeschichte) nicht nur einer Buchhalter-, sondern auch einer Sternstunden-Mentalität 22 zu folgen. So wird die Firmengründung durch Johann Buddenbrook am 7. Juli 1768 (vgl. TM 523) als Initiationsmoment gefeiert und seine Fahrt im Vierspänner nach Süddeutschland (die erste Erwähnung findet sich entsprechend zu Beginn des Romans: vgl. TM 14) zum Mythos des Erfolgs und zum Goldenen Zeitalter stilisiert. Im Gegensatz dazu bleiben die Daten in von Düffels Dramatisierung ungenannt. Durch Auslassungen wird ein historischer Nullraum geschaffen, denn auch die Inhalte des Stücks sowie die Wortwahl in den Dialogen geben kaum einen Hinweis auf den Zeitpunkt der Handlung. Um diese ‚ zeitlose ‘ Atmosphäre zu schaffen, verzichtet die Dramatisierung auf die Erwähnung aller politischen Ereignisse, die sich (sozial-)historisch einordnen lassen: Damit entfallen nicht nur die Hinweise auf die napoleonische Besatzungszeit (vgl. TM 30 - 32) und den Beitritt Lübecks zum Zollverein (vgl. TM 43), die für die Einführung in die Firmensituation und -gründung von zentraler Bedeutung sind, sondern auch handlungstragende Elemente wie die Diskussion um das allgemeine Wahlrecht und die „ Revolutschon “ (TM 208) der Lübecker Arbeiter, die im Roman zum wachsenden Ansehen der Buddenbrooks, aber auch zum Tod des alten Kröger beiträgt (vgl. TM Teil 4, Kapitel 2 - 4). Keine Erwähnung finden Morten Schwarzkopfs liberale politische Einstellung (vgl. TM 149 - 152), die Verluste der Firma durch den Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 (vgl. TM Teil 7, Kapitel 8) sowie der Einzug der neuen politischen Ordnung durch die Beteiligung von Mittelständlern im Senat, über die sich Thomas Buddenbrook beschwert (vgl. TM 735). Nicht austauschbar allerdings ist das kapitalistisch-marktwirtschaftlich geprägte Wirtschaftssystem, auf dem die Geschichte beruht, sodass darüber schließlich doch ein vager politisch-gesellschaftlicher Bezug hergestellt ist. 23 Die ahistorische Darstellung geht aber noch weiter, da keinerlei Währung erwähnt wird. Insbesondere in den Mitgiftverhandlungen um Tony fällt die Abstraktion auf: „ Kurz und gut: Die traditionelle Bar-Mitgift für ein junges Mädchen unserer Familie beträgt 70 000. “ (JvD 28) Wo von einem „ Coupé “ (TM 217), gemeint ist eine Kutsche, geredet wird, bleibt nur der „ Wagen “ 22 Den Begriff leite ich von Stefan Zweigs literarischer Miniaturensammlung Sternstunden der Menschheit ab, in der der Autor (allerdings recht subjektiv und eurozentristisch) einen Geschichtsverlauf zeigt, der von bedeutenden Einzelereignissen und meist von bedeutenden Taten Einzelner abhängt. Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1964 (erstmals 1927). 23 Vergleiche zu Kapitalismus und Entzeitlichung auch Anna Kinder: Die Kollateralschäden der Gewinnmaximierung. Das Drama der Buddenbrooks. In: Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Hrsg. v. Franziska Schössler und Christine Bähr. Bielefeld: transcript 2009. S. 299 - 309. Vor allem S. 299 f. und 306 f. 120 <?page no="133"?> stehen (JvD 31), und so scheint die Angabe von Tonys Police in der Familienchronik in Talern als ein nicht intendiertes Relikt. 24 Der sprachliche Ausdruck jenseits solcher zeitgebundener Realien wird im Gegensatz dazu nur selten den heutigen Rezipienten angepasst. 25 Auch eine regionale Verortung der Geschichte findet im Dialogtext kaum statt. Die Mengstraße wird zwar einmal in der wörtlichen Rede erwähnt (JvD 12), insgesamt aber bleibt der Bezugsrahmen der Stadt Lübeck vage, da kaum über Orte gesprochen wird. Zwar wird auch im Roman der Name Lübecks nicht erwähnt, durch die Beschreibungen des Erzählers aber wird die Stadt kenntlich. 26 Eine regionale Verortung in Norddeutschland findet im Drama über die Erwähnung von Städten im Dialog statt: Travemünde und Hamburg werden genannt, München wird als ferne Stadt dargestellt. Der norddeutsche Rahmen wird auch über den Dialekt der Bediensteten Lina thematisiert: „ Ach, Fru Konsulin, ach nee, nu kamen ’ s man flink . . . ach Gott nee, wat heww ick mi verfriert! “ (JvD 49) 27 . Auch einige Stimmen aus dem Off, die die Senatswahl kommentieren, gehen auf Niederdeutsch ins Drama ein (vgl. JvD 74). Dennoch macht das Drama kaum Angaben zu Ort und Räumlichkeiten. Der Nebentext erwähnt nur selten und äußerst sparsam die für die jeweilige Szene notwendigsten Requisiten, liefert jedoch kaum Ortsangaben. Sie erschließen sich, wo es notwendig ist, durch deiktische Verweise innerhalb 24 Das Geburtsjahr (vgl. TM 56) wird ebenfalls ausgespart: "Heute, den 14. April, morgens um 6 Uhr, ward meine Frau Elisabeth, geb. Kröger, mit Gottes gnädiger Hilfe aufs glücklichste von einem Töchterchen entbunden. [. . .] Ich habe meiner Tochter eine Police von 150 Talern ausgeschrieben und eine Mitgift von 80 000 festgesetzt. “ (JvD 5) 25 So wird beispielsweise Jeans Brief an Tony ganz leicht verändert. „ Dein Schreiben ist mir richtig geworden “ (TM 159), wird hier zu: „ Dein Schreiben ist mir zugestellt worden “ (JvD 23). Ein „ mich dünkt “ (TM 161) wird in ein „ mir scheint “ (JvD 24) umgeschrieben. 26 Die Stadt ist an den Namen von Straßen und Plätzen im Roman leicht erkennbar und liefert darüber hinaus auch in der Darstellung der Stadtgeschichte und politischer, geistiger und sozialer Strömungen ein recht genaues Abbild Lübecker Verhältnisse. Manfred Eickhölter betont bei einem Vergleich der Handlung von Buddenbrooks und der Geschichte der Stadt Lübeck, dass sich diese Übereinstimmung vor allem im ersten Drittel des Buches finde. Später emanzipiere sich das Werk deutlich stärker von der Historie, die Situierung in Lübeck werde zur Kulisse, zu einem Stadtbild als „ düstere Phantasmagorie “ . Manfred Eickhölter: Die Stadt Lübeck in ‚ Buddenbrooks ‘ . In: Die Welt der Buddenbrooks. Hrsg. v. Hans Wißkirchen. Frankfurt a. M.: Fischer 2008. S. 61 - 113. Hier S. 113. 27 Hier allerdings spricht nur die Bedienstete einen niederdeutschen Dialekt. Die Angehörigen der Familie Buddenbrook, die im Roman über die Mischung aus regionalem Dialekt und französischen Wendungen gleich zu Beginn in ihrer regionalen Verbundenheit aber auch als Angehörige der gebildeten Bürgertums mit geradezu ‚ feudalen ‘ Ansprüchen charakterisiert werden (vgl. TM 9), sprechen in der Dramatisierung keinen Dialekt. 121 <?page no="134"?> des Dialogs. Da die Handlung vor allem in Innenräumen, wesentlich in den Räumen des Hauses der Familie spielt, 28 das auch nicht wie im Roman gewechselt wird, 29 ist eine regionale Verortung über Kulissen zunächst nicht vorgesehen. Der Nebentext macht kaum Angaben zur Dekoration. 30 Wenngleich die Verortung im Raum schon spezifischer ausfällt als die Verortung der Handlung in der Zeit, scheint ein Ziel der Dramatisierung eine Übertragbarkeit auf die Lebenswelt der heutigen Rezipienten im gesamten Sprachraum. Es findet keine Aktualisierung des Stoffes statt, sondern eine Befreiung von jeglichem historischen Bezug. Diese Lösung aus dem Zusammenhang ermöglicht in der jeweiligen Inszenierung eine Aktualisierung, erzwingt diese aber zunächst nicht. Aktualisiert hingegen erscheinen einige moralische Kategorien, wie die Analyse zu Tony Buddenbrook in Abschnitt 4.1.3 zeigen wird. Auch diese Umwertungen entstehen im Wesentlichen durch Auslassungen, die aber das Frauenbild verändern. Mit der Auslassung temporaler und lokaler Bezugspunkte aber verliert sich auch der Charakter des Zeit- und Gesellschaftsromans, der Buddenbrooks attestiert wird. 31 Die Konflikte erscheinen verstärkt als allgemein menschliche, weniger als historisch gebundene einer spezifischen Epoche. Insofern geht eine Dimension verloren, die wesentlich für die Verfallsgeschichte ist: der Wandel im Bürgertum mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Die Orientierung des Großbürgertums an adligen Lebensverhältnissen, die damit einhergehende Wandlung von Werten und der gleichzeitige Aufstieg von Arbeitern in den Mittelstand wird zum Identitätsproblem, das in Thomas Manns Roman Buddenbrooks thematisiert wird. John von Düffel sieht durchaus eine Nähe zwischen den Inhalten des Romans und der Situation des 28 Ausnahmen bilden die Szenen in Travemünde und einige kurze Szenen, die Christian außerhalb des Elternhauses und ohne starke Einbindung in einen Raum zeigen. Hier bewegen sich die Figuren räumlich, aber auch in ihren Idealen und Zukunftsplanungen aus dem Familienzusammenhang heraus, wenn sie sich gegen die familiäre Ordnung und Planung stellen, wie durch die Dramatisierung anschaulich wird. 29 Hier ziehen Thomas und seine Frau Gerda nach der Hochzeit zunächst in die die Breitenstraße, dann in das neue Haus in der Fischergrube (vgl. TM 326 und 462). 30 Kapitel 4.1.9 zeigt ein Gegenbeispiel: Die Dramatisierung Tadeus Pfeifers schlägt in den Regieanweisungen Kulissen vor, die das Stadtbild Lübecks abbilden. 31 Exemplarisch sei hier Hans Wysling genannt, der von den Buddenbrooks als erstem „ Gesellschaftsroman “ von Weltrang spricht. Hans Wysling: Buddenbrooks. In: Thomas- Mann-Handbuch. Hrsg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart: Kröner 1990. S. 363 - 384. Hier S. 363. Die Interpretation der Buddenbrooks als Gesellschaftsroman mag auch der Deutung des Autors geschuldet sein: Buddenbrooks sei „ ein als Familien-Saga verkleideter Gesellschaftsroman “ , erklärt dieser. Thomas Mann: Zu einem Kapitel aus ‚ Buddenbrooks ‘ . In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke - Briefe - Tagebücher. Bd. 19.1. Essays VI. 1945 - 1950. Hrsg. und textkritisch durchgesehen v. Herbert Lehnert. Frankfurt a. M.: Fischer 2009. S. 354 - 358. Hier S. 356. 122 <?page no="135"?> Theaterzuschauers: Die aktuelle wirtschaftliche Depression, gemeint ist wohl die konjunkturelle Depression der Jahre 2002 bis 2004, führe zu Furcht vor einem sozialen Absturz. 32 In dieser Einschätzung pflichtet Manfred Dierks ihm bei: „ Das Theaterstück Buddenbrooks wäre wohl nicht entstanden und würde nicht gespielt, wenn es nicht über seine historischen Ränder treten sollte - in unsere Gegenwart. Tatsächlich hat es eine erstaunliche Aktualität. “ 33 Als überhistorische Inhalte sieht Hans Wißkirchen drei Themen des Romans: Gültigkeit behielten die Themen Familie und Bruderzwist, derzeit mache vor allem die Frage nach der Bürgerlichkeit die „ Anschlussfähigkeit von Buddenbrooks für den aktuellen Leser “ aus. 34 Letzteres gilt im Falle von von Düffels Dramatisierung stärker für die Inszenierung am Thalia Theater als für den Dramentext selbst, in dem die gesellschaftliche Schicht in den Hintergrund tritt, wie die Figurenanalyse zeigen wird. Bürgerlichkeit zeigt sich erst in der Inszenierung der Uraufführung wieder stärker. In Bezug auf den dramatischen Text lohnt also ein Blick auf die beiden anderen von Wißkirchen isolierten überhistorischen Inhalte: Familie und Bruderzwist. Wer die Buddenbrooks für die Bühne bearbeitet, steht - wie bei jedem umfangreichen Roman - zunächst vor der schwierigen Aufgabe der Kürzung und Auswahl. Fast mag man Tonys eingangs wiedergegebenen Seufzer umkehren: Buddenbrooks muss man schreiben, denn angesichts der Aufführungssituation im Theater ‚ redete und spielte man sich tot ‘ . Eine umfassende Wiedergabe des Inhalts scheint allenfalls in der im Theater kaum vorhandenen Form der ‚ Serie ‘ möglich. Die Bühne erfordert eine massive Kürzung aufgrund der Produktions- und Rezeptionssituation. So wundert es kaum, dass John von Düffel seiner Fassung schon auf der Ebene der histoire klare Grenzen setzt: Die Dramatisierung fokussiert die Generation der drei 32 Vgl. John von Düffel in Romane, Romane! . S. 12. 33 Manfred Dierks: „ Das sind die Nerven “ . Die Krankheit der Buddenbrooks. In: Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Hrsg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006 (= Theater und Universität im Gespräch 4). S. 47 - 57. Hier S. 55. Er erläutert diese Parallele wie folgt: „ Wir erleben gerade die zweite Modernisierung der Moderne, wie damals die Buddenbrooks die erste. Der Kapitalismus beschleunigt sich derzeit noch einmal, er wird zum Turbo, und die Ökonomisierung der Produktion wird vorangetrieben und kennt einen neuen Begriff: Entlassungsproduktivität. Da erinnern wir uns an ein Paradox, das im System selber steckt. Buddenbrooks haben es uns schon vorgeführt, es wiederholt sich heute: Für sein Heil trägt jeder selbst Verantwortung, auch wenn er keine Chance hat “ (S. 55 f.). 34 Hans Wißkirchen: „ Er wird wachsen mit der Zeit. . . “ Zur Aktualität des Buddenbrooks- Romans. In: Thomas Mann Jahrbuch 21 (2008). S. 101 - 112. Hier S. 102. 123 <?page no="136"?> Geschwister Thomas, Christian und Tony 35 und verzichtet somit auf die Wiedergabe großer Abschnitte sowohl des Romananfangs als auch der Schlusskapitel. Insbesondere die Kindheit der Protagonisten und die Figur des Hanno verlieren an Bedeutung. Auch die starke Reduktion des Bühnenpersonals trägt zu einer Straffung bei. Bernd Hamacher fasst ganz im Buddenbrook ’ schen Kaufmannsjargon pointiert zusammen: Was bleibt von 800 Romanseiten in einem sechzigseitigen Bühnenskript? 7,5 % - das ergibt also einen Verlust von 92,5 %. Der Bankrott scheint nicht mehr abwendbar, man sieht förmlich den Intendanten in der Rolle des Bankiers Kesselmeyer, John von Düffel als Bendix Grünlich. Und das Publikum? [. . .] Man prolongiert [. . .]. 36 Er ergänzt: „ Natürlich ist es müßig, aufzuzählen, was alles fehlt. Wer wissen möchte, was in den 92,5 % steht, der lese Thomas Manns Roman. “ 37 Wenn hier im Folgenden die Handlung des Dramas kurz nachgezeichnet wird, wird der Vergleich mit dem Roman zwar auch inhaltliche ‚ Verluste ‘ zeigen, diese werden jedoch nicht als ‚ Soll ‘ verstanden: Thomas Mann gliedert seine Buddenbrooks wohl erst in der Überarbeitung für den Verlag in elf Teile verschiedener Länge, die aus jeweils vier bis fünfzehn Unterkapiteln bestehen. 38 Die Gliederung orientiert sich ab Teil drei überwiegend an familiären Umbrüchen wie Hochzeiten und Todesfällen und bekommt damit eine Struktur, die einen gestuften Verfall aufgrund von Einzelereignissen nahelegt. Die Abschnitte enden zumeist mit einem Ereignis, welches den Verfall vorantreibt. 39 Im Gegensatz dazu nimmt die Bühnen- 35 Das verwundert kaum, sind die drei doch die Protagonisten der meisten Handlungsstränge und begleiten zudem die Handlung von Anfang bis Ende (insbesondere Tony, die nicht nur die Familie zusammenzuhalten versucht, sondern auch strukturell mit ihrem Auftritt im ersten wie im letzten Kapitel des Romans eine verbindende Funktion einnimmt). In diesem Sinne bestimmt auch Georg Wenzel die dritte Generation als die „ eigentliche Trägergeneration des Romans “ , was „ entsprechende Konsequenzen für die Proportionen der Erzählhandlung “ mit sich bringe. Georg Wenzel: Buddenbrooks. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Hrsg. v. Volkmar Hansen. Stuttgart: Reclam 2005 (= Interpretationen). S. 11 - 46. Hier S. 25. 36 Bernd Hamacher: „ Ich kenne euch, seit ich denken kann “ . Familie und Kultur in ‚ Buddenbrooks ‘ - bei Thomas Mann und John von Düffel. In: Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Hrsg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006 (= Theater und Universität im Gespräch 4). S. 61 - 74. Hier S. 65. 37 Ebd. 38 So schlussfolgert Ken Moulden unter Berufung auf den Brief Thomas Manns an Paul Ehrenberg vom 26. 05. 1901. Ken Moulden: Die Genese des Werkes. In: Buddenbrooks- Handbuch. Hrsg. v. Ken Moulden und Gero von Wilpert. Stuttgart: Kröner 1988. S. 1 - 9. Hier S. 8. 39 So endet der dritte Teil mit Tonys Hochzeit mit Grünlich und Thomas ’ Absage an seine Jugendliebe Anna (in Thomas Manns Roman Teil 3, Kapitel 14 und 15), der vierte mit 124 <?page no="137"?> adaption mit Blick auf die Aufführungssituation eine Teilung in lediglich zwei große Abschnitte vor, schlägt also eine Pause nach dem Tod des Konsuls vor. Der erste Akt beginnt mit einer Szene mit deutlich expositorischen Charakter (I.1), in der in einem Dialog der drei Geschwister beim Blick in die Chronik Inhalte aus den ersten beiden Teilen des Romans wiedergegeben werden. Anschließend befasst sich der erste Akt wesentlich mit der Geschichte Tonys und somit mit den Teilen drei und vier des Romans. Mit wenigen Unterbrechungen werden Grünlichs erster Besuch, sein Heiratsantrag, der Druck der Eltern auf Tony und der Aufenthalt in Travemünde geschildert. Dem Brief des Vaters folgt Tonys quasi proleptischer Eintrag ihrer Verlobung in die Chronik. Die weiteren Szenen des ersten Teils zeigen wesentlich das Scheitern der Ehe und Grünlichs Entlarvung. Doch auch Thomas wird über Monologe als Geschäftsmann (I.3, I.6, I.20) und in seinem Verzicht auf Anna (I.11) - und somit in Parallele und Gegensatz zu Tony - eingeführt. Christian taucht kaum auf. Wie stark er bereits außerhalb der Familie steht, belegt seine häufige Abwesenheit im ersten Akt. Teil der dialogischen Szenen mit mehreren Sprechern ist er nur in der Exposition und während Grünlichs erstem Besuch bei der Familie; anschließend tritt er lediglich mit Monologen auf, in denen er als Entertainer eingeführt wird: In Szene I.8 imitiert er Dichter Hoffstede bei der Rezitation des Gedichtes zur Einweihungsfeier in der Mengstraße, in Szene I.15 singt er in einem Londoner Club eine Ballade anzüglichen Inhalts, die der Verfilmung von 1959 entstammt. Der erste Teil schließt mit dem Tod Jean Buddenbrooks, und Christian kündigt nach einem - so die Regieanweisung - absurden Tanz mit den Worten: „ Ich muss nach Hause. . . “ (JvD 50), das zentrale Problem des zweiten Aktes an. Der Kenner des Romans sieht den Konflikt der Brüder herannahen. Der zweite Akt setzt mit der Übernahme des Geschäfts durch Thomas ein. Noch während der Trauerzeit erfolgt die erste Aufrechnung des Firmenvermögens. Das neue Familienoberhaupt etabliert sich als Firmenoberhaupt. Dem entgegengesetzt wird ein längerer Monolog Christians über seine Krankheiten und seine Liebe zum Theater; die zwei Szenen konstruieren sogleich eine Opposition zwischen den Brüdern. In den insgesamt 22 Szenen des zweiten Aktes werden nun zunächst kühl und wortkarg Gerdas Ankunft, Tonys Scheidung (Teil 4, Kapitel 10) und dem Tode Jeans (Teil 4, Kapitel 11). Teil sechs schließt mit Tonys zweiter Scheidung von Alois Permaneder (Teil 6, Kapitel 11), Teil sieben mit dem Tod Claras (Teil 7, Kapitel 7) und herben finanziellen Verlusten durch den Krieg (Teil 7, Kapitel 8). Den achten Teil beendet Weinschenks Verhaftung (Teil 8, Kapitel 9), den neunten der Verkauf des Elternhauses (Teil 9, Kapitel 4). Thomas ’ Beerdigung schließlich steht am Schluss des zehnten Abschnitts (Teil 10, Kapitel 9), der elfte Teil wird mit dem Tod Hannos abgeschlossen (vgl. v. a. die Typhusepisode in Teil 11, Kapitel 3). 125 <?page no="138"?> dann in einer komödiantischen Szene Tonys neuer Verlobter Alois Permaneder eingeführt. Zwischen diesen Szenen ist die erste, schon im Roman überwiegend dialogische Streitszene zwischen den Brüdern eingefügt (II.8). Lautstarke Konflikte bestimmen immer mehr die zweite Hälfte des Dramas: Der zweite große Disput der Brüder überschattet die Geburt Hannos (II.12), der dritte folgt zwischen Thomas und Tony nach dem Betrug durch Permaneder (II.13), der vierte (nach einer kurzen und textlosen 14. Szene) fast übergangslos in II.15 zwischen Thomas und seiner Mutter über Erbschaftsfragen. In diese Streitigkeiten platzt Tony mit dem Hinweis auf das hundertjährige Firmenjubiläum (vgl. JvD 86). Die Diskrepanz veranlasst Thomas zur Selbstreflexion und leitet eine kleine Szenenfolge ein, die insgesamt stärker durch Innerlichkeit geprägt ist. Es folgt der berühmte Monolog über das Leben als Schein und Rollenspiel, der mit dem Kernsatz: „ Ich bin ein Schauspieler “ (JvD 88), auf der Bühne eine neue Konnotation erhält (vgl. Kapitel 4.1.7 zu den Metareferenzen). Der Tag des Jubiläums (II.17) ist reduziert auf Hannos Vortrag des Gedichts, eine Szene, die der Aufführungssituation sehr entgegenkommt, da es sich selbst um eine Aufführung handelt. Ein weiterer großer Monolog Thomas ’ , der die Schopenhauer-Episode wiedergibt, (II.19) folgt. Der Tod der Konsulin wird ausgespart; die Handlung setzt erst mit dem Streit der Geschwister um die Erbschaft ein, in dessen Verlauf Christian seine bevorstehende Heirat verkündet (vgl. JvD 95). Der Streit der Brüder eskaliert. Nach Christians Abgang schlägt Thomas vor, das Elternhaus an Hagenström zu verkaufen (vgl. JvD 101) und beginnt damit sogleich die nächste Auseinandersetzung, diesmal mit seiner Schwester. Das Ende der Düffel ’ schen Buddenbrooks folgt nun erstaunlich schnell und unter Auslassung weiter Passagen des Romans: Eine kleine Szene zeigt Hanno, der vor der Tür Wache hält, während sein Vater sein Testament schreibt. Damit zusammengefasst wird Thomas ’ Entdeckung des abschließenden Doppelstrichs Hannos unter dem Stammbaum der Familie. Lediglich in einem letzten Monolog Christians wird der Tod Thomas Buddenbrooks erwähnt, indem Christan seinem Bruder aus der „ Zelle der Psychiatrie “ (JvD 106) heraus seinen Respekt ausspricht, weil dieser im Tod Achtung vor seinen Leiden erreicht habe. Die Auswahl der Handlungsstränge verwundert wenig: Dialogische Passagen und Konfliktsituationen bestimmen das Drama und werden immer wieder durch kurze Monologe unterbrochen, welche die Motive und Gefühle der Protagonisten offenlegen. Wenngleich die Szenen meist den Dialogen des Romans direkt folgen, erscheint das Handeln gerade in der zweiten Hälfte in dieser Ballung wesentlich offensiver, als es der Roman suggeriert. Die 126 <?page no="139"?> Zusammenfassung der Szenenfolge hat eine weitere Veränderung offenbart: Während der Roman strukturell vor allem über Wiederholungen und Leitmotive eine zirkuläre Bewegung des Geschehens suggeriert, betont das Drama die (auch im Roman vorhandenen) binären Oppositionen. Zweierkonflikte werden übernommen und Figuren kontrastiert. Letzteres gilt nicht nur für Thomas und Christian, sondern auch für andere Konstellationen: Thomas ’ und Tonys unterschiedlicher Umgang mit ihren nicht standesgemäßen Geliebten oder die parallele und doch so unterschiedliche Einführung von Gerda und Alois Permaneder als Ehepartner sind nur zwei Beispiele. Auch der häufige Wechsel von innerem Monolog und offenem Handeln stärkt diese polaren Strukturen. Die zirkulären Handlungsläufe des Romans wandeln sich durch den Verzicht auf die Wiederholung einzelner Elemente (wie die wiederkehrenden Darstellungen des Weihnachtsfests oder die Aufenthalte in Travemünde) und durch die Beschränkung auf eine einzige Generation zu einer weitgehend linearen Folge. Gerade die Leitmotivtechnik, die „ mit gutem Recht als ein schwer verwechselbares Kernstück von Thomas Manns Erzählkunst gilt “ 40 , tritt erst durch die Ausführlichkeit des Romans so augenscheinlich zu Tage. Im Drama sieht sie sich auf wenige Sätze des Sprechtextes beschränkt; diese Nennungen werden nur Kenner des Romans als Rekurs auf die Leitmotive wahrnehmen. Dass die Dramenfassung auch ohne Kenntnis des Romans durchgängig verständlich sei, lässt sich kaum behaupten. Wesentliche (weil handlungstragende) Informationen werden teilweise im Nebensatz innerhalb der Dialoge, teilweise auch gar nicht gegeben. 41 Der sparsame Einsatz von Nebentexten tut dazu ein Übriges. 42 Ein Beispiel für eine ohne Romankenntnis nur vage deutbare Passage stellt Thomas ’ Monolog dar, der Textteile aus dem Abschiedsgespräch zwischen Anna Iwersen und ihm (TM 182 - 184) zusammengestellt. Thomas spricht die Abschieds- und Trostworte ohne Gegenüber, als würde er sie für das kommende Gespräch erproben. Dass es sich um eine 40 Vogt, Thomas Mann. Hier S. 125 f. 41 Wer beispielsweise das Gedicht Hoffstedes nicht kennt, wird durch den kurzen Hinweis im Dialog zwischen Tony und Thomas (JvD 4) nicht ausreichend darauf fixiert sein, um es in Christians Vortrag einige Szenen später wiederzuerkennen (JvD 16 f.) Zudem gibt der Nebentext an, Christian würde Hoffstede parodieren. Hoffstede tritt jedoch nicht auf; die Vorstellung kann kaum als Parodie erkannt werden, wenn der Rezipient von Hoffstede und der Art seiner Rezitation nur aus einer kurzen Erzählung weiß. 42 So gibt es keine Regieanweisung zum Kuss zwischen Morten und Tony (entsprechende Passage im Roman: TM 158), wenngleich die auffordernden Worte: „ Wollen Sie mir daraufhin nicht. . . Darf ich das nicht . . .bekräftigen? “ (JvD 21), durchaus aufgenommen sind. 127 <?page no="140"?> recht dauerhafte, nicht standesgemäße Verbindung und um ein Geheimnis handelt, bleibt ungewiss; folglich steht auch der Kontrast zu Tonys Verhalten in ihrer Liebe zu Morten infrage. Diese Auslassungen verdeutlichen, dass Dramatisierungen keine Lesefassungen sind. Die Inszenierung wird die Leerstellen problemlos füllen und so das Verständnis sichern, denn die Regie kann sich am Roman orientieren. Im Falle der Hamburger Inszenierung, für die das Stück geschrieben wurde, gilt außerdem, dass hier Regisseur und Autor bei der Erstellung des Textes in engem Austausch standen. 4.1.2 Figurenauswahl und Figurenzeichnung Die Dramatisierung trifft, wie bereits erwähnt, die grundsätzliche Entscheidung, vor allem die Generation der drei Geschwister herauszuarbeiten. Alle anderen Figuren werden im Drama zu Nebenfiguren, da sie nur in einem Teilabschnitt, unregelmäßig und mit wenig Redeanteil auftreten. 43 Neben Thomas, Tony und Christian kommen deren Eltern, der Konsul und die Konsulin, und die Beziehungspartner Grünlich, Morten, Permaneder und Gerda vor. Grünlich bestimmt den ersten Akt wesentlich mit, die anderen genannten Figuren haben geringeren Anteil an der Bühnenhandlung. In weiteren Nebenrollen werden Hanno (als Kinderrolle), Bankier Kesselmeyer, der Leutnant (als eine Legierung aus Klavierlehrer Pfühl und Gerdas vermeintlichem Liebhaber Leutnant Throta) und die Bedienstete Lina eingeführt. 44 Einige Figuren treten zwar nicht auf, werden aber in den Dialogen namentlich genannt. Roman und Dramatisierung stimmen zum Beispiel in der Darstellung Aline Puvogels auf diese Weise überein. „ [Dieses] Frauenzimmer “ (TM 640) wird auch im Roman stets durch die Rede der anderen 43 Sieht man sich den Redeanteil und die Anwesenheit auf der Bühne an, so ist Tony in höchstem Maße präsent. Aber auch qualitativ hat sie an fast allen entscheidenden Konflikten Teil. In der Dramatisierung ist es unbestreitbar, dass Tony zu den (drei) Hauptfiguren gehört - während ihre Wichtigkeit in Forschungsarbeiten zum Roman unterschiedlich beurteilt wird. So sieht Lämmert in ihr „ keine Hauptfigur des Romans “ , dafür aber „ eine der perfektesten Chargenfiguren, die ein deutscher Romanautor ersonnen hat “ . Lämmert, Thomas Mann. Buddenbrooks. S. 194. Tonys Geschichte sei „ keine Nebenhandlung, sondern ein integraler Teil des Dekadenzromans “ , entgegnet Herbert Lehnert: Tony Buddenbrook und ihre literarischen Schwestern. In: Thomas Mann Jahrbuch 15 (2002). S. 35 - 53. Hier S. 37. 44 Lina - das verrät schon die Namensähnlichkeit - entspricht am ehesten der Bediensteten Line, die im Roman den toten Jean Buddenbrook entdeckt (TM 271). Dass die Personalauswahl des Dramas noch weiter reduzierbar ist, zeigt die Uraufführung am Thalia Theater in Hamburg, die zudem auf Permaneder und den Leutnant komplett verzichtet. Letzteres führt zwangsläufig auch zu einer weiteren Reduktion der Rolle Gerdas. 128 <?page no="141"?> (also figural) charakterisiert und tritt kaum auf. Viele der anderen Figuren, die in der Dramatisierung lediglich als Namen im Gespräch erwähnt werden, kommen im Roman hingegen durchaus handelnd vor. Tonys Tochter Erika hört man in der Dramatisierung lediglich einmal im Off schreien (vgl. JvD 30), der Großvater Johann Buddenbrook wird ein paar Male in rückwärtsgewandter Sicht auf die guten Zeiten genannt, Hagenströms als Widersacher „ [seit] Urzeiten “ (JvD 102) werden vor allem im Hinblick auf die Konkurrenz bei der Senatswahl und beim Verkauf des Hauses in der Mengstraße zum Gegenbild. Die beiden letztgenannten erscheinen so gleichsam als sinnstiftende Schwarzweißbilder des guten weil traditionellen und des neuen, unehrenhaften Geschäftsmannes und werden zu den beiden Polen, an denen sich die Familien- und Firmenpolitik der Buddenbrooks orientiert. An Präsenz verlieren sie dennoch, denn die zahlreichen Episoden um den Konkurrenzkampf mit Hagenströms, der über die Generationen weitergeführt wird, 45 bleiben durch die anekdotische Form im Roman weit besser in Erinnerung als durch die abstrakte Erwähnung von Namen ohne eigene Geschichte im Dialogtext des Dramas. Dasselbe gilt für die Figur des Großvaters, dessen Fahrt im Vierspänner nach Süddeutschland als Gründungsmythos des Erfolgs der Firma im Roman mehrfach wiederholt, im Drama aber nicht erzählt wird (vgl. TM 40). Die Familie wird durch die Reduktion des Personals kleiner; der Zweig der Krögers, Clara sowie der gesamte Familienzweig aus der ersten Ehe Johann Buddenbrooks tauchen in der Dramatisierung nicht auf. Besonders die Figuren außerhalb der Familie werden radikal dezimiert. Zu nennen sind hier Geschäftsmänner wie Peter Döhlmann, die Kistenmakers oder auch Prokurist Marcus ebenso wie Doktor Grabow, die Pastoren Kölling und Pringsheim oder Hannos Jugendfreund Kai Graf Mölln. Die arbeitende Bevölkerung wird (abgesehen von der Bediensteten Lina) nicht gezeigt: Figuren wie die Familie Morten Schwarzkopfs oder Arbeiter Grobleben sowie die verschiedenen Bediensteten werden nicht genannt. Damit entfallen insbesondere Figuren, durch die der Roman ein Gesellschaftsbild der Zeit malt. Sowohl die relative ‚ Zeitlosigkeit ‘ der Geschichte (siehe 4.1.1.1) als auch die Reduktion der Figuren führen dazu, dass sich das Genre ändert: Der Zeit- und Gesellschaftsroman wird zum Familiendrama. Dass bei einer derartigen Reduktion des gesellschaftlichen Umfelds und der historischen Dimension das Thema Bürgerlichkeit noch eine so zentrale Rolle spielen kann, wie John 45 Die anekdotischen Erzählungen zeigen beispielsweise, wie sich der Konkurrenzkampf auf die Kinder überträgt. Auf einprägsame Weise wird beispielsweise geschildert, wie Tony den jungen Hermann Hagenström ohrfeigt, der sie mit einer „ Citronensemmel mit Gänsebrust “ um einen Kuss erpresst (TM 68 f.). 129 <?page no="142"?> von Düffel behauptet, darf bezweifelt werden - das Bürgertum bildet zumindest in der Textfassung eher den Hintergrund für andere Konflikte. Aber nicht nur durch solch deutliche Auslassungen verändert sich die Aussage des Textes. Aus der Dramatisierung, die den Ersatz oder die Umverteilung der Erzählerworte sowie Kürzungen der Dialoge verlangt, folgt auch dort eine Veränderung der Figurenzeichnung, wo wesentliche Dialogteile und Handlungen einer Figur übernommenen werden. Hier sind die drei Geschwister Buddenbrook als Analysegegenstand interessant. Während Grünlich und Permaneder, die schon im Roman in ihrer Lächerlichkeit dargestellt werden, sich als Komödienfiguren 46 sehr gut eignen und als solche ins Drama eingehen (vgl. auch Kapitel 4.1.7), gestaltet sich eine Übertragung der drei Hauptfiguren komplex: Denn sie werden im Roman durch Erzählerkommentar, eigenen Dialog und Fremdsicht auf verschiedene Weise dargestellt. Autor von Düffel erklärt zu Recht, eine Figur gerate möglicherweise „ in ein ganz anderes Zwielicht, nur durch die Transponierung in die wörtliche Rede “ . 47 Da die Figurenzeichnung ganz wesentlich mit Fragen der Darstellungsmöglichkeiten und -strukturen, der Auswahl der Handlungsausschnitte und Motive sowie den intermedialen Bezügen verknüpft ist, soll die Zeichnung der Hauptfiguren jeweils exemplarisch in Zusammenhang mit den Analysen dieser Aspekte geschehen. Hierzu wird im Folgenden (4.1.3) zunächst der Wegfall und teilweise Ersatz der Erzählstimme untersucht und beispielhaft vor allem anhand der Darstellung Tonys nachgezeichnet. Abschnitt 4.1.4 untersucht die monologischen Elemente der Dramatisierung, die der epischen Darstellung besonders nahestehen. Anhand der Figur des Thomas zeigt sich die Art der Transposition des Grund- und Titelmotivs des Romans, der Verfall durch die zunehmende Innerlichkeit der Figuren; über die Wiederholungsstrukturen des Romans verknüpfen sich hier Fragen der Erzählweise mit inhaltlichen Aspekten (4.1.5). Christian schließlich wird im Abschnitt 4.1.6 im Zusammenhang mit intermedialen Bezügen der Dramatisierung näher charakterisiert. Weitere Passagen, die zwar nicht in Bezug 46 Schon die im Roman präsentierte Körperlichkeit der beiden Ehemänner Tonys trägt starke Züge von Komödienfiguren. Ihre Darstellung wird Teil der Inszenierung bleiben müssen. Doch auch die direkte Rede der Figuren offenbart diese Ausrichtung: Grünlich wird durch seine gestelzte Ausdrucksweise, Permaneder durch seinen Dialekt karikiert (vgl. insbesondere den ersten Besuch Grünlichs und die Parodie durch Christian, TM 102 und 108, sowie Permaneders Aufwartung bei der Konsulin, TM 325 - 327). Diese ‚ dramenfreundliche ‘ Figurenzeichnung durch Sprache wird von John von Düffel in die Adaption übernommen (JvD 8 - 11 und 68 - 71). 47 John von Düffel in Romane, Romane! . S. 14. 130 <?page no="143"?> auf die jeweilige Figur, aber zu den thematisierten Formelementen stehen, werden dabei zur Ergänzung herangezogen. 4.1.3 Erzählerkommentare und die Darstellung der Tony Buddenbrook: von der ‚ Gans ‘ zur tragischen Figur Ähnlich wie Jochen Vogt aus erzähltheoretischer Sicht betont John von Düffel aus der Perspektive des Dramatikers die szenische Qualität von Buddenbrooks: Eine Entdeckung war, wie szenisch Thomas Mann geschrieben hat. Die Szenen liegen zeitlich weiter auseinander, es gibt wichtige Teile, innere Monologe von Thomas Buddenbrook zum Beispiel, Beschreibungen, etwa wenn der Konsul stirbt, die sich dem entziehen. Aber das szenische Gerüst ist da, und es ist von Thomas Mann. 48 Tatsächlich bietet der Roman große Redepassagen, die eine Dramatisierung als leichtes Unterfangen erscheinen lassen. Von Düffels Drama übernimmt wörtlich lange Dialoge, von denen gerade, wie oben erläutert, die Streitgespräche zwischen Thomas und den übrigen Familienmitgliedern im zweiten Akt der Dramatisierung Gewicht haben. Sie sind, ebenso wie die wortreichen Auftritte Grünlichs, bereits szenisch angelegt. Die genannten Passagen zeichnen sich durch eine mimetische Qualität aus: Die Erzählinstanz tritt zugunsten des direkten Redezitats zurück, die narrative Geschwindigkeit gleicht sich der erzählten Zeit an und die Darstellung erfolgt damit unmittelbarer. Wo allerdings die erzählerische Struktur einer Passage besondere Bedeutung verleiht, sind Veränderungen nicht zu umgehen. Exemplarisch soll hier am Kapitel vier des siebten Teils gezeigt werden, wie schon aus der Auslassung der Erzählerkommentare eine veränderte Wirkung des Geschehens resultiert. Es handelt sich um den Tag der Senatswahl: Thomas Buddenbrook ist gegen Widersacher Hagenström und den Geschäftsmann Kistenmaker als Kandidat für das Senatorenamt aufgestellt. Die Dramatisierung überschreibt die entsprechende Szene II.10 mit der Angabe: „ Stimmengewirr, kurz vor der Wahl “ (JvD 74). Es folgt ein Dialog mindestens zweier Figuren, der vermutlich aus dem Off kommt, denn Sprecher sind nicht angegeben und auch das Figurenverzeichnis lässt hier keine Rückschlüsse zu. Man diskutiert in niederdeutschen Dialekt die Vorzüge und Nachteile der Kandidaten. Der Dialog ist dem Roman wörtlich entnommen. Bei Thomas Mann allerdings wird eine Frauenfigur beschrieben, die unruhig zwischen den Wartenden steht und die Gespräche mithört. Anhand der Beschreibung erkennt der Leser 48 Ebd. S. 13. 131 <?page no="144"?> Tony Buddenbrook; genannt wird ihr Name indes nicht, sie steht anonym unter dem Volk und muss unter anderem hören, dass ihre Scheidung gegen eine Wahl ihres Bruders zum Senator spräche: „ . . .Die Dame im Abendmantel erbebt. . . “ (TM 456) und beginnt fast zu weinen, als das Gerücht in Umlauf kommt, Hagenström sei gewählt (vgl. TM 458). Als die gute Nachricht der Wahl ihres Bruders die Runde macht, läuft sie, „ wie eine Dame sonst eigentlich nicht läuft “ (TM 458 f.), in die Mengstraße, um die Entscheidung zu verkünden. Die Passage akzentuiert den Druck, der auf Tony lastet, sowie ihre kindliche Freude über die Wahl. Die raffinierte Erzählhaltung, die zwar Einblicke in Tonys Denken erlaubt, sie aber in der Anonymität der Menge unerkannt lässt, bietet ein mehrschichtiges Bild des Geschehens an. Hier muss die Dramatisierung deutlich zurückstehen. Passagen wie diese, die so stark durch die Mittelbarkeit des Erzählens strukturiert sind, müssen fast zwangsläufig in der dramatischen Umsetzung verlieren. Eine geschickte Inszenierung kann etwas von dieser Qualität zurückholen, durch das körperliche Auftreten der Figuren wird sie aber die oben beschriebene Schwebelage, in der sich der Leser bis zum Erkennen der Figur befindet, nicht herstellen können. Wenn von Düffel also wiederholt seine Treue zum Romantext von Thomas Mann betont 49 und programmatisch verkündet: „ Jedes Wort ist Thomas Mann “ , 50 so hat er nur teilweise recht. Zwar lassen sich alle Dialoge am Roman nachverfolgen; ihre Montage zu neuen Szenen allerdings, die Übernahme von Redepartien gestrichener Figuren durch das Personal der Bühnenfassung, der Wegfall der Erzählerbeschreibungen oder deren Übergang in die direkte Rede sowie das Einfügen von Regiebemerkungen stellen die Worte in einen neuen Kontext. So entstehen teilweise deutliche Umakzentuierungen der Figuren und Worte, die dann doch ‚ John von Düffel sind ‘ (um 49 Der Autor erklärt dies in mehreren Zeitungsinterviews und muss sich entsprechend auch in einer Pressekonferenz geäußert haben, da sich mehrere Zeitungen mit ähnlichem Wortlaut darauf berufen. Exemplarisch sei hier aus zwei Interviews zitiert. „ Ich habe an Thomas Manns Sprache nichts geändert, ich habe nur komprimiert “ , erklärt von Düffel gegenüber dem Hamburger Abendblatt. Die Redakteurin hält dies für so wesentlich, dass sie es als Titelzitat wählt. Susanne Oehmsen: ‚ Nichts geändert, nur komprimiert ‘ . Wie bringt man den Jahrhundertroman auf die Bühne? Ein Gespräch mit John von Düffel. In: Hamburger Abendblatt (28. 11. 2005). Auch gegenüber der Welt stellt von Düffel heraus, es gäbe keine „ Fremdtexte “ , im Gegenteil: „ Es ist hundertprozentig Thomas Mann. Die dramatische und dramaturgische Arbeit war nicht das Finden von Sprache, die ist bei Thomas Mann unübertrefflich. “ Monika Nelissen: Dichtung ist Verdichten von Geschichten. John von Düffel wagt sich an die Dramatisierung des Romans ‚ Die Buddenbrooks ‘ am Thalia Theater. In: Die Welt (30. 11. 2005). 50 John von Düffel zitiert in der Rezension von Paul Barz: Um Geld dreht sich doch alles. In: Welt am Sonntag (27. 11. 2005). 132 <?page no="145"?> der Formulierung des Dramatikers zu folgen) und ganz eigene Qualitäten mit sich bringen. Ein besonders gutes Beispiel dafür bietet die Figur der Antonie Buddenbrook. Denn, so stellt John von Düffel fest, sie ist die „ von Thomas Mann am meisten mit Ironie behandelte Figur “ 51 des Romans. Die familiäre Kontrolle, von der der Dramatiker schreibt, stützt sich also auf eine erzählerische Kontrolle durch die Kommentare der Erzählinstanz. Gerade die Form der Redewiedergabe hat starken Einfluss auf die Darstellung des Geschehens. Dass der Wegfall der Erzählinstanz nicht nur Verlust, sondern Chance zur Neudeutung sein kann, sollen hier exemplarisch diejenigen Passagen aus Roman und Dramatisierung zeigen, in denen Tony Buddenbrook aus München zurück nach Lübeck flieht, nachdem ihr zweiter Ehemann, Alois Permaneder, sie betrogen hat. Im Roman erfährt der Rezipient von diesem Vorfall in vier Handlungsabschnitten. Zunächst ist Tony selbst noch gar nicht anwesend: In einem Telegramm lesen die Konsulin und Thomas, dass sie sich auf dem Heimweg befindet. Der Grund für die überstürzte Abreise aus München bleibt offen. So wird Spannung erzeugt, aber die Ankündigung des Ereignisses gibt auch schon Raum für die Bewertung des Geschehens. Noch bevor Tony ihr Elternhaus erreicht, erklärt Thomas den Stil des Telegramms für pathetisch und ihre Worte sowie die Unterzeichnung mit „ Antonie “ für „ Kindereien “ (TM 401). So wird dem Rezipienten eine Haltung zu den Ereignissen, über die Tony berichten wird, bereits nahegelegt. Es folgen im zweiten Schritt ihre Ankunft und das Gespräch mit der Mutter. Die Erzählinstanz spricht von „ Frau Permaneder “ (TM 408), die im Haus erscheint und der Mutter in elliptischen Äußerungen den Ehebruch ihres Mannes andeutet. Die formelle Charakterisierung betont einerseits die Ehe, die hier im Zerbrechen begriffen ist, andererseits steht die kindliche Zeichnung Tonys dazu in deutlichem 51 John von Düffel in einem Interview mit Ortrud Gutjahr: Interview mit John von Düffel. Generation und Geld. Über die Bühnenfassung der ‚ Buddenbrooks ‘ nach Thomas Mann. In: Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Hrsg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006 (= Theater und Universität im Gespräch 4). S. 131 - 140. Hier S. 137. Insofern ist Lehnerts These fraglich, nach der Thomas Mann besonders für Tony die „ Sympathie “ des Lesers in Anspruch nehme. Lehnert, Tony Buddenbrook. S. 44. Die „ humorvolle Sympathie des Erzählers “ , (182) mit der Ernst Keller den Blick des Erzählers auf Tony beschreibt, klingt euphemistisch und resultiert darin, dass Erzählinstanz wie Interpret ihr Leiden nicht ernstnehmen. Der Blick auf Tony scheint oft ein eher überlegen ironischer zu sein, mithin ein Blick aus der Distanz. Ernst Keller: Die Figuren und ihre Stellung im ‚ Verfall ‘ . In: Buddenbrooks-Handbuch. Hrsg. v. Ken Moulden und Gero von Wilpert. Stuttgart: Kröner 1988. S. 173 - 200. Hier S. 182. 133 <?page no="146"?> Widerspruch und gibt die Figur der Lächerlichkeit preis. 52 Dies geschieht vor allem dort, wo die Betrogene aufgewühlt und atemlos scheint. Den dritten Teil bildet ein ruhigeres Gespräch zwischen Mutter und Tochter, das allerdings als Redebericht, also mit deutlicher Lenkung durch die Erzählinstanz, wiedergegeben wird. Tonys Erzählung wird zusammengefasst, nicht ohne den Sachverhalt schon im Vorfeld als „ ganz einfach “ (TM 411) abzutun. Der Inhalt von Tonys Rede offenbart für sie Schreckliches: Sie hat ihren Mann nicht nur ‚ in flagranti ‘ erwischt, vielmehr wird sie Zeugin, wie ihr Mann betrunken den gewaltsamen Versuch der sexuellen Nötigung eines Dienstmädchens unternimmt. 53 Im anschließenden Streit beleidigt er sie heftig. Die Darstellung durch die Erzählinstanz allerdings karikiert die Situation, indem diese beispielsweise Wortwiederholungen nachahmt, die außerhalb der direkten Rede überzogen wirken, 54 und indem erwähnt wird, dass Tony sich trotz ihrer Wut und Enttäuschung noch mitten im klärenden Gespräch mit der Mutter für deren jüngste Anschaffung, einen Korb zur Aufbewahrung von Handarbeiten, interessiert (vgl. TM 414). Es folgt als letzter Handlungsabschnitt der Streit mit Thomas, der seine Schwester zur Vernunft bringen soll. In weiten Teilen wird in autonomer zitierter Rede das Streitgespräch ohne Erzählerkommentar wiedergegeben. Auf Passagen wie diese bezieht sich sicher John von Düffel, wenn er vom ‚ szenischen Schreiben ‘ Manns spricht. Doch die autonome Rede steht nicht durchgehend; immer wieder werden dem Rezipienten Körperhaltungen der Geschwister geschildert, die eine Hierarchie generieren und Tony als trotziges Kind (vgl. TM 419 f.) 52 Ein Beispiel bietet folgende kurze Passage: „‚ Mutter ‘ , brachte Frau Permaneder hervor. . . ‚ Mama! ‘ Allein dabei blieb es. “ (TM 409). 53 „ Das Mädchen [. . .] hatte sich hin und her gewunden und den Hausherrn abzuwehren gestrebt, der seinerseits, den Hut auf dem Hinterkopfe, sie umschlungen gehalten und beständig versucht hatte, seinen Seehundsschnauzbart in ihr Gesicht zu drücken, was ihm hie und da auch gelungen war. . . “ (TM 412) Die komische Zeichnung der Szene hat ganz wesentlich mit der Figurendarstellung zu tun. Zwar wird der ‚ Seehundsschnauzbart ‘ ebenso komisch dargestellt wie Tonys Entrüstung, aber angesichts des Anblicks, der sich ihr „ in voller Körperlichkeit “ (TM 412) dargeboten hat, scheint ihre Reaktion nicht so unangemessen, wie die Familie suggeriert. Während allerdings Permaneders Vergehen nicht nur von der Familie, sondern auch durch die Darstellung der Erzählinstanz zur „ Balgerei “ (TM 412) verharmlost wird, wird Tonys Reaktion als überzogen und lächerlich dargestellt. 54 „ Da aber war, zum Schlusse, ein Wort ihr nachgeklungen, ein Wort seinerseits, ein Wort, das sie nicht wiederholen würde, das über ihre Lippen niemals kommen würde, ein Wort. . . ein Wort. . . “ (TM 413). Die Wiederholung karikiert die Situation und verlagert außerdem den Fokus auf einen minimalen Ausschnitt des Geschehens. Dass das Wort später doch unter den Bekannten und Verwandten die Runde macht, noch dazu im bayerischen Dialekt, stellt wiederum Tonys Entschluss und somit die Ernsthaftigkeit der Figur in Frage. 134 <?page no="147"?> darstellen: 55 Wieder wird sie als Frau Permaneder (vgl. TM 416) eingeführt, zu der diese Haltungen nicht passen wollen. Sie liegt während des Gesprächs auf dem Rücken im Bett, Thomas sitzt wie ein Vater davor und blickt bei manchen Worten „ lächelnd auf seine Kniee nieder “ (TM 418). 56 Umso erstaunlicher der „ Ausbruch voll verzweifelter Ehrlichkeit “ (TM 424), mit dem sie Thomas schließlich zum Einlenken bringt: Der lange und emotionale Redebeitrag zeigt ihr Heimweh im fernen München, die gesellschaftliche Isolation, die Trauer über den Tod ihres Neugeborenen und Permaneders Gleichgültigkeit gegenüber dem Kindstod. Der Aufschrei wird zwar lang eingeleitet, Tonys Pose als theatralisch dargestellt (vgl. TM 424), doch im Laufe der Rede, die durch keine Einschübe der Erzählinstanz unterbrochen wird, gewinnt die Figur tragische Qualität. 57 Wo Tony unkommentiert spricht, kann der Rezipient ihren Worten als ernsthafte Äußerung begegnen. 58 Indes ist Thomas 55 Britta Dittmann und Elke Steinwand fassen in diesem Sinne zusammen, Tony scheine „ dazu verurteilt zu sein, ein ewiges Kind zu bleiben “ . „ An der Kindlichkeit, Naivität und Unverwüstlichkeit der Figur ändert sich auch im Erwachsenenalter nichts. “ Britta Dittmann und Elke Steinwand: „ Sei glöcklich, du gutes Kend “ . Frauenfiguren in Buddenbrooks. In: Neue Blicke in ein altes Buch. Hrsg. v. Manfred Eickhölter und Hans Wißkirchen. Lübeck: Dräger Druck 2000. S. 176 - 192. Hier S. 188 und 189. 56 Walter Erhart erläutert den Wechsel der Vaterrolle: „ Thomas Buddenbrook behält ihr [Tony; Anm. B. L.] gegenüber die Rede des eigenen Vaters bei, verwandelt die Geschwisterbeziehung in ein Vater-Tochter-Verhältnis und übernimmt dabei - beim Verkauf des Buddenbrook-Hauses - die Rhetorik kindlicher Konversation “ (S. 289). Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München: Fink 2001. 57 Es soll nicht das Ziel sein, Tony Buddenbrook als tragische Heldin zu bestimmen. Dennoch weist ihr Konflikt so viel Nähe zu denen bestimmter Tragödienfiguren auf, dass der Begriff des Tragischen gerechtfertigt ist: Tony wird bei guten Absichten durch einen Fehler schuldlos schuldig am Verfall der Familie - und indem die Familie ‚ fällt ‘ , kann auch ihr eigener ‚ Fall ‘ ausgemacht werden. In der Wahl ihres Ehepartners steht sie zwischen zwei Prinzipien, Liebe und Familientradition bzw. Gehorsam des Kindes gegenüber den Eltern, eine tragische Kollision, die sich in Buddenbrooks allerdings kaum (wie es Hegel für das Tragische bestimmt) überindividuell aufzulösen vermag. 58 Insofern ist die Ironie als „ angewandte doppelte Optik “ sicher nicht immer ein Mittel, um Objektivität zu erzeugen, wie es Koopmann suggeriert. Helmut Koopmann: Die Entwicklung des ‚ intellektualen Romans ‘ bei Thomas Mann. Untersuchungen zur Struktur von ‚ Buddenbrooks ‘ , ‚ Königliche Hoheit ‘ und ‚ Der Zauberberg ‘ . 3., erweiterte Auflage. Bonn: Bouvier 1980 (= Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 5). S. 36. Koopmann definiert die doppelte Optik im Sinne Thomas Manns wie folgt: „ Doppelte Optik: das bedeutet, daß kein Phänomen mehr einseitig betrachtet werden darf, sondern vielmehr, daß auch die jeweilige Gegenposition in Betracht gezogen werden muß, wo eine echte Erkenntnis geistiger und geschichtlicher Kräfte und Wirkungen geleistet werden soll. Unter doppelter Optik ist jede Aussage immer nur eine bedingte Aussage, die des Korrektivs bedarf, wenn sie Geltung behalten soll. “ (S. 29 f.). Das ist so sicher richtig, doch dass der Erzähler dadurch nicht mehr Partei nehme (vgl. S. 28), sondern nur jeweils verschiedene 135 <?page no="148"?> nicht überzeugt; der Schluss der Romanpassage zeigt wiederum eine kindliche Tony, die um das Verständnis ihres Bruders bettelt und der „ große, helle Kinderthränen über ihre Wangen “ rollen (TM 428). Viola Roggenkamp behält somit Recht, wenn sie in einem Vergleich der Hauptfiguren des Romans bei Thomas und Hanno „ [tragische] Größe “ 59 erkennt, nicht aber in Manns Darstellung der Tony: Dieser Junge und sein Vater haben in ihrem Ringen mit der Welt, in ihrer Empfindlichkeit und sogar - oder vielleicht gerade - in ihrem Scheitern etwas Feines, etwas geradezu Vornehmes. Tonys Scheitern amüsiert. Ganz anders wirkt Tony in der Dramatisierung, in der das Telegramm zwar vorgelesen, aber in keiner Weise kommentiert wird (vgl. JvD 78). Die Vorbewertung der Situation bleibt somit aus; Tonys Auftritt erfolgt in Ernsthaftigkeit. Die Szene verzichtet fast komplett auf Nebentext und bietet Tony außerdem eine bessere ‚ Ausgangsposition ‘ : Tony spricht zunächst mit ihrer Mutter, Thomas kommt hinzu. Eine Absprache zwischen Mutter und Bruder gibt es hier nicht. Der einzige Hinweis zur Haltung der Figuren findet sich zu Beginn des Dialogs der Geschwister im Nebentext: „ Tony starrt ihn an “ (JvD 80), eine Geste also, die je nach Auslegung eher von Fassungslosigkeit oder Aggression denn von Exaltiertheit spricht. Es folgen große Teile aus dem Dialog der Geschwister. Die Schilderung des Falles durch den Erzähler lässt der Dramentext dabei komplett aus. Der Rezipient erhält im Gespräch mit der Mutter den Hinweis auf einen nicht weiter spezifizierten Vorfall zwischen Permaneder und der Köchin und zur Erklärung später die kurzen Worte: „ Wenn er mit der Köchin, auf der Treppe, in einem Zustand von Betrunkenheit, Thomas . . . und was er zu mir gesagt hat, dieses Wort, nie werde ich ihm das vergessen, dieses unsägliche Wort! “ (JvD 80) Allein die direkte Widergabe gibt ihrer Rede mehr Ernsthaftigkeit, als es die Erzählinstanz des Romans durch die Beschreibung ihrer kindlichen Haltung und Kommentare zum Geschehen zulässt. Darüber hinaus lassen John von Düffels Kürzungen Tony deutlich reifer erscheinen: Andeutungen negativer Charakterzüge wie Möglichkeiten der Parteinahme andeute, könnte zu weit gegriffen sein. Neutralität und Objektivierung sind nicht gleichbedeutend mit Distanz und Relativierung. 59 Hier und im Folgenden: Viola Roggenkamp: „ Tom, ich bin eine Gans “ . Tony Buddenbrook - die Entwertung vitaler Weiblichkeit. In: Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Hrsg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006 (= Theater und Universität im Gespräch 4). S. 113 - 128. Hier S. 113. Dass Roggenkamps sehr biographistische Analyse, die Tony als Teil von Thomas Manns Persönlichkeit darstellt, sich so sehr mit dem Autor beschäftigt, mag ihrer eigenen schriftstellerischen Tätigkeit geschuldet sein. Für den Vergleich mit der Adaption sind allerdings ihre Beobachtungen auf Textebene deutlich gewinnbringender. 136 <?page no="149"?> der Vorwurf der Arroganz 60 fehlen; ihr Leiden an Permaneders Haltung, am Kindstod und am Betrug hingegen erhält Raum. Zwar endet die Szene ähnlich wie im Roman mit Tonys Geständnis des Versagens, doch der demütigende Begriff „ Gnadenbrot “ (TM 428) fällt nicht. Auf Tränen, Selbstmitleid 61 und kindliche Haltung gibt der Dramentext keinen Hinweis. Die ausgewählte Szene zeigt Tony also trotz wörtlicher Übernahme der Dialoge aus der Romanvorlage deutlich anders. Allein der Wegfall der Körperbeschreibungen durch den Erzähler ermöglicht eine identifikatorische und tragische Lesart der Figur. 62 Die vorgenommenen Kürzungen der Redebeiträge stärken diesen Effekt. Auch auf Tony mag sich deshalb John von Düffels Anmerkung beziehen: Und wir entdeckten dann, dass das Buch gar nicht so ironisch und heiter ist, wie man es in Erinnerung hatte. Es steckt voller interessanter Grausamkeiten: am Körper der Familie, am Körper des Einzelnen. Die vielgerühmte Ironie des Buches wirkt da weniger souverän, sondern eher wie ein Schutz vor diesen Grausamkeiten. 63 Die Dramatisierung ermöglicht hier einen neuen Blick auf die Figur und ihr Leid. 64 Das Drama zeigt, was von Düffel als Leseeindruck des Regisseurs Stephan Kimmig beschreibt, nämlich „ dass es hier um die Punkte geht, wo Familie wehtut, wo es um Demütigung geht und um Zerstörung. “ 65 60 Hinzu kommt, dass der Rezipient nichts über den schon seit ihrer Kindheit entwickelten „ argen Hang zu Hoffart und Eitelkeit “ (TM 90) erfährt, sodass er eine insgesamt ernsthaftere und respektable Person erwartet. Auch lässt Tony sich hier nicht durch Nebensächlichkeiten vom Thema ablenken. 61 So muss wohl folgende Äußerung Tonys im Roman gewertet werden: „ Komm her, Tom. . . Deine Schwester hat es nicht sehr gut im Leben. Alles kommt auf sie herab. . . Und sie hat in diesem Augenblick wohl niemanden, der zu ihr steht. . . “ (TM 427). 62 John von Düffel betont zwar, das Schlagwort der ‚ epischen Distanz ‘ sei falsch, das Gegenteil sei der Fall: „ In einem Roman folgt man dem Erzähler und gräbt sich ein in die Figuren, das sind Momente totaler Nähe, man macht sich ihre Gedanken zu eigen. “ John von Düffel in Romane, Romane! . S. 13. Doch mit dieser Aussage behält er nur solange Recht, wie die Erzählinstanz des Romans mit dem Fokus der Figur sieht. Denn sobald sie in auktorialer Manier die Deutungshoheit für sich reklamiert, ist eine Einfühlung nicht mehr problemlos möglich und somit Distanz hergestellt. Insofern muss sich von Düffels Figur der Tony zwar der dramatischen Prüfung stellen, ist dort aber weniger durch die Ebene des discours vorbewertet. Der Zuschauer sieht zwar mit neutralem Fokus auf die Figur, erhält jedoch die Möglichkeit der Einfühlung, die ihm im Roman durch die Distanzierung der Erzählinstanz verwehrt bleibt. 63 John von Düffel in Romane, Romane! . S. 12. 64 Eine Inszenierung könnte durch genaue Orientierung am Roman die kindliche Seite durch das Schauspiel wieder betonen, liefe damit jedoch dem Text entgegen. 65 John von Düffel in Romane, Romane! . S. 12. 137 <?page no="150"?> Selbstverständlich gibt es auch im Dramentext Außensichten auf Tony, die diese kritisch darstellen. So erklärt Tonys Vater, Konsul Buddenbrook, in einem größeren Monolog, der durch den rückblickenden Gestus bereits seinen Tod ankündigt: „ Doch Tony besaß die schöne Gabe, sich jeder Lebenslage anzupassen. Sie gefiel sich bald in ihrer Rolle als eine von unverschuldetem Unglück heimgesuchte Frau [. . .] “ (JvD 47). Derselbe Text findet sich auf Seite 253 des Romans, dort allerdings ist er Teil der Erzählerrede und hat damit ein ganz anderes Gewicht: Die Darstellung durch die auktoriale Erzählinstanz besitzt größere Autorität als die Meinung einer einzelnen Figur. Selbst in der episierenden Rede im Imperfekt, die dem Konsul zugeschrieben ist, wird der Blick auf Tony also relativiert. Dieser Effekt verstärkt sich durch das angedeutete Schuldeingeständnis des Vaters in der vorherigen Szene (vgl. JvD 40). Als psychologisch gedachte Figur profitiert der Konsul von dieser Darstellung Tonys, indem er ihr ein ehrliches Leiden an der Situation abspricht, seinem eigenen Fehlhandeln also keine allzu schweren Konsequenzen einräumt. Ein recht auffälliges Mittel zur Übernahme des Erzähltextes ins Drama stellt die Rede der Figuren über sich in der dritten Person dar. Diese Darstellungsart, die innerhalb dieser Arbeit in mehreren Dramatisierungen gezeigt werden wird, hebt den Sprechtext auf besondere Weise aus den Dialogen heraus und verstärkt in der Inszenierung das Hervortreten des Schauspielers vor die dargestellte Figur. Sie bricht mit der tradierten Fokalisierung der Rede. Damit kann sie ein distanziertes Verhalten der Figur zu ihrem Tun bewirken. In von Düffels Buddenbrooks kommt diese Form gleich mehrfach und in verschiedenen Zusammenhängen vor. Sie wird allerdings nicht (wie es die Analyse von Castorfs Döblin-Dramatisierung in Kapitel 4.4 zeigen wird) als Mittel der Irritation verwendet, sondern meist in die Situation eingebettet und erklärt. Ein zunächst ungewöhnlicher Effekt ergibt sich dennoch, allerdings in abgemilderter Weise. Ein Beispiel bietet Szene I.16 der Düffel ’ schen Adaption, in der Tony ihre Verlobung in die Familienchronik einträgt. Sie übernimmt dabei große Teile der Situationsbeschreibung, die im Roman die Erzählinstanz gibt (TM 172 - 174): TONY Es war noch ganz früh, kaum sechs Uhr. Tony setzte sich an den Sekretär, dessen Deckel zurückgeschoben war und zog das Familienbuch hervor mit seinem gepreßten Umschlag, goldenen Schnitt und verschiedenartigen Papier. Sie nahm es, blätterte darin, geriet ins Lesen und vertiefte sich. (JvD 26 f.) 138 <?page no="151"?> So beginnt die Passage, die im Nebentext nicht nur klar Tony als Sprecherin festlegt, sondern auch eine interpretatorische Angabe macht: „ Tony erfindet sich einen historischen Augenblick und schreibt in das Familienbuch “ (JvD 26), so steht es zu Beginn der Szene. Der Hinweis erklärt die zunächst auffällige Darstellungsform psychologisch. Entsprechend fehlen dem Text diejenigen Passagen, die Tony kritisch darstellen oder mit ironischem Abstand kommentieren und der Deutung der inneren Vorstellung zuwider laufen würden. 66 Der erklärende Nebentext wird für die Theaterbesucher zwar unsichtbar bleiben, legt aber eine Spielweise nahe, die der Szene eine träumerische Dimension gibt und die Form der Rede psychologisch erklärt. Die Darstellung kommt damit dem Selbstgespräch und dem psychologisch motivierten Monolog nahe, was den Sehgewohnheiten des Theaterzuschauers stärker entspricht. 67 Mit einem Satz, der im Roman auf die Hochzeit mit Grünlich folgt (vgl. TM 180), wird der träumerische Text wieder in die (diegetische Bühnen-)Realität zurückgeholt: „ Mein guter Papa, ich hoffe, Du bist zufrieden mit mir “ (JvD 27). Die erste Person und das Präsens signalisieren deutlich den Wechsel zurück in die tradierte Form des gegenwärtigen Bühnenmonologs. Der Text stützt dabei eher das Bild einer familientreuen und gehorsamen Tochter. Eitelkeit und Hoffart werden kaum suggeriert. Schon hier also die Figur der Tony positiver angelegt, was später ihren Fall drastischer erscheinen lassen wird. 66 „ Die ehrerbietige Bedeutsamkeit, mit der hier auch die bescheidensten Tatsachen behandelt waren, die derFamiliengeschichte angehörten . . . “ . Der Satz bleibt in der Dramatisierung unvollendet (JvD 27). Der direkte Vergleich zum Roman zeigt, dass der Erzähler hier kritisch wird und den Satz mit den Worten „ stieg ihr zu Kopf “ beendet (TM 172). Auch folgende Äußerung, mit der Tony in ihrer Rede im Drama diffamierend gegen sich selbst gewirkt hätte, ist gestrichen: „ Ehrfurcht vor sich selbst erfüllte sie, und das Gefühl persönlicher Wichtigkeit, das ihr vertraut war, durchrieselte sie, verstärkt durch den Geist, den sie soeben hatte auf sich wirken lassen, wie ein Schauer. “ (TM 173). 67 Der ‚ Verfremdungseffekt ‘ , der zunächst durchaus an Brechts episches Theater erinnert, ist hier also weniger distanzschaffend motiviert. Das Stilmittel wird noch mehrfach angewandt, steht allerdings in Widerspruch zur psychologischen Deutung und oft monologisch organisierten Gesamtkonzeption der Dramatisierung. Das Beispiel zeigt: Die Anlehnung an epische Werke bedeutet trotz Übernahme einzelner epischer Elemente noch kein episches Theater, macht eine Adaption in diesem Sinne aber durchaus möglich. Deutlich stärker am epischen Theater Brechts orientiert gibt sich die Dramatisierung der Buddenbrooks durch Tadeus Pfeifer, die in Kapitel 4.1.9 analysiert und interpretiert wird. 139 <?page no="152"?> 4.1.4 Monologische Elemente in der Dramatisierung von Buddenbrooks Die oben geschilderten Formen epischen Erzählens in John von Düffels Buddenbrooks-Drama lassen sich durch zahlreiche Beispiele ergänzen. In diesem Abschnitt sollen deshalb (auch außerhalb der Figurenanalyse der Tony) drei verwandte Formen und ihre unterschiedlichen Umsetzungen, Funktionen und Wirkungen betrachtet werden. Es werden zunächst weitere Beispiele für die Figurenrede in dritter Person gesucht, für die ich im Folgenden den Begriff ‚ auktorialen Monolog ‘ einführen werde. Der Begriff soll eine Legierung aus auktorial-extradiegetischer Erzählweise und dramatischem Monolog bezeichnen. Er trägt, häufig durch die Wiedergabe im Imperfekt noch betont, deutlich epische Züge; in den Termini Genettes ausgedrückt, steht er im narrativen Modus, offenbart sich als vermittelt. So entsteht das scheinbare Paradox, dass die Figur autodiegetisch, also über ihr eigenes Leben berichtet, gleichzeitig aber in die extradiegetische Form und damit in die dritte Person wechselt. Als Konsequenz kann eine maximale Dissonanz zwischen Erzählinstanz und Protagonisten der Erzählung bei gleichzeitiger Identität beider Seiten entstehen. Das Paradox lässt zunächst eine verwirrende, verfremdende, auf jeden Fall distanzierende Wirkung vermuten. Doch die verschiedenen Beispiele werden zeigen, dass es für die Wirkung dieser Rede ganz wesentlich ist, ob sie psychologisch zu erklären ist und ob die Figur noch als Figur wahrgenommen werden kann. Denn wenn dies - wie bei John von Düffel häufig - der Fall ist, nähert sie sich einem ganz konventionellen zweiten Mittel, um Gedanken und Gefühle in den Dramentext zu integrieren: dem traditionellen dramatischen, oft psychologisch angelegten Monolog. Als weiterer Spezialfall des epischen Textes im Drama soll die Übernahme der Brieftexte in die Dramatisierung (und deren Nähe zum Monolog) betrachtet werden. 4.1.4.1 Auktorialer Monolog Wo stark vermittelt erzählte Passagen ins Drama übernommen werden, ergibt sich eine besondere Betonung dieser. In der Szene, die den Tod des alten Konsuls schildert, wechselt Thomas vom Duktus der mündlichen Rede in einen distanzierten Modus: TOM Ich habe heute Morgen am Hafen mit Kapitän Kloot gesprochen. Er täuscht sich nie. Es gibt bloß einen Platzregen [. . .]. So eine unnatürliche Wärme . . . Ein Platzregen geht nieder. Alle lauschen. 140 <?page no="153"?> Da, plötzlich, trat dieser Moment ein . . . ereignete sich etwas Lautloses, Erschreckendes. Die Schwüle schien verdoppelt, die Atmosphäre schien einen, sich binnen einer Sekunde rapide steigernden Druck auszuüben[. . .] . . . Und dieser unentwirrbare Druck, diese Spannung, diese wachsende Beklemmung des Organismus wäre unerträglich geworden, wenn sie den geringsten Teil eines Augenblicks länger gedauert hätte, wenn nicht auf ihrem Höhepunkt eine Abspannung, ein Überspringen stattgefunden hätte . . . ein kleiner, erlösender Bruch, der sich unhörbar irgendwo ereignete . . . wenn nicht in demselben Moment, fast ohne daß ein Tropfenfall vorhergegangen wäre, der Regen hernieder gebrochen wäre, daß das Wasser im Rinnstein schäumte und auf dem Bürgersteig hoch empor sprang. KONSULIN Gott sei Dank. TONY Es war auch höchste Zeit! (JvD 48 f.) Der Wechsel der Erzählhaltung ist deutlich. Thomas, in dieser Szene offenkundig für meteorologische Analysen zuständig, wechselt das Tempus, sodass die Beschreibung der beklemmenden Schwüle und des folgenden Platzregens zum Moment epischen Erzählens wird. Der Moment wird durch die Paralepse aus dem Rahmen der Diegese gehoben und bekommt so eine größere Bedeutung. Welche Bedeutung er allerdings erhält, erfährt der Rezipient wie im Roman erst im Anschluss: Das Dienstmädchen Lina stürzt herein und verkündet den Zusammenbruch des Konsuls. Die rückblickende Erzählhaltung ist eigentlich eine Prolepse. Das Unwetter als Todesbote wird später Teil des Familiengesprächs und dann der Familiengeschichte werden und erscheint hier bereits im Augenblick des Geschehens als Vergangenheit. Da der Moduswechsel im Roman nicht annähernd so stark auffallen kann, setzt die Dramatisierung hiermit ein weit stärkeres Mittel der Betonung ein. Auch die berühmte Schopenhauer-Lektüre in Manns Buddenbrooks geht in die Dramatisierung als auktorialer Monolog ein. Die Form verweist zwar auf den Lesevorgang, der hier stattfindet. Doch innerdiegetisch (oder aus der Figurenmotivation heraus) lässt sich die epische Form nicht erklären; durch diesen Bruch mit der Illusion erhält die Szene Gewicht. Interessanterweise wird im Roman diese Gewichtung ebenfalls durch einen Fokuswechsel hergestellt: Die autonome Rede stellt in Thomas Manns Buddenbrooks eine Ausnahme dar. Durch die Umarbeitung in die dramatische Form würde diese Besonderheit nicht mehr auffallen. Im Gegenteil entspricht die Direktheit der Sprache den Bühnenkonventionen. Der Schopenhauer-Szene der Dramatisierung wird über die epische Einführung eine ähnliche starke Markierung zugeschrieben wie der entsprechenden Episode im Roman. Die Art der Markierung unterscheidet sich jedoch und hat somit divergente Wirkung, wie die genaue Betrachtung zeigen wird. 141 <?page no="154"?> Thomas beginnt über sich in der dritten Person zu sprechen, erzählt entsprechend dem Roman-Kapitel: „ Manchmal setzte er sich in den von Weinlaub eingehüllten Pavillon und blickte, ohne etwas zu sehen, über den Garten hin auf die Rückwand seines Hauses. Die Luft war warm und süß. “ (JvD 92) Der erzählerische Duktus ist innerdiegetisch nicht motiviert und wird vornehmlich auf extradiegetischer Ebene als Hinweis lesbar: als strukturell symbolische Umsetzung von Thomas ’ Distanz zu seinem eigenen Handeln und als Markierung der plötzlichen Selbstreflexion. Er beschreibt den Lesevorgang und geht dann mit dem Titel der Abhandlung in die Ich- Form über: Er begriff nicht alles; Prinzipien und Voraussetzungen blieben ihm unklar, und sein Sinn, in solcher Lektüre ungeübt. . . ‚ Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit des Wesens an sich ‘ . . .Was ist das? Ist das für mich bestimmt, Thomas Buddenbrook, Ratsherr dieser Stadt und Chef der Getreidefirma Johann Buddenbrook? Kann ich es ertragen? (JvD 92) Im entsprechenden Abschnitt des Romans wechselt die Gedankendarstellung den Modus, sodass der Übergang vom distanziertem Gedankenbericht über die erlebte Rede, das Gedankenzitat bis zum inneren Monolog eine stückweise Annäherung, ein Hineingleiten in die Gedankenwelt des Protagonisten erlaubt, um sich anschließend wieder zu distanzieren. Der Übergang zur sehr unmittelbaren Wiedergabe der Innenwelt im autonomen inneren Monolog erfolgt exakt gesetzt bei der Erkenntnis der Potentiale des Individuums: „ Ich trage den Keim, den Ansatz, die Möglichkeit zu allen Befähigungen und Bethätigungen der Welt in mir. . . “ (TM 724). Allerdings distanziert sich die Erzählinstanz anschließend wieder, abstrahiert Thomas ’ Gedankengänge und beobachtet die Figur im Duktus des auktorialen Erzählers. Wie Thomas Buddenbrook scheint sie sich nur vorübergehend einer anderen Sichtweise überlassen zu haben. Der Monolog der Dramatisierung wechselt ebenfalls von starker Vermittlung zu Direktheit - gleichzeitig in die innere Fokalisierung, die hier der dramatischen Darstellung entspricht. Allerdings lässt die Dramatisierung die stufige Annäherung über die erlebte Rede und das Gedankenzitat aus, wie es der Roman vornimmt: Die Dramatisierung springt abrupt in Thomas ’ Gedankenwelt hinein. Der Wechsel in die Ich-Form erscheint als (Aus-)Bruch in die Subjektivität und Sensibilität und ruft durch den Formwechsel Distanz hervor, die über den Schluss der Szene bestätigt wird. Denn sie geht über in die Darstellung der Totenwache für die Konsulin (II.20) und lässt so für Thomas ’ Hochgefühl keinen Raum. Sie setzt den „ geistigen Extravaganzen “ (TM 726) ein abruptes Ende, das allerdings stärker von außen als durch die Unmöglichkeit einer Lösung der philosophischen Probleme (vgl. TM 142 <?page no="155"?> 726 - 728) motiviert ist. Das Beispiel zeigt, wie sich unterschiedliche monologische Formen abwechseln können. Die Einfühlung in Thomas Buddenbrooks Gedanken und Gefühle dürfte dem Rezipienten durch den Beginn der Abhandlung im auktorialen Ton schwerer fallen als bei einer klar figurenpsychologischen, intradiegetisch angelegten Rede. Auf diese Weise ist auch im Drama eine Innensicht mit Distanz möglich. Nicht nur Fokussierung und Distanz, auch Komik kann durch den Moduswechsel erreicht werden: Die Rede der Konsulin über ihre neue religiöse Haltung ist ein Beispiel für einen auktorialen Monolog, der ganz anders als im oben beschriebenen nicht symbolisch erklärbar ist, sondern ironisch karikierend wirkt. Die Konsulin spricht selbstgefällig über ihre eigene Religiosität: KONSULIN Todesfälle pflegen eine dem Himmlischen zugewandte Stimmung hervorzubringen, und niemand wunderte sich, aus dem Munde der Konsulin Buddenbrook nach dem Dahinscheiden ihres Gatten diese oder jene religiöse Wendung zu vernehmen, die man früher nicht an ihr gewohnt gewesen war. Bald jedoch zeigte sich, daß dies nichts Vorübergehendes war [. . .]. Christian erschien nicht oft zu den Andachten. Ein Einwand, den Thomas bei Gelegenheit gegen die Übungen erhoben hatte, wurde mit Milde und Würde zurückgewiesen. Und Tony fügte sich brav. Die alte Lina singt [. . .]. Tony verläßt geräuschvoll den Raum. (JvD 56) Die Konsulin scheint hier Opfer ihrer eigenen Rede zu werden. Das allzu sichere Sprechen im auktorialen Ton erzeugt über eine Diskrepanz zwischen Rede und Bühnengeschehen eine distanziert komische Wirkung, die an die Ironie des Romanerzählers anknüpft. Das Beispiel scheint einer anderen Szene zunächst zu entsprechen: Auf ähnliche Weise und ebenfalls in komischer Manier spricht Christian über seine Arbeit im Comptoir. Doch die Situation suggeriert einen bewussten Einsatz des erzählerischen Gestus durch die Figur. Christian scheint die Redeweise provokativ als Stilmittel einzusetzen. Er berichtet von seinem Arbeitseinstieg und übernimmt dabei den Erzählertext des Romans (vgl. TM 294). Seine Aufgabe besteht im Übersetzen der englischsprachigen Firmenkorrespondenz. Die Übersetzung ist auch die Form, in der er sich darstellt. Die Tätigkeit des Schreibens und der Translation bindet die sonst verfremdende epische Sprechweise wiederum in einen Zusammenhang ein, der sie erklärt und ihr so den skurrilen Effekt nimmt. 68 68 Auf ähnliche Weise wirkt auch in Tonys ‚ historischem Augenblick ‘ (s. o.) nicht nur der träumerische Gestus, sondern auch das Schreiben respektive das Lesen der Chronik stilerklärend. 143 <?page no="156"?> Tom & Christian bei der Arbeit, Tom still und ernsthaft, Christian launig . . . übersetzt. CHRISTIAN As far as Christian was concerned he seemed to devote himself to his work in an eager and amused manner . . . (Er übersetzt den gesamten folgenden Text.) Was Christian betraf, so schien er sich zunächst mit wirklichem Eifer und Vergnügen seiner Tätigkeit zu widmen, ja, er schien sich ausnehmend wohl und zufrieden dabei zu fühlen und hatte während mehrerer Tage eine Art, mit Appetit zu essen und eine kurze Frühstückszigarette zu rauchen [. . .]. (JvD 56 f.) Christians Rede bekommt, vor allem durch das Präteritum, einen erzählerischen Tonfall; er wird zu einem Chronisten seines Lebens; der externe Fokus allerdings führt die Erzählung weg vom autobiographischen oder tagebuchartigen Erzählen und wirkt selbstinszenierend und exaltiert. In Thomas ’ Reaktion auf das Verhalten des Bruders findet der Rezipient ein Korrektiv: Ein „ Blick von Tom “ (JvD 57) bringt Christian dazu, seine ‚ Übersetzungsarbeit ‘ zu unterbrechen und eine gewöhnliche Gesprächshaltung einzunehmen. Nach einem kurzen Dialog mit dem Bruder fällt er in den alten Tonfall zurück und schildert, fast als Reaktion auf das enttäuschende Gespräch deutbar, wie sein Interesse am Kaufmannsberuf nachlässt. Arbeit. Schweigen. CHRISTIAN To his regret however Christians eagerness declined already after the first week and even more after the second . . . (JvD 58) Das Stilmittel etabliert gleichzeitig Christians Tätigkeit wie seinen Hang zur Selbstdarstellung und Provokation, und es gibt Anlass, das problematische Verhältnis zu seinem Bruder darzustellen. Zudem bietet es eine Möglichkeit, in Kürze und ohne szenischen Aufwand die Entwicklung Christians und seiner ‚ Arbeitsmoral ‘ in der Firma darzulegen. Der Verfremdungseffekt aber bleibt aus: Besonders Thomas ’ Reaktion auf das Sprechen markiert es als intradiegetisch. Christians psychologische Motivation für die Sprechweise, die sich hier leicht erschließen lässt, erklärt die Form und lässt deutlich erkennen, dass der auktoriale Ton eine rhetorische Spielerei des Sprechers ist. 4.1.4.2 Traditioneller dramatischer Monolog In John von Düffels Dramatisierung ist der auktoriale Monolog in der dritten Person, wie oben geschildert, demnach teilweise innerdiegetisch motiviert und nähert sich dann einer weit konventionelleren Art, im Drama die Befindlichkeiten einer Figur darzustellen. Der folgende Abschnitt befasst sich nur kurz mit dem Monolog in direkter Rede, da dies ein hinreichend bekanntes Mittel dramatischer Innenschau darstellt. Auch von Düffel wählt 144 <?page no="157"?> den Monolog, um Gedanken und Gefühle seiner Figuren auf tradierte Weise für das Publikum hörbar zu machen. Er nutzt diese Möglichkeit der Darstellung gleich mehrfach, lässt Figuren im Monolog mit internem Fokus über ihre Gedanken berichten, oft mit einem Gestus, als wäre kein Publikum vorhanden. Dabei werden die Figuren zusätzlich über ihren Sprechduktus charakterisiert: Schon in der dritten Szene der Dramatisierung hält Thomas einen kurzen Monolog über seine Bereitschaft zur Übernahme der Firma. Wir dürfen nicht glauben, daß wir Geld genug haben und nichts zu tun brauchen. [. . .] Wenn ich leben will, gut leben, werde ich arbeiten müssen, schwer, hart, härter noch als alle anderen. Ich muß mir Härte zufügen, Härte erleiden und es nicht als Härte empfinden, sondern als etwas Selbstverständliches! (JvD 11 f.) Die Frage nach der Möglichkeit, die Härte nicht als solche zu empfinden, wird Thomas im Roman erst viel später stellen - von der Erzählinstanz in erlebter Rede wiedergegeben. Hier erscheint sie noch als engagierter und umsetzbarer Vorsatz. Der Monolog erweckt den Anschein einer Grundsatz- und Motivationsrede, mit der die Figur ihre Ansprüche an sich selbst definiert. Der Text wirkt vor allem durch die Montage der Szenen: Ein Monolog Tonys wird ihm direkt entgegengestellt. Tonys Rede hat dabei einen deutlich erzählerischen Ton, denn sie berichtet von ihrer Begegnung mit Grünlich (vgl. TM 110 f.). Im Vergleich zu Thomas ’ abstraktem Thema erscheint ihre Rede so stärker gegenwartsbezogen. 69 Begreift man die Monologe zudem als polyphone Äußerungen, in denen sich der Einfluss fremder Texte und Reden mit ausdrückt, so wird in der Dramatisierung Tonys Hang zum Roman, zur Welt der Literatur und deren Übertragung auf ihr eigenes Leben besonders offenbar, indem sie ins Anekdotisch-Epische fällt. In einer weiteren Szene ist Thomas ’ Trennungsgespräch mit Anna, seiner Jugendliebe, dargestellt. Da kein Gegenüber seine Worte hört, ist die Szene monologisch gestaltet. Je nach Inszenierungsweise kann der Eindruck entstehen, Thomas wiederhole das eigentliche Gespräch für sich oder probe es für den diekten Dialog. Der Monolog ersetzt so das eigentlich dialogische Geschehen des Romans. Thomas sind innerhalb des Dramas viele monologische Auftritte zugeschrieben. Während in der Figur Christians die Mono- 69 Die Passage wird im Roman zunächst von außen dargestellt, das Treffen der beiden und ihr Wortwechsel beschrieben. Eine Verlagerung des Fokus ’ in Tonys Innenwelt geschieht aber auch hier durch erlebte Rede, als Tony über eine angemessene, sprich: abweisende Reaktion auf Grünlichs Avancen nachdenkt. Die Dramatisierung greift also auf diesen Part zurück und transponiert ihn in den direkten Ausdruck der Figur: „ [Aber] ich wußte, daß ich ihm etwas antworten mußte, ein Wort, das diesen Bendix Grünlich ein für alle Mal zurückschleudert, vernichtet! Aber es mußte ein gewandtes, witziges, schlagendes Wort sein, das ihn zugleich verwundet und beeindruckt! ‚ Das ist nicht gegenseitig ‘ , sagte ich und ließ ihn stehen. ‚ Das ist nicht gegenseitig! ‘ Ha! “ (JvD 12). 145 <?page no="158"?> loge durch die örtliche Entfernung zu erklären sind, werden Thomas ’ Auftritte zu Zeichen seiner Isolierung innerhalb der Familie - trotz des gemeinschaftlichen Lebens. 70 4.1.4.3 Briefe als Monologe Neben weiteren monologischen Auftritten, die außer Thomas auch Christian, Tony und dem Konsul zugeschrieben sind, finden vor allem die Briefe aus dem Roman Eingang ins Drama. 71 Wo sie nicht nur als Requisit auftauchen, sondern ihr Inhalt wiedergegeben wird, haben sie viel mit der Form des Monologs gemein. Die Briefe aus Buddenbrooks gehen in unterschiedlicher Form in die Dramatisierung ein: Je mehr dabei die mediale Basis des Briefes und seine Rezeptionsbedingungen in den Hintergrund treten, desto stärker nähert sich ihre Wiedergabe dem traditionellen Bühnenmonolog. In seiner Medialität deutlich definiert wird der Briefwechsel, den Tony während ihres Aufenthalts in Travemünde mit und um Grünlich führt. Grünlichs Werbung liest Tony ihrem geliebten Morten dabei innerhalb eines Dialoges vor (vgl. JvD 22 f.), ihre Reaktion ist ein Brief an den Vater, den sie im selben Dialog schon einmal mündlich vorformuliert. 72 Andere Briefe jedoch stehen ohne dialogische Einbettung als eigene Szene da. Sie haben zwangsläufig stark epischen Charakter. Nicht immer gibt der Nebentext die Darstellungsform an, benennt den Sprecher oder die Sprecherin. Es liegt in der Hand der Regie, ob der Schreiber oder der Empfänger den Brief zu Gehör bringt. So ist zum Beispiel die „ Antwort des Konsuls “ zwar als solche im Nebentext markiert (JvD 23), doch es ist kein Sprecher angegeben. Auch sein Brief an Thomas trägt die Bemerkung „ Vaterworte “ (JvD 29), bleibt aber ohne Angabe des Sprechers. Die Briefform aber ist nicht nur im Nebentext festgeschrieben, sondern findet sich durch die Anrede und 70 Vergleiche dazu ausführlicher Kapitel 4.1.5. 71 Diesen attestiert Vogt, sie seien bei Thomas Mann entgegen den Erzähltraditionen eines säkularisierten Pietismus „ nicht Instrumente der empfindsamen Selbsterforschung und Mitteilung, sondern werden als Elemente indirekten Erzählens überwiegend nach dramaturgischen Gesichtspunkten eingesetzt “ . Vogt, Thomas Mann. S. 122. Tatsächlich lässt diese Funktion sie für den Fortgang der Handlung zum Teil unabdingbar werden. Wohl deshalb wurden viele der Brieftexte in unterschiedlicher Form ins Drama übernommen. 72 Tony erläutert Morten im Dialog ihre Absicht, dem Vater einen Brief zu schreiben, und gibt dabei auch die Inhalte wieder: „ Ich habe Kopfweh vor Aufregung. Grünlich will mich nicht verstehen, und was er so poetisch von ‚ Versprechen ‘ schreibt, ist einfach nicht der Fall. Ich werde Papa bitten, ihm kurzer Hand plausibel zu machen, daß ich jetzt noch tausendmal weniger in der Lage bin, ihm mein Jawort zu geben “ (JvD 23). 146 <?page no="159"?> andere Wendungen im textsortenspezifischen Ausdruck des Haupttextes selbst. 73 Eine Mischform bilden Auszüge aus den Briefen Tonys aus München. Sowohl aus dem begeisterten Brief über ihren ersten Besuch in der Stadt (vgl. TM 336 - 339) als auch aus dem späteren enttäuschten Brief über Permaneders allzu ruhiges Gemüt (vgl. TM 400 - 402) wird zitiert. Letzterer wird dabei auch im Roman nur auszugsweise wiedergegeben. Dass Permaneder rasch nach der Hochzeit in den Ruhestand tritt, fügt die Erzählinstanz rückblickend hinzu. Im Drama ist diese Information in den Brief übernommen (JvD 75). Der erste erwähnte Brief wird im Roman von der Konsulin vorgelesen und von dieser und ihrem Sohn Thomas kommentiert. Auf diese Art der Einbettung in eine dialogische Handlung verzichtet die Dramatisierung. Beide Textpassagen werden monologisch von Tony vorgetragen respektive erzählt, denn Floskeln, die den Text als Brief kennzeichnen würden, sind weggelassen. Ohne die brieftypischen Einleitungs- und Abschiedsformeln nähert sich die Rede der Form des Monologs, zumal hier Tony klar als Sprecherin angegeben ist (vgl. JvD 64 und 75) und keine Reaktion der Familie angegeben wird, die auf einen Rezipienten schließen lassen würde. Durch den berichtend informativen Stil der Textpassagen, insbesondere durch erläuternde Einschübe, 74 wird dennoch ein Rezipient suggeriert; der Bezug zur Textsorte Brief bleibt damit relikthaft erhalten. Es handelt sich um eine Zwischenform, die je nach Art der Inszenierung dem späteren Zuschauer, so er die Information zur Textsorte nicht aus seiner Romankenntnis ableiten kann, das Gefühl geben wird, direkt angesprochen zu sein. Briefe sind eine beliebte Form, um in Theaterstücken Hintergrundwissen, Vorausgegangenes oder Ideen- und Gefühlswelten der Figuren hörbar zu machen. Sie enthalten handlungsrelevante Informationen oder sind gar Requisiten, um deren Besitz und Zugang sich das Geschehen der Handlung strukturiert. Ausführlich hat sich Susanne Peters für den anglistischen Bereich mit den dramatischen Formen der Briefkommunikation befasst. Neben Briefen wählt sie andere schriftliche Dokumente im Drama zu ihrem Gegenstand - „ Formen, die die mündlichen Figurendialoge ergänzen, dabei aber ganz andere Präsentationsmodi erfordern “ , die aber ebenfalls hinsicht- 73 „ Deine Mutter grüßt dich herzlich. Und auch Herr Marcus hat mir Grüße an Dich aufgetragen. Gottes Segen mit Dir, mein Sohn! Arbeite, bete und spare! In sorgender Liebe Dein Vater “ (JvD 30). 74 „ Aber schlimmer ist dies: Nach unseren ersten Wochen in München und dem Eintreffen meiner Mitgift, hat Permaneder folgendes zu mir gesagt: ‚ Tonerl ‘ - er nennt mich Tonerl! - ‚ Tonerl, mir war ’ s gnua “ (JvD 75). 147 <?page no="160"?> lich des Verhältnisses von Text und Performanz verhandelt werden können. 75 Sie zeigt eine Vielfalt von Arten auf, schriftliche Kommunikation in die Bühnenhandlung zu integrieren: ‚ Briefszenen ‘ werden dabei abhängig von Präsenz oder Absenz des Briefes als Gegenstand, der monologischen oder dialogischen Wiedergabe, dem Schreiben oder Lesen auf der Bühne, der Möglichkeit der Umsetzung von Briefinhalten in Handlung und der Verwendung als Bild oder Ikon beschrieben. 76 Damit stellt sie implizit auch die Möglichkeiten einer Übertragung eines Briefes aus einem Roman ins Drama dar - aufgrund des weiten Begriffes von ‚ schriftlicher Kommunikation ‘ fallen in Buddenbrooks nicht nur die Briefe, sondern auch die Geschäftsbücher und insbesondere die Familienchronik darunter. Peters stellt fest: „ Am Theaterbrief kristallisieren sich unterschiedliche Wahrnehmungssituationen des Betrachtens und des Lesens. Werden beide Situationen kommunikationsästhetisch vernetzt, so können Gattungsgrenzen thematisch oder überschritten werden. “ 77 Dieser Aspekt ist für die Dramatisierung von ganz eigener Bedeutung, denn Briefe, die von einer ‚ Lesegattung ‘ in eine dramatisch performative Gattung wechseln, müssen für das Publikum präsent gemacht werden. Die eben skizzierten Formen geben einen Eindruck von der Vielfalt der Möglichkeiten. 78 Wenn der Roman allerdings Briefe komplett druckt, entspricht der Rezipient als Leser in seiner Haltung dem des intradiegetischen Empfängers des Briefes. Der Akt des Vorlesens im Dialog ist die wohl realitätsnächste Darbietungsform; dabei nimmt eine Figur der Diegese als Zuhörer die Position des Publikums ein. Andere Formen der Inhaltswiedergabe ( ‚ lautes ‘ Schreiben, unmotiviertes Vorlesen und andere monologische Formen) sind oft von einer immanenten Künstlichkeit geprägt, entsprechen sie doch in ihrer Darbietungsform nicht dem Medium Schrift und der Privatheit des Briefes. Die Übernahme des Schriftmotivs führt somit, so zeigt es auch von Düffels Dramatisierung der Buddenbrooks, durch die Unterschie- 75 Susanne Peters: Briefe im Theater. Erscheinungsformen und Funktionswandel schriftlicher Kommunikation im englischen Drama von der Shakespeare-Zeit bis zur Gegenwart. Heidelberg: Winter 2003 (= Anglistische Forschungen 334). S. 16. Dabei versteht sie sowohl Brief als auch Drama als textuell und performativ, sodass sie Briefkommunikation nicht nur als Motiv, sondern schriftliche Zeugnisse auf der Theaterbühne auch in Analogie zu dramatischen Darstellungsformen zwischen Schrift und mündlichem Vortrag betrachtet. 76 Vgl. insbesondere Kapitel IV.3 zur ‚ technischen ‘ Darstellung. Ebd. S. 124 - 130. 77 Ebd. S. 323. 78 Weiterhin lässt sich ein Widerspruch zwischen dem Inhalt der Briefe und der tatsächlichen Bühnenhandlung darstellen, wie in Kapitel 4.2.5 am Beispiel der Elixiere des Teufels gezeigt wird. Hier gibt das Gegeneinander von Brieftext und Bühnenhandlung wieder, wie die Erwartungen der Figuren und die Realität des Geschehens auseinanderdriften. 148 <?page no="161"?> de der Gattungen (genauer: durch die Unterschiede der medialen Darstellungsräume der Gattungen) zu divergenten Wirkungen. Von Düffel lässt die Form der Umsetzung einiger Szenen offen und delegiert an die Regie. Im Falle der Briefe zwischen Tony und ihrem Vater wird in der Inszenierung der Faktor der Direktheit der Sprache großen Einfluss auf ihre Autorität und damit auf die Motivation Tonys zur Eheschließung mit Grünlich haben. 79 4.1.5 Innenansichten und Sensibilisierung des Thomas Buddenbrook: eine Verfallsgeschichte? Thomas Mann gibt seinem Roman einen Untertitel mit proleptischer Wendung: Verfall einer Familie. Die Entwicklungsrichtung der Familie Buddenbrook zeichnet er somit im Paratext vor. Der Verfall vollzieht sich im Laufe der Handlung unausweichlich und auf mehreren Ebenen. Walter Erhart findet die Ebenen des Verfalls in einer Äußerung Manns mit den Schlagworten „ sozial, ökonomisch und physiologisch “ 80 zusammengefasst. Tatsächlich lässt sich der Verfall in verschiedener Hinsicht beobachten: Die zunehmende soziale Isolation der Familie, die finanziellen Verluste, die Häufung der Todesfälle und die Verringerung der Lebensdauer vor allem bei den männlichen Familienmitgliedern, diverse Krankheiten, die zunehmende Verinnerlichung und Sensibilisierung der Figuren auf Kosten der praktischen Lebensfähigkeit und Geschäftstüchtigkeit werden Zeichen der Degeneration der Buddenbrooks. 81 John von Düffel verzichtet darauf, den Untertitel des Romans auch für sein Drama zu übernehmen. Ob bewusst oder unbewusst: Er entspricht damit der inhaltlichen Veränderung zwischen Roman und Dramatisierung. Tatsächlich scheint hier der Verfallsprozess nicht solch großen Raum einzunehmen wie im Prätext. Die Verfallsdarstellung des Romans ist in hohem Maße abhängig von Texten des Erzählers, unter anderem von expliziten und 79 Wenn Jean Buddenbrook an die Vernunft seiner Tochter appelliert und die Tradition der Familie hervorhebt, so entscheidet er sich für das Schriftmedium und begründet seine Wahl sogar: Im Hinblick auf die von Peters postulierte Thematisierung oder Überschreitung von Gattungsgrenzen fällt auf, dass von Düffel die als Motti dieses Kapitels gewählten Kommentare zu Schriftlichkeit und Mündlichkeit in seiner ‚ Antwort des Konsuls ‘ auslässt. Gerade diese allerdings könnten dem Rezipienten der Dramatisierung eine Metaebene erschließen. 80 Thomas Mann 1990, Brief an Hugo Marcus vom 11. 5. 1902. Erhart zitiert Thomas Mann, um dann dessen ‚ Diagnose ‘ weiter zu differenzieren. Erhart, Familienmänner. S. 284. 81 Eberhard Lämmert betont erstmals die Vielschichtigkeit in den Gründen für den Niedergang des Hauses. Vgl. Lämmert, Thomas Mann. Buddenbrooks. U. a. S. 205. Ernst Keller differenziert Formen des Verfalls: Das Problem ‚ Verfall ‘ . In: Buddenbrooks-Handbuch. Hrsg. v. Ken Moulden und Gero von Wilpert. Stuttgart: Kröner 1988. S. 157 - 172. 149 <?page no="162"?> impliziten Prolepsen, 82 die das Drama nicht übernimmt. Auch durch die Auswahl der Figuren und Handlungen wird das Thema Verfall zurückgesetzt. Die zunehmende Isolation der Familie kann ohne Darstellung des gesellschaftlichen Umfeldes nicht gezeigt werden. Mit der aufstrebenden und äußerst erfolgreichen Familie Hagenström fehlt das kontrastierende Gegenbild, das den Niedergang des Hauses Buddenbrook für dessen Angehörige besonders spürbar und für den Leser auf plakative Weise erkennbar macht. Hannos Darstellung wird nicht durch die kräftigen Hagenströmkinder kontrastiert. Ebenso fällt der ‚ Geburtenrückgang ‘ im Hause Buddenbrook ohne Tonys Kindsverlust und ohne das Gegenbild der wachsenden Familie Anna Iwersens weniger auf. 83 Besonderen Einfluss auf die Wahrnehmung des Verfalls im Roman haben die dort geschilderten Krankheiten und Todesfälle in der Familie. Die Dramatisierung allerdings zeigt die Sterbeszenen nicht und erwähnt nur wenige Todesfälle. Innerhalb der Dramenhandlung wird lediglich der Tod der Elterngeneration ausführlicher thematisiert. Ihr Tod erscheint in der Genealogie der Familie als natürlicher Vorgang, kaum als Zeichen eines besonders unaufhaltsam fortschreitenden Verfalls. Thomas ’ Tod ist lediglich in den Monolog Christians aufgenommen. Die lange Episode über Hannos Typhuserkrankung wird ebenso ausgespart wie der Tod Claras, der im Roman grausam gezeichnete, qualvolle Sterbeprozess der Konsulin oder die Aufzählung der Verstorbenen, die die Erzählinstanz zu Beginn des elften Teils des Romans ausführlich vornimmt. 84 Wo der Tod der Figuren ins Drama übernommen wird, wird er nur genannt, nicht aber das Sterben gezeigt, sodass er an Raum und Eindrucksstärke verliert. Auch von Krankheiten ist im Drama seltener die Rede, von den so symbolträchtig schlechten Zähnen der 82 Implizite Vorausdeutungen geschehen zum Beispiel über die Betonung des Wetters, wenn bereits zum Ende des 1. Teils „ der Regen rieselte und der Herbstwind um Giebel und Ecken pfiff “ (TM 54). Aber auch explizite Ankündigungen negativer Ereignisse, wie die nach dem Kindstod von Tonys zweiter Tochter, stützen die Atmosphäre des Niedergangs: „ Der Tod ihres zweiten Kindes war weder der letzte noch der härteste Schlag, der sie treffen sollte. . . “ (TM 406). 83 Auch diese Betonung des Niedergangs durch „ fortwährend[e] Gegenbeleuchtung “ hebt bereits Lämmert hervor. Lämmert, Thomas Mann. Buddenbrooks. S. 207. 84 Allein der Tod der Konsulin wird im Roman auf S. 611 bis 626 (TM) geschildert. Die Todesfälle nehmen im Laufe des Buches schon quantitativ immer größeren Raum ein. Dabei wird die Lebensdauer immer kürzer, wie Ernst Keller feststellt. Vgl. Keller, Das Problem ‚ Verfall ‘ . S. 164 f. Zur Funktion der Todesfälle im Sinne eines „ desillusionierenden Kontrasts “ vgl. Felix Höpfner: „ Öäwer tau Moder müssen wi alle warn. . . “ . Zur Physiognomie des Todes in Thomas Manns ‚ Buddenbrooks ‘ . In: Wirkendes Wort 45 (1995). S. 82 - 111. Hier S. 106. 150 <?page no="163"?> männlichen Familienmitglieder bis zur Schlussszene gar nicht. 85 Die vom Erzähler leitmotivisch wiederholten physiologischen Zuschreibungen wie die Augenschatten oder die ungesunde Gesichtsfarbe einiger Figuren fallen aus dem Drama durch die Umsetzung in den direkten Dialog heraus. Selbst Hanno scheint gegenüber dem Roman gesünder, lediglich seine nächtlichen Alpträume werden ein einziges Mal erwähnt (JvD 92). Körperliche Leiden werden in der Bühnenfassung fast ausschließlich in Bezug auf Christian thematisiert. Dessen Krankheiten sind allerdings schon im Roman fragwürdig; sie werden dort ausschließlich durch Christians eigene Schilderung wiedergegeben, während die Leiden anderer Figuren durch Dr. Grabow oder non-figural durch die Erzählinstanz bestätigt werden. 86 Christian tritt im Roman wie im Drama als ‚ malade imaginaire ‘ , mithin als Komödienfigur, auf. Einen Verfall der Familie kann man also eher durch seine Psyche denn durch seinen Körper bestätigt sehen. 87 Das Drama betont insgesamt den inneren Verfall der Figuren stärker als den körperlichen. 88 Während der Leser des Romans viel über Hannos psychisches Befinden, seine Todessehnsucht und Ängste erfährt, ist diese Figur im Drama zu wenig präsent, als dass sich an ihr der Verfall der Familie zeigen könnte. Die Darstellung der Innerlichkeit einer Figur fokussiert sich vor allem 85 So überrascht es fast, dass Christian an Aline Puvogel gerade ihre Zähne lobt (vgl. JvD 77) und dass in seinem Schlussmonolog über den Tod des Bruders dann doch die Todesursache so herausgestellt wird: „ An einem Zahn, einem Backenzahn. Sautod! “ (JvD 107) Vor allem dem Wiedererkennungseffekt kommt dieser Verweis somit zugute. 86 Wo Christians Krankheiten durch den Arzt bestätigt werden, erfährt der Leser dies immer aus dem Munde Christians, nie durch den Arzt selbst. Seine Glaubwürdigkeit wird dadurch eingeschränkt. 87 Die Krankheiten der Buddenbrooks werden als Leitmotive in allen ausführlicheren Darstellungen des Buddenbrooks-Romans erwähnt. Untersucht hat dies Katrin Max: Niedergangsdiagnostik. Zur Funktion von Krankheitsmotiven in ‚ Buddenbrooks ‘ . Frankfurt a. M.: Klostermann 2008 (= Thomas-Mann-Studien 40). Ein recht ausführlicher Forschungsüberblick zu Krankheitsmotiven findet sich bei ihr auf S. 25 - 36. Max bewertet die Krankheiten der Figuren nach den Symptomen des Degenerationsprozesses von Bénédict Auguste Morel. Manfred Dierks kann mit ebensolcher kulturwissenschaftlicher Genauigkeit die Krankheit der Neurasthenie aufzeigen und nahezu wörtliche Übereinstimmungen mit den zeitgenössischen Lehrbüchern zur Neurasthenie nachzeichnen. Manfred Dierks: ‚ Buddenbrooks ‘ als europäischer Nervenroman. In: Thomas Mann Jahrbuch 15 (2002). S. 135 - 151. Vgl. S. 145 - 149. Die unterschiedlichen ‚ Diagnosen ‘ der beiden Untersuchungen weisen darauf hin, dass es sich weniger um klar diagnostizierbare Krankheitsbilder denn um ein vermischtes diskursives Wissen über (Erb- und Zivilisations-)Krankheiten handelt, die in der Fiktion sinnbildlich als Symptomatik des Verfalls fungieren. 88 Dabei ist allerdings auch hier die zunehmende Sensibilisierung weniger vielschichtig als im Roman angelegt. Die verstärkte Rolle der Kunst wird kaum beschrieben. Durch die Streichung Claras fehlt die Verhärtung der religiösen Idee. 151 <?page no="164"?> auf Thomas, der in mehreren Monologen Auskunft über seine Gedanken und Gefühle gibt. 89 Dabei wandelt sich der Duktus der Texte im Verlauf der Dramenhandlung deutlich. Thomas ’ erste Monologe gleichen Reden zur Selbstmotivation, wenn er erklärt: „ Wenn ich leben will, gut leben, werde ich arbeiten müssen, schwer, hart, härter noch als alle anderen. Ich muß mir Härte zufügen, Härte erleiden und es nicht als Härte empfinden, sondern als etwas Selbstverständliches! “ (JvD 11 f.) Der zweite Satz entstammt dabei schon dem letzten Drittel des Romans (vgl. TM 473). Dort wird sein Scheitern an diesem Selbstbild dargestellt. In den ersten Teil des Dramas montiert, wird die Idee zum Ziel gewendet. Nur wer den Roman genau kennt, wird in dieser Umstellung eine Vorausdeutung des Verfalls erkennen. Das oben erwähnte monologische ‚ Trennungsgespräch ‘ mit Anna Iwersen (JvD 21 f.) zeigt erstmals den Verzicht und die Gefühlsunterdrückung, welche Thomas zur Wahrung seiner Rolle betreibt. Der dritte Monolog wird motiviert, indem Thomas die Bücher seines Vaters überprüft und auf Verluste stößt. Ihm werden dabei Aussagen seines Vaters in den Mund gelegt, sodass er im Drama bereits zu Beginn seiner Geschäftstätigkeit, als noch sein Vater die Firma leitet, das Zwanghafte seines Berufs thematisiert: „ [. . .] du reibst dich auf, mit deinen Depeschen, Briefen und Berechnungen. Aber wozu ist der Mensch auf der Welt, als um sich aufzureiben? “ (JvD 37). Im zweiten Akt des Dramas fallen zwei Monologe Thomas ’ auf, die den Innenansichten des Romans entsprechen. Der erste findet sich in Szene 16, wo Thomas nach einem Streit mit seiner Mutter ganz sichtbar die Fassade wieder herzustellen versucht. Der Nebentext gibt an: „ Tom zieht einen Taschenspiegel hervor, betrachtet sich, kämmt sich, versucht sich wiederherzustellen. “ (JvD 87) Thomas sinniert über seine innere Leere und äußert die bekannte Selbsteinschätzung, nach der er den „ Höhepunkt “ seines Lebens längst überschritten habe (JvD 88). Nun zieht von Düffel den Selbstvergleich mit einem Schauspieler vor und schließt ihn direkt an diese Selbsteinschätzung an: „ Ich bin ein Schauspieler. Wirklich! Mein Dasein ist das eines Schauspielers! Mein Leben ist bis auf die geringste, alltäglichste Kleinigkeit zu einer einzigen Produktion geworden, die alle Kräfte in Anspruch nimmt und verzehrt . . . “ (JvD 88). Die in der Aufführung entstehende Metareferenz durch diese Aussage ist evident. Sie soll im Abschnitt 4.1.7 genauer analysiert werden. Thomas ’ letzter Monolog transponiert die Schopenhauer-Passage. Im Abschnitt 4.1.4.1 dieser Arbeit ist diese Szene II.19 bereits mit Blick auf die auffällige Form des auktorialen Monologs analysiert worden und soll hier nur noch in Hinblick auf die Frage der Innerlichkeit und Sensibilisierung 89 Vgl. dazu auch Kapitel 4.1.4 über monologische Strukturen im Drama Buddenbrooks. 152 <?page no="165"?> eingeordnet werden. Es wurde beschrieben, wie sich die Form durch den epischen Beginn der Szene und den sprunghaften Wechsel im Fokus einer Einfühlung eher widersetzt. Dazu trägt der Stil des Textes bei: Parataxe, Ellipse, Aufzählungen und zahlreiche Ausrufezeichen markieren den gehetzten Duktus des zweiten Redeabschnitts in Ich-Form. Er gleicht eher einem verzweifelten Aufbegehren als einer Selbstreflexion. Die „ unbekannte große und dankbare Zufriedenheit “ (JvD 92), die noch im auktorial erzählten Teil des Monologs zum bestimmenden Gefühl erklärt wird, weicht dem Gefühlsausbruch. Insgesamt finden sich Inneneinblicke seltener als im Roman; die entsprechenden Passagen sind (wie die Schopenhauer-Episode) außerdem stark gekürzt. Die Verweise auf die Neurasthenie und die damit verbundene Sensibilisierung sind für den heutigen Rezipienten ohne medizinhistorische Kenntnisse wohl nicht mehr erkennbar und im Drama dementsprechend deutlich gekürzt. Die vielen Monologe deuten nicht zwangsläufig auf eine krankhaft zunehmende Innerlichkeit hin, sondern vor allem auf die zunehmende Isolation, die Verzweiflung und den Kontrollverlust des Familienoberhaupts. In Korrespondenz mit den weniger zirkulär angelegten Handlungssträngen (vgl. Kapitel 4.1.1.2) zugunsten einer polaren Struktur von Konflikt und Entscheidung, könnte - je nach Inszenierung - Thomas Buddenbrook mehr ‚ Schuld ‘ am Verfall zukommen. Da sich der Verfall auf wenigen Ebenen vollzieht und stärker durch Einzelentscheidungen verursacht denn als stetig sich vollziehender Prozess dargestellt wird, wirkt er menschengemacht und weniger zwangsläufig. In dieser Dramatisierung, die das Umfeld, die historischen Umstände, genealogische Entwicklungen und Krankheiten der Buddenbrooks weitgehend ausspart, werden die Entscheidungen des Einzelnen (und insbesondere die des Familienoberhaupts) handlungsrelevant. Auf die Wiederholungsstrukturen und die zunehmende Innerlichkeit Thomas Buddenbrooks verweist hingegen eindringlich eine Szene, die sich maßgeblich von der Darstellung im Roman entfernt und die ebenfalls monologischen Charakter aufweist: Zwischen den beiden zuletzt geschilderten Monologen steht die Szene, in der Hanno beim Firmenjubiläum Ludwig Uhlands Gedicht Schäfers Sonntagslied rezitieren soll. Hanno antizipiert, was passieren wird, wie die Erzählinstanz des Romans dem Leser preisgibt: Er würde weinen müssen, vor Weinen dies Gedicht nicht beenden können, bei dem sich einem das Herz zusammenzog [. . .] . . . weinen, wie es immer geschah, wenn man von ihm verlangte, daß er sich produziere, ihn examinierte, ihn auf seine Fähigkeit und seine Geistesgegenwart prüfte, wie Papa das liebte. (TM 532) 153 <?page no="166"?> In Thomas Manns Buddenbrooks geschieht es genau so: Der Vater kritisiert das Kind, korrigiert seine Haltung, seinen Vortrag. Die Szene wird zu einem Kampf. Thomas kämpft gegen seinen Sohn, dem er „ Festigkeit und Männlichkeit “ (TM 533) abringen will. Hanno kämpft vergeblich gegen seine Tränen. Auch ohne die Innenansichten von Vater und Sohn bleibt die Szene emotional, allerdings vor allem in Empathie zu Hanno. Welche Bedeutung das Geschehen für Thomas hat, würde aus der bloßen Außensicht des Dialogs kaum hervorgehen. John von Düffel lässt Hanno angesichts der Kritik des Vaters zunächst erstarren (JvD 89), schließlich abtreten (JvD 90). Von Tränen ist im Nebentext nicht die Rede. Dann nimmt von Düffel eine interessante Wendung vor, indem er Thomas in die Position seines Sohnes setzt. Der alleingebliebene Vater „ stellt sich in die Mitte des Raumes und sagt auf. . . “ (JvD 90): Er spricht Uhlands Sonntagslied in voller Länge. Anschließend beginnt er zu schluchzen, „ bricht in Tränen aus, bricht zusammen “ (JvD 90). Die Szene macht sichtbar, wie Thomas ’ Haltung der Strenge und der Überlegenheit in Verzweiflung übergeht. Sein Inneres wird ohne Worte offenbart; in ihrer Körperlichkeit kommt die Szene tatsächlich dem nahe, was Walter Erhart Thomas Buddenbrook attestiert: Neurasthenie als „ Schwäche der Männlichkeit “ , als „ Auflösung “ der körperlichen Stabilität und der paternalen Ordnung. 90 In Anbetracht der durch die Aufführungssituation betonten Masken- Metapher Thomas Buddenbrooks und seine nur am Rande thematisierte Vaterrolle zeigt sich allerdings in dieser Szene des Dramas weniger das Neurasthenische seines Wesens. Vielmehr verdeutlicht der körperliche Zusammenbruch den Zusammenbruch einer Rollenidentität; er ist die einfache und deshalb so wirkungsvolle Illustration und Interpretation der Schauspielmetapher. Vor allem aber findet in Thomas ’ Zusammenbruch auch Hannos Gefühlswelt einen Ausdruck, ohne dass dieser selbst Tränen vergießen muss. Die Szene, die zum Rührstück um ein gequältes Kind hätte werden können, wird so zum Ausdruck der Verzweiflung des Protagonisten. Zudem offenbart sich in dieser dramatischen Umsetzung eine im Roman durch den Erzähler angedeutete Parallele der Figuren, auf die auch Walter Erhart hinweist: 91 Thomas wünscht sich auf der Feier zum Firmenjubiläum in regressiver Manier, „ in den Armen seiner Mutter, an ihrer Brust “ (TM 528) zu liegen, wie sich Hanno bei derselben Gelegenheit in Idas Arme wünscht, als er das Gedicht aufsagen soll (vgl. TM 534). Auffällig wird in dieser Szene also insbesondere die Diskrepanz zwischen äußerer Form und innerer Zerrüttung. Diese kann in John von Düffels Drama 90 Erhart, Familienmänner. S. 295. 91 Vgl. ebd. S. 290. 154 <?page no="167"?> nicht nur in der Figur des Thomas beobachtet werden; sie gilt auch für die Familie als Ganzes. Bei von Düffel verfallen weniger Ansehen und Kapital der Familie und auch kaum deren Körper. Hier ver- oder besser zerfällt die Familie, indem ihre Mitglieder an den von der Familie selbst gesetzten Ansprüchen scheitern. Die dramatische Form zeigt die widerstrebenden Kräfte vom Wunsch nach Familienzusammenhalt (der mit dem Erhalt der Firma gleichgesetzt wird) und innerer Zerrüttung in der Familie überzeugender als einen allmählichen Verfall auf vielen Ebenen. Das Drama endet entsprechend auch nicht mit einem Familientreffen, bei dem sich die verbliebenen Mitglieder zusammenfinden. Den Schluss bildet mit Christians Monolog in der Psychiatrie ein Moment größtmöglicher Vereinzelung. Der im Roman breit geschilderte Verfall einer Familie wird mit der Konzentration auf wenig Personal und den familiären Konflikt zum Kammerspiel, das die Wünsche des Einzelnen und die Ansprüche des ganzen Hauses zueinander in Beziehung setzt. 4.1.6 Christian Buddenbrook als Entertainer und Narr: intermediale Bezüge Christian Buddenbrook spricht das Schlusswort des Dramas (vgl. JvD 106 f.) und schildert darin zwar Thomas ’ Tod, bleibt aber stets auf die eigenen Person bezogen, sodass er nicht nur als Sprecher die strukturell wichtige Szene bestimmt, sondern gleichzeitig selbst ihr Thema ist. Der Monolog ist aus zwei Teilen des Romans konstruiert. Er entspricht Inhalten aus Kapitel 6 des zehnten Teils, in dem die Erzählinstanz Christians gemeinsamen Kuraufenthalt mit seinem Bruder in Travemünde mit der Zunahme seiner Leiden begründet. Dabei spielen nun auch psychische Dispositionen, so zum Beispiel seine Todessehnsucht, eine Rolle. 92 Christians Schilderungen werden an dieser Stelle vom Erzähler nur zusammenfassend und indirekt wiedergegeben und stets von der erschreckten Reaktion der Familie gesäumt. Schlimmer als seine Leiden scheint ihnen „ der sonderbare Mangel an Taktgefühl “ (TM 732), der es ihm erst möglich macht, in Gesellschaft von seinen physischen und psychischen Problemen zu erzählen. Entsprechend sperrt 92 „ Was er aber mit besonderer Ausführlichkeit, Eindringlichkeit und Anstrengung, sich ganz verständlich zu machen, beschrieb, war eine scheußliche Anomalie, die er in letzter Zeit an sich wahrgenommen hatte und die darin bestand, daß er an gewissen Tagen, das heißt bei gewisser Witterung und Gemütsverfassung, kein offenes Fenster sehen konnte, ohne von dem gräßlichen und durch nichts gerechtfertigten Drange befallen zu werden, hinauszuspringen. . . einem wilden und kaum unterdrückbaren Triebe, einer Art von unsinnigem und verzweifelten Übermut! “ (TM 731) 155 <?page no="168"?> sich die Familie gegen Christians Geschichten, denn seine Berichte werden offenbar als unangemessene Selbstinszenierungen und nicht als Gesuch um Hilfe wahrgenommen: „ Hier aber schrie Alles auf, und niemand wollte ihm weiter zuhören. “ (TM 731) Ähnlich wie oben in Bezug auf Tony Buddenbrook geschildert, gewinnt auch Christian in der Dramatisierung direkte Äußerungsmöglichkeiten und kann ohne die distanzierte Haltung der Familie (er tritt besonders im ersten Teil des Dramas, wie in Abschnitt 4.1.2 beschrieben, oft allein auf) und der Erzählinstanz ernsthafter betrachtet werden. Dass er in der Schlussszene den Tod beschuldigt, seinen Bruder ihm gegenüber vorgezogen zu haben, verleiht ihm hingegen Züge des Narren - ein Aspekt, der unten noch ausgeführt werden soll. Bei Thomas Mann finden sich entsprechende Passagen bei Christians Besuch an Thomas ’ Totenbett. Sie sind dort Teil der erlebten Rede, die Christians Gedanken beim Anblick des toten Bruders schildert: Diese Frage fiel dahin, sie war sinnlos geworden, da der Tod in eigensinniger und unberechenbarer Parteilichkeit ihn, ihn ausgezeichnet und gerechtfertigt, ihn angenommen und aufgenommen, ihn ehrwürdig gemacht und ihm befehlshaberisch das allgemeine, scheue Interesse verschafft hatte, während er Christian verschmähte und nur fortfahren würde, ihn mit fünfzig Mätzchen und Chikanen zu hänseln, vor denen niemand Respekt hatte. (TM 756 f.) Erst in der Dramatisierung werden die Worte zur direkten Anrufung eines personifizierten Todes. Sie findet jedoch nicht am Totenbett statt, sondern in einer im Roman nur am Rande erwähnten „ Anstalt “ (TM 772), wie der Nebentext angibt: „ Musik, dann helles, klinisch weißes Neonlicht. Christian in einer Zelle der Psychiatrie “ (JvD 106). Christian agiert aggressiver und wahnsinniger als in der entsprechenden Romanpassage: Was soll das, Tod, du! Was fällt dir ein, du, Tod, daß du ihn auszeichnest, ihn rechtfertigst, ihn annimmst und aufnimmst und ehrwürdig machst, immer ihn! Immer Thomas! Thomas Buddenbrook! Und mich, mich hänselst du, mich verhöhnst du mit lauter Mätzchen und Schikanen, vor denen niemand Respekt hat, über die alle Welt lacht! Du Sautod, du! [. . .] Ich hasse dich, ich hasse dich! (JvD 106 f.) So wirkt das Demutsgefühl gegenüber dem Bruder im Roman stärker, während die Dramatisierung den Hass auf den Tod betont und nur das Schlusswort: „ Du hast recht bekommen, Thomas, und ich beuge mich, Bruder, ich beuge mich “ (JvD 107), Christians resignierende Haltung aufnimmt. Nach dem Aufbegehren im vorangegangenen Monologtext wirkt dies eher wie die Kapitulation in einem erst jetzt verlorenen Kampf. Die wüste Beschimpfung des Todes, den er als handelnde Person etabliert, lässt die Szene zwischen unheimlicher und komischer Stimmung changieren. 156 <?page no="169"?> Die Darstellung Christians rekurriert hier und auch im übrigen Drama auf eine lange Tradition der literarischen und später filmischen Darstellung des Wahnsinnigen, der Irrenanstalt und des Narren. Merkmal der Motivgruppe ist das Schwanken zwischen Wahn und Hellsicht, Dummheit und Weisheit, Ernst und Komik. Die Narrenfigur ist dabei lustige Figur, Parodist und bisweilen Komplize des Publikums, kann aber auch unheimliche und ernste Züge annehmen, Zerrspiegel gesellschaftlicher Missstände und damit Träger kritischer Botschaften sein. Diese Ambivalenz des Narren geht einher mit den tragikomischen Zügen der Figur. Für die Darstellung des Christian Buddenbrook ist besonders der Narr in Bezug zum Künstler von Interesse, wie er in der Romantik wieder eingeführt wurde. Die Durchbrechung der Illusion, das Überspielen der Rampe und der Einsatz des Narren als „ Reflexionsfigur der Autorfunktion “ 93 ist in der Dramatisierung tatsächlich Christian zugeschrieben, der mit seiner Theaterliebe die Aufführungssituation karikiert und zum Verbündeten des Publikums wird (vgl. dazu Kapitel 4.1.7). Die Dramatisierung scheint sich bei der Anlage der Figur Christian Buddenbrook weniger am Roman als vielmehr an der Verfilmung von Alfred Weidenmann aus dem Jahr 1959 zu orientieren. 94 Auch hier wird Christian in Traditionen der tragikomischen Figur dargestellt, zunächst mit Entertainerqualitäten, schließlich zunehmend als Narr oder gar Wahnsinniger. Holger Pils stellt als Charakteristikum der 1959er-Verfilmung fest: „ Während viele Handlungsmomente fehlen, werden bestimmte Andeutungen und Schilderungen zum Anlass genommen, Szenen (Christians Auftritte im Club; sein Aufenthalt in der Nervenklinik) oder Personenauftritte (Aline Puvogel, wiederholt Anna) einzufügen. “ 95 In dieser Zusammenstellung fällt auf, dass Weidenmanns Verfilmung gerade Christian mehr Raum und eigene Auftritte einräumt. Deshalb und wegen der schauspielerischen Leistung Hanns Lothars hat die Figur in der Rezeption des Films zu Recht besondere Aufmerksamkeit erfahren. 96 Während Weidenmanns Verfilmung auch Aline Puvogel zwei große Auftritte (einen im Club, einen in der Psychiatrie) gewährt, bleibt sie in der Dramatisierung außerhalb der sichtbaren Handlung. Durch die Erweiterung gewinnt im Drama allein Christian Budden- 93 Jürgen Brummack: Narrenfiguren in der dramatischen Literatur der Romantik. In: Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Hrsg. v. Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Tübingen: Niemeyer 2000. S. 45 - 64. Hier S. 48. 94 Buddenbrooks. Teil I u. II (BR Deutschland, 1959, Regie: Alfred Weidenmann). 95 Holger Pils: Relektüre Buddenbrooks. Adaptionen für Film und Fernsehen. In: ‚ Buddenbrooks ‘ . Neue Blicke in ein altes Buch. Hrsg. v. Manfred Eickhölter und Hans Wißkirchen. Lübeck: Dräger Druck 2000. S. 154 - 175. Hier S. 173. 96 Vgl. die Rezeptionsanalyse bei Pils, ebd. S. 166. 157 <?page no="170"?> brook an Bedeutung; er wird (trotz häufiger Abwesenheit vom lokalen und erzählerischen Zentrum der Handlung) zu einer Hauptfigur und über die Entertainer-Auftritte im ersten Akt auch zum Sympathieträger. Christians Showauftritt im Club mit der Ballade That ’ s Maria ist eine der beiden eindeutigen Bezüge zwischen Filmzweiteiler und Dramatisierung. Den zweiten bilden die beiden Szenen, in denen Christian in der Anstalt dargestellt wird. Der eingangs besprochene Monolog der Dramatisierung findet sich ähnlich bereits in der Verfilmung. Auch hier wurde die Passage zur Todessehnsucht und zum Fenstersprung gewählt, um Christians Situation in der Psychiatrie einzuführen. 97 Während allerdings Weidenmann hauptsächlich inszeniert, wie Christian zum Betrogenen wird, indem Aline ihn in die Klinik abschiebt, und damit eine eher distanzierte Form des Mitleids mit der Figur erzeugt, gibt von Düffel Christians Innerem und seinem Wahnsinn über den Monolog größeren Raum und rückt so die Figur gegen Ende stärker ins Tragische. Direkt nachweisbar ist der Bezug zwischen Film und Drama, wie oben erwähnt, durch die Übernahme des Liedtextes zu That ’ s Maria 98 ; die Ballade wird im Roman zwar erwähnt, Christian ist hier allerdings nicht der Sänger, sondern lediglich Zuschauer im Varieté. Der Text des Liedes wird nicht ausgeführt und auch die Schilderung der Szene durch Christian bleibt recht kurz (vgl. TM 287). Im Film hingegen wird die Szene zur Charakterisierung Christians genutzt: durch einen abrupten Stimmungswechsel vom komischen Entertainer zur melancholischen Figur. Denn Christian bricht seinen schwungvollen Auftritt jäh ab und stellt leise fest: „ Ich muss jetzt nach Hause “ 99 . Die Mimik kippt dabei ins Nachdenkliche, wenn nicht ins Traurige. Das Drama übernimmt auch den oben geschilderten Kippmoment ins Ernste, setzt diesen aber an andere Stelle; nach dem Tod der Mutter stellt eine kurze Szene Christians Reaktion dar: Christian mit Gepäck, er stolpert, tritt gegen einen Koffer, noch ein Tritt, ein Tanz wird daraus, eine wütende, entfesselte Steppnummer. Plötzlich bricht er ab. CHRISTIAN Ich muß nach Hause . . . Licht. (JvD 50) Hier wird der Entertainer als gebrochene Figur präsentiert. Der plötzliche Bruch vor der Feststellung, er müsse nach Hause, ähnelt dem ihm Film, doch 97 Buddenbrooks. Teil II (Alfred Weidenmann). 01: 23: 18. 98 Buddenbrooks. Teil I (Alfred Weidenmann). 01: 16: 00. 99 Ebd. 01: 17: 50. 158 <?page no="171"?> ist hier die Verzweiflung bereits deutlicher und macht sich körperlich bemerkbar, wie der Vermittlertext angibt. John von Düffel platziert diese Szene an strukturell wichtiger Stelle direkt vor der Pause und kündigt damit an, dass Christian im zweiten Akt eine zentrale Rolle spielen wird. Walter Erhart beschreibt ebenfalls diese Traditionslinie, obwohl er sich in seiner Analyse auf die Bühnenfassung der Hamburger Inszenierung bezieht, in der die Psychiatrie-Szene gestrichen wurde. Er sieht einen Trend in der Stärkung der Figur des Christian, die erst in der Rezeptionsgeschichte in ihrer Wichtigkeit wahrgenommen wurde. Im Ausbau der Rolle spiegele „ sich nicht allein der Einfall einer gelungenen Inszenierung (und die Leistung eines guten Schauspielers), sondern ein erstaunlicher Vorgang der Buddenbrooks- Geschichte: Die postume Karriere eines fortgesetzten Bankrotteurs. “ 100 Das Potential der Figur werde erst in der Wirkungsgeschichte entfaltet. Christian wirke dabei „ rätselhaft fast wie seine undefinierbaren Krankheitssymptome “ 101 , beschreibe den Stillstand und die Leere in der Familiengeschichte - „ eine nicht tragische, sondern zuweilen höchst komische Geschichte, die zum befreienden Lachen aber so ganz und gar nicht taugt “ . 102 In seiner tragikomischen Rolle wird er nicht nur sympathisch, sondern auch modern und damit für die aktuelle Rezeption attraktiv, wie Erhart beobachtet: In der Hamburger Inszenierung - vielleicht auch in den gegenwärtigen Interpretationen der Buddenbrooks - sind die ‚ unmännlichen ‘ Züge Christians eher zurückgedrängt, und Thomas erscheint weniger als ‚ heroischer ‘ denn als zwangsneurotischer Charakter, als Karikatur eines männlichen Helden, demgegenüber Christian deutlich an ‚ heldenhafter ‘ Statur gewinnt. Zu offensichtlich wohl ist eine den männlichen Buddenbrooks aufgegebene Männlichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts bereits desavouiert, zu gründlich sind die Geschlechterkämpfe ausgefochten, und so eignet sich das männliche Firmenoberhaupt der Buddenbrooks heute bloß zum verzerrten und recht eigentlich historisch gewordenen Bild eines bereits abgedankten und neurotisch gewordenen männlichen Geschlechts. Der Hysteriker Christian hingegen bleibt demgegenüber fast modern. Er desavouiert Männlichkeit und und [sic! ] durchkreuzt die historische Ordnung der Geschlechter, er bietet auf vielfache Weise eine Folie, auf der seine Existenz und sein Leiden, seine ‚ Unordnung ‘ und seine Rätselhaftigkeit heute noch einmal in den Vordergrund gespielt werden. 103 Der intermediale Bezug ist so in zweierlei Hinsicht von Interesse: In den Adaptionen manifestiert sich erstens die Umwertung der Figur im Zuge des 100 Walter Erhart: Die (Wieder-)Entdeckung des Hysterikers: Christian Buddenbrook. In: Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Hrsg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006 (= Theater und Universität im Gespräch 4). S. 91 - 110. Hier S. 92. 101 Ebd. 102 Ebd. S. 93. 103 Ebd. S. 102 f. 159 <?page no="172"?> Rezeptionsprozesses; sie werden zu Zeugnissen der Interpretationen. Gerade in der diachronen Reihung zeichnen sich Deutungsverschiebungen ab. Zweitens wird an dieser Stelle möglicherweise exemplarisch ein literarhistorischer Prozess sichtbar: In von Düffels Drama wird neben dem Roman auch Weidenmanns filmische Interpretation als Quelle herangezogen und damit eine mehrfache Orientierung und intermediale Bezugnahme geschaffen. Aus einer solchen mehrfachen Adaption in verschiedenen Medien, in denen die Prätexte sich zu verschieben und zu vermischen beginnen, könnte auf längere Sicht ein Verständnis der Buddenbrooks-Geschichte als Stoff oder einzelner Figuren als Typus entstehen. Es beginnt eine Ablösung zentraler Handlungselemente und Figuren von einem einzelnen Prätext, wie ihn die Einflussforschung als ‚ Ursprung ‘ festzustellen versucht. Stattdessen entsteht eine im Sinne moderner Mythentheorien definierbare Struktur aus narrativen Bausteinen, die nicht mehr auf eine einzelne Fassung rekurrieren. 104 4.1.7 Metareferenzen und das Schauspielen im Schauspiel Christian Buddenbrook stellt nicht nur wegen seiner Modernität eine dankbare Figur für die Dramatisierung dar, sondern auch deshalb, weil er als Entertainer und erklärter Freund des Theaters in Buddenbrooks als Bühnenstück die mediale Situation des Zuschauers reflektiert. Da Hanno, der ebenfalls als theatrophil gelten darf, in der Dramatisierung nur wenig Raum einnimmt, wird Christian hier zum Repräsentanten des Theaterliebhabers. Doch Buddenbrooks bietet auch als Roman weit mehr als diesen Bezug zum Theater, zum Schauspielen und zu dramatischen Formen. Vier Arten von Bezügen lassen sich isolieren: Zum Ersten wurde im Kapitel zur Figurenzeichnung bereits erwähnt, dass einige Figuren dramatischen Typen ähneln. Alois Permaneder erinnert stark an die Personnage mundartlicher Schwänke. 105 Insbesondere aus seinem Dialekt, der gerade im Gespräch mit der Konsulin hervortritt und das gegenseitige Verstehen schwierig bis unmöglich macht (vgl. TM 354 - 359), ergibt sich das Komödiantische der Begegnung. Aber auch jenseits der 104 Näheres zur Frage der Stoffentwicklung als Ablösung von einer einzelnen Quelle in Kapitel 6.3. 105 So beschreibt es auch Gert Sautermeister: „ Der Bajuware Permaneder agiert, wie seinerzeit der Hamburger Grünlich, im Hause Buddenbrook wie auf einer Bühne, als sei er einer Komödie entsprungen, freilich einer bayrischen. Der Erzähler setzt ihn mit folkloristischen Zügen in Szene, die derben Lustspielcharakter haben; Figuren wie Permaneder bevölkern noch heute die bayrischen Volkskomödien [. . .]. “ Gert Sautermeister: Tony Buddenbrook. Lebensstufen, Bruchlinien, Gestaltwandel. In: Thomas Mann Jahrbuch 20 (2007). S. 103 - 132. Hier S. 121 f. 160 <?page no="173"?> direkten Rede wird seine „ verdrossen behagliche Formlosigkeit des Benehmens “ (TM 363) in so vielen Gesten und Handlungen geschildert, dass ein Regisseur kaum ein lebendigeres Klischeebild eines Bayern inszenieren könnte. Seine Statur und sein rundes Gesicht mit Schnauzbart, die im Kontrast zur süddeutschen Tracht etwas „ Seehundsartiges “ (TM 356) mit sich bringen, tun ihr Übriges. Er wird folglich ohne größere Veränderungen in die Bühnenfassung übernommen. Bereits der isolierte Dialogtext, ergänzt um ein paar Nebentexte, die verlegenes Schweigen der Konsulin angeben (JvD 69 f.), lässt die Komik der Inszenierung erahnen. Wie eine Komödienfigur wirkt auch Bendix Grünlich. Wenn Gert Sautermeister die entsprechenden Passagen des Romans beschreibt, wechselt er selbst ins Theatervokabular: Grünlich betrete „ die deutsche Erzählbühne “ , „ ein Schauspieler und mit allen Wassern gewaschener Komödiant “ , den der Erzähler „ in Szene “ setze. 106 Doch Grünlich unterscheidet sich von Permaneder: Er vermittelt den Eindruck einer Theaterfigur nicht nur durch seine gestelzte Ausdrucksweise und seine überzogene Gestik, sondern entpuppt sich auch innerdiegetisch als Schauspieler. 107 Damit stellt er den Bezug zum Theater auf eine zweite Weise her: Seine Ähnlichkeit mit einer Komödienfigur entlarvt sein unehrliches Auftreten. Besonders eindrucksvoll wirkt hier sein Kniefall vor Tony, in dem die junge Romanleserin sogleich das Pathos der literarischen Vorlagen erkennt: „ War es möglich, daß sie dies erlebte? In Romanen las man dergleichen, und nun lag im gewöhnlichen Leben ein Herr im Gehrock vor ihr auf den Knieen und flehte! “ (TM 121) Grünlich inszeniert sich selbst und sucht seine Vorbilder in der Literatur; das Pathos soll die lesefreudige Tony überzeugen. Grünlich spielt den Werther; in Kenntnis seiner wahren Absichten und durch die schon um 1900 unzeitgemäß wirkende, schmeichlerische Art aber entlarvt er sich als Intrigant. Damit vertritt er einen beliebten Figurentypus insbesondere in den dramatischen Genres Schaupiel und Oper. 108 Seine Verstellung verweist implizit auf die Metaebene der Theateraufführung. 106 Ebd. S. 109 und 110. 107 Keller sieht eine Nähe Grünlich zu Thomas Buddenbrook, da beide bewusst Schauspieler seien. Grünlich spiele die „ Rolle des christlichen Kaufmanns “ , die Rolle des „ glühenden Liebhabers “ und die des „ zerknirschte[n] Sünder[s] “ . Keller, Figuren. S. 193. 108 So führt auch Peter von Matt in seiner Monographie über die Intrige auffällig viele Dramen als Beispiele an. Vgl. Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München/ Wien: Hanser 2006. Dass er die Intrige in besonderem Zusammenhang zur Anagnorisis, also einem dramentheoretischen Begriff sieht, deutet das spezifisch dramatische Element der Intrige bereits an. (vgl. exemplarisch Kapitel XV, S. 133 - 138). Gert Sautermeister vergleicht Grünlich überzeugend mit Molières Figur des Tartuffe 161 <?page no="174"?> Während Grünlich also in böser Absicht spielt, wenn er gefälschte Bücher vorlegt, Interesse am Familienleben heuchelt oder Tony zu überrumpeln versucht, spielt Christian aus Lust und Begeisterung am Theater. Er ist allerdings weniger Schauspieler als vielmehr Entertainer und Komödiant, wenn er auf der Bühne That ’ s Maria zum Besten gibt oder Grünlichs Auftritt beim Familienkaffee offenbar gelungen parodiert. 109 Christian aber stellt eine weitere Art des Bezugs zum Theater her, indem er es direkt thematisiert. Wenn er im Roman vom Theater schwärmt, so mag ihn dies als träumerisch charakterisieren und zeigt seine Lust an der Illusion sowie seine unstete Identität. In der Bühneninszenierung jedoch ergibt sich durch denselben Text eine neue Dimension. Als Liebhaber des Theaters wird er zum Verbündeten des Publikums, das ja - so lässt sich vermuten - ebenfalls gern und mit Begeisterung das Schauspiel besucht. Das Publikum findet sich in Christian gespiegelt, wenn er schwärmt: „ Ich kann gar nicht sagen, wie gern ich im Theater bin. Schon das Wort ‚ Theater ‘ macht mich glücklich. Ich weiß nicht, ob jemand von euch dies Gefühl kennt? “ (JvD 53), zumal sein Redeschwall kaum den auf der Bühne anwesenden Familienmitgliedern gilt. Stattdessen scheint das Publikum angesprochen - denn aus der Familie reagiert niemand auf seine Reden. Die Metareferenz wirkt zunächst komisch, weil sie der Figur nicht bewusst ist. Doch auch die oben skizzierte Umwertung Christians zur positiven Figur wird dadurch gestärkt, dass er sich zum Teil des Publikums macht. Eine besonders komische Art der dramatischen Ironie ergibt sich, als er die Anekdote zum Besten gibt, wie er einmal versehentlich während einer Aufführung auf die Bühne geraten sei. Für den Zuschauer wird die Doppelbödigkeit besonders deutlich, wenn Christian anschließend seine Ehrfurcht vor dem Schauspieler artikuliert: Ich habe in London und auch in Valparaiso viel mit Schauspielern verkehrt. Zu Anfang war ich wahrhaftig stolz, mit ihnen so im ganz gewöhnlichen Leben sprechen zu können. Im Theater achte ich auf jede ihrer Bewegungen . . . das ist sehr interessant! Einer sagt sein letztes Wort, dreht sich in aller Ruhe um und geht ganz langsam und sicher und ohne Verlegenheit zur Tür, obwohl er weiß, daß die Augen des ganzen Theaters auf ihn gerichtet sind . . . wie man das kann! (JvD 53) Die Aussage entwickelt im Munde eines Schauspielers bei der Aufführung durch den Wissensvorsprung der Rezipienten vor der Figur sehr viel Komik. Aber durch die übertriebene Hochachtung, mit der jenseits der Diegese schließlich ein Schauspieler für sich selbst und seine Kollegen schwärmt, werden auch der Theaterbetrieb und die ehrfürchtige Haltung diesem (vgl. Sautermeister, Tony Buddenbrook. S. 109 f.) und ordnet ihn damit in das Figurenkabinett der dramatischen Intriganten ein. 109 „ Christian imitiert Grünlich, alle lachen “ (JvD 11). 162 <?page no="175"?> gegenüber ironisiert. Denn obwohl Christians Rede in der Fiktion des Bühnenstücks verbleibt, ist der Bruch mit den verschiedenen Ebenen der Aufführung inhärent, sobald Publikum anwesend ist. Ernsthafter gibt sich die vierte Art des Theaterbezugs, das Sprechen vom Schauspielen im Leben im Sinne der Übernahme einer sozialen Rolle. Hier spricht Thomas Buddenbrook den zentralen Monolog, der in der Theateraufführung gleichzeitig die sinnbildliche und die konkrete Bedeutung des Schauspielens darbietet: Er ist mit seiner Toilette fertig, schminkt sich aber noch einmal von vorn. TOM Ich bin ein Schauspieler. Wirklich! Mein Dasein ist das eines Schauspielers! Mein Leben ist bis auf die geringste, alltäglichste Kleinigkeit zu einer einzigen Produktion geworden, die alle Kräfte in Anspruch nimmt und verzehrt. . . [. . .] Alles, was ich tue, ist künstlich, bewußt und gezwungen, jedes Wort, jede Bewegung, jede geringste Aktion unter Menschen ist zu einer unnatürlichen, aufreibenden Schauspielerei geworden! Ich bin krank! Ich ertrage es nicht, das Tageslicht im Rücken zu haben, mich selbst im Schatten zu wissen und die Leute in heller Beleuchtung vor mir zu sehen; ich brauche Licht von vorn, ich muß es, halb geblendet, in den Augen fühlen, und die Leute, mein Publikum als eine bloße Masse im Schatten vor mir sehen. . . nur das gibt mir Sicherheit, nur das verschafft mir diesen blinden Rausch des Produzierens, der einzige Zustand, den ich noch ertrage. Ich ertrage es nicht mehr! (JvD 88) Die Übernahme des Theaterbezugs ist an dieser Stelle problematischer als in der ironischen Variante bei Christian. Das Publikum erkennt auch hier sofort die Selbstreferenz der Schauspieleraussage. Es entsteht ein fast Brecht ’ scher Zug der Desillusionierung. Wo aber die vierte Wand durch den Monolog geöffnet ist und die Figur durch die ernsthafte Thematisierung ihres Rollendaseins den Fokus auf die mediale Aufführungssituation bringt, da wirkt es entweder komisch (wie bei Christian) oder höchst problematisch, ja: fehlerhaft, dass sie nicht in der Lage ist, die Situation zu erkennen. Denn Thomas steht ja gerade vor Publikum und hat ‚ Licht von vorn ‘ . Das ‚ Publikum als bloße Masse ‘ sitzt im Schatten vor ihm und er ‚ erträgt es dennoch nicht mehr ‘ . Auch hat Thomas sich im Drama bis zu diesem Punkt nicht in besonderer Weise als Rollenspieler produziert. Trotz des Illusionsbruchs stellt sich keine Komik ein, da die Figur nicht als komische angelegt ist. So wirkt der Monolog, der im Roman noch überzeugend auf die Selbstdarstellung des Senators verweist, 110 hier eher befremdlich. „ Das Schauspie- 110 Dort wird das Bild von Thomas als eitlem Rollenspieler allerdings vor allem mit äußerer Fokalisierung gezeichnet, das Bild des Schauspielers wird durch sein Bild bei der Gesellschaft eingeführt (vgl. TM 613). 163 <?page no="176"?> lerische ist die Folge der Reflexivität. Wenn nichts mehr Natur ist, also von selber geht, muß man alles machen “ , so erklärt Hermann Kurzke Thomas ’ Haltung. 111 Doch gerade in dieser negativen Wertung der Rollenmetaphorik sieht Walter Erhart aus heutiger Perspektive einen Grund für die Historizität der Figur Thomas Buddenbrook. Die im 20. Jahrhundert beliebte Rollentheorie und die heute populären „ Metaphern des Theatralischen “ 112 würden die variable menschliche Existenz und wechselnde Identitäten als lustvolle Konstruktionen beschreiben. Thomas Buddenbrook allerdings kann der Mühe des Schauspielens und den damit verbundenen Inszenierungsmöglichkeiten noch nichts abgewinnen, leidet vielmehr unter dem Verlust eines kaufmännischen Ethos, einer Substanz, die er selbst nur noch äußerlich zu verkörpern und zu präsentieren versteht - wenn überhaupt. Christian hingegen verkörpert eine extreme Distanz zu seinen Rollen. Er besitzt ein schauspielerisches Talent gerade in der komischen Imitation [. . .]. 113 Damit verweise Christian auf ein moderneres Konzept des Daseins, wenngleich er mit der Aufgabe einer klaren Identität bezahlt. In seiner Passivität beziehe sich die Figur des Christian auf eine bleibende und daher auch zeitlos aktuelle weil „ stets wiederkehrende Existenz- und Leidensmöglichkeit “ , auf „ ein Subjekt, das kein Selbstwertgefühl entwickelt und dem die Welthaftigkeit abhanden kommt, auf das gleichsam leere Ich in einer betriebsamen Welt “ . 114 Ob diese Diskrepanz zwischen der Modernität von Christians und der Historizität von Thomas ’ Haltung in der Dramatisierung beabsichtigt ist, kann nicht entschieden werden. Die Bühnenadaption entlarvt diese Ungleichheit durch die Metareferenz allerdings überzeugend. 4.1.8 Buddenbrooks im Gattungswechsel: epische Verfallsstrukturen und eine dramatische Lösung Auch wenn in Bezug auf Thomas ’ schauspielerisches Leben der Gattungs- und mediale Wechsel zu intermedialen (Ver-)Spannungen führt, funktioniert Buddenbrooks als Drama weitgehend gut. Gründe dafür liegen in den vorhandenen dramentypischen Figuren, die oben genannt wurden; besonders aber in ganzen Passagen mit dialogischem und damit dramenfreundlichem Charakter, wie schon die Forschungsliteratur zu Thomas Manns Werk feststellt. Insbesondere die Handlung um Tony, ihre Ehen und ihre Liebe zu 111 Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche - Werk - Wirkung. München: Beck (= Beck ’ sche Elementarbücher/ Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte) 1985. Hier S. 72. 112 Erhart, Die (Wieder-)Entdeckung des Hysterikers. S. 108. 113 Ebd. 114 Ebd. S. 110. 164 <?page no="177"?> Morten kommt dem bürgerlichen Trauerspiel nahe. Eckhard Heftrich vergleicht die entsprechenden Teile des Romans überzeugend mit Friedrich Schillers Kabale und Liebe, charakterisiert Lotsenkommandeur Schwarzkopf als Pendant zu Luises Vater und identifiziert in Bendix Grünlich denselben Figurentypus wie im Sekretarius Wurm. 115 Als tragische Elemente identifiziert er dabei die Entscheidungen, vor denen die Angehörigen der Familie Buddenbrook immer wieder stehen und bei denen sie - denn der Verfall ist unausweichlich - immer wieder die falsche Wahl treffen müssen: Wer unter solchem Gesetz steht, wird an die Wegkreuzung nur geführt, damit er die Richtung wähle, die zum Ende führt. Aber die Wegkreuzung ist nötig, damit das Drama die Erhöhung zur Tragödie erfährt und der fahle Glanz des Verhängnisses auf die Menschen fällt, die in diesem Zwielicht zu lebendigen und wahrhaft leidenden Gestalten werden, anstatt nur wie Puppen an den Fäden des Schicksals zu agieren. Der Zuschauer muß ahnen, ja wissen, daß der Held falsch handelt, wenn er mit ihm fühlen und mit ihm leiden soll. 116 Die komischen Elemente wurden oben thematisiert. Heftrich spricht schließlich von Tonys Liebes- und Ehegeschichten als einer „ bürgerlichen Tragikomödie “ 117 und steht damit nicht allein. Auch Jochen Vogt nennt die Episoden um Tonys erste Ehe eine „ Tragikomödie “ . 118 Doch er spricht auch insgesamt (vgl. Fußnote 11 dieses Kapitels) von einer szenischen Struktur des Romans, der dialogische Passagen mit episch beschreibenden abwechsle. Die Darstellung des inneren Befindens der Figuren bilde keinen Widerspruch zur dramatischen Struktur des Romans, denn das ‚ Psychologisieren ‘ sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts gattungsübergreifend beliebt, bemerkt Helmut Koopmann und führt dabei die Tradition der Figurenpsychologie insbesondere des Dramas an: „ Wie sehr aber auch der neue Roman [jenseits des 19. Jahrhunderts; Anm. B. L.] vom Psychologisieren erfaßt worden war, zeigen die ‚ Buddenbrooks ‘ ; im Drama läßt sich dieses Phänomen im Gefolge Ibsens, Strindbergs und Tschechows mindestens ebenso deutlich beobachten. “ 119 An der Figur des Thomas Buddenbrook wird aber auch deutlich, dass die Dramatisierung kaum einen stetigen Verfall der Familie auf verschiedenen Ebenen darbietet. Einen Hinweis auf das literarische Muster, das struktur- 115 Vgl. Eckhard Heftrich: Über Thomas Mann. Bd. II. Vom Verfall zur Apokalypse. Frankfurt a. M.: Klostermann 1982. Vgl. v. a. S. 79 - 82. 116 Ebd. S. 61 f. 117 Ebd. S. 74 und 79. 118 Vogt, Thomas Mann. S. 28. 119 Helmut Koopmann: Der klassisch-moderne Roman in Deutschland. Thomas Mann, Alfred Döblin, Hermann Broch. Stuttgart: Kohlhammer 1983 (= Sprache und Literatur 113). S. 79 f. 165 <?page no="178"?> bildend wirkt, bietet Walter Erharts Analyse der Mythosstrukturen unglücklicher Familien. Erhart spricht von zwei großen literarischen Mustern, mit denen die Geschichten unglücklicher Familien gezeichnet würden: von der Familientragödie einerseits und dem kontinuierlichen Verfall als quasi organisches Muster andererseits. 120 In Buddenbrooks sieht er trotz einiger dramentypischer Motive das zweite Muster aus-, wenn nicht gar vorgebildet. 121 Er erläutert diese These, indem er die verschiedenen Ebenen eines steten Verfalls analysiert und statt plötzlicher ‚ Risse ‘ in der Familienstruktur eher einen schleichenden Niedergang erkennt. In Buddenbrooks finde kaum ein dramentypischer Geschwisterstreit statt, sondern vielmehr ein Zerfall der männlichen Genealogie der Familie, indem erwachsene Geschwister zu Kindern abgewertet würden. 122 All dies gilt sicher für den Roman. Doch wie oben erläutert, braucht der schleichende Verfall die zeitliche Ausdehnung, den Vier-Generationen-Zyklus 123 , die Vielschichtigkeit des Verfalls und die Wiederholungs- oder Leitmotivstrukturen. Die Dramatisierung muss in Bezug auf all diese Aspekte Einschränkungen machen. Bei John von Düffel bleiben als dominierende Szenen - neben der Tragikomödie um Tonys Liebe und Ehe - gerade die direkten Konflikte im zweiten Teil des Dramas und damit das, was Walter Erhart als das erste Muster der unglücklichen Familie, als „ Familientragödien im fast gattungsspezifischen und im fast antiken Sinn “ 124 definiert: [. . .] die Verschwörung, der Aufstand oder der Kampf der Kinder gegen die Eltern, die Leidenschaft gegen die Ordnung, die Liebe gegen das Gesetz, das Liebespaar gegen die Institutionen. Dies ist der Stoff, aus dem die Weltliteratur gemacht ist, ja, wie dafür geschaffen erscheint. Es ist der Konflikt im Inneren der Familie, an dem die Familien dann regelmäßig auseinander brechen, in dem ebenso regelmäßig die Söhne und Töchter vor den Vätern und Müttern sterben: Sinnbild einer Verkehrung jeglicher natürlicher, familialer Ordnung. John von Düffel geht ‚ respektvoll ‘ mit dem Originaltext um, nutzt Thomas Manns Sprache. Doch die Stärke der Verlagsfassung des Buddenbrook-Dramas liegt eher in der neu gewonnenen dramatischen Tragik, der Aushebelung der 120 Vgl. Erhart, Mythos zerfallender Familien. S. 164 f. 121 Vgl. ebd. S. 165. 122 Vgl. ebd. S. 172 und 173. 123 Der Bezug zur Theorie der Dekadenzentwicklung und Willensschwächung nach Schopenhauer wurde vielfach in Beziehung zur Struktur des Romans gesetzt. Vgl. u. a. Peter Pütz: Die Stufen des Bewußtseins bei Schopenhauer und den Buddenbrooks. In: Stationen der Thomas-Mann-Forschung. Aufsätze seit 1970. Hrsg. v. Hermann Kurzke. Würzburg: Könighausen & Neumann 1985. S. 15 - 24. 124 Hier und im Folgenden Erhart, Mythos zerfallender Familien. S. 164 f. 166 <?page no="179"?> Ironie, der neuen Ernsthaftigkeit einzelner Figuren: also gerade dort, wo der Gattungswechsel ein ‚ respektvolles ‘ Vorgehen unterläuft. Die Dramatisierung wird wohl nicht nur von so vielen Theatern übernommen, weil sie über die Einzelinszenierung hinausdenkt und von der Hamburger Erstaufführung abstrahiert, sondern auch, weil sie als Drama wirken kann. Sie fasst die dialogischen Passagen des Romans zusammen und nimmt zwangsläufig durch Kürzungen und Direktheit eine Deutung vor. Ohne Zweifel gibt sie der Regie viele Möglichkeiten der Figurenzeichnung und Interpretation der Geschichte. Sie schafft Offenheit, indem sie Zeit und Raum der Handlung nicht spezifiziert, und Freiheit zur Neudeutung der Hauptfiguren. Allerdings kürzt die Hamburger Bühnenfassung des Thalia heaters deutlich radikaler als die an den Verlag gegebene Dramatisierung und etabliert außerdem eine Metaebene durch die Figur der Bediensteten Lina, die zu Beginn der Aufführung über die Familie Buddenbrook sagt: „ Ich kenne euch, kenne euch, seit ich denken kann “ . 125 Damit stößt sie den Rezipienten implizit auf den intertextuellen Charakter des Stücks. 126 Der Ausweg der Figuren im Roman liege im Lesen, in Thomas ’ Schopenhauer-Lektüre und in Tonys wiederholtem Lesen der Familienchronik, erklärt Hamacher, und fügt hinzu: „ Wenn indes im Roman der Ausweg im Lesen liegt, kann er bei der medialen Transformation auf die Bühne trotz allem nur im Theaterspielen liegen. “ 127 Das ist strukturell richtig, geschieht aber so in der Dramatisierung nicht. Denn das Schauspielen auf der Bühne wird komisch (Christian), führt zum Zusammenbruch (Thomas ’ Uhland-Rezitation) oder zu den oben beschriebenen intermedialen Spannungen (Thomas ’ Masken-Monolog). Der langsam und stetig schleichende Verfall im Roman braucht Wege der 125 John von Düffel: Buddenbrooks, nach dem Roman von Thomas Mann. Bühnenfassung (Stand: Premiere, 3. 12. 2005). S. 3. 126 Aus diesen durch die Familie, aber auch den wissenden Leser vorgegebenen Rollen, so Hamacher, lösen sich die Figuren im Laufe des Dramas: „ Die Rezeption des Romans wird dadurch auf produktive Weise fortgeführt, dass eine Lektürehaltung entlarvt wird, die aus der Vertrautheit mit dem Text heraus ihrerseits Gefahr läuft, die Figuren an die Kette zu legen. Im Theater ist eine Emanzipation der Romanfiguren von ihren Leserinnen und Lesern möglich. “ Hamacher, Familie und Kultur. S. 70. Diese Deutung bezieht sich auf den Schluss der Hamburger Bühnenfassung, in der als letzte Szene Hanno und Thomas Hand in Hand auf der Bühne stehen. Thomas spricht einen Monolog über das Meer, der Romanpassage bei seinem Kuraufenthalt in Travemünde entnommen (TM 740 f.), einen Text über dessen beruhigende Einfachheit angesichts seiner inneren Wirren und über das Alleinsein. Die über den Verlag vertriebene Fassung des Stücks beinhaltet diese Szene nicht. 127 Ebd. S. 71. Zu Bedenken wäre außerdem, dass das Lesen nicht der einzige Weg ist, sich der Familie zu entziehen. Die für Buddenbrooks so zentrale Musik kommt in der Dramatisierung allerdings kaum vor, ebenso wenig Kai als Schreibender und damit Gegenfigur der lesenden Buddenbrooks. 167 <?page no="180"?> Hoffnung, des Verzögerns, des Festhaltens. Der aus wenigen Konflikten entstehende tragische Zusammenbruch lässt auch diese Auswege schnell enden und führt damit stringenter in Richtung der Katastrophe. 4.1.9 Exkurs: Buddenbrooks in einer Dramatisierung von Tadeus Pfeifer (1976/ 77) Viele der Veränderungen, die John von Düffel vornimmt - die Reduktion des Personals, der Verzicht auf die Darstellung sozialer Umstände, die stark monologischen Passagen usw. - scheinen zunächst der einzig mögliche Weg einer Dramatisierung von Buddenbrooks. Um aufzuzeigen, wie sehr gerade bei einem so umfangreichen und komplexen Roman die Adaption vom Dramenautor, seinen Assoziationen, den Interpretationen seiner Zeit und seinem gesellschaftlichen Hintergrund abhängt, wie sehr auch ein verändertes Theaterverständnis oder ein andere dramatische ‚ Schule ‘ Einfluss nehmen, soll von Düffels Dramatisierung hier das Buddenbrooks-Drama von Tadeus Pfeifer 128 gegenübergestellt werden. Die Inszenierung des Dramas war druchaus ein großer Publikumserfolg, wurde in den Feuilletons der großen Tageszeitungen allerdings sehr kritisch betrachtet, teilweise gar verrissen. 129 Auch Ken Moulden äußert sich im Buddenbrooks-Handbuch 1988 kritisch. 130 Die aktuelle Aufführungsgeschichte von Buddenbrooks allerdings gesteht Pfeifers Version eine neue Chance zu: Während sich in den letzten Jahren vor allem die 2005er-Fassung gut an Theater verkaufte, entschied sich das Freiburger Theater im Herbst 2009 für eine Neuinszenierung der Adaption Tadeus Pfeifers. Die große Nachfrage nach dem Buddenbrook-Stoff hat offenbar dazu angeregt, auch eine Inszenierung des älteren Dramas wieder in Erwägung zu ziehen. Damit haben die Regisseure Jarg Pataki und Viola Hasselberg einen 128 Vgl. Fußnote 15 dieses Kapitels. 129 Davon zeugen bereits die Titel der Rezensionen. Benjamin Henrichs: Höllmanns Erzählungen. Ein notdürftiger Versuch, Thomas Mann zu dramatisieren. In: Die ZEIT 52 (17. 12. 1976) - Anonymus: Ein gleichgültiges Kaufmannsdrama. Buddenbrooks-Uraufführung unter Hans Hollmann in Basel. In: Neue Zürcher Zeitung (13. 12. 1976). - Reinhard Baumgart: Eine große, leere, bunte Anstrengung. Die Buddenbrooks als Stück im Basler Theater. In: Süddeutsche Zeitung (13. 12. 1976). 130 Er erklärt 1990 die bisherigen Versuche einer Umsetzung von Buddenbrooks in szenischen Medien als gescheitert: „ [. . .] die inneren Monologe und Gedanken der Figuren, die Leitmotiv- und Wiederholungstechnik, und vor allem die Erzählerironie fallen dem visuellen Jahrhundert zum Opfer “ . Die negative Wertung entsteht auch deshalb, weil er die Dramatisierung am Roman misst. Ken Moulden: Bearbeitungen. In: Buddenbrooks- Handbuch. Hrsg. v. Ken Moulden und Gero von Wilpert. Stuttgart: Kröner 1988. S. 343 - 347. Hier S. 347. 168 <?page no="181"?> gänzlich anderen Zugriff gewählt, als die Regisseure der Düffel ’ schen Fassung, wie die folgende Kurzanalyse zeigen soll. 131 In 35 Szenen, die teilweise noch einmal in mehrere Bilder unterteilt sind, zeichnet Tadeus Pfeifer fast 30 Jahre vor von Düffel ein gänzlich anderes Bild der Buddenbrooks. Auffällig ist zunächst die große Personnage: Das Personenverzeichnis nennt namentlich 54 Personen. Hinzu kommen nicht weiter spezifizierte Gruppen wie der „ Chor der Lübecker Bürger “ sowie „ Lohndiener, Hausangestellte usw. “ (TP 5) 132 . Außer der Großfamilie Buddenbrook, die mit allen Kindern und Enkeln sowie mit den Schwiegereltern Kröger und allen vier Generationen des Romans 133 vertreten ist, wird das gesellschaftliche Leben in Lübeck breit aufgenommen. Neben den Vertretern des Bildungsbürgertums, Arzt Grabow, Dichter Hoffstede, Pastor Wunderlich und anderen, treten zahlreiche Kaufleute auf. Bürgermeister Oeverdieck übernimmt die Chorführung; daneben kommen Lehrer und Erzieher sowie Anna Iwersen, Pastor Tiburtius, Makler Gosch und viele weitere Figuren vor, die im Roman nur einen mittleren bis sehr kleinen Anteil an der Handlung haben. 134 Angesichts dieser ausführlichen Aufstellung des Buddenbrook ’ schen Figurenarsenals wundert es schließlich, dass zwei recht zentrale Figuren fehlen: Sesemi Weichbrodt wird durch die Erzieherin Mademoiselle Popinet ersetzt; Hannos Freund Kai Graf Mölln taucht bei Pfeifer nicht auf. 135 Die Figurenaufstellung demonstriert, dass Pfeifers Adaption das Verhältnis der ganzen Familie und jedes einzelnen Familienmitgliedes zur umgebenden Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Dieser Fokus zeigt sich auch in verschiedenen strukturellen Elementen, die das Stück bestimmen 131 Die Kritiken fallen hier wesentlich besser aus, als die zu Hollmanns Inszenierung 1976. Möglicherweise liegt das nicht nur in der Inszenierung begründet, sondern auch an einer deutlich veränderten Haltung gegenüber Dramatisierungen. 132 Pfeifer, Buddenbrooks. S. 5. Innerhalb dieses Teilkapitels werden im Folgenden Zitate aus Pfeifers Dramatisierung mit dem Kürzel TP und der Seitenzahl in Klammern im Fließtext nachgewiesen. 133 Einige Figuren müssen außerdem doppelt besetzt werden, denn wenn zu Beginn „ die kleine Tony “ (TP 7) an der Hand des Großvaters vorgestellt wird, muss sie deutlich von Tony als erwachsene Frau zu unterscheiden sein. 134 Doppelrollen sind in sehr vielen Fällen möglich, aber nicht - wie in Thomas Jonigks Elixieren des Teufels (vgl. 4.2.2) - bereits ‚ theaterfreundlich ‘ vorgeschlagen. Der Chor besteht zumindest teilweise aus den im Personenverzeichnis einzeln aufgeführten Figuren. 135 Der verarmte Graf ist für eine Dramenfassung vielleicht weniger interessant, weil der stark selbstreflexive Zug, der mit dem werdenden Prosaautor in den Roman einzieht, für das Drama nicht trägt. Vgl. zu diesem Aspekt Birte Lipinski: Romantische Beziehungen. Kai Graf Mölln, Hanno Buddenbrook und die Erlösung in der Universalpoesie. In: Thomas Mann Jahrbuch 23 (2010). S. 173 - 194. 169 <?page no="182"?> und die schon auf den ersten Blick auffallen: Dass hier kaum eine Figur allein zu Wort kommt, fällt insbesondere im Vergleich zu von Düffels Drama auf, das ganz zentrale Ereignisse und Wendungen sowie die Figurenpsychologie über Monologe der Hauptfiguren entwickelt. Pfeifer bettet jede Handlung, jede Entscheidung in ein gesellschaftliches ‚ Korsett ‘ , indem er den Figuren stets das Lübecker Bürgertum in Einzelpersonen oder als Gruppe gegenüberstellt. Das auffälligste Mittel hierzu ist die Einsetzung eines Chores. Doch nicht nur darin zeigt sich gesellschaftliches Handeln, sondern auch in vielen Szenen, die stark choreografiert und so Sinnbild gesellschaftlicher Zwänge werden. Darüber hinaus macht der auffällig detaillierte Nebentext an vielen Stellen den gesellschaftlichen Kontext deutlich. Denn fast jede Szene verfügt über einen Titel und eine ausführliche Einleitung durch einen Nebentext, innerhalb dessen nicht nur Spielanweisungen gegeben, sondern die Motivationen und Haltungen der Figuren ausführlich dargelegt werden. Die ‚ Regieanweisungen ‘ sind teilweise kaum noch als solche zu bezeichnen, übernehmen sie doch geradezu die interpretatorische Arbeit und stellen sicher, dass die vielfach angelegten symbolischen Handlungen auch als solche erkannt werden. Die hier genannten Aspekte sollen exemplarisch an der Eingangssequenz und am Schluss des Dramas illustriert werden, ohne dass an dieser Stelle der gesamte Handlungsablauf skizziert wird. Pfeifers Dramatisierung setzt direkt mit dem Romanbeginn ein, mit dem Warten auf die Feier zur Einweihung des Hauses in der Mengstraße, und beginnt mit einer langen stummen Szene, in der Konsul Buddenbrook auftritt „ als stünde er Modell zu einem Ahnenbild “ 136 (TP 7). Die Familie gesellt sich dazu, ihr Verhalten ist geprägt von der Steifheit eines Porträts. Wenn sie über Tony lachen, wird diese abrupte Lockerung der Haltung vor den Hausangestellten verborgen. Der Chor der Lübecker Bürger tritt erstmals auf und verkündet in steif anmutenden Versen: „ Vornehm und alt ist das Haus,/ Das Buddenbrook kürzlich gekauft hat! “ (TP 9). In antikisierenden Versformen - vor allem jambischen Trimetern und Hexametern 137 - werden das Haus, der Stand der Familie Buddenbrook und verschiedene Gäste vorgestellt, dann durch den Chorführer auch Thomas und Christian: 136 Der Nebentext ist in der Druckfassung nicht durch Kursivierung gekennzeichnet. Zur besseren Unterscheidung wird er in den Zitaten in diesem Kapitel dennoch kursiv gesetzt. 137 Die Zeilenumbrüche im Textheft verfälschen dies etwas, teilen sie doch die Verse aus Platzgründen in jeweils zwei Zeilen, die mit Majuskeln begonnen werden. Dass die jeweils zweite Zeile eingerückt wird, lässt darauf schließen, dass die Zeilenpaare als ein Vers zu lesen sind. 170 <?page no="183"?> Da sind Ihre Söhne, Verehrte! / Wie Thomas dem Großvater gleicht! Der geborene Kaufmann! / Ihm lag der Beruf in der Wiege, - Und Christian ähnelt dem Vater,/ Der wird wohl ein geistiger Kopf. (TP 11) Während der Chor mit Versen zu den kulinarischen Genüssen auf der Feier fortfährt, wechselt die Szene zum Festbankett. Im Nebentext werden dessen Ablauf in Gängen und die Haltung der einzelnen Figuren ausführlich beschrieben, der Wechsel von Aktion und Stille ist dabei streng choreographiert. Schließlich fasst der Nebentext die Ausführungen wie folgt zusammen: „ Die vier Gänge entsprechen vier Verhaltensweisen. Jeder Gang dauert nur kurze Zeit, solange, bis das Muster erkannt wird “ (TP 14). Das Muster der vier Generationen und die Wichtigkeit der Generationenfolge lassen sich so bereits früh an der Dramenstruktur ablesen. Das Festbankett wird durch die Choreografie satirisch gezeichnet, die Gleichförmigkeit des Verhaltens, der abrupte Wechsel von Stimmencollagen und Stille sowie der Wiederholungscharakter der Handlungen tragen zu diesem Eindruck bei. 138 Der Text ist dabei als „ Dialogmaterial, Redewendungen für die ersten drei Gänge des großen Essens “ (TP 16) an die Nebentext-Einführung zur Szene angefügt, muss also in der Inszenierung orchestriert werden. Das choreographisch strukturierte Bankett endet mit einem Dialog, für den Angaben zur psychologischen Haltung der Figuren im Nebentext aufgeführt sind. Der jähe Wechsel zum realistischen Spiel verkündet auch inhaltlich einen Bruch in der Stimmung und der Ernsthaftigkeit und Authentizität der Handlungen: Die Ratenkampgeschichte platzt wie eine Bombe in die fröhliche Dessertrunde; das auf die Nennung des Namens folgende Schweigen ist äußerst betreten, es ist ein ‚ natürliches ‘ Schweigen und unterscheidet sich als solches gegenüber der reglosen Stummheit vor den einzelnen Gängen. Das Schweigen dauert unerträglich lang. (TP 21) Der Text orientiert sich zwar zu großen Teilen am Roman, baut aber viele Andeutungen zu Dialogen aus und fügt auch einige Szenen hinzu, sodass Pfeifer sicher nicht wie von Düffel sagen würde, ‚ jedes Wort sei Thomas Mann ‘ . Im Anschluss an die Feierlichkeiten werden so beispielsweise in drei kurzen Szenen Thomas, Christian und Tony vorgestellt, wobei die nahezu stumme Szene, in der Thomas seinen Vater bei der Arbeit im Comptoir nachahmt (TP 23 f.), und Christians Versagen in der Lateinstunde (TP 24 - 26) nicht dem Roman entstammen, die Kinder aber in ihrer Unterschiedlichkeit anschaulich charakterisieren. 138 Diesen Eindruck bestätigt auch für die Inszenierung die Rezension Henrichs, der das Bankett „ als eine polemische Revue, eine bitter-böse Operette über moribündes Bürgertum “ beschreibt, gerade diesen Zug dann allerdings im Rest des Stücks vermisst. Henrichs, Höllmanns Erzählungen. 171 <?page no="184"?> Dieser kleine Ausschnitt vom Beginn des Dramas mag ausreichen, um die Grundstruktur des Stücks anzudeuten: Choreographierte Handlungen zur Darstellung der Gesellschaft, chorische Passagen in antikisierenden Hexametern und Trimetern und rein pantomimische Szenen, oft mit stark symbolischen Charakter, wechseln sich mit Dialogen ab, die nicht immer direkt aus dem Romantext übernommen sind. Da in Bezug auf John von Düffels Adaption von einer starken Umwertung der Tony-Figur gesprochen wurde, soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass auch Pfeifer die Sicht der Erzählinstanz auf diese Figur offenbar nicht teilen wollte. Tony wird hier noch stärker in die Hochzeit gedrängt, denn schon bevor Grünlich überhaupt auftritt, besingt der Chor Bendix Grünlichs Geschäfte in höchsten Tönen 139 , sodass die Heiratsökonomie früh in den Vordergrund rückt. Als Tony beim Frühstück mit den Eltern erfährt, dass sie Grünlich heiraten soll, stellt der Nebentext klar: „ Sie wird in dieser Szene tief erschüttert, ihre Tränen sind echt, weil man sie jetzt geistig und körperlich verletzt, vergewaltigt. “ (TP 40) Das Vokabular spricht von echter Härte und Grausamkeit gegenüber der jungen Frau, ein kindlich naives Verhalten oder gar Simulation werden von vornherein ausgeschlossen. 140 Die anschließende Szene stellt in einer Traumsequenz „ Tonys Vision “ (TP 43) einer Verlobung vor und setzt ihre Wunsch- und Albtraumbilder sogleich in den Kontext zum Erwartungsdruck der Gesellschaft: Die Lübecker flanieren in Paaren über die 139 Diese Verse des Lobes kehren später wieder und ändern sich schlagartig, als Konsul Buddenbrook Grünlich als Betrüger entlarvt. Nun singen die Kaufleute im Chor davon, wie sie von Grünlichs Wechseln abhingen, sodass hier noch einmal ‚ die Gesellschaft ‘ als abstrakte Gruppe in ein schlechtes Licht gerückt wird (vgl. TP 75). Ähnlich charakterschwach - wenngleich in anderer Hinsicht - werden sie beim Kuraufenthalt in Travemünde gezeichnet, wo ein Gespräch der Herren damit endet, dass sie mit dem Kommentar: „ Was für ein Busen! “ , (TP 170) einem jungen Mädchen hinterherlaufen. 140 Dieser Eindruck bestätigt sich auch in der Episode um Permaneders Betrug, denn die Szene in München wird auf der Bühne als gewalttätiger Akt ausgespielt, sodass sie nicht Tonys überzogener Darstellung angelastet werden kann: „ Permander packt sie - packt zu, küßt sie ebenso ungestüm wie ungeschickt. Babette wehrt sich kräftig und laut, was Permaneder seine Tätigkeit steigern läßt [. . .] “ (TP 137). Und auch im darauf folgenden Gespräch mit Thomas zeigt sich Tony nicht als naives Kind, sondern als ernsthaft verletzte, aber auch strategisch schauspielerisch handelnde Person: „ Tony liegt auf einem Sofa. Sie trägt eine deutliche Pose zur Schau: schmollendes Leiden. (Tatsächlich ist Tony tief betroffen, im Innersten gekränkt. Sie weiß aber, daß ihre verletzten Gefühle für Thomas keine Rolle spielen werden, und sie ist sich klar, daß sie, um ihren Entschluß durchsetzen zu können, vor ihrem Bruder eine große, ergreifende Show abziehen muß. Dies führt sie im folgenden auch durch, jedoch verwischen sich die Grenzen von bewußter ‚ Schauspielerei ‘ und tatsächlicher Empfindung [. . .] “ (TP 138). Am Ende der Szene bestätigt sich noch einmal Tonys Abneigung gegen Permaneder, der „ von weit weg, ohnmächtig, kreischend “ brüllt: „ Geh zum Deifi! Saulud ’ r, dreckats! “ (TP 144) 172 <?page no="185"?> Bühne, man spricht über die bevorstehende Verlobung, beglückwünscht Tony. Jede Figur verfolgt dabei ihre eigene Marschroute und gibt bei Tony angekommen einen Kommentar, der in einigen Fällen fast erpresserisch ausfällt. Die zunächst noch angenehme Szene mutiert, indem Figuren ihren Weg wieder und wieder ablaufen und sich auch die Texte wiederholen, für Tony zum Alptraum. „ Sie beginnt leise zu weinen. Sie versucht sich zu verstecken “ (TP 43). Schließlich merkt sie, dass sie im Mittelpunkt steht, ihr Verhalten schlägt um, sie wird kokett, leichtfertig. Der Vermittlertext markiert sofort die Motivation: „ ohne daß es ihr bewußt wird, unterwirft sie sich dem Zwang, den die Gesellschaft auf sie ausübt; sie ergibt sich, erniedrigt sich, verhält sich konform und bestätigt die Ordnung “ (TP 43). Den bekannten Brief Jean Buddenbrooks an Tony über die Familienmitglieder als Teile einer Kette hält Jean als direkte Ansprache an seine Tochter, somit mit starkem persönlichem Nachdruck. Tony trägt ihre Verlobung nicht selbst in die Chronik ein. 141 Während Jeans berühmter Worte wird der „ Lübecker Olymp “ erleuchtet; an diesem Ort befinden sich „ strahlend im geisterhaften Licht “ alle Buddenbrooks, die im Laufe des Stückes sterben: „ Sie sitzen stumm und steif, ihre eigenen Ahnenbilder. Der ‚ Lübecker Olymp ‘ wird nach Bedarf ein- und ausgeschaltet “ (TP 33). Wer stirbt, wird vom Chor mit einem Lied nach einem Gedicht von Andreas Gryphius 142 dorthin geleitet und leuchtet ‚ nach Bedarf ‘ als Ahn- und Mahnbild für die noch lebenden Buddenbrooks auf. Damit ist der Tod ebenso wie die Frage der Erbnachfolge und der männlichen Genealogie der Familie hier deutlich präsenter als bei von Düffel. Das Todesmotiv wird aber auch auf anderen Wegen mehrfach in die Handlung integriert. So endet beispielsweise Tonys Hochzeitslied, dargeboten wiederum durch den Chor, mit dem Wunsch für das Brautpaar: „ Daß sie sich auf der Erden/ Recht zu Gehilfen werden/ Bis in das kühle Grab “ (TP 63). Zentral wird das Todesmotiv zum Ende des Dramas, wenn mit wenig zeitlichem Abstand Thomas und Hanno sterben. Dabei wird von Thomas ’ Schopenhauer-Lektüre direkt zu seiner Todesszene übergeleitet: Er hat die Feder vom Schreiben des Testaments noch in der Hand, als er das Buch findet. Inhalte werden nicht wörtlich wiedergegeben, wohl aber setzt der Chor nun an, seine Verwunderung über den Wandel des Senators kundzutun. Statt Kontoauszügen lese er das „ Werk eines Frankfurter Schwärmers “ (TP 172); man ist entsprechend verwirrt: „ Wir bangen um Ihren Geschäftssinn! / Einst 141 Ähnlich drangsaliert zeichnet die Dramatisierung Hanno, der vom Vater beim Vortrag (hier ein Gesang, bei dem er sich gegenüber dem Chor stimmlich beweisen soll) zum Firmenjubiläum sogar eine „ Kopfnuß “ erhält (TP 161). 142 Es handelt sich um das Gedicht Die Herrlichkeit der Erden von 1650. 173 <?page no="186"?> eine Zierde der Stadt! “ (TP 172) Nun folgt eine symbolische Umsetzung von Thomas ’ Lektüre über das Bühnenbild: Er liest, und da bricht das MYSTISCHE ERLEBNIS über ihn herein: der Chor zieht sich zurück, die engen Gassen Lübecks öffnen sich und geben Thomas Buddenbrook den Blick in die ewige Wahrheit preis: die Lübeckschen Kulissen verschwinden eine nach der andern, schweben und fahren davon, sie verflüchtigen sich. Zunächst steht Thomas starr vor Angst, dann rennt er der einen oder anderen Kulisse nach, versucht vergeblich, sie zu halten - bis der Senator allein auf der nackten Bühne steht und keine Dekoration mehr übrig bleibt. (TP 171) Der Chor kehrt zurück, Lübeck bleibt verschwunden. Es folgt eine Art Gesamtdeutung des Geschehens im Nebentext: Was noch geschieht, Thomas ’ Tod, Hannos Tod, spielt sich vor der subjektiven Unfähigkeit der Buddenbrooks ab, innerhalb der Gesellschaft, die sie aufgebaut haben, zu leben. Der Chor ist sich selbst genug, er benötigt keine Äußerlichkeit, er selbst stellt sie ja dar. Den beiden letzten Buddenbrooks aber fehlt jeder Bezug zu ihrer Umgebung. (TP 171) Nicht weniger symbolgeladen geht es bei Hannos Tod zu. „ Sterben ist schön “ , ist die Szene überschrieben und eben diesen Satz singt Hanno gegen die Übermacht des Chores an: Der Chor kreist Hanno ein, es ist kein Entrinnen mehr möglich.[. . .] Als körperliches Wesen ist er von einer erdrückenden Übermacht umzingelt. Aber Hanno singt. Hanno singt in den höchsten Tönen den einzigen Satz, dessen er noch fähig ist, und bringt alle seine Ängste und abenteuerlichen Sehnsüchte in diesem Satz modulierend zum Ausdruck. Er zersingt sich. Er splittert sich - immer ‚ schöner ‘ singend - in seinen Koloraturen auf und vergeht. (TP 176) Die Vermittlerrede offenbart hier ein Pathos, das eventuell in die Inszenierung übergehen wird. Diese Art der suggerierten symbolischen Tiefe in der Darstellung, vor allem in den Kommentaren des Nebentextes, ist aus heutiger Sicht bisweilen schwer zu ertragen. Bei allen interessanten formalen Ideen der Adaption scheint hier möglicherweise eine historisch spezifische Lesart der 1970er Jahre durch, die heute nicht mehr zu überzeugen vermag. 143 Dem Zuschauer allerdings bleibt die Masse der pessimistisch-gesellschaftskritischen Kommentare erspart, die sich im Nebentext zum Beispiel so finden: 143 Offenbar vermochte diese Haltung aber auch Mitte der 70er Jahre schon nicht mehr zu überzeugen. Denn Henrichs spricht deutlich abwertend von Hollmanns „ grimmig antibourgeoisen Attitüden “ . Inwieweit dies der Gesinnung und dem Geschmack des Rezensenten geschuldet ist, vor allem aber, ob die Inszenierung in diesen Punkten vom Dramentext abwich, kann hier nicht festgestellt werden. Henrichs, Höllmanns Erzählungen. 174 <?page no="187"?> Der Chor ist satt und selbstgerecht, er weiß, daß er ‚ recht ‘ hat! Der Auflösung Hannos in Töne setzt er mit seinen Hexametern stampfendes Gewicht entgegen. Vor Hannos Tod steht der Chor zwar ohne Erklärung, aber gefaßt und alles andere als erschüttert: bestätigt. Je knapper, kürzer, unausweichlicher, bedeutungsloser seine letzten Verse scheinen, desto richtiger: der Lebensmechanismus einer Gesellschaft ist brutal, einem Hanno feiert niemand eine Sterbezeremonie. Ist ein Hanno tot, ehrt ihn keiner, das Spiel ist aus. (TP 177) 144 So versucht die Dramatisierung vor allem eine offenbar politisch-soziale Kritik anzubringen, die in ihrer Ausrichtung und teilweise auch in der formalen Gestaltung Brecht ’ sche Züge erhält. Denn in Pfeifers Buddenbrooks lassen sich mit der Verfremdung durch den Chor und choreographischen Elementen sowie dem ‚ Lübecker Olymp ‘ in seiner Künstlichkeit durchaus Formen des epischen Theaters erkennen. Dennoch ist eine Einfühlung in die Figuren grundsätzlich möglich, denn sie werden - wie oben am Beispiel von Tony gezeigt - ernst genommen, zeigen Gefühl und sind psychologisch motiviert, wie der Nebentext immer wieder angibt. Das Interesse am Innenleben der Figuren wirkt in John von Düffels Adaption dennoch größer. Neben dem gesellschaftlich-sozialen Druck, den Pfeifer hervorhebt, wird die Genealogie (oft satirisch überzeichnet) in den Vordergrund gestellt. Der ‚ Lübecker Olymp ‘ , die Aufnahme der Vier-Generationen-Folge im Vier-Gänge-Menü und der Nebentext legen das offen. Damit wird entgegen der Dramatisierung von Düffels die Frage der männlichen Nachfolge und damit letztlich auch der langsam kontinuierliche Niedergang hervorgehoben. Das Drama der Familie Buddenbrook orientiert sich hier stärker an der Idee eines organischen Verfalls. Nach Hannos Tod bleibt dem Chor das letzte Wort: „ Und Hanno ging heim zu den Vätern,/ Bevor er ein Vater geworden “ (TP 178). 144 Der Chor führt diese Interpretation des Nebentextes deutlich auch dem späteren Zuschauer vor: „ Wenn du dich gegen den Chor stellst,/ So stellst du dich gegen das Leben! / Noch reichen wir dir uns ’ re Hände/ Und fügen dich gern bei uns ein,/ Gehorche der Pflicht! “ (TP 178) Die Inszenierung des Chores allerdings straft Benjamin Henrichs in Die ZEIT ab: „ Dieser Chor aber taugt zu nichts. Weder ist er, was Pfeifer vielleicht wollte, satirisches Abbild eines selbstzufrieden-brutalen Bürgertums, noch erfüllt er die Funktionen eines Conferenciers — seine Auftritte sind weder soziologisch erhellend noch theatralisch belebend, der Einfall ist nur ein Einfall. “ Henrichs, Höllmanns Erzählungen. 175 <?page no="188"?> 4.2 E. T. A. Hoffmann und Thomas Jonigk: Die Elixiere des Teufels (1815/ 16 und 2003) Du hast Gefühle geheuchelt, die nicht in Deinem Innern waren, ja Du hast selbst gewisse sichtlich studierte Mienen und Bewegungen erkünstelt, wie ein eitler Schauspieler, Alles nur des schnöden Beifalls wegen. (Brief der Fürstin in E. T. A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 50) E. T. A. Hoffmanns psychologischer Schauerroman 145 Die Elixiere des Teufels 146 , der in zwei Teilen 1815 und 1816 veröffentlicht wurde, thematisiert das Theater und das Schauspielen gleich mehrfach: Das Theater wird als Motiv in Unterhaltungen am Hof des Fürsten sowie in der Geschichte des Leibarztes erwähnt und bietet als Straßentheater die Kulisse für ein Treffen mit Peter Schönfeld alias Pietro Belcampo in Rom. Viel häufiger noch werden, wie am Beispiel von Thomas Buddenbrooks bereits geschildert (vgl. Kapitel 4.1.5 und 4.1.7), die Begriffe Rolle, Schauspiel und Maske oder Maskerade zur Metapher für menschliches Verhalten in sozialen Zusammenhängen. Auch die Figurenanlage erinnert zeitweise an die Bühne, wie die Personen der Handlung selbst bemerken: „ Ist das nicht, als wäre man im Theater? “ , fragt der 145 In den Elixieren eine psychologische Studie zu lesen bzw. sie psychoanalytisch zu deuten, ist in der Forschung zu diesem Roman - wie auch zu Hoffmanns Werk allgemein - sehr verbreitet. Wolfgang Nehring nennt den psychologischen Ansatz eine der häufigsten Herangehensweisen der Forschung an Hoffmanns Werk, insbesondere an die Elixiere. Vgl. Wolfgang Nehring: E. T. A. Hoffmann. Die Elixiere des Teufels. In: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam 1981. S. 325 - 350. Hier S. 333 f. Zu sehr auf die psychoanalytische Deutung fixiert sieht Nicola Kaminski die Forschung zu den Elixieren. Sie weist auf die Grenzen dieser Interpretation hin und verschiebt die Argumentation zu Gunsten einer Deutung der Doppelgängerfiguration als Motiv von Maske und Verstellung. Der spezifisch literaturwissenschaftliche und weniger pathologisierende Zugang zum Roman und seinen Figuren ist dabei für die vorliegende Arbeit ergiebig, verhandelt er doch auf Textebene beobachtbare Phänomene und spezifisch narrative Strukturen des Werkes. Diese werden auch für die Übertragung ins Drama relevant und bieten über das Motiv der Verstellung die Möglichkeit zur selbstreflexiven Aussage über das Zielmedium Theater. Nicola Kaminski: Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik. Paderborn/ München u. a.: Schöningh 2001. Vgl. v. a. S. 333 - 336. 146 Die Untersuchung folgt der Textausgabe E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels (1815/ 16). Hrsg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 2007. Zitate aus dieser Ausgabe (auch aus dem Stellenkommentar) sind in diesem Kapitel im laufenden Text in Klammern mit der Sigle H und der Seitenzahl angegeben. 176 <?page no="189"?> Amtmann den Leibarzt angesichts der skurrilen Gestalten, die sich in einer Wirtsstube versammeln (H 169). Die Frage wird als rhetorische formuliert und lässt sich auch in Bezug auf andere Figuren des Romans und geschilderte Situationen bejahen. 147 Die Doppelgängerthematik, die den Roman durchgängig bestimmt, ist über das Spiel mit dem Ich als dem Anderem mit der Doppelgesichtigkeit des Schauspielers oder der Maske verwandt. Als weiterer Anknüpfungspunkt zwischen Theater und den Elixieren bietet sich die Künstlerproblematik im Roman an. So findet in der Dramatisierung der Friseur Peter Schönfeld als Schauspieler auf dem Theater schließlich ein Betätigungsfeld, das nicht nur seinem Bedürfnis nach Individualität und Anerkennung, sondern auch seiner inneren Zerrissenheit entspricht. Er tritt schon bei Hoffmann zwischen den pittoresken Figuren des Puppenspiels mit seinem eigenen Gesicht auf (vgl. H 303), verzichtet also auf eine Maske, denn die Zweiheit kennzeichnet ihn auch ohne Kostümierung. Schauspiel als Prinzip des gesellschaftlichen Miteinanders, Künstlerthematik und Doppelgängermotiv gehen in der Figur Peter Schönfeld eine ins Groteske 148 gesteigerte Verbindung ein, die bei einer Dramatisierung des Stoffes die Möglichkeit bietet, selbstreflexiv das Rollenspiel zum Thema des Stücks zu machen. Diese Chance nutzt Thomas Jonigk, 149 147 Unterschiedliche Arten von Bezügen zum Theater und zum Schauspieler sowie deren Wirkungspotentiale wurden in Bezug auf Buddenbrooks exemplarisch in Kapitel 4.1.7 erläutert. Auch Die Elixiere des Teufels von E. T. A. Hoffmann bietet für solche Metareferenzen gute Anknüpfungsmöglichkeiten. Über die in Buddenbrooks geschilderten Varianten hinaus geht eine Wendung in Thomas Jonigks Elixieren, die das Schaupiel in einer mise en abyme thematisiert. Dieser Sonderfall wird in Abschnitt 4.2.6 analysiert. 148 Das Groteske wird in der literarturwissenschaftlichen Forschung sehr unterschiedlich definiert. Hervorzuheben sind insbesondere die konträren Positionen von Wolfgang Kayser und Michail M. Bachtin. In Bezug auf Peter Schönfeld und sein alter ego Pietro Belcampo scheint die Verwendung im Bachtin ’ schen Sinne besonders gewinnbringend. Die provokante Figur, die keine Eindeutigkeit zulässt und zwischen zwei Charakteren springt, widersetzt sich der „ Stabilität und Abgeschlossenheit des Seins “ (Bachtin, Karneval. S. 45), was das Lachen über das Groteske wesentlich hervorruft und bestimmt. Im Grotesken sei die Grenze zwischen den Leibern, die Individualität in Frage gestellt (vgl. ebd. S. 22). Auch die skurrile Körperlichkeit des Friseurs, so die Betonung seiner „ spitze[n], rote[n] Nase “ (H 103), entspricht der Bedeutung des Körpers für die groteske Figurendarstellung nach Bachtin (vgl. Bachtin, Karneval. S. 15 f). Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1990. 149 Thomas Jonigk, 1966 geboren, studierte Mediävistik, neuere deutsche Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er arbeitete an verschiedenen Theatern als Dramaturg sowie als Regisseur, unter anderem an der Volksbühne Berlin und als leitender Dramaturg am Schauspielhaus Wien. Jonigk veröffentlichte mehrere Dramen, außerdem Hörspiele, Libretti und Romane. 1995 wählte ihn die Zeitschrift Theater heute zum Nachwuchsdramatiker des Jahres, 1997 177 <?page no="190"?> Dramaturg und Dramatiker, der 2003 Die Elixiere des Teufels für die Bühne bearbeitet hat. Der Titel des Stücks entspricht dem von Hoffmanns Roman, der Untertitel (Frei nach E. T. A. Hoffmann) stellt gleichzeitig einen Bezug und Distanz zur Vorlage her. 150 Mit der oben analysierten Dramatisierung von Buddenbrooks durch John von Düffel hat Thomas Jonigks Dramatisierung der Elixiere gemein, dass beide in Verlagen vertrieben werden, dass sie also für Außenstehende eine geschlossene Fassung bilden sollen. Sie enthalten keine konkreten Angaben zur Inszenierung. Im Unterschied zu von Düffel orientiert sich Jonigk allerdings formal wie inhaltlich in weiten Teilen nur lose an der Vorlage. Handlungsstränge werden verändert, ausgelassen oder hinzugefügt. Zwar werden viele Textpassagen direkt aus dem Roman in die direkte Rede des Theaterstücks übernommen, die Ergänzung um eigenen Text ist in dieser Dramatisierung allerdings (im Vergleich mit anderen Dramatisierungen der jüngeren Zeit) besonders häufig. Die Schwierigkeit, den Ich-Erzähler, der die Handlung rückblickend aus der zeitlichen wie moralischen Distanz mit vielen Kommentaren versieht und zudem den eigenen Gefühls- und Bewusstseinszustand immer genau beschreiben kann, für das Theater zu ersetzen, teilt eine Dramatisierung der Elixiere mit vielen anderen Romanadaptionen. Die durch den Reisebericht wechselnden Orte, die vielen Personen der Handlung und die phantastischen Elemente machen größere Veränderungen bei der Bühnenversion notwendig. Lothar Pikulik attestiert Hoffmann und seinem literarischen Werk eine Affinität zum Theater, die sich inhaltlich wie auch strukturell zeige. Seine Ästhetik setze „ die Bühne gewann er den Drama Logue Critics Award for Outstanding Achievement in Theatre, 2001 war er Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles. Jonigk wurde zur Spielzeit 2006/ 07 Hausautor und Dramaturg am Schauspielhaus Düsseldorf, später Dramaturg am Schauspielhaus Zürich und lebt derzeit als freier Autor in München. 150 Thomas Jonigk: Die Elixiere des Teufels. Frei nach E. T. A. Hoffmann. Vorläufige Fassung (UA: Stadttheater Gießen am 27. 9. 2003, Regie: Axel Richter). Berlin: Felix Bloch Erben 2003. Die Textausgabe wird in diesem Kapitel in Klammern im Fließtext mit der Sigle TJ und der Seitenzahl zitiert. Zu den Elixieren des Teufels besteht mindestens eine weitere Dramatisierung, die der Dramaturg Martin Schnabel für das Stuttgarter Theater Rampe in der Spielzeit 2005/ 2006 geschrieben hat. Angesichts der mehrfachen Bearbeitung Hoffmannscher Werke als Literaturopern überrascht es kaum, dass viele Werke E. T. A. Hoffmanns auch im Schauspiel adaptiert wurden. Neben den Elixieren existieren unter anderem Bühnenfassungen zu Der Sandmann, Der goldene Topf und Klein Zaches, genannt Zinnober sowie Kinderstücke nach der Erzählung Nußknacker und Mäusekönig und ein Puppentheaterstück frei nach Kater Murr. Die Dramatisierung der Elixiere allerdings dürfte in dieser Gruppe das ehrgeizigste Projekt darstellen. 178 <?page no="191"?> voraus “ 151 , weil sie das ‚ Ins-Leben-Treten ‘ der Phantasie, der Fiktion direkt umsetze. Aber auch auf Ebene des einzelnen Werks werde strukturell und inhaltlich die Nähe zum Bühnenstück sichtbar, wenn Hoffmann Orte wie einen „ Bühnenraum “ beschreibe und zu Kapitelbeginn wie durch das „ Aufziehen eines Vorhangs “ den Blick öffne und „ Auftritte seiner Figuren [inszeniere] “ . 152 Problematischer für eine theatrale Umsetzung der Elixiere sind die metareflexiven Elemente des Romans: Das Erzählen selbst, genauer: das Schreiben wird zur Grundvoraussetzung des Textes; eine Herausgeberfiktion, ergänzende Texte und die Ansprache eines fiktiven Lesers rufen die Art der Narration und das Medium der Schrift in der Rezeption des Werks immer wieder ins Gedächtnis. Eine Dramatisierung kann diese Art poetologischer Reflexion nicht leisten, da das Medium Schrift bei in der Inszenierung eine untergeordnete Rolle spielt. Konsequent verzichtet Jonigk in seiner Bühnenfassung auf die Thematisierung des Textes als Text. Stattdessen wandelt er, dem neuen Zielmedium entsprechend, die Referenz auf das Schreiben zu einer Variante des Spiels im Spiel um. Die Verwendung von Schauspielmetaphern für das Leben in einer Gesellschaft der Maskerade wird wörtlich genommen und so zur Grundlage des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft. Die entmystifizierende Betrachtung und die Ausweitung der satirischen Anteile des Stoffes drängen die Elemente des Schauerlichen in den Hintergrund. 153 Die psychologische Dimension der Handlung wird besonders in der ersten Hälfte der Dramatisierung nur sporadisch erfasst, 154 der Schwerpunkt 151 Lothar Pikulik: Die Hieroglyphenschrift von Gebärde, Maske, Spiel. E. T. A. Hoffmann, Jacques Callot und die Commedia dell ’ arte. In: Das Land der Sehnsucht. E. T. A. Hoffmann und Italien. Hrsg. v. Sandro M. Moraldo. Heidelberg: Winter 2002. S. 145 - 157. Hier S. 147. 152 Ebd. S. 145. Über „ die Absonderlichkeit und Tollheit der menschlichen Figur in einem inszenierten Rahmen “ in Hoffmanns Roman stellt Pikulik die Parallele zum barocken Stehgreifspiel her (S. 150). 153 An dieser Stelle scheint sich der Begriff des ‚ Unheimlichen ‘ anzubieten. Ich ersetze ihn bewusst durch das ‚ Schauerliche ‘ , das hier auf typische Motive und Stimmungen des Schauerromans referieren soll. Das Unheimliche, im Freud ’ schen Sinne eine Begegnung mit dem Eigenen, das als das Fremde zurückkehrt, tritt über die Doppelgängerthematik in die Handlung ein und lässt sich vielfach in der Dramatisierung der Elixiere nachweisen. Das Schauerliche im Sinne einer geheimnisvollen und Furcht erweckenden Stimmung, einer bestimmten Atmosphäre, stellt für eine Übertragung in die Dramenfassung das größere Problem dar. Die Inszenierung kann das Atmosphärische über Raumkonzeption, Bühnenbild, Lichtstimmungen und Musikeinsatz wieder verstärken. Jonigks Adaption macht hierzu jedoch kaum Vorschläge. Die Dramatisierung wirkt insgesamt nüchterner und legt das Atmosphärische in die Verantwortung der Regie. 154 Damit werden insbesondere die Nebenfiguren zu Typen; die psychologische Dimension wird häufig zugunsten einer starken Künstlichkeit zurückgestellt. Hierin liegt ein weiterer großer Unterschied zur Buddenbrooks-Dramatisierung (vgl. Kapitel 4.1.2), 179 <?page no="192"?> liegt auf der Darstellung einer konformistischen Gesellschaft, an der sich der Konflikt zwischen Individuum und sozialem Umfeld entzünden kann und muss. Dieser Schwerpunkt zeigt sich deutlich in Aufbau und Anlage des gesamten Stückes, in Form und Sprachstil und vor allem in der Auswahl des Geschehens, das im Folgenden kurz dargestellt werden soll. 4.2.1 Handlungsablauf und Struktur Hoffmanns Elixiere wurden in zwei Teilen veröffentlicht, die jeweils einen Band der beiden Niederschriften des fiktiven Autors Medardus enthalten, welche mit separaten Titelblättern aufgenommen sind. Diese Teile umfassen auch das „ Vorwort “ (H 11 f.) und die „ Anmerkung des Herausgebers “ (H 275 - 277 sowie 297), „ das Pergamentblatt des alten Malers “ (H 277 - 297) und den „ Nachtrag des Paters Spiridion “ (H 350 - 352). Die beiden Bände mit den Schriften des Medardus sind noch einmal in Abschnitte unterteilt, die inhaltlich gegliedert sind und durch verschiedene Stationen im Leben des Protagonisten, aber auch durch verschiedene gesellschaftliche Schichten und Institutionen führen. Der Roman endet mit der Darstellung von Franz ’ Tod aus Sicht des Paters Spiridion. Damit verlässt der Text die interne Fokussierung durch den Bericht des Protagonisten. Das Ende der Geschichte scheint aus der Außenperspektive versöhnlich, wenngleich durch den Tod Aurelies erkauft. Die Stimmen, die in Franz ’ Todesnacht aus dem Zimmer des Sterbenden dringen, lassen hingegen noch einmal auf einen (inneren) Kampf schließen und stellen den positiven Schluss in Frage (vgl. H 350). Die Gliederung der Bände in Abschnitte entspricht vor allem Lebensabschnitten oder verschiedenen Haltungen zum Geschehen. Sie können deshalb mit Titeln wie „ Der Eintritt in die Welt “ (H 56), „ Der Wendepunkt “ (H 187) oder „ Die Buße “ (H 254) überschrieben sein. Die Veränderungen gehen meist mit räumlichen Veränderungen einher, die Orte wechseln mit Franz ’ Gefühls- und Lebenslage. Diese werden in Jonigks Dramatisierung zur Grundlage der Binnengliederung des Stücks. Die acht ‚ Teile ‘ , wie Jonigk sie bezeichnet, sind noch einmal in einzelne Szenen unterteilt, die sehr oft inhaltlich oder strukturell verbunden werden. 155 die die Nebenfiguren ausspart, um eine realistisch-psychologische Zeichnung der Hauptfiguren vorzunehmen. 155 Neue Szenen nehmen zum Beispiel den letzten Satz der vorangegangenen auf oder beziehen sich explizit auf diese. So endet die Szene V.II. mit der Ohnmacht der Fürstin, die folgende Szene nimmt nach einem Black diesen Vorfall im direkten Anschluss wieder auf, wenn der Leibarzt diagnostiziert: „ Und eben diese Ähnlichkeit ist es, welche die Fürstin erschreckt und beunruhigt, sooft Sie in Ihre Nähe kommen [. . .] “ (TJ 62). Blacks (also kurzzeitige totale Eindunklungen der Bühne - hier referiert das Drama also 180 <?page no="193"?> Die acht Teile entsprechen nur teilweise den Abschnitten des Romans. Schon aus bühnenpraktischen Gründen orientieren sie sich vor allem an den Schauplätzen der Handlung, sodass der Wechsel der Dekoration die Struktur des Dramas bestimmt. Teil I beginnt mit Franz ’ Eintritt in das Kloster und endet, wie es der Roman vorgibt, mit seiner Abreise, ohne allerdings die Erlaubnis oder einen Auftrag des Priors. Teil II entspricht in seiner Konzentration auf die Erlebnisse im Schloss des Barons weitgehend dem zweiten Abschnitt des Romans, der dritte Abschnitt findet sich aufgeteilt in Teil III auf dem Dorf und IV im Forsthaus. Die Zwischenstation in der Handelsstadt ist dabei ausgelassen, die Begegnung mit Peter Schönfeld beziehungsweise Pietro Belcampo findet - abweichend zu Hoffmanns Roman - im Dorf statt. Die Erlebnisse am Hofe des Fürsten stellt Jonigk wie Hoffmann in zwei Teilen dar, denen aber ein eigener Akt zwischengeschaltet ist, in welchem sich Franz mit seinem Doppelgänger streitet. Teil VII thematisiert vor allem Franz ’ Beziehung zu Aurelie. Dieser Teil endet anders als der entsprechende Abschnitt im Roman: Franz, in der Rolle des Kryczinski, und Aurelie heiraten hier tatsächlich (TJ 181 f.); es findet kein Mordversuch statt. Stattdessen bricht das Lachen des Doppelgängers aus Franz heraus; es folgt ein Black und sein Erwachen im Irrenhaus in Teil VIII. Dies ist bereits der letzte Abschnitt des Dramas. In Jonigks Version der Elixiere verlässt Franz das Irrenhaus nicht lebend. Die Stationen der Buße in Rom und der Rückkehr ins Kloster finden im Drama kaum eine Entsprechung. Im Roman sind sie stark reflexiv ausgerichtet, lösen viele der unheimlichen Zusammenhänge auf und stellen die Sichtweisen anderer Personen auf die Handlung dar. Dadurch wirkt das zweite Buch bei Hoffmann stärker wiederholend und selbstreflexiver in Bezug auf das Erzählen. In langen Passagen mit Figurenrede wird die unterschiedliche Sicht der an der Handlung Beteiligten betont, sodass bei Hoffmann trotz des Ich-Erzählers von unterschiedlichen Fokalisierungen, nicht nur aber auch durch die eingefügten Texte des Herausgebers, des Malers und des Paters, gesprochen werden kann. Die im Pergament des alten Malers geschilderten Verwandtschaftsverhältnisse und die Familiengeschichte des Protagonisten werden nur in sehr stark verkürzter Form in die Dramatisierung übernommen. Im Irrenhaus auf die theatrale Umsetzung) als Signale eines Zeitsprungs trennen auch die strukturell ähnlichen Verhörszenen (TJ 64 - 71), der Ort bleibt derselbe, zum Personal kommt in jeder Szene auf Seite der Strafinstitution ein Figur hinzu, wodurch symbolisch der Druck auf den Delinquenten gesteigert wird. Wie stark dieser der filmischen Schnitttechnik ähnlende Beleuchtungseinsatz (bei Äquivalenzen in der Figurenkonstellation oder im Ort) die Konstruktion von Handlung durch den Rezipienten beeinflusst, wird in Kapitel 4.3.5 am Beispiel von Albrecht Hirches Dramatisierung der Wahlverwandtschaften erläutert. 181 <?page no="194"?> erscheint Franz die eigene Mutter in einer Art Traumgespräch. Sie offenbart ihm, dass die Familie sich auf Ehebruch und Inzest gründet. Deutlich wird auch, dass Franz zwei seiner Geschwister umgebracht hat. Die wichtigste Weiterführung und Veränderung im Vergleich zum Roman ist sicher der Hinweis, dass sich die Geschichte in Aurelies noch ungeborenem Kind wiederholen wird (vgl. dazu Abschnitt 4.2.6). Ob dieser Erkenntnisse sieht Franz keinen anderen Ausweg als den Suizid. Auf einer Metaebene nimmt ein Schauspieler, der Darsteller des Belcampo, den Schlussmonolog Franz ’ auf und setzt so das gesamte Geschehen nachträglich in den Rahmen einer literarisch-dramatischen Form. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Handlungsführung der Dramatisierung auffällig auf die ersten fünf Abschnitte des Romans konzentriert ist, deren Handlung durch die verschiedenen sozialen Schichten, Orte und Institutionen läuft. Dieser insgesamt handlungsstärkere Teil bietet sich für eine Umsetzung auf der Bühne sicher besser an. Die Dramatisierung setzt die Selbstreflexion und Wiederholung vor allem ans Ende und trennt sich dabei von der Vorlage, indem Franz ’ Schicksal zum Teil eines unausweichlichen Kreislaufs wird, dem der Protagonist des Stücks selbst durch den Suizid nur ein vorläufiges Ende setzen kann. Zeit und Raum in der Dramatisierung sind nicht historisch und geografisch spezifiziert; die Handlung soll sich nach Empfehlung des Autors vielmehr an künstlerisch-literarischen Eigenheiten der Romantik orientieren: „ Historische Genauigkeit ist nicht wichtig, vielleicht bietet sich aber das 19. Jahrhundert an, um einen romantischen Geist einzufangen. “ (TJ 4) Wie die Handlung des Dramas ist schon die des Romans nur ungenau datierbar. 156 Insofern kommt Jonigk mit seinem Vorschlag einer nur ‚ gefühlten ‘ Romantik jenseits historischer Korrektheit als Handlungszeit dem Vorgehen Hoffmanns durchaus nahe. 156 Zwar gibt der Nachtrag des Paters Spiridion ein Jahr im 18. Jahrhundert als Todesdatum des Protagonisten an, einige im Text genannte historische Personen und Werke lassen allerdings darauf schließen, dass die Geschichte um 1800 spielen muss. Der Kommentar zu den Elixieren stellt einen Anachronismus fest, wenn der Amtmann Schlegels Shakespeareübersetzung von 1808 bei sich trägt (H 169). Eine bewusste anachronistische Setzung sei möglich, „ um die Zeitebenen durchlässig zu machen “ (Stellenkommentar, H 606). 182 <?page no="195"?> 4.2.2 Personal und Figurenzeichnung: das Komische und das Schauerliche Wenngleich in der Erzählung der Mutter die Familienchronik stark reduziert wird, übernimmt Jonigk aus dem großen Personal des Hoffmann ’ schen Romans mindestens 51 handelnde Rollen. 157 Das Personenverzeichnis der Dramatisierung wirkt auf den ersten Blick geradezu bühnenuntauglich lang, wird aber durch praktische Kniffe dem Theater zugänglich gemacht. Die Auflistung gliedert sich nach Szenen/ Teilen und lässt so einen Blick darauf zu, welche Rollen gleichzeitig agieren (TJ 2 f.). Jonigk ergänzt die dramatis personae um einen Vorschlag für Doppel- und Mehrfachrollen, die eine Aufführung mit zwölf Darstellern erlauben (TJ 4). Die Anregung ist einerseits praktischer Natur, bezweckt also die Begrenzung der Schauspielerzahl, hat andererseits auch inhaltliche Konsequenzen. Für einige Rollen sieht der Besetzungsvorschlag vor, dass Figuren mit gleicher oder ähnlicher Funktion für die Handlung oder für Franz ’ Leben durch dieselbe Darstellerin beziehungsweise denselben Darsteller verkörpert werden. Dass das möglich ist, liegt an der wiederholenden Struktur der histoire und somit der Biographie des Protagonisten. Teilweise stellen sich die Verbindungen über Verwandtschaftsverhältnisse dar, meist aber sind sie zusätzlich durch ihre identische Funktion in Franz ’ Lebenslauf gestützt, in dem sich bestimmte Ereignisse zu wiederholen scheinen. Detlef Kremer beschreibt dieses Phänomen und seine Wirkung: Es würden „ zwischen den Figuren vage Korrespondenzen aufgebaut, die jedoch ihre Identitäten erschüttern und paradoxe Relationen von nichtidentischer Identität eröffnen “ . 158 In der Dramatisierung werden Äbtissin und Fürstin nicht nur wegen ihrer verwandtschaftlichen Ähnlichkeit gleich besetzt, sie agieren auch beide als fürsorgende Patronin. Aurelie und die Försterstochter Rosalie gleich zu besetzen, liegt ebenfalls nahe. Auch das Bild der heiligen Rosalie entspricht dieser Figur, wie im Roman vorgegeben. Franz ’ Doppelgänger wird vom selben Schauspieler wie Franz verkörpert. 159 Die Dopplungen werden auch im Stück über den Dialogtext thematisiert. So 157 Hier sind nur Sprechrollen aufgeführt. Statistengruppen für das Konzertpublikum (Szene V.II) oder die Hochzeitsgäste (Szene VII.VII) müssen hinzugerechnet werden. 158 Detlef Kremer: Die Elixiere des Teufels. Das Phantom der Familie oder die Metamorphosen des Mönchs. In: E. T. A. Hoffmann. Romane und Erzählungen. Hrsg. v. Günter Saße. Stuttgart: Reclam 2004 (= Interpretationen). S. 75 - 95. Hier S. 80. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass die Korrespondenzen so vage nicht bleiben. Über die allmähliche Aufklärung der Verwandtschaftsbeziehungen werden sie konkretisiert. 159 Im Roman bleibt die Identität des Doppelgängers unklar, er wird abwechselnd als Franz ’ Phantasie oder als real existierender Mensch, teilweise auch als Franz ’ nur scheinbar ermordeter Bruder Viktorin dargestellt. Vgl. dazu auch Peter von Matt: Der Roman im Fieberzustand. E. T. A. Hoffmanns ‚ Elixiere des Teufels ‘ . In: Ders.: Das Schicksal der 183 <?page no="196"?> vergleicht in der Szene V.III die Försterstochter Rosalie den Gast Franz mit dem Mönch (und Doppelgänger) im Försterhaus, weil beide sie mit falschem Namen ansprechen: mit ‚ Aurelie ‘ nämlich. Hier also wird die Dopplung gleich beider Besetzungen über den Dialog betont (vgl. TJ 50). Prior Leonardus und Baron von Stein stehen über ihren Status als ‚ Herr des Hauses ‘ in Verbindung. 160 Die Schauspielerin, die die Mutter darstellt, tritt auch als Förstersfrau auf, die man als Karikatur ihrer ersten Rolle betrachten kann. Dieses letzte Beispiel für eine Doppelrolle mag demonstrieren, dass nicht alle Parallelen im Roman bereits angelegt sind. Die meisten aber sind tatsächlich durch die Vorlage motiviert und bewirken, dass die Wiederholungsstrukturen im Drama explizit werden. Für die Rezeption in der Aufführung, die Ähnlichkeiten nur schwer oder sehr plump über die sprachliche Beschreibung leisten kann, die kein Zurückblättern und kein eigenes Lesetempo erlaubt, sind diese deutlichen Verweise sinnvoll. Eine weitere Besonderheit zeigt sich in der Figur des Viktorin, die (abgesehen von einem textlosen Kurzauftritt bei ihrer versehentlichen Ermordung) lediglich in Reinholds Erzählung vorkommt: Im Schloss des Barons berichtet Reinhold von Viktorins Geschichte; ohne dass der Erzählende es merkt, spielen Euphemie und Franz die Geschehnisse mit - Euphemie verkörpert dabei sich selbst, Franz spielt die Rolle Viktorins: „ Im folgenden findet zwischen den beiden das statt, was Reinhold schildert. Er bemerkt es nicht. “ (TJ 31) Zur Verringerung des Personals werden verschiedene Handlungsfunktionen der Romanfiguren auf eine einzige übertragen. In Szene V.I findet sich das Gespräch zwischen Franz und dem Gemäldeinspektor in der Residenzstadt, das wesentlich Kunstauffassungen thematisiert, und Franz ’ Gespräch mit dem Fürsten in einem einzigen Dialog zusammengefasst. Es ist der Fürst, mit dem Franz spricht, dieser gibt sich allerdings (wie bei Hoffmann der Gemäldeinspektor) erst zum Ende der Unterhaltung als solcher zu erkennen. Er wird dadurch karikierend als selbstherrlich dargestellt, lässt er sich doch zunächst anonym von seinem Gesprächspartner bewundern und zeigt sich enttäuscht, als ihm dieser nicht die nötige Begeisterung entgegenbringt (TJ 57). Trotz der großen Zahl an Rollen werden sehr viele Figuren aus Hoffmanns Text gestrichen. Es handelt sich in der Regel um Nebenfiguren, die oft nur bestimmte Situationsschilderungen unterstützen. Auffällig hingegen ist die Streichung des alten Malers, der im Roman eine wichtige Funktion als Phantasie. Studien zu deutschen Literatur. München/ Wien: Hanser 1994. S. 122 - 133. Hier besonders S. 130 - 132. 160 In diesem Sinne wäre es möglich, auch den Fürsten mit demselben Schauspieler zu besetzen. 184 <?page no="197"?> Vaterfigur, Mahner und Retter, vor allem aber als Chronist der Geschehnisse und Verwandtschaftsverhältnisse hat, die zu Franz ’ Biographie beitragen ( „ Pergamentblatt des alten Malers “ , H 277 - 297). Der Maler trägt außerdem wesentlich dazu bei, dass sich die Künstlerthematik durch das gesamte Werk zieht. Da das Schreiben als Motiv im Stück nicht vorkommt, ist auch die Rückschau durch das Pergament darin nicht aufgenommen. Diese wird ersetzt durch einen mündlichen Vortrag der toten Mutter, die Franz im Traum erscheint. 161 Somit muss der Maler als Figur nicht auftreten. Die Künstlerthematik wird durch andere Elemente in die Dramatisierung aufgenommen. 162 Wenn zu Beginn gesagt wurde, die Herstellung des Schauerlichen (im Sinne einer Furcht erweckenden und geheimnisvollen Stimmung) bleibe im Wesentlichen Aufgabe der Regie, muss nun genauer festgestellt werden, dass sich vielmehr die Verfahren dazu stark unterscheiden. Während der Roman über Landschaftsbilder, Beschreibungen der Stimmung sowie über die Gefühlslage des Protagonisten eine schauerliche Atmosphäre gestaltet, wendet der dramatische Text die Figuren ins Skurril-Schaurige: Durch chorisches Sprechen, durch ihre überzogene Typenhaftigkeit und durch eine zur Schau gestellte Ignoranz gegenüber den Handlungen und Gefühlen ihres Umfeldes wird das Angsteinflößende auf die Figurenebene übertragen. Zunächst allerdings finden sich Anklänge an die theatrale Lachkultur im Sinne einer typenhaften Figurenanlage wie in der Commedia dell ’ Arte. Diese zeigen sich schon im Roman in der starken Überzeichnung einiger Figuren. 163 Lothar Pikulik sieht das Spezifische an Hoffmanns Texten im Umkippen des 161 Auch hier wird also nicht ersatzlos gestrichen, sondern die Funktion auf eine andere Person übertragen. 162 Die Figur des alten Malers erhält besondere Bedeutung, wenn man Franz ’ Lebensgeschichte als Bildzyklen liest, die sich immer wieder überschneiden und kopieren/ kopiert werden. Bernd Stiegler beschreibt die Struktur der Erinnerungserzählung überzeugend als Folge der „ Übersetzung von Bildin Textordnungen und umgekehrt “ . Bernd Stiegler: Die Spiegelreflexkamerastammlinde. Bildsysteme in E. T. A. Hoffmanns ‚ Die Elixiere des Teufels ‘ . In: Athenäum 5 (1995). S. 235 - 252. Hier S. 237. Hier allerdings verliert die Dramatisierung gegenüber dem Roman an Bedeutungsebenen, weil sie die Fresken und Gemälde entweder nicht darstellt oder aber real auf die Bühne bringen muss. Das heißt auch, dass das Spiel mit Parallelen und Identitäten in der direkten Darstellung eindeutig wird und damit seinen Reiz verlieren kann. Die Stärke des Romans liegt hingegen gerade in der nur sprachlichen Darstellung der Bildebene. 163 Bernard Dieterles Untersuchung der Theatermotivik und der Textstruktur in Hoffmanns Prinzessin Brambilla lässt sich in diesem Sinne durchaus auf die Elixiere übertragen. Die Fragen nach Rollenhaftigkeit und Doppelidentitäten werden in beiden Werken verhandelt. Bernard Dieterle: Erzählerische Improvisationen. Die Commedia dell ’ Arte als poetologisches Modell bei E. T. A. Hoffmann und Robert Coover. In: Die Formel 185 <?page no="198"?> Komischen ins Schaurige. Er benennt das Phänomen mit dem Begriff des Grotesken, der hier allerdings deutlich vom oben verwendeten Begriff Bachtins unterschieden werden muss. 164 Jonigk arrangiert seine Figuren in Komödienszenen, die zunächst lustig, in ihren Wiederholungsstrukturen und ihrer Intensität dann aber skurril und erschreckend wirken. Als Beispiel sei hier die Forsthausszene IV.II genannt, welche ein Familienbild zeichnet, das von der Idylle durch Karikatur ins Böse kippt. Der Nebentext gibt dabei vor, dass die Familienmitglieder „ unerträglich liebevoll “ miteinander umgehen: „ Alle strahlen Glückseligkeit aus und lächeln immer “ (TJ 49). Der Morgen bricht an und die Familie begrüßt sich floskelhaft: FÖRSTER: [. . .] Einen guten Morgen, liebe Frau. FÖRSTERSFRAU: Einen guten Morgen, liebe Töchter. ISOLDE u. ROSALIE: (gleichzeitig) Einen guten Morgen, liebe Mutter. FÖRSTERSFRAU: Einen guten Morgen, lieber Franz. FÖRSTERFRANZ: Einen guten Morgen, liebe Mutter. Auch euch einen guten Morgen, liebe Schwestern. (TJ 53) Dieses Ritual setzt sich fort, bis der Mönch, Franz ’ Doppelgänger, das Zimmer betritt. „ Er scheint wahnsinnig “ (hier und im Folgenden TJ 53 f.), wirft die Elixierflasche nach dem Förster. „ Försterfranz und sein Vater springen auf und drehen ihm die Hände auf den Rücken. “ Sie beschließen in aller Kürze und Härte, den Mönch in die Irrenanstalt zu bringen, und „ führen den schreienden Doppelgänger ab “ . Der Härte dieser Handlung wird die Weiterführung des freundlichen Begrüßungsrituals entgegengesetzt. Sobald der Doppelgänger von der Bühne und Bildfläche verschwunden ist, wiederholen sich die Floskeln: „ Einen guten Morgen, liebe Mutter. “ „ Einen guten Morgen, liebe Rosalie. “ Die Idylle ist durch das Ereignis nicht angegriffen, wird aber als nur scheinbare und oberflächliche Harmonie demaskiert; ihr Verhalten lässt die Figuren unberechenbar, maskenhaft und kalt erscheinen und wendet die Szene schnell vom Lustigen ins Bizarr-Schaurige. Die Frage, wer sich wahn- und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität. Hrsg. v. Iris Denneler. Frankfurt a. M.: Lang 1999. S. 128 - 143. Siehe besonders S. 132. 164 „ Die mehrenteils als grotesk zu klassifizierende Komik dieses Autors [Hoffmanns; B. L.] ist aber nicht Ausdruck reinen Frohsinns und erzeugt nur ein Lachen, das dem Lacher im Halse stecken bleibt. Als Mischform des Komischen und Schauerlichen verweist das Groteske auf einen abgründig dunklen Ursprung und verleiht dem Geheimnis die Farbe des Unheimlichen. “ Pikulik, Die Hieroglyphenschrift. S. 151. Pikuliks Definition des Grotesken folgt der Definition nach Wolfgang Kayser, der im Grotesken das Lächerliche mit dem Grauenvollen verbunden sieht und dies am Beispiel E. T. A. Hoffmanns illustriert. Vgl. Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. 2., unveränderte Auflage. Oldenburg/ Hamburg: Stalling 1961 [1957]. S. 80. 186 <?page no="199"?> sinnig verhält, der Mönch oder die Försterfamilie, ist kaum noch zu beantworten, womit Jonigk einen Zug des Romans weiterführt. 165 Diese Art der Figurenzeichnung bestimmt den Hauptteil der Dramatisierung. Insbesondere in den ersten fünf Teilen werden Bilder aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und institutionellen Zusammenhängen gezeigt, die das Rollenhafte und Gleichförmige im Verhalten der Menschen betonen. Stellvertretend für Kirche und Schule als soziale Institutionen steht die Klosterschule des Priors Leonardus in Teil I; die dörfliche Gemeinschaft und das korrupte Beamtentum wird in der Szene im Dorf (Teil II) karikiert; besonders negativ zeichnet Jonigk die Kleinfamilie als Idylle in Teil IV sowie den Kleinadel mit einem falschen Begriff von Kunst und Künstlertum in Teil V. Sprechweise und choreografisches Arrangement ziehen Verhaltensweisen, Ideale und Hierarchien ins Lächerliche. Aber auch die Gewalt dieser sozialen Mechanismen drückt sich in der Form, zum Beispiel im chorischen Sprechen, und im Inhalt der Dialoge aus. So werden im ersten Teil Prior Leonardus und die Klosterschüler beim Lernen von Lateinvokabeln eingeführt: LEONARDUS: [. . .] Ich koche. Ich tobe. FRANZ: (unter Druck) Fervo. Fervi. Fermentum. KLOSTERSCHÜLER I, II u. III: (anbiedernd) Fervo, fervi, fermentum. LEONARDUS: Ich durchbohre. Ich treffe. FRANZ: (wie oben) Figo. Fixi. Fixum. KLOSTERSCHÜLER I, II u. III: (anbiedernd) Figo, fixi, fixum. LEONARDUS: Ich schlage. Ich strecke zu Boden. FRANZ: (wie oben) Fundo. Fudi. Fusum. KLOSTERSCHÜLER I, II u. III: (anbiedernd) Fundo, fudi, fusum. (TJ 10) Nach dem Weggang des Priors wird die Szene ins Sexuell-Triebhafte weitergeführt und erinnert ein wenig an Frank Wedekinds Frühlings Erwachen: 166 KLOSTERSCHÜLER I, II u. III: (onanierend) Delirare, deliro FRANZ: (dito) Ich deriliere [sic! ], phantasiere. KLOSTERSCHÜLER I, II u. III: (onanierend) Erigo, erexi, erectum. 165 Dazu ausführlich Lothar Pikulik: „ . . . daß nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben “ . Vom Wahnsinn des Alltags bei E. T. A. Hoffmann. In: Aurora 36 (2003). S. 49 - 61. „ [V] orausgesetzt ist von vornherein die geheime Identität von Ferne und Nähe “ (S. 52) in der Dichtung der Romantik (man mag ergänzen: von Vertrautem und Fremden) sowie die weiche Grenze zwischen Normalität und Ausnahme. Als Rezeptionshaltung sei eine „ Haltung des Sichwunderns, des Sichwunderns gerade über das scheinbar Selbstverständliche “ angelegt (S. 61). 166 Die sexuelle Motivik des Romans findet sich auch im Drama bereits in den Kindheitsszenen angelegt. 187 <?page no="200"?> FRANZ: (dito) Ich richte mich auf. KLOSTERSCHÜLER I, II u. III: (onanierend) Penetrare, penetro. FRANZ: (dito) Ich dringe ein. KLOSTERSCHÜLER I, II u. III: (onanierend) Venio, veni, ventum. FRANZ, KLOSTERSCHÜLER I, II u. III: (dito) Ich komme. Mein Gott, ich komme! (TJ 11) Ähnlich wie bei der Darstellung der Familie im Forsthaus wird hier über die Sprache eine Gruppe erzeugt, die über Zugehörigkeit oder Außenseitertum bestimmt, und deren Verhalten sich der aktuellen Situation anpasst. Eine besondere Art der Beschreibung einer gesellschaftlichen Gruppe findet sich in Szene V.II. beim Konzert des Fürsten. Der Nebentext gibt in epischer Manier eine Beschreibung des Konzertpublikums, das sich ob der Rezeptionssituation nicht laut äußern kann. Das Theaterpublikum: kultiviert, privilegiert, man langweilt sich. [. . .] Auszug, Überblick, Querschnitt: Der Mann mit der Nelke am Kragen fragt sich, ob es noch regnet, der Herr im weißen Anzug, der wie ein Musikliebhaber aussieht, ist taub, seine neben ihm sitzende Frau auch. (TJ 60) Nach dem zweiten Satz folgt eine kurze Unterhaltung zwischen Franz und dem Fürsten, dann geht es ähnlich weiter: FRANZ: (zum Fürst) Es geht weiter. KONZERTPUBLIKUM: (Leider. Der erste, zweite, dritte Satz. Das Konzertpublikum unterdrückt ein Gähnen. Später im Foyer wird das Werk „ interessant “ , „ prägnant “ , „ signifikant “ genannt. Falls alte Kritiker, junge Künstler und wichtige Persönlichkeiten es genial heißen, wird man der gleichen Meinung sein. [. . .]) (TJ 60) Was hier beschrieben wird, ist kaum sichtbar zu machen, beinhaltet sogar in einer Prolepse die spätere mögliche Kommentierung des Konzerts. Der Nebentext ist also nicht als Bühnenanweisung gedacht, sondern beschreibt als Vermittlerrede eine bestimmte Atmosphäre, die in der Inszenierung durch andere Zeichen auf die Bühne übertragen werden muss. Mit den weiteren Einführungen von gesellschaftlichen Gruppen hat diese aber gemein, dass sie in parodistischer Manier das Fremdgesteuerte des Verhaltens entlarvt und die Menschen stark überzeichnet. Dies bringt auch eine gewisse Künstlichkeit mit sich. Die meisten der Figuren der Dramatisierung sind nur schwer in psychologischer Spielweise 167 verkörpert vorstell- 167 Selbstverständlich entscheidet hierüber letztlich die Inszenierung. Da der Text aber keine psychologische Entwicklung der Figuren darstellt und in den meisten Fällen Befindlichkeiten einzelner nicht oder nur karikierend darstellt, die Figuren zudem meist 188 <?page no="201"?> bar: Sie sind vielmehr Typen. Nicht nur Gruppen, auch einzelne Personen werden in dieser Weise überzeichnet. Die Fürstin, die bei Franz ’ Anblick in für sie unerträgliche Erinnerungen verfällt, erklärt: „ am besten ists, ich fall in Ohnmacht “ , woraufhin der Nebentext kommentiert: „ Sie sieht Franz an und tut es. Black. “ (TJ 61) Neben der Überzeichnung zu Typen ist also die Künstlichkeit des Sprechens und Handelns 168 charakteristisch für die Figurenzeichnung in Jonigks Bearbeitung der Elixiere. Damit übernimmt er durchaus einen Zug aus Hoffmanns Roman, in dem zumindest bestimmte Gruppen und Personen ebenfalls recht künstlich und überzeichnet wirken. 169 Die wohl hervorstechendste Figur ist Pietro Belcampo oder Peter Schönfeld, der in der Dramatisierung mindestens so stark überzeichnet ist, wie es der Roman vorgibt. Im Nebentext wird deutlich auf das Artifizielle der Figur verwiesen: „ Die Tür springt auf und hinein - mit Friseurutensilien bewaffnet - Pietro Belcampo, der wie seine eigene Karikatur aussieht und sich auch so aufführt. “ (TJ 43) 170 Der Friseur wird auch im Roman in seiner Künstlichkeit beschrieben, als Gruppe agieren, scheint eine Umsetzung in realistischem und psychologischem Spiel zumindest nicht intendiert. 168 Teilweise werden neben der chorischen Sprache auch parallele Handlungen vorgegeben, die sehr choreografiert wirken. So schildert der Nebentext in Szene I.III Mutter und Äbtissin immer wieder in gleicher Haltung und mit gleichem Gesichtsausdruck (TJ 9 - 14). Aber auch dort, wo parallele Handlungen nicht direkt vorgeschlagen sind, legt der Text über das gemeinsame Sprechen eine Inszenierung auch gemeinsamer Handlungen, Gesten und Mimiken nahe. 169 So trägt unter anderem die Darstellung des Fürsten starke Züge einer satirisch motivierten Künstlichkeit (vgl. das Gespräch über die Kunst, H 151 f.); das Personal der Erzählung des Leibarztes wird als Theaterpersonal dargestellt - eine Künstlichkeit, die sich sogar in der Sprache wiederfindet: „ Sie werden bemerkt haben, daß sogar der Wirt rhythmisch spricht, der Doktor hat ihn so zu sagen eingejambt. “ (H 169). Entscheidend ist dabei allerdings auch der Blick des Ich-Erzählers auf die Figuren, der selbst schon ein durch Kunst gelenkter ist. Denn als Franz an den Hof eingeladen wird, imaginiert er sich eine Gesellschaft wie in der Literatur: „ [Mir] gingen all ’ die abenteuerlichen Geschichten von den Kabalen, Ränken, Intriguen der Höfe, wie sie sinnreiche Roman- und Komödienschreiber aushecken, durch den Kopf. Nach Aussage dieser Leute, mußte der Fürst von Bösewichtern aller Art umgeben, und verblendet, insonderheit aber der Hofmarschall ein ahnenstolzer abgeschmackter Pinsel, der erste Minister ein ränkevoller habsüchtiger Bösewicht, die Kammerjunker müssen aber lockere Menschen und Mädchenverführer sein. - Jedes Gesicht ist kunstmäßig in freundliche Falten gelegt, aber im Herzen Lug und Trug [. . .]. “ (H 153) 170 Das Wortspiel im Nebentext trägt keine eigene Information für die Inszenierung und vermittelt sich auch dem späteren Zuschauer nicht. Ähnlich geschieht es auch in der Darstellung der Konzertgesellschaft. Hier zeigt sich also ein kommentierender Vermittler im Drama. Da Dramatisierungen keine Lesedramen sind, ist an dieser Stelle ein eigenes Kommunikationssystem zwischen Autor und Theaterpraktikern, also Dramaturgen, Regie, Schauspielern angesprochen. Jonigk erlaubt sich einen Scherz, der sich an die kleine Leserschaft des Dramentextes wendet. Die unterschiedlichen Kommunika- 189 <?page no="202"?> wenn sein Gesicht „ einer komischen Maske “ gleicht (H 103). Die Redeanteile im Gespräch zwischen Franz und Belcampo, die im Roman dadurch angedeutet sind, dass der Ich-Erzähler jeweils nur kurz und in indirekter Rede seine Frage wiedergibt, der Friseur dann über lange Passagen in direkter Rede zitiert wird (vgl. insbesondere H 104 - 107), gehen in der Dramatisierung noch stärker auseinander: Franz spricht im Wesentlichen in einzelnen kurzen Sätzen, teilweise in Ein-Wort-Antworten, während Belcampo darauf jeweils mit einem langen Redeschwall reagiert. Dies wird nicht nur bei ihrem ersten Treffen, sondern auch in der Szene VIII.I bei ihrem Wiedersehen im Irrenhaus gegen Ende des Dramas deutlich (vgl. v. a. TJ 84 - 86). Dass auch Belcampo außerhalb der Gesellschaft steht, wird in der Dramatisierung dadurch offenbar, dass er erscheint, nachdem Franz einen Gast im Wirtshaus ermordet hat und alle anderen Anwesenden deshalb geflohen sind. Belcampo hingegen scheint die Situation nicht als problematisch wahrzunehmen. Er bedient sich im Gegenteil der Mordwaffe zur Illustration seiner Ideen und erklärt „ das Messer aus dem Körper von Gast I ziehend und damit in Fechterstellung in die Luft stechend “ , wie er über das Frisieren den „ Widersacher “ in Franz bezwingen wolle (TJ 47). Die Komik und das Außenseitertum werden weiter hervorgehoben, da sich Belcampo als einzige Figur des Stücks eines Vokabulars bedient, welches dem Sprachgebrauch des 20. und 21. Jahrhunderts entnommen ist. Verstärkt verwendet werden außerdem Begriffe aus dem Friseurhandwerk sowie Redewendungen, in denen Haare metaphorische Bedeutung haben. So spricht Belcampo unter anderem vom „ Spliß “ des Ich (TJ 47), imaginiert sich als „ Starmoderator oder Juniorchef “ (TJ 86). 171 Zudem spricht tionsebenen des dramatischen Textes werden hier besonders gut erkennbar. Stärker pragmatisch sind Regieanweisungen, die deutlich als Vorschläge gekennzeichnet werden. Jonigk beschreibt zum Beispiel die Reliquienkammer im Nebentext mit den Worten: „ Gruftcharakter, vielleicht hallt es? “ (TJ 14). Hier wird auf das System der Theaterproduktion, in diesem Fall auf den Vorgang der Inszenierung, verwiesen. Sprachwitz in dramatischen Nebentexten ist verbreiteter, als zunächst zu vermuten wäre. Zum Beispiel enthalten Friedrich Dürrenmatts Dramen entsprechende Passagen, die eine kommentierende Vermittlungsinstanz voraussetzen und teilweise metareferentielle Funktion haben. In Die Physiker ist zu lesen: „ Dazu beruhigt überflüssigerweise auch noch die Landschaft die Nerven “ , sowie der metareferentielle Verweis: „ [. . .] einer Handlung, die unter Verrückten spielt, kommt nur die klassische Form bei “ . Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2. Stücke. Zürich: Diogenes 1991. S. 131 - 209. Hier S. 133 und 134. 171 Der Wahnsinn ist für Belcampo Zeichen einer besonderen Überlegenheit. Er hält sich für fortschrittlicher als seine Zeitgenossen: „ Wir sind unserer Zeit weit voraus. Im Aus. Wir leben schon jetzt im 21. Jahrhundert und gehen in der Gegenwart als Einzelgänger Außenseiter Vorreiter unverstanden unter. “ (TJ 86) Damit macht Belcampo sich und Franz zu Zeitgenossen des Theaterpublikums, stellt also eine besondere Nähe zwischen sich und dem Publikum her und legt implizit nahe, sich auf die Seite der beiden - dann 190 <?page no="203"?> er mit zwei Stimmen, die die widerstreitenden Pole seines Wesens hörbar und unterscheidbar machen: Es steckt ein infamer, sündlicher Kerl in meinem Innern und spricht ungefähr wörtlich: (mit veränderter Stimme) „ Peter Schönfeld, sei kein Arsch und glaube, daß du bist, sondern ich bin eigentlich du, heiße Belcampo und bin eine schweinisch geile Idee, und wenn du das nicht glaubst, so stoße ich dich nieder mit meinen kompromißlos großen Schwanzgedanken! “ (wieder mit normaler Stimme) Dieser abgeneigt feindliche Mensch, Belcampo genannt, begeht alle möglichen Laster; unter anderem zweifelt er oft an der Gegenwart und treibt Unzucht mit allerlei jungfräulichen Gedanken. Vergebung für uns beide, Pietro Belcampo und Peter Schönfeld! (TJ 47 f.) Die ‚ Unzucht ‘ , ein Zitat aus Schönfelds beziehungsweise Belcampos Rede im Roman, ist hier durch obszöne Äußerungen in der direkten Rede des ‚ anderen Ichs ‘ wiedergegeben. 172 Das Ende des Zitats zeigt, dass die Trennung zwischen den zwei Ichs nicht durchgängig ist. Die Figur spricht von sich in schizophrener Manier als ‚ wir ‘ oder als „ Peter und ich “ (TJ 45). Dass Belcampo als Parallelfigur auch Franz ’ Gefühlsleben darstellt, soll in Abschnitt 4.2.5 gezeigt werden. 4.2.3 Künstlichkeit: Intertextualität und Sprachspiel Der Text legt eine Inszenierung mit stark choreografischen Elementen nahe. Die oben zitierten Passagen, in denen Franz ’ Umfeld karikiert wird, zeigen bereits das chorische Sprechen. Diese Elemente gehen bis in Versformen und in den Gesang hinein, sodass jenseits des chorischen Dialogs eine noch stärker formalisierte Ausdrucksform gefunden wird. Beides, chorisches Sprechen und versifizierte Sprache, haben in der Dramengeschichte eine lange Tradition. Dass sie hier dennoch fremd wirken, liegt vor allem in ihrer anachronistischen Verwendung begründet: Die Gegenwartsdramatik bildet Sprache in der Regel recht naturalistisch und nutzt außerhalb von zum Beispiel Liedeinlagen sehr selten Verse und Reime. So wirkt das Verlassen sowohl der nur scheinbar wahnsinnigen - Figuren zu stellen. Auch wird hier das innere System von Zeit und Raum, von einer historischen Erzählweise und einem abgeschlossenen Kunstwerk gebrochen. Der Sprung auf die Metaebene am Ende der Dramenhandlung ist so bereits angelegt und erfolgt, fast selbstverständlich, durch den Schauspieler des Belcampo (siehe unten). 172 Das Vokabular muss deutlich schärfer werden, als der Prätext dies vorgibt. Nur so kann es im 21. Jahrhundert ähnlich provozieren wie der Auftritt der Figur im Roman den zeitgenössischen Leser. Auch die Mündlichkeit der Aufführung kann ein Grund sein: Die schnelle und einmalige Rezeption bedarf deutlicherer Signale von Provokation als der subtiler arbeitende epische Text. Die drastischen Ausdrücke erklären sich also durch den historischen Abstand ebenso wie durch die gattungsspezifische Anpassung. 191 <?page no="204"?> Prosaform als auch des naturalistisch-mimetischen Duktus aktueller Dramatik in Jonigks Dramatisierung als Sprengung der Form. So entsteht eine Wirkungsäquivalenz zum Roman: Wenn bei Hoffmann das Schauerliche und Erschreckende auf Inhaltsebene verstört, so zeigt sich das Verstörende in der Dramatisierung auf Ebene der Sprache, die weder im Sinne mimetischen Theaters Wirklichkeit nachbildet noch ein Äquivalent zur formalisierten Schriftsprache des (beispielsweise) klassischen Dramas darstellt. Ein Beispiel bietet die Szene II.I, in der Franz nach dem Genuss des Elixiers in den Wald verschwindet. Der Roman schildert hier mit Sonnenaufgang, „ Tautropfen “ und „ Insektlein “ die erwachende Natur, die nicht nur über die Vögel, welche „ singend und jubilierend und sich in froher Lust liebkosend, durch den Wald [flattern] “ (H 56), erotisch aufgeladen wird. Statt durch den Wald ziehenden „ Bauernburschen und festlich [geschmückten] Dirnen “ (H 56) begegnet Franz in der dramatisierten Fassung drei Jägern, die nacheinander Verse aus dem Gedicht Edelwild von Hermann Löns 173 zitieren. Jonigk ergänzt das Lied um einen Refrain, der von den Jägern gemeinsam wie auch der übrige Text „ betont lebensbejahend “ (TJ 25) nach jeder Strophe wiederholt wird: JÄGER III: [. . .] Es ist ein frisches Mägdelein, auf das ich gerne pirsch. Viel lieber als auf Has und Bock, auf Rebhuhn oder Hirsch. JÄGER I, II u. III: [. . .] Hussassa, Tirallala, Halli, Hallo, et cetera! (TJ 25) An diese Szene knüpft die später folgende Forsthausszene, in der es ebenfalls übertrieben fröhlich zugeht, implizit an. Vor allem aber weisen die Floskeln und das „ et cetera “ des Refrains die Jäger als lächerliche Figuren und ihren Gesang als nicht authentisch aus. Ebenso stark formalisiert und ironisiert wird das Leben des Kleinadels auf dem Schloss des Barons von Stein dargestellt. Die gesamte Handlung dort, im Roman auf viele verschiedene Orte und Szenen verteilt, wird hier in einer einzigen durchlaufenden Szene (und Szenerie) zusammengefasst, für die der Nebentext als Spielprinzip vorgibt: „ Wer nicht am Gespräch beteiligt ist, hört nicht mit. “ (TJ 28) Die unbeteiligten Personen werden meist schlafend dargestellt. Die Szenerie bilden „ ein Flügel, dann im Halbkreis fünf große Ohrensessel “ (TJ 27), in denen die handelnden Figuren sitzen. Am Flügel spielt Hermogen, sofern er wach ist, das Lied Morning has broken von Cat Stevens an. Dieses Lied funktioniert durch den Wechsel von Schauspiel und Musik (auch Gesang) stark strukturgebend. Es trennt Handlungsabschnitte voneinander 173 Hermann Löns: Edelwild. In: Ders.: Sämtliche Werke in acht Bänden. Hrsg. v. Friedrich Castelle. Bd. 1. Leipzig: Hesse und Becker 1930. S. 343. 192 <?page no="205"?> und fasst in seinen Gesangspassagen die Befindlichkeiten der Figuren zusammen. Als Beispiel mag die Szene dienen, in der es zwischen Euphemie und Franz zum Zerwürfnis kommt. Sie ohrfeigt sie ihn hart, Hermogen erwacht und beginnt zu spielen, woraufhin „ [alle] erwachen. “ (TJ 34) Nun folgen mehrere Gesangsparts, in denen die Figuren ihre Gefühle und Gedanken, Rachephantasien, teilweise auch den Gang der Handlung besingen: HERMOGEN: (schleppend und finster singend) Morgens, gebrochen . . . BARON: (dito). . .wie jeden Morgen . . . REINHOLD u. AURELIE: (dito). . .Trauer und Sorgen . . . EUPHEMIE: (dito) Liebt er mich nicht? FRANZ: (dito) Ich möchte wissen/ weshalb Aurelie/ nie mit mir spricht/ Liebt Sie mich nicht? (TJ 34) Das absurde Konzert wird nach jeder Strophe durch Spielszenen unterbrochen, zum Beispiel durch das Gebet, bei dem Franz Aurelie geradezu überfällt, und die Intrige zwischen Franz und Euphemie. Schließlich wird auch der Mord an Hermogen im Lied gefasst. Franz ermordet singend Hermogen, der „ auf den Tasten zusammenbricht, chaotische Klavierklänge, dann a capella “ (TJ 38). Durch die Stille werden die übrigen Figuren auf die Morde aufmerksam und kommentieren wiederum singend: AURELIE, BARON, REINHOLD u. FRIEDRICH: (a capella) Mord! Mord und Totschlag. . . AURELIE: (dito) . . .was macht er da. . . FRIEDRICH: (dito). . .er köpft Hermogen . . . REINHOLD: (dito). . .ich kann gar nichts sehn . . . BARON: (dito). . .mit dem kleinen Messer . . . REINHOLD: (dito). . . ein Beil wäre besser . . . FRANZ: (dito, den Kopf hochhebend und in Richtung des Barons schmeißend). . .ich habs trotzdem geschafft . . . REINHOLD, BARON, AURELIE u. FRIEDRICH: (dito). . .Mord und Totschlag! (TJ 38) Ein solches Verfahren zielt hier wohl weniger auf Traditionen des griechischen Chores als auf leichte Lacher beim Publikum, zumal Versmaß und Reime stark nach laienhafter Gelegenheitsdichtung klingen. Der Qualitätssprung innerhalb des Textes hat in der Inszenierung vermutlich den gewünschten Unterhaltungseffekt. Er ist vielleicht auch deshalb hinzunehmen, weil der Gesang inhaltlich auf den Text wirkt, indem er eine stark formalisierte und choreografische Spielweise nahelegt, die die Szene weg von einem schicksalhaften und tragischen Ereignis und hin zur Farce rückt. Die intendiert falsche Übersetzung von ‚ Morning has broken ‘ zu ‚ Morgens 193 <?page no="206"?> gebrochen ‘ , die sich an der Phonetik und nicht an der Semantik des Originals orientiert, signalisiert, dass dieser Effekt kalkuliert ist. Neben Liedern werden noch weitere lyrische Formen herangezogen. Reime kennzeichnen die Sprache der Dorfbewohner ebenso wie die der Besucher der Reliquienkammer. Letztere kommentieren beispielsweise die Ausstellungsstücke im Kloster vorwiegend in gereimter Sprache: „ Höchst furchterregend, doch bewegend “ (TJ 15). Es kommt außerdem mehrfach ein Sprechen in Versen vor, das sich an der Psalmendichtung orientiert und so liturgischen Charakter erhält. Die entsprechenden Passagen stehen im Spannungsfeld zwischen Gebet und sexuellen Wunschbildern und werden zum Teil entsprechend deutlich erotisiert. Nach dem Geschlechtsverkehr mit Franz ’ Doppelgänger betet Aurelie. Die verwendeten Metaphern gehen auf Verse aus Psalm 63 zurück: „ Meine Seele dürstet nach dir, mein Leib verlangt nach dir, wie dürres, dürstendes Land, das des Wassers entbehrt “ (TJ 80). Der für die hebräische Poesie typische Parallelismus membrorum verdeutlicht den Bezug auch stilistisch. Durch den Handlungskontext, der auch über die Worte „ wenn ich auf meinem Lager deiner gedenke “ (TJ 80), die ebenfalls Psalm 63 entnommen sind, noch einmal in Erinnerung gerufen wird, und die Auswahl von Bildern, in denen gerade die Körperlichkeit der Ich-Sprechinstanz betont wird, erhält der Monolog eine sexuelle Konnotation. Auch Franz ’ Schlussmonolog besteht aus Versen und ist durch dieses Merkmal klar als artifizielle Sprache zu erkennen. Durch die Sprache wird der Kunstcharakter des Dramas rückblickend noch einmal betont und bildet so auf formaler Ebene den Übergang zur Rahmung als Spiel im Spielam Dramenende. Das Artifizielle drückt sich auch außerhalb der versifizierten Sprache in der Rede des Protagonisten aus. Franz reiht in seinem Sprechen oft Verben oder Adjektive, sodass der Eindruck eines Überflusses an Wörtern entsteht. Diese Wörter sind häufig auf hohem Sprachniveau angesiedelt oder durch Alliterationen oder Reim miteinander verbunden: „ Ich füge betrüge begnüge mich nicht mit dir “ (TJ 37). Die Häufungen werden dadurch zum Zeichen von Sprachgewandtheit, Sprachspiel und Sprachreflexion, aber auch Uneindeutigkeit. Diese Art Wortspiel kommt bereits in den Elixieren Hoffmanns vor und wird dort von Pietro Belcampo zum Zeichen der Narrheit erklärt: Die Vasallen [. . .] wollen nicht mehr stehen, sitzen und liegen wie der pedantische Hofmeister es will; der sieht die Nummern durch und spricht: Seht, die Narrheit hat mir meine besten Eleven entrückt - fortgerückt - verrückt - ja, sie sind verrückt worden. Das ist ein Wortspiel, Brüderlein Medardus - ein Wortspiel ist ein 194 <?page no="207"?> glühendes Lockeneisen in der Hand der Narrheit, womit sie Gedanken krümmt. “ (H 260) Jonigk übernimmt das Stilmittel des Wortspiels und lässt Franz in diesem Duktus sprechen. Sprache wird als Material sichtbeziehungsweise hörbar und erhält in ihrer ‚ Verrückbarkeit ‘ und Verrücktheit Einfluss auf Denken und Handeln: Wie, wenn dies Getränk mein Inneres stärkte, ja, die erloschen tote Flamme entzünden könnte würde wollte, daß sie in neuem Leben strahlte? Wie, wenn es auf mich belebend wohltätig wirkte und die Lust eines hell herrlichen Lebens ginge in mir auf? (die Flasche ansetzend) Flink rasch schnell, einen heftig deftig kräftigen Zug getan! (TJ 20) Der Konjunktiv verstärkt den artifiziellen Duktus der Rede weiter, ebenso die Bildungszitate, im Folgenden aus Schillers Don Karlos, und das Sprachspiel mit Redewendungen und Sprichwörtern, wie hier in Franz ’ Monolog nach seiner Predigt am Bernardustag: Wo was wer bin ich? Ich kann mich vor Gedankenfreiheit zu einem rechten Weg nur schlecht entscheiden. [. . .] Vater ist die verbotene Frucht. In Schlangenlinien läuft er zu mir zurück und versucht, sich mir mit Engelszungen leise schmeichelnd einzuflüstern. (TJ 18) Wo der Text des Romans wörtlich übernommen wird, ist Schriftlichkeit im Dialog selbstverständlich hörbar. Während viele andere Dramatisierungen solche Passagen gern an einem Stil konzeptioneller Mündlichkeit annähern, setzt Jonigks Bühnenversion der Elixiere auf konzeptionelle Schriftlichkeit und führt die mal kunstvolle, mal künstliche Sprache weiter. Dies bezieht sich nicht nur auf die Worte Franz ’ , wenngleich sprachliche Gestaltungsmittel dieser Art in der Rede Franz ’ und Belcampos besonders häufig auftreten, sondern ist auch an anderen Figuren zu beobachten. 174 Die Ausführungen zur Sprache geben bereits einige Beispiele für intertextuelle Verweise im Drama. Die Zitate sind, wie das Beispiel von Löns ’ Edelwild zeigt, nicht immer wörtlich, sondern werden dem Kontext angepasst. Dabei scheinen sie teilweise recht assoziativ gewählt, unterstützen einen bestimmten Duktus, wie das ‚ Bildungszitat ‘ aus dem Schiller-Drama zeigt, oder die Haltung einer Figur, wenn zum Beispiel Franz nach dem Genuss der Elixiere zum gemeinsamen Essen gerufen wird und in Struwwelpeter-Manier 174 Als Beispiel seien hier zwei kurze Äußerungen zitiert. Einmal klagt die Mutter: „ Kummer, Jammer, im Busen Ach und Weh. “ (TJ 21) An anderer Stelle erklärt einer der drei auftretenden Irren: „ Narkotisiert halte ich das mir vorenthaltene Leben aus! Vor lauter Glück kann ich nicht heraus aus meiner ausschlaggebenden Haut! “ (TJ 88) Beide Zitate zeigen, wenngleich auf sehr unterschiedliche Weise, einen an der Schriftsprache orientierten Ausdruck. 195 <?page no="208"?> trotzig erklärt: „ Nein, meine Suppe eß ich nicht! “ (TJ 21) Das Zitat stützt hier lediglich die Stimmung der Figur, ruft die Assoziation des rebellierenden Kindes hervor. 175 Es wird - wie andere Zitate - aber nicht wieder aufgenommen, sondern steht recht isoliert da. Mit Blick auf die Rezipienten darf man vermuten, dass dem Spiel mit Zitaten ein hoher Unterhaltungs- und Wiedererkennungswert innewohnt. 176 Im Gespräch mit Belcampo tauchen ebenfalls mehrere Verweise auf literarische wie künstlerische Werke auf. Neben den Dramen, in deren Hauptrollen sich Belcampo imaginiert (TJ 89), zitiert er zum Beispiel Arthur Rimbaud mit dem berühmten Satz „ Ich ist ein anderer “ (TJ 89), 177 der die Doppelgängerthematik stützt, oder die Bildunterschrift zu Goyas Blatt 43 aus der Serie Caprichos: „ Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer “ (TJ 86). So wird über ein kurzes Zitat auch das Thema der Verbindung von Wahnsinn und Künstlertum angesprochen, denn im Ganzen lautet Goyas Kommentar zu seinem Druck: "Die Phantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt unmögliche Ungeheuer; vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder." 178 4.2.4 Der Mönch als Künstler: Identität, Individualität und Versuchung Dass die Figur des alten Malers in der Dramatisierung des Hoffmann ’ schen „ Künstlerroman[s] “ 179 ganz ausgelassen ist, bedeutet nicht, dass die Künstlerthematik unbeachtet bleibt. Im Gegenteil zieht sie sich als zentrales Motiv und als Grundproblem des Protagonisten durch das gesamte Stück. In der Begegnung mit Belcampo, der ebenfalls sein Selbstbild als Künstler verteidigt, kommt es dabei zum Streit: FRANZ: Lassen Sie mich los, Sie Stümper! BELCAMPO: Künstler, mein Herr, Künstler! FRANZ: (sich endlich losreißen könnend) Ich bin Künstler! Ich! (TJ 48) 175 Wo intertextuelle Verweise in die Figurenrede übernommen oder (unabhängig vom Roman) hinzugefügt werden, stellt sich die Frage nach dem Bewusstsein der Figur für das Zitat. Davon hängt die Charakterisierung der Figur ab. Im hier angeführten Beispiel ist kein Hinweis darauf gegeben, dass Franz sich des Zitats bewusst wäre. Damit läge ein Kommentar von extradiegetischer Seite vor, der ihn dem Struwwelpeter naherückt. 176 Zur Lust an der Wiedererkennung in der Intertextualität siehe ausführlicher Kapitel 2.1 sowie 6.2.2. 177 Arthur Rimbaud im Brief an Paul Demeny vom 15. 5. 1871. In: Ders.: Das poetische Werk. Briefe, Gedichte und Prosa. Übersetzt von M. Burkert. Essen: Blaue Eule 2000. 178 Kommentar zum Blatt 43 aus der Serie Caprichos von Francisco de Goya (1746 - 1828). 179 Von Matt, Die Augen der Automaten. S. 60. 196 <?page no="209"?> Die Motive des Künstlertums, der eigenen Identität und Individualität sowie der Sexualität sind auch bei Hoffmann stark verknüpft. Detlef Kremer stellt fest: „ Beide Motivationen, das Künstlertum wie das Sexuelle, bezeichnen entscheidende Gefährdungspunkte dessen, was in Hoffmanns Roman auf dem Spiel steht: Identität. “ 180 Diese Verknüpfung ist auch bei Jonigk gegeben. Er aber betont weniger Franz ’ Gefährdung durch das Künstlertum als vielmehr die Konstruktion einer Identität durch künstlerische Leistung. Denn Franz wird nicht schöpferisch tätig im Sinne eines handwerklichen Schaffensprozesses. Stattdessen schafft er sich schöpferisch selbst: „ Ich trage lüge verfüge über einen meinen neuen Namen Leonhard, wie hi hi kreativ ich mich selbst geschaffen habe. Ich bin künstlerisch unglaublich individualistisch “ (TJ 43). Er verteidigt seine „ kreative Biographie “ (TJ 37) und damit sein selbstbestimmtes Leben und idesalisiert den Künstler zum Prototypen des freien Individuums. Auf seinen Künstlerstatus gründet Franz seinen Anspruch auf Freiheit und Eigenständigkeit, sein Außenseitertum, schließlich sein Ich. So sagt er sich am Ende des Klosteraufenthalts von allen familiären und institutionellen Banden los, indem er sich zum Künstler erklärt. Dieser Status erlaubt ihm nicht nur Selbstbestimmung, sondern rechtfertigt auch sein Begehren nach Rosalia und Aurelie: Ich bin vogelfrei! Nicht angeleint gebändigt stubenrein: Ich schwinge mich auf zum Raubtier. Ich wehre und vermehre mich, begehre endlich ewig dich! [. . .] Ich werde das Kloster verlassen und in mir den Künstler finden, der ich bin: Poet des Lebens. Ich erschaffe, kreiere, komponiere dich im wild gebildeten Strom meiner Kreativität. Schon erklingen in mir Oden und Elegien fließbandmäßig. [. . .] Ich male dich mit meinen einzigartig originellsten Farben. Mein meisterhaftes Alterswerk ist fertig! Du bist meine Muse und ich berühmt begehrt verehrt. (TJ 24) Das Gegenbild zur Kunst muss damit die regelhaft fremdbestimmte, kunsthandwerkliche Arbeit sein, wie sie am Hofe des Fürsten entsteht: Jonigks Fürst unterhält eine Art künstlerische Produktionsstätte und droht dem aufmüpfigen Franz mit Zwangsarbeit in dieser ‚ Kunstfabrik ‘ : „ Hier wird bei streng geregeltem Tagesablauf nach Ideen des Fürsten produziert “ (TJ 58). Franz hingegen betont, er „ arbeite nicht auf Auftrag, gehorche nur der Inspiration, dem künstlerisch genialen Einfall, der wegweisenden Eingebung “ (TJ 37). Das Künstlertum wird zum Entwurf eines idealen Lebens jenseits jeder Unterwerfung und ein Gegenmodell zum bürgerlichen oder mönchischen Leben. Diese drei Lebensentwürfe werden Franz im Irrenhaus vorgeführt, als „ drei Irre “ in Franz ’ Zimmer stürmen und jeweils einen sehr kurzen Monolog über ihr Lebensmodell halten; strukturell ähneln sich die 180 Kremer, Die Elixiere des Teufels. S. 76. 197 <?page no="210"?> drei Bekenntnisse. Das bürgerliche Modell - so der erste Monolog - enthält die Komponenten Familie, Beruf und Vorbildlichkeit für die eigenen Kinder. Leiden werden als lehrreiche Prüfungen dargestellt. Der zweite Irre vertritt den Lebensentwurf des (schicksals-)gläubigen Menschen. Zweifelsfreier Glaube werde am Ende belohnt. Als drittes Modell wird das Dasein des Künstlers gezeichnet: „ Ich glaube an die Idee, die Fiktion, die künstlerische Phantasie, die heilende Energie der Illusion, die umwälzende Kraft der Poesie. [. . .] Die einzigen Grenzen sind die, an die ich selbst glaube. “ (TJ 83) Der Selbstentwurf als Künstler ist hier also immer als Gegenentwurf zu anderen Lebensformen zu sehen. Doch wenn Schöpfertum zur Arbeit an der Biografie wird, werden Kunst und Leben untrennbar - ein Phänomen, das auch bei Hoffmann ein zentrales Motiv darstellt. Jonigk zeigt diese Überlagerung vor allem durch die Wendung zum Spiel im Spiel, in dem Franz ’ Geschichte als fiktive Geschichte erkennbar wird. Schon vorher aber werden wichtige Figuren über ihre Portraits einführt und schwanken so zwischen Person und Kunstwerk. Dies geschieht sowohl mit der heiligen Rosalie (vgl. TJ 7 f.) zu Beginn des Dramas im Kloster als auch mit den Personen am Fürstenhof, die Franz vom Leibarzt anhand der Gemäldegalerie vorgestellt werden. 181 Bei der erstmaligen Erwähnung einer Figur in der Rede wird ihr Porträt sichtbar (TJ 62), wohl auch in illustrativer Funktion, um dem Publikum die Zuordnung zu erleichtern. Gezeigt wird auch ein Bild des Messers, der Mordwaffe Francescos, die Franz als sein eigenes erkennt (vgl. TJ 63). Franz identifiziert sich, wenig subtil, sofort mit Portrait und Person des Francesko, bezeichnenderweise einem Maler, wenn er sagt: „ (beiseite) Francesko, Franz auf italienisch. Der Mensch bin ich. “ (TJ 62) Auch Aurelie wird über ihr Portrait (wieder) eingeführt und fällt durch die Art ihres Auftritts mit dem Kunstwerk zusammen: LEIBARZT: [. . .] Aber das wird Ihnen die Tochter des Hauses selbst erzählen können, (das Bild Aureliens wird sichtbar) sie wird nämlich jeden Augenblick erwartet. Ihr Name ist . . . AURELIE: (im direkten Anschluß hinter dem Bild hervortretend) Aurelie. FRANZ: Aurelie. (Franz bricht in ein fremdartiges Gelächter aus. Dann schreit er. Black.) (TJ 64) Die Grenze zwischen Kunstwerk und Figur wird fließend. Wenn Franz als ‚ Poet des Lebens ‘ an seiner Biografie arbeitet und das Künstlertum wesentlich 181 Damit die Figuren der nur erzählten Geschichte bei der einmaligen Rezeption für das Theaterpublikum besser zu unterscheiden sind, gibt der Leibarzt ihnen bei Jonigk Namen (vgl. TJ 62). Auch hier findet die Enthüllung der Vorgeschichte (wie im Pergament des Malers) in stark gekürzter Form statt. 198 <?page no="211"?> mit Ideen von Eigenständigkeit und der Freiheit des Individuums verbunden ist, dann wird das Künstlermotiv zum Stellvertreter für das der Identität. Hierin trifft es sich mit dem Motiv des Doppelgängers. Franz ’ Selbstherstellung als Krczynski wird zum künstlerischen Akt, doch das Kunstwerk gewinnt zuletzt ein Eigenleben, indem es getrennt von Franz ein Leben mit Aurelie führt (TJ 91). Für Franz ’ Identität wird es, obwohl zunächst als Lösung des Zwiespalts gedacht, zum Konkurrenten und Problem. Ebenso ist Franz ’ Identität als Medardus problematisch. Stellt Franz sein Ich gerade über die Liebesbeziehung zu Aurelie her, sodass er in ihrer Gegenwart sagen kann „ Ich bin “ (TJ 75), so sieht diese ihn als Ersatz für Medardus, den sie eigentlich liebt: AURELIE: Medardus. FRANZ: Hast du ihn ebenso geliebt wie mich? AURELIE: Ich habe ihn geliebt. Seine Züge, seine Zunge, Wortwahl, Haar, die Haut, die Augen, Hände, sein gesamter Anblick erinnert mich an dich. FRANZ: Ich bin ihm nicht mehr ähnlich. AURELIE: (ernstlich besorgt) Du bist krank. Ich werde dich pflegen. Bald bist du wieder, der du einst gewesen. (TJ 75) Franz alias Krczynski stellt für Aurelie den gesellschaftlich akzeptierten und ‚ handzahmen ‘ Ersatz für den Mönch dar: „ In dir wird die verbotene Liebe alltäglich möglich, die ungestillte Sehnsucht zur belesenen Allgemeinbildung, der Mörder zum Zuhörer, die Bestie zum Schoßhund und der Liebhaber zum Vater unserer Kinder. [. . .] Heiraten wir. “ (TJ 76 f.) Das Thema der vorgegebenen Identität, der Maske oder Verstellung ist grundlegend verknüpft mit denen der Identitätsherstellung beziehungsweise des Identitätsverlustes sowie der Doppelgängerthematik. Der Schwerpunkt kulminiert im Gespräch Franz ’ mit seinem Doppelgänger in Teil VI. Der Nebentext schlägt eine „ Umsetzung z. B. mit filmischer Projektion oder Spiegeln “ und eine „ [traumhafte] Atmosphäre “ (TJ 71) vor. Die Anlage des Textes erinnert an die bekannte Szene ‚ Wald und Höhle ‘ in Goethes Faust I. Denn auch dort ist das Gegenüber zunächst nicht gern geduldet, in beiden Texten wird die Entscheidung für oder gegen eine Frau zum Prüfstein der Gesinnung, für Entsagung oder Begierde. Das Teuflische ist auch in Franz ’ Doppelgänger angelegt, und auch er veralbert und manipuliert seinen Gesprächspartner. Gerhard Schulz sieht gerade die Verlegung des Teufels in das Innere der Protagonisten als entscheidende Veränderung der Teufelsdarstellung bei Hoffmann. Der im Sinne eines Prinzips verinnerlichte 182 Teufel werde „ zur 182 Besonders deutlich wird dies, weil in den Elixieren die Verinnerlichung des Teufels über den Genuss des Trankes auch körperlich durchgeführt wird. 199 <?page no="212"?> Versuchung und Gefährdung “ , und das Teuflische sei „ in den Menschen als potentiellen ‚ Satanskindern ‘ bereits angelegt “ . 183 Der Doppelgänger deutet Franz ’ Morde als Zeichen seiner Außergewöhnlichkeit, nicht aber seiner Schuld, denn „ nur der Außergewöhnliche verirrt sich “ und: „ Lieber verrückt als Durchschnitt “ (TJ 73). Als Folge des Gesprächs über Schuld und Sinn seiner Handlungen stellt Franz schließlich ganz explizit die Frage nach seiner Identität. So bietet die Hauptperson des Stücks ihre eigene Interpretation der Ereignisse dem Publikum an: FRANZ: [. . .] Nur über mich weiß ich nichts. Ich habe weder Lebenslauf, Namen oder Identität. Bin ich Franz, Bruder Medardus oder Leonhard von Krczynski? DOPPELGÄNGER: Leonhard von Krczynski. FRANZ: Nein. Der bin ich nicht. DOPPELGÄNGER: Richtig. Ich bin Leonhard von Krczynski. FRANZ: Nein. Der bist du nicht! DOPPELGÄNGER: Wer also bin ich? FRANZ: Was weiß ich? Ein gläubiger Teufel. Eine Abspaltung meines entfremdet unbekannten Selbst. Mein exakt verzerrtes Spiegelbild. Teil einer entzweiten Einheit. Meine Ergänzung. Ich selbst unbegrenzt enthemmt. Ich unzensiert. Ich. Nicht ich. (TJ 74) Über den Dialog mit dem Doppelgänger, der - nimmt man Franz ’ Sicht der Dinge an - auch ein Selbstgespräch sein muss, 184 bietet sich dem Zuschauer ein Blick ins Innere der Figur, in ihre Gedanken und Gefühle. Wo die Frage nach Identität und Selbstbild, nach der Freiheit oder „ Unfreiheit des Willens “ , den „ [Trieben] des Menschen “ sowie -„ wichtiger noch - die Phänomene der gestörten Ich-Struktur “ den Text thematisch bestimmen, 185 ist dies ein Weg, 183 Gerhard Schulz: Satanskinder. E. T. A. Hoffmanns schwarze Romantik. In: Romantisches Erzählen. Hrsg. v. Gerhard Neumann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. S. 153 - 166. Hier S. 157. Den Begriff ‚ Satanskind ‘ verwendet Schulz in Anlehnung an Hoffmans Goldenen Topf, in dem der Protagonist Anselmus als solches betitelt, eher noch: verflucht wird. 184 Die Umsetzung durch denselben Schauspieler betont den Aspekt des Selbstgesprächs. 185 Kommentar (H 578). Auch wenn die Figur des Doppelgängers im Roman ernstgenommen und in ihrem Handeln gezeigt wird, also innerdiegetisch als real angenommen wird, gibt es doch mehrere Passagen, die im Sinne einer psychologischen Deutung den Doppelgänger in Franz ’ Phantasie annehmen. So hört zwar Franz im Wendepunkt- Kapitel das Klopfen, Rufen und Lachen des Mönches, der schließlich die Tür aufbricht, der Leibarzt hingegen „ schien so wenig das Klopfen als meinen innern Kampf zu bemerken “ (H 222). Kurze Zeit später fühlt sich der Protagonist von seinem Doppelgänger verfolgt, erkennt aber selbst, „ daß das Fantom des Doppeltgängers nur in meiner Fantasie spuke; aber nicht los konnte ich das entsetzliche Bild werden, ja es war mir 200 <?page no="213"?> den Konflikt des Individuums nach außen zu kehren, ihn sicht- und hörbar zu machen. 4.2.5 Dramatische Innenansichten: Gedanken und Gefühle Hoffmanns Elixiere des Teufels werden von einem Erzähler, eigentlich einem Schreiber, dargeboten, der rückblickend aus zeitlicher Distanz sein eigenes Leben erzählt (vgl. H 20). Schreibanlass und Spannungsaufbau gründen auf der großen moralischen Distanz, die der Erzähler zum Geschehenen aufgebaut hat, sowie auf „ tötender heilloser Qual “ (H 20), die ihm sein Leben rückblickend bereitet. 186 Franz als Biograph seiner eigenen Geschichte hat dabei den Vorteil, seine Gefühle und Gedanken zu jeder Zeit zu kennen und damit auch beschreiben zu können. Das Drama muss hier andere Wege wählen und setzt dort an, wo laut Ich-Erzähler des Romans dessen eigene Erinnerung beginnt (vgl. H 17), nämlich beim ersten Besuch des Klosters. Teile der Handlung im Kloster und Franz ’ erstes Aufbegehren werden über dessen Briefe an die Mutter und die Äbtissin wiedergegeben. Im Wechsel zwischen Sprechtext im Kloster und Verlesung der Briefe wird so das Geschehen von zwei Seiten dargestellt. Eine starke Diskrepanz zwischen dem Geschehen in der Klosterszenerie der Bühne, wo es autoritär und rau zugeht, und dem Inhalt der Briefe, die eine klösterliche Idylle beschreiben (vgl. TJ 10 f.), bestimmt den ersten Teil des Stücks. Die idyllische Beschreibung des Klosterlebens entnimmt Jonigk dem Roman (vgl. u. a. H 24 f.), der diese nicht ironisiert. Der rückblickende Bericht des Erzählers stellt diese Zeit und insbesondere den Prior äußerst positiv dar. Die Dramatisierung beginnt im Gegensatz dazu bereits früh mit einer kritischen Darstellung von Franz ’ Umfeld. Über die stark beschönigenden und so die Realität entstellenden Briefe erhält außerdem das Motiv der Verstellung schon früher Einzug in die Geschichte. Diese Art des Kommentars prägt gleich mehrere Szenen, so auch die Begegnung mit der Tochter des Konzertmeisters und Franz ’ spätere Predigt (vgl. TJ 17 f.). Als besonders deutliches Beispiel seien hier die ersten endlich, als müsse ich mit ihm sprechen [. . .] “ (H 227). Bei Jonigk wird dieses Bedürfnis in die Tat umgesetzt. 186 Wolfgang Nehring erklärt zwar zu Recht, Hoffmanns Erzähler berichte über sein Leben „ aus der Perspektive des erlebenden Ichs, das noch mitten im Lebenschaos steht “ . Dies geschieht jedoch nur, wo sich Franz in seiner Geschichte verliert; das Wiedererleben wird also Teil der Erinnerungsarbeit. Grundsätzlich berichtet der Protagonist hingegen aus der historischen und moralischen Distanz und kommentiert sein Verhalten, sodass sich gerade aus der ambivalenten Haltung zum Geschehen für den Leser die interessante Möglichkeit der Empathie bei immer wieder hergestellter kritischer Haltung ergibt. Nehring, E. T. A. Hoffmann. Die Elixiere des Teufels. S. 335. 201 <?page no="214"?> Erfahrungen mit den Klosterschülern in Szene I.III angeführt. Nach Prügel und strengem Abfragen durch den Prior wechselt die Szene zur Mutter, die aus Franz ’ Brief vorträgt: LEONARDUS: Unregelmäßige Verben, Knaben, mit G! G wie . . . (Mutter und Äbtissin gehen lesend von links nach rechts über die Bühne.) MUTTER: (das erste Wort synchron mit dem Prior, der dann abgeht). . . Gott sei Dank erweisen sich die Jahre meines Hierseins nur zu meinem Vorteil, so schreibt er, Frau Äbtissin, schreibt er. Leonardus hat mich liebgewonnen [. . .] Ich habe den guten Einfluß meiner Umgebung vollkommen in mich aufgenommen. (die Frauen tauschen selige Blicke, Franz und die Klosterschüler beginnen zu onanieren) (TJ 10 f.) Die Fokalisierung kann so auch auf der Bühne wechseln, und das Theater hat dabei im Unterschied zum epischen Text die Möglichkeit, parallele Handlungen auch gleichzeitig zu zeigen. Daneben verwendet Jonigks Fassung der Elixiere die bekannten Möglichkeiten des Dramas, Gedanken und Gefühle des Protagonisten zu zeigen, allen voran den Monolog 187 , der innere Zweifel oder Entscheidungsmomente in Rede transponiert. In Szene IV.II im Försterhaus berichtet Franz von seinem Albtraum. Es steht dabei zitternd vor seinem Bett und erzählt seine Begegnung mit dem Mönch direkt „ ins Publikum “ (TJ 52). Der Monolog als recht traditionelle Form, Gedankengänge einer einzelnen Person für das Publikum hörbar zu machen, ist hier die naheliegende Lösung, weil es sich um eine stark stimmungsbetonte Szene handelt. Das Motiv des Hahnenschreis, den erst der Doppelgänger, dann Franz ausstößt, wird von diesem Moment an immer wieder im Drama verwendet. Der Schrei und die Aufforderung des Doppelgängers zum Kampf werden im Folgenden als Kennzeichen der Anwesenheit des Anderen in Franz mehrfach wiederholt. Die einmalige ausführliche Erklärung des Traums etabliert so ein Zeichen für Franz ’ Gefühlslage, das in der späteren Bühnenaufführung gut darstellbar sein wird, weil es ein lautliches ist. So fordert Franz seinen Doppelgänger in Teil VI mit dem Hahnenschrei zum Kampf (vgl. TJ 71), Belcampo findet ihn „ Kikeriki “ schreiend im Wald (TJ 86). 188 187 Vgl. ausführlich Kapitel 4.1.4. 188 Ein weiteres Zeichen dieser Art bildet das „ fremdartige Lachen “ (TJ 82 bei der Hochzeit mit Aurelie), welches Franz immer wieder entfährt und das den Doppelgänger als Teil seiner selbst ausweist (vgl. auch nach dem Trinken des Elixiers, TJ 21, sowie beim Mord an Hermogen, TJ 38). Das Lachen ist ein Motiv, mit dem auch der Roman arbeitet - die Dramatisierung setzt dieses sprachliche Zeichen des Hervorbrechens von Franz ’ ‚ zweiter Natur ‘ wiederholt ein. 202 <?page no="215"?> Über dieses Zeichen wird auch Belcampo als Franz ’ Abbild installiert. Als er Franz im Irrenhaus besucht und von seinem ‚ Mord ‘ erzählt, kommt der Hahnenschrei mehrfach auch in Belcampos Sprache vor (vgl. TJ 84 und 85). Die komische Figur etabliert sich so als Abziehbild von Franz ’ Psyche. Insbesondere in Szene VII.II, in der die beiden Ichs des Friseurs - Pietro Belcampo und Peter Schönfeld - miteinander in Streit geraten, wird Franz ’ innerer Konflikt dargestellt und dabei bis ins Körperliche transponiert: Der Nebentext gibt für Belcampo an, er trete „ gleichsam gezogen “ , „ stehenbleibend “ , „ kämpfend “ , „ widerstrebend “ auf (TJ 77 f.). Dabei beschimpft er sein anderes Ich, ein Streit, der bis zur handgreiflichen Auseinandersetzung mit sich selbst führt. 189 Der Konflikt wird nicht nur durch das Zusammenfallen der Gegner in einer Person ins Komische gewendet, sondern auch durch den Friseurjargon des Streitgesprächs: „ Wage nicht, mir auch nur ein strapaziertes Haar zu krümmen, sonst wirst du von mir voller Spannkraft beim topfrisierten Schopf gepackt! “ (TJ 77) Die Szene findet im Roman keine Entsprechung; sie ist in die Handlung des Hoffmann ’ schen ‚ Wendepunkt ‘ -Kapitels eingefügt. Das Kapitel, das ganz wesentlich Gedankenprozesse Franz ’ - so über den Glauben und seine Bestimmung, seine Zukunft und insbesondere die mögliche Verbindung mit Aurelien - thematisiert, bedarf großer Umstrukturierungen bei der Dramatisierung, durch die innere Prozesse nach außen, also in Körper oder Sprechtext, verwandelt werden. So wird Franz ’ Flucht vor dem Doppelgänger (vgl. H 252 f.) die innere Zerrissenheit Belcampos entgegengesetzt, der „ vor sich selbst fortlaufend “ (TJ 79) versucht, dem inneren Gegenspieler eine Absage zu erteilen. Durch die oben geschilderte Diskussion zwischen Franz und seinem Doppelgänger entsteht ein Sprachraum, in dem Franz ’ Zweifel am Glauben und an seiner Individualität im Dialog verhandelt werden können. Ebenso stellt das Gespräch zwischen Franz und Aurelie, in dem Aurelie ihre Liebe zu Medardus thematisiert, Franz hingegen seine neue Identität verteidigt, Gedankenarbeit im Dialog dar. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ich und dem Glauben wird im Roman immer wieder die eigene Sexualität, insbesondere das im Kloster- 189 An dieser Stelle sei noch einmal an die Groteskendefinition nach Bachtin erinnert: Dass Jonigk die Zweiheit der Belcampo-Figur in diesem skurrilen Kampf mit sich selbst bis in ihre Leiblichkeit hineinträgt, betont ebenso das Groteske ihrer Darstellung wie die stark sexualisierte, obszöne Rede. In Belcampo scheint das Groteske auf, welches den „ neuen [Kanon] “ der Ernsthaftigkeit und des einzigen Leibes durchbricht, den Schönfeld noch zu verteidigen scheint; „ diesen einen individuellen abgeschlossenen Leib “ (Bachtin, Karneval. S. 22), der klar bestimmbar ist, kann die Figur damit nicht mehr vorweisen. Durch die Parallelsetzung mit Franz wird auch dessen Existenz in die Nähe des Grotesken gerückt. 203 <?page no="216"?> alltag als sündhaft unterdrückte sexuelle Begehren, zum Problem. Die Wortwahl verdeutlicht schon beim ersten Aufkeimen dieser Empfindungen, dass es sich um gewaltige, wenn nicht gewaltsame Gefühle handelt, die sich bis zu körperlichen Qualen steigern: „ nie gekannte Gefühle regten sich stürmisch in mir, und trieben das glühende Blut durch die Adern, daß hörbar meine Pulse schlugen. Meine Brust war krampfhaft zusammengepreßt, und wollte zerspringen “ (H 28). In Szene I.VI der Dramatisierung werden nach Rosalies Liebesbekenntnis gegenüber Franz dessen Gefühle symbolisch nach außen gekehrt, indem die im Roman verwendeten Feuermetaphern wörtlich genommen werden. 190 Wenn der Protagonist im Roman beschreibt, wie er von „ verzehrender Glut “ , von einer „ verderbliche[n] Flamme “ gequält wird (H 52), so schlägt hier der Blitz (ebenfalls eine häufige Metapher für die Beschreibung von Franz ’ Gefühlen) in die Kirche ein und entzündet ein Feuer. Die Szene endet mit einem Monolog Franz ’ , während hinter ihm die Löscharbeiten beginnen (vgl. TJ 24). Das Gewaltsame der Triebe und Gefühle wird in der Dramatisierung auch in eine starke Verknüpfung von Sexualität und Gewalt in Sprache und körperlicher Darstellung übersetzt. Dies geschieht bereits in der oben geschilderten Onanierszene der jungen Klosterschüler. Gewalt und Lust zeigen sich in enger Verbindung auch bei der Betrachtung der Heiligengemälde beim ersten Klosterbesuch. Während im Roman lediglich am Rande erwähnt wird, wieviel Freude der junge Franz an den Heiligenlegenden hat (vgl. H 19), weitet Jonigk dies zur einer Reihe von Schilderungen der Folter an jungen Frauen aus, die er den Prior verzückt erzählen lässt. Die Darstellungen sind in ihrer Grausamkeit überzogen und werden unter anderem durch Franz ’ Mutter, die beim Anblick der Gemälde kollabiert, sowie Bemerkungen des Priors auch ins Komische gerückt. 191 Franz aber ist „ beflügelt “ und imaginiert sich bereits als Heiligen (TJ 9). An anderer Stelle weisen Jagdmotive und Tiermetaphern die Sexualität zwar als lustvoll, aber auch als grausam aus. Das Lied der Jäger zu Beginn des zweiten Teils wurde bereits erwähnt. Franz deutet außerdem beim 190 Die Feuermetapher bei Hoffmann gilt „ sowohl für die ‚ himmlische ‘ Liebe (z. B. S. 211, 348, 349) als auch für die ‚ irdische ‘ Liebe (z. B. S. 224) “ , also für ein religiöses wie auch ein körperliches Begehren. Monika Fick: E. T. A. Hoffmanns Theosophie. Eine Interpretation des Romans ‚ Die Elixiere des Teufels ‘ . In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 36 (1995). S. 105 - 125. Hier S. 121. Die Ähnlichkeit beider Gefühle zeigt sich bei Jonigk auch in den sexualisierten Zitaten aus der Psalmendichtung (vgl. 4.2.3). 191 Wie in anderen Szenen fällt auch hier die Ausstellung der Ignoranz der Figuren gegenüber dem Leiden anderer auf, wenn der Prior erklärt: „ Das Rot der Eingeweide hat aufgrund des stetigen Lichteinfalls leider an Intensität eingebüßt. “ (TJ 8) 204 <?page no="217"?> Geschlechtsverkehr mit Euphemie den Akt als das „ Erlegen “ eines Tieres und erklärt: „ Eine Beute bist du mir. “ (TJ 26) Aber nicht nur in Franz ’ Empfinden vermischen sich Sexualität und Gewalt. Auch ein Monolog Aurelies verknüpft die beiden Bereiche: Aurelie, die nach Jonigks Interpretation eigentlich den Mönch Medardus gerade wegen seiner Unberechenbarkeit liebt, stellt sich dessen Hinrichtung bildlich vor. Die Phantasien um den Körper des Gehängten kippen ins Erotische: Sein junger, starker Nacken bricht, ich bleibe, Leichenräuber bemächtigen sich seiner Kleidung, sein bloßer muskulöser Körper wird leichenstarr, alles an ihm steif und hart. (sie springt auf) Ich kann nicht schlafen! (energisch) Weshalb bin ich nicht glücklich? (TJ 78) Diese Szene und der darauf folgende Geschlechtsverkehr Aureliens mit dem Doppelgänger stehen in deutlichem Gegensatz zur Verklärung der Geliebten als Heilige, wie es im Roman der Fall ist. Auch dort weist Aurelie dies zwar von sich (vgl. H 226), aber Franz ’ positives Bild von ihr als „ fromme, hohe Heiligen “ (H 226), deren Liebe von „ kindlicher Unbefangenheit “ und ohne jede Schuld (vgl. H 225) ist und die ihm in „ jungfräulicher Scheu “ (H 226) begegnet, wird aus der Perspektive des Ich-Erzählers nicht angezweifelt. Die Dramatisierung relativiert hier durch den Blick in Aurelies Innenleben Franz ’ euphemistische Sicht auf die junge Frau. 192 Dennoch ist Franz die Figur, die dem Rezipienten am nächsten gebracht wird. Durch die vielen Monologe erhält der Zuschauer häufig Einblick in sein Innenleben. Die starke Präsenz der Figur das ganze Stück hindurch ist durch den Stoff angelegt, und tatsächlich gibt es kaum einen Moment, in dem nicht Franz oder sein Doppelgänger auf der Bühne anwesend sind. Teilweise übernimmt er fast eine Erzählerfunktion, wenn er zum Beispiel zu Beginn des Stückes in einer Prolepse (wenngleich einer zukunftsungewissen aus Figurensicht) sein Leben und damit den Verlauf des Stückes kommentiert: 192 Die Szene bezieht sich auf eine Bemerkung im Roman, in der der Biograph über sich selbst schreibt, durch Aurelies ‚ unschuldige ‘ Liebe fühle er sich selbst der sündigen Begehren entledigt, „ jeder freveliche Gedanke erstarb “ (H 226). Nur wenige Sätze später allerdings schreibt er über den Ausbruch seiner „ [rasenden] Begier “ (H 227) und auch Aurelie erwidert seine „ wütenden Küsse “ , „ eine fremde Glut brannte in ihrem Auge “ (H 227). Hier ist nur sehr subtil angedeutet, dass auch Aurelie eine Sexualität besitzt und lebt. Jonigk löst dies komödiantisch, indem er im Stil einer Verwechslungskomödie die an der Beziehung zu Franz zweifelnde Aurelie dessen Doppelgänger begegnen lässt; der sexuelle Akt erfolgt mit diesem Gegenbild. Bei der nächsten Begegnung mit Franz redet das Paar aneinander vorbei, denn die nun von der Hochzeit überzeugte Aurelie geht von einer sexuellen Begegnung mit Franz aus, von der dieser selbstverständlich nichts weiß (vgl. TJ 80). 205 <?page no="218"?> Der Abendwind erhebt sich, überall Leben und Bewegung, Glaube, Frieden, Hoffnung, Kraft, die ich brauche, um das Schauerliche, Entsetzliche, Verrückte, Possenhafte eines Lebens zu ertragen, das meines werden wird und von dem mir scheint, daß ich zu schwer an ihm zu tragen habe. (TJ 6 f.) Die rückblickende Erzählung eines homodiegetischen Erzählers, der autobiographisch seine Sicht erzählt, wird so durch die unterschiedliche Anlage der Figuren ersetzt. Gerade dort, wo das Personal maskenhaft dargestellt wird, sticht Franz als einzige Figur mit Individualität und psychologischer Tiefe hervor. Hoffmanns Erzähler legt dem Rezipienten die Einfühlung in einen scheinbar Wahnsinnigen nahe, der Leser erhält den Blick dessen, der zweifelt und mit seiner Wahrnehmung kämpft. Jonigk erzielt einen ähnlichen Effekt dadurch, dass gerade die scheinbar ‚ normalen ‘ Menschen durch ihre Karikatur den Anstrich des Wahnsinnigen erhalten. Franz als Protagonist hingegen wird von Jonigk deutlich weniger als Typus dargestellt. Er zweifelt, er durchläuft unterschiedliche Gefühlsstadien, er tritt nicht in der Gruppe, sondern als Individuum auf. Dennoch wird gerade seine Figur am Ende auf der Metaebene ‚ entlarvt ‘ , indem er als Rolle gespielt, also als fiktive Figur wahrgenommen wird. Die zeitliche und moralische Distanz, die der Erzähler im Roman an den Tag legt, wird nicht innerdiegetisch hergestellt, sondern erst in der Wiederholung und Offenlegung des Kunstcharakters der histoire. 4.2.6 Das Spiel im Spiel im Spiel: Wiederholungsstrukturen und metareflexive Elemente In den Elixieren des Teufels richtet Hoffmanns fiktiver Herausgeber das Wort direkt an seinen gedachten Leser und thematisiert die Rezeptionssituation. In eigenartiger Verbindung wird dabei einerseits die Authentizität der Geschichte betont, indem der Herausgeber beschreibt, wie er zu den Papieren, dem Nachlass des Mönchs Medardus, gekommen ist (vgl. H 12). Andererseits wird durch die Betonung der Lesesituation und durch die scheinbar wandelnden Heiligenbilder (als belebte Kunstwerke, vgl. H 11) eine Metaebene angesprochen, die gerade den Kunstcharakter des Werkes betont und somit eine poetologische Dimension eröffnet. Die konjunktivische Entführung des Lesers in die Lesesituation schafft trotz der direkten Anrede, die eine vertraute Situation herzustellen scheint, wiederum Distanz, betont sie doch die Unmöglichkeit des Wunsches: Gern möchte ich dich, günstiger Leser! unter jene dunkle Platanen führen, wo ich die seltsame Geschichte des Bruders Medardus zum erstenmale las. Du würdest dich mit mir auf dieselbe, in duftige Stauden und bunt glühende Blumen halb versteckte, steinerne Bank setzen; du würdest, so wie ich, recht sehnsüchtig nach 206 <?page no="219"?> den blauen Bergen schauen, die sich in wunderlichen Gebilden hinter dem sonnigten Tal auftürmen, das am Ende des Laubganges sich vor uns ausbreitet. [. . .] Ernste Männer, in weit gefalteten Gewändern, wandeln, den frommen Blick emporgerichtet, schweigend, durch die Laubgänge des Gartens. Sind denn die Heiligenbilder lebendig worden und herabgestiegen von den hohen Simsen? (H 11) Der fiktive Herausgeber macht sich zum Komplizen des Lesers, indem er seine eigene Leseerfahrung zum Thema macht, und wirbt für seinen Text und für eine Einfühlung in die phantastische Geschichte: „ In dieser Stimmung liesest du die Geschichte des Medardus, und wohl magst du auch dann die sonderbaren Visionen des Mönchs für mehr halten, als für das regellose Spiel der erhitzten Einbildungskraft. “ (H 11) Der Herausgeber nimmt an späterer Stelle seine Ausführungen wieder auf, kommentiert den Zustand der Schrift und setzt die fehlenden Dokumente ein, aus denen sich das Leben des Protagonisten erschließt. Von vornherein aber ist der Text als Schrift gekennzeichnet, wird das Lesen als Rezeptionsform benannt und gelobt. Die Dramatisierung lässt sich mit der Einführung dieser Art von Metaebene weit länger Zeit. Implizit wird zwar durch die Metaphern der Rolle und des Schauspielens als Form sozialen Handelns das Zielmedium bereits zuvor verhandelt, eine explizite Bezugnahme darauf erfolgt jedoch erst auf den letzten Seiten des Textbuches. In der Dramatisierung der Elixiere des Teufels wird auf verschiedenen Ebenen Theater gespielt. Im Nebentext findet sich die Thematisierung des Schauspielens oder Täuschens im Leben zum Beispiel, wenn Franz den Förstern begegnet und grüßt: „ (den Vorbeigehenden den Mönch spielend) Gelobt sei Jesus Christus! “ (TJ 25) Auch andere Figuren leben in Maskerade, wenn es die Situation notwendig macht. Belcampo ist die einzige Figur, die auf Handlungsebene tatsächlich eine Schauspielkarriere anstrebt. Er steht im Zusammenhang des Stücks durchaus in der Tradition der komischen Person, die in ihrer Narrenhaftigkeit dem dramatischen Helden einen Spiegel bildet. 193 Die Krankenschwester im Irrenhaus empfiehlt ihm also zu Recht, sein Glück „ auf dem komischen Theater “ (TJ 89) zu versuchen. In der Aufführungssituation führt ihr Hinweis auf die Metaebene. Denn Belcampo ist längst, was sie ihm als Beruf empfiehlt: eine Komödienfigur. 193 Michail Bachtin erklärt die Herkunft der Narrenfiguren des Romans aus dem Theater. Mit der Narrenfigur leite der Erzähler das Geschehen durch den Chronotopos der Theaterbühne, stelle es in seiner komödiantischen Form dar, könne, indem er das Maskenhafte des Narren oder Schelms einsetze, Menschen auch demaskieren und entlarven. Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Berlin/ Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. S. 91 f. 207 <?page no="220"?> Wenn er also als Spiegel Franz ’ betrachtet werden kann, ist hier bereits auf das Ende vorgegriffen, welches die Geschichte als Spiel im Spiel wiederholt. 194 Beinahe eine Dramatisierung innerhalb der Dramatisierung bietet die Szene, in der Franz ’ in der Handelsstadt als Mörder entlarvt wird. Die ‚ Anklage ‘ wird nicht wie im Roman durch den Maler, sondern durch den Dorfrichter vorgenommen, der Franz ’ Beutel konfisziert und darin den Kopf Hermogens und die Tatwaffe entdeckt (vgl. TJ 46). Franz ist davon überrascht, das abgeschlagene Haupt in seinem Gepäck zu finden. Eben diese Szene hat der Dorfrichter kurz zuvor im Zusammenhang mit einem in der Gegend aufgetauchten Mönch erzählt. In der aktuellen dramatischen Darstellung passiert also dasselbe wie in der intradiegetischen Erzählung des Richters kurz zuvor. Damit wird erstens die Wiederholung als grundlegende Struktur wird hervorgehoben: Der Doppelgänger ist Franz immer bereits zuvorgekommen. Zweitens fügt die Dramatisierung ein phantastisches Element zur Handlung hinzu, durch welches das Unheimliche in Franz ’ Leben tritt. Drittens findet sich in der Struktur, im Wechsel von Erzählen zu Spiel, fast ein impliziter Verweis auf die Entstehung des Stücks. Viel auffälliger ist aber die Metareferenz in der letzten Szene des Stücks, die der Herausgeberfiktion des Romans die Ebene eines Spiels im Spiel entgegensetzt: Ein Schauspielstudent probt seine Rolle; er übt den letzten Abschnitt aus Franz ’ Text, der eben verklungen ist. Dieser Verweis auf die Produktion des (theatralen) Textes und seine mediale Form betont rückblickend die Fiktionalität der histoire. Entgegen der Herausgeberfiktion ist es tatsächlich eine reine Betonung des Kunstcharakters (nicht der Authentizität des Werkes), da das Theater gewöhnlich fiktionale Stoffe verhandelt oder sie zumindest immer in einen - im wahrsten Wortsinne - inszenatorischen Rahmen setzt: „ Es bittet Euch um Beifall für ein Schicksal,/ Das im Tode endlich enden muß/ Franz alias Medardus. “ (TJ 93) Die direkte Ansprache des Publikums mit der Bitte um Applaus bringt die Aufführungssituation ins Bewusstsein des Rezipienten. Sie kennzeichnet die histoire als Fiktion und macht das Medium zum Thema. Laut Nebentext wird der Schauspielstudent, der nur in dieser letzten Szene auftritt, vom selben Darsteller verkörpert wie die Figur des Pietro Belcampo oder Peter Schönfeld. Wenn der Schauspielstudent, der Franz ’ 194 Bezeichnend ist, dass Belcampo in seinem Wunsch, Schauspieler zu werden, ebenso zur Hybris neigt wie Franz, der sich als Heiliger imaginiert: „ Nie mehr frisieren, stattdessen werde ich einen so berührenden Hamlet geben, daß sich der Welt die Nackenhaare aufstellen! Zur Bühne! Ich werde auf Erden ein lebend legendärer Theatergott! Fort! Romeo, Britannicus, Aegisth erwarten mich! [. . .] Toi-Toi-Toi und Gute Nacht! “ (TJ 89) 208 <?page no="221"?> Rolle übernimmt, der Darsteller des Belcampo ist, fallen somit die drei Figuren in eine - wenngleich auf unterschiedlichen diegetischen Ebenen. Die Frage nach Fiktion und Wirklichkeit wird dadurch in den Vordergrund gerückt. Schon zuvor ist durch Franz ’ Sprechen in Versen jede realistische Spielweise gebrochen. Mit Franz Tod endet so, wie das oben angeführte Zitat expliziert, die histoire, aber nicht der discours. Der Schauspielstudent übernimmt und wiederholt ausgerechnet die Sätze über die Wiederholung: „ Ist Leben nichts als nur die Wiederkehr des unerträglich ewig/ Immergleichen? “ (TJ 93) Das Medium Theater wird also nicht nur in der Figur des Schauspielers metareferentiell thematisiert, sondern auch in seiner Spezifik der Wiederholung, die mit der Lebensgeschichte des Protagonisten korreliert. Die Dramatisierung verstärkt das Wiederholungsmotiv auf dreierlei Weise: Die Wiederholungsstrukturen in der Sprache als ‚ Wiederkehr der unerträglich ewig immergleichen ‘ Redewendungen, wurden oben bereits aufgezeigt. Auf inhaltlicher Ebene stellt Jonigk seinem Protagonisten Franz zweitens nicht nur Friseur Belcampo, sondern auch den Försterfranz gegenüber, der im Gegensatz zu Franz das Leben seines Vaters wiederholen möchte. Als Franz ihm als Gegenentwurf ein freiheitliches Leben jenseits des väterlichen Vorbilds vorschlägt, um der Wiederholung eigene Entscheidungen entgegenzusetzen, versteht der Junge ihn nicht: FRANZ: [. . .] Dein Name ist Franz? FÖRSTERFRANZ: Ja. FRANZ: Ich habe einmal jemand mit dem Namen Franz gekannt. Was willst du später werden? FÖRSTERFRANZ: Förster. FRANZ: Wie dein Vater. FÖRSTERFRANZ: Ja. FRANZ: (ernst) Bist du glücklich? FÖRSTERFRANZ: Das habe ich mich nie gefragt. FRANZ: (sich verselbständigend) Hast du nie Angst, Franz, daß das, was du tust, nicht richtig ist für dich, es dir nicht entspricht, du nie zu dir selbst vorgedrungen bist? Verachtest du dich nie für das, was du bist, machst sagst nicht wagst? [. . .] Ist dir nicht die Freiheit verleidet, für dich selbst entscheiden können müssen zu dürfen, weil jede Wahlmöglichkeit, die du hast, dir verhaßt ist? FÖRSTERFRANZ: Nein. (nach einer Pause) Ich weiß nicht, was Sie meinen. (TJ 49) Die wichtigste Veränderung im Hinblick auf die Wiederholungsstrukturen findet sich drittens im Hinweis auf die Wiederholung der eigenen Geschichte durch einen Sohn: In der Dramatisierung offenbart seine tote Mutter Franz in einer Traumvision, dass Aurelie schwanger sei. Es bleibt unklar, ob das Kind 209 <?page no="222"?> aus der Ehe mit dem polnischen Adligen Krczynsky, Franz ’ Alias am Fürstenhof und sein urkundlicher Name zum Zeitpunkt der Hochzeit mit Aurelie, 195 hervorgegangen oder Folge des Geschlechtsverkehrs mit Franz ’ Doppelgänger ist. Beides käme einer zumindest symbolischen Vaterschaft von Franz gleich. Die Mutter ahnt, dass der Sohn bei seiner Geburt Franz genannt werden wird: „ Sie trägt bereits ein Kind in sich, und ich weiß, welchen Namen sie ihm geben wird. Die beiden lieben sich, und wenn sie nicht gestorben sind wie ich in Kindberg gerade eben, dann leben sie noch heute. “ (TJ 91) Das Kind als typisches Symbol des (im ganz positiven Sinne) Fortbestands, der Unschuld und Asexualität wird hier gegenteilig gewendet zur Fortsetzung einer Verstrickung in Schuld, in Selbstzweifel und in als ‚ sündhaft ‘ konnotiertes sexuelles Begehren, dessen sichtbares Zeichen es auch intradiegetisch ist. Dieser Schluss verstärkt die Wiederholungsthematik, indem die Geschichte des Romans in eine Art Kreislauf überführt wird, der - bedenkt man den Titel des Stücks - sicher als ‚ Teufelskreis ‘ bezeichnet werden darf. Entsprechend ist auch eine Loslösung des Protagonisten aus den Verstrickungen auf innerdiegetischer Ebene nicht möglich. Die Geschichte wird zum Mythos. Selbst bei der Analyse seines eigenen Lebens verfällt Franz ins Zitat und damit in die Wiederholung. Indem hier das Leben als Kreislauf geschildert wird, wird es unzeitlich und damit mythisch. Für die Figur allerdings wird die ‚ Wiederkehr des Immergleichen ‘ zur ‚ Wiederkehr des unerträglich ewig Immergleichen ‘ . 196 In dieser negativen Wendung offenbart sich der Schrecken einer Verwechslung von Kunst und Leben. Mit der Geschichte der Mutter beginnen sich die diegetischen Ebenen des Stücks und seiner Binnenerzählungen zu vermischen und ihren Status zu verändern: 197 Die Mutter erläutert die Verwandtschaftsbeziehungen im Rah- 195 Franz ’ Tarnname am Hof des Fürsten gewinnt somit ein Eigenleben, ein weiterer Doppelgänger - oder ist es der schon bekannte? - scheint Franz ’ Leben zu führen. 196 Die ‚ Wiederkehr des immer gleichen ‘ ist nach Hans Blumenbergs Definition ein zentrales Wirkmittel des Mythos. Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 [1979]. S. 80. Auch Nietzsches zyklisches Geschichtsbild und seine deterministische Weltsicht werden in dieser Wendung angedeutet. 197 Es gibt bei Genette kein angemessenes Begriffspaar, um metadiegetische Erzählungen (also Binnengeschichten) danach zu trennen, ob sie innerhalb der erzählten Welt als faktual oder fiktional angelegt sind und betrachtet werden. Die narrative Metalepse macht in der Regel aus einer zunächst als fiktiv angelegten Welt einer Binnenerzählung eine reale, indem sich eine Vermischung oder Auflösung der Grenze zur ersten diegetischen Ebene ergibt. In Jonigks Adaption der Elixiere liegt der umgekehrte Fall vor: Die auf Ebene des Erzählens zunächst als real gedachte Familiengeschichte wird immer stärker zur fiktionalen Erzählung. Da auch hier durch die Identität der auftretenden Personen auf beiden Ebenen eine Art Metalepse hergestellt wird, scheint nicht die zweite Erzählebene an Realität zu gewinnen, sondern die erste Ebene des Erzählens 210 <?page no="223"?> men einer „ Gute-Nacht-Geschichte “ (TJ 90). Eingeleitet werden die Erläuterungen mit der formelhaften Wendung: „ Und es begab sich zu einer Zeit “ (TJ 90). Diese Einleitung findet sich ähnlich auch bei Hoffmann (vgl. H 277 und 288), ist bei Jonigk sprachlich allerdings stärker an den Beginn der biblischen Weihnachtsgeschichte 198 angepasst. Hoffmanns fiktiver Herausgeber meldet sich hier zu Wort und weist auf die Schwierigkeiten der Übersetzung dieses Pergaments aus dem Altitalienischen ins Deutsche hin, insbesondere da der Ton des Originals „ beinahe Chronikenartig und sehr aphoristisch “ klinge (H 276). Die Setzung ins Literarische, im Gegensatz zum als faktual historisch begriffenen Dokument, findet trotz aller Betonung der Authentizität auch schon im Roman statt. Franz setzt seinem Leben selbst ein Ende, als er begreift, dass seine Geschichte Züge des Fiktiven trägt. Die märchenhafte Formel: „ und wenn sie nicht gestorben sind wie ich in Kindberg gerade eben, dann leben sie noch heute “ (TJ 91, vgl. oben), die seine Mutter benutzt, macht sein Leben zu einer Geschichte im Sinne einer fiktionalen Erzählung. 199 Dass die Berichte nicht mit seinem eigenen Schicksal, sondern dem Aurelies und Krczynskis enden, fällt dem Protagonisten des Stücks und der Biografie natürlich auf. „ Und wo ist mein Platz in der Geschichte? “ , fragt er die Mutter, nachdem diese ihre „ Gute- Nacht-Geschichte “ geendigt hat. Die Mutter antwortet wenig hilfreich: „ Das weiß ich nicht. “ (TJ 91) Während der Protagonist im Roman zum Chronisten seines Lebens wird und damit eine, wenngleich nachträgliche, Kontrollmöglichkeit und Distanz zur Geschichte erhält, ersticht sich Franz. Auch dabei handelt es sich um eine Wiederholung: Er wendet seine bisherigen Mordtaten gegen sich selbst; Tatwaffe ist dasselbe Messer, mit dem er unter anderem Hermogen und Euphemie getötet hat (vgl. TJ 92). Die zeitliche und moralische Distanzierung des Ich-Erzählers bei Hoffmann stellt sich in der Bühnenversion nicht ein. Abstand zum Gewesenen erfolgt im Unterschied zum Romanschluss nicht durch die Erkenntnis und das Bekenntnis eines sündigen Lebens, sondern durch die vage Ahnung, das eigene Leben als Fiktion deuten zu müssen. Nicholas Saul legt anhand von Novalis Hymnen an die Nacht dar, dass der (also das Gespräch zwischen Franz und seiner Mutter und alle Geschehnisse, die das Drama bis dahin gezeigt hat) rückt ins Fiktionale. Aus der Warte des späteren Lesers oder Zuschauers muss korrekter gesagt werden, die Geschichte wird in ihrer Fiktionalität erkennbar - allerdings auch für die handelnden Personen. 198 Vgl. NT Lukas 2, 1 - 21. 199 Der fiktionale Charakter der Geschichte wird auch dadurch betont, dass die Mutter um ihren eigenen Tod weiß und diesen kommentiert. 211 <?page no="224"?> Freitod in der Romantik nicht die Erlösung vom Leben darstellt. Erlösung bringe vielmehr „ der poetische Akt der erinnernden Repräsentation “ 200 , wie ihn Hoffmann seinem Protagonisten schließlich gönnt. Der Freitod sei lediglich provokantes Bild für die Abstraktionsebene der Verhandlung von Lebenssinn und Lebensprinzip. Die Erlösung erfordert somit im romantischen Denken weniger den Tod als vielmehr ein künstlerisches Denkmal, die Verwandlung des eigenen Lebens in ein ästhetisches Produkt. 201 Dieser ‚ romantische ‘ , künstlerische Akt ist in Jonigks Fassung der Elixiere nicht mehr gegeben. Franz kann sich nicht zum Protagonisten einer Chronik machen. Sein Leben findet bereits im Fiktionalen statt und entzieht sich gerade deshalb seinem eigenen Wirken; die Abstrahierung der eigenen Lebensgeschichte durch Ästhetisierung ist kein Ausweg, weil er schon (extradiegetisch) geschehen ist. Der Akt der Distanzfindung muss auf der Ebene der Fiktion als Suizid vollzogen werden. Bezeichnenderweise ersticht sich Franz mit einem Messer, das er einerseits schon in der Hand hielt, aber andererseits auch als ästhetisches Werk, als Gemälde betrachtet hat, das also ebenfalls die Grenze zwischen diegetischer ‚ Realität ‘ und Metaebene der Kunst durchbricht. Angesichts der Fiktionalität des eigenen Seins besitzt Franz als körperlich und - aus Figurenperspektive - ‚ wirklich ‘ anwesende Person keine Daseinsberechtigung mehr. Er tötet sich, die Geschichte aber wird als Kunstform weitergeführt; seine Ahnung bestätigt sich. Mit dem Wechsel auf die Metaebene aber wird die Wiederholung auf zwei weitere Arten thematisiert: zum einen als theatrales Prinzip des Einübens einer Rolle, des Wiederholens von Text, wie es der Schauspielstudent explizit vorführt; zum anderen wird über 200 Nicholas Saul: Fragmentästhetik, Freitod und Individualität in der deutschen Romantik. Zu den Morbiditätsvorwürfen. In: Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Perspektiven der Forschung. Festschrift für Roger Paulin. Hrsg. v. Konrad Feilchenfeld, Ursula Hudson u. a. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006. S. 232 - 251. Hier S. 234. Zur Selbsttötung als Akt der Ästhetisierung von Subjektivität vgl. auch Andreas Bähr: Der Richter im Ich. Die Semantik der Selbsttötung in der Aufklärung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. Hier v. a. das Kapitel zum Tod Heinrich von Kleists, S. 331 - 355. 201 Im Roman, so erklärt Peter von Matt, „ wird der vom Motiv der gemalten Geliebten geprägte Rahmenprozeß “ deshalb als künstlerischer Ausweg wichtig, weil er „ dem Erzählgang eben doch Ausgang und Ziel und eine ‚ echte Lösung ‘ gibt. “ Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E. T. A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst. Tübingen: Niemeyer 1971. S. 59. In der Dramatisierung, welche die Thematik der ‚ gemalten Geliebten ‘ nicht so ausführlich thematisiert wie der Roman, erfolgt eine ähnliche Lösung über die Spiel-im-Spiel-Figur. Ob man allerdings von einer Lösung sprechen kann, muss bezweifelt werden, handelt es sich (gerade durch die erst nachträgliche Einführung dieser Ebene) doch eher um eine Ausweitung denn um eine Auflösung der Problematik von Kunst und Leben. 212 <?page no="225"?> diese Wendung die Dramatisierung als wiederholende Praktik selbst (wenngleich nur implizit) beschrieben. 4.3 Johann Wolfgang von Goethe und Albrecht Hirche: Die Wahlverwandtschaften (1809 und 2006) In der Komödie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen Wunsches, und im Augenblick, da es erreicht ist, fällt der Vorhang und die momentane Befriedigung klingt bei uns nach. In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fort gespielt, und wenn der Vorhang wieder aufgeht, mag man gern nichts weiter davon sehen noch hören. (Der Graf in Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften, S. 340) In seinem Brief vom 23. 12. 1797 schreibt Goethe an Schiller: „ Sie werden hundertmal gehört haben daß man nach Lesung eines guten Romans gewünscht hat den Gegenstand auf dem Theater zu sehen [. . .] “ . 202 Er scheint damit auch in Bezug auf seine eigenen Werke recht zu behalten, denn allein zu seinem Roman Die Wahlverwandtschaften 203 von 1809 wurden seit Ende der 1990er Jahre mindestens elf Bühnenfassungen erstellt. 204 In ihnen kommt in 202 Johann Wolfgang Goethe: Brief an Schiller vom 23. 12. 1997. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe Tagebücher und Gespräche. Hrsg. v. Karl Eibl u. a. II. Abteilung, Bd. 4 (31). Mit Schiller, Teil 1, 1794 - 1799. Hrsg. v. Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998. S. 465. 203 Die Zitate aus Johann Wolfgang von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften werden in diesem Kapitel mit der Sigle JG und der Seitenzahl in Klammern angegeben. Sie folgen der Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe Tagebücher und Gespräche. Hrsg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus u. a. I. Abteilung, Bd. 8. Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. In Zusammenarbeit mit Christoph Brecht hrsg. v. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994. S. 269 - 529. 204 Die Autoren sind Silvia Armbruster, Albrecht Hirche, Christoph Mehler, Martin Nimz, Axel Preuß, Hannes Rudolph, Barbara Weber und die Autorenteams (zusammengesetzt meist aus Regie und Dramaturgie des Theaters der Uraufführung) Stefan Bachmann und Lars-Ole Walburg, Felicitas Brucker, Anita Kerzmann und Arved Schultze, Marcel Klett und Philip Stemann sowie Barbara Weber mit Ludwig Haugk. Zu Goethes Wilhelm Meister-Romanen existieren ebenfalls mehrere Dramatisierungen. Die Leiden des jungen Werther bringt es sicher auf mehr als die acht Fassungen, die im Verzeichnis des Verbandes der deutschen Bühnen- und Medienverlage aufgeführt sind. Für den Werther 213 <?page no="226"?> der Tat dasjenige auf die Bretter des Theaters, was in den oben erwähnten Komödien in der Regel ausgespart wird: ein ‚ Ehestück ‘ . Doch wie das Publikum das Leben nach der Hochzeit nicht weiter ansehen will, so möchte Goethe wohl vom Nachleben der epischen Stoffe auf dem Theater ‚ nichts sehen noch hören ‘ . Denn er führt weiter aus: „ [. . .] und wie viel schlechte Dramen sind daher entstanden! “ . 205 In Goethes Äußerung dürfte vor allem ein Gattungsverständnis hineingewirkt haben, das von grundsätzlichen inhaltlichen Unterschieden zwischen den Stoffen des Dramas und des Romans ausgeht. Sie ist Teil einer Debatte mit Schiller über die (stoffliche) Differenz von Epik und Dramatik. 206 Bestimmend für Goethes Abneigung gegen Romanstoffe auf der Bühne dürfte aber auch eine andere Debatte gewesen sein: Im 18. Jahrhundert bildete sich ein spezifisches Verständnis von Hochkultur und Trivialkultur heraus. Romanstoffe standen oft unter dem Verdacht, letzterer anzugehören. Gleichzeitig orientierte sich die wachsende trivialliterarische Dramenproduktion stark am Publikumsgeschmack. Das Selbstverständnis der trivialliterarischen Dramenautoren war von ihrer Zugehörigkeit zum Theater (als Schauspieler, als Mitglieder von Liebhabertheatern oder in organisatorischen Positionen bis hin zum Theaterleiter 207 ) bestimmt und richtete sich an der Beliebtheit der Stücke bei den Rezipienten gibt es außerdem Fassungen als Jugendstück, Oper und Ballett. Dass insbesondere Goethes Werther zu einem der Lieblingstexte des deutschsprachigen Theaters avanciert ist, belegt Astrid Kohlmeier im empirischen Teil ihrer Arbeit mit eindrucksvollen Zahlen. Allein in den Spielzeiten 2001/ 02 - 2005/ 06 gab es auf deutschsprachigen Bühnen 507 Aufführungen des Werther, die von 57 768 Besuchern gesehen wurden. Vgl. Astrid Kohlmeier: Vom Roman zum Theatertext. Eine vergleichende Studie am Beispiel der ‚ Leiden des jungen Werther ‘ von Johann Wolfgang Goethe. Saarbrücken: Müller 2010. S. 64. 205 Goethe: Brief an Schiller vom 23. 12. 1997. S. 465. 206 Zur etwa selben Zeit plant Goethe laut einem Tagebucheintrag „ [gelegentlich] durchzudenken und aufzusetzen: [. . .] Über das Darzustellende oder über die Gegenstände, welche die verschiednen Künste bearbeiten können und sollen “ , und „ Über die Behandlung der verschiednen Gegenstände durch die verschiednen Künste, je nachdem die Mittel und Zwecke dieser letzten verschieden sind “ . Tagebucheintrag vom 15. 9. 1797. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Eibl u. a. II. Abteilung, Bd. 4 (31). Mit Schiller, Teil 1, 1794 - 1799. Hrsg. v. Volker C. Dörr und Norbert Oellers. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998. S. 421 f. 207 Vgl. hierzu Markus Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit. 1780 - 1805. Produktion und Rezeption. Bonn: Bouvier Verlag 1982 (= Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit 5). S. 98 - 102. Krause stellt verschiedene Lebensläufe von Dramatikern vor und kommt zu dem Schluss: „ Das Trivialdrama läßt sich dementsprechend interpretieren als die Antwort von Bühnenliebhabern auf die Bedürfnisse des deutschen Theaters “ (S. 102). Die Verbundenheit mit der Bühne und die damit einhergehende Konzentration auf die gefällige Wirkung beim Publikum reflektieren einige der Autoren, indem sie in verschiedenen Kontexten explizieren, sie schrieben ‚ für die Bühne ‘ . 214 <?page no="227"?> aus. Auch in diesen Kontext der rasant anwachsenden Menge von Bühnenstücken 208 ist Goethes Äußerung einzuordnen, spricht er doch explizit vom Publikumswunsch nach solchen Romanstoffen auf der Bühne. Beides - Gattungstrennung und Einschätzungen des künstlerischen Wertes - sind Kriterien, die bis heute in Kritiken zu Dramatisierungen auf deutschen Bühnen hineinreichen, wenn sie sich an epische Werke vor allem der ‚ Hochliteratur ‘ wagen (vgl. 2.1). Dennoch ist die Dichotomie von Trivial- und Hochkultur sowie die Zuordnung der Phänomene ‚ Wiederholung ‘ und ‚ Genie ‘ beziehungsweise ‚ Originalität ‘ zu diesen Bereichen heute immerhin so weit aufgehoben, dass sich Koautoren auch an die Dramatisierung der Wahlverwandtschaften wagen und Georg Klein in der Süddeutschen Zeitung sogar erklärt, das Oldenburgische Staatstheater habe mit seiner Dramatisierung und Aufführung der Wahlverwandtschaften diese „ für die Bühne verbessert “ 209 . Die Dramatisierung, die Klein hier auf fast provokante Art lobt, soll Gegenstand der folgenden vergleichenden Untersuchung sein. Der Regisseur, Autor und Schauspieler Albrecht Hirche betitelt sein Drama in modischer Kleinschreibung wahlverwandtschaften nach goethe 210 . Die Uraufführung erfolgte am 23. 9. 2006 im ‚ Kleinen Haus ‘ des Oldenburgischen Staatstheaters. Hirche, der als Vertreter eines experimentellen Theaters 211 und einer prozessorientierten Probenarbeit gelten kann, inszenierte sein Drama selbst. Die theaterpraktische Herangehensweise schlägt sich im Text nieder: Es handelt sich um eine Bühnenfassung im engeren Sinn. Anders als die in den vorhergehenden Kapiteln besprochenen Dramatisierungen werden Details zur Aufführung der Oldenburger Inszenierung festgehalten. 208 Vgl. Jochen Schulte-Sasse: Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung. Studien zur Geschichte des modernen Kitschbegriffs. München: Fink 1971 (= Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 6). S. 46. 209 Georg Klein: Auf der Seelenbaustelle der Republik. Wie am Oldenburgischen Staatstheater Goethes Roman ‚ Die Wahlverwandtschaften ’ für die Bühne verbessert wird. In: Süddeutsche Zeitung 223 (27. 9. 2006). S. 16. 210 Albrecht Hirche: wahlverwandtschaften nach goethe. Unveröffentlichte Fassung. Oldenburgisches Staatstheater 2006 (UA: Oldenburgisches Staatstheater am 23. 9. 2006; Regie: Albrecht Hirche). Zitate sind mit dem Kürzel AH und der Seitenzahl (in Klammern im Fließtext) gekennzeichnet. Die Dramatisierung ersetzt konsequent den Buchstaben ‚ ß ‘ durch das doppelte ‚ s ‘ . Die Sprecherangaben erfolgen weitgehend, aber nicht immer in Kleinschreibung. Diese Auffälligkeiten in der Schreibweise werde ich im Folgenden nicht kennzeichnen. Regieanweisungen werden zumeist kursiv gesetzt. Wo das versäumt wurde, habe ich in Zitaten zur besseren Einordnung die Kursivierung vorgenommen. 211 Das von ihm mitgestaltete Theater Mahagoni in Hildesheim, ein Nachfolger sind heute die hirche/ krumbein productions, galt als eine der wichtigsten freien Theatergruppen Deutschlands und arbeitete vielfach experimentell mit nicht-dramatischen Texten sowie im Performance-Bereich. 215 <?page no="228"?> So werden die dramatis personae jeweils mit dem Schauspieler aus dem Oldenburger Ensemble angegeben (vgl. AH 1). 212 Auch die Mitwirkenden hinter den Kulissen, also Regie und Regieassistenz, Bühnen- und Kostümbildner und deren Assistenz sowie die zuständige Dramaturgin, sind dort vermerkt. Das Drama teilt sich durch eine Pause in zwei Hälften. Hier ist dezidiert eine Pause und nicht etwa eine Akteinteilung angegeben - also ein Hinweis zum Ablauf der Inszenierung und nicht nur eine inhaltliche Gliederung des Stücks (AH 28). Ähnlich verhält es sich mit den Nebentextangaben: Die angegebenen Orte bezeichnen Bühnenorte und keine Orte der Diegese. Der immer wieder genannte „ Glaskasten “ (erstmals erwähnt: AH 1), kann Gewächshaus und Grab sein oder als Fensterscheibe bespielt werden. Er ist mehrdeutiges Spielelement und Stellvertreter für verschiedene Orte der Handlung, also Teil der Dekoration der Inszenierung. Noch konkreter wird die Bezeichnung des Bühnenraums in der Darstellung der Auf- und Abgänge der Figuren: Sie können die Bühne von der „ Magazinseite “ oder der „ Inspiseite “ (gemeint ist der Sitzplatz des Inspizienten) betreten oder verlassen (erstmals: AH 2). Der Text der ersten Hälfte enthält bereits die nummerierten Lichteinstellungen 213 der Inszenierung. Die Textfassung ist also in der Probenzeit stark bearbeitet worden. Die Informationen zum Licht stammen wohl aus der Endprobenphase, denn Lichteinstellungen werden in der Regel in Beleuchtungsproben erst festgelegt, wenn alle Szenen im Ablauf geprobt sind. Auch Musikeinsätze werden im Nebentext angegeben (tlw. mit Titel des Stücks, vgl. u. a. AH 1). Schon die ersten Seiten verraten also, dass das vorliegende Drama ein literarischer Text ist, der im Probenprozess weiterentwickelt wurde und der eine stark pragmatische Funktion hat: Es handelt sich um eine Art ‚ Regiebuch ‘ , also diejenige Textfassung, in der Regie und Regieassistenz Entscheidungen zu Raum, Spiel, Ton und Beleuchtung während der Proben festhalten. Noch eine Besonderheit kennzeichnet das Prozesshafte der Entstehung: In der Dramatisierung finden sich an vielen Passagen Zahlen, die die Referenzstelle im Roman angeben. Diese Seitenzahlen beziehen sich auf die Studienausgabe im Reclamverlag 214 und bilden eine Art Verweissystem, das nicht nur 212 Auch innerhalb des Dramentextes finden sich vereinzelt die Namen der Schauspieler statt der Figurennamen in den Regieanweisungen (vgl. AH 15). 213 Gemeint sind nicht im Nebentext übliche, abstrakte Hinweise zur Beleuchtung (also Formulierungen wie ‚ es wird dunkler ‘ oder ‚ Figur X im Licht ‘ ), sondern die für die Inszenierung im Lichtpult installierten Beleuchtungseinstellungen, die unter Zahlen programmiert sind und die der Bühnentechniker bei der Vorstellung an der jeweiligen Stelle laut Textbuch der Bühnenfassung startet. 214 Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. Stuttgart: Reclam 1956 (und folgende seitengleiche Ausgaben). 216 <?page no="229"?> als Relikt einer ersten Textfassung zu betrachten ist. Dass die Referenzen auch in dieser schon sehr fortgeschrittenen Fassung stehenbleiben, lässt den Rückschluss zu, dass auch den Schauspielern bewusst die Möglichkeit eingeräumt wurde, ihre Figuren und die jeweilige Szenensituation am Prätext zu entwickeln. Außerdem ermöglichen es die Seitenangaben mancherorts, die Interpretationsarbeit im Prozess der Inszenierung zu rekonstruieren. Denn nicht nur die Übernahme wörtlicher Rede lässt sich so verfolgen, sondern auch der Eingang von Bemerkungen aus dem Erzählertext ins Drama. Beschreibende Passagen im Roman lassen sich dann im Nebentext des Dramas in Figurenhandlungen umgesetzt wiederfinden. Mit dieser Transposition entfernt sich Hirche oft weit von den im Roman beschriebenen Tätigkeiten der Figuren. Er scheint (eventuell mit dem Schauspielern) für die jeweilige Stimmung eine Übersetzung gesucht zu haben, die dem Medium Theater angemessen ist. 215 Überhaupt darf die Angabe der Romanseiten im Drama nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hirche mit dem Prätext recht frei umgeht. Darin ähnelt das Drama demjenigen Jonigks, das in Kapitel 4.2 beschrieben wurde. In Personal und Handlungsgang gibt es die (üblichen) Kürzungen, aber auch die Figurenzeichnung entfernt sich deutlich von der epischen Vorlage, und die Sprache wird aktualisiert. Performative Elemente wie Tanz, Sportspiel und Gesang ersetzen Erzähleraussagen. Das Drama verlegt das Geschehen in die heutige Zeit und bietet dem Rezipienten nicht nur eine zeitgenössische Interpretation der Handlung, sondern darüber hinaus einen geradezu selbstironischen Kommentar 216 zur Adaption eines solchen (Bildungs-) ‚ Klassikers ‘ wie Goethes berühmtem Roman. 217 215 Etwas widersprüchlich muten hierzu die Aussagen des Autors und Regisseurs an: Einerseits bezeichnet er in einem Interview die Textfassung als „ Hauptfassung. Ich gehe mit ihr um, als ob sie nicht von mir wäre “ . Andererseits betont er das Ausagieren im Probenprozess: „ Man könnte sagen: Sieben Schauspieler suchen einen Autor und finden ein neues Stück, das zufällig ‚ Wahlverwandtschaften ‘ heißt und auch eine Nähe zum Roman hat. Das Ensemble ist also der eigentliche Autor des Stücks. “ Albrecht Hirche in einem Interview mit Johanna Wall: „ Fang auf Seite 80 an! “ In: Spielzeitung. Theatermagazin für Oldenburg und die Region in Zusammenarbeit mit der Nordwest Zeitung 1 (2006). S. 6 - 7. Hier S. 7. 216 Dies rückt es ebenfalls in die Nähe zur Dramatisierung der Elixiere des Teufels. Doch die Metareferenz ist in diesem Fall ganz anders angelegt (dazu in Abschnitt 4.3.6). 217 Eine erste Erkundung zu Hirches Adaption und der der Romandramatisierung eigenen sozialen und didaktischen Funktion bietet mein Aufsatz zu Hirches wahlverwandtschaften nach goethe. Birte Lipinski: Der Gattenwechsel im Gattungswechsel oder: Wie man Goethes ‚ Wahlverwandtschaften ‘ auf den neuesten Stand dramatisiert. In: Goethe Jahrbuch 162 (2009). S. 355 - 361. 217 <?page no="230"?> 4.3.1 Die Wahlverwandtschaften aktualisiert: Verortung in Zeit und Raum Die Wahlverwandtschaften ist ein Roman, der zwar Lebensbedingungen des Landadels um 1800 darstellt, der aber von der historischen und regionalen Wirklichkeit dennoch weit abstrahiert und im Sinne des chemischen Gesetzes, nach dem er benannt ist, überzeitlich wird: „ Er anonymisiert Landschaft und Geschichte so gründlich, daß der Roman als Experimentalanordnung mit den reinen Einheiten von Ort, Zeit und Figurenspiel operieren kann. “ 218 Diese Abstraktion kommt der Dramatisierung entgegen. Keith A. Dickson, der die Orte in den Wahlverwandtschaften untersucht, beschreibt das Phänomen durchgängig mit Begriffen der Dramentheorie. 219 Als Novelle geplant, laut Theodor Storm die ‚ kleinere Schwester des Dramas ‘ , komme der Roman dramatischen Strukturen nahe. Insbesondere in der Schilderung des Raumes - Dickson spricht von „ Raumverdichtung “ - ist diese Parallelsetzung überzeugend. Auch das überschaubare (Haupt-)Personal und die weitgehende Auslassung von Vorgeschichten erleichtern eine dramatische Umsetzung. 220 Weniger dramentypisch gestaltet sich die Darstellung der Zeit, die einen recht 218 Norbert Bolz: Die Wahlverwandtschaften. In: Goethe Handbuch. Bd. 3. Prosaschriften. Hrsg. v. Bernd Witte, Peter Schmidt und Gernot Böhme. Stuttgart/ Weimar 1997. S. 152 - 186. Hier S. 165. Siehe auch S. 157: Die Rätselhaftigkeit der Form und die Hermetik „ homogenisieren [. . .] den historischen und gesellschaftlichen Stoff - man könnte kritisch sagen: sie nivellieren ihn bis zur Darstellbarkeit “ . Selbstverständlich lassen sich auch (sozial-)historische Aspekte an den Wahlverwandtschaften verfolgen, wie es Wolf Kittler, Hans Rudolf Vaget und besonders ausführlich Michael Niedermeier getan haben. Vgl. Wolf Kittler: Goethes Wahlverwandtschaften. Sociale Verhältnisse symbolisch dargestellt. In: Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hrsg. v. Norbert W. Bolz. Hildesheim: Gerstenberg 1981. S. 230 - 259. - Hans Rudolf Vaget: Ein reicher Baron. Zum sozialgeschichtlichen Gehalt der ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980). S. 123 - 161. - Michael Niedermeyer: Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, ‚ Gartenrevolution ‘ in Goethes Roman ‚ Die Wahlverwandtschaften ‘ . Berlin u. a.: Lang 1992. Doch obschon die sozialen Verhältnisse deutlich denen um 1800 nachgezeichnet sind und entsprechend viele Zeitgenossen Goethes ihre eigene Epoche darin abgebildet sahen, werden innerfiktional keine historischen Daten, Namen oder Ereignisse explizit erwähnt. Alle zeitgeschichtlich relevanten Ereignisse (wie der Krieg) bleiben außerhalb des Landgutes. 219 Er spricht von einem „ tragischen Drama “ (S. 327), von einer „ Bühne “ (S. 330), auf der die „ dramatis personae “ (S. 348) im „ Szenenbild “ agieren (S. 330 f.), von Bühnen- und „ Szenenanweisungen “ (S. 332) des Romans. Keith A. Dickson: Raumverdichtung in den ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . In: Goethes Roman ‚ Die Wahlverwandtschaften ‘ . Hrsg. v. Ewald Rösch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975. S. 325 - 349. 220 Der dramatischen Konvention entgegen laufen jedoch die Wechsel im Erzähltempus und die starke Kommentierung und Fiktionalisierung durch den Erzähler sowie der große Anteil von Passagen reflexiven Inhalts zum Beispiel (aber nicht nur) durch Ottilies Tagebuch. 218 <?page no="231"?> großen Zeitraum umfassen muss. Die Geschichte wird in einer relativen Zeitlosigkeit erzählt, da der Verlauf der Zeit einer inneren Ordnung der Handlungen auf dem Gut anstatt einer stark historisch fundierten Zeitschiene folgt. 221 Die Dramatisierung kommt dieser Abstraktion in der Zeit- und Raumdarstellung nahe und macht kein Zeitstück daraus. Dennoch aktualisiert sie das Geschehen des Romans und zeigt eine Gesellschaft, die historisch etwa in den Zeitraum der Uraufführung, zumindest aber in die Jahre um den Wechsel vom 20. zum 21. Jahrhunderts einzuordnen ist. Hinweise darauf bieten innerdiegetisch die Sprache, die sich deutlich an der Gegenwartssprache orientiert, einzelne Hinweise auf literarische Texte und Lieder, die deutlich nach der Handlungszeit von Goethes Wahlverwandtschaften erschienen sind, und einige Requisiten, die direkt genannt werden. 222 Charlotte und der Hauptmann wählen, wenn sie gemeinsam musizieren, mit Wild World einen Titel aus dem Jahr 1970. Als Eduard seine Gedichte vorträgt, beginnt er mit Elf Pappeln von Mirko Bonné, trägt dann Eichendorffs Mondnacht vor, um übergangslos Brechts Über die Verführung von Engeln daran anzuschließen. Der Text Bonnés stammt aus dem Jahr 2004, ist der jüngste Text im Drama und gibt auch inhaltlich (über Motive wie das Auto und den Film) Hinweise auf eine historische Einordnung jenseits der Goethezeit. 223 Die einzig konkrete Jahreszahl im Text findet sich in einer Aussage des Grafen, der sich beim Anblick seiner tanzenden Geliebten erinnert: „ Sommer. 1970. [. . .] Die schönste Zeit meiner Jugend “ (AH 36). Der Text der dramatisierten Fassung folgt zwar in weiten Teilen (und mit großen Auslassungen) der Chronologie des Romans und auch viele der Dialoge sind dem Roman entnommen. Doch Hirche formt nicht nur häufig indirekte Rede in direkte Rede um, sondern verändert auch Kommentare des Erzählers für die direkte Wiedergabe durch Mittler, ordnet Redebeiträge anderen Personen zu und verändert vor allem die sprachliche Gestaltung der 221 Spätestens auf dem Landgut wird die Zeit der Handlung autonom, was gern mit der folgenden Passage belegt wird: „ Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte seine chronometrische Sekunden-Uhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnden, daß die Zeit anfange ihnen gleichgültig zu werden. “ (JG 321) Vgl. dazu vor allem Judith Reusch: Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften. Würzburg: Könighausen & Neumann 2004 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 489). 222 So werden beispielsweise Aspirintabletten (AH 8) und Kühlschränke (AH 33) genannt oder als Requisiten bespielt. 223 Das Gedicht wurde am 24. 10. 2004 in einem Internetforum veröffentlicht (www.dergoldene-fisch.de/ gf.php/ texte/ autor/ 11/ 17; letzter Zugriff: 01. 12. 2010), ist aber inzwischen auch in einem Gedichtband erschienen. Mirko Bonné: Die Republik der Silberfische. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co 2008. S. 91. 219 <?page no="232"?> einzelnen Redebeiträge stark. An vielen Stellen ist die Sprache aktualisiert und der direkten Rede angepasst. Die oft komplexen Äußerungen der Figuren bei Goethe 224 befreit Hirche von Konjunktiven und Nebensätzen. Obwohl ein leicht historisierender Gestus den Kunstcharakter auch in der Dramatisierung noch verrät, sind zahlreiche Passagen einer konzeptionellen Mündlichkeit angepasst. Dazu werden oft nur kleine Veränderungen nötig, gerade wenn die Figuren und ihre Redebeiträge mit Nachdruck und Strenge dargestellt werden. Ein geeignetes Beispiel bieten gerade Eduards Äußerungen zu Lesevorgang und Vortrag. Wo Eduard im Roman ausführt: „ Wenn ich Jemand vorlese, ist es denn nicht als wenn ich ihm mündlich etwas vortrüge? “ (JG 299), wird die Formulierung nur ganz leicht der zeitgenössischen Redeweise angepasst und ist so für den Zuschauer in der theatralen Rezeptionssituation sicher leichter verständlich: „ Wenn ich jemandem vorlese, ist es dann nicht, als wenn ich ihm mündlich etwas vortrage? “ (AH 4). In Bezug auf Hirches Romandramatisierung hätte Eduard also Unrecht, denn hier wird die direkte Rede zum Teil sehr deutlich vom Romantext unterschieden. Wo Erzählertext ins Drama übertragen wird, weicht der Duktus besonders stark ab, wie beispielsweise die Neufassung der Novelle zeigt. Der Hauptmann erzählt sie der Baronesse in einer persönlichen Aussprache als Teil seiner Lebensgeschichte. Entsprechend ist die Novelle nicht nur stark gekürzt wiedergegeben, sondern es wechselt außerdem der Ausdruck zu einem Stil konzeptioneller Mündlichkeit, der umgangssprachliche Wendungen und solche aus dem Sprachgebrauch der heutigen Zeit enthält. So lautet die Eingangspassage bei Goethe: Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Häusern, Knabe und Mädchen, in verhältnismäßigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, ließ man in dieser angenehmen Aussicht mit einander aufwachsen, und die beiderseitigen Eltern freuten sich einer künftigen Verbindung. Doch man bemerkte gar bald, daß die Absicht zu mißlingen schien, indem sich zwischen den beiden trefflichen Naturen ein sonderbarer Widerwille hervortat. Vielleicht waren sie einander zu ähnlich. (JG 471) Hirche lässt seinen Hauptmann auf der Bühne in elliptischen Sätzen nach Wörtern suchen: 224 Dramatisierungen von Romanen wie Effi Briest (vgl. Kapitel 4.5) oder Berlin Alexanderplatz (vgl. Kapitel 4.4) haben es hier leichter. Da diese Romane die Wiedergabe von mündlicher Kommunikation stark in den Mittelpunkt stellen, wenngleich in ästhetisch gebundener und veränderter Form, kommen sie Konzepten von Mündlichkeit wesentlich näher als die stark symbolisch aufgeladene und sprachlich verdichtete Rede in den Wahlverwandtschaften. Zudem besteht durch den größeren historischen Abstand auch eine deutlichere Differenz im Sprachgebrauch. 220 <?page no="233"?> Na gut, also. Wie anfangen. So. Ja. Zwei Nachbarskinder ja. [. . .] Zwei Nachbarskinder. Knabe und Mädchen. Man lässt sie in der angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, dass sie sich später miteinander verheiraten sollen. [. . .] Doch. O weh. O weh. Man merkte bald, dass die Sache schief gehen könnte. Zwischen den beiden tat sich ein sonderbarer Widerwillen hervor. Vielleicht waren sie einander zu ähnlich - was weiss ich. Ich war nicht dabei. Wie gesagt. (AH 24) Weiterhin spricht der Hauptmann in der Dramatisierung vom „ Ex “ der Geliebten und von einer „ Party “ zum Abschied (AH 24). Seine Rolle in der Geschichte ist dabei von Anfang an klar, berichtet er doch in der Ich-Form aus seiner Vergangenheit: „ So und jetzt komme ich ins Spiel. Jung, allerdings älter als der Ex-Knabe da “ (AH 24). Nicht nur das ‚ Verfertigen der Gedanken beim Reden ‘ , sondern auch die emotionale Befangenheit des Hauptmanns schlägt sich im Text nieder. Die Veränderungen scheinen nicht nur der Orientierung am heutigen Sprachgebrauch, sondern auch der Involviertheit der Figur, ihrer Selbstdarstellung und Haltung zum Erzählten zu entspringen. Dort wo Formulierungen aus dem Roman erhalten bleiben, die dem heutigen Zuschauer nicht mehr geläufig sein dürften, nehmen die Figuren das Erstaunen über den Ausdruck einige Male sogar auf. Das Alteritätsverhältnis zwischen Prätext und Dramatisierung wird dann implizit zum Thema. Exemplarisch soll hier wieder der Hauptmann zitiert werden: hauptmann Sie können sich denken, wie mich das geschmerzt hat, da ich sie hier so gern akkompagniere. (Eduard kommt - Pause) mittler . . . akkompaknieren? äh? hauptmann Begleiten . . . (packt ihn drohend) Im musikalischen Sinne! (AH 30 f.) Dennoch steht die Aktualisierung des Stoffes in Hirches Fassung nicht im Vordergrund. Dadurch dass der Dramentext weitgehend auf die Beschreibung des Umfelds verzichtet und die Beziehung der Figuren in den Vordergrund stellt, scheint die Einordnung in den aktuellen zeitlichen Kontext nur am Rande von Bedeutung. Damit steht sie in der Zeitkonzeption dem Roman durchaus nahe, der ebenfalls Zeitspezifisches aufnimmt, ohne aber Zeitroman zu werden. Ziel der Dramatisierung scheint hier, die allgemein menschlichen Konflikte, die Zweifel der Figuren erkennbar werden zu lassen - ähnlich wie es in John von Düffels Buddenbrooks zu beobachten war. Um dem heutigen Zuschauer die seelische Not der Hauptfiguren plausibel zu machen, werden jedoch Veränderungen notwendig: Der außerehelichen Beziehung zwischen Graf und Baronesse verleiht Hirche neue gesellschaftliche Brisanz, indem er in seiner Oldenburger Inszenierung den Grafen mit einem älteren Schauspieler, die Baronesse als junge Asiatin besetzt. Die Provokation geschieht also hier durch die Thematisierung von Sextourismus und Heiratsmarkt in asiatischen Ländern. Charlotte erwähnt die Herkunft der Baronesse, 221 <?page no="234"?> als sie dem Hauptmann die Geschichte der Beziehung von Graf und Baronesse erzählt. Dass Eduard und Charlotte es dabei oft bei Andeutungen belassen und Kommentare oder Bewertungen abbrechen, öffnet beim Publikum Raum für Assoziationen, die der Skepsis der Hauptfiguren entsprechen: hauptmann Seltsame Leute. charlotte Beide hatten früher schon anderwärtig geheiratet. Das war eher.. eduard Heute eine leidenschaftliche Liebe. charlotte Sie dachten zuerst an Scheidung. Bei der Baronesse ging das. Allein schon . . . Japan, Vietnam - was weiss ich wo - weit weg jedenfalls. eduard Bei dem Grafen nicht. Er ist immer noch . . . charlotte Sie mussten sich zum Scheine trennen. eduard Allein ihr Verhältnis blieb. Korea! Alles ganz . . . charlotte Ja, ja! (AH 16) Die Textfassung gibt in den Regieanweisungen außerdem vor, dass die Baronesse ihren ersten Auftritt mit verbundenen Augen hat. Graf und Baronesse spielen Pingpong ohne Ball, wobei sie den Aufschlag des Balls durch Onomatopoetika simulieren (AH 16). Die Bemerkung des Hauptmanns: ‚ Seltsame Leute ‘ , wird also zunächst durch ihr Verhalten verursacht. Die Beobachtungssituation zeigt die Distanz an. Später vollführt die Baronesse „ einen skurrilen Tanz in Affenmaske “ , der ihre Exotik betont. Der Graf beobachtet sie und „ applaudiert “ (AH 36), nimmt also eine voyeuristisch konsumierende Haltung ein. Auch so wird das Paar als merkwürdig und lasterhaft dargestellt, obwohl eine außereheliche Beziehung heute kaum Aufsehen erregen würde. 225 Den Zeitabläufen innerhalb der Handlung begegnet die Dramatisierung mit einer Entzeitlichung. Die Handlung verläuft auch im Drama selbstverständlich in der Zeit, insbesondere der Hausbau und Charlottes Schwangerschaft geben eine gewisse zeitliche Ausdehnung vor, doch diese wird nie zum Thema des Stücks. So wirkt die Handlung stärker gerafft, unmittelbarer in der Abfolge von Ursache und Wirkung beziehungsweise von Entwicklung der Handlungsmotivationen und deren Durchführung. Die extremste Ausprägung dieses forcierten Handlungsgangs zeigt die Schlussszene, die im 225 Die Affenmaske stellt außerdem die Verbindung zu Luciane her, die diese exotischen Tiere liebt. Charlottes Tochter tritt in der Dramatisierung nicht auf und wird auch nicht erwähnt. Mit diesem Auftritt in Affenmaske übernimmt die Baronesse teilweise die Funktion Lucianes im Roman: Luciane bringt mit ihrer ständigen Aktivität und selbstdarstellerischen Art die Bewohner des Landgutes in Aufruhr und Ottilie zur Reflexion über das gesellschaftliche Leben, was sich in ihren Tagebucheintragungen nachlesen lässt. In der Dramatisierung folgen diese Reflexionen auf den Affentanz der Baronesse. Sie werden allerdings als direkte Redebeiträge Ottilies, aber auch des Grafen und der Baronesse in einer Art Gespräch gegeneinander gestellt. 222 <?page no="235"?> Abschnitt zum intermedialen Erzählen genauer dargestellt wird. Insgesamt treibt die Dramatisierung das Geschehen zügig voran und steht damit dem Zeitkonzept des Romans entgegen: Hier entwickelt sich die Handlung in zyklischen Strukturen, es wird eine (wenn auch künstliche) Idylle aufgebaut, in der die Beziehungen organischer wachsen als in der Dramatisierung und die Protagonisten sich bemühen, diesen Zustand durch Ausschaltung der linearen Zeit auch zu wahren. 226 Zwar zeigen auch die Figuren im Drama ein teilweise rückwärtsgewandtes, erinnerndes Denken (in den Berichten über Eduards und Charlottes Vergangenheit, in der Schwärmerei des Grafen vom Sommer 1970 und in der Erzählung aus der Jugend des Hauptmanns), doch von einer zyklisch idyllischen Zeit kann angesichts der raschen Szenenfolge und der treibenden Kommentare Mittlers nicht die Rede sein. Die Dramenhandlung versucht nie, sich einer ‚ epischen Breite ‘ anzunähern. Sie verzichtet auf Übergänge, die zeitliche Verläufe darstellen, zugunsten eines Prinzips der Zeitsprünge. Diese werden durch kurze Blacks und einen Wechsel in der Bühnennutzung und Personenhaltung im Nebentext als ‚ optische Sprünge ‘ markiert: „ Dieselben - optischer, zeitlicher Sprung “ (AH 6). Eine Szene wird fast immer in medias res begonnen. Es erfolgen kaum Schauplatzwechsel, die eine längere Etablierung von zeitlicher oder auch lokaler Situation notwendig machen. Im Hinblick auf die lokale Verortung stellt sich eine Dramatisierung der Wahlverwandtschaften, wie oben erwähnt, verhältnismäßig unkompliziert dar. Der Großteil der Romanhandlung ist auf dem Landgut Eduards angesiedelt. Wie Dickson zu Recht anmerkt, ist diese Konzentration auf einen einzigen Ort so stark, dass Nebenfiguren diesen Raum wie eine Bühne betreten müssen, um an der Handlung teilnehmen zu können. 227 Die Dramatisierung verschärft die ‚ Raumverdichtung ‘ weiter und lässt die Szenen im Dorf und im Wirtshaus entfallen. Folglich gibt der Nebentext nur spärliche Hinweise, die sich (siehe oben) eher auf die konkrete Bühnennutzung als auf die Orte der Diegese beziehen. Ein einziger wirklicher Ortswechsel wird dargestellt, der nur eine Szene betrifft. 228 Die Szenen auf dem Landgut wechseln jedoch innerfiktional 226 Judith Reusch stellt in ihrer Studie dar, wie die lineare Zeit vergessen, aufgehalten und zur zyklischen Zeit verkehrt wird. Die Widerstandsakte der Figuren führen zur Etablierung einer idyllischen Zeit beziehungsweise einer mythischen Zeit. Vgl. zusammenfassend Reusch, Zeitstrukturen. S. 168 - 170. 227 Vgl. Dickson, Raumverdichtung. S. 327. 228 Es handelt sich um Eduards Kriegsdienst im zweiten Teil der Dramatisierung. Der Hauptmann besucht ihn dort. Die Szenerie wird durch die Rede Eduards und das Verhalten beiden Männer, die sich wie in Kriegsfilmen über den Boden rollen, als Kriegsschauplatz etabliert. 223 <?page no="236"?> zwischen Innen- und Außenräumen. Der Dramentext schlägt aber auch dafür keinerlei Umbau vor. Die Orte der Bühne werden, wie oben in Bezug auf Diegese versus Inszenierung beschrieben, mehrfach genutzt. Es gibt einen Glaskasten, eine kleine Mauer und eine Grube. Die Grube wird zum Ort der Landschaftsgärtnerei, zur Baugrube des neuen Hauses, zum Teich, in dem das Kind ertrinkt, sowie zu dessen Grab. Die Mauer dient als Sitz in Innenszenen, als Balanciergelegenheit auf Spaziergängen und als Deckung in der Kriegsszene. Die Passagen über die Landschaftsgärtnerei, den Hausbau, Pappeln und Teiche bedeuten für die Umsetzung auf der Bühne also nur in ihrer symbolischen Dimension eine Schwierigkeit. Ihre konkrete Bedeutung als Ort dagegen etabliert sich über das Schauspiel, wie es die Nebentexte und die deiktischen Verweise in der Rede angeben. Auch dies entspricht einem Zug des Romans: Hier wird die Landschaft in zahlreichen Spaziergängen begangen und in der Bewegung vermessen. Stefan Blechschmidt stellt deshalb fest, der Raum werde „ durch Handlung dynamisiert “ . 229 Die Eigenheiten der Umgebung spiegeln dabei immer wieder die Charaktere, ihre Stimmungen und Beziehungen. Insofern wird der Ort auch hier über die Raumnutzung, stärker allerdings noch über die Raumwahrnehmung und -planung definiert. Die Dramatisierung setzt weniger auf reflexive Passagen, dafür stärker auf körperliches Spiel. 4.3.2 Struktur und Handlungsaufbau: eine Beschleunigung Der Roman wurde für die Bühnenfassung stark zusammengestrichen. Die Textfassung der Dramatisierung umfasst noch 49 großzügig bedruckte Seiten. Dabei handelt es sich nicht vorrangig um eine Handlungsreduktion, sondern vor allem um eine Reduktion von erzählerischen Passagen, von Textsorten und Bildern, die Wissen repräsentieren und die in den Wahlverwandtschaften die Handlung und Reflexion mitbestimmen. 230 Die Dramatisierung über- 229 Stefan Blechschmidt: Der Schauplatz von Goethes ‚ Die Wahlverwandtschaften ‘ . Kartographischer Zugang und modellhafte Vergegenwärtigung. In: „ Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft “ . Goethes ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . Hrsg. v. Ernst-Gerhard Güse, Stefan Blechschmidt u. a. Weimar: Klassik Stiftung Weimar 2008. S. 28 - 35. Hier S. 34. 230 Einen Sammelband zu den unterschiedlichen Arten des Erzählens und der Wissensvermittlung in den Wahlverwandtschaften hat Gabriele Brandstetter herausgegeben. Darin geben 13 Autorinnen und Autoren einen Eindruck davon, wie unterschiedlich die Repräsentationen von Wissen gestaltet sind. Insbesondere der Beitrag der Herausgeberin und die Aufsätze Gerhard Neumanns und Waltraud Wiethölters widmen sich dabei den schriftlichen Formen, die vom Brief, über literarische Formen wie die Novelle, naturwissenschaftliche Abhandlungen, Reflexionen und Sentenzen bis hin zum enzy- 224 <?page no="237"?> nimmt vor allem die Teile des Romans, in denen sich die vier Hauptfiguren gemeinsam auf dem Landgut aufhalten. Sie entwirft schlaglichtartig Bilder, reiht in fast filmischer Manier (vgl. Abschnitt 4.3.5 zu den intermedialen Erzählmitteln) kurze Szenen aneinander, sodass gerade im zweiten Teil der Eindruck einer starken Beschleunigung des Handlungsgangs entsteht. Eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Roman und Dramatisierung besteht in der Teilung der Handlung in ein erstes und ein zweites Buch im Roman und die Zweiteilung der Handlung durch eine Pause in der Dramatisierung. Aufgrund des veränderten inhaltlichen Schwerpunkts der Bühnenfassung verlegt Hirche diese Zäsur im Vergleich zum Roman allerdings nach vorn. Bei einem Vergleich von Roman und Dramatisierung fällt auf, dass lange Passagen aus dem zweiten Teil des Romans nicht übernommen wurden. Dabei handelt es sich vor allem um den Besuch Lucianes und die Beschreibung der Adelsgesellschaft, den Besuch des Architekten und die Zeichnung Ottilies als Heilige. Diese Teile entwickeln sich nicht aus dem direkten sozialen Experiment um die vier Hauptfiguren und werden insofern nicht oder nur am Rande (beziehungsweise in veränderter Form) aufgenommen. Der Schwerpunkt der Dramatisierung liegt auf dem Zustandekommen der ‚ Wahlverwandtschaften ‘ , also der neuen Paarung, und dessen Folgen. Die Handlung des Romans wird durch die Geständnisse beider Eheleute, den Freund beziehungsweise die Nichte aufs Gut einladen zu wollen, initiiert. 231 Das Paar bittet Mittler um Rat, der die folgenschwere Fehleinschätzung abgibt: „ Nehmt die Freunde zu Euch, laßt sie weg: alles einerlei! “ (JG 285) Die Dramatisierung setzt ohne Exposition direkt im Streit zwischen Charlotte und Eduard ein, gerade in dem Moment, in dem Mittler sich verstimmt verabschiedet. Die Diskussion ist zu diesem Zeitpunkt bereits so weit fortgeschritten, dass der Zuschauer nur noch grob aus dem Kommentar Mittlers erahnen kann, was das Gesprächsthema ist. Nach einem Black folgt direkt der Auftritt des Hauptmanns von der einen Bühnenseite, der Ottilies von der anderen. Mittler fungiert erstmals als Erzähler 232 von Handlung: „ Der Hauptmann kommt also in dieses Idyll. [. . .] Und wenig später auch [. . .] Ottilie! “ (AH 2) So sind die vier Hauptfiguren schon nach kürzester Zeit eingeführt. Mit dieser Parallelmontage eilt die Dramatisierung klopädischen Charakter einzelner Passagen reichen. Aber auch den reflexiven Momenten des Werkes, die in verschiedenen Arten von Bildern (innerfiktional wie auch auf Ebene des Erzählens) dargestellt werden, widmet sich der Band. Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . Hrsg. v. Gabriele Brandstetter. Freiburg i.Br.: Rombach 2003. 231 Vgl. JG 272 f. (Vorschlag Eduards) und 280 f. (Vorschlag Charlottes). 232 Eine genauere Analyse der Figur und ihrer Funktion in der Dramatisierung folgt im Abschnitt 4.3.3 zum Personal. 225 <?page no="238"?> der chronologischen Abfolge des Romans, der sie sonst im Wesentlichen folgt, voraus. Ottilies eigentlicher Einstieg in die Bühnenhandlung wird dann zunächst zurückgestellt; es folgt die Erklärung zum chemischen Prozess der Wahlverwandtschaft, und erst danach nimmt Ottilie tatsächlich an der Bühnenhandlung teil. Die Annäherung zwischen Charlotte und dem Hauptmann sowie zwischen Eduard und Ottilie wird performativ über ihr Handeln hergestellt: Werden noch zu Anfang Charlotte und Eduard gemeinsam im Glaskasten präsentiert (vgl. AH 1), so übt Charlotte nach Ottilies Ankunft mit der Nichte Französisch, die Männer spielen derweil Tischtennis. Die Figurenzeichnung geschieht ebenfalls über diese Tätigkeiten, über ihre Disziplin oder den mangelnden Eifer, mit dem die Figuren ihrer Tätigkeit nachgehen, oder auch ihre Geschicklichkeit. Die Spielpartner wechseln bald; die neuen Paarungen sind hergestellt: Ottilie und Eduard spielen nun zusammen Tischtennis, folglich widmen sich Charlotte und der Hauptmann gemeinsam der Gartenarbeit. Mittler begleitet die Neuzusammensetzung mit den Erzählerkommentaren aus dem Roman: „ Indem nun Charlotte mit dem Hauptmann eine gemeinsame Beschäftigung fand, so war die Folge, daß sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte “ (AH 10; JG 320). Es folgt ein erneuter Besuch Mittlers auf dem Gut, in dem dieser die Ehe zu verteidigen versucht. Dynamik bringt die Ankunft des Grafen und der Baronesse, die gerade das Gegenbild zu Mittlers Eheverständnis verkörpern. Das Paar wirkt - im Roman wie in der dramatisierten Form - als Beschleuniger in der Annäherung der Paare. Es kommt zum Geschlechtsverkehr zwischen Charlotte und Eduard, bei dem beide an den außerehelichen Wunschpartner denken. 233 Diesem vorläufigen Höhepunkt der Handlung folgt in der Dramatisierung eine Pause. Mittler bricht die Illusion der Handlung durch die Thematisierung der Rezeptionssituation. So verkündet er in ironischen Ton schon zu diesem Zeitpunkt die negative Wendung, die die Geschichte nehmen wird: „ Wunderbar! Ein schöner Abend. Entspannt gleiten wir in die Katastrophe “ (AH 27). Die Prolepse lenkt die Spannung des Publikums vom ‚ Was ‘ auf das ‚ Wie ‘ , deutet sie doch deterministisch das Ende schon an. Die Entwicklung der Handlung auf die Katastrophe hin erfolgt dann konsequent im zweiten Teil des Dramas. Nach der Pause kommt es zunächst zum Liebesgeständnis zwischen Eduard und Ottlie sowie zum Kuss zwischen Charlotte und dem Hauptmann. Was vor der Pause in den Wünschen der Protagonisten sichtbar wurde, 233 Wie dieser für das Drama schwer darstellbare Akt ersetzt wird, wird im Abschnitt 4.3.5 zu den Erzählmitteln Thema sein. 226 <?page no="239"?> wird nun wahr. Wie im Roman drängt Charlotte den Hauptmann zur Abreise. Das in Goethes Wahlverwandtschaften darauf folgende Kapitel, das Ottilies Geburtstag, das Richtfest, Feuerwerk und das Unglück an den Teichen beschreibt, enthält viele Elemente, die sich auf der Bühne nur schwer darstellen lassen. Es ist Aufgabe des Erzählers Mittler, die Handlung für das Theaterpublikum zusammenzufassen. Er legt dazu den Zeitpunkt des Geschehens auf die Pause, sodass die Nacherzählung eine logische Motivation erhält. Auffällig ist wiederum die Transformation des Romantextes in eine Form konzeptioneller Mündlichkeit: 234 Eduard nimmt sich die Gießkanne und kippt sie über dem Hauptmann aus. mittler#(Mikro) Während wir draussen gefeiert haben, wurde hier drinnen auch ein bisschen über die Stränge geschlagen. Ottilie hatte Geburtstag. Erst Charlotte - Sie erinnern sich - die Grundsteinlegung. Jetzt Ottilie: Eduard ist ausser sich - man trifft sich an den Teichen. Ein Feuerwerk ist annonciert. Viele Leute. Man drängt ans Ufer - die Pappeln - drängelt, schubst. Jedenfalls, die Böschung bricht - die Menschen stürzen ins Wasser. Alles halb so wild - die Kleider dreckig. Die Füsse nass. Nun ja. Feinere Leute. Unglücklicherweise ist ein Kind im Wasser. Schreit, strampelt - unser Hauptmann holt es raus - es scheint hinüber. Tot sozusagen. Stimmung verhagelt. Alle weg. Nur unser Eduardo nicht - der besteht darauf, dass Ottilie mit ihm allein an den Teichen das Feuerwerk anschaut, das er ja schliesslich seit Tagen vorbereitet hat. (AH 31) All dies wird mehr Zeit in Anspruch nehmen als die 20minütige Theaterpause, sodass Mittlers Kommentar zum Pausengeschehen in seiner Paradoxie gleichzeitig eine Metareferenz bedeutet und diese ironisiert. Der Hauptmann reist auf das schreckliche Ereignis hin ab. Wie im Roman folgt nun das Streitgespräch zwischen Eduard und Charlotte, dann sehr bald seine Flucht in den Krieg. 235 Hirche kürzt radikal die Beschreibung der Zeit, in der die beiden Frauen allein auf dem Gut leben. Überhaupt steigern sich die ohnehin schon abrupten Szenenwechsel und der dadurch entstehende Kausalzusammenhang zwischen den Ereignissen nun bis zur Parodie. Wenn Mittler von der gescheiterten Rettung des Jungen erzählt, verlässt der durchnässte Hauptmann überstürzt die Szenerie: hauptmann Das Kind atmet, Gott sei Dank. Mein Auftrag ist erfüllt, und jetzt bin ich weg. Dankeschön! Wiedersehen! Verbeugung, ab (AH 31) 234 Dabei wird jedoch die Rolle als Erzähler bewahrt. Denkbar wäre auch eine Lösung in nach den dramatischen Konventionen von Teichoskopie oder Botenbericht. 235 Der Auftritt Lucianes wird ausgelassen, nur ansatzweise wird das Motiv der wilden Feiern, der selbstdarstellerischen Art und der Abneigung Ottilies durch den ‚ Affentanz ‘ der Baronesse ersetzt. Der Architekt und der englische Besucher fallen genauso aus der Handlung wie die Renovierung der Kapelle. 227 <?page no="240"?> Tatsächlich geschieht dieser Abgang auch im Roman mit überraschender Geschwindigkeit: Der Hauptmann rettet den Knaben aus dem Wasser, verabschiedet sich von Charlotte, die dies in der Unruhe kaum wahrnimmt, und das nächste Kapitel kann mit den Worten beginnen: „ Des andern Morgens war der Hauptmann verschwunden [. . .] “ (JG 373). 236 Albrecht Hirche verstärkt diese Tendenz der Vorlage noch. Die überstürzten Ereignisse des Romans, die (so kann es zumindest dem heutigen Publikum erscheinen) Absurdität einiger Figurenhandlungen und deren Motivation werden in den harten Schnitten zeitweise zur Farce. Hier sei ein weiteres Beispiel angeführt: Noch einmal reisen auch Graf und Baronesse an, die die Diskussion um mögliche Auswege aktivieren. Charlotte verweist auf ihre Schwangerschaft als Mittel, Eduard für sich zurückzugewinnen. Wenn er erst das Kind sähe, würde er sich umentscheiden. Um den Fortgang der Handlung voranzutreiben, muss nun also das Kind geboren werden. Kaum hat Charlotte obige Hoffnung ausgesprochen, da kündigt sich im Drama auch schon die Geburt an. Die Niederkunft selbst wird nicht dargestellt; das Kind wird sogleich präsentiert: [Charlotte] Greift sich an den Bauch, schreit. BLACK + MUSIK 12. Baronesse und Ottilie bringen verhüllte Kindsstatue 237 auf Position. Dabei Charlotte. Mittler im wilden Ritt mit Rassel und Blumen über die Bühne, erreicht endlich seine richtige Position, rechts neben Charlotte MUSIK AUS Mittler Tschuldigung. Verkehr. Charlotte enthüllt Statue. Applaus. (AH 40) Es folgt eine verhältnismäßig lange und wortreiche Szene, in der der Hauptmann und Eduard im Krieg dargestellt werden. Die Kriegshandlungen und das Gespräch nach Eduards Rückkehr werden in einer Szene zusammengezogen. Während die Männer sich wie in Kampfhandlungen über den Boden rollen, erklärt Eduard dem Hauptmann seine Pläne, Ottilie zu heiraten, und versucht den Hauptmann davon zu überzeugen, eine Verbindung mit Charlotte einzugehen.Durch diese Folge der Szenen wird der Konflikt betont, indem nacheinander gegenläufige Pläne der Figuren dargestellt werden. Die nächste Szene stellt die Begegnung zwischen Eduard und Ottilie dar, bei der es zu „ [tiefen] Küsse[n] “ (AH 44) zwischen beiden kommt. Ottilie 236 In der Oldenburger Inszenierung wurde die parodistische Wirkung verstärkt, indem die im Nebentext angegebene Verbeugung zum Publikum gewandt durchgeführt wurde. Der Bruch mit der vierten Wand des Bühnenraumes, der den vier Hauptfiguren sonst kaum erlaubt ist, wirkt dann komisch, weil die Verbeugung als Theaterzeichen das Ende jeder Aufführung markiert. 237 Albrecht Hirche wählte für seine Inszenierung eine Plastikfigur eines puppenhaft verniedlichend dargestellten Babys in der Größe eines erwachsenen Schauspielers. 228 <?page no="241"?> schickt Eduard weg, will erst das Einverständnis Charlottes abwarten. Im Gegensatz zur Verwirrung, die Ottilie daraufhin im Roman zeigt, wird sie hier freudig erregt dargestellt. Nachdem Eduard verschwunden ist, tanzt sie mit dem Kind auf dem Arm; dabei stürzt die Statue in die Grube. Die Handlung wird wiederum beschleunigt, indem Ottilie daraufhin sofort den Hauptmann zu Hilfe holt, der sich ja schon einmal als Retter von Ertrinkenden erwiesen hat. Die Episode um Ottilie und Eduard im Wirtshaus wird in die Dramatisierung nicht aufgenommen; die nächste Szene spielt bereits vor der aufgebahrten Kindsstatue. Während Charlotte in die Scheidung einwilligt und Ottilie schwört, sich umzubringen, falls ihre Ziehmutter dies wahr machen sollte, also der nächste Konflikt im Raum entsteht, beerdigt man - fast nebenbei - das Kind in der Grube. Anwesend ist auch Mittler. Nur Eduard ist nicht vor Ort, und so wird Mittler geschickt, um seine „ Gesinnungen “ (AH 46) zu erforschen. Der Hauptmann hofft auf eine Verbindung mit Charlotte, als diese von Scheidung spricht. Hier prallen endgültig die Hoffnungen, Vorstellungen und Versprechen der vier Beteiligten aufeinander. Diese Verwirrung, in der jeder andere Ziele verfolgt, muss sich im Folgenden lösen. Nun folgt im Roman ein überraschend schnelles Ende. Mit dem Tod Ottilies und Eduards geht die Handlung unaufhaltsam der Katastrophe zu. Die Dramatisierung übernimmt diese Beschleunigung in die Form: In einer temporeichen Szene werden beide Tode gezeigt, über intermediale Darstellungsmittel (vgl. Abschnitt 4.3.5) wird der Handlung Unaufhaltsamkeit zugeschrieben. Das Schlusswort des Stücks ist dem Grafen in den Mund gelegt; es entspricht dem Schlusswort des Romanerzählers, und angesichts der Figurengestaltung der Dramatisierung verwundert es ein wenig, dass nicht Mittler als letzter zu Wort kommt: „ So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder erwachen “ (AH 49). 4.3.3 Personal und Figurenzeichnung: Beziehungsmuster Das Personal der wahlverwandtschaften nach goethe ist gegenüber dem Roman stark zusammengestrichen. Im Zentrum stehen die vier Hauptpersonen des Experiments: Eduard und Charlotte als Besitzer des Landgutes befinden sich von Beginn an auf der Bühne, der Hauptmann und Ottilie kommen wenig später als Gäste dazu. Ebenfalls übernommen wurden der Graf und die Baronesse, die in Roman und Dramatisierung jeweils zweimal zu Besuch kommen. Auf der Bühne stehen also letztlich drei Paare, deren Konstellation 229 <?page no="242"?> bekanntlich wechselt. Als weitere Figur wurde Mittler übernommen. Durch die Beschränkung der dramatis personae auf die drei Paare und Mittler werden große Teile der gezeichneten adligen und dörflichen Umwelt ausgeblendet: In den Roman geht diese zum Beispiel durch die gastierende Gesellschaft auf dem Landgut ein, darunter so zentrale Figuren wie Charlottes Tochter Lucinde, der Architekt, Ottilies Lehrer, die Bettler des Dorfes, die kleine Nanny und die übrige Schar der Dorfkinder. Die Dramatisierung stellt so die Beschreibung von Lebenswelten zugunsten einer starken Fokussierung der vier Hauptfiguren zurück. Hans Jürgen Geerdts teilt die Nebenfiguren des Romans in drei Gruppen auf, von denen eine die Vertreter der „ klaren Vernunft “ (er zählt dazu den Architekten, den Lord und seinen Begleiter), die zweite Mittler sowie Graf und Baronesse als ironisch gezeichnete Vertreter des Banalen fasse und die dritte Gruppe mit Luciane und Nanny das „ Elementarisch-Triebhafte “ verkörpere. 238 Die eindeutige Zuordnung von ideellen Prinzipien zu einzelnen Figuren mag dabei (gerade im Falle der zweiten Gruppe) ein wenig kurz gegriffen sein, doch es fällt auf, dass Hirche (wohl ohne Kenntnis des Aufsatzes) die zweite Gruppe als einzige Nebenfiguren komplett übernimmt. Den Grund dafür offenbart die Studie ebenfalls: Mittler sowie dem Grafen und der Baronesse komme eine „ Werkfunktion “ 239 zu; sie würden die Handlung verzögern (Mittler) beziehungsweise diese vorantreiben (Graf und Baronesse). Die Dramatisierung offenbart in der Reduktion der Handlung auch wesentliche Funktionen der Figuren. In der Tat treiben Graf und Baronesse die Handlung voran - häufig allerdings ohne ihr eigenes Zutun. Vielmehr entzünden sich an ihnen Charlottes Angst und Eduards Hoffnung. Sie sind in diesem Sinne „ Katalysatoren “ der Handlung, 240 treiben den ‚ chemischen Prozess ‘ voran, ohne selbst daran teilzunehmen. Hirche sieht den Grund dafür vor allem darin, dass der Graf in seiner Beziehung zur Baronesse eine Projektionsfläche für Eduards Wünsche bezüglich Ottilie darstellt. Zu ergänzen wäre, dass das Paar den Konflikt verschärft, da es für Charlotte im Gegenteil ein abschreckendes Beispiel ist. 241 Diese handlungstreibende Wirkung erkennen im Roman sogar die Figuren selbst. Mittler warnt Eduard und Charlotte vor dem unkonventionellen Paar: „ [. . .] und nehmt Euch in Acht: sie bringen 238 Hans Jürgen Geerdts: Goethes Roman ‚ Die Wahlverwandtschaften ‘ . Die Hauptgestalten und die Nebenfiguren in ihrer Grundkonzeption. In: Goethes Roman ‚ Die Wahlverwandtschaften ‘ . Hrsg. v. Ewald Rösch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975. S. 272 - 306. Hier S. 302. 239 Ebd. S. 301 240 So bezeichnet Albrecht Hirche sie in einem Interview. „ Fang auf Seite 80 an! “ S. 7. 241 Vgl. dazu den Abschnitt zu Graf und Baronesse und ihrer unkonventionellen Beziehung in 4.3.1. 230 <?page no="243"?> nichts als Unheil! Ihr Wesen ist wie ein Sauerteig, der seine Ansteckung fortpflanzt “ (JG 338). Mittler hingegen scheint die Handlung trotz seiner Bemühungen kaum aufzuhalten. Im Gegenteil bewirken seine Handlungen meist das Gegenteil. Wo er das Ehepaar zu binden versucht, bringt er gerade Trennung und Tod. Als einzige Figur der Dramatisierung, die nicht Teil eines Paares ist, steht Mittler außerhalb der gesellschaftlichen Zusammenhänge, blickt von außen auf Liebe und Ehe, verfügt über einen distanzierten Blick. Die Figurenkonstellation offenbart damit seine Haltung zum Geschehen. Die Distanz hat Hirche durch verschiedene Mittel stark herausgearbeitet. Am auffälligsten ist die Platzierung Mittlers als ‚ Vermittler ‘ zwischen der Fiktion auf der Bühne und dem Publikum. Wie der Leser des Romans darf also auch der Zuschauer im Theater „ auf Namensbedeutungen abergläubisch “ (JG 285) sein: Mittler, der Therapeut und Freund des Romans, wird zum Erzähler und Kommentator der Handlung. In der Dramatisierung wechselt er zwischen seiner Funktion innerhalb der Handlung (die hier eher gering ausfällt) und einer Erzählerrolle, die nicht nur annähernd allwissend die Ereignisse auf der Bühne erklärt und begleitet, sondern darüber hinaus auch die Rampe überschreitet. Mittler ist sich nicht nur der (Bühnen-)Handlung und ihres Ausgangs bewusst, wenn er erklärt: „ Wunderbar! Ein schöner Abend. Entspannt gleiten wir in die Katastrophe “ (AH 27), sondern er kennt darüber hinaus auch die medialen Bedingungen ihrer Aufführung: „ Und Sie, liebes Publikum - haben sich jetzt eine Pause verdient. (Saallicht - Tanzteemusik - Mikro) Ein Gläschen Sekt, Kaffee [. . .] “ , so komplimentiert er das Publikum hinaus in die Pause. Er regt Pausengespräche an, moderiert und animiert, wenn er fragt: „ Wer hat schon mal das böse deutsche Wort ‚ Lebensabschnittsgefährte ’ im Munde geführt? Hand hoch! “ , und macht sich zum Komplizen des Publikums, indem er erklärt: „ Gut, wir werden uns ja gleich wiedersehen! Schöne Pause! Ach was, ich komm einfach mit und wir plaudern! “ (AH 28) So sehr Mittler auch dem Publikum als Vermittler der Handlung zur Seite gestellt wird, so sehr bleibt er doch uneindeutig in seiner Charakterzeichnung. Damit entspricht er der Romanfigur, die ebenfalls seltsam zwischen verschiedenen Rollen changiert. Mittler rückt schon dadurch in eine zentrale Position, dass ihm in der Dramatisierung das erste Wort zukommt. Bevor er sich der Bühnenhandlung widmet, führt Mittler sich selbst als Figur der Handlung ein. Der Gebrauch eines Mikrophons kennzeichnet dabei den Wechsel von der Bühnenhandlungsauf die Metaebene: „ Ich bin der Mittler! Solange ich vermittel, hat sich noch kein Ehepaar scheiden lassen “ (AH 1). Mittler ist Selbstdarsteller, wirkt teilweise wie ein Showmaster oder Animateur, wenn er das Publikum anspricht. Innerhalb der Bühnenhandlung ist er 231 <?page no="244"?> eher Eheberater denn Freund der Familie, als welcher er im Roman bezeichnet wird: „ Ihr kennt meinen Tagessatz “ (AH 2). Wo Mittler als Psychologe spricht, muten seine Theorien populärwissenschaftlich an (vgl. AH 27). Gleichzeitig ist Mittler als Erzähler nicht unantastbar und kann die Bühnenhandlung nicht lenken. Er wird sogar zum Gespött der anderen Figuren, wenn er sich in seiner Rede im Bild vergreift. Als er über den Grafen und die Baronesse sagt: „ Ihr Wesen ist wie Sauerteig “ , muss er sich die skeptische Rückfrage: „ Sauerteig? “ (AH 18), gefallen lassen. Denn dieser Vergleich gehört heute nicht mehr zum gängigen Beschreibungsvokabular für das Wirken von Menschen und ihren Worten. 242 Kurz darauf hält Mittler laut seine Rede über die Ehe. Charlotte mahnt ihn zur Mäßigung, man werde ihn hören, woraufhin Mittler brüllt: „ Man soll mich hören, bis nach Holland soll man mich hören “ (AH 19). Er weist mit dem Finger dorthin, wo er Holland vermutet. Die Anwesenden korrigieren ihn und weisen in die Gegenrichtung. Eine weitere Facette Mittlers ist seine Erscheinung als schwarzer Reiter. Eduard, Charlotte und der Hauptmann beobachten in Szene 16 des ersten Teils teichoskopisch einen Reiter, der sich ihnen nähert. Sie können zunächst nicht erkennen, um wen es sich handelt. So witzeln sie über Don Quichotte 243 und kommen schließlich auf Heinrich von Kleist. Die Erwähnung Kleists beim Anblick von Mittler auf seinem geschundenen Pferd bezieht sich vermutlich auf die Novelle Michael Kohlhaas. Durch diesen intertextuellen Verweis erhält das Todesmotiv wiederum Eingang in die Dramatisierung. Kohlhaas, der in der Novelle nicht nur seine Frau verliert, sondern auch selbst zum Tode verurteilt und enthauptet wird, bezeichnet sich selbst pathetisch als „ Statthalter Michaels, des Erzengels “ . 244 Auch über die Beschreibung des 242 Der Vergleich mit Sauerteig stammt aus dem Romantext. Mittler greift hier eine zur Entstehungszeit der Wahlverwandtschaften populäre biblische Metapher auf, nach der im positiven Fall das Evangelium als Sauerteig wirke, einen Menschen erneuere und sich die Lehre über diesen weiter fortsetze. Im negativen Fall könnten Fehllehren bewusst mit intriganter Absicht den Menschen eingegeben werden und sich ebenfalls wie Sauerteig weiterentwickeln. Die Popularität demonstriert Zedlers Universallexikon, das diesem Stichwort einen Artikel von beinahe acht Spalten widmet. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Leipzig: Zedler 1732. Sp. 323 - 230. Zitiert nach der Online-Ausgabe der Bayerischen Staatsbibliothek: www.zedler-lexikon.de/ index.html. 243 Damit verweisen sie auf eine komische Seite Mittlers. Mit dem Hinweis auf Don Quichotte vergleichen sie Mittler mit einem Weltfremden, der als Verrückter dargestellt wird und nach Idealen lebt, die der Zeit nicht mehr angemessen sind. 244 Der Erzengel Michael gilt im christlichen Glauben als Wächter des Eingangs zum Paradies. Nach den frühchristlichen Theologen wird er als Seelenwäger und Seelengeleiter ins Jenseits dargestellt und taucht dadurch häufig in der Totenliturgie 232 <?page no="245"?> Aussehens der Figur wird Mittler als Reiter des Todes erkennbar: "Kapuze. Schwarz. Das Pferd, es schäumt! " (AH 17) Diese Deutung Mittlers als Todbringer kommt seiner Rolle im Roman nahe: Dort verursacht er unbeabsichtigt zunächst den Tod des alten Pfarrers, dann Ottilies Tod. 245 In der Dramatisierung fehlt zwar die Handlung um den alten Pfarrer ganz und Ottilie stirbt, nachdem Eduard die Gebote vorgelesen hat. Doch Mittler ist es, der Eduard zur Lektüre drängt. Er stellt außerdem den Tod sowohl Ottiliens als auch Eduards fest (AH 48 f.). Hirche stützt das Todesmotiv noch weiter: In der Dramatisierung reitet Mittler, dargestellt in Teichoskopie, sein Pferd zu Tode - ohne allerdings die Grausamkeit seiner Tat zu erkennen. Er wird durch solches Verhalten als wahnsinnig 246 dargestellt, als jemand, der achtlos ‚ über Leichen geht ‘ , wenngleich es sich hier nur Pferdeleichen handelt. Die starke Fokussierung der Handlung auf die Entstehung der Paarbeziehungen, somit auf das Experiment selbst, wirkt sich insbesondere auf die Figurenzeichnung Ottilies aus: Die Passagen speziell des zweiten Romanteils, die sich intensiv mit Ottilie beschäftigen und sie als eine Art Heilige zeigen, fehlen fast vollständig. Hierzu zählen insbesondere die Ausmalung der Kapelle mit Ottilies Gesicht, die Tableaux Vivants, in denen Ottilie als Maria auftritt, sowie die Verehrung als Heilige nach ihrem Tod, ausgelöst durch die Wahnvorstellung der kleinen Nanny. Das Drama verzichtet gerade auf diejenigen Figuren, die Ottilies Beschreibung im Roman in Richtung eines Heiligenbildes rücken, sodass eine wesentlich profanere Sicht auf Ottilie gegeben wird. In der Dramatisierung erscheint sie stärker als überspannte Kranke, manchmal gar als pubertierendes, mal schwärmerisches, dann wieder dreist vorwitziges Mädchen. Als Mittler in der siebten Szene Ottilie vorstellt, streckt sie die Zunge heraus, rückt sich die Brust zurecht und schielt ins Publikum (vgl. AH 7). Sie ahmt lachend Charlottes Ermahnungen nach (AH 38). Ottilie ist hier nicht das zarte, engelsgleiche Wesen, das man sich nach den Beschreibungen des Romans vorzustellen geneigt ist. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Bezeichnung Ottilies als Heilige im Roman vor allem der Wahrnehmung verliebter Männer entspringt, außerdem der Phantasie des Mädchens Nanny, das in der Heiligsprechung den einzigen Weg sieht, um die eigene Schuld am Tod Ottilies ertragen zu auf. Vgl. Michael, Erzengel. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. 3. Bd. Hrsg. v. Engelbert Kirschbaum u. a. Rom/ Freiburg u. a.: Herder 1971. Sp. 255 - 265. 245 Mittler kann auch im Roman als „ Totengeleiter “ identifiziert werden. Heinz Schlaffer erläutert: „ Bei allen Todesfällen des Romans spielt er eine bedeutsame Rolle. “ Heinz Schlaffer: Namen und Buchstaben in Goethes ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . In: Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur. Hrsg. v. Norbert W. Bolz. Hildesheim: Gerstenberg 1981. S. 211 - 229. S. 219. 246 So beschimpft auch Eduard in dieser Szene Mittler als Wahnsinnigen (AH 20). 233 <?page no="246"?> können. Die Dramatisierung, die Ottilie direkt zeigen muss und nicht eine Beschreibung durch die Augen anderer vornehmen kann, entscheidet sich für ein deutlich anderes Bild Ottilies. So wird auch Ottilies Tagebuch in stark ironisierter Form in die Dramatisierung aufgenommen. Gleich nachdem Ottilie erfahren hat, dass Charlotte schwanger ist, spricht sie sich bei Mittler aus. Sie erklärt, ein Gedicht geschrieben zu haben: „ Es ist Ihnen sicherlich peinlich, wenn ich das jetzt hier vortragen würde “ (hier und im Folgenden AH 36). Mittler entgegnet: „ Nein, nein, machen Sie nur, . . .ich kann ja rausgehen, . . . wenns. . . “ . Ottilie bittet ihn, nicht zu lachen. Es handelt sich um den Schlussabsatz einer Tagebucheintragung, wie er im Roman abgedruckt ist: Das Jahr klingt ab. Der Wind geht über die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen. Nur die roten Beeren jener schlanken Bäume scheinen uns noch an etwas Munteres erinnern zu wollen, so wie uns der Taktschlag des Dreschers den Gedanken erweckt, dass in der abgesichelten Ähre so viel Nährendes und Lebendiges verborgen liegt. . . Mittler geht tatsächlich, als Ottilie erst wenige Sätze zitiert hat, und „ reitet grußlos davon “ (AH 36). Auch wenn Ottilie hier eher pubertierendes Mädchen als Heilige ist, gibt es doch eine Gemeinsamkeit in ihrer Darstellung in Roman und Drama: Sie scheint nicht recht in die Lebenswirklichkeit zu passen. Die „ Maximen und Sentenzen “ (JG 418), die Ottilie im Tagebuch niederschreibt, kommentiert der Erzähler des Romans mit dem Nebensatz, sie habe wohl das meiste aus „ irgend eine[m] Heft “ abgeschrieben; auch hier werden also Ottiliens Aufzeichnungen nicht allzu ernst genommen. In Hirches Dramatisierung werfen sich die Baronesse, der Graf und Ottilie die Sätze entgegen. Durch die Verteilung des Textes auf mehrere Figuren bilden sich neue Schwerpunkte: Ottilies Äußerungen zur Leidenschaft spiegeln deshalb keine unterschiedlichen Standpunkte mehr, sondern ihr sind nun vor allem die kritischen Bemerkungen in den Mund gelegt, die sie angesichts des ‚ Affentanzes ‘ der Baronesse äußert. Die positiven Aussagen zu diesem Thema kommen vor allem von Seite des Grafen. Den Sentenzen wird die Ernsthaftigkeit entzogen, indem sie vom (lasterhaften und vergnügungssüchtigen) Paar Graf und Baronesse vorgetragen werden. Ottilies Leitsätze und Reflexionen werden durch den neuen Kontext zu einer Plauderei und damit ironisiert. 247 247 Die (selbst-)reflexive und poetologische Dimension und die Reibung zwischen poetischem und wissenschaftlichem Diskurs gehen dadurch allerdings verloren. Gerhard Neumann verweist auf diesen Zug von Goethes Roman, der „ mit allen in der Schreibkultur zur Verfügung stehenden Redeformationen experimentiert, um den sich immer wieder entziehenden Transfer zwischen Wissen und Erzählen auf eine 234 <?page no="247"?> Die ambivalente Darstellung Ottilies im Roman, die diese zwar im Handlungsverlauf in die Nähe einer Heiligendarstellung rückt, Zweifel an diesem Bild aber bestehen lässt, wird nicht durchgehalten. Der Zwang der Bühne, Ottilie direkt zu zeigen, bedeutet auch den Zwang zur Entscheidung für eine der beiden möglichen Deutungen. Die Dramatisierung entschließt sich, der Darstellung Ottilies als Heilige nicht zu folgen. Die im Roman betonte Entsagung Ottilies tritt somit in den Hintergrund. Sie scheint kein glaubhaftes Motiv für das Jahr 2006 zu sein. Das Romantische wird durch Komik relativiert: so zum Beispiel, wenn Ottilie stürzt, als sie Eduard die Abschrift bringt, und sich die Zettel über die Bühne verteilen (vgl. AH 29). Die Beziehung zwischen Eduard und Ottilie ist wie im Roman keine gleichberechtigte und vermag aus diesem Grund (insbesondere durch den Altersunterschied) heutzutage mehr zu verstören als durch den Ehebruch, der 1809 wohl weit provokanter 248 wirkte. Auffällig stark erlebt Ottilie in der Dramatisierung den Konflikt zwischen Eduard und Charlotte sowie die Versöhnungsversuche Mittlers konkret mit. Ottilie hört viel, steht in Streitszenen im Hintergrund und ist optisch präsent, wenn über sie gesprochen wird. Damit erscheint sie auch als Objekt der Handlung, das Über-sie-Reden wird direkter erfahrbar (vgl. AH 16, 32, 34). Auch Eduards Drängen wird in der Dramatisierung betont. So wirft während der Grundsteinlegung nicht Ottilie das Medaillon mit dem Bild ihres Vaters in die Grube, wie es der Roman vorgibt, 249 sondern Eduard übernimmt dies (AH 15). Der symbolische neue, bisher unerhörte Weise zur Sprache zu bringen “ . Gerhard Neumann: Wunderliche Nachbarskinder. Zur Instanzierung von Wissen und Erzählen in Goethes ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . In: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . Hrsg. v. Gabriele Brandstetter. Freiburg i.Br.: Rombach 2003. S. 15 - 40. Hier S. 18, vgl. auch zusammenfassend S. 39 f. Die Dramatisierung übernimmt auch die Novelle in Form direkter Rede, die Briefe werden kaum thematisiert, das Vorlesen zwar praktiziert, aber auch durch die Aufführungssituation legitimiert. Die Vielfalt der Formen geht also zurück. Eine Überschreitung der Grenzen der Kunstform, wie Neumann mit Goethe die Anlage des Romans beschreibt (vgl. S. 17), geschieht in der Dramatisierung also weniger innerhalb des Kunstwerks, sondern vielmehr in der intertextuellen Beziehung zwischen Prätext und Adaption. 248 Nicht nur Wieland schilt bekanntermaßenden moralischen Umgang mit der Problematik. Goethe erklärt Friedrich Wilhelm Riemer im Dezember 1809 angesichts der vielen „ Philister-Kritiken “ , die den „ Kampf des Sittlichen mit der Neigung “ vermissen: „ Dieser Kampf ist hinter die Scene verlegt, und man sieht, daß er vorgegangen sein müsse. “ Zitiert nach: Erläuterungen und Dokumente. Johann Wolfgang Goethe. Die Wahlverwandtschaften. 2., durchgesehene und wesentlich erweiterte Ausgabe. Hrsg. v. Ursula Ritzenhoff. Stuttgart: Reclam 2004. S. 129. 249 Vgl. JG 333: Hier bringt Eduard die zaudernde Ottilie durch „ ein freundliches Wort “ dazu, die Kette mit dem Medaillon in die Grube zu geben. 235 <?page no="248"?> Akt des Losmachens von der Vaterfigur wird noch stärker als schon im Roman zum aktiven Ausschalten eines Nebenbuhlers durch Eduard. An anderer Stelle wirkt Ottilie überfordert von der Heftigkeit Eduards: Als dieser ihr Liebesgedichte vorliest, als letztes Bertolt Brechts Über die Verführung von Engeln, läuft Ottilie davon und hält sich die Ohren zu (vgl. AH 13). Mit der derben Sexualität des Gedichts vermag sie nicht umzugehen. Die Auswahl des Textes legt Eduards Wunsch nach Sexualität, nicht nach einer rein geistigen Art der Liebe offen. Die Angst der jungen Frau betont den Alters- und Erfahrungsunterschied zwischen Eduard und dem Objekt seiner Begierde. Die Darstellung Ottilies als Heilige ist hier im Engel zwar noch angelegt, die Profanisierung dieses Begriffs aber ebenso; Ottilie ist nicht ‚ unantastbar ‘ . Eduard wird wesentlich über seine Beziehung zu Ottilie charakterisiert, während seine Beziehung zu Charlotte von Beginn an vor allem durch Opposition gekennzeichnet ist (vgl. den folgenden Abschnitt zu Charlotte). Da sich die Konflikte durch ihre Aussprache auf der Bühne verstärken, sind die anfängliche Wunschehe und die Idylle der Zweierbeziehung auf dem Landgut nur noch schwer aus dem Text herauszulesen. Vom nächtlichen Gespräch mit dem Grafen über Charlottes Schönheit und über Eduards abenteuerliche, nächtliche Besuche bei der damals heimlichen Geliebten bleibt wenig zurück. Als der Graf ausführlich von Charlotte schwärmt, weiß Eduard nur zu entgegnen: „ Ich weiss “ (AH 26). Auch die Darstellung Charlottes weicht (wenngleich nicht so stark wie bei Ottilie) von ihrer Zeichnung im Roman ab. Dieser Eindruck entsteht durch den verschärften Konflikt mit Eduard, durch ihr direktes Ansprechen von Themen, die im Roman nur der Erzähler zusammenfasst oder kommentiert, und durch ihren strengen Umgang mit Ottilie. Charlotte gewinnt unter anderem durch ihre direkten Vorwürfe gegen Mittler an Durchsetzungskraft: „ Sie wissen sicher, Mittler, und das ist jetzt nicht das erste Mal, dass ich sehr unzufrieden mit Ihnen bin. “ Sie wirft ihm Charakterschwächen vor, die im Roman nur indirekt durch den Erzähler 250 wiedergegeben werden: charlotte Ihr rasches Wesen mag manches Gute hervorbringen. Aber Ihre masslose Übereilung ist Schuld an manchem Misslingen. mittler All die Jahre, die ich . . . charlotte Niemand ist abhängiger von vorgefassten Meinungen als Sie. mittler Niemand. charlotte Eine Chance gebe ich Ihnen noch. Sagen Sie ihm das: . . . (AH 35) 250 „ Charlotte war diesmal, wie schon öfters, über Mittlern unzufrieden. Sein rasches Wesen brachte manches Gute hervor, aber seine Übereilung war Schuld an manchem Mißlingen. Niemand war abhängiger von augenblicklich vorgefaßten Meinungen als er. “ (JG 392) 236 <?page no="249"?> Der Effekt ähnelt ein wenig dem in der Darstellung Tonys in John von Düffels Buddenbrooks. Wurde dort durch Auslassung der Erzählerkommentare eine ernsthaftere Figurenzeichnung erreicht, so ist es in Charlottes Fall eine größere Dominanz durch direkte Aussprache statt Erzählerrede und Gedankenbericht. Beide Texte geben damit Mittelbarkeit auf und erreichen ein scheinbar moderneres Frauenbild. Die ‚ Emanzipation ‘ von der Erzählinstanz bringt sie den heutigen Rezipienten näher. So wird vor allem der Konflikt zwischen Charlotte und Eduard deutlicher herausgestellt als in der Vorlage: Zentral ist hier das Streitgespräch nach der Feier von Ottilies Geburtstag. Schon im Roman ist dies der Moment der klarsten Aussprache zwischen den Eheleuten. Die Regieanweisung gibt für das Spiel Charlottes den Ton als „ scharf “ (AH 32) an, was deutlich macht, wer das Gespräch forciert. Eduard weicht vornehmlich aus, schlägt vor, abzuwarten. Durch einige wenige Veränderungen in der wörtlichen Rede gewinnt die Unterhaltung gegenüber dem Roman an Härte. So erwidert Eduard auf die Frage: „ Kann Ottilie glücklich sein, wenn sie uns entzweit! wenn sie mir einen Gatten, seinen Kindern einen Vater entreißt! “ (JG 375), im Prätext: „ Für unsere Kinder, dächt ich, wär gesorgt “ . Diese Äußerung wird in der Dramatisierung durch eine veränderte Formulierung zu einer völligen Absage an die Familie zugespitzt: „ Für deine Kinder habe ich ja wohl gesorgt “ (AH 33). Im weiteren Verlauf des Streitgesprächs geht Eduard nicht einmal zum Schein auf Charlottes Vorschlag, Ottilie zu entfernen, ein. „ Nichts weiß ich - verdammt noch mal - du blöde. . .! “ , versucht er zu entgegnen, woraufhin Charlotte parataktisch klar macht, dass sie die Entscheidung bereits getroffen hat: „ Es ist alles vorbereitet. Sie wird uns verlassen. So. Es ist spät. Schläfst du wieder drüben? “ (AH 33) Schon der Prätext verrät, dass Charlotte in der Ehe die deutlicheren Worte findet. Wie wenig Eduard seiner Frau entgegenzusetzen hat, erwähnt die Erzählinstanz des Romans in einem Nebensatz: Eduard vermag „ die offne reine Sprache seiner Gattin nicht zu erwidern “ (JG 375). Charlotte beendet das Gespräch; sie bedarf nicht Eduards Zustimmung, um handeln zu können. Im Gegensatz zum Roman spricht sie in der Dramatisierung klar aus, dass sie bereits ohne sein Wissen gehandelt hat. 251 Als Eduard darauf das Haus verlässt und Ottilie nach ihm fragt, zeigt sich sowohl Charlottes strenge Durchsetzungsfähigkeit als auch ihre Verletzung in der knappen Antwort. Von der zartfühlenden Art, mit der sie Ottilie im Roman Mäßigung predigt, ist hier nicht viel zu merken: 251 Bolz stellt fest, dass Charlotte im Roman aus Gründen der Kultiviertheit und Höflichkeit vieles unausgesprochen lässt. Vgl. Bolz, Die Wahlverwandtschaften. S. 172. Dieser Zug ist in der Dramatisierung nicht zu beobachten, ist in die Bühnendarstellung allerdings auch schwerer zu übertragen, bedarf er doch der internen Fokalisierung. 237 <?page no="250"?> ottilie Wo sind denn alle? charlotte Weg! ottilie Weg? Wann? Wohin? charlotte Du bleibst jetzt da! ! ! ! ! ! ! Charlotte ab. Ottilie einsam im Glaskasten. (AH 34) Als die Baronesse nach Charlottes Plänen für Ottilie fragt, zeigt sich, dass Charlotte daran bisher wenig gedacht hat: baronesse Und Ottilie? charlotte Ach, es wird für sie gesorgt werden. Irgendwie. (AH 40) Der Hauptmann erhält seine Charakterisierung vor allem über die Auszüge aus der Novelle, die er der Baronesse als seine Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte erzählt. Der Hauptmann ist der verlassene Bräutigam 252 und bleibt in dieser Zuordnung der gutgestellte, systematisch und vernünftig denkende Mann. Seine Taten, so die Rettung des Kindes und der Verzicht auf Charlotte, erhalten eine psychologische Motivierung durch das Geschehene. In der Dramatisierung erweist er sich als aufgeklärter, ordentlicher und später resignierender Charakter, der mit der Rettung des Kindes eine Tat vollbringt, die zum Ersatz für die Rettung der Braut wird. Deshalb kann er anschließend seinen Auftrag für erfüllt erklären und abreisen. Als Bauherr und Gartenplaner wird der Hauptmann vor allem in drei Szenen charakterisiert. Das erste Mal tritt er als solcher bei der Besprechung der Gartenpläne (vgl. AH 3) in Erscheinung, wo er apodiktisch über die Trennung von Leben und Geschäft doziert und außerdem durch seinen perfekten Plan überzeugt. Der zweite Auftritt als Planer zeigt den Hauptmann vor allem in Opposition zu Eduard, wenn dieser mit einem „ Edding “ - einem dicken Filzschreiber also - in den detailliert gezeichneten Plan des Hauptmanns malt (vgl. AH 12). Weiter übernimmt der Hauptmann die Rede bei der Grundsteinlegung (AH 15), die im Roman ein Maurer hält. Die Bühnenfassung stellt hier wiederum den Hauptmann in die Position des 252 Im Roman scheint er hingegen dem Nachbarsjungen zu entsprechen. Elisabeth Herrmann erklärt überzeugend und entgegen anderen Forschungsmeinungen, wie der Hauptmann bereits als Nachbar der Braut (und damit als deren Jugendliebe) eingeführt wird. Sie spekuliert, dass die zugrundeliegende Geschichte des Hauptmanns allerdings tragisch, also mit dem Tod der jungen Frau ausgegangen ist (aus Sicht Charlottes wird im Roman erläutert, dass die Geschichte nicht genau der Lebensgeschichte des Hauptmanns entspreche, sondern „ ausgeschmückt “ und nach der „ Phantasie eines geist- und geschmackreichen Erzählers “ verändert sei; JG 479). Dies würde in der Tat seine vorbeugenden Maßnahmen zur Rettung Ertrinkender erklären. Vgl. Elisabeth Herrmann: Die Todesproblematik in Goethes Roman ‚ Die Wahlverwandtschaften ‘ . Berlin: Schmidt 1998. S. 94 f. 238 <?page no="251"?> Belehrenden und des Machers. Eduard wird ihm als Schwärmer gegenübergestellt. Hirche betont somit die Gegensätzlichkeit der beiden Männer und charakterisiert sie über Kontraste. Zum Personal des Romans gehört außerdem Charlottes und Eduards Sohn, der im zweiten Teil geboren wird. Hirche präsentiert das Kind, das mehr als Retter der Ehe denn als eigenständiger Mensch erwartet wird, in seiner Inszenierung als übergroße Puppe. Verfolgt man im Roman die Hinweise auf den Umgang mit dem Nachwuchs, so stellt man eine deutliche Nichtbeachtung des Knaben fest. Ottilie liest, während sie mit ihm spazieren geht, Charlotte trauert nach dem Tod kaum um das Kind, Eduard lässt es an jeglicher Aufmerksamkeit für den Knaben fehlen und sieht dessen Tod als Fügung, „ wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre “ (JG 499), der Hauptmann sieht den Tod des Kindes ebenfalls recht nüchtern als notwendiges Opfer „ zu ihrem allseitigen Glück “ (JG 498). Der Name des Kindes wird nur bei seiner Taufe genannt, anonym wird es stets als „ das Kind “ bezeichnet. 253 Gleichzeitig sind die Hoffnungen und Befürchtungen, die in seine Ankunft gesetzt werden, von allen Seiten groß. So ist die Stellvertretung durch eine Statue, ein Gegenstand, der eher für etwas steht, als selbst zu sein, 254 eine interessante Interpretation der Figurenbeschreibung des Romans. Das Kind kann nicht ‚ sein ‘ , sondern nur ‚ für etwas stehen ‘ ; folglich wird es hier zum Requisit, es wird feierlich enthüllt (AH 40) - ein Akt, der der Einweihung von Kunstwerken und Gedenkstätten gleichkommt, was die ‚ Künstlichkeit ‘ des Kindes im Roman sowie seine Funktion als Mahnmal an glückliche Zeiten der Ehe zwischen Eduard und Charlotte illustriert. Die Kindsstatue bleibt als unleugbares Faktum auf der Bühne präsent, während Eduard dem Hauptmann seine Scheidung und die Legitimierung der Wahlverbindungen vorschlägt. Als die Rede auf den Sohn kommt, kann der Hauptmann Eduard das Kind wie ein Argument entgegenhalten, legt die Statue gar auf Eduard, der sich „ umständlich hervor[winden] “ muss (AH 42). Der argumentative Akt wird bebildert, das Kind wird konkret zur Belastung, zum erdrückenden Problem. Die Größe der Statue verweist zudem auf das Monströse des Sohnes, der nicht seinen Eltern, sondern Ottilie und dem Hauptmann ähnelt. 253 Exemplarisch hierfür JG 497. 254 David E. Wellbery erklärt für die Wahlverwandtschaften, wie das Begehren in Bilder verlagert werde, die allerdings durch eine „ ontologische Leere “ bestimmt würden. Im Bild sei der eigentliche Gegenstand abwesend: „ Deshalb werden in diesem Roman die Bilder als ‚ Denkmale ‘ klassifiziert: sie weisen auf den fürs Bildsein konstitutiven ‚ Tod ‘ des Gegenstandes hin. “ David E. Wellbery: Die Wahlverwandtschaften (1809). In: Goethes Erzählwerk. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler und James E. McLeod. Stuttgart: Reclam 1985. S. 291 - 318. Hier S. 300. 239 <?page no="252"?> Die gestrichenen Figuren - wie der Architekt, der Gehilfe, Luciane oder Nanny - treten nicht nur nicht auf, sondern werden auch kaum erwähnt. Es gibt also keinen Ersatz dieser Figuren durch Passagen, in denen über sie berichtet wird. Größere Menschenmengen lässt Hirche nicht durch Schauspieler darstellen, sondern nutzt vereinzelt andere Möglichkeiten: Zur Grundsteinlegung etwa kommen die Theatermitarbeiter auf die Bühne (vgl. AH 15). Souffleur und Techniker, Empfangsdamen und Feuerwehrmann wohnen dem feierlichen Akt bei. Auch das Publikum wird beteiligt: Die Baronesse sucht in der Menge nach einem potentiellen Partner für Ottilie, denn Ottilie soll wie im Roman verheiratet werden, um sie „ den Ehefrauen unschädlicher zu machen “ (JG 449). Während zu diesem Zweck im Roman der Gehilfe des Pensionats angeschrieben wird, muss in Hirches Fassung, in der der Gehilfe nicht auftritt, ein anderer Partner gefunden werden. Das kleine Personal bietet dazu keinen Ersatz, folglich wendet sich die Baronesse an das Publikum: baronesse Ottilchen, meine liebe kleine Prinzessin, kommst du mal. Ich spreche jetzt mit dem Publikum. Ich wende mich jetzt an alle jungen Burschen in diesem Raum zwischen 20 und 25 - höchstens 30, okay, jaaa nicht älter bitte. Gefällt euch Ottilie? [. . .] Ist sie nicht ein reizendes Mädchen? Jungs! Applaus! ! Jetzt! Heftig! Hola. Danke. Danke. Ich bin eifersüchtig. Ottilie, was sagst du? ottilie Ich weiss nicht, ich bin . . . [. . .] Vielen Dank. Das war sehr nett von Euch, Jungs. Aber ich bin mit Eduard. Baronesse. Charlotte. (Schreiend ab) baronesse War einen Versuch wert. (AH 39 f.) Den Bezug zu den Zuschauern suchen, wie oben erläutert, vor allem Mittler sowie der Graf und die Baronesse. Das Publikum ersetzt dabei jedoch keine einzelnen konkret handelnden Romanfiguren. Doch ein „ Publikum “ (hier und im Folgenden JG 457) gibt es auch im Roman. Anlässlich der Taufe des Kindes macht Mittler die gute Nachricht der „ übrigen mit unter mißwollenden und mißredenden Welt “ bekannt: „ Und freilich waren die bisherigen leidenschaftlichen Vorfälle dem Publikum nicht entgangen, das ohnehin in der Überzeugung steht, alles was geschieht, geschehe nur dazu, damit es etwas zu reden habe “ . Der Kunstcharakter des Geschehens und eine Rezeptionssituation werden somit auch im Prätext vorausgesetzt, bleiben allerdings innerdiegetisch und deuten damit eine Metaebene nur an, die im Bruch der vierten Wand (als Aufführungskonvention im Theater) vollends ausgeschöpft wird. 240 <?page no="253"?> 4.3.4 Symbolische Strukturen im Roman, im Drama und auf der Bühne Die Wahlverwandtschaften Goethes sind durchzogen von einem starken Netz aus Symbolen. Schon die Chemie, die den Titel stiftet, wird zur Trope, die die gesamte Handlung umschreibt. Emil Staiger warnt geradezu vor den „ Hintergründigkeiten “ des Werks: Zugleich bedient er [Goethe] sich aber auch weit mehr als früher der Möglichkeit, die zartesten und heikelsten Bezüge nicht eigentlich auszulegen, sondern in Dingen, Gebrauchsgegenständen, Landschaftsmotiven anzudeuten. Das führt so weit, daß bald von keinem Baum, keinem Schmuck mehr die Rede sein kann, ohne daß wir veranlaßt würden, Hintergründigkeiten zu wittern. 255 Außerdem wird der Roman durch ein Geflecht an Leitmotiven in sich gebunden, von denen am deutlichsten das Todesmotiv 256 sowie das Motiv der Landschaftsgärtnerei hervortreten. Im Bereich der Symbole fallen besonders die Platanen auf, weiter die Teiche (damit zusammenhängend Bachläufe, das Ufer und der Kahn), Glas, Medaillon sowie diverse Kästchen und Koffer als symbolische Gegenstände. Ottilie wird selbst zur Heiligen, zum Bild verklärt und geht damit in den Bereich des Symbolischen ein. Wort, Bild und ‚ Natur ‘ stehen in einem komplexen Verhältnis, was sich im Verlauf der Rezeptionsgeschichte des Romans in den zahlreichen Interpretationsweisen zu diesem Aspekt gezeigt hat. Die Positionen ähneln sich aber darin, dass sie das Symbolische selbst, das Bildwerden der Gegenstände, als Thema des Romans behandeln. 257 255 Emil Staiger: Goethe. Bd. 2. 1786 - 1814. Zürich/ Freiburg i.Br.: Atlantis 1956. S. 477 f. 256 Anhand des Todesmotivs zeigt Elisabeth Herrmann auf, wie die symbolischen Gegenstände Vorausdeutungen geben, den Tod als Motiv von vornherein im Text präsent halten, aber auch „ zu Chiffren für innere Zustände und Verhältnisse “ (S. 80) werden. Ein Motiv könne dabei unterschiedliche Konnotationen tragen, wie Herrmann unter anderem am Beispiel des Wassers erläutert, das erst in seiner Bedeutung für die Leidenschaften wieder „ kongruent “ werde (S. 86). Herrmann, Die Todesproblematik. Vgl. S. 74 - 86. 257 So argumentiert kunstästhetisch Heinz Schlaffer, über das Symbolsystem (er bezieht sich vor allem auf die Verbindung in den Namen der Hauptfiguren) würde den Figuren quasi mythologisch eine Rolle im Handlungsgang zugeschrieben. Schlaffer konstatiert: „ In der Struktur des Romans bildet sich das Verhältnis der sozialen und psychischen Wirklichkeit im Vordergrund zur Version einer dämonischen Natur im Hintergrund als Gegenüber von Stoff und Form ab. Insgeheim setzt sich Goethes Interpretation als Komposition, als ‚ Kunst ‘ gegen die dargestellte Realität durch [. . .]. “ Schlaffer, Namen und Buchstaben. S. 221. Stefan Blessin widerspricht dem explizit (S. 224 f.), indem er am Beispiel der Verklärung Ottilies zur Heiligen die jeweiligen Motivationen der Figuren nachzeichnet, die Tote zum Bild zu erklären (vgl. S. 224). Damit skizziere Goethe eine sehr weltliche Sicht auf die ‚ Heiligsprechung ‘ und damit auf den „ Prozeß der Sym- 241 <?page no="254"?> Ein solch komplexes Symbol- und Motivgeflecht, das vor allem in den Erzählerpassagen des Romans hergestellt wird, in ein Drama zu übertragen, ist keine einfache Aufgabe. 258 Hier macht die Dramatisierung Abstriche. Dennoch gibt es Verfahren der Übertragung in die Bühnenfassung. Mit der Statue des Kindes ist bereits eine Möglichkeit angesprochen, wie die Dramatisierung innerhalb ihres Darstellungssystems symbolische Deutungsebenen eröffnen kann. Für die wahlverwandtschaften nach goethe liegt es nahe, die Symbole und Motive in der direkten Rede zu erwähnen. Denn auch innerhalb des Romans deuten die Figuren selbst Geschehen und Gegenstände als Zeichen. „ Die Berechtigung mittelbarer Sinngebung wird im Werk selber problematisiert “ , erkennt Stefan Blessin. 259 Elisabeth Herrmann expliziert die Wirkung dieser innerfiktionalen Deutungen: „ Erst dadurch, daß die Personen Erscheinungen, Begebenheiten und sogar Gegenstände ins Zeichenhafte umdeuten, erhält das Geschehen eine scheinbar tragische Bestimmung. [. . .] Eine objektive Betrachtung der Geschehenszusammenhänge wird damit unterlaufen. “ 260 Als ambitionierter Zeichendeuter präsentiert sich im Roman vor allem Eduard, der in zahlreichen Ereignissen und Gegenständen Vorausdeutungen seiner Verbindung mit Ottilie sieht und darüber eine Vorbestimmung zu erkennen glaubt. Er diskutiert das scheinbare Zeichensystem mit bolbildung “ (S. 218). Gleichzeitig werde das Bild nicht hinterfragt: „ In Ottilie hat Goethe eine Gestalt geschaffen, in der Bild und Geschichte völlig gegeneinander ausbalanciert sind “ (S. 238). Stefan Blessin: Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne. Paderborn/ München u. a.: Schöningh 1996. Ähnlich erklärt auch David E. Wellbery (Wellbery, Die Wahlverwandtschaften) in einer semiotisch basierten Interpretation, wie die Entstehung der Bilder und ihre Deutung zum Thema des Romans werden. Er allerdings sieht in den Wahlverwandtschaften den Zusammenbruch der symbolischen Ordnung dargestellt, indem sich die Signifikanten aus dieser lösen und zum Fetisch würden (vgl. v. a. S. 293). Das Begehren sei auf das Bild und damit auf „ ein Totes “ gerichtet (S. 313), sodass sich es sich selbst dekonstruiere. Mit diesen drei Interpretationsansätzen ist die Argumentation zu diesem Thema selbstverständlich nicht erschöpfend dargestellt. Doch sie lassen die Wichtigkeit symbolischer Strukturen in den Wahlverwandtschaften erkennen, die nicht nur in der Gestaltung des Textes, sondern auch als dessen Thema und damit innerdiegetisch eine zentrale Rolle spielen. 258 Die Dramatisierungen von Effi Briest werden ich mit einem ähnlichen Schwerpunkt untersuchen, indem dort ein Andeutungssystem analysiert wird, das wesentlich über eingestreute symbolische Gegenstände, Orte und intertextuelle Verweise funktioniert (vgl. Kapitel 4.5). 259 Stefan Blessin: Erzählstruktur und Leserhandlung. Zur Theorie der literarischen Kommunikation am Beispiel von Goethes ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . Heidelberg: Winter 1974. S. 50. Er beobachtet: „ Es wird im Werk kein Ereignis geschildert, das nicht seitens der Romanfiguren von Interpretationen und Prognosen begleitet würde. Bedeutsam wird ein Fall dadurch, daß er nach Maßgabe eines vermeintlichen Kausalzusammenhangs Einsicht in den notwendigen Gang des Schicksals gewährt “ (S. 51). 260 Herrmann, Die Todesproblematik. S. 77. 242 <?page no="255"?> Mittler, der sich über den Aberglauben des Freundes ärgert. Auch die titelgebenden chemischen Prozesse überträgt Eduard selbst auf die Beziehung der Paare. Die Wahlverwandtschaften sind insbesondere in den Passagen, die Eduards Sicht wiedergeben, immer schon Selbstthematisierung von Zeichen und deren Deutung. Passagen dieser Art können relativ problemlos ins Drama übertragen werden. Seine Deutung der Zeichen erklärt Eduard dem Hauptmann in der Kriegsszene: Der Mittler brachte mir ein Schriftstück, aus dem einwandfrei hervorgeht, dass ich meine Platanen genau an dem Tag pflanzte, an dem Ottilie geboren wurde. Wahnsinn. Das ist noch nicht alles. Hör zu: Das Glas mit unserem Namenszug, du erinnerst dich, bei der Grundsteinlegung in die Lüfte geworfen, ging nicht zu Bruch. Irgendjemand - ein Gott, ich weiss nicht - fing es auf und es ist wieder in meinen Händen. Das soll mein Zeichen sein. (AH 41 f.) Auch die Anlage des Gartens wird direkt von den Figuren erwähnt, aber weniger stark von ihnen selbst gedeutet. Während im Roman verschiedene Arten des Landschaftsbaus einander gegenübergestellt oder Anlagen ausführlich erläutert werden, nutzt die Dramatisierung die Gartenplanung vor allem zur Figurenzeichnungen (wie oben in Bezug auf den Hauptmann erläutert) auf eine Weise, die handlungsfördernde Aspekte herausstellt: Die Gartenplanungen geben Anlass zum Streit, so zum Beispiel im ersten Konflikt zwischen dem Hauptmann und Charlotte sowie in der Diskussion um den Standort des Hauses. Andererseits ist damit ein Aspekt benannt, der auch im Roman eine große Rolle spielt: Die Parkanlagen erhalten ihre symbolische Bedeutung zwar durch polarisierende Gegenüberstellungen von Modellen, Landschaftsteilen und Gebäuden, doch auch entscheidend durch das Agieren der Figuren mit diesen Gegebenheiten. Der Raum erlangt seine volle Bedeutung erst durch das Spazierengehen in unterschiedlichen Paarungen, das Kartographieren oder den Gartenbau. Die Dramatisierung, die die Orte wesentlich über das Spiel etabliert (vgl. Abschnitt 4.3.1), überträgt auch deren symbolische und psychologische Bedeutung ins Körperliche der Figuren, wenn Ottilie beim Spaziergang balanciert, Eduard ihr über den Boden robbend durch die ‚ Natur ‘ folgt (vgl. AH 11), wenn in wechselnden Konstellationen an der Tischtennisplatte gespielt wird (vgl. AH 8 f. und 10) oder der Hauptmann den Raum zeichnet und konstruiert (vgl. u. a. AH 12). Ein weiteres Verfahren, das Symbolsystem des Romans in die Bühnenfassung einzubeziehen, ist die Darstellung durch konkret Sichtbares, also durch seine Umsetzung in Bühnenbild und Requisiten. Die leitmotivischen und symbolischen Aspekte insbesondere des Bühnenbilds wurden in diesem Kapitel schon angedeutet. Erwähnt seien hier noch einmal die Grube und das Glashaus als bedeutungstragende Teile des Bühnenbildes. Erstere wird als 243 <?page no="256"?> Baugrube genutzt, in der Eduard das Bild von Ottilies Vater ‚ begräbt ‘ , wird zum Teich, in dem das Kind ertrinkt, und wenig später zu dessen Grab. Die Grube trägt somit dazu bei, dass der Tod jederzeit auf der Bühne präsent ist. Sowohl sie als auch das Glashaus nehmen das Thema der Landschaftsgärtnerei auf, indem sie Assoziationen zur Baugrube und zum Gewächshaus zulassen. Unkompliziert gestaltet sich die Aufnahme kleinerer, symbolisch aufgeladener Gegenstände wie das Medaillon Ottilies. Es kann als Requisit ins Spiel integriert werden und ist sowohl als konkreter Gegenstand als auch in der Figurenrede präsent (vgl. AH 11). Abgesehen von der ständig präsenten Symbolik im Bühnenbild allerdings ist das Geflecht der Leitmotive und Symbole schon deshalb weniger komplex als im Roman, weil ihm im Dialog weniger Raum bleibt als in den umfangreichen Erzählpassagen des Prätextes. Die deterministische Grundstimmung aber kann auch auf andere Art ins Drama eingehen. Hier sind besonders intermediale Anleihen in der Geschehensdarstellung bedeutungstragend. 4.3.5 Filmische Erzählmittel In der Dramatisierung Hirches fallen immer wieder Erzählmittel auf, die sich am Medium Film orientieren. Damit sind keine Filmeinspielungen gemeint, sondern die Übernahme filmästhetischer Konventionen und Erzählformen in den Dramentext und die Bühneninszenierung. 261 Ein erstes Beispiel für eine filmtypische Struktur weist Szene 19 auf, in der der Graf rückblickend das glückliche Paar Eduard und Charlotte beschreibt: „ Aber Schatzi, sie haben ja beide sehr schöne Zeiten genossen. Wenn ich mir die Jahre zurückerinnere, da Charlotte und Eduard das schönste Paar der Stadt waren, mit Abstand. Da warst du noch gar nicht geboren “ (hier und im Folgenden AH 22). Parallel dazu wechseln Eduard und Charlotte auf der Bühne in eine „ Tanzhaltung “ . Der Graf ergänzt: „ Herr Hauptmann, wenn die beiden tanzten, waren alle Augen auf sie gerichtet “ . Die Erzählung wird entgegen der Chronologie und der tatsächlichen aktuellen Handlung mit Bildern in der Retrospektive 261 Irina Rajewsky bezeichnet eine solche Übernahme von Darstellungsmitteln als „ Systemkontamination “ (die im Folgenden beschriebenen Fälle genauer als „ Systemkontamination qua Translation “ ). Irina Rajewsky: Intermedialität. Tübingen/ Basel: Francke 2002. S. 124 - 135. Rajewsky hat die wohl ambitionierteste und sorgfältigste, inzwischen vermutlich auch populärste Kategorisierung der Formen intermedialer Bezüge vorgenommen. Den Begriff der ‚ Kontamination ‘ möchte ich hier deshalb zur Einordnung des Phänomens erwähnen, obwohl er pejorativ wirkt (aber ganz offensichtlich nicht in diesem Sinne gemeint ist). Ein anderer Begriff wäre der des Transmedialen, der jedoch in unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht wird und deshalb zur eindeutigen Definition (noch) wenig hilfreich ist. 244 <?page no="257"?> illustriert. Die filmische Konvention der Off-Stimme bei Analepsen wird hier aufgegriffen, aber auch parodiert: Denn der Graf als Off-Erzähler reagiert hier auf die Protagonisten seiner Erzählung (und nicht umgekehrt), die zudem, wenn er bei der Schilderung des Tanzes angekommen ist, bereits wieder die Ebene gewechselt haben und in der Gegenwart der Diegese streiten. Aber auch das Prinzip des Handlungssprungs (vgl. den Abschnitt zur Zeitstruktur in 4.3.1 sowie die Beispiele für Handlungssprünge in der Beschreibung des Handlungsablaufs in 4.3.2) zwischen den Szenen durch Blacks und durch einen unmittelbaren Anschluss kommt der Schnitttechnik des Films sehr nahe (AH 45). So werden bereits die Figuren zu Beginn eingeführt, indem ihr Name genannt wird und sie nach einem Black direkt zu sehen sind (vgl. AH 2). Besonders deutlich sind die Filmkonventionen aber in der Geburt des Kindes wiederzuerkennen: Die einsetzenden Wehen werden angespielt; nach einem Schnitt wird direkt das Neugeborene gezeigt. Es handelt sich also um eine Art dramatischen ‚ match cut ‘ . Das filmische Mittel signalisiert einen Zeitsprung, das zentrale Motiv aber bleibt erhalten. Ähnlich geschieht der Szenenwechsel zur Beerdigung des Kindes: In der vorhergehenden ‚ Einstellung ‘ erklärt Ottilie ihrer Tante, bei einer Scheidung würde sie ihr Vergehen „ in dieser Grube “ büßen. Sie versucht, das gibt der Nebentext an, in die Grube zu springen. Ein Black unterbricht diese Handlung. Die nächste Szene beginnt mit der folgenden Szenenanweisung: „ An der Grube: Die Kindsstatue wird beerdigt “ (AH 45). Der Ort bleibt konstant, der Zeitpunkt wechselt. Besonders entscheidend wird die dramatische Schnitttechnik in der Darstellung von Gedanken und Träumen. Die Dramatisierung löst so zum Beispiel das Problem der Darstellung des imaginierten Ehebruchs filmisch. Im Roman gibt der Erzähler in der entsprechenden Passage den nötigen Einblick: In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander. (JG 353) Dieser nur erträumte Kontakt muss als Knotenpunkt der Handlung in die Dramatisierung eingehen. Bei der sexuellen Handlung wird das Kind gezeugt, das dem Hauptmann und Ottilie ähnelt, also den jeweils herbeigesehnten Partnern. Hirche macht die Imagination wiederum über den Einsatz des Bühnenlichts erkennbar und vertraut dabei auf die Medienkenntnis der Rezipienten: Über Blacks werden die Paare in verschiedenen Positionen der Umarmung 245 <?page no="258"?> gezeigt - jedoch mit wechselnden Partnern, sodass die erträumten Partner für den Zuschauer sichtbar werden (hier und im Folgenden AH 27). Dieser sieht auf der Bühne zunächst Eduard mit Ottilie, nach einem Black dann wieder mit Charlotte: charlotte Hast du was? eduard Nö. Wieso? Anschließend wechselt die Position, Charlotte und der Hauptmann sind zu sehen, nach einem Black dann wieder Charlotte und Eduard: eduard Hast du was? charlotte Nö. Wieso? Da jeweils nur eine Figur ersetzt wird, ergibt sich eine Kontingenz der Szene, die so verdeutlicht, dass bestimmte Bilder nur in der Imagination eines Protagonisten bestehen. Diese Art der ‚ subjektiven Kamera ‘ ist im Film ein tradiertes Mittel der Gedankendarstellung und deshalb dem heutigen Publikum vertraut. Um die innerhalb der Diegese reale Handlung von der imaginierten zu trennen, sind die erträumten Einstellungen mit Musik unterlegt, während die Begegnungen zwischen Charlotte und Eduard ohne Musik gespielt werden. Auch dies entspricht einer filmischen Konvention zur Darstellung von Träumen und Gedanken. Das kurze Gespräch zwischen den Ehepartnern, das sich gespiegelt wiederholt und sehr klischeehaft anmutet, steht dazu im Gegensatz: Die prosaische Unterhaltung also begegnet der träumerischen, musikuntermalten Szene - ein durchaus filmtypischer Kontrast. Albrecht Hirche überschreibt die Szene mit der Regieanweisung „ Beischlaf zu viert “ (AH 27). Das Arrangement des imaginierten außerehelichen Geschlechtsverkehrs kehrt die komische Seite der Situation heraus. Grund für diese Wirkung ist neben der klischeehaften Unterhaltung und deren Wiederholung der Wissensvorsprung des Zuschauers gegenüber den Figuren. Dennoch enthält die Szene auch etwas Unheimliches und Provokatives. Wenn gerade die Frauen- und Geschlechterbilder, Liebes- und Eheauffassungen bei Dramatisierungen mit großem zeitlichen Abstand zur Romanvorlage oft historisch wirken, Skandale kaum mehr skandalös und Provokationen allzu selbstverständlich wirken, so ist mit diesem imaginierten Ehebruch über 200 Jahre nach dem Erscheinen des Romans noch (oder wieder) eine Angst thematisiert. Das Lachen, das die Szene auslöst, ist kein überlegenes Lachen über die Figuren, sondern eines, das aus der Verstörung erwächst. Auch das Kind, das entgegen medizinischem Wissen den nur imaginierten Sexualpartnern gleicht, hat bis heute nicht an Mons- 246 <?page no="259"?> trosität verloren. Das filmische Verfahren macht diese signifikanten Inhalte des Romans Die Wahlverwandtschaften also nicht nur im Drama darstellbar, es signalisiert möglicherweise auch durch das fremdmediale System eine Distanz, die den Gegenstand in ein diffuses Licht rückt. Der Wechsel ins Filmische akzentuiert die Szene außerdem als eine zentrale Passage. Expliziter noch wird die Schlussszene des Dramas durch eine fremdmediale Struktur gekennzeichnet. Denn hier bezieht sich die Darstellung, der discours, nicht nur auf ein anderes Medium, vielmehr wird die reine Handlungsdarstellung durch eine Metalepse gebrochen. Die filmische Konvention wird nicht bestätigt, sondern durch eine Störung, die das Medium selbst thematisiert, sichtbar gemacht. Die Dramatisierung nämlich wählt ein sehr eigenwilliges Stilmittel, um den raschen und unaufhaltsamen Niedergang, den Tod Ottilies und den Eduards zu zeigen. Die Protagonisten stehen zusammen, es wird aus der Bibel zitiert, Ottilie bricht auf Mittlers Worte hin: „ Du sollst nicht ehebrechen! “ , zusammen und stirbt. Eduard kündigt an, ihr wie ein Märtyrer (vgl. AH 49) zu folgen. Auch er bricht (ohne physischen Grund) direkt im Anschluss tot zusammen. Die Szene besteht aus rasch aufeinander folgenden Klappsätzen wechselnder Sprecher, die die Hektik der Situation widerspiegeln. Die Darsteller springen dabei immer wieder im Text zurück, können aber das Geschehen nicht aufhalten: „ Im folgenden Text dürfen drei Spieler an beliebiger Stelle im Text zurück springen - auch das Spiel wird ‘ zurückgespult ‘ . An der Stelle: Hauptmann: Zurück! Zurück! Springt selbiger sehr weit zurück im Text, dann wird durchgespielt “ (AH 47). In dieser Anweisung des Nebentextes belegt das Wort ‚ zurückspulen ‘ die Orientierung am Videorekorder. Wie in der Filmnutzung versuchen die Protagonisten, im Fortgang der Handlung zurückzuspringen. Doch bekanntermaßen ändert sich dadurch die Filmhandlung nicht. Nach der dritten Wiederholung stellt Mittler den Tod Eduards ebenso fest, wie er es vorher bei Ottilie getan hat. Die Rufe des Hauptmanns: „ Zurück! Zurück! ! “ (AH 49), helfen nicht mehr. In dieser Geschwindigkeit und allgemeinen Verwirrung geht die Handlung zu Ende. Es folgt Stille. Dieses Ende illustriert nicht nur die Unaufhaltsamkeit der Geschehnisse, wie sie auch der Roman zeichnet. 262 Benno von Wiese bestätigt Aussagen 262 Schlaffer weist die Gesetzmäßigkeit ausführlich im Symbolsystem aus Namen und Buchstaben nach. Das Palindrom Otto werde zum Zeichen der Unabänderlichkeit der Vorgänge. Vgl. Schlaffer, Namen und Buchstaben. Hier v. a. S. 214. Norbert Bolz erklärt anhand historischer Dokumente, Goethe selbst sei stolz gewesen auf die „ technisch induzierte ‚ Unaufhaltsamkeit ‘ , mit der das Geschehen auf die Katastrophe zutreibt; die leisen, unscheinbaren Übergänge ins Verhängnis “ . Bolz, Wahlverwandtschaften. S. 159. Albrecht Hirche folgt dieser ‚ Unaufhaltsamkeit ‘ eher plakativ denn leise und unscheinbar. 247 <?page no="260"?> Goethes zur „ Unerbittlichkeit des Ablaufs “ ; er sieht im Handlungsgang der Wahlverwandtschaften das „ Rasche und Unaufhaltsame der Katastrophe “ und die damit verbundene Nähe zur „ Erbarmungslosigkeit einer griechischen Tragödie “ . 263 Die Dramatisierung parodiert mit der intermedialen Referenz die ‚ Unaufhaltsamkeit ‘ der Romanhandlung und kommentiert auf diese Weise auch Ottilies Heiligen- und Eduards Märtyrertod, die im Jahr 2006 in der westlichen Kultur wenig glaubwürdig scheinen. 264 Doch unter dem Aspekt der Wiederholung der Ereignisse lässt sich mit der Anleihe aus der Videonutzung auch die Adaption als wiederholende Praxis thematisieren. 4.3.6 Intertextualität als Metaebene: die Selbstthematisierung der Literaturadaption Die Bühnenfassung nutzt neben diesen intermedialen Erzählmitteln an einigen Stellen eine weitere Art von Verweissystem: Sie stützt Stimmungen der Hauptfiguren, aber auch Leitmotive durch intertextuelle Bezüge zu anderen Werken und durch direktes Zitat. Es mag mehrere Gründe dafür geben: Vielleicht haben die Zitate den Zweck, die geringere Dichte an Motiven und Symbolen auszugleichen, sicherlich zeugen sie auch von Freude am Spiel mit intertextuellen Verweisen. Ein pragmatischer Grund liegt ohne Zweifel in der Notwendigkeit, den im Roman erwähnten Musikstücken, vorgelesenen Texten und Gedichten, die nicht weiter spezifiziert werden, auf der Bühne eine konkrete Darstellungsform zu geben. Ein Drama kann nur schwerlich behaupten, die Frauen sprächen Französisch, ohne ihnen einen Text dazu zu geben. Hirche lässt sie aus den Übersetzungen Goethe ’ scher Dramen zitieren, die so einen Verweis auf den Autor des Prätextes in die Dramatisierung tragen. 265 Naheliegend scheint es auch, Eduard aus den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes vorlesen zu lassen: 263 Benno von Wiese: Nachwort. In: Johann Wolfgang von Goethe. Werke. Bd. 6. Romane und Novellen I. München: dtv 1998. S. 672 - 688. Hier S. 679 und 680. 264 Insbesondere die Darstellung der Ottilie, die bei Hirche eher pubertierende Jugendliche denn Heilige ist, wird so (innerhalb der Logik der Dramatisierung) konsequent zum Abschluss gebracht, ohne die Figur nachträglich zu erhöhen. 265 Gerade in Dramatisierungen der Wahlverwandtschaften werden diese Leerstellen gern mit Texten Goethes ausgefüllt. So singt Ottilie in Silvia Armbrusters Adaption Wanderers Nachtlied. Silvia Armbruster: Wahlverwandtschaften. Nach dem Roman ‚ Die Wahlverwandtschaften ‘ von Johann Wolfgang von Goethe. Bremen: Litag Theater- und Musikverlag 1999 (UA: Teamtheater München am 29. 10. 1998, Regie: Silvia Armbruster). S. 58 und 61. Zwei Erklärungen scheinen naheliegend. Zum einen weisen die Wahlverwandtschaften die nötigen Leerstellen auf, in denen gelesen, vorgelesen oder musiziert wird und ein Text oder Musikstück konkret eingefügt werden muss. Zum anderen bieten sich in Goethes breitem und bekanntem Werk viele Texte unterschiedlicher (auch nicht- 248 <?page no="261"?> Die Erfahrung lehrt uns, dass die einzelnen Farben besondre Gemütsstimmungen geben. Von einem geistreichen Franzosen wird erzählt: il pretendoit que son ton de conversation avec Madam etoit change depuis qu`elle avoit change en cramoisi le meuble de son cabinet qui etoit bleu. (AH 4) 266 Ebenso müssen die Gedichte, die Eduard vorträgt, direkt zitiert werden. Hirche reiht drei Gedichte ganz unterschiedlicher Autoren und Epochen aneinander, von denen die beiden letzten ohne Markierung des Übergangs vorgetragen werden. Eduard gibt die drei Gedichte als seine eigenen aus und zitiert zunächst Mirco Bonnés Elf Pappeln, welches das Motiv der Erinnerung an frühere Zeiten und das Motiv der Baumreihe aufgreift, also an Eduards Platanen erinnert und damit den Konnex zum Symbolsystem des Romans herstellt. 267 Eduards einleitende Worte: „ Ich hab noch ein Älteres “ , (AH 14) wirken recht komisch, wenn er im Anschluss Eichendorffs Mondnacht zitiert, mit dem das Todesmotiv in seinen Vortrag gelangt. Das sanfte Gedicht geht in Brechts Über die Verführung von Engeln über, das eine derbe Körperlichkeit ausdrückt, die in dieser Weise im Roman nicht thematisiert wird. Die intertextuellen Verweise auf „ Don Quichotte “ und „ Sancho Pansa “ sowie „ Heinrich von Kleist “ (AH 17), die die Figuren als Beschreibungen Mittlers einsetzen (vgl. Abschnitt 4.3.3 zum Personal), charakterisieren zugleich die Sprecher als belesen. Ein weiterer Verweis auf Kleist lässt Schlüsse auf den Bildungsstand des Hauptmanns zu. Dieser setzt in seiner Erzählung der Novelle das Mädchen explizit mit der Titelheldin aus Kleists Penthesilea gleich (AH 23). Damit literarisiert er aber auch implizit seine eigene Lebensgeschichte, als welche die Novelle in der Dramatisierung erzählt wird. Der Umgang der Figuren mit der Literaturgeschichte erfolgt oft assoziativ oder gar spielerisch. Eduard und der Hauptmann beginnen ihr Pingpong-Spiel, indem sie mit dem Tischtennisschläger die Sportbewegungen nachahmen und dabei: „ Kloppstock, Kloppstock, Kloppstock! ! “ , rufen (AH 8). Sie machen aus dem Dichternamen ein Sprachspiel, indem sie ihn auf die Funktion des Schlägers übertragen. Für das anschließende Tischtennisliterarischer) Gattungen an, um diese Lücken zu füllen, die außerdem einem großen Publikum bekannt sein dürften, also als konkreter Verweis auf den Autor des Prätextes wahrgenommen werden. Das Zitat von Texten des Romanautors kann von den Rezipienten also als Metareferenz erkannt werden. 266 Seine Rede ist Goethes Farbenlehre entnommen, einem Text, der beim Publikum einen hohen Wiedererkennungswert besitzt; denn wenngleich die wenigsten den Originaltext im Gedächtnis haben dürften, so ist das Thema doch stark mit dem Namen Goethes verknüpft. Johann Wolfgang von Goethe: Zur Farbenlehre. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. v. Hendrik Birus, Dieter Borchmeyer u. a. Bd. 23/ 1. Hrsg. v. Manfred Wenzel. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1991. S. 248. 267 Das Gedicht Bonnés dürfte wenigen Rezipienten bekannt sein. Damit erscheint Eduards Aussage, es handele sich um sein eigenes Werk, zunächst glaubwürdig. 249 <?page no="262"?> spiel wird im Nebentext folgende ‚ Regel ‘ ausgegeben, durch die das Spiel zum Dichterquiz mutiert: Männer sagen an, wie viele Wechsel sie schaffen: E: „ 45 “ H: „ Schiller “ , H: „ 34 “ E: „ weiss nicht? “ H: „ Kleist “ , etc. nach Erreichen der Zahl, drischt Eduard den Ball in die Luft, er fällt zu Boden, wird von Ottilie zurückgebracht oder geworfen. (AH 8) Die Anzahl der Ballwechsel entspricht dem Todesalter eines Dichters, der Gegner muss diesen erkennen, erst dann beginnt das Sportspiel. Man misst sich folglich in zweierlei Disziplinen. Für den Rezipienten ergibt sich die Möglichkeit, diese Spielregel als solche zu erkennen. Der Effekt der Wiedererkennung und der Bestätigung von Bildungswissen tritt ein. Gleichzeitig wird durch die respektlose und ironische Form das Wissen als mechanisch veralbert. Die Kombination mit dem sportlichen Wettkampf entlarvt ein literarisches Kräftemessen. Auch das Todesmotiv erhält über die etwas makabere Spielregel erneut Einzug ins Drama. Durch die intertextuellen Verweise wird eine wichtige Funktion des starken Erzählers in Goethes Wahlverwandtschaften ersetzt: Beide Werke schaffen Distanz zu ihrer Geschichte und ihren Figuren. Sie legen Wert auf die Betonung der Fiktion und der literarischen Setzung, anstatt eine Figurenpsychologie zu schaffen, die allein zur Empathie aufruft. Der Rezipient befindet sich auf Ebene des Erzählers, wenn dieser seine Geschichte mit den Worten beginnt: „ Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter [. . .] “ (JG 271). Die Dramatisierung erlangt über die Intertextualität einen ähnlichen Effekt, betont doch auch sie den fiktionalen Charakter und damit die Konstruktion der Geschichte. Der legere Umgang mit den literarischen Anspielungen, die die Figuren besonders beim ‚ literarischen Pingpong ‘ zeigen, entspricht aber auch der Dramatisierung in ihrem Verhältnis zur Romanvorlage. Sie nimmt keine ehrfurchtsvolle Haltung dazu ein, versucht keine Abbildung des Romans, sondern scheint sich vielmehr ebenfalls in einem spielerischen Verhältnis zum Prätext zu sehen. Das Wissen um die Berühmtheit des Romans und seines Autors schwingt durch die intertextuellen Verweise im Drama mit, die eigene Rolle wird durch das Experiment mit dem Text und eine oft ironisch distanzierte Haltung dazu bestimmt. 4.3.7 Die Bühne als Ort des Experiments Albrecht Hirche lässt keinen Zweifel daran, dass der Zuschauer einem Experiment beiwohnt. Der experimentelle Charakter wird durch das Bühnenbild gestützt: Das erste Bild der Dramatisierung zeigt Charlotte und Eduard 250 <?page no="263"?> in einem Glaskasten auf der Bühne. Diese Kulisse legt gleichermaßen Assoziationen an ein Gewächshaus 268 oder das Terrarium eines Versuchslabors nahe. Auch die Anlehnung an ein Schaufenster oder einen Ausstellungskasten ist gegeben, sodass von vornherein eine Beobachtungssituation geschaffen wird, die einen Experimentcharakter, zumindest aber einen Ausstellungscharakter und den Eindruck starker Künstlichkeit vermittelt. 269 Während Eduard, Charlotte und der Hauptmann sowie Ottilie in hohem Maße in der Handlung gefangen sind und hauptsächlich innerhalb dieser agieren, 270 wenden sich der Graf und die Baronesse ans Publikum, sprechen dort einzelne an, bewegen sich sogar im Zuschauerraum (AH 20). Sie haben Einsicht in die Aufführungssituation. Dieser Rolle entspricht, dass der Graf eine Äußerung über die Komödie, die im Dramentext selbstreflexiv wirkt, direkt ans Publikum richtet: Wissen Sie, mein verehrtes Publikum, in der Komödie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen Wunsches [. . .]. Und dann? Mal ehrlich! In der Welt ist das anders; da wird hinten immer fortgespielt, und wenn der Vorhang wieder aufgeht - zack! mag man lieber nichts mehr davon sehen oder hören. (AH 20 f.) Damit thematisiert er gerade im Kontext der Aufführung noch weit stärker als im Roman die Ehekonstellation im Bühnengeschehen als Objekt der Anschauung. Auch Mittler steht in seiner Rolle als Erzähler über dem Geschehen. So sind die vier Hauptfiguren die einzigen, die die mediale Situation ihrer eigenen Geschichte nicht erkennen, die also die Handlung als Leben und absolut wahrnehmen, nicht als Aufführung. Als Objekte des Experiments haben sie keine Einsicht in dessen Bedingungen. Das Publikum hingegen erfährt sich durch den Bruch mit der Aufführungskonvention einer geschlossenen Bühnenhandlung, durch das Überspielen der Rampe und die 268 Damit wäre auch der Beginn des Romans, die Gartengestaltung, aufgenommen. 269 Eine solche „ Ästhetisierung des konkreten Ortes “ in einen „ abstrakten Raum “ erkennt Bolz schon im Roman. Den Kunstcharakter offenbart also auch der Prätext deutlich. Bolz, Wahlverwandtschaften. S. 170. 270 Ottilie spricht zweimal kurz in Richtung Publikum. Einmal wird dies möglich und nötig, weil die Baronesse dieses Gespräch initiiert, ein anderes Mal entspricht die Haltung der Situation, weil Ottilie ein Gedicht aufsagt (AH 36). Diese zweite Ansprache ans Publikum muss nicht zwingend als Metalepse gedeutet werden, weil auch innerdiegetisch Zuhörer gegeben sind (vgl. auch AH 4). Denkbar wäre eine Deutung, die Ottilies in der zweiten Hälfte der Handlung mit diesem Mittel als transzendentes Wesen zeichnet. Dagegen allerdings sprechen die Ironisierung der Szene (durch die abfällige Reaktion Mittlers) und die weitere Darstellung der Figur. Hier scheint die Dramatisierung inkonsequent oder - positiv ausgedrückt - stärker an der Bühnenpraxis orientiert als an einem durchgängigen Konzept, wodurch der Publikumskontakt wirkungsvoll eingesetzt werden kann. 251 <?page no="264"?> Thematisierung des Theaters mehrfach explizit als Zuschauer. So gehen Graf und Baronesse bei ihrer Suche nach dem idealen Paar durchs Publikum und sprechen dieses direkt als Publikum an: „ Sitzen Sie auch gut? Im Kleinen Haus. “ 271 Die Illusionswirkung der Handlung wird gebrochen, der Rezipient darauf aufmerksam gemacht, dass er nicht dem Leben, sondern einer künstlich geschaffenen Situation zuschaut. Er wird zum Betrachter eines (literarischen und theatralen) Experiments. 272 Die Dramatisierung als ein Experiment zu inszenieren, liegt angesichts der Romanvorlage nahe. Doch Ansätze mit dieser gleichen Interpretationsrichtung können unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Das Experiment der Wahlverwandtschaften kann auf der Bühne als sozialpsychologischer Versuch fortgeführt werden, der dann großen Wert auf die Figurenpsychologie legen wird, oder es kann als ästhetischer Versuch betrachtet werden, der das Spiel mit dem Prätext in den Mittelpunkt stellt. Beide Richtungen müssen sich nicht ausschließen. Während das soziale Experiment deutlich im Prätext angelegt ist, muss die Thematisierung des ästhetischen Experiments (auch wenn jede Dramatisierung sicher eines darstellt) nicht explizit erfolgen. Bei Hirche aber spielt dieser zweite Aspekt eine besonders große Rolle. In derselben Spielzeit, genau zwei Monate nach Hirches Uraufführung, feierte am 23. 11. 2006 eine andere Dramatisierung und Inszenierung in Freiburg Premiere, die ebenfalls den Experimentcharakter betont, aber dabei ganz andere Schwerpunkte legt. Zur Freiburger Inszenierung hat die Klassik Stiftung Weimar ein Gespräch mit der Regisseurin Felicitas Brucker und dem Dramaturgen Arved Schultze veröffentlicht: Sie legen ihre Wahlverwandtschaften als Vierpersonenstück und als bewusstes ‚ Selbstexperiment ‘ einer Gruppe an. Brucker lässt vier gleichaltrige Personen aufeinandertreffen, um „‚ gleichberechtigte ‘ Menschen “ mit ihren unterschiedlichen Ideen, Wertvorstellungen und Normen zu konfrontieren. 273 Die Spieler verließen in der Inszenierung teilweise ihre Rollen, um als Schauspieler dazu Stellung zu beziehen. So ist auch hier eine Ausstellungssituation gegeben und der Versuchscharakter wird herausgearbeitet. Der Schwerpunkt allerdings liegt 271 AH 20. Die Uraufführung fand im ‚ Kleinen Haus ‘ des Oldenburgischen Staatstheaters statt. 272 Das Verfahren der Distanzherstellung ähnelt Mitteln aus Brechts Konzeption des epischen Theaters. 273 ‚ Die Wahlverwandtschaften ‘ . Schauspiel nach dem Roman von Johann Wolfgang Goethe - Premiere am 23. 11. 2006 im Werkraum des Theaters Freiburg. Ein Gespräch mit der Regisseurin Felicitas Brucker und dem Dramaturgen Arved Schultze. In: „ Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft “ . Goethes ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . Hrsg. v. Ernst-Gerhard Güse, Stefan Blechschmidt u. a. Weimar: Klassik Stiftung Weimar 2008. S. 42 - 46. Hier S. 42 und 43. 252 <?page no="265"?> auf dem - sicher auf studentisches Publikum zielenden - Ausagieren von Diskursen in der Atmosphäre einer Wohngemeinschaft, während Hirche stärker das Experiment mit der Literarizität in den Mittelpunkt stellt. Trotz ähnlicher Anlage entstehen so mit den beiden Dramatisierungen sehr unterschiedliche Varianten der Geschichte. Denn als ein Text, in dem weit mehr steckt „ als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen im Stande wäre “ 274 , so Goethes eigene, selbstbewusste Einschätzung seines Romans, lassen Die Wahlverwandtschaften viel Raum für Adaptionen als wiederholende, produktive Rezeption und somit für mehrfaches ‚ Lesen ‘ . 4.4 Alfred Döblin und Frank Castorf: Berlin Alexanderplatz (1929 und 2001) Sie wollen überhaupt nichts wissen vom Theater. Und selbst wenn sie es nicht bemäkeln und selbst wenn sie das Theater lieben, und besonders das Renaissancetheater in der Hardenbergstraße, und wenn sie sogar zugeben, daß in diesem Stück eine Vereinigung von anmutigem Humor mit tieferem Sinn stattfindet, so wollen sie nicht daran teilnehmen, denn sie haben einfach heute abend was anderes vor. (Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, S. 191) Wie Albrecht Hirches Dramatisierung der Wahlverwandtschaften (vgl. vorhergehendes Kapitel) präsentiert sich auch Frank Castorfs Bühnenadaption 275 von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz 276 als Bühnenfassung im 274 Goethe laut Aufzeichnungen Eckermanns am 9. 2. 1829. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823 - 1832. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Eibl u. a. Abteilung II. Bd 12. Hrsg. v. Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999. S. 303. 275 Ich folge der Fassung der Uraufführung. Berlin Alexanderplatz. Unveröffentlichte Fassung. Schauspielhaus Zürich 2000/ 2001. (UA: Schauspielhaus Zürich am 29. 03. 2001, Regie: Frank Castorf). Zitate sind gekennzeichnet mit dem Kürzel FC (in Klammern hinter dem Zitat), regelmäßig auftretende Abweichungen von der normierten Rechtschreibung (so die Ersetzung des Buchstaben ß durch doppeltes s) werden nicht korrigiert. Die Dramatisierung gibt keinen Autor an, basiert aber auf einer Adaption von Lothar Trolle. 276 Die Zitate aus dem Roman Alfred Döblins tragen das Kürzel AD und werden nach folgender Ausgabe angegeben: Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. 43. Auflage. München: dtv 2003. Die Ausgabe ist text- und seitenidentisch mit dem Band Werkausgabe Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschich- 253 <?page no="266"?> engeren Sinne, also als Skizze einer Umsetzung des Romans auf der Bühne, als Probentext mit pragmatischer Funktion und als Ausschnitt des Entstehungsprozesses einer multimedialen Inszenierung. Soviel Intermedialität und Prozessorientierung scheint dem Gegenstand angemessen: Spätestens seit der sogenannten klassischen Moderne gelten normative Setzungen in der Gattungsdefinition und klare Grenzen zwischen den Künsten als überholt. Mit den Kunstrevolten um 1910 gibt auch die Literatur „ ihre Grenzbefestigungen preis" 277 . Sie geht aus dem Veränderungsprozess „ mit einer bis dahin ungewohnten, grundsätzlichen Offenheit für vielgestaltige Verbindungen mit anderen Künsten und Präsentationsmedien" hervor. Die experimentell arbeitenden Autoren der klassischen Moderne, zu denen Alfred Döblin gezählt werden darf, schaffen Werke, die in Bezug auf die Gattungen nicht mehr eindeutig einzuordnen sind. Die ‚ Krise ‘ - mindestens aber die Umbruchphase, die Schriftsteller und Kritiker dem Roman vor allem in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts attestierten, 278 scheint allerdings nicht auf die Form des Romans beschränkt. Peter Szondi will in den Dramen derselben Zeit eine „ Krise des Dramas “ und (darauf folgende) „ Rettungsversuche “ und „ Lösungsversuche “ erkennen. 279 Eher als von einer Krise kann also von einem neuen Bewusstsein der Avantgarde für die Komplexität der Gesellschaft und von einem damit verbundenen Gefühl der Unzulänglichkeit tradierter literarischer Formen gesprochen werden, das alle Gattungen betrifft. Döblins Roman Berlin Alexanderplatz, erstmals veröffentlicht 1929, wurde von Walter Benjamin unter dem Titel Krisis des Romans 280 rezensiert. Benjamin sieht in Döblins Werk einen Ausweg aus der Krise vorgezeichnet. te vom Franz Biberkopf. In: Ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begründet von Walter Muschg. In Zusammenarbeit mit den Söhnen des Dichters hrsg. v. Anthony W. Riley. Ohne Bandangabe. Hrsg. v. Werner Stauffacher. Olten/ Freiburg i.Br.: Walter 1996. 277 Hier und im Folgenden Dietrich Scheunemann: Ästhetische Modelle für den modernen Roman. Vom Austausch zwischen den Künsten. In: Regelkram und Grenzgänge. Von poetischen Gattungen. Hrsg. v. Eberhard Lämmert und Dietrich Scheunemann. München: edition text + kritik 1988. S. 121 - 135. Hier S. 124. 278 1922 schrieb Otto Flake sein Essay Die Krise des Romans, dessen Titel schnell zum Schlüsselbegriff im Diskurs um die Literatur und die Notwendigkeit ihrer Erneuerung avancierte. Vgl. zum Diskurs um die ‚ Krise des Romans ‘ Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. München: Beck 2004. S. 315 - 320. 279 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880 - 1950). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1965. S. 8. Szondi bescheinigt der modernen Dramatik ein Form-Inhalt-Problem (vgl. v. a. S. 75 f. sowie S. 80), das Döblin deutlich kürzer und mit anderem Fokus auch für den Roman beschreibt (vgl. Fußnote 281 dieses Kapitels). 280 Walter Benjamin: Krisis des Romans. In: Ders.: Gesammelte Schriften III. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann-Bartels. Bd. 9 Kritik und Rezensionen. Hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980. S. 230 - 236. 254 <?page no="267"?> Alfred Döblin selbst bestreitet nicht die Krise des Romans, deutet sie aber in eine produktive Unsicherheit um, die er in eine neue Form verwandelt sehen will. 281 Wie Benjamin haben viele Rezensenten und Literaturwissenschaftler Berlin Alexanderplatz als Prototyp des neuen Romans und als „ Meisterwerk “ 282 gelobt. Alfred Döblin gilt einigen gar als „ zweifellos der radikalste Innovator des modernen Romans in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg “ 283 . Die Montagetechnik 284 , die Orientierung an Traditionen mündlichen Erzählens aus der jüdischen Kultur, aber auch an der Reportage als faktualer Gattung sowie an Jahrmarktsballade, Moritat und Schlager als populäre, ästhetisierende Erzählformen führen zu einer „ Spannung zum eigenen Medium des Buches “ , die durch die „ Verschränkung ästhetischer Mittel und Gestaltungsprinzipien höchst moderner und überraschend archaischer Kunstformen “ 285 aufgebaut wird. Der Paratext zum Werk führt die Gattungsbezeichnung Roman nicht an. Doch Döblin verortet ihn klar im Epischen, möchte ein modernes Epos schaffen. Trotz formaler Innovation und Grenzüberschreitung ist er sich deshalb, was die Grenze zwischen seinem Roman und dem 281 Vgl. Alfred Döblin: Krise des Romans? . In: Ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begründet von Walter Muschg. Hrsg. v. Anthony W. Riley und Christina Althen. Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hrsg. v. Erich Kleinschmidt. Olten/ Freiburg i.Br.: Walter 1989. S. 274 - 276. 282 Gabriele Sander: Alfred Döblin. Stuttgart: Reclam 2001. S. 180. Sander skizziert kurz, wie sehr Berlin Alexanderplatz bis heute als Maßstab für Großstadtromane fungiert und geradezu zum Etikett für Döblins Schaffen avanciert ist. Siehe auch S. 9: „ Bis heute wird der Romantitel mit Döblins Namen identifikatorisch verknüpft - zum Leidwesen des Autors, der sich wiederholt über diese selektive Rezeption seines Werkes beklagt hat. “ 283 Christian Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2001 (= Sammlung Metzler 331). S. 100. 284 Otto Keller etablierte 1980 den Begriff „ Montageroman “ für Döblins Berlin Alexanderplatz. Otto Keller: Döblins Montageroman als Epos der Moderne. Die Struktur der Romane ‚ Der schwarze Vorhang ‘ , ‚ Die drei Sprünge des Wang-lun ‘ und ‚ Berlin Alexanderplatz ‘ . München: Fink 1980. Er beschreibt die Montage als spezifisch moderne Form des Erzählens, durch die eine neue Art der „ Weltaneignung “ (S. 239) möglich sei, gar eine neue Darstellung von „ Totalität “ (S. 240). Keller postuliert damit hinter der Auflösung einer stetigen Erzählung und der Zerschlagung der Berichtform immer noch ein bewusst „ montierendes Ich “ (S. 225). Diese Suche nach Zusammenhang und wirkend formender Erzählinstanz ist später kritisiert worden. Die scheinbar bestimmende Erzählinstanz kann auch als überzeichnet und damit als Parodie einer „ ursprünglichen, wahren und direkten Kommunikation “ des Bänkelsangs gelesen werden. In dieser Lesart verweisen selbst die auktorialen Texte in Vorworten und Überschriften letztlich auf eine Leerstelle oder aber auf eine „ Vielzahl narrativer Masken “ . Michael Baum: Kontingenz und Gewalt. Semiotische Strukturen und erzählte Welt in Alfred Döblins Roman ‚ Berlin Alexanderplatz ‘ . Würzburg: Könighausen & Neumann 2003. S. 103 und 101, vgl. auch Kapitel III. 5. b). 285 Scheunemann, Ästhetische Modelle für den modernen Roman. S. 126. 255 <?page no="268"?> Theater angeht, in einer Stellungnahme der Zeitschrift Lichtbild-Bühne gegenüber sicher: Dann sah ich auch, daß ein Theaterstück sich nicht aus Alexanderplatz formen ließ. Denn die Schicksalslinie Biberkopfs, besser gesagt, die Schicksalsmelodie war nicht in die Bühnenform zu pressen. In die Bühnenform, deren Form vorschreibt - Aufteilung in Szenen und Aktschlüsse und in einem Schluß, eiserner Vorhang herunter - das ging nicht. Es konnte nur ein Rundfunk-Hörspiel oder ein Film werden. 286 Eine geplante Dramatisierung für die Berliner Volksbühne kurz nach Erscheinen des Romans lehnt Döblin konsequent ab. 287 Die Bühnenform erscheint ihm zu starr: Für Döblin bedeutet das (zeitgenössische) Drama im ungünstigsten Fall Abgeschlossenheit, Statik und eingeschränkte Formsprache, Pathos, einseitige Fixierung auf die Handlung sowie eine starke Vereinfachung der Weltdarstellung. Es fungiert folglich als Gegenbild eines epischen Erzählens, wie Döblin es für historisch angemessen hält. 288 Der Regisseur, Autor und Intendant der Berliner Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz Frank Castorf 289 teilt wohl Döblins Abneigung gegen ein Freytag ’ sches Aktschema oder die Anpassung eines Stoffes an ein Dramen- 286 Gespräch mit Alfred Döblin. In: Lichtbild-Bühne 240 (1931). Zitiert nach: Berlin Alexanderplatz. Drehbuch von Alfred Döblin und Hans Wilhelm zu Phil Jutzis Film von 1931. Mit einem einführenden Essay von Fritz Rudolf Fries und Materialien zum Film von Yvonne Rehhahn. München: edition text + kritik 1996. S. 238. 287 Das lässt sich aus einer Stellungnahme des Schauspielers Heinrich George schließen. Vgl. Berlin Alexanderplatz. Drehbuch. S. 215. 288 Das lässt sich insbesondere an seinen Ausführungen zum Bau des epischen Werks und den Bemerkungen zum Roman nachvollziehen, in denen er Drama immer wieder als Kontrast zum epischen Ideal anführt. Vgl. Alfred Döblin: Der Bau des epischen Werks. In: Ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begründet von Walter Muschg. Hrsg. v. Anthony W. Riley und Christina Althen. Bd. 26. Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hrsg. v. Erich Kleinschmidt. Olten/ Freiburg i.Br.: Walter 1989. S. 215 - 245. Hier v. a. S. 235 f. und S. 237. - Alfred Döblin: Bemerkungen zum Roman. In: Ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begründet von Walter Muschg. Hrsg. v. Anthony W. Riley und Christina Althen. Bd. 26. Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hrsg. v. Erich Kleinschmidt. Olten/ Freiburg i.Br.: Walter 1989. S. 123 - 127. Insbesondere S. 124. 289 Er wurde 1951 geboren, wuchs in der DDR auf und inszenierte seit Ende der 70er Jahre an vielen Bühnen. 1992 wurde er Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Auch weil seine Inszenierungen polarisieren, ist er für die Entwicklung des gesamtdeutschen Theaters von großer Bedeutung. Er ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, sowie der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, Frankfurt am Main. 2012 wurde er ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Über die Betonung der Körperlichkeit in der Darstellung, über multimediale Darstellungsformen sowie Illusionsbrüche und Metareferenzen entwickelt Castorf eine eigene Ästhetik, die, wie Tobias Hockenbrink nachzeichnet, eine stark politische Dimension erhält. Tobias Hockenbrink: Karneval statt Klassenkampf. Das Politische in Frank Castorfs Theater. Marburg: Tectum 2008. Vgl. S. 103 f. 256 <?page no="269"?> format mit vorgegebenem Handlungsgang und festem Schluss. Castorf ist inzwischen für seine Vorliebe für Romandramatisierungen bekannt; unter anderem adaptierte er mit großem Erfolg Romane Dostojewskis. Er erklärt sein Interesse für Romanstoffe in einem Interview theaterprogrammatisch nicht über das reine Interesse an einem Einzelwerk, sondern über einen strukturellen und inhaltlichen Gewinn, den Romane ganz allgemein dem Theater brächten: [H]erkömmliches Theater ist [. . .] meistens ungeheuer pappig, das hat schon Bertolt Brecht gestört. Mir ist eine gewisse Komplexität, eine Komplexität, wie sie in einer vielschichtigen Wahrnehmungsweise, aber auch stofflich in den Romanen Dostojewskis liegt, ganz wichtig. Wenn ich einen Stoff habe wie die DÄMONEN, da kommt mir vor [sic! ], dass man immer nur Grenzwerte der Annäherung schafft. Aber die Komplexität der Weltwiderspiegelung, der möchte ich mich gerne annähern, dieser Ungleichzeitigkeit. Das finde ich wichtig als ästhetisches Prinzip. Daher arbeite ich auch meist mit Romanen. Theaterstücke sind oft ein Generalplan: Die suggerieren eine Erkennbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt. 290 Castorf also kritisiert an ‚ herkömmlichem ‘ Theater und Theaterstücken gerade diejenige strukturelle Einfachheit und Konsequenz, die Döblin zu seiner Äußerung veranlasste, die Geschichte Biberkopfs sei im zeitgenössischen Drama nicht darstellbar. In seiner Abhandlung über den Bau des epischen Werks spricht sich Döblin allerdings (wenngleich nur am Rande) für eine alternative Dramatik aus, die episches und filmisches Erzählen in sich aufnehmen solle. Die Varianz des Schreibens müsse sich erhöhen, denn: Wie das Theater von heute erstarrt ist im Dialog der Personen oben - und die Wohltat der Betrachtung, des lyrischen oder spottenden Eingriffs, der freien wechselnden Kunstaktion, auch der direkten Rede an uns wird uns versagt, wir werden nicht hinreichend beteiligt an dem, was oben vorgeht - , genau so steht es im Epischen, wo die Berichtform ein eiserner Vorhang ist, der Leser und Autor voneinander trennt. Diesen eisernen Vorhang rate ich hochzuziehen. 291 Eine Dramatik ohne ‚ eisernen Vorhang ‘ (die Metapher aus dem Bereich der Bühnentechnik zeigt besonders anschaulich die gedachte Parallele zwischen auktorialem Erzählen und einem mimetischen Theater der Guckkastenbühne) kann für Döblin gar zum Ideal zukünftiger literarischer Produktion werden, indem sie die Mündlichkeit im Sinne einer „ lebenden Sprache “ zur Darstellung zu bringen vermöge: „ ich habe seit lange [sic! ] die Parole: Los 290 Frank Castorf in Es gibt zu wenige Anarchisten. Frank Castorf im Gespräch mit Cornelia Niedermeier und Claus Phillip. In: Theater der Zeit 9 (2001). Zitiert nach: Joachim Fiebach: Manifeste europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. Berlin: Theater der Zeit 2003 (= Recherchen 13). S. 449 - 546. Hier S. 456. 291 Döblin, Der Bau des epischen Werks. S. 225. 257 <?page no="270"?> vom Buch, sehe aber keinen deutlichen Weg für den heutigen Epiker, es sei denn der Weg zu einer - neuen Bühne “ . 292 Auf eine Öffnung der Gattung Drama und des Theaters einschließlich des Falls der sogenannten ‚ vierten Wand ‘ , also der Öffnung der Bühnenhandlung zum Publikum, kann Frank Castorf in seiner Dramatisierung bereits zurückgreifen. Mit dem Wissen um die Formen des epischen Theaters, des Regietheaters und der Postdramatik sowie der Sprachorientierung in Stücken wie denen von Ödön von Horváth bis Heiner Müller schätzt Castorf die Möglichkeiten des Theaters grundsätzlich anders ein. Er möchte das Theater durch die komplexeren Formen und Stoffe verändern - und nicht den Stoff auf eine eindeutigere Form reduzieren. Frank Castorf sieht sich mit seinen Inhalten auch in der Tradition einer linksorientierten Gesellschaftskritik. Die Form der Romandramatisierung bekommt in seinen programmatischen Äußerungen auch einen gesellschaftskritischen und politischen Duktus, wenn er erklärt, der „ Neoliberalismus “ glaube genau wie das traditionelle Drama an die „ Beherrschbarkeit der Welt “ . 293 Es scheint, als entspreche die Romandramatisierung in ihrer Form in besonderem Maße den politischen Implikationen, die Castorf mit seinen Forderungen ans Theater stellt. Doch eine Textsorte wie die Romandramatisierung, zumal eine, die sich nicht über inhaltliche Kriterien definiert, ist auf eine politische Richtung nicht festzulegen. Erst die Inhalte beziehungsweise deren Ausgestaltungen, die Motivationen und Wertungen folgen eventuell politischen Vorstellungen. Bedenkt man, mit welch ‚ völkischem ‘ Impetus zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes Hermann Löns ’ Der Wehrwolf dramatisiert und mittelalterliche Epen auf die Bühne gebracht wurden, so wird klar, dass die Dramatisierung epischer Texte an sich keine politische oder ideologische Richtung vorgibt. Eindeutigkeit bis hin zur Schwarz-weiß- Malerei kann auch über Romandramatisierungen vermittelt werden. Castorfs Auswahl der Romanvorlagen und die Art ihrer Bearbeitung entscheiden also über die soziale und politische Botschaft. Auch den Wunsch nach hoher Komplexität in der Darstellung von Welt und deren Uneindeutigkeit erfüllt wohl weniger die Textsorte Romandramatisierung als vielmehr die vom Regisseur und Autor getroffene Textauswahl - das ist ihm bewusst, wenn er die Romane Dostojewskis zur Basis seiner Theaterarbeit wählt. Den Wunsch nach Vielschichtigkeit in der Weltdarstellung erfüllen Dramatisierungen vor allem dann, wenn sie mit der Differenz zur Romanvorlage spielen. 294 Dann 292 Ebd. S. 244 und 245. 293 Es gibt zu wenige Anarchisten. S. 456. 294 Vgl. hierzu das Kapitel 2.3.3 über die Dialogizität, die daraus resultierende Mehrschichtigkeit und das kritische Potential. 258 <?page no="271"?> allerdings kann das Spiel mit unterschiedlichen Bedeutungen zum Äquivalent für die erzählerische Mehrdeutigkeit im epischen Text werden. Der Roman Berlin Alexanderplatz kommt diesem Ideal von Komplexität in Stoff und Form sehr entgegen. Das große Personal und die vielfältigen Arten von Rede, die oft unmarkiert in den Text collagierten Auszüge aus Nachrichten, Liedern, Flugzetteln, Werbung und Gesprächsausschnitten zeigen die Heterogenität der Welt und ihrer Wahrnehmung in besonderem Maße. Die Sprachreflexiviät des Textes bildet eine kritische Ebene dazu und betont den Konstruktionscharakter der dargestellten Welt. So ist das vielfach betonte filmische Schreiben, auf das Döblin selbst in seiner programmatischen Schrift An Romanautoren und ihre Kritiker 295 verwiesen hat, nur eine der Schreibweisen in Berlin Alexanderplatz. Darauf weist insbesondere Hans-Peter Bayerdörfer hin, der den Roman über das Filmische hinausgehen sieht, „ zum einen, weil das Montage-Prinzip die Sprachlichkeit des Montierens selbst immer zu Bewußtsein bringt, zum anderen, weil es sich in gleicher Weise auf Äußeres, visuell oder akustisch Vorstellbares, wie auf Inneres bezieht “ . 296 Der didaktische Impetus, mit dem der auktoriale Erzähler in Zwischentiteln und am Ende des Buches die Handlung zusammenfassend kommentiert, wird durch die Form und den Inhalt der Kapitel ironisiert. Der Erzählfluss scheint sich zu verselbstständigen; die Erzählinstanz lässt die Handlung um Franz Biberkopf zeitweise fallen, andere Figuren werden scheinbar wahllos aus der Menge gegriffen, faktuale Texte werden wie zufällig in die Erzählung montiert. Die abschließende moralische Wandlung des Protagonisten am Schluss wird damit relativiert, „ ein hieb- und stichfester positiver Inhalt der Lehre [wird] verweigert “ . 297 Die unterschiedlichen Textformen und Redeweisen kommentieren sich gegenseitig, flankieren und kontextualisieren die Geschichte um Franz Biberkopf. Das Theater ist als eine Form der organisierten Rede durchaus in der Lage, heterogene Sprechweisen abzubilden. Doch die Bühne zeigt außerdem die Figur in Verkörperung, sodass das Bild nicht allein aus dem Wort entsteht, sondern immer auch akustisch über paralinguistische Zeichen und optisch über den Körper des Schauspielers vermittelt wird. Das ‚ Los vom Buch ‘ , wie es Döblin sich wünscht, könnte in der Dramatisierung als orchestrierte 295 Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm. In: Ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begründet von Walter Muschg. Hrsg. v. Anthony W. Riley und Christina Althen. Bd. 26. Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hrsg. v. Erich Kleinschmidt. Olten/ Freiburg i.Br.: Walter 1989. S. 119 - 123. Hier S. 121. 296 Hans-Peter Bayerdörfer: Alfred Döblin. Berlin Alexanderplatz. In: Romane des 20. Jahrhunderts. Bd. 1. Stuttgart: Reclam 1993. S. 158 - 193. Hier S. 191. 297 Vgl. Ebd. S. 178. 259 <?page no="272"?> Redevielfalt umgesetzt werden. Die kommentierende Erzählinstanz stellt eine besonders große Anforderung an eine Bühnenadaption dar. Auf die Frage, ob und inwiefern die Dramatisierung die vorhandene Vielfalt aufnehmen oder eine andere Form von Komplexität entwickeln kann, wird das Hauptaugenmerk der folgenden Untersuchung gerichtet sein. Die vorliegende Dramatisierung von Berlin Alexanderplatz ist bereits zweimal unter Castorfs Regie zur Aufführung gekommen. Die Uraufführung fand am 29. 03. 2001 am Schauspielhaus in Zürich statt. 2005 wurde das Stück in einer überarbeiteten Fassung in der Ruine des Palasts der Republik in Berlin aufgeführt, anschließend in derselben Inszenierung in den Räumen der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wiederaufgenommen. Damit hat das Stück nicht nur den Ort der intendierten (und nie realisierten) ersten dramatischen Darbietung erreicht, sondern hier rückt der Ort der fiktiven Handlung von Berlin Alexandeplatz seinem historisch realen Pendant bis auf die Entfernung eines kurzen Fußmarsches nahe. 298 4.4.1 Die Dramatisierung als Bühnenfassung Um seine Schwerpunkte zu setzen und das ihm Wichtige herauszuarbeiten, gibt Castorf an, die Romane in ihre Einzelteile zu zerlegen, um dann die interessantesten Bestandteile neu zusammenzustellen. „ Da kann man natürlich sagen, dass da eine Zertrümmerung stattfindet. Und da unterscheiden sich die Betrachtungsweisen, manche sehen nur Zerstörung, und manche sehen, wie aus den Trümmern etwas Neues entsteht. “ 299 Das Werk und seine Sprache werden also dekonstruiert; eine kreative Bearbeitung scheint für Castorf erst in der Zerlegung der Vorlage möglich zu sein. Diesem Zerlegungsprozess dürfte der Roman Berlin Alexanderplatz in seiner episodischen Struktur und seinem Montagestil entgegen kommen, stellt doch Döblin sein Ideal des Romans ganz ähnlich dar: „ Wenn ein Roman nicht wie ein Regenwurm in zehn Stücke geschnitten werden kann und jeder Teil bewegt sich selbst, dann taugt er nicht “ . 300 Frank Castorf ‚ schneidet ‘ aus den neun Büchern des Romans 39 Szenen. Der große Umfang der Fassung fällt auf: Der Regisseur breitet die Geschichte des Franz Biberkopf auf 230 Seiten neu aus. Im 298 Bei der Inszenierung an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz stellte sich der Ortsbezug außerhalb des Theaters auch durch das Bühnenbild wieder ein: Zum Zeitpunkt der Aufführungen fanden auf dem in direkter Nähe gelegenen Alexanderplatz umfangreiche Bauarbeiten statt, für die zahlreiche Containerwohnungen für die Arbeiter aufgebaut wurden. In solchen Containern ließ Castorf die Bühnenhandlung spielen. So entsprach das Bühnenbild von Berlin Alexanderplatz dem realen Ort. 299 Es gibt zu wenige Anarchisten. S. 449. 300 Döblin, An Romanautoren und ihre Kritiker. S. 126. 260 <?page no="273"?> Vergleich zum Roman erscheint diese Zahl zwar immer noch reduziert, doch man muss bedenken, dass die Dramatisierung für die unmittelbare Inszenierung durch Castorf selbst geschrieben wurde, also nicht mehr mit größeren Strichen zu rechnen war. 301 Relikte des Entstehungsprozesses der Dramatisierung sind im Dramentext sichtbar. Auf Seite 31 steht noch der Hinweis auf eine mögliche, noch nicht weiter spezifizierte „ Zwischenszene/ Übergang “ , später handschriftlcih gestrichen. Auch der Hinweis auf eine „ Pause “ (FC 80) ist handschriftlich gestrichen. Diese letzte Fassung ist also noch klar als Arbeitsfassung zu erkennen. Dass Castorf den Roman mit direkter Kenntnis der Schauspieler und der Bühne, für die er schrieb, sowie für die unmittelbare Aufführung unter seiner eigenen Regie dramatisierte, zeigt sich an verschiedenen Aspekten. Auffällig ist zunächst, dass die Nebentexte des entstandenen Dramas die Namen der Schauspieler, nicht der Figuren des Romans enthalten. 302 In der Rede selbst hingegen werden die Rollennamen benutzt. Daraus ergibt sich beim Lesen das Problem, dass sich die Verteilung der Rollen erst über die Namensnennung im Dialog oder gar erst über die Kenntnis des Romans und den Vergleich zu dessen Passagen mit wörtlicher Rede erschließt. Durch teilweise Mehrfachbesetzungen wird dies erschwert. 303 Eine Aufführung durch andere Regisseure ist (anders als zum Beispiel in John von Düffels Buddenbrooks, vgl. Kapitel 4.1, oder Thomas Jonigks Der Elixiere des Teufels, vgl. 4.2) nicht geplant. Die Dramatisierung wird entsprechend nicht von einem Verlag zur Neuinszenierung angeboten. Weiterhin enthält der Text klare Anweisungen zur Licht- und Tonregie sowie zur weiteren Bühnentechnik, die sich deutlich auf ein bestimmtes Haus beziehen: Wenn es auf Seite 73 heißt „ TECHNIK: Die großen Flügel der Hallentüre öffnen “ oder auf Seite 112, „ ROLLOS vom Schiffbau gehen hoch “ , dann sind damit keine Elemente des Bühnenbildes gemeint, sondern konkrete Eigenschaften der Architektur und Bühnentechnik der Schiffbauhalle des Schauspielhauses Zürich. 4.4.2 Aufbau und Handlungsablauf Zur Frage nach der Ordnung und Geschlossenheit des Romans gibt es unterschiedliche Auffassungen. Ob es sich um eine heterogene Darstellung 301 Die Inszenierung - zumindest in den Berliner Aufführungen - dauerte schließlich fast fünf Stunden. 302 Zum besseren Verständnis werde ich in Zitaten jeweils die Figurennamen ergänzen. 303 Mit Lesern hat der Autor also nicht gerechnet. Für das Theaterpublikum werden die Rollenverteilung und der Rollenwechsel über Maske und Kostüm deutlich. 261 <?page no="274"?> der Großstadt handelt, bei der die Textfülle die Erzählinstanz überwältige, oder um eine insgesamt geschlossene Darstellung, die vom auktorialen Erzähler bewusst arrangiert werde (und in die selbst die montierten Texte assoziativ eingebunden seien), erklärt Michael Baum zur „ Gretchenfrage der Alexanderplatz-Forschung “ . 304 Der Disput erwächst im Wesentlichen aus zwei (kaum abschließend klärbaren) Problematiken, die in der Erzählstruktur liegen: Döblin stellt erstens einem sehr dominanten auktorialen Erzähler, der im Bänkelsang-Stil kommentiert und die Geschichte gar zu konstruieren angibt 305 , eine große Masse scheinbar zufällig eingefügter Textausschnitte entgegen. Der Gestus der Kontrolle und der der Zufälligkeit widersprechen sich. Da zweitens kaum zu bestimmen ist, ob die Erzählinstanz bewusst arrangiert, sich wie ein Flaneur treiben lässt oder ob jede fremde Stimme als gleichwertig gegenüber der kommentierenden Erzählinstanz der Vorworte betrachtet werden muss, 306 bleibt dieses Paradoxon bestehen. Für die Analyse der Dramatisierung im Vergleich zum Roman ist dabei unerheblich, ob von einer kontrollierenden Erzählinstanz ausgegangen wird, oder von deren ironischer Brechung: Die vorgegebene Struktur bleibt dieselbe. Bei der Betrachtung der Dramatisierung Castorfs, die auf eine auktoriale Erzählinstanz verzichtet (wie auf der Bühne üblich), wird aber die Frage nach der Struktur des Bühnenstücks sowie die Frage nach der Kontinuität der Geschichte und dem Zusammenhang der Handlung zentral. Der Roman besteht aus einem Vorwort und neun Büchern, die ihm folgen und denen jeweils ein kurzer Erzählerkommentar voransteht. Diese einleitenden Worte entsprechen dem Erzählduktus der Moritat, der sie sowohl im Inhalt (die Geschichte eines Verbrechers wird erzählt) wie auch im moralisierend wertenden Ton ähneln. Sie fassen bisher Geschehenes zusammen, antizipieren Leserreaktionen und deuten die Ereignisse. Sie betonen das Narrative des Werks, indem sie den Handlungsverlauf und die Sinnhaftigkeit der Handlung beziehungsweise deren lehrhaften Charakter in den Vorder- 304 Baum, Kontingenz und Gewalt. S. 100. Baum geht von einer auktorialen Erzählinstanz aus, die zeitweise die Kontrolle verliere oder sich hinter Masken verberge (vgl. zusammenfassend S. 246). Besonders harmonisierend geht dagegen Klaus Müller-Salget vor. Er verfolgt ein „ großes Aufgebot der unterschiedlichsten Sinnklammern “ , die das Buch zusammenhielten und alle „ auf Franz Biberkopf, sein Handeln und sein Versagen zielen “ . Müller-Salget schreibt folglich die Brüche dem ironisch kritischen Erzähler als bewusstes, wiederum sinngebendes Mittel zu. Klaus Müller-Salget: Alfred Döblin. Werk und Entwicklung. Bonn: Bouvier 1972. S. 342 und 344. 305 So erklärt die Erzählinstanz dem Leser: „ Aber es ist kein beliebiger Mann, dieser Franz Biberkopf. Ich habe ihn hergerufen zu keinem Spiel, sondern zum Erleben seines schweren, wahren und aufhellenden Daseins “ (AD 47). 306 Eine weitere heuristische Möglichkeit bestünde darin, von einem impliziten Autor auszugehen, der seinen Erzähler demontiert. 262 <?page no="275"?> grund rücken. 307 Exemplarisch sei hier das Erzählervorwort zum vierten Buch zitiert: Franz Biberkopf hat eigentlich kein Unglück getroffen. Der gewöhnliche Leser wird erstaunt sein und fragen: was war dabei? Aber Franz Biberkopf ist kein gewöhnlicher Leser. Er merkt, sein Grundsatz, so einfach er ist, muß irgendwo fehlerhaft sein. Er weiß nicht wo, aber schon daß er es ist, gräbt ihn in allerschwerste Betrübnis. Ihr werdet den Mann hier saufen sehen und sich fast verloren geben. Aber es war noch nicht so hart, Franz Biberkopf ist für schlimmere Dinge aufbewahrt. (AD 121) Das Beispiel zeigt neben den oben genannten Funktionen auch die Sprachreflexion, die das Werk prägt und die hier in einem Ebenenwechsel besteht: Franz Biberkopf wird zum Leser seines eigenen Lebens, soll seine Geschichte lesen und werten wie ein ‚ gewöhnlicher Leser ‘ . Dies kann ihm nicht gelingen. Die neun Bücher lassen sich zu Gruppen zusammenfassen, die einem strukturell ähnlichen Handlungsablauf folgen. 308 Die letzten beiden Bücher sprengen dieses Schema jedoch. Jedes Buch ist wiederum in Kapitel mit kursiv gesetzten Überschriften aufgeteilt. Die Zahl der Kapitel variiert dabei zwischen drei und 15 Kapiteln pro Buch. Die Titel unterscheiden sich stark in Inhalt und Stillage. Einige stellen in ganzen Sätzen den Inhalt des Kapitels voran, häufig versehen mit einem Kommentar zu Franz ’ Verhalten. Darin sind auch spannungsstiftende Prolepsen enthalten, die nur Andeutungen zum Geschehen machen. 309 Andere Überschriften geben nüchtern Auskunft zur Art des kommenden Textausschnitts, wie das Kapitel „ Lokalnachrichten “ (AD 189), oder zum Datum, wie „ Sonntag den 28. April 1928 “ (AD 198). Aber auch Zitate können die einzelnen Abschnitte betiteln; die Varianz ist dabei groß. Besonders häufig finden sich gnomisch anmutende Lehrsätze oder Sprichwörter aus unterschiedlichen Kontexten (wie Bibel, Volksmund oder Liedgut). 310 307 Eine Lehre im Sinn der Moritat wird dem Leser des Romans Berlin Alexanderplatz schließlich allerdings verweigert. Vgl. zu diesem Aspekt den Abschnitt 4.4.6 zur politischen Interpretation und Umdeutung des Romans. 308 Otto Keller sieht in den Büchern 1 bis 3, 4 und 5 sowie 6 und 7 jeweils einen Handlungsgang von der Eroberung eines Handlungsspielraums durch den Protagonisten über dessen Genuss zum Niederschlag. Otto Keller: Döblins ‚ Berlin Alexanderplatz ‘ . Die Grossstadt im Spiegel ihrer Diskurse. Bern u. a.: Lang 1990. S. 24. 309 So das Kapitel vier des fünften Buches: „ Franz denkt über den Mädchenhandel nach und will plötzlich nicht mehr, er will was andres “ (AD 185). 310 Die folgenden Beispiele aus dem sechsten Buch zeigen exemplarisch die Varianz. Die letztgenannte Überschrift bietet außerdem ein Beispiel für die Kommentierung und Weiterführung der Zitate: „ Unrecht Gut gedeihet gut “ (AD 217), „ Erhebe dich, du schwacher Geist, und stell dich auf die Beine “ (AD 236), oder „ Kleider machen Leute und ein anderer Mensch kriegt auch andere Augen “ (AD 241). Viele Kapiteltitel werden 263 <?page no="276"?> Castorfs Bühnenstück ist eine Übersicht über die Szenenfolge in tabellarischer Form vorangestellt. Aufgenommen sind jeweils die Szenennummer, die Seite im Textbuch, der jeweilige Szenentitel und die mitwirkenden SchauspielerInnen. Dieses sogenannte ‚ Szenarium ‘ dient der Probenorganisation, lässt aber bereits einen ersten Vergleich zum Inhaltsverzeichnis des Romans und somit zu Aufbau und Aufteilung zu. Die Dramatisierung setzt sich aus 39 Szenen zusammen, in denen beinahe durchgängig der Protagonist anwesend ist. Lediglich in fünf der Szenen ist Franz nicht angegeben. In diesen Abschnitten ist Franz jedoch Gesprächsthema der anderen Figuren. So offenbart schon das Szenarium zwei Differenzen zur Romanvorlage, die bezüglich des inneren Zusammenhangs gegenläufig wirken: Während im Roman Nebenstränge verfolgt werden, einzelne Abschnitte im Sinne von Döblins ‚ Regenwurm-Vergleich ‘ separat stehen können, die Handlung um Franz Biberkopf über weite Passagen durch Stadtbeschreibungen, Geschichten anderer Figuren und collagierte Texte überlagert wird, wirkt die Dramatisierung trotz ihres großen Umfangs verhältnismäßig stringent und auf die Entwicklung ihrer Hauptfigur bezogen. Die Binnenstruktur ist aber wesentlich weniger strukturiert als im Roman; nur die Pause setzt einen deutlichen Schnitt. 311 Die starken Textkürzungen, die trotz des recht großen Textumfangs der Dramatisierung zu erkennen sind, sind verschiedener Art. Zunächst zeigt der Vergleich zum Roman komplette Streichungen. Davon sind vor allem die collagierten und montierten Texte aus dem Roman betroffen, diese jedoch je nach Art des Prätextes 312 in unterschiedlicher Ausprägung: Gestrichen werden vor allem Auszüge aus Funk und Presse, Werbung, Hinweisschilder und wieder aufgenommen und in veränderter Form noch einmal gebraucht oder lassen sich in Folge als Fließtext lesen (vgl. die Kapitel des dritten Buchs, ab AD 105). 311 Auch ohne Erzählerfigur wäre eine regelmäßigere Struktur und Binnengliederung denkbar. In einer Dramatisierung an der Schaubühne Berlin wurden die dialogischen Partien um Franz Biberkopf mit Chorpassagen abgewechselt. In diesen Abschnitten sprachen ehemalige Häftlinge über ihre Taten, die Gründe für diese sowie die Erfahrungen nach der Haftentlassung (sie ersetzen die mythische Kommentarebene des Romans). Durch die Konfrontation der Figuren der Diegese mit den neu montierten Erfahrungsberichten entstehen zwei Ebenen und damit eine dialogische Struktur in der Art einer Wechselrede. Die Geschichte wird in regelmäßigen Abständen mit der heutigen ‚ authentischen ‘ Situation von Haftentlassenen verglichen. (Damit wird die Geschichte aktualisiert, dabei auch entmythisiert, individualisiert und besonders die sozial-psychologische Komponente herausgearbeitet.) Vgl. Berlin Alexanderplatz. Eine freie Bühnenbearbeitung der Schaubühne Berlin des Romans von Alfred Döblin mit Chören von Volker Lösch und dem Ensemble. Frankfurt a. M.: Fischer 2010 (UA: Schaubühne Berlin am 13. 12. 2009, Regie: Volker Lösch). 312 Michael Baum differenziert die Zitate, die Döblin in den Roman einarbeitet, hinsichtlich ihrer Herkunft. Vgl. Baum, Kontingenz und Gewalt. S. 87 f. 264 <?page no="277"?> andere Auszüge aus der Massenkommunikation sowie Texte zu Einzelschicksalen von Menschen (Briefe o. ä.). Außerdem werden die oft ausführlichen Beschreibungen der Stadt und ihrer Einwohner nicht übernommen. 313 Die Fixierung auf die Figur des Franz entsteht durch eben diese Streichungen. Im Drama sind dennoch einige Passagen aus den montierten pragmatischen und mythischen Texten in den Sprechtext der Figuren (meist gekürzt) übernommen, dazu zählen besonders die allegorisch lesbaren Passagen wie die Schlachthofbeschreibungen, die Erzählungen Hiobs und die Bibelzitate - außerdem einige Kinderreime und Marschlieder, die die Gefühlslage Biberkopfs transportieren. Neben diesen Strichen, die sich stark auch auf den historischen Rahmen auswirken (vgl. Abschnitt 4.4.4), wirken andere Auslassungen bedeutungsverändernd in Hinblick auf Biberkopfs Geschichte. So fehlt in der Dramatisierung jeglicher Hinweis auf einen Neuanfang Biberkopfs am Ende der Geschichte, und auch das Schicksal der anderen Figuren wie Reinhold oder Herbert wird nicht weiter verfolgt. Zentrale Figuren des Romans tauchen nicht auf, so fehlt in der Dramatisierung jeder Hinweis auf Otto Lüders und dessen Verrat an Franz Biberkopf, der im Roman den Protagonisten in eine tiefe Krise stößt. Eine weitere Art der Kürzung besteht darin, Mehrfachhandlungen auf einfache zu reduzieren, die dann exemplarisch gezeigt werden. In Castorfs Dramatisierung ist dies zum Beispiel beim ‚ Frauenhandel ‘ der Fall. Dieses Handlungselement wird im Roman mehrfach und ausführlich geschildert, bei Castorf nur einmal ausgeführt - singulativ dargestellte Mehrfachhandlungen, werden also im Sinne eines pars pro toto ins Drama übernommen. Dass Reinhold mehrere Frauen an Franz weitergibt, wird im Dialog kurz erwähnt; es handelt sich also um eine explizite (oder: markierte) Ellipse. Ebenso verfährt Castorf in Bezug auf die Ausflüge nach Freienwalde. Dass die auf der Bühne dargestellte Fahrt bereits die zweite gemeinsame ist, erklärt nur Miezes Ausspruch: „ Wisst ihr noch vorgestern, war doch hübsch, war det nich hübsch? “ (FC 192). 314 Auch Dialoge werden oft gekürzt, enthalten dann aber die handlungstreibenden Elemente. Die inhaltlichen Abschnitte der Szenen stimmen teilweise mit den Inhalten einzelner Romankapitel überein, häufig wird die Handlung aus mehreren 313 Dabei handelt es sich nicht um montierte Fremdtexte, sondern um erzählerische Nebenschauplätze, Exkurse und Kurzerzählungen. 314 Die Aussage steht außerdem im krassen Widerspruch zur aktuellen Situation, in der gerade ein Streit zwischen Klempnerkarl und Reinhold ausbricht. Sie ist also Deeskalationsmittel, deutet aber in ihrer Opposition zur tatsächlichen Stimmung auch schon an, dass der Ausflug kein gutes Ende nehmen wird. 265 <?page no="278"?> Kapiteln in einer Szene zusammengebracht. 315 Trotz des großen Umfangs schildert Castorfs Dramatisierung eine stetiger ablaufende Geschichte als der Roman, wenngleich auch hier keine durchgängige Entwicklung dargestellt wird. Der größere Zusammenhang entsteht vornehmlich durch Streichungen, durch fließende Übergänge zwischen den einzelnen Szenen, die Begrenzung des Raumes und der Figurenzahl. Außerdem wird durch diese Beschränkungen der Eindruck der Zufälligkeit der Begegnungen relativiert, während der Roman eine kausale Verkettung und logische Motivationszusammenhänge negiert. 316 Welche Elemente zum Eindruck einer kontinuierlich erzählten Geschichte beitragen und welche diesen wieder brechen, wird in Abschnitt 4.4.5 ausgeführt. 4.4.3 Figurenzeichnung und Säkularisierung der Handlung Zum Eindruck größerer Geschlossenheit trägt die geringere Figurenzahl der Dramatisierung bei. Sie muss gegenüber dem Roman drastisch reduziert sein, um Berlin Alexanderplatz bühnenpraktisch umsetzbar zu machen. Ausgewählte Figuren übernehmen andere oder mehr Funktionen als im Roman, um die nötigen Handlungsmotivationen in die Dramatisierung einzubringen. Gestrichen werden vor allem kleinere Nebenfiguren, die innerhalb des Romans nicht die Handlung um Franz Biberkopf tragen, sondern vorwiegend Teil des breiten Zeitbildes werden. Damit scheint die Dramatisierung, die sich Berlin Alexanderplatz nennt, mit dem Untertitel des Romans Die Geschichte vom Franz Biberkopf eigentlich besser bezeichnet. Franz, das hat schon die Szenenübersicht gezeigt, verknüpft die einzelnen Episoden durch seine Bühnenpräsenz. Zur weiteren Differenzierung der Figurentypen lohnt wiederum ein Blick auf die Erzählstruktur des Romans: Die montierten Texte pragmatischer Art (Flugzettel, Werbetexte, Hinweisschilder) enthalten textsortengemäß wenig handelnde Personen. Handelnde und vor allem sprechende Figuren bieten hingegen in großer Zahl auch die mythischen und biblischen Passagen. Diese Textausschnitte werden zwar häufig übernommen; die Sprecher oder Figuren treten aber selten handelnd auf, sondern sind nur Inhalt der Figurenrede. So fehlen die beiden Engel, Sarug und Terah, die Franz bewahren wollen, indem sie ihm zur Seite stehen (AD 394 f.), sowie die Gespräche mit den Toten auf dem Friedhof (AD 388 - 390), die Sturmmächte und die Hure Babylon als sprechende Figur (AD 423 f. und mehrere weitere Passagen). Als Bühnenfigur tritt lediglich der Tod auf. Er leert beim Betreten der Bühne einen „ roten 315 Viel seltener tritt der umgekehrte Fall auf: Der Inhalt eines Romankapitels findet seine Entsprechung in zwei Szenen. 316 Vgl. Baum, Kontingenz und Gewalt. V. a. Kapitel III. 2. 266 <?page no="279"?> Plastikeimer voller Konfetti “ vor dem Publikum aus und etabliert sich anschließend mit großer Selbstverständlichkeit im Kneipenraum wie ein „ Wirt, der seine Kneipe schließt “ (CF 226). Der Nebentext gibt (abgesehen vom Plastikeimer als Requisit) keinerlei Veränderung des Kostüms für den Schauspieler „ SIGGI “ an. Der Erzähler des Romans beteuert zwar, es sei „ die lautere Wahrheit “ , dass Franz (AD 430) den Tod höre. Doch ob von einem internen Fokus ausgegangen werden muss oder ob das Erlebnis auf Ebene der Diegese ‚ real ‘ ist, bleibt unklar. Hier zeigt sich deutlich die Modernisierung des Mythos im Sinne einer Subjektivierung, wie Sabine Kyora herausstellt. 317 Ähnlich vage bleibt die Dramatisierung: Hier werden die Worte des Todes zwar von einem Schauspieler auf der Bühne gesprochen, ob aber innerhalb der Diegese wirklich der Tod zu Franz spricht, kann nicht sicher bestätigt werden. Wahrscheinlicher ist, dass SIGGI in der Rolle des Willi für Franz zur Erscheinung des Todes wird - eine Täuschung durch die eingenommene Dosis Morphium. Wenig vage bleibt Castorfs Berlin Alexanderplatz in Bezug auf den Status anderer mythischer Gestalten. So wird die Passage um den Hiob-Text zu einer Art Selbstgespräch umgeformt, 318 das Gespräch zwischen Abraham und Isaak wird ebenfalls von einer Figur dargestellt. Vieles spricht also für eine psychologische Lesart der wenigen Texte über mythisch-tranzendente Figuren. Sie stellten dann Selbstgespräche, Sinnestäuschungen, Träume oder Wahnvorstellungen dar. Die Handlung scheint daher gerade im letzten Drittel der Geschichte auf eine einzige Wirklichkeitsebene enggeführt. 319 317 Sabine Kyora: Eine Poetik der Moderne. Zu den Strukturen modernen Erzählens. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Vgl. v. a. S. 243 f. Gerade der Tod falle durch die (mythische) Personifikation auf. Ähnlich den mythischen Erinnyen konfrontiere er den Protagonisten mit seiner Schuld (vgl. S. 244). Der Tod werde jedoch durch den Berliner Dialekt, in dem er zunehmend spricht, zu Franz ’ ganz eigenem Tod subjektiviert und verliere an „ pathetischer Höhe “ (S. 266). Weitere Schuldzuweisungen erfolgen im Delirium durch Personen aus Franz ’ Umfeld. Somit entstehe ein Zusammenhang zwischen Mythos und Individualisierung/ Psychologisierung, der strukturbildend wirke. 318 Das Gespräch zwischen Hiob und einer Stimme aus dem Jenseits wird durch den Schauspieler „ OLIVER “ (gemeint ist Oliver Mallison) dargestellt. Als Kneipenbesucher spricht er in einer Art schizophrenem Dialog die Redeanteile Hiobs und der Stimme in unterschiedlicher Stimmlage: „ Inneres Zwiegespräch, zwei Rollen im Wechsel: - STIMME (kalt, nüchtern) - OLIVER (kränklich jammernd, sich immer mehr in Wahn steigernd) “ (FC 41), der Sprechtext entspricht AD 143 - 146. 319 Eine andere Fassung versucht das Gegenteil: Die Dramatisierung von Bärbel Jaksch und Heiner Maaß trägt den Untertitel „ Ein weltliches Mysterienspiel “ und macht die Engel, die Hure Babylon und den Tod zu realen Gestalten, die das Romangeschehen gezielt bestimmen und kommentieren. Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Ein weltliches Mysterienspiel von Bärbel Jaksch und Heiner Maaß. Berlin: Henschel (UA: 267 <?page no="280"?> Das macht auch eine Passage deutlich, die sowohl erzählerisch als auch in Hinblick auf die Säkularisierung interessant ist. Darin zitiert die traurige Mieze eine Bibelgeschichte. Bei dem Text handelt es sich um eine Paraphrase der Erzählung von Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern soll. Die Geschichte ist als Dialog zwischen Vater und Sohn wiedergegeben, den Mieze mit zwei Stimmen spricht. Bei Döblin geht der Vater von einer Rettung durch Gott bereits aus: „ Du mußt nur wollen und ich muß es wollen, wir werden es beide tun, dann wird der Herr rufen, wir werden ihn rufen hören: Hör auf. Ja; komm, gib deinen Hals “ (AD 285). Tatsächlich scheint den Akteuren hier die Geschichte bereits bekannt und somit das Vertrauen auf Gott durch ein Vertrauen auf das Wort ersetzt. Im Roman wird dieses Vertrauen auf das Alte Testament und eine seiner populärsten Geschichten belohnt und Gottes Stimme unterbricht die Opferung: „ Ihr seid mir gehorsam, hallelujah. Ihr sollt leben “ (AD 285). Doch diese Rettung bleibt in Castorfs Fassung aus: „ Der Vater sticht zu. Gott ruft nicht, Gott ruft nicht. Halleluja. Halleluja “ (FC 118). Während im Roman Reinhold, Mieze und Ida nach dem Auftritt des Todes Franz im Fiebertraum erscheinen, um ihm seine Fehler vorzuwerfen, finden diese Anschuldigungen in der Dramatisierung auf Ebene der (innerdiegetischen) Realität statt: Sie sprechen beziehungsweise schreien den am Boden zerstörten Franz in der Kneipe direkt an (FC 217 - 220). Dies erhöht die Grausamkeit der Situation, verschärft den sozialen Konflikt. Die anderen Figuren nehmen keinen Anteil an Franz ’ Schicksal. Angesichts der direkten Konfrontation wundert es noch mehr, dass Franz erst nach harten Vorwürfen und eindeutiger Provokation reagiert. Aus Castorfs Textbuch geht durch die Kennzeichnung der Redebeiträge mit den Namen der Schauspieler hervor, dass gleich mehrere Schauspieler in Mehrfachbesetzungen eingesetzt werden. Zentrale Rollen mit hoher Anwesenheitszeit werden einzeln besetzt: Dazu zählen Franz Biberkopf, Cilly, Trude, Herbert und Pums. Mehrfachbesetzungen werden vor allem eingesetzt, um die Anfangsszenen im Haus der Juden nicht mit weiteren Schauspielern ausstatten zu müssen, scheinen also pragmatisch motiviert. 320 Die Texte der Figuren Karl und Klempnerkarl werden vom selben Schauspieler Volksbühne Berlin am 4. 12. 1981, Regie: Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering). Das Stück wurde an verschiedenen Häusern neu inszeniert. 320 Die Schauspielerin, die später Mieze spielt, verkörpert in den ersten Szenen die Hausbesitzerin (bei Döblin unter der Bezeichnung ‚ alter Jude ‘ oder ‚ Hausbesitzer ‘ ); ein Schauspieler übernimmt den Juden Nachum und später die Figur des Willi (er verkörpert außerdem den Tod, wobei hier schwerlich festzustellen ist, ob dieser als eigenständige Figur angelegt ist; s. o.); der Jude Eliser und Reinhold werden vom selben Schauspieler dargestellt. 268 <?page no="281"?> gesprochen. Hier bleibt im Dramentext unklar, ob sie in der Dramatisierung in einer Figur zusammengefasst werden (was allerdings die Aufführung nahelegt). Ein klarer Figurenwechsel einer Schauspielerin liegt hingegen bei den Frauenfiguren Minna, Lina und Eva vor. In der Rolle der Eva imitiert sie schließlich auch Ida (ein schauspielerischer Akt im Schauspiel), die als eigenständige Figur nicht auftritt. Die Verbindung der Frauenfiguren durch die Schauspielerin IRIS (Iris Minich) kann der Dramatisierung eine Bedeutungsebene hinzufügen. Es entsteht der Eindruck der Ersetzung der Frauen, was dem nur oberflächlich behandelten Motiv des Frauenhandels auf der Ebene der Inszenierung mehr Bedeutung verschafft. Vor allem Franz ’ Beziehungen zu Minna und Lina werden über die Doppelrolle als Akt der Ersetzung deutlich. Neben der Auswahl und Besetzung der Figuren bewirken auch Veränderungen von Handlungsmotivationen, sowie parallel gezeigte, kommentierende Handlungen und Verschärfungen in der direkten Rede Abweichungen gegenüber der Geschichte bei Döblin: Ähnlich wie im Roman bleibt Franz in der Dramatisierung ein ehemaliger Soldat. Im Roman sind ihm zahlreiche Äußerungen und Lieder zugeschrieben, die seine Angst und seine Gewaltbereitschaft sowie das oft problematische Sozialverhalten aus den Erfahrungen als Soldat erklärbar machen: Franz ist ein Kriegsneurotiker, ein Opfer des Ersten Weltkriegs. 321 In der Dramatisierung bleiben einzelne Lieder und onomatopoetische Ausdrücke, die der Kriegserfahrung beziehungsweise dem daraus resultierenden Trauma geschuldet sind, bestehen. Das beständige „ bum bum “ (FC 5), mit dem Franz seine Beschreibung des Gefängnisalltags unterbricht, scheint auf die Bombeneinschläge zu verweisen; Franz bewegt in Angstsituationen neurotisch „ den Oberkörper vor und zurück “ und sagt Marschbefehle auf: „ Trommelgerassel, Bataillon marsch, marsch “ (FC 202). Einmal erklimmt er eine Bretterwand „ wie ein Soldat “ (FC 37); später singt er das Lied Der gute Kamerad (FC 49). So durchgängig wie im Roman allerdings ist das Motiv bei Weitem nicht. Den Franz der Dramatisierung als Kriegsneurotiker zu bezeichnen, ginge zu weit. Die heftigen Reaktionen werden deshalb stärker durch das Verhalten seines Umfelds hervorgerufen. 321 Diesen Aspekt macht Wolfgang Schäffner zur Grundlage seiner Studie: „ Einer dieser ehemaligen Grabenkämpfer, Zitterer und Anwärter der Irrenhäuser ist Franz Biberkopf; er kehrt nämlich mit einer Kriegsneurose von den Schlachtfeldern nach Berlin zurück: Seine beständigen Anfälle werden wie ein Gelegenheitsapparat immer dann ausgelöst, wenn äußere Erregungen dazu Anlass geben. “ In solchen neurotischen Anfällen erkennt Schäffner den Grund für den Mord an Ida und für Franz ’ Unsicherheit in der Großstadt, die als „ Schockszenario “ ständig neu das Trauma hervorrufe. Wolfgang Schäffner: Die Ordnung des Wahns. Zur Poetologie psychiatrischen Wissens bei Alfred Döblin. München: Fink 1995 (= Materialität der Zeichen 13). Zusammenfassend auf den S. 379 - 381. 269 <?page no="282"?> Die Abwertung als Mensch, die Franz hier erfährt, wird zum Auslöser seiner Wutanfälle und neurotischen Handlungen. Sie erfolgen also stärker aus der gegenwärtigen Situation heraus als aufgrund eines traumatischen Erlebnisses in der Vergangenheit. Denn die Abwertung durch seine Mitmenschen wird im Vergleich zum Roman noch verstärkt: Dort wird während einer Verfolgungsjagd Franz von Reinhold aus dem fahrenden Auto geworfen und verliert dabei einen Arm. Die Bande wurde beim Einbruch ertappt und muss fliehen. Franz, der sich von Pums betrogen fühlt - hatte er doch tatsächlich an Pums ’ Vorwand für den Einbruch geglaubt - empfindet das als gerechte Strafe und lacht über den Vorfall. Dies bringt Reinhold in Rage; gleichzeitig fällt ihm ein, dass es Franz gewesen sein könnte, „ der ihm die Weiber abtreibt “ (AD 211). Hier gibt es also gleich zwei Gründe für das gewalttätige Verhalten. Das Auto rast anschließend weiter. Ganz anders gestaltet sich der Vorgang in der Dramatisierung: Man sieht das Auto durch eine Bretterwand auf die Bühne brechen, es stoppt kurz, die Hintertür geht auf, Franz wird aus dem Wagen geworfen, das Auto rast zur Musik von „ Wild at Heart “ 322 weiter. Dann hält es an und fährt langsam und vorsichtig zurück. Pums und Reinhold steigen aus, stehen vor dem verwundeten Franz: JOSEF [PUMS] Warum hast du den rausgeschmissen? MARC [REINHOLD] Ick weess nich. Ick hab son Hass. Ick hab die Objektbezogenheit des Hasses verloren. JOSEF [PUMS] Na, dann sollten wir ihn vielleicht ganz tot machen. MARC [REINHOLD] Vielleicht später. JOSEF [PUMS] und MARC [REINHOLD] steigen wieder ins Auto, fahren aus der Schiffbauhalle. MAX [FRANZ] steht langsam auf, verlässt unter Schmerzen langsam die Halle durch die Lücke in der Bretterwand. (FC 79) Reinhold hat keine wirkliche Motivation mehr, um Franz aus dem Wagen zu werfen, sondern tut dies einfach aus anlasslosem Hass. Dass Franz also nur ein Zufallsopfer ist, zeigt, dass Reinhold hier noch unberechenbarer agiert als im Roman angelegt. Zudem hält er es nicht für nötig, sich zu erklären. Die vorgebrachte Begründung wirkt in Bezug auf das Leiden Franz Biberkopfs kalt und sarkastisch. Die Grausamkeit wird ins Extrem geführt, indem alle Beteiligten ungerührt um Franz herumstehen und sogar diskutieren, ob man ihn umbringen solle. Sie verlassen den Ort des Geschehens, ohne Franz zu helfen - aber auch, ohne ihn zu töten. So wird offenbar, dass man ihm keinerlei Bedeutung zumisst. Pums und seine Bande haben keine Angst, von ihrem Opfer denunziert zu werden (wie es noch bei Döblin der Fall ist). 322 Es handelt sich um den Soundtrack zum gleichnamigen Film von David Lynch. 270 <?page no="283"?> Insofern ist es nur konsequent, dass nun ein großer Teil des Romans gestrichen wird: In Castorfs Fassung muss sich Franz nicht verstecken. Niemand versucht ernsthaft, sich bei ihm zu entschuldigen, wie es bei Döblin geschieht. Die aus diesen Passagen übernommenen Dialoge werden ironisch gebrochen und wirken nur wie eine weitere Veralberung des Opfers. Reinhold macht bei seinem Besuch wie im Roman ungeschickte Witze über dessen verlorenen Arm, ekelt sich und stopft Franz ’ Ärmel aus. Im weiteren Fortgang aber überbietet die Szene die entsprechende Passage im Roman deutlich an Kälte und (vor allem sprachlicher) Gewalt, wenn Reinhold schreit: „ Wenn ick nen Krüppel sehe, sag ich: denn mal lieber ganz weg damit. holt Pistole wieder aus Gürtel, fuchtelt unbewusst mit ihr rum (verlängerter Finger) Wenn ich sowas sehe, kann ich nur Euthanasie jajajajaja sagen. Weg damit! “ (FC 108 f) Im Roman versucht die Pumskolonne, Franz mit Geld zum Schweigen zu bringen. Was hier ein Vertreter der Bande übernimmt (AD 232 f.), wird in der Dramatisierung von der ganzen Bande durchgeführt, deren Auftritt damit umso bedrohlicher wirkt. Während bei Döblin Franz sich selbst eine alternative Geschichte zur Erklärung seiner Verletzung ausgedacht hat, die ihn von Pums ’ Bande entbinden soll, wird ihm diese Lüge im Drama als Erklärungsmuster aufgezwungen. Damit wird Franz in eine Opferrolle gedrängt (FC 99 f), die noch dadurch verstärkt wird, dass seine Freundin Mieze währenddessen Geschlechtsverkehr mit einem der Bandenmitglieder hat. Der ohnehin gebeutelte Franz erfährt in dieser Situation, dass seine Partnerin als Prostituierte arbeitet - sogar für seine Feinde (FC 102). Auch der Darstellungsmodus der direkten Rede trägt zur Verschärfung der Figurenzeichnung bei. In Szene 12 „ Besuch bei Reinhold “ (FC 112 - 116) verläuft die Unterhaltung zwischen Franz und Reinhold zwar ähnlich der im Roman. Doch der Roman stellt dabei zwischen die Wortbeiträge immer wieder die Gedanken Reinholds dar, die durch Inquitformeln wie: „ [d]a denkt Reinhold “ (AD 298), klar als solche gekennzeichnet sind. Diese Gedanken werden von Reinhold in der Dramatisierung ausgesprochen. Sie grenzen sich von seiner übrigen Rede durch einen veränderten Tonfall ab. Dass es sich um Gedanken handelt, wird durch Franz Verhalten klar, der die harten Worte nicht zu hören scheint: MARC [REINHOLD] spricht ab jetzt auf zwei Ebenen mit unterschiedlichen Sprachbehandlungen (freundlich/ scharf). MAX [FRANZ] hört nur die freundlich gesprochenen Sätze, während den scharfen Texte trinkt er, schaut ins Glas usw. MARC [REINHOLD] zu MAX [FRANZ], freundlich Aber weeste, bloss Lude sein, det is doch zu langweilig. ins Publikum, scharf Wie er so fett und stark dasitzt, da denk ich, mit dem Jungen möcht ich spielen. Der setzt 271 <?page no="284"?> sich auf die Hinterbeine. Dem muss man die Knochen knacken. Der eine Arm genügt dir noch nicht. MAX [FRANZ] optimistisch, freudig Ick hab doch die Mieze. Ist ein braves Mädel [. . .]. MARC [REINHOLD] zu MAX [FRANZ], freundlich Das ist schön. ins Publikum, scharf Die nehme ich dir auch noch weg und dann schmeiss ich dich ganz und gar in den Dreck. zu MAX [FRANZ], freundlich Nimmste nochn Schluck? (FC 114 f.) Der Wechsel zwischen Gedanken und Rede erfolgt durch eine Sprechweise, die der Theaterkonvention des Beiseitesprechens nahekommt. Reinhold muss aber seine Gedanken nicht leise und verdeckt äußern, da diese durch das Spiel des Gegenübers als unhörbar charakterisiert werden. Das Phänomen entspricht einem Wechsel in der Fokalisierung: Im Laufe der Szene wechselt der externe Blick auf die Situation hin zu einem personalen. Dass die Gedanken aber hörbar und ‚ scharf ‘ vorgetragen werden, lässt die Grausamkeit Reinholds stärker hervortreten. In seiner verzweifelten Situation sind auch die Freunde Herbert und Eva nicht immer eine Hilfe für Franz: Eva bietet Franz zum Trost Geschlechtsverkehr an, „ hält ihm die gespreizten Beine entgegen “ (FC 87); Herbert stimmt zu und bestätigt das Angebot. Franz lehnt ab: „ Lass mich in Ruhe! Ick bin ein Mensch. Ick willn Mensch sein “ (FC 88). Gerade das ‚ Menschsein ‘ wird Franz in der Dramatisierung konsequent verweigert. Dieser Aspekt steht im Mittelpunkt von Frank Castorfs Interpretation der Geschichte. Die Bedeutungslosigkeit des Menschen Franz Biberkopf ist hier auf die Spitze getrieben. Castorf legt ihm mit dem Insistieren auf das ‚ Menschsein ‘ Worte aus einem Lied der Band Ton-Steine-Scherben in den Mund, 323 die eine politische Position suggerieren, die Biberkopf im sonstigen Verlauf des Stücks nicht einnimmt. Er fügt sich dort in seine Rolle. 4.4.4 Konsequente Aktualisierung Döblins Geschichte des Franz Biberkopf beginnt etwa im Herbst 1927 und endet im Januar 1929. Döblin arbeitet Daten in den Text ein und gibt ihm damit den Anschein von Authentizität und Aktualität. 324 Der Text wurde zeitnah ver- 323 „ Und ich bin über zehntausend Jahre alt/ Und mein Name ist Mensch/ Und wir haben einen Feind/ Er nimmt uns jeden Tag/ Er lebt von unserer Arbeit/ Und er lebt von unserer Kraft “ (FC 91). Zur politischen Dimension s. Abschnitt 4.4.6. 324 Michael Baum erläutert, Döblin gehe „ mit allen Formen empirischer Zeitmessung demonstrativ nachlässig um “ , datiere aufeinanderfolgende Tage mit auseinanderlie- 272 <?page no="285"?> öffentlicht, trägt somit Merkmale des Zeitromans und ist wohl auf Wiedererkennung angelegt. Insbesondere für die populären Lieder und Hinweise auf das Zeitgeschehen aus Nachrichten und Zeitungen dürfte dies gelten. Der Bezug auf die zeitgenössische Gegenwart war sicher einer der Gründe dafür, dass gerade dieses Werk Döblins viel diskutiert wurde und in kurzer Zeit große Berühmtheit erlangte. Frank Castorf versetzt Biberkopfs Erlebnisse in das Berlin des beginnenden 21. Jahrhunderts. Dabei enthält auch sein Text eine sehr genaue Zeitangabe: Franz Biberkopfs Verwundung geschieht exakt an dem Abend, an dem das Stück aufgeführt wird, wird also stets aktuell gehalten. ROSA [CILLY] staunend Oh, Schnee, Schnee, Schnee, Schnee im März. (jeweiliger Monat) [. . .] LUDMILA [TRUDE] Schnee am 29. März? (jeweiliges Vorstellungsdatum) Ist Feiertag, Cilly? ROSA [CILLY] Na ja, Donnerstag, Trude. (jeweiliger Tag der Vorstellung) (FC 75) Das Stück suggeriert durch die Angabe des Aufführungsdatums radikal Gegenwärtigkeit. Es steht gleichzeitig in der Tradition eines gesellschaftskritischen, politischen Theaters. Castorf zeigt einen Ausschnitt aus dem Leben der unteren Gesellschaftsschichten, nach heutigem Begriffsgebrauch am ehesten als Prekariat zu bezeichnen: Es handelt sich um Containerbewohner, Bandenkriminelle und russische Migrantinnen. Zitate der zeitgenössischen Kultur und Lebensweise, vor allem einer großstädtischen Subkultur fließen ein: Die Wohnungen werden zu Wohncontainern, in denen der Fernseher läuft, es wird mit der Handkamera gefilmt; statt auf handelnde Juden trifft Biberkopf auf die Verkäufer an einem „ Polenmarkt “ -Stand (FC 19), an dem T-Shirts mit dem Aufdruck „ I feel good “ (FC 19), ironisch als „ Luxusware aus Taiwan und Hongkong “ (FC 24) bezeichnet, sowie Hosenträger verkauft werden. Überfälle werden mit Mickey-Mouse-Masken auf dem Gesicht begangen und musikalisch mit dem Soundtrack des Films „ Lost Highway “ (veröffentlicht 1997) untermalt; Nenas „ Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann “ (FC 63), das zwar schon wesentlich älter ist, aber um das Jahr 2000 einen neuen Erfolg erlebte, begleitet einen sehnsuchtsvollen Dialog zwischen den Figuren Cilly und Trude (FC 63). Ebenfalls der direkten Gegenwart entnommen ist die Musik der Gruppe Rammstein; auch die Lieder der Rio Reiser Band Ton-Steine-Scherben (zum Beispiel „ Mein Name ist Mensch “ , FC 90) genden Daten und lasse Zeitangaben von Erzähler und Figuren voneinander abweichen. Es handelt sich also eher um den Anschein von Authentizität, nicht um eine empirische Wiedergabe von Wirklichkeit. Baum, Kontingenz und Gewalt. S. 68. 273 <?page no="286"?> haben, wenngleich älter, einen festen Platz in der linksalternativen Szene um das Jahr 2000. Castorf passt das Geschehen und die Handlungsmotivation vereinzelt an die Verhältnisse um die Jahrtausendwende an. Die von ihm ergänzten Textpassagen verraten dabei den historischen Abstand, der sich wie hier besonders stark in Bezug auf die Situation der Frauen offenbart. Deren Sprache und Bewertung der Handlungen zeigen den zeitlichen Unterschied: So wird Castorfs Minna deutlicher als die Döblins, wenn sie Franz einen „ Vergewaltiger “ (FC 17) schimpft, nachdem dieser sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat. 325 Insgesamt nehmen die Frauen gegenüber dem Roman eine etwas aktivere Rolle ein. Dies mag der zeitgenössischen Sicht geschuldet sein. Sexuelle Vorgänge und Gewalttaten werden zahlreich auf die Bühne gebracht. Dabei stellen die Frauen ihre Sexualität aus. Trotz der größeren Aktivität der Frauenfiguren zeigt Castorf sie, wie im Roman noch stärker, in einer Abhängigkeitsposition und als Prostituierte der Männer. Vorgänge, die aus heutiger Sicht nur noch schwer verständlich sind, werden durch eine Neuanlage der Figuren aufgefangen: So wird das Motiv des ‚ Mädchenhandels ‘ zwar beibehalten, aber insofern verändert, als dass fast alle Frauen Reinholds und Franz ’ (Lina, Trude und Cilly) Russinnen beziehungsweise Kroatinnen sind, die aus Angst vor Abschiebung bei Reinhold, Franz und Pums ’ Bande bleiben. Die Abhängigkeit der Frauen wird durch ihre persönliche Lage auch heute erklärbar: ROSA [CILLY] Aber mein Franz, Franz hat gesagt, er wird mich nicht verlassen, und Franz redet mit Reinhold, er wird dich nicht verlassen. Alles wird gut! Wir werden hierbleiben, in diesem wunderschönen Land. wiederholt noch mal alles auf Russisch (FC 64) Der Migrationshintergrund der Figuren wird dabei zeitweise ironisiert in seinen Klischees dargestellt. Im Roman interessiert sich Pums ’ Bande für Pelze und Stoffe als Diebesbeute. In der Dramatisierung wird das Motiv des Pelzhandels weiter ausgebaut. Die russischen Frauen nehmen dabei dem Bandenchef Pums beinahe die Führung ab (FC 181 f.); sie kennen sich mit Pelzen aus. Gegessen wird das russische Nationalgericht Borschtsch - so 325 Maria Tartar erläutert, wie sehr Franz Biberkopf trotz der Gewalt gegen Frauen, die er im Roman immer wieder ausübt, als Opfer dargestellt wird. Die montierten Passagen zu den weiblichen Mythosfiguren Clythemnestra und Hure Babylon würden die gewalttätigen Akte des Protagonisten relativieren. Franz stilisiere sich selbst als Leidender und werde vom Erzähler dabei unterstützt. Seine Taten stünden dazu im Widerspruch. Maria Tartar: „ Wie süß ist es, sich zu opfern “ . Gender, Violence and Agency in Döblin ’ s ‚ Berlin Alexanderplatz ‘ . In: Deutsche Vierteljahrsschrift (1992). S. 491 - 518. Vgl. v. a. S. 499 und 518. 274 <?page no="287"?> häufig, dass sich Reinhold beschwert: „ Uaah! jeden Tag gibt es Borschtsch. Borschtsch. Borschtsch “ (FC 180). Berlin Alexanderplatz bleibt auch bei Franz Castorf eine Skizze der gegenwärtigen Gesellschaft, die aktuelle (vor allem soziale) Probleme der Großstadt aufgreift, wenngleich die Milieustudie zugunsten einer stärkeren Kontinuität der Geschichte um Franz Biberkopf zurücktritt. Der Zeitroman als Darstellung gegenwärtigen Lebens bleibt im Zeitstückcharakter der Adaption erhalten. Dem historisierenden Blick, wie er heute auf Döblins Roman sowohl aus Perspektive der Leserschaft wie aus der der Literaturwissenschaft geworfen werden muss, setzt Castorf mit seiner Aktualisierung wiederum eine Darstellung von Gegenwart entgegen. Damit stellt sich ein Paradoxon ein: Die Veränderung auf inhaltlicher Ebene macht es möglich, das gesellschaftliche und kulturelle Leben im Moment der Rezeption des Kunstwerks als zentralen Gegenstand zu bewahren. Die Entfernung vom Text Döblins bewirkt eine Annäherung an dessen Wirkung. Die Aktualisierung eines Zeitromans stellt in dieser Hinsicht auch den Begriff der ‚ Werktreue ‘ implizit in Frage. 4.4.5 Erzählsituation und Eingang der montierten Texte des Romans Frank Castorf übernimmt die Dialogtexte der Dramatisierung zu großen Teilen direkt aus dem Roman. Fremdtexte hingegen bestimmen die Momente, in denen die Aktualisierung deutlich wird. Völlig frei gestaltet er die dramatischen Nebentexte; sie orientieren sich nicht am Roman, sondern stark an der Bühnensituation der Uraufführung. In der Aufteilung des Romantextes auf die sprechenden Figuren verfährt Castorf recht frei. Dialogpassagen werden zwar in der Bühnenfassung meist wortgetreu wiedergegeben, dabei aber häufig auf andere Figuren verteilt - insbesondere dort, wo die Rede gestrichener Figuren in die Dramatisierung eingehen soll. Aber auch Passagen, die bei Döblin nicht zur wörtlichen Rede (ob direkt oder indirekt) gehören, werden vielfach in die Dialoge des Dramas übernommen. Nicht immer folgen sie einem mimetischen Theaterkonzept: Über epische Einschübe und Rede, die nicht logisch als Figurenrede zu deuten ist, finden solche Abschnitte Eingang in die Dramatisierung. Dabei ist im Gegensatz zum Roman notwendig eine Sprecherzuordnung gegeben. Der Grad der Erklärbarkeit der Rede aus der Figurenpsychologie heraus fällt allerdings (wie am Beispiel der auktorialen Monologe in der Dramatisierung von Buddenbrooks durch John von Düffel erläutert, vgl. insbesondere 4.1.4.1) sehr unterschiedlich aus. So erhalten einige Abschnitte einen auktorialen Charakter, und wo die Rede nicht mimetisch und figurenpsychologisch 275 <?page no="288"?> erklärbar ist, ergeben sich Momente der Irritation. Die Paralepsen stören die Kohärenz der histoire wie auch des discours. Andererseits wird durch die theaterpraktischen Veränderungen, die zügigere Abfolge der Figurenhandlungen und die Übernahme von montierten Texten in die Dialoge wiederum ein stärkerer Zusammenhang hergestellt und das Montagekonzept teilweise relativiert. Um die Erzählsituation und den Eingang der montierten Texte des Romans zu untersuchen, sollen deshalb im folgenden Abschnitt die Erzählweisen und Darstellungsmittel gezeigt werden, die einen Zusammenhang der Geschichte schaffen (4.4.5.1). Ihnen werden anschließend Passagen mit Brüchen der mimetischen Dramenkonvention und der logischen Erzählfolge gegenübergestellt (4.4.5.2). Die unterschiedlichen (teils widersprüchlichen) Signale, die der Text der Dramatisierung in dieser Hinsicht gibt, sind nur im Bezug zur Aufführung verständlich. Der Abschnitt zu den Erzählmitteln wird daher viele Hinweise auf die Bühnenumsetzung enthalten, wie es einem so aufführungsbezogenen Text wie der Bühnenfassung Castorfs am ehesten entspricht. 326 Nicht nur der Eingang der Montagetexte des Romans in das Drama soll untersucht werden, sondern darüber hinaus andere Elemente, die Castorf seiner Dramatisierung hinzufügt: Lieder und Fremdtexte sowie die Angaben zum körperlichen Spiel im Nebentext. Ich verstehe diese Ergänzungen hier als ebenfalls montierte Elemente beziehungsweise als Vermittlerkommentar, sodass sie (über Mediengrenzen hinweg) in ihrer Wirkung im Vergleich zum Roman erfasst werden können. 4.4.5.1 Kohärenz der Handlung: Chronologie, Zeitstrukturen, Orte und deren Auswirkungen auf die Handlungsmotivation Die Szenenabfolge der übernommenen Handlungspassagen entspricht nicht der Abfolge der Romanhandlung. Die Handlung wird an mehreren Punkten umgestellt. Die Veränderungen in der Chronologie (Döblins Roman geht in Bezug auf die Geschichte Biberkopfs weitgehend chronologisch vor) wirken sich auf die Deutung des Geschehens aus. Besonders auffällig ist in dieser Hinsicht die Behandlung des Mordes an Mieze, der erst auf der Bühne dargestellt wird, nachdem Franz den Zeitungsartikel gelesen hat (vgl. FC 202 - 214). Er wird in einer Analepse wiedergegeben. Die Umstellung bewirkt, dass der Mord bereits mit einer Kommentierung zu sehen sein wird; das 326 Da die Dramenfassung ausführliche Nebentexte enthält und stark inszenierungsbezogen ist, lassen sich Schlüsse zur Bühnensituation und zur Wirkung der verschiedenen (Bühnen-)Zeichen verhältnismäßig leicht ablesen. Wo dies nicht möglich ist, ergänze ich aus der Kenntnis der Aufführung. 276 <?page no="289"?> Mittel wirkt also ähnlich wie die auktorialen Erzählerkommentare und Szenenüberschriften. Es stellt die Szene als unausweichlich dar. An anderen Stellen der Handlung bewirkt die Umstellung eine Veränderung der Handlungsmotivation gegenüber dem Roman. 327 Aus den Umstellungen, vor allem aber durch die oben skizzierten Streichungen sowie bühnenpragmatische Veränderungen (Reduktion der dramatis personae auf wenige zentrale Rollen, der Bühnenraum als verbindender Raum), ergibt sich ein neuer Zusammenhang der Handlung. Ein Ereignis scheint sich aus dem vorhergehenden zu entwickeln, mit dem es im Roman nicht in direktem Zusammenhang stand. In der Terminologie Martinez ’ und Scheffels ausgedrückt hieße dies: Das Geschehen wird Geschichte. 328 Die Dramenkonvention entspricht in gewisser Weise der Montage, werden doch Szenen häufig unverbunden nebeneinander gestellt. Der Rezipient ergänzt dabei die Übergänge beziehungsweise deutet Handlungsmotivationen als Erklärung der Übergänge. So ergibt sich aus den Rezeptionsgewohnheiten ein stärkerer logischer Zusammenhalt der Szenen auch ohne Übergänge. Die Annäherung des Romans an das filmische Erzählen, wie es Alfred Döblin für seinen Roman so stark macht, ließe sich (das hat die Dramatisierung der Wahlverwandtschaften gezeigt; vgl. Kapitel 4.3.5) auch in die Dramatisierung übernehmen. Doch Frank Castorf entscheidet sich gegen den Versuch der strukturellen Übertragung 329 und nutzt stattdessen stärker die spezifischen Möglichkeiten der Bühne: Er lässt die Handlung stetig durchlaufen und simultan verschiedene Handlungen spielen. Die Szenen überlappen sich und der Fokus wechselt innerhalb der Szene oder am Szenenende zwischen verschiedenen Schauplätzen, die stets präsent sind. Dem Publikum werden die Szenenübergänge, die im Dramentext durch die Überschriften und einen Seitenwechsel gekennzeichnet sind, oft nicht auffallen. Der Zuschauer kann dabei stets den Gang Franz Biberkopfs verfolgen, dessen ständige Anwesenheit auf der Bühne die Szenen optisch verbindet und in größerer Kohärenz erscheinen lässt. Auch die anderen Figuren des Dramas stehen regelmäßiger im Fokus der Handlung, übernehmen sie doch die 327 Die Pumskolonne tritt wesentlich früher auf als im Roman. Die Figuren treiben eine Handlung voran, für die im Roman andere verantwortlich sind (wie zum Beispiel Otto Lüders). 328 Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Auflage. München: Beck 2005. S. 25. (Selbstverständlich lassen sich die Ereignisse im Roman ebenfalls zur Geschichte kombinieren, sind nicht ‚ bloß ‘ Geschehen. Dennoch ist ein deutlicher Wechsel hin zu mehr Kohärenz und innerer Geschlossenheit zu erkennen.) 329 Der Film wird nicht strukturell nachgeahmt; er kommt aber als eigenes Medium auf die Bühne. Vgl. dazu im Folgenden Abschnitt 4.4.5.2. 277 <?page no="290"?> Funktionen mehrerer Romanfiguren. Formal entsteht ein starker Zusammenhalt der Handlung, indem Szenen direkt ineinander übergehen oder schon in der vorhergehenden Szene beginnen, sodass nur der Beobachtungsschwerpunkt des Rezipienten verlagert wird. Die Figuren bleiben im Szenenwechsel oft konstant sichtbar und verlassen selten die Bühne. Das stärkt den Eindruck von Stetigkeit, der sich auch in der erzählten Zeit widerspiegelt: Sie wirkt drastisch gekürzt, wohl aus dem Grund, dass weder im Dialog noch im Nebentext genaue Zeiträume bezeichnet sind. So entsteht beim Wechsel ins Drama der Eindruck, die Ereignisse auf der Bühne liefen ohne größere Zeitsprünge und zeitdeckend ab. 330 Das Geschehen ist bei Döblin hingegen auf den Zeitraum von knapp eineinhalb Jahren datierbar. Zudem verläuft die Handlung der Dramatisierung ohne größere Unterbrechungen, die im Roman durch Nebenstränge und erzählerische Pausen (gefüllt durch Textcollagen und Erzählerkommentare) entstehen. Die Handlungsmotivation, vor allem Franz Biberkopfs Motivation, wird aus der jeweils vorhergehenden Szene heraus entwickelt. Mehrfach werden die Funktionen unterschiedlicher Passagen des Romans in einer Szene zusammengefasst: So rettet der inzwischen einarmige Franz kein Pferd aus einer Baugrube (vgl. AD 241), sondern kommt zu einem Einbruch der Pumskolonne dazu und zieht, obwohl die Bandenmitglieder ihn aufs Heftigste provozieren, das Auto ein Stück die Straße entlang, um seine Kraft zu beweisen (vgl. FC 144). Die wiederhergestellte Kraft und das wiederhergestellte - wenngleich sehr fragwürdige - Verhältnis zu Bande offenbaren sich in einer einzigen Szene, die wiederum mit der im Vergleich zum Roman sehr dominanten Handlung um die kriminelle Bande verknüpft ist. Neben den konstanteren Figurenverhältnissen führt auch die Betonung von Franz ’ krimineller Karriere zum Eindruck einer größeren Geschlossenheit, trägt sie doch ein starkes Handlungs- und sogar Entwicklungsmoment in sich. Auch die Orte der Diegese und das Raumkonzept der Inszenierung unterstützen den Effekt: Das Bühnenbild bietet als Spielorte mehrere Wohncontainer, einer davon als Kneipe eingerichtet, und eine größere Spielfläche davor an. Die Zahl der Orte der Diegese ist ganz wesentlich verringert: Alle Kneipenszenen spielen in derselben (Bühnen-)Kneipe, die Wohnungen der Hauptfiguren liegen Tür an Tür beziehungsweise Containerwand an Containerwand, sind miteinander verbunden und gestapelt. Containerfenster und -türen können geöffnet und geschlossen werden, mit einem Rollladen lässt sich die Kneipenfront verschließen. Aus diesen nahen und doch ver- 330 Dieser Eindruck ist auf die Traditionen des Dramas und der Theaterrezeption zurückzuführen. Vgl. dazu genauer Kapitel 5.2. 278 <?page no="291"?> schließbaren Orten ergeben sich interessante Möglichkeiten parallelen Spiels. Die Container werden benutzt, als befänden sie sich in direkter Nachbarschaft: Wer aus dem Fenster sieht, wird gesehen; die Figuren wechseln die Wohnungen, denn die Container sind miteinander verbunden. Wie oben erläutert, wird beim Szenenwechsel oft nur der Beobachtungsschwerpunkt des Rezipienten verlagert. Eine Figur wechselt den Container und eröffnet damit einen neuen Spielraum mit neuen Mitspielern und Mithörern. Deshalb sind nur wenige Abgänge ins Off verzeichnet, und simultane Handlungen werden möglich. Der Raum der Bühnenhandlung trägt zur größeren inneren Bindung der Geschichte bei. Von einer ‚ Einheit des Ortes ‘ kann man dennoch nicht reden. Denn gerade die Freifläche vor den Containern wird in verschiedenen Funktionen genutzt. Auch die Integration der Montagetexte des Romans in den Figurendialog wirkt sich teilweise verbindend aus. Denn die Montagewirkung geht verloren, wenn der Text im Munde der sprechenden Figur nicht als Fremdtext auffällt und nicht von ihr als Zitat markiert wird. So wird der Collagecharakter in der Dramatisierung zeitweise zurückgestellt. Auch Erzählerkommentare können über Spielhandlungen ersetzt werden, ohne dass ein Bruch mit der Bühnenhandlung auftritt. Als Beispiel für die Integration der Kommentarfunktion von collagierten Texten und auktorialen Kommentaren ins Drama soll hier die Passage dienen, in der Franz nach den warnenden Geschichten der Juden hochmütig das Haus verlässt. Die Warnung vor dem Hochmut ( „ Ich will nur gesagt haben, ihr habt mal sehr traurig gesungen. “ AD 44; FC 21) erfolgt in der Dramatisierung in direkter Rede, wie der Roman es vorgibt. Döblins Erzähler kommentiert dies und macht eine Vorausdeutung: „ Er hatte aller Welt und sich geschworen, anständig zu bleiben. Und solange er Geld hatte, blieb er anständig. Dann aber ging ihm das Geld aus, welchen Augenblick er nur erwartet hatte, um einmal allen zu zeigen, was ein Kerl ist “ (AD 45). Diesen auktorialen Text ersetzt die Dramatisierung auf zwei Arten: Zunächst lässt sie Franz Biberkopf im Rollladen eines der Container feststecken und demontiert und karikiert damit seine Selbstsicherheit. Dem Rezipienten ist über das körperliche Spiel ein Zeichen gegeben, da die Figur der Lächerlichkeit preisgegeben wird; der Theaterzuschauer wird in eine ähnlich distanzierte, wissende Position gebracht, wie es Döblin mittels des Erzählers schafft. Nachdem der Hochmütige sich aus der unglücklichen Lage befreit hat, ist er keinesfalls geläutert. Glücklich geht er in sein neues Leben. Er zitiert den Anfang der Paradiesgeschichte, mit der Döblin sein zweites Buch beginnen lässt (vgl. AD 49). Der Text ist dort keiner Person in den Mund gelegt, er steht für sich dem Buch voran und schildert den glücklichen Ausgangszustand im Paradies, um anschließend vom Text eines 279 <?page no="292"?> Kinderliedes abgelöst zu werden (vgl. FC 22). Wenn Franz diese biblische Erzählung rezitiert, dann stützt sie für den Moment die euphorische, eben paradiesische Stimmung, in der er sich befindet, gleichzeitig aber weiß der Rezipient, dass nun der Sündenfall und die anschließende Vertreibung aus dem Paradies folgen müssen. Die Vorausdeutung wurde nicht vom allwissenden Erzähler vorgenommen, sondern das Publikum kann sie mit dem eigenen Wissen aus der Rede des ahnungslosen Protagonisten selbst schließen. Ähnlich integrativ geht Castorf mit einer Textpassage um, die das Theaterstück „ Coeur-Bube “ beschreibt. Dieser Abschnitt wird auf der Bühne von Pums vorgetragen; er erzählt Reinhold und Klempnerkarl von der Komödie. Die Rede entspricht weitestgehend dem Romantext, der dort allerdings nicht als wörtliche Rede angeführt ist, sondern als eine Mischung aus Werbe- und Zeitungstext. Pums richtet den Text mit einigen rhetorischen Fragen an Reinhold und Klempnerkarl, um deren Aufmerksamkeit zu binden. Zunächst erzählt er vom Theaterstück, schlägt vor, es sich mit der Bande anzusehen. Der Text wirkt aus dem Mund des Bandenchefs hoch ironisch. Reinhold reagiert entsprechend: JOSEF [PUMS] Das werden wir uns zusammen mit „ Obst und Gemüse “ mal ansehen. MARC [REINHOLD] im OFF Freude, Freude. Doch eine ironische Antwort lässt der Chef nicht zu. Es folgt eine Art ‚ Publikumsbeschimpfung ‘ - allerdings an die Adresse von Reinhold und Klempnerkarl. Pums lässt sich über die vielen Arten von Ausreden aus, die die Berliner daran hindern könnten, ins Theater zu gehen - hier wird eine implizite Metareferenz geschaffen, die so im Roman nicht angelegt ist und den ironischen Ton verstärkt. JOSEF [PUMS] zunehmend laut und aggressiv Sie können zunächst verreist sein und keine Kenntnis von der Existenz des Stückes haben. Sie können auch in Berlin sein, aber keine Gelegenheit haben, die Ankündigung des Theaters zu sehen, weil sie krank sind und zu Bett liegen. [. . .] Es liegt auf der Hand: In einer großen Stadt wie Berlin bezweifeln, bemängeln, bekritteln viele Menschen vieles. Sie wollen überhaupt nichts wissen vom Theater, Reinhold. Und selbst wenn sie es nicht bemäkeln und selbst wenn sie das Theater lieben, besonders das Renaissancetheater in der Hardenbergstraße, tritt einen Plastikstuhl weg brüllt und wenn sie sogar zugeben, dass in dem Stück eine Vereinigung von anmutigem Humor mit tieferem Sinn stattfindet, so wollen sie daran nicht teilnehmen, wa? MARC [REINHOLD] Ja. 280 <?page no="293"?> UELI [KLEMPNERKARL] Genau. JOSEF [PUMS] Denn sie haben einfach heute abend was anderes vor, wa? [. . .] UELI [KLEMPNERKARL] Ja. JOSEF [PUMS] Ich scheuer dir gleich eine, Arschloch! (FC 70 f.) Diese ‚ Publikumsbeschimpfung ‘ ist nicht an das Theaterpublikum der jeweiligen Aufführung gerichtet, sondern (der Nebentext legt das eindeutig fest) an Reinhold und Klempnerkarl. Denn Pums interessiert sich nicht für das Theater. Er benutzt den Text nur, um seinen Status in der Gruppe bestätigen zu lassen, Gehorsam zu fordern und seine Überlegenheit gegenüber seinen Untergebenen auszuspielen. Der Textabschnitt erfüllt also eine figurenpsychologische Funktion. In diesem Fall ist die Integration des montierten Textes in die Rede innerdiegetisch erklärbar und fällt als Collage nicht mehr auf. Dennoch ist durch den metareferentiellen Bezug auf das Theater ein Irritationsmoment denkbar: Der Dialog verweist auf die Bühnensituation und offenbart damit den Illusionscharakter der Handlung. Dieser gegenläufige Effekt zeigt bereits an, wie selbst die in den Dialog integrierten Texte einen Bruch der mimetischen Bühnenhandlung bewirken können. 4.4.5.2 Bruch der Kohärenz: Wechsel der Erzählebene, Simultanhandlungen und die Desemantisierung von Sprache und Körper Die bis hierhin skizzierten Veränderungen wirken zwar in Richtung einer größeren Kohärenz der Handlung, insbesondere dann, wenn man Szenenübergänge und szenenübergreifende Aspekte wie Handlungszeitraum, Bühnenraum und Figurenzahl betrachtet. Dieser Eindruck scheint hauptsächlich der Bühnenanpassung geschuldet, relativiert sich innerhalb der einzelnen Szenen aber oft wieder. Gemessen an traditionellen Dramenstrukturen und Inszenierungsweisen zeigen sich deutlich Brüche mit den Konventionen sowohl der Gattung als auch des Mediums, die wiederum polyperspektivisches Erzählen ermöglichen oder sprachreflexive Elemente enthalten. Auch unverständliches Verhalten wird gezeigt, die Figurenpsychologie ist also nicht immer durchsichtig und logisch. Indem Castorf dem Zuschauer eine illusionistische, geschlossene Handlung und eine durchschaubare Figurenpsychologie verweigert, thematisiert er in Berlin Alexanderplatz (implizit) die Schaulust sowie Wahrnehmungsgewohnheiten des Zuschauers. Als ein Mittel mehrschichtigen Erzählens im Drama wurden oben bereits die simultanen Handlungen an unterschiedlichen Spielorten angesprochen. Die Gleichzeitigkeit der Handlungen bedeutet dabei auch, dass der Rezipient etwas ‚ verpassen ‘ kann. Das simultane Erzählen an mehreren Orten der 281 <?page no="294"?> Bühne stellt das Publikum vor die Aufgabe, sich für einen Fokus zu entscheiden, und relativiert damit den scheinbar stetigen Lauf der Handlung und deren Einsträngigkeit. Castorf setzt auf den Voyeurismus des Zuschauers: Was in den Containern geschieht, wird per Tonabnahme nach draußen getragen - es gibt Szenen, die der Zuschauer zunächst nur hört und dann erst sieht, oder Szenen, in denen eine hörbare Parallelhandlung in einem der Container abläuft. Manche Szene ist nur ausschnittweise durch das Fenster zu beobachten. Castorf erklärt dazu: „ Ich finde das ganz spannend, wenn man eben nicht alles sieht, was man sehen möchte im Theater. “ 331 Sprache und Geräusch gewinnen dann an Bedeutung für das Verständnis des Handlungsgangs. Das verschlossene Fenster macht dem Zuschauer durch die Blickgrenze seine Zuschauersituation bewusst. Zudem offenbart es den Konstruktionscharakter des Verstehens der Geschichte, indem der Rezipient auf sich selbst zurückgeworfen wird. Ein gewisser Voyeurismus, zumindest Neugier, wird erzeugt - aber nicht immer befriedigt. Auch der Fernseher in einem der Container wirkt in diese Richtung: Er zeigt zeitweise Figuren der Bühnenhandlung, sodass sich diese medial doppeln. Damit steht das Medium Fernsehen in Konkurrenz zum Bühnenspiel, lenkt den Blick ab, macht aber gleichzeitig bestimmte Handlungen erst sichtbar. Die Figuren der Bühnenhandlung selbst werden, wenn sie in den Fernseher schauen, zu Beobachtern. Damit löst sich auch die klare Grenze zwischen Publikum, Schauspieler und Figur auf und - so definiert Jens Roselt den „ kleinsten gemeinsamen Nenner “ der Mediennutzung auf der Bühne - „ Wahrnehmung im Theater [wird] selbst zum Thema “ . 332 In Castorfs Berlin Alexanderplatz wird unter anderem die Diskussion um die Vergewaltigung Minnas und den Totschlag an Ida mit der Kamera gefilmt und in einen anderen Container übertragen. Minna stellt zudem die Vergewaltigungsszene nach; der Nebentext gibt ein „ lustvolles Auskosten der derben Vorführung “ als Figurenhaltung an (FC 32). Zeigelust und Voyeurismus werden medial ausgestellt, Privatraum und Öffentlichkeit in ihren Grenzen verwischt. Die Kamera bleibt dabei starr auf das Sofa gerichtet, das Bild wird nicht immer die komplette Szene fassen und bricht so mit dem Anspruch auf „ Überlegenheit und Kontrolle “ des Zuschauers, auf Sinn und Verstehen. 333 331 Es gibt zu wenig Anarchisten. S. 450. 332 Jens Roselt: Mit Leib und Linse. Wie Theater mit Medien arbeiten. In: Theater fürs 21. Jahrhundert. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold in Zusammenarbeit mit Christian Dawidowski. München: Boorberg 2004 (= Sonderband text + kritik 11). S. 34 - 41. Hier S. 37. 333 Den Effekt erläutert Jens Roselt ausführlich anhand von Castorfs Dramatisierungen der Dostoijewski-Romane Erniedrigte und Beleidigte und Dämonen. Die geschlossenen Räume auf der Bühne, der Wechsel von Sichtbarkeit und Handlungen im Verschlossenen, Figuren der Handlung als Zuschauer sowie mediale Installationen bestimmen auch hier 282 <?page no="295"?> Von solchen spezifischen Darstellungsformen abgesehen bedeutet schon die bloße Textmenge, die sich in der Aufführungszeit von fast fünf Stunden niederschlägt, eine Sprengung der Form. Der Zuschauer wird auf die Probe gestellt. Zudem scheint sich der Text, darin ähnelt er strukturell Döblins Schreiben, zeitweise zu verselbstständigen. Die Figuren ringen um Worte, missverstehen sich, erzählen ausschweifend Geschichten, wechseln zwischen Dialekt und Hochdeutsch (vgl. FC 38), von Gebrüll zu Gesang (vgl. FC 90 f.), von Alltagssprache zum auktorialen Erzählstil der Bucheinleitungen (vgl. FC 56) oder zur Bibelrezitation (vgl. FC 117, 73). Der Dialog ignoriert die ‚ vierte Wand ‘ : Immer wieder wenden sich Figuren direkt ans Publikum. Das betrifft insbesondere die Textpassagen, die den Collagetexten des Romans entsprechen, sowie die auktorialen Erzählertexte des Romans. 334 So spricht Josef alias Pums „ freundlich und weich zum Publikum “ einen von Döblin paraphrasierten Bibeltext (FC 73), der im direkten Anschluss mit agressiver Musik der Band Rammstein kontrastiert wird (vgl. FC 74). Diese Musik leitet die Szene des Raubzugs ein, bei der die Bande den Verletzten Franz auf der Straße liegen lässt, Pums gar vorschlägt, sie sollten Franz „ vielleicht ganz tot machen “ (FC 79). Wie in Thomas Jonigks Dramatisierung der Elixiere des Teufels wird also über die Differenz von Sprechhandlung und Körperhandlung implizit ein Kommentar zum Bühnengeschehen gegeben beziehungsweise eine Figur entlarvt (vgl. Kapitel 4.2.5). Wo die montierten Texte aus dem Roman in die Dramatisierung eingehen, brechen sie als Teile der Figurenrede oft die Figurenpsychologie oder deuten einen Ebenenwechsel an. Die epischen Erzählpassagen werden auf unterschiedlichen Erzählebenen angesiedelt und lassen sich nur selten aus der Rolle der Figur heraus erklären. Wenn der Mord an Mieze erzählt wird, tritt Mieze selbst aus der direkten Handlung heraus, nicht aber aus ihrer Rolle: Franz hat gerade vom Mord erfahren, die übrigen halten ihn für den Mörder. Er verlässt den Raum, um in der Kneipe in der Zeitung zu lesen, „ wat die schreiben, wie det war “ (FC 187). Das Publikum erhält diese Informationen aus dem Mund des Opfers selbst. Der Übergang vom Zeitungsbericht in eine das Raum- und Wahrnehmungskonzept der Inszenierung. Jens Roselt: Die ‚ Fünfte Wand ‘ . Medialität im Theater am Beispiel von Frank Castorfs Dostojewski-Inszenierungen. In: Szenische Orte. Mediale Räume. Hrsg. v. David Roesner, Geesche Wartemann und Volker Wortmann. Hildesheim: Olms 2005. S. 109 - 127. Hier S. 126. 334 In diesen wendet sich auch der Erzähler des Romans an seine Leser. Kobel setzt solche Passagen in Beziehung zu Brechts epischem Theater. Erwin Kobel: Alfred Döblin. Erzählkunst im Umbruch. Berlin/ New York: de Gruyter 1985. Vgl. S. 281. 283 <?page no="296"?> Spielszene ist dabei bemerkenswert. Ohne harte Brüche entwickelt sich eine Analepse. Mieze steht dabei direkt an der Rampe, ist also deutlich aus der Handlung herausgenommen. Zunächst spricht sie „ direkt ins Publikum “ (FC 190) und erzählt vom Ausflug nach Freienwalde, wo sie etwas über Pums ’ Bande und die Umstände, unter denen Franz seinen Arm verloren hat, erfahren will. Sie nennt sich dabei in der dritten Person, als wolle sie einen Bericht abgeben. Dennoch handelt es sich nicht um einen konsequent auktorialen Monolog, wie er am Beispiel der Buddenbrooks-Dramatisierung gezeigt wurde. In Miezes Rede werden Umgangssprache und Dialekt beibehalten; außerdem fällt Mieze mehrfach in die erste Person zurück: „ Aber Sonjaken, Miezeken will was für Franzen tun, unser kleines Kätzchen will was für ihn tun, schöner als Geldverdienen ist das. Sie will alles rauskriegen und ihn beschützen. Ick pass uff. kichert “ (FC 190). Sie erzählt in der dritten Person weiter, als Reinhold und Klempnerkarl beginnen, ihr zuzuhören und sogar Reaktion zeigen: Klempnerkarl erkennt, dass er getäuscht wurde und Mieze ihn gar nicht liebt. Die distanzierte Erzählweise wird zur Tarnung und zum Rückverweis auf den Zeitungsartikel und damit auf die Nachträglichkeit des Erzählens. Die Zuhörer gehen nach hinten ab. Mieze erzählt weiter vom Maskenball, entfernt sich dabei von der Rampenmitte. Als sie erzählt, was sie herausgefunden hat, fahren Reinhold und Klempnerkarl im Auto vor. Es entsteht der Eindruck, Mieze habe gefährliches Wissen preisgegeben. Das Publikum sieht die Abfahrt der drei nach Freienwalde als gespielte Szene. Der Wechsel zwischen den Zeiten ist damit etabliert. In der Kneipe sitzen Herbert und Eva bei Franz und suchen nach einer Erklärung. Das Ende der Szene wird durch die Schließung der Rollläden am Kneipencontainer klar definiert. Auf der vorderen Bühne läuft die Szene zwischen Reinhold und Mieze bis zu deren Ermordung weiter. Der Rückblick hat die Gegenwart der Bühnenhandlung eingeholt, wenn Franz nun Miezes Leichnam findet und birgt. Auffällig sind die Brüche mit der mimetischen Darstellungstradition besonders dort, wo Figuren aus der Bühnenhandlung heraustreten und über ein Wissen oder eine Erzählweise verfügen, die sich der Logik der Diegese beziehungsweise der Figurenpsychologie verweigern. Die Schauspielerin Iris tritt aus der Szene (und der Figur der Minna) heraus, erklärt in einem auktorialen Monolog dem Publikum das bisherige Geschehen und macht sogar eine Vorausdeutung. Sie benutzt dazu wörtlich das Vorwort des zweiten Buches und wird zur übergeordneten Instanz, was nicht nur der Text zeigt, sondern auch in den Regieanweisungen durch den Wechsel vom Dialekt ins Hochdeutsche sowie durch den Kontakt mit dem Publikum festgeschrieben ist: 284 <?page no="297"?> IRIS [MINNA] Publikumsadresse: hochdeutsch, meint ernst, was sie sagt, schlicht und klar/ die Augen auf den Boden gerichtet Damit haben wir unseren Mann glücklich nach Berlin gebracht. Er hat seinen Schwur getan, und es ist die Frage, ob wir nicht einfach aufhören sollen. hebt den Blick ins Publikum Der Schluss scheint freundlich und ohne Verfänglichkeit, es scheint schon ein Ende, und das Ganze hat den großen Vorteil der Kürze. laut Aber es ist kein beliebiger Mann, dieser Franz Biberkopf. Ich habe ihn hergerufen zu keinem Spiel, sondern zum Erleben seines schweren, wahren und aufhellenden Daseins [. . .]. Ihr werdet sehen, wie er wochenlang anständig ist. Aber das ist gewissermaßen nur eine Gnadenfrist. zu SIGGI [NACHUM], weich Sag mal, Nachum, warum erzählst du immer so eine Scheiße? (FC 20) Der letzte Satz signalisiert einen Wechsel zurück auf die Ebene der Bühnenhandlung. Der Bruch bleibt: Der Satz ‚ Ich habe ihn hergerufen ‘ stört die Illusion, bringt also den Rezipienten in eine distanziertere Position, lässt keine vollständige Identifikation mit Franz Biberkopf zu. 335 Darüber hinaus ruft er eine Erwartungshaltung hervor. Iris gibt an, die Handlung zu steuern. Doch über diese Aussage hinaus gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie die Geschehnisse anstößt oder arrangiert. Insofern bleibt ihre Aussage, sie habe die Figur des Franz ‚ hergerufen ‘ , unbestätigt. Wenig später spricht sie noch einmal in auktorialem Ton: Mit dem Text der moritatenhaften Einleitung zum fünften Buch des Romans, die Franz ’ Zustand beschreibt, kommentiert sie seine mangelnde Einsicht und gibt einen Ausblick auf kommende Ereignisse (vgl. FC 56). Es ist kaum zu ermitteln, ob die Schauspielerin hier als eine bestimmte Figur agiert. Sie besetzt mehrere Rollen, in der vorhergehenden Szene spricht sie „ als Vogel “ (FC 52) im Käfig zu Franz, bricht das „ Vogel-Spiel “ aber bald ab, „ hat keinen Spaß mehr daran “ (FC 54). Wo auch die Figuren in Rollen agieren und andere Figuren der Handlung, mythische Figuren oder gar Schauspieler nachahmen können, bleibt unklar, ob die Schauspielerin 336 oder eine Figur spricht. Eine 335 Das entspräche soweit noch dem Gestus des Erzählers im Roman. 336 Auch wenn hier von der Schauspielerin die Rede ist, entspricht dies nicht der Schauspielerin als Mensch. Vielmehr muss auch in diesem Fall aus der Bühnensituation abgeleitet werden, dass es sich um eine artifizielle Situation und damit um eine Rolle handelt. Diese jedoch entspricht stärker dem privaten Verhalten des Menschen, verzichtet auf bühnentypische Sprache und Körperhaltung und hat vor allem keinen Platz in der Diegese der fiktiven Bühnenhandlung. Damit fällt die Schauspielerin aus ihrer Rolle - wenngleich auch nur in eine andere, die die Realität der Bühnenproduktion simuliert. 285 <?page no="298"?> konstante und logische Figurenzuordnung ist somit unmöglich. Die entstehende Verunsicherung, eine Skepsis um den Status (und damit auch um die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt) der Aussagen, kann auf theaterpraktische Weise einen ähnlich relativierenden Effekt erzeugen wie die Textcollagen Döblins. Bezogen auf die Figuren der Handlung, insbesondere auf Franz, entstehen durch solche Passagen starke Wissensunterschiede der Figuren. Anders als die Erzählerkommentare im Roman wirken die auktorialen Passagen auf der Bühne durch die Verunsicherung um den Sprecherstatus nicht unbedingt lenkend wie im Roman. Wie Iris wechselt auch der Schauspieler Ueli (gemeint ist Ueli Jäggi) ins Hochdeutsche: Er erzählt auf Drängen Minnas hin die Geschichte von Franz ’ Mord an Ida. Die Erzählsituation bleibt dabei unklar und ist ein gutes Beispiel für die Verunsicherung, die Castorf hervorruft. Ueli (das zeigen die Anreden im Dialog) wird von Minna zum Erzählen aufgefordert, der Wechsel ins Hochdeutsche signalisiert eine andere Erzählebene. Darüber hinaus spricht Minna ihn als „ Jäggi “ an, skandiert den Namen des Schauspielers, nicht den der Figur. Der Angesprochene versucht, seine Rolle zu verteidigen; er verweigert zunächst den Ausstieg aus seiner Figur: „ Ick will det nich. Ick bin nicht Jäggi. Ick bin Schlossermeister und mein Name ist Karl. Ick wohne in der Rosenthaler Strasse, Berlin Mitte “ (FC 38). Schließlich lässt er sich überreden und erzählt Franz Vorgeschichte „ an der Rampen-Mitte “ , „ ruhig und sachlich “ . Der Streit um den Erzählmodus betont den Illusionscharakter, der Einfluss der Schauspieler die Unzuverlässigkeit des Dargestellten. Selbst Projektionen, die ganz im Sinne des epischen Theaters nach Brecht zeitweise die Kapitelüberschriften aus dem Roman sichtbar machen und so eine auktoriale Kommentarebene bieten, werden relativiert. Ein Beispiel für eine solche Dekonstruktion bietet die Szene „ Besäufnis mit Mieze “ (FC 123 - 128). Dort wird eine Kapitelüberschrift Döblins als Leuchtschrift auf die Bühne gebracht: „ Die Fliege krabbelt hoch, der Sand fällt von ihr ab, bald wird sie wieder brummen “ (FC 123; vgl. AD 286). 337 Während der Roman durch diese Vorworte und durch Kapitelüberschriften gegliedert wird, sie also (unter anderem) eine ordnende Funktion haben, läuft in der Inszenierung Castorfs die Szene parallel weiter. Die Bühnenhandlung zeigt den niedergeschlagenen Franz Biberkopf mit Mieze beim Grillen. Mieze entdeckt auf dem Würstchen eine Fliege, die sich aus dem Ketchup herauskämpft. Der Kommentar wird hier also nicht nur als Sinnbild eingesetzt, sondern wird Teil 337 Der Text der Dramatisierung, in der die Leuchtschrift etwas vereinzelt wirkt, gibt hier nicht die Bühneninszenierung wieder, die deutlich mehr Projektionen dieser Art macht. Dennoch ergibt sich keine so deutliche Gliederung, wie sie der Roman durch Überschriften und Vorworte anbietet. 286 <?page no="299"?> der konkreten Bühnenhandlung. Er wird damit parodiert. Franz soll sich das kleine Tier scheinbar in didaktischer Absicht anschauen; doch Mieze brüllt ihn an, wechselt in die Beschreibung der „ Hure Babylon “ (FC 127), ein Textabschnitt, der demselben Romankapitel entstammt, und führt die didaktisch aufmunternde Zielrichtung so ad absurdum. Gleich zwei Arten montierter Texte werden hier in die Dramatisierung übernommen und brechen trotz ihrer Integration in den Dialog die Illusion einer logischen, stetig geführten Handlung, indem das Bühnengeschehen der Projektion zuwider läuft. Eine weitere Art, über die Sprache die Kohärenz der Handlung und internen Logik zu brechen, stellt die Verselbstständigung der Sprache durch Auflösung ihrer Semantik dar. Der Textfluss der Dramatisierung wechselt die Geschwindigkeit, zerfließt zeitweise bis hin zu einer „ Auflösung der Sprache bis zu unverständlichen Lautsalven “ (FC 11). Auch hier wird dem Zuschauer ein eindeutiges Verständnis verweigert. 338 Ähnlich sinnverweigernd wirkt eine Szene, die eine Art Streit zwischen Franz und Mieze darstellt. Der Figurentext wird zeitweise von Musik übertönt. Als Dialog sind lediglich Lautfolgen angegeben; die Konsonantenfolge lässt sich nur (semantisch leer) als Zungenschlag, also reines Körperzeichen umsetzen: „ Bllbllbllbllbllbll “ (FC 110). Auch in der Beschreibung der Körperlichkeit der Figuren kommt es mehrere Male zu einer Verselbstständigung, wie der Nebentext angibt. Die Bewegungen der Figuren werden beständig wiederholt, erscheinen ins Groteske gesteigert oder werden kreatürlich. So stößt Marc in der Rolle des Juden Eliser beim Erzählen „ mit dem Kopf immer wieder gegen SIGGI vor, wie ein Habicht “ (FC 11), während sich seine Sprache aufzulösen beginnt. In einer lesbischen Liebesszene zwischen Mieze und Eva „ zappelt “ letztere „ mit den Beinen in der Luft, wie ein Käfer “ (FC 95) und summt fortwährend; Reinhold schnappt „ wie ein Hund “ (FC 162), wenn er versucht, sich Frauen sexuell zu nähern. Der Nebentext gibt als Spielweise für MAX [Franz]einen „ kreatürliche [n] Zustand “ an (FC 124). Andere Szenen stellen typisch kindliche Verhaltensweisen der Protagonisten aus, wie das Verstecken unter der Bettdecke (vgl. FC 170) oder das Kauen an den Fingernägeln (vgl. FC 166). Eine Szenenanweisung beschreibt ausführlich ein „ Traumduett “ (FC 124) einer Figur mit einem Sänger vom Band, bei dem sie gleichzeitig Würstchen ist: „ BIBI bleibt stehen, dem Publikum zugewandt, kaut eklig, singt gleichzeitig, lässt die zerkaute Wurst Stück für Stück wieder aus dem Mund fallen, dann singt sie wieder schön und 338 Der Tradition einer klaren und gut verständlichen Bühnensprache läuft diese Rede also entgegen und bricht so mit den Erwartungen der Rezipienten. 287 <?page no="300"?> innig “ (FC 125). Die Szene stellt eine Diskrepanz zwischen Ästhetik und Ekel aus, die sicher provoziert. Die Arbeit mit dem Romantext, der Erzählerrolle und den Darstellungsarten des Romans geschieht in der Dramatisierung auf (strukturell) vielfältige Weise. Es wären auch konstantere Erzählweisen denkbar - wie zum Beispiel die strikte Beschränkung auf direkte Rede und Schauspiel, ein durchgängig eingesetzter extradiegetischer Erzähler, eine intradiegetische Erzählerfigur oder eine konsequente Gliederung durch projizierte Schriften. Diese Möglichkeiten legt Castorf in seiner Fassung von Berlin Alexanderplatz zwar an, löst sie dann aber wieder durch andere Mittel ab. Das verwundert kaum, wehrt sich doch Castorf ausdrücklich gegen eine mimetische Bühnentradition und die Geschlossenheit von Theaterstücken: Er glaubt in Deutschland eine besondere „ Sehnsucht nach direkter Abbildung und Eindeutigkeit der Kunst “ zu erkennen, die er in der ästhetischen Tradition begründet sieht. Er selbst hingegen möchte das Geschehen in der Schwebe lassen, anstatt eine direkte Synthese anzubieten. 339 Stilistisch entspricht die angebotene Formenvielfalt außerdem der Form des Romans, der ebenfalls mit unterschiedlichen Modi und Stimmen arbeitet und diese collagenartig zusammensetzt. Der Text steht mit seinen Brüchen und Sinnverweigerungen zwar dem postdramatischen Theater, wie es Hans-Thies Lehmann skizziert, deutlich näher als andere Dramatisierungen. Dennoch erzählt er eine fiktive Geschichte und bleibt außerdem der Aufteilung in Dialog und Nebentext treu, wie es für eine (pragmatisch orientierte) Bühnenfassung kaum anders denkbar ist. Insofern ist auch diese Dramatisierung als solche treffend bezeichnet, sofern man den Dramenbegriff nicht normativ, sondern pragmatisch vor allem in Bezug auf das Zielmedium definiert. 4.4.6 Politische Interpretation: Endspiel Besondere Beachtung verdient der Schluss der Dramatisierung, der vom Romanende abweicht. Wie oben im Zusammenhang mit der Analyse des Personals beschrieben, tritt der Tod als Figur auf; mit dem Gestus eines Wirts, „ der seine Kneipe schließt “ (FC 226), beginnt er, die Container-Bar aufzuräumen. Nun erfolgt eine Umstellung im Handlungsablauf: Im Roman findet zunächst das Gespräch mit dem Tod statt, anschließend wird Franz im 339 Theater - Ein Schuss Anarchie. Der Regisseur Frank Castorf im Gespräch mit Günther Erken. In: Programmheft MISS SARA SAMPSON, Bayrisches Staatsschauspiel/ Prinzregententheater, Heft Nr. 49, 1989/ 90. Zitiert nach: Joachim Fiebach: Manifeste europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. Berlin: Theater der Zeit 2003 (= Recherchen 13). S. 437 - 444. Hier S. 441. 288 <?page no="301"?> Fiebertraum noch einmal den zentralen Figuren, die sein Leben bestimmt haben, gegenübergestellt (vgl. AD 437 - 441). Darüber erschließt sich für ihn die Erkenntnis, wann er anders hätte handeln sollen. Castorf zieht diese Konfrontation in der Dramatisierung vor und lässt die Figuren in der Kneipe neben Franz treten. Das Geschehen ist als innerdiegetisch real dargestellt. Es ist bezeichnend, wie sehr die anderen auch jetzt noch über Franz hinweggehen, wie wenig sie ihn ernst nehmen: So versucht Eva, Reinhold dazu zu bringen, sich für den Mord zu entschuldigen - eine Forderung, die den Mord tatsächlich ins Lächerliche zieht. IRIS [EVA] Geh dich wenigstens entschuldigen! OLIVER [HERBERT] laut Ja, det könnt mich versöhnlich stimmen. MARC [REINHOLD] trotzig Nee, mach ick nich. (FC 216) Währenddessen trägt Franz Miezes Körper in die Kneipe; zunächst beachtet ihn keiner. Später aber richten die Figuren ihre Vorwürfe, die sie im Roman nur im Fiebertraum äußern (vgl. AD 437 - 441), direkt an den trauernden Franz. Bösartig wirkt Herberts Verhalten, der mit Miezes Kopf in der Hand, ihre Stimme nachahmt und Franz anklagt: OLIVER [HERBERT] geht zu MAX [FRANZ] an den Tisch, setzt sich hinter BIBI [MIEZE], umfasst und stützt mit beiden Händen zärtlich ihren Hals, spielt Puppe. OLIVER Kopfstimme Ich kann nicht, Franzeken. Ick bin ja dod, du weesst doch. (FC 220) Genauso grausam agiert Reinhold, der Franz provozieren will und ihm dazu Miezes Leichnam entreißt, um eine Art Fangspiel zu initiieren. MARC [REINHOLD] lauernd, provozierend Komm doch, komm doch, du. Box doch! Komm, zeig, wat du bist, Franzeken, komm, komm, komm, Biberköpfchen, komm, komm. MARC [REINHOLD] entreißt MAX [FRANZ] schnell BIBI [MIEZE], trägt sie rennend zum rechten Container. MAX rennt hinterher. (FC 218) Schließlich erklärt Eva Herbert, dass er Vater werde; der ist überglücklich und sucht einen Taufpaten. Als erster fällt ihm Reinhold ein, er wählt also den Mörder als Paten. Franz kommt ihm nicht in den Sinn. Mit den Worten: „ Wir finden schon jemand “ , verlässt er die Bühne (FC 222). Noch einmal wird Franz der Lächerlichkeit preisgegeben: Cilly, Trude und Pums sehen ihn in der Kneipe sitzen und stellen ihre Diagnose. Mit den Texten der drei Ärzte aus Döblins Roman (vgl. AD 425 - 428) diskutieren sie in populärwissenschaftlichem Duktus seine Leiden, ohne Franz zu helfen, um anschließend tatenlos zu gehen (vgl. FC 223 - 225). 289 <?page no="302"?> Nun erst folgt das Gespräch mit dem Tod. Im Gegensatz zum Roman, bei dem das Gespräch eine Art Läuterung anregt, der die Gegenüberstellungen mit Lüders, Reinhold, Mieze und Ida sowie ein langwieriger Genesungsprozess folgen, steht der Dialog in Castorfs Bühnenfassung am Ende. Der Text, mit dem der Tod Franz über die Fehler seines Lebens aufklärt, ist dem Roman entnommen: Franz habe nie ein wirklich neues Leben angefangen, sein Handeln nicht in Frage gestellt, sondern krampfhaft an dem festgehalten, was er habe. Doch während im Roman dann eine Läuterung einsetzt, an deren Ende Franz ’ Genesung und ein neues Leben als „ Hilfsportier in einer mittleren Fabrik “ (AD 452) stehen sowie die Bestrafung Reinholds und Klempnerkarls durch die Justiz, endet die Dramatisierung hoffnungslos: Der Tod schneidet Franz das Herz aus der Brust (vgl. FC 229), dieser verlässt unter Schmerzen mit Miezes totem Körper im Arm die Bar. Das Stück endet mit einem Monolog Biberkopfs, dessen Text der Schlachthofpassage aus dem Roman entspricht. Er spricht direkt zum Publikum, beschreibt mit den Worten Döblins die Schlachtung eines Stiers (ohne dass allerdings explizit erklärt würde, dass es sich um ein Tier handelt) und schließlich den Tod der Kreatur. „ Das Leben röchelt sich nun aus, der Atem lässt nach. Schwer dreht sich der Hinterleib, kippt. “ Die letzte Aussage - „ [f]röhliche Weiden, dumpfer, warmer Stall “ (FC 230; vgl. AD 142) - kann nicht mehr sein als eine Erinnerung, zumal Franz neben dem Leichnam seiner Freundin steht. Castorf erteilt jedem versöhnlichen Ende eine deutliche Absage. Auch Döblin relativiert das positive Ende seines Romans, denn noch immer verfolgen Franz Biberkopf die Kriegsbilder. Am Ende des Romans steht ein Lied, das in großer Fröhlichkeit den Aufbruch thematisiert und dabei zwischen Kriegsmarsch und Revolutionslied changiert: Es geht in die Freiheit, die Freiheit hinein, die alte Welt muß stürzen, wach auf, die Morgenluft. [. . . Wir] ziehen in den Krieg, es ziehen mit uns hundert Spielleute mit, sie trommeln und pfeifen, widebum, widebum, dem einen gehts grade, dem andern gehts krumm, der eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der andere liegt stumm, widebum, widebum. Ende (AD 454 f.) Indem hier nach der Andeutung einer positiven Entwicklung des Protagonisten noch einmal Kriegs- und Todesmotive auftauchen, lässt Döblin das Ende offen. Franz ’ scheinbare Wandlung und der positive Ausblick, den der auktoriale Erzähler gibt, werden indirekt relativiert. Der Erzähler in Döblins Roman gibt seiner Hauptfigur zwei wesentliche Erkenntnisse für die Zukunft mit. Erstens müsse man sich seines Verstandes bedienen und die Augen offen halten (vgl. AD 454). Soweit erkennt auch der Biberkopf des Dramas seine Fehler. Er hätte den Worten seiner Mitmenschen nicht so einfach trauen sollen. Doch der zweite Lösungsweg, den Döblin 290 <?page no="303"?> seinem Protagonisten vorschlägt, kommt in Castorfs Fassung nicht mehr (nicht einmal ironisch gebrochen) vor: Er steht zum Schluß als Hilfsportier in einer mittleren Fabrik. Er steht nicht mehr allein am Alexanderplatz. Es sind welche rechts von ihm und links von ihm, und vor ihm gehen welche, und hinter ihm gehen welche. Viel Unglück kommt davon, wenn man allein geht. Wenn mehrere sind, ist es schon anders. Man muß sich gewöhnen, auf andere zu hören, denn was andere sagen, geht mich auch an. Da merke ich, wer ich bin und was ich mir vornehmen kann. (AD 453) Erwin Kobel erläutert, wie Döblin als Lösung des Dilemmas das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu definiert: Der Einzelne sei nicht mehr Gegenstück zum Kollektiv, sondern einzeln und doch Teil des Ganzen; 340 in diesem Sinne werde Franz am Ende nach der völligen Zerstörung als ein moderner Mensch wiedergeboren, als Beobachter, der in der Gesellschaft in passiver Bescheidenheit existiere. Der Erzähler schlage eine Haltung vor, so vermittelt Harald Jähner, „ in der der Mensch so selbstverständlich an seiner Umwelt partizipieren soll wie die Alge am Strom des Baches “ . 341 Doch selbst die bescheidene Partizipation an der Gemeinschaft oder auch nur die Gesellschaft als Ort bloßen Existierens in der Menge scheint bei Castorf keine Lösung mehr, nachdem selbst Eva und Herbert, die im Roman noch zu Franz halten und ihn vor Reinhold und Pums warnen, über ihn hinweggehen. In der Dramatisierung wird das Ende der Geschichte pessimistisch vereindeutigt. Castorf inszeniert sein unversöhnliches Schlussbild sicher bewusst als Provokation. Sein Negativbild des Theaters ist das einer Bühne, die das zeigt, was das Publikum erwartet. So betrachtet, dient die Veränderung des Schlusses auch einer bewussten Konfrontation mit dem Vorwissen der Zuschauer. Das dialogische Verhältnis zum Roman kommt in solchen Reibungsmomenten besonders stark zur Geltung und deckt dabei auch das kritische Potential der Adaption auf. 340 Vgl. Kobel, Alfred Döblin. S. 273 - 277. 341 Harald Jähner: Erzählter, montierter und soufflierter Text. Zur Konstruktion des Romans ‚ Berlin Alexanderplatz ‘ von Alfred Döblin. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1984. S. 57. Selbst diese vorsichtige Lösung kann noch kritisch betrachtet werden: Der scheinbar auktoriale Erzähler stellt zwar eine Lehre her, in Anbetracht der grotesken Übertreibung und didaktischen Überzeichnung der Erzählertexte muss diese jedoch in Frage gestellt werden. Michael Baum problematisiert die didaktische Tauglichkeit: „ Als Lehrstück eignet sich Berlin Alexanderplatz kaum, und für die Errettung autonomer Subjektivität bietet der Text keine Anhaltspunkte. [. . .] Alle Lehren, die aus dem Text gezogen werden können, sind Produkte einer Leserintention, die sich bildet, indem sie einige der heterogenen Teile zu einem interpretativen Horizont verschmilzt, der die genuine textuelle Negativität kompensiert. “ Baum, Kontingenz und Gewalt. S. 46. 291 <?page no="304"?> Castorfs Berlin Alexanderplatz stellt weniger eine Großstadt- und Zeitstudie anhand einer Figur als vielmehr die Geschichte einer Figur vor der Folie eines bestimmten Milieus dar. 342 Trotz dieser Reduktion des Gesellschaftsbildes verzichtet Castorf nicht auf explizit politische Aussagen. 343 Auffällig ist der konsequente Einsatz der Lieder der Rockband Ton-Steine-Scherben, 344 die bis heute in der anarchistischen Szene beliebt sind. Die Titel werden mehrfach und von unterschiedlichen Figuren gesungen und verleihen dem dargestellten Milieu eine Nähe zum linksalternativen Spektrum. Die sonstige Figurenzeichnung allerdings bestätigt diesen Eindruck kaum. Denn die stark politisch engagierten Texte setzen ein (Selbst-)Bewusstsein von der politischen und gesellschaftlichen ‚ Gemachtheit ‘ der Situation voraus und sind dabei agitatorisch. 345 Im Roman wie im Drama hingegen wird Franz vor allem als „ Marionette “ 346 seiner Umwelt und der Ereignisse gezeichnet; die anderen Figuren schätzen ihn als naiv ein, Franz selbst betont oft, er wolle lediglich seine Ruhe. Figurenpsychologisch ist die Verortung der Lieder also problematisch. Überzeugender wirkt die Frage nach der Menschlichkeit. Brechts Ballade über die Frage „ Wovon lebt der Mensch? “ aus der Dreigroschenoper hätte recht gut in den Kontext der Dramatisierung gepasst. Die Figuren aus dem Milieu der Arbeitslosen, der Migranten und Kleinkriminellen (als marginalisierte Gruppen), insbesondere der erniedrigte und auf das Kreatürliche reduzierte Franz, 342 Berlin als Schauplatz verliert damit etwas an Bedeutung. Castorfs Biberkopf übernimmt zwar teilweise den Berliner Dialekt, den Döblin seiner Hauptfigur gibt, zwar läuft auch er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis über die Rosenthalerstraße (CF 2), einige andere Namen von Orten in Berlin werden en passant erwähnt, die Handlung aber spielt sich in der recht hermetischen Welt der Containersiedlung ab und verlässt diese kaum. Der Alexanderplatz taucht explizit nur noch im Titel auf. 343 Im Vergleich dazu finden sich bei Döblin fast nur implizite, politische Töne, indem gesellschaftliches Leben und Lebensbedingungen der Zeit breit geschildert werden. Biberkopf selbst wird als unreflektierte Mitläuferfigur dargestellt: Kobel stellt in Bezug auf den Roman dar, wie sehr Franz in seiner Suche nach Zugehörigkeit und einem Daseinsort zum Mitläufer politischer Bewegungen (Nationalsozialisten wie Kommunisten) wird. Vgl. Kobel, Alfred Döblin. 267 f. 344 So auf den Seiten 2 f., 90 f., 204 f., 210 f. und 214. 345 Bei einem der der Ton Steine Scherben-Lieder handelt es sich um eine Adaption des Einheitsfrontlieds von Brecht und Weill, dessen appellativer Ton sich insbesondere im Refrain zeigt: „ Und links zwo drei, und links zwo drei,/ wo dein Platz, Genosse, ist! / Reih dich ein, in die Arbeit der Einheitsfront [im Original eigentlich: Arbeitereinheitsfront],/ weil du auch ein Arbeiter bist “ (FC 210). Auch die von der Band getexteten Lieder entsprechen diesem Impetus: „ Und ich weiss, wir werden kämpfen/ Und ich weiss, wir werden siegen/ [. . .] Und der Planet Erde/ Wird uns allen gehören/ [. . .] Denn die Zeit ist reif “ (Textauszug aus dem Lied Mein Name ist Mensch, siehe FC 91). 346 Baum, Kontingenz und Gewalt. S. 210: „ Die Marionette Biberkopf entspricht der Summe der Ereignisse, an denen sie teilgenommen hat. “ 292 <?page no="305"?> haben den Wunsch, als Menschen behandelt zu werden. Damit können in der Dramatisierung so zeitlose Problematiken diskutiert werden wie Gruppenzugehörigkeit, Machtstrukturen und die Frage, ob der Einzelne überhaupt die Wahl hat, sich diesen Strukturen zu entziehen. Der Begriff ‚ Mensch ‘ ist ein Leitbegriff im Roman, und das allgemein Menschliche, die „ großen elementaren Grundsituationen und Figuren menschlichen Daseins “ 347 bestimmt Döblin in Der Bau des epischen Werks selbst zum Gegenstand seiner Werke. Die Suche nach der Anerkennung als Mensch scheint Castorfs Protagonisten ein Hauptthema und damit Leitfrage des Stücks. Die politischen Ideale in den zitierten Liedern können hier allerdings nur die Wut der Figuren transportieren und kaum noch Utopie bieten. Eine ‚ Botschaft ‘ bleibt letztlich aus, wie das Ende des Dramas unmissverständlich zeigt. Das Stück beschreibt vielmehr das Verhalten des Menschen in unmenschlichen Verhältnissen. Dem Rezipienten mit Kenntnis des Romans bietet sich damit ein Vergleich: Das ambivalente Ende bei Döblin wird bei Castorf durch einen eindeutig unglücklichen Ausgang ersetzt. Es scheint, als ob mit dem zeitlichen Abstand auch die letzte Hoffnung auf eine günstige Entwicklung des Protagonisten verschwunden ist. 4.5 Theodor Fontane, Amélie Niermeyer, Sandra Schüddekopf, Edith Ehrhardt und andere: Effi Briest (1894/ 95 und 1999 ff.) Und nun gar erst auf dem Theater, vor dem ich übrigens glücklicher Weise bewahrt geblieben bin. Denn so gewiß ich mich persönlich gegen seine Versuchungen gefeit fühle - es verdirbt den Ruf, also das beste, was man hat. (Marietta Tripelli in Theodor Fontane, Effi Briest, S. 108) Welche Vorbehalte hat die Sängerin Marietta Tripelli, eine Nebenfigur in Theodor Fontanes 1894/ 95 erschienenem Roman Effi Briest 348 , gegen das 347 Döblin, Der Bau des epischen Werks. S. 245. Kobel erläutert: „ Der Mensch wird nicht in seinen Charaktereigenschaften dargestellt, sondern in seinen Bezügen zum Mitmenschen, zur Schuld, zum Tod. “ Kobel, Alfred Döblin. S. 255. 348 Theodor Fontane: Effi Briest. In: Ders.: Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Hrsg. v. Gotthard Erler in Zusammenarbeit mit dem Theodor-Fontane-Archiv. Bd. 15. Hrsg. v. Christine Hehle. Berlin: Aufbau 1998. Zitate aus dieser Ausgabe sind in diesem Kapitel im laufenden Text mit der Sigle TF und der Seitenzahl angegeben. 293 <?page no="306"?> Theater? Zunächst gilt ihr das Theater als rufschädigend; es wird mit verrohten Sitten und mangelnder Tugendhaftigkeit gleichgesetzt - insbesondere in Fragen von Liebe, Ehe und Sexualität. Das verwundert kaum, fürchtete die damalige ‚ ehrbare ‘ Gesellschaft bei aller Bewunderung der Schauspielerin in ihr doch gleichzeitig die Mätresse, sogar die Prostituierte. Denn die öffentliche Ausstellung des eigenen Körpers und der Aspekt der Verstellung rückten beide Berufe in pikante Nähe. Die Tripelli, die Zugang zu den höheren Schichten hat, tut also gut daran, sich und ihre Arbeit von der Schauspielerei abzugrenzen. Dennoch wird im Roman auch in sozialen Kreisen, die ihre eigene Tugendhaftigkeit und ihre Grundsätze rühmen, gleich mehrfach Theater gespielt. Ein Beispiel stellt die Szene unter dem Holunderbusch aus Kleists Käthchen von Heilbronn dar, die Pastor Niemeyer als ‚ Kulturprogramm ‘ für Effis Polterabend auswählt und in der er Effi und Käthchen miteinander gleichsetzt. Das zweite Laientheater spielt das Stück Der Schritt vom Wege und wird einen solchen anbahnen; denn Effis Verehrer, der Major von Crampas, nutzt das Theaterspiel, ganz wie es die Tripelli implizit vorgezeichnet hat, zum Beginn einer Affäre mit der verheirateten Frau. 349 Sittenhaftigkeit und Ehebruch scheinen die zentralen Inhalte des Romans, die in den Theaterbezügen bereits vorgezeichnet werden. Doch je weiter die Handlung ihren Lauf nimmt, umso weniger wird die moralische Frage auf den Ehebruch bezogen. Das Vortäuschen, das ‚ Komödienspiel ‘ , wie es im Roman so vielfach genannt wird, wird zum eigentlichen Problem, an dem die Protagonisten scheitern. Interessant wirkt deshalb, was die Tripelli ihrer Meinung über das Theater hinzufügt: „ Im übrigen stumpft man ab, wie mir Kolleginnen hundertfach versichert haben. Da wird vergiftet und erstochen, und der toten Julia flüstert Romeo einen Kalauer ins Ohr oder wohl auch eine Malice, oder er drückt ihr einen kleinen Liebesbrief in die Hand. “ (TF 108) Theater also verderbe den Charakter, weil es das Gefühl abstumpfen lasse. 349 Zur Funktion dieser literarischen Allusion als „ Spiegelung der Situation Effis “ und als „ Voraussetzung des Ehebruchs “ vgl. Bettina Plett: Die Kunst der Allusion. Formen literarischer Anspielungen in den Romanen Theodor Fontanes. Köln/ Wien: Böhlau 1986 (= Kölner germanistische Studien 23). Insbesondere S. 295 - 301. Hier S. 301. Die zahlreichen Verweise auf Drama und Theater untersucht auch Beatrice Müller-Kampel: Theater-Leben. Theater und Schauspiel in der Erzählprosa Theodor Fontanes. Frankfurt a. M.: Athenäum 1989 (= Literaturwissenschaft 93). Vgl. zu Effi Briest v. a. S. 60 - 67. Interessanter als die empirischen Auszählungen der intertextuellen Verweise ist ihre Analyse der zeitgenössischen Vorstellungen von Theater und Schauspiel. Über den Abgleich der historischen Wirklichkeit mit den Figuren Fontanes zieht sie Rückschlüsse auf deren Liberalität und Moralvorstellung sowie auf standestypische Eigenheiten. Die Haltung der Figuren zum Theater oder zu bestimmten Stücken wird damit zur soziologischen Standortbestimmung (vgl. S. 104 f.). 294 <?page no="307"?> Effi erscheint schon ihre Hochzeit als „ Theateraufführung “ (TF 29). Spätestens in der Beschreibung der Veranda des Kessiner Hauses, auf der sich das nur scheinbar glückliche Familienleben ebenso wie Crampas ’ kaum versteckte Annäherungsversuche ‚ abspielen ‘ , offenbart sich dann auch der theatrale Charakter der Ehe: Die Veranda gleicht einer Bühne und entlarvt das Geschehen als Schauspielerei. 350 Das Leidvolle dieses Schauspielens erkennt Effi als erste: „ So kam es, daß sie sich, von Natur frei und offen, in ein verstecktes Komödienspiel mehr und mehr hinein lebte. Mitunter erschrak sie, wie leicht es ihr wurde. “ (TF 199) Im Moment dieser Erkenntnis sucht sie ihr wahres Ich im Spiegel und diagnostiziert: „ Effi, Du bist verloren. “ (TF 199). 351 Doch nicht nur die Titelheldin macht den Mangel an Ehrlichkeit und aufrichtigem Gefühl für die Katastrophe verantwortlich. Auch ihr Ehemann, Geert von Innstetten, erkennt (zu spät), dass sein Duell nur einer Vorstellung und nicht seinen wahren Gefühlen entsprach: „ So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zu Liebe, war eine gemachte Geschichte, halbe Komödie. Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi wegschicken und sie ruinieren, und mich mit. . . “ (TF 287). Von einer Komödie zu sprechen, bedeutet hier den „ Schein der Dinge “ (so nennt Innstetten zuletzt sein Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg und Anerkennung auf Kosten des privaten Glücks, TF 338), das Rollenverhalten offenzulegen - durchaus in seiner „ Lächerlichkeit “ (TF 287), die Innstetten 350 „ Die Veranda, von der Effi gesprochen, und die vielleicht richtiger ein Zelt genannt worden wäre, war schon im Sommer hergerichtet worden, drei, vier Wochen vor Effi ’ s Abreise nach Hohen-Cremmen, und bestand aus einem großen gedielten Podium, vorn offen, mit einer mächtigen Marquise zu Häupten, während links und rechts breite Leinwandvorhänge waren, die sich mit Hülfe von Ringen an einer Eisenstange hin und her schieben ließen. Es war ein reizender Platz, den ganzen Sommer über von allen Badegästen, die hier vorüber mußten, bewundert. “ (TF 142) Auf der Veranda schlägt Crampas Effi auch ihre Mitwirkung an einer Theateraufführung vor. Der Verweis auf das Drama Euphrosyne von Otto Franz Gensichen nimmt dabei seine Rolle als Regisseur und Effis als Schauspielerin voraus, handelt das Drama doch von Goethes Liebe zu der deutlich jüngeren Schauspielerin Christiane Neumann während seiner Inszenierung der Geschwister. Vgl. dazu Christine Hehle: Anhang. In: Theodor Fontane: Effi Briest. In: Ders.: Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Hrsg. v. Gotthard Erler in Zusammenarbeit mit dem Theodor-Fontane-Archiv. Bd. 15. Hrsg. v. Christine Hehle. Berlin: Aufbau 1998. S. 351 - 534. Hier S. 456. 351 An anderer Stelle ist diese Verlagerung des schlechten Gewissens von der Tat auf den Umgang damit gut zu verfolgen. Effi monologisiert: „ Ich schäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich nicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche [. . .]. Aber Scham über meine Schuld, die hab ’ ich nicht oder doch nicht so recht oder doch nicht genug, und das bringt mich um, daß ich sie nicht habe. Wenn alle Weiber so sind, dann ist es schrecklich, und wenn sie nicht so sind, wie ich hoffe, dann steht es schlecht um mich, dann ist etwas nicht in Ordnung in meiner Seele, dann fehlt mir das richtige Gefühl. “ (TF 258) 295 <?page no="308"?> erkennt. Legt man an die Handlung von Effi Briest das in der Gattungsgeschichte relevante Ausgangskriterium an, so müsste man aufgrund des Todes der Protagonistin hingegen von einer Tragödie sprechen. Das böse Ende hat allerdings seine Ursache nicht eigentlich im Ehebruch, in einem Mangel an Moral oder unangemessener Leidenschaft. Die gesellschaftlichen Regeln, die Ehre und die normierten Vorstellungen von Ehe und Liebe stehen nicht im Widerspruch zum wahren Gefühl, weil es keines gibt. Das erscheint Effi noch schlimmer: Sie sorgt sich darum, dass sie das ‚ authentische Gefühl ‘ nicht (er-)kennt und dass ihr nur die unbestimmte Vermutung bleibt, sich hinter einer Rolle zurückzuziehen, ‚ Komödie ‘ zu spielen, ohne eine echte Leidenschaft, die sie damit verstecken müsste. Da bleibt am Ende nur die „ Kreatur “ (TF 349) zu loben; gemeint ist der Hund Rollo, der vom Schauspiel nichts weiß. Wo das Theater und das Schauspielen im Roman also auftauchen, wird es mit großer Skepsis betrachtet. Das gegnwärtige Theater scheint umgekehrt keinerlei Vorurteile gegen Theodor Fontanes Roman zu haben: Effi Briest ist einer der am häufigsten adaptierten deutschen Romane. Das gilt ebenso für Film und Fernsehen, zu deren „ Lieblingskinder[n] “ 352 das Werk zu gehören scheint. Seit 1938 der erste Spielfilm von Gustav Gründgens gedreht wurde, wurde Effis Geschichte fünfmal verfilmt, zuletzt 2009 durch Hermine Huntgeburth. Zudem gibt es Fernsehfassungen zweier Monologe für die Theaterbühne, die auf der Figur der Effi Briest aufbauen, aber keine Dramatisierungen des Romans darstellen: Rolf Hochhuth lässt in Effis Nacht das historische Vorbild der Fontane-Figur sprechen, Elisabeth von Ardenne. Christine Brückners Monolog entstammt einem Essayband mit Ungehaltenen 352 Diesen Titel wählt Elisabeth Lutz-Kopp für ihre Filmographie zu besonders häufig verfilmten Autoren. Elisabeth Lutz-Kopp: Lieblingskinder. Mehrfach verfilmte Prosa europäischer Autoren. In: ‚ Wahlverwandtschaften ‘ . Kunst, Musik und Literatur im europäischen Film. Hrsg. v. Walter Stock. Frankfurt a. M.: Bundesverband Jugend und Film 1992. S. 129 - 250. Den Literaturverfilmungen wurde medien- und literaturwissenschaftlich große Aufmerksamkeit zuteil. ‚ Lieblingskind ‘ der Wissenschaft ist dabei - gemessen an der Zahl der Besprechungen - die Verfilmung durch Rainer Werner Fassbinder. Exemplarisch für zahlreiche Studien zu den Filmen seien hier zwei neuere aufgeführt, die sich vergleichend den verschiedenen Filmfassungen widmen. Hans Vilmar Geppert: Nicht so wild Effi! Vier Verfilmungen eines weiten literarischen Felds. In: Literatur im Mediendialog. Semiotik, Rhetorik, Narrativik. Roman, Film, Hörspiel, Lyrik, Werbung. Hrsg. v. Hans Vilmar Geppert. München: Vögel 2006 (= Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg. Sprach- und literaturwissenschaftliche Reihe 75). S. 107 - 127. - Annika Milz: Aktualisierung als Problem und Chance der Literaturverfilmung. Lesarten eines Klassikers am Beispiel der Mehrfachverfilmung von ‚ Effi Briest ‘ . Bremen: Institut für Kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien 2010 (= KWD 25). 296 <?page no="309"?> Reden ungehaltener Frauen. Mit dem Zitat Triffst du nur das Zauberwort ist der Monolog überschrieben, den Effi Briest an ihren Hund richtet. 353 Die Begeisterung für die Adaptionen von Fontanes Effi Briest lässt sich leicht aus der Bekanntheit und Beliebtheit des Romans erklären. Doch die Inhalte sind historisch geworden, handelt es sich doch um einen Konflikt, der stark an die sozialen Gegebenheiten, insbesondere an die Vorstellungen von Geschlechterrollen, preußischem Staat und Militär sowie die adlige Lebensweise geknüpft ist. Der „ Zeitroman “ 354 zeichnet einen Ehrenkodex und ein Frauenbild, die für den heutigen Rezipienten wohl nur noch im Kostümfilm überzeugen. Norbert Mecklenburg stellt angesichts der Beliebtheit der Romane Fontanes die Frage: „ Worin gründet die Gegenwärtigkeit dieser Texte, die in Widerspruch zu stehen scheint mit der Historizität, dem Altern und Fernrücken, das an ihnen heute ebenfalls unübersehbar wahrzunehmen ist? “ 355 Bei Mecklenburg handelt es sich um eine rhetorische Frage, die er wie folgt beantwortet: Es würden in Fontanes Romanen „ bis heute ethisch und lebenspraktisch belangvolle Konflikte ausgemessen “ ; zudem hebt er Fontanes Erzählweise als modern hervor und charakterisiert sie durch ihre Vielstimmigkeit. Die Texte seien „ unvergleichlich offen [. . .] für die Widersprüche des wirklichen Lebens von Menschen in der Gesellschaft “ . 356 In dieser Skepsis, dem Wechsel der Perspektiven, der Unbestimmtheit des Erzählerstandpunkts darf Fontane sicher als Autor von großer Modernität bezeichnet werden. Die zahlreichen schichtspezifischen Redeweisen und Formen des Zitats allerdings, die zu dieser Vielstimmigkeit beitragen, sind für den heutigen Leser oft nur noch über den Kommentar zu erschließen. In Bezug 353 Eine genaue Übersicht der Film- und Fernsehfassungen Fontanescher Werke sowie Dokumentationen über den Autor bis einschließlich Januar 1999 wurde in den Fontane Blättern veröffentlicht. Vgl. Peter Schäfer und Dietmar Strauch: Fontane-Filmographie. In: Fontane Blätter 67 (1999). S. 172 - 200. 354 Besonders Walter Müller-Seidel hat seine Monographie auf dem Aspekt der Darstellung von Zeitgeschehen aufgebaut. Mag auch die biographisch-teleologische Interpretation, der Zeitroman als Höhepunkt des Schaffens Fontanes (vgl. v. a. das Kapitel „ Umwege zum Roman “ , S. 24 - 42), etwas irritieren, so deckt Müller-Seidel doch die politischsoziale Dimension, die zahlreichen Anspielungen auf die Zeitgeschichte auf. Für Effi Briest bedeuten diese Bezüge, dass der „ Eheroman zum Zeitroman “ werde. Walter Müller-Seidel: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. 2., durchgesehene Auflage. Stuttgart: Metzler 1980 [1975]. S. 357. 355 Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998. S. 13. 356 Ebd. S. 16 und 21. Die „ Vielstimmigkeit “ definiert er vor allem auf den Seiten 22 und 23 als „ künstlerische Bearbeitung der sozialen Redevielfalt “ durch mimetische Aufzeichnung von Gesprächen verschiedener Personen, die wiederum soziale Schichten und Institutionen verkörpern, und durch Sprachspiele mit Figuren-, Diskurs- und Bildungszitaten (vgl. zur Differenzierung der Zitattypen besonders S. 87 - 101). 297 <?page no="310"?> auf die ‚ bis heute belangvollen Konflikte ‘ relativiert Mecklenburg überzeugend die gängige Interpretation von Innstettens Abhängigkeit vom ‚ Gesellschafts-Etwas ‘ ; denn nicht die Gesellschaft im Ganzen sei hier repressiv, Individuum und Gesellschaft stünden also nicht im Gegensatz, sondern nur der adlig-militärische Ehrenkultus treibe Innstetten ins Duell. Der allerdings gehört heute kaum noch zum Wissen einer breiten Leserschaft. 357 Wo das Geschehen ganz im Sinne des Fontaneschen Realismuskonzepts so stark mit dem Zeitgeschehen verbunden ist und durch die subtilen Andeutungssysteme „ auf dem Boden eines gemeinsamen, stillschweigend vorausgesetzten Wissens “ 358 funktioniert, könnte die Lektüre über hundert Jahre nach dem Erscheinen des Romans am historischen Abstand scheitern - trotz aller Modernität eines zitathaften und relativierenden Erzählstils. Die neueste Verfilmung des Romans 359 reagiert auf die Diskrepanz, die aus dem zeitlichen Abstand entstanden ist, indem sie der Geschichte einen hoffnungsvollen Ausgang zugesteht. Das traurige Ende der Protagonistin in Isolation und Tod widerspricht dem heutigen Frauenbild offenbar so sehr, dass der Film ihm eine (leider wenig durch die Handlung vorbereitete und motivierte) Alternative entgegenstellt: Effi beginnt ein neues Leben als Bibliothekarin in Berlin und drückt in den letzten Filmsekunden vor den Augen ihrer Eltern provokativ eine Zigarette in den Aschenbecher, um dann - ein recht konventionelles Schlussbild - ihren Weg durch die Großstadt zu gehen. Diese Variante entfernt sich weit von ihrer Romanvorlage, obwohl der Kostümfilm die Geschichte historisch nicht verlegt. 360 Das alternative Ende befriedigt das Rechtsempfinden eines heutigen Rezipienten und rückt ihm die Figur Effi durch die betonte Modernität historisch näher. Auch in den Dramatisierungen wird sich ablesen lassen, ob die Autoren, wie die Regisseurin Hermine Huntgeburth, unter einer Aktualisierung eine Parteinahme für Effi verstehen. 361 357 Vgl. ebd. S. 17. Die Interpretation, welche die Individuation plausibel als gesellschaftlichen Prozess zeichnet (vgl. S. 16), soll hier nicht kritisiert werden. Das Beispiel taugt allerdings nicht als Beleg für die ‚ Gegenwärtigkeit ‘ des Romans. 358 Hugo Aust: Kulturelle Traditionen und Poetik. In: Fontane-Handbuch. Hrsg. v. Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart: Kröner 2000. S. 306 - 465. Hier S. 449. 359 Effi Briest (Verfilmung BR Deutschland 2009, Regie: Hermine Huntgeburth). 360 Der Verweis auf die Romanvorlage Fontanes allerdings rutscht innerhalb des Paratextes des Films ins Kleingedruckte. Die Distanz zur Vorlage wird also durch Auslassung angezeigt. Vgl. zu diesem Ablösungsprozess Kapitel 6.3. 361 Ein fiktionaler Text von Dorothea Keuler stellt ein weiteres Beispiel für eine Annäherung der Geschichte an das Geschlechterverständnis der heutigen Rezipienten dar, indem Effi sich auch hier von ihrem Mann und den Vorstellungen ihrer Eltern emanzipiert. Keuler rekonstruiert in ihrem Roman die Herkunft Effis. Sie lässt die Protagonistin selbst darüber spekulieren: Effi vermutet, sie sei das uneheliche Kind von Louise Biest und 298 <?page no="311"?> Trotz der deutlichen Historizität der Geschichte, insbesondere aufgrund des Frauen- und Ehebildes und des Ehrbegriffs, hat es seit Ende der 1990er Jahre zahlreiche Aufführungen des Romanstoffes gegeben. Die Beliebtheit in der Filmbranche wird von der Popularität an den Theatern noch übertroffen: Allein die Suchmaschine des Verbands der Deutschen Bühnen- und Medienverlage gibt 13 Fassungen für die Bühne aus. Dabei handelt es sich ausschließlich um die bei Verlagen vertriebenen Dramatisierungen. Die tatsächliche Zahl liegt deutlich darüber. 362 Die meisten Theater schaffen ihre eigene Fassung; sehr häufig übernehmen die Dramaturgie oder die Regie diese Aufgabe mit, sodass der Urheber der Dramatisierung in Programmheften oder anderem Material zur Inszenierung gar nicht gesondert angegeben wird. 363 Obwohl die Bearbeitungen durch den hohen Dialoganteil des Romans, die zeitliche Nähe der Bearbeitungen und die Entstehung im gleichen Kulturraum Ähnlichkeiten erwarten lassen, sind sehr unterschiedliche Adaptionen entstanden. Dieses Kapitel legt deshalb nicht wie die vorherigen den Schwerpunkt auf eine einzelne Dramatisierung, sondern untersucht zunächst drei unterschiedliche Textvarianten und stellt im letzten Abschnitt weitere Fassungen in Hinblick auf ausgewählte Aspekte im Vergleich vor. Für eine ausführlichere Darstellung ausgewählt habe ich die vergleichsweise bekannte Fassung von Amélie Niermeyer und Thomas Potzger, die in Weimar uraufgeführt und dort und in Freiburg immer wieder vor großem Publikum gespielt wurde. Das Stück, das sich - soviel sei vorweggenommen - engagiert auf Effis Seite schlägt, wurde mehrfach von kleineren Theatern neu inszeniert. Einen großen Kontrast dazu bildet die Fassung von Sandra Schüdde- Instetten und reagiert entsprechend entsetzt. Das Buch legt nahe, wieviel Raum für Leserinterpretation Fontanes Erzählweise bietet. Dorothea Keuler: Die wahre Geschichte der Effi B. Zürich: Haffmanns 1998. 362 Mir ist kein Roman bekannt, für den mehr Bühnenadaptionen in den Theaterverlagen erhältlich sind. Auch zu Fontanes anderen Werken gibt es zum Teil Dramatisierungen, so zum Beispiel mindestens vier zu Frau Jenny Treibel, eine zur Novelle Unterm Birnbaum und mindestens eine zu Irrungen, Wirrungen. Zu zweien finden sich Besprechungen in den Fontane Blättern. Vgl. Beatrix Müller-Kampel: Fontane dramatisiert. Franz Pühringers ‚ Abel Hradscheck und sein Weib ‘ . In: Fontane Blätter 48 (1989). S. 60 - 68. - Anne-Sylvie König: Frau Jenny Treibel betritt die Bühne. Theodor Fontanes Roman dramatisiert für das Palais Lichtenau, Potsdam. In: Fontane Blätter 79 (2005). S. 148 - 150. Darüber hinaus veranstaltet das Fontane-Ensemble Berlin regelmäßig szenische Lesungen aus den Romanen und Novellen (das Repertoire ist zu finden auf der Homepage www.fontaneensemble-berlin.de/ page4.php, letzter Zugriff am 2. 11. 2010). 363 In den Fontane Blättern listet Leander Wattig allein für die Spielzeiten 1998/ 99 bis 2004/ 05 insgesamt 23 Inszenierungen mit mindestens 18 unterschiedlichen Urhebern auf. Das Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam sammelt dazu Programmhefte und Pressematerial. Leander Wattig: Effi im Rampenlicht. In: Fontane Blätter 78 (2004). S. 180 - 184. 299 <?page no="312"?> kopf, freie Regisseurin, und Coautorin Alexandra Henkel, Schauspielerin. Diese Dramatisierung wurde vier Jahre nach der Uraufführung 2006 am Wiener Burgtheater ebenfalls in Weimar inszeniert und wird deshalb in der journalistischen Kritik mit der Fassung von Niermeyer und Potzger verglichen. 364 Die Dramatisierung arbeitet mit nur zwei Schauspielern, die in Rollen dialogisch, aber auch als Erzähler agieren. Ebenfalls als Zweipersonenstück eingerichtet ist die Fassung von Edith Ehrhardt aus dem Jahr 2003. Sie richtet sich dezidiert an ein junges Publikum und wurde für die Aufführung im Klassenzimmer geschrieben. Bevor aber die Dramatisierungen selbst analysiert werden, soll ein Blick auf den Roman erfolgen, um die Spezifika des Textes und die Voraussetzungen für die Dramatisierung zu untersuchen. Neben den oben bereits erwähnten Bezügen zum Theater, die Anknüpfungspunkte für eine metareferentielle Wendung bieten, und der historischen Dimension sollen vor allem der Modus der Rede und das andeutende Erzählen Thema sein. Eine Dramatisierung von Effi Briest scheint bequem möglich, denn die vielen Dialogpassagen des Romans sind der Darstellung auf der Bühne zuträglich, das Gespräch bestimmt als zentrales Element den Roman, der wesentliche Handlungen in der Rede vollzieht oder zumindest reflektiert. 365 Selbst dort wo Gedanken nicht im Gespräch ausgebreitet, sondern tatsächlich ‚ nur ‘ gedacht werden, geschieht ihre Wiedergabe bei Fontane oft als direktes Gedankenzitat in Anführungszeichen. So scheinen selbst die Monologe bereits ‚ ausgeschrieben ‘ . 366 Zudem bieten die immer wieder eingesetzten Gespräche der Eltern einen Kommentar der Handlung, der ebenfalls über den Dialog in den Roman eingeht. Stellvertretend für viele Studien zur Rede 364 Vgl. u. a. Henryk Goldberg: Birnen aus dem Supermarkt. Nationaltheater Weimar: Fontanes „ Effi Briest “ als pädagogisch wertvolle Shortstory. In: Thüringer Allgemeine (26. 03. 2010). 365 Peter Demetz definiert den Gesellschaftsroman Fontanes unter anderem über das „ Szenische “ in der Erzählsituation, also die autonome Rede der Figuren und das Zurücktreten des Erzählers bei Annäherung von Erzählzeit und erzählter Zeit. Durch die szenische Darstellung löse sich der Roman von der Subjektivität der Briefromane und relativiere, kommentiere und ironisiere die Sicht auf die Welt. Peter Demetz: Formen des Realismus. Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. 2. Auflage. München: Hanser 1966 [1964]. S. 128. Vgl. auch 129. 366 Die zwar ästhetisch überformte, aber doch mimetisch abbildende, um Authentizität bemühte Rede in Fontanes Romanen sieht Joachim Biener als einen wesentlichen Grund für die Beliebtheit von Adaptionen für Film und Hörspiel. Joachim Biener: Fontane in den audiovisuellen Medien. In: Fontane-Handbuch. Hrsg. v. Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart: Kröner 2000. S. 982 - 1007. Vgl. v. a. S. 982 f. und 991. Wegen des hohen Anteils an direktem Dialog habe der Stummfilm nicht auf Fontanes Texte zurückgegriffen (Vgl. S. 986). Dennoch stellt Biener anschließend in der Analyse der Filme fest, „ daß Fontanes ‚ filmnahe ‘ ‚ unmerklich stilisierte ‘ Sprache bisweilen (zu) literarisch wirkt “ (S. 1005). 300 <?page no="313"?> in Fontanes Roman sei hier Hugo Austs Darstellung zitiert: Fontane mache das „ Sprachverhalten der Menschen “ 367 zum Gegenstand seiner Kunst, „ die sich als Widerspiegelung des Lebens im Medium der Sprache versteht “ . In Fontanes Dialogen träten die Inquitformeln zurück: „ dies deutet darauf hin, daß der Autor die einzelnen Gesprächsbeiträge für individuell charakteristisch und den Rhythmus des Rednerwechsels für durchsichtig hält “ . Die Rede charakterisiert die Figuren und muss zudem handlungstragend sein, da wesentliche körperliche Handlungen (in Effi Briest zum Beispiel der Ehebruch und das Duell) nicht oder nur in äußerster Kürze beschrieben werden. Da der Roman also zu großen Teilen aus wörtlicher Rede besteht, finden sich auch zahlreiche der Andeutungen und Zitate in der direkten Rede. Die „ Poetik der Gänsefüßchen “ , wie Norbert Mecklenburg den Erzählstil Fontanes anschaulich bezeichnet, kann damit in die Dramatisierung übernommen werden. 368 Schwieriger wird die Übernahme dieser ‚ Poetik der Gänsefüßchen ‘ dort, wo Allusionen im Erzählertext vorliegen. Das Andeutungssystem verfährt ganz wesentlich über die Beschreibung (manchmal auch bloße Erwähnung in einem Nebensatz) von Phänomenen der Landschaft, von Architektur, Kleidung und Gegenständen. Im Kommentaranhang der Großen Brandenburger Ausgabe erklärt Christine Hehle dieses „ hochartifizielle Spiel “ 369 der Romane wie folgt: Unzählige Motive und Motivstränge durchziehen und strukturieren den Roman, an der Oberfläche des manifesten Textes ebenso wie in den Subtexten. Vieles davon erschließt sich indes erst bei wiederholter Lektüre, denn - entsprechend den Forderungen ‚ realistischer ‘ Poetik - liegen die Hinweise verborgen an und unter der Oberfläche einer durch zahlreiche exakte Realitätsbezüge scheinbar eindeutig situierten Handlung. 370 Diese beiläufige Symbolik der Gegenstände ist auf der Bühne besonders schwer herzustellen, da die Wahrnehmung des Rezipienten sich nicht so unauffällig lenken lässt. Tatsächlich dominiert in Fontanes Roman in weiten Teilen das Nichtgesagte. Die Dialoge ergehen sich in Andeutungen, sprechen 367 Hier und im Folgenden Aust, Kulturelle Traditionen und Poetik. S. 441. Das Gespräch in Fontanes Romanen thematisieren außerdem mehrere Monographien. Hier seien exemplarisch zwei davon genannt, die das Ausmaß der Beschäftigung mit der Rede bei Fontane erkennen lassen. Die früheste ist die Arbeit von Mary-Enole Gilbert: Das Gespräch in Fontanes Gesellschaftsromanen. Leipzig: Meyer und Müller 1930. Einen Forschungsüberblick gibt die Monographie von Christine Renz: Geglückte Rede. Zu Erzählstrukturen in Theodor Fontanes ‚ Effi Briest ‘ , ‚ Frau Jenny Treibel ‘ und ‚ Der Stechlin ‘ . München: Fink 1999. Vgl. S. 10 - 18. 368 Mecklenburg, Romankunst der Vielstimmigkeit. S. 68. 369 Hehle, Anhang. S. 363. 370 Ebd. S. 362. 301 <?page no="314"?> aber das Wesentliche - den Ehebruch und die wirklichen Gefühle - nur allzu selten aus. Das Thema ist ein Tabu, die Wahrung der Form entscheidend: Das zeigt auch die Form der Erzählung selbst. Ein relevantes Ereignis wie der erste Kuss zwischen Effi und Crampas wird dem Rezipienten nur auf höchst doppeldeutige Weise vermittelt. Der Erzähler lässt eine semantische Unklarheit bestehen: ‚ Effi, ‘ klang es jetzt leis an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an. Als sie die Augen wieder öffnete, war man aus dem Walde heraus [. . .]. (TF 189 f.) Naheliegend ist, dass Crampas ihre Hand, ihre Finger küsst; doch betrachtet man die Syntax genauer, so könnte er auch Effi ‚ mit Küssen überdecken ‘ . Kommt die Ohnmacht, die sich anbahnt, oder wird damit nur Effis Gefühl beschrieben? Was passiert also während der Kutschfahrt durch den Wald, die hier weitestgehend ausgespart wird? Wie der Verführer Crampas durch Anspielungen und Zitate Effis Phantasie reizt, verführt auch der Erzähler dazu, die Lücken zu füllen. Er vermag dies gerade wegen der erzählerischen Form, die es ihm erlaubt, Handlungen im Ungewissen zu lassen. Christian Grawe sieht in den Techniken des „ disguised symbolism “ und des „ suggestiv Atmosphärische[n] “ , gemeint ist die bloße Andeutung seelischer Vorgänge durch kurze Hinweise, Landschaftsbilder und abgebrochene Rede, wesentliche „ immanente Deutungsmethoden “ . 371 Aust bezweifelt in seiner Darstellung der Poetik Fontanes, ob die Leerstellen überhaupt entschlüsselbar seien. 372 Das Bühnenstück muss auf diese Vagheit reagieren. Es kann die 371 Christian Grawe: Effi Briest. Geducktes Vögelchen in Schneelandschaft. Effi von Innstetten, geborene von Briest. In: Fontanes Novellen und Romane. Hrsg. v. Christian Grawe. Stuttgart: Reclam 1991 (=Interpretationen). S. 217 - 242. Hier S. 226 f. Den Begriff des ‚ disguised symbolism ‘ für Gegenstände, die als scheinbar realistische Details bedeutungstragend werden, entlehnt Grawe bei Klaus-Peter Schuster, der den Terminus zunächst für christliche Symbole in Fontanes Werk gebraucht. Der Begriff ist in der Forschung zu Fontanes Erzählweise inzwischen etabliert. Klaus-Peter Schuster: Theodor Fontane. ‚ Effi Briest ‘ - Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen: Niemeyer 1978 (= Studien zur Deutschen Literatur 55). 372 Vgl. Aust, Kulturelle Tradition und Poetik. S. 447. Von einer besonderen „ Subtilität, Diskretion und Verborgenheit “ in Fontanes Erzählen spricht auch Christian Grawe. Die „ suggestive Offenheit vieler Szenen und das Enigmatische vieler Gestalten “ mache den Reiz der Texte gerade für die Forschung aus, verleite gelegentlich allerdings zu abwegigen Interpretationen. Christian Grawe: Das Erzählwerk. In: Fontane Handbuch. Hrsg. v. Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart: Kröner 2000.S. 466 - 488. Hier S. 481 und 483. Positiver formuliert bedeutet das für die Dramatisierungen, dass der Roman im Prozess des Dramatisierens viel Variation zulässt. Die Offenheit kann aber auch in den Dramentext übernommen werden und wäre dann von der Regie zu füllen - oder wiederum an den Rezipienten weiterzureichen. 302 <?page no="315"?> Handlungen zeigen und damit Eindeutigkeit herstellen oder die Handlungen von der Bühne ausschließen und dem Gespräch überlassen, welches dann wiederum die Möglichkeit zur Andeutung hat. Es kann Dingsymbole als Requisiten übernehmen, muss sie damit aber in der Isolierung der künstlich reduzierten Bühnenwelt ebenfalls eindeutiger werden lassen. Was die Bühne nicht bietet, ist die Möglichkeit zum Zurückblättern, zum wiederholten Lesen, zum vergleichenden Studium verschiedener Textpassagen durch das individuelle Leseverhalten des Rezipienten. Dieses Mehrfachlesen aber kann zur Entschlüsselung der Andeutungssysteme beitragen. Zum Ausgleich muss sich das Theater wohl darauf verlassen, dass die Geschichte dieses Romans den meisten Zuschauern bereits bekannt sein wird. Damit böte das Theater bereits das wiederholende ‚ Lesen ‘ an, durch das die Möglichkeit besteht, die Vorausdeutungen zu erschließen. Außer dem hohen Anteil direkter Rede hat der Roman mit dramatischen Konventionen wenig gemein. Die Handlungsanlage mag Verbindungen zum bürgerlichen Trauerspiel nahelegen. Doch außer dem Tod der Protagonistin und der Verknüpfung von Fragen des privaten Glücks mit politischen Fragen und Standesbewusstsein sind nicht allzu viele Gemeinsamkeiten zu erkennen: Denn Tugend und Moral sind in Effi Briest keine authentischen Werte mehr, der Ehrbegriff ist zur gesellschaftlichen Maskerade verkommen. Diese Anlage der Ehebruchs- und Duellfrage macht die Diskussion um die Verjährungstheorie notwendig. 373 Auf Ebene der Textstruktur müssen die zeitliche Ausdehnung der Handlung, vor allem aber die nur andeutungsweise vorgenommene Konfliktschilderung als Differenzen zu dramatischen Konventionen hervorgehoben werden. Die Analyse der verschiedenen Dramatisierungen des Romans Effi Briest wird deshalb hauptsächlich die skizzierten vermeintlichen ‚ Problemfelder ‘ für die Aufführung untersuchen: neben jeweils einer kurzen Skizze der grundsätzlichen Dramenstruktur stehen vor allem die Andeutungsstrukturen und Auslassungen im Zentrum. Wo es ergiebig ist, soll auch die Reaktion auf die oben erwähnte historische Diskrepanz von Frauenbild und Ehrenkodex dieses Zeitromans zu dem der heutigen Rezipienten herausgearbeitet werden. 373 Walter Müller-Seidel erklärt, wie der moderne Roman sich an das Drama anlehnt, indem es Spannung und Tragik der Tragödie übernimmt, dann aber (ähnlich der Komödie) auf eine stärker gesellschaftskritische Dimension durch Komik und Verlagerung in die unteren Schichten zielt. Die Leidenschaft der Tragödie oder des bürgerlichen Trauerspiels sei allerdings aus Effi Briest getilgt, womit nur noch der „ nicht mehr tragische Roman auf dem Hintergrund einer halben Komödie “ bleibe. Gerade das mache die Modernität der Erzählung aus.Vgl. Müller-Seidel, Soziale Romankunst. S. 14 f. und 372 f. 303 <?page no="316"?> 4.5.1 Opfer der Gesellschaft: die Dramatisierung von Amélie Niermeyer und Thomas Potzger Amélie Niermeyer als Regisseurin und Thomas Potzger als Dramaturg und Schauspieldirektor entwickelten ihre Fassung für das Weimarer Nationaltheater, wo Effi Briest 1999 uraufgeführt wurde. 374 Die sehr erfolgreiche Inszenierung übernahm Niermeyer für das Freiburger Theater, dem sie in den Jahren 2002 bis 2005 als Intendantin vorstand. Das Textbuch des S. Fischer Theaterverlags trägt den Namen Theodor Fontane als Autornamen auf dem Titel. Erst darunter folgt der Hinweis, es handele sich um eine „ Fassung von “ Niermeyer und Potzger. 375 Der Titel suggeriert, dass hier der Roman entsprechend den Konventionen der Einrichtung eines Dramentextes für die Bühne behandelt wurde: Der Begriff ‚ (Bühnen-)Fassung ‘ bezeichnet die Bearbeitung eines Dramas für die konkrete Aufführung, also eine Strichfassung, die eventuell auch schon Hinweise für die Inszenierung (zu Bühnenform, Licht- und Tonregie) enthalten kann, wie ich es am Beispiel von Albrecht Hirches Wahlverwandtschaften und an Frank Castorfs Berlin Alexanderplatz gezeigt habe (vgl. 4.3 und 4.4.1). Als Strichfassung im weiteren Sinne kann die Dramatisierung zwar betrachtet werden, weil sie sehr nahe an den Texten des Romans bleibt. Hinweise zur Umsetzung auf der Bühne beschränken sich jedoch auf Ortsangaben im Nebentext sowie eine knappe Skizze zur Weimarer Uraufführungsinszenierung, die dem Text vorausgeht: Bühne: Das Stück kann in einem Einheitsraum spielen - assoziativ das Spukhaus in Kessin. Zur Begegnung mit Crampas öffneten sich in der Weimarer Inszenierung die Wände und schlossen sich mit Effis Abschiedsbrief wieder. Die vielen Zeit- und Ortswechsel können durch Licht und Musik markiert werden; manche Übergänge erklären sich auch aus dem Text alleine. Die Szenen sollten ineinander übergehen. Auf- und Abtritte der Figuren können dadurch unabhängig von der Szenenfolge sein - wie in einem Traum. In der Weimarer Inszenierung spielten drei Musiker (Fagott, Klavier, Kontrabaß) auf der Bühne mit. (NP 2) 374 Amélie Niermeyer (geb. 1965) ist Regisseurin und Intendantin, zuletzt am Düsseldorfer Schauspielhaus, und seit 2011 Professorin für Regie und Schauspiel am Mozarteum in Salzburg. Thomas Potzger (geb. 1957, gest. 2007) war Regisseur, Dramaturg und Schauspieldirektor zuletzt am Weimarer Nationaltheater. 375 Theodor Fontane: Effi Briest. Fassung von Amélie Niermeyer und Thomas Potzger. Frankfurt a. M.: Fischer 1999 (UA: Weimarer Nationaltheater 1999, Regie: Amélie Niermeyer). Die Textausgabe wird in diesem Kapitel in Klammern im Fließtext mit der Sigle NP und der Seitenzahl zitiert. Das Titelzitat stammt vom nicht nummerierten Deckblatt. 304 <?page no="317"?> Eine besonders träumerische Stimmung, wie in diesem Entwurf als Grundidee der Inszenierung angegeben, evoziert der Dramentext allerdings nicht. In der Inszenierung mag das anders wirken; doch die dramatische Textgrundlage bleibt mit großen Dialoganteilen nah am Roman und enthält nur wenige Abschnitte, die traumhaft fließend erscheinen. Niermeyer und Potzger schreiben vielmehr eine Folge von 32 Szenen, die in kleinen Stationen insbesondere die unglückliche Ehe der Effi von Innstetten schildert. Damit arbeiten sie eher psychologisch aufklärend. Das Unheimliche, das in der Skizze durch den Ort als „ Spukhaus “ (NP 2) betont wird, spielt zwar wie im Roman eine zentrale Rolle, doch indem Innstettens Verhalten klar als lieblos und pädagogisch herausgearbeitet wird, findet letztlich eine Vereindeutigung statt, die Effi zum Opfer seiner erzieherischen Grausamkeit macht. Dazu tragen auch die Übergänge bei, deren Gestaltung im Paratext betont wird. Häufig werden innerhalb einer Szene parallele Handlungen an verschiedenen Orten dargestellt. Während in Szene 4 ihre Eltern noch auf Basis von Postkarten von der Hochzeitsreise die junge Ehe kommentieren, erreicht Effi bereits Kessin und wird erstmals von Innstetten auf der Bühne alleingelassen (NP 11) - ein Szenenende, das sich häufig wiederholen wird. Über die Montage von zeitlich parallel laufenden Szenen werden Kontraste sichtbar, später (zum Beispiel in den Szenen 24, 26 und 32) die räumliche und emotionale Trennung zwischen den Ehepartnern sowie der Abbruch ihrer Kommunikation. Die kurzen filmartigen ‚ Schnitte ‘ durch Ortswechsel unterstützen den Eindruck einer unvermeidlichen Folge von Ereignissen, bei denen vorrangig Innstetten handelt, während Effi reagiert. Mehrere Male verknüpfen sich zwei Szenen trotz Orts- oder Personenwechsel. 376 Die damit entstehende kausale Logik der Taten entschuldigt die Affäre mit dem Major von Crampas, denn sie erscheint psychologisch zwangsläufig. Beispiele für Innstettens Härte und Effis Leiden in der Ehe bieten gerade diese Übergänge: Innstetten bricht gleich mehrfach das Gespräch mit Effi ab und lässt sie - ganz wörtlich genommen - stehen. Dies entspricht nur teilweise den Schilderungen aus dem Roman. 377 Gleich sieben derart rigide 376 Exemplarisch seien hier die Szenen 10 und 11 angeführt: Innstetten deutet gegenüber Effi eine unheimliche Geschichte um den Chinesen an. In der nächsten Szene lässt Effi sich die Geschichte von Frau Kruse weitererzählen. Innstettens Anreiz hat funktioniert (vgl. NP 20 f.). 377 So verlässt auch bei Fontane Innstetten seine Frau, wenn er auf Dienstreise nach Berlin fährt, mit dem nur scheinbar beruhigenden Hinweis auf den Spuk im Haus: „ Ich werde gegen acht Tage fort sein, vielleicht noch einen Tag länger. Und ängstige Dich nicht . . . es wird ja wohl nicht wiederkommen . . . Du weißt schon, das da oben . . . Und wenn doch, Du hast ja Rollo und Roswitha. “ (TF 202). Der knappe Hinweis: „ Den dritten Tag reiste Innstetten ab. Über das, was er in Berlin vorhabe, hatte er nichts gesagt “ , (TF 202) wird 305 <?page no="318"?> Abgänge verzeichnet die Dramatisierung. 378 Drei besonders eindrückliche Szenenenden sollen hier exemplarisch zeigen, wie Innstetten durch die Montage der Szenen charakterisiert wird: Im Prolog schildert Effi ihre Angst im Haus in Kessin. Sie erklärt ihren Wunsch nach einem Umzug, wirft ihrem Mann schließlich seine mangelnde Rücksichtnahme vor: Ich habe sehr gelitten, wirklich sehr, und als ich dich sah, da dachte ich, nun würde ich frei werden von meiner Angst. Aber du sagst mir bloß, daß du nicht Lust hättest, dich lächerlich zu machen. . . Ein geringer Trost. . . Ich finde es wenig, sehr wenig. . . (Innstetten ab.) (NP 3) Im Roman geht dieses Gespräch weiter und endet nur, weil Hausdiener Friedrich eintritt und das Ende des Streits damit erzwingt (vgl. TF 93). Im Drama verlässt Innstetten wortlos das Gespräch und scheint damit fast klischeehaft als Typus des schweigsamen und uneinsichtigen, gesprächsunfähigen Mannes. „ Arme Effi “ (TF 345), seufzt Fontanes Erzähler angesichts des bevorstehenden Todes seiner Protagonistin im Roman. Derselbe Stoßseufzer mag dem Rezipienten angesichts dieses Ehemannes schon im Prolog der Dramatisierung entfahren. Er wird damit recht behalten: Nachdem Effi ihrem Mann am ersten Morgen in Kessin ihre Albträume während der Nacht schildert, erzählt Innstetten ihr unsensibel die Geschichte vom Chinesen, um dann erneut zu verschwinden (NP 20). Wie begünstigend sich dieses Verhalten auf die Affäre zwischen Effi und Major von Crampas auswirkt, zeigt der Übergang von Szene 15 zu Szene 16. Wieder einmal spricht Effi ihre Angst vor dem Spuk an, wieder geht Innstetten kaum darauf ein und verabschiedet sich diesmal mit der knappen Rechtfertigung: „ Entschuldige, ich habe da noch eine verzwickte Geschichte zu erledigen. . . “ (NP 27). 379 Die folgende Szene springt mit einem harten Schnitt und Zeitsprung mitten in ein Gespräch zwischen Crampas und Effi. Sie endet mit einem gemeinsamen Tanz der beiden (vgl. NP 28). Innstettens Spukgeschichten und seine Hartherzigkeit lassen sich leicht als Ursachen für den Ehebruch identifizieren. Innstettens Härte wird aber nicht nur an seinen Abgängen deutlich, sondern schließlich auch im direkten Dialog. Während Innstetten sich im Roman bei Wüllersdorf über das Auftreten Johannas beklagt (vgl. TF 338 f.), fällt er im Drama vollends aus der Form. In ähnlichen Worten (der Mündlichim Drama durch den Szenenwechsel ersetzt. Dort fehlt allerdings der Hinweis auf Rollo und Roswitha als Unterstützung für Effi. Innstetten geht mit dem Verweis auf „ das da oben. . . “ (NP 31). 378 Vgl. NP 3, 11, 12, 20, 25, 27 und 31. 379 Dieser Satz ist ebenfalls dem Roman entnommen, steht dort in Kapitel 13, welches schildert, wie Effis Einsamkeit und Langeweile entstehen (vgl. TF 120). 306 <?page no="319"?> keit angepasst und gegenüber dem Romantext noch etwas verschärft) richtet er sich direkt an Johanna: „ Ihr ständiges Sich-in-Szene-setzen. Wissen Sie was Sie sind: Eine halbkomische Büstenplastik mit einem Spezialanspruch. Fragt sich nur, ob an die Menschheit oder an mich. Was wollen Sie denn noch? Worauf warten Sie? “ (NP 45) Johanna bleibt nur der wortlose Abgang. Der im Roman so förmliche Innstetten wird hier ungehalten. Sein Ausfall lässt einerseits Effi als die ‚ bessere Hälfte ‘ erscheinen, denn die harten Worte gehören zu den letzten des Dramas. Effi tritt dagegen zuletzt mit den sehnsuchtsvollen Worten über eine mögliche Rückkehr „ in unsere himmlische Heimat “ (NP 45) in Erscheinung; hier offenbart sich ein Gegensatz der Charaktere, wie er größer kaum sein könnte. Darüber hinaus entlarvt Innstettens Grausamkeit gegen Johanna sein voriges Handeln als kalkuliert. Der Roman stellt einen Mann dar, der die Form wahrt, um gesellschaftlich erfolgreich zu sein. Er lässt offen, ob Innstettens emotionale Zurückhaltung und seine Korrektheit aus der enttäuschten Liebe zu Luise Briest erwachsen sind und ob er von der Beziehung zu deren Tochter vielleicht selbst enttäuscht wird. Die Dramatisierung hingegen zeichnet Innstettens Verhalten weit stärker als Desinteresse und Kalkül zum eigenen Nutzen sowie als Hartherzigkeit denn als persönliche Schwäche und Anpassung an gesellschaftliche Verhaltensnormen. Niermeyer und Potzger sind mit ihrer Parteinahme für Effi nicht allein: Fontane selbst wundert sich schon 1895 über die einseitige Haltung von Kritikern und Lesern. Sie scheint also nicht ausschließlich in einem historischen Umdenken zu gründen. 380 Zur Vereindeutigung der Opferrolle Effis tragen in der Dramatisierung auch andere Figuren mit ihren Handlungen bei. Johanna beispielweise hört nicht auf die Anweisungen ihrer Hausherrin (vgl. NP 16); sie verrät Effi, die die Haushälterin explizit um die Geheimhaltung ihrer Ängste bittet, an Innstetten (vgl. NP 19) und erklärt sie für nervenkrank (vgl. NP 27), wie im Roman die unsympathisch dargestellte Sidonie von Grasenapp (vgl. TF 380 Fontane schreibt in einem Brief: „ Ja Effi! Alle Leute sympathisiren mit ihr und Einige gehen so weit, im Gegensatze dazu, den Mann als einen ‚ alten Ekel ‘ zu bezeichnen. Das amüsiert mich natürlich, giebt mir aber auch zu denken, weil es wieder beweist, wie wenig den Menschen an der sogenannten ‚ Moral ‘ liegt und wie die liebenswürdigen Naturen dem Menschenherzen sympathischer sind. Ich habe dies lange gewußt, aber es ist mir nie so stark entgegengetreten wie in diesem Effi Briest und Innstetten-Fall. Denn eigentlich ist er (Innstetten) doch in jedem Anbetracht ein ganz ausgezeichnetes Menschenexemplar, dem es an dem, was man lieben muß, durchaus nicht fehlt. Aber sonderbar, alle korrekten Leute werden schon blos um ihrer Korrektheiten willen, mit Mißtrauen, oft mit Abneigung betrachtet. “ Theodor Fontane: Brief an Clara Kühnast vom 27. 10. 1895. In: Ders.: Briefe. 4. Bd. 1890 - 1898. Hrsg. v. Otto Drude und Helmuth Nürnberger. Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München: Hanser 1982. S. 493 f. 307 <?page no="320"?> 184). Zudem verändert die Montage der Szenen im Drama teilweise die Handlungsmotivierung: So verrät Johanna Effis Angst zwar auch im Roman an Innstetten, doch fordert der Hausherr sie dort zu einer Stellungnahme auf, nachdem Hausdiener Friedrich von der Unruhe in der Nacht schon erzählt hat (vgl. TF 88 f.). In der Dramatisierung beginnt Innstetten die Unterhaltung mit den Worten: „ Es ist spät. Ist etwas passiert? “ , (NP 19) und macht damit deutlich, dass Johanna ihn von sich aus aufgesucht hat. Im Roman kann ihr Wortbruch also durch die Loyalität zum Hausherrn erklärt werden, der ihr näher steht als die erst kürzlich eingezogene Effi; im Drama stellt die Szene dagegen offensichtlich einen denunziatorischen Akt dar. Ähnlich verhält es sich mit Crampas ’ Briefen an Effi, die Innstetten im Roman nur zufällig entdeckt. Ob es sich im Drama bei der Entdeckung der Briefe auch um einen „ Zufall “ (NP 36) handelt, wie Johanna auffällig bruchstückhaft und stammelnd erklärt, bleibt im Vagen. Doch Johanna hat sie gefunden und gebracht, vermutlich sogar gelesen, denn sonst gäbe es keinen Grund zur Übergabe an Innstetten. Sie wirkt also aktiv an der Aufdeckung mit. Etwas unklar bleiben die Rollen Roswithas und Gieshüblers. Roswitha arbeitet schon vor Effis Ankunft bei Innstetten, ist also keine ‚ Wahlfreundin ‘ wie im Roman und trägt zudem Züge von Fontanes unheimlicher Figur der Frau Kruse. 381 Trotzdem hält sie wie im Roman zu Effi. Auch die Rolle Gieshüblers ist schwer deutbar. Er etabliert sich zunächst weit deutlicher als im Roman als Effis Freund und Vertrauter. Mit ihm kann sie offen ihren wenig schmeichelhaften Eindruck von der Kessiner Gesellschaft besprechen, während bei Fontane lediglich der Erzähler von den abschätzigen Blicken des Landadels auf Effi berichtet. Bei Niermeyer und Potzger wird die Ablehnung dieser „ mittelmäßigen Menschen “ (Gieshübler in NP 15) zum Fundament der Freundschaft von Gieshübler und Effi. Dass ausgerechnet Gieshübler schließlich anstelle von Wüllersdorf dem Duell zustimmt und sogar als Innstettens Sekundant fungiert, ist so entweder eine Unschlüssigkeit des Textes oder aber eine gezielte Dekonstruktion der Figur. Mit dieser Wendung wäre Effi der einzige Vertraute in Kessin genommen, indem er sie und ihre gemeinsame Abneigung gegen die reine Äußerlichkeit der Gesellschaft verrät. Sein Versprechen an Effi lautete schließlich: „ Ich werde für Sie kämpfen. . . “ (NP 15). Erst die Inszenierung wird klären können, wie die Rolle Gieshüblers hier intendiert ist. Die Härte, die Effis Mutter Luise Briest gegen ihre Tochter walten lässt, wird dagegen ganz eindeutig sichtbar. So erreicht die Nachricht von der 381 Bei Effis Begrüßung in Kessin ist Roswitha nicht zugegen. Innstetten erklärt, Roswitha lasse sich „ nicht gerne sehen “ und sei vermutlich „ wieder bei ihrem unvermeidlichen schwarzen Huhn “ (NP 9). 308 <?page no="321"?> Entdeckung des Ehebruchs und vom Duell Effi in Hohen-Cremmen. Der Brief der Mutter wird dadurch unnötig und durch direkte Rede ersetzt. Die Inhalte des Briefes wirken durch die direkte Ansprache noch grausamer gegenüber der Tochter, als dies der Brief vermittelt. Darüber hinaus wurde der Text durch kleine Abweichungen und Auslassungen so verändert, dass die Hartherzigkeit auch inhaltlich deutlich wird: LUISE: Setz dich, Effi. Dein Papa und ich. . . Es geht um deine Zukunft, mein Kind. Setz dich, Effi. Du wirst dich auf dich selbst stellen müssen. [. . .] Die Welt, in der du gelebt hast, wird dir verschlossen sein. Auch das elterliche Haus wird dir verschlossen bleiben. Wir können dir keinen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten. . . EFFI: Nicht? LUISE: Nein, denn es hieße, dies Haus vor aller Welt abschließen. Und das zu tun, sind wir entschieden nicht geneigt, weil wir Farbe bekennen. Und vor aller Welt: Wir verurteilen dein Tun, das Tun unseres einzigen und so sehr geliebten Kindes. EFFI: So also denkt ihr euch mein Leben (NP 40). Es fehlen die Passagen, die das Bedauern der Eltern ausdrücken, auf diese Weise handeln zu müssen. Der entsprechende Satz im Roman klingt beispielsweise milder in der Formulierung und der Betonung der Verbundenheit - trotz identischer Konsequenzen für die Protagonistin: „ Und was das Traurigste für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) - auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein “ (TF 301). Zudem drückt sich Effis Enttäuschung über die Rede der Mutter im Dialog durch ihre Rückfrage aus. Dass die Mutter trotz der Reaktion hart bleibt, betont Luises erzieherische Strenge zusätzlich. Effis Enttäuschung wird auch durch den Satz: „ So also denkt ihr euch mein Leben “ , expliziert. Als Vater Briest später Effi anbietet, nach Hause zu kommen, erklärt Luise sich im Roman einverstanden: „ Sie stand auf und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. ‚ Natürlich bin ich [einverstanden]. Du solltest mir nur keinen Vorwurf machen. Ein leichter Schritt ist es nicht. Und unser Leben wird von Stund an ein anderes. “ (TF 328) Sie wirkt hier reflektiert und trotz aller Zurückhaltung nachsichtig gegen ihre Tochter, entschuldigt ihre Orientierung an gesellschaftlichen Normen sogar ansatzweise. Die Dramatisierung lässt sie herzloser wirken. „ Einverstanden? “ , fragt Briest; seine Frau antwortet kühl: „ Natürlich. Unser Leben wird ein anderes. “ (NP 44) Ob sie allerdings die Effis Rückkehr oder den Gehorsam gegenüber ihrem Ehemann für ‚ natürlich ‘ hält, bleibt unklar. Die weitere Rede lässt auf Letzteres schließen. Die Klarheit in der Psychologie der Handlungsmotivationen wird nicht nur durch die Repressionen durch Effis Umfeld verdeutlicht, sondern durch einen Gegenraum, der die Freiheit außerhalb der Gesellschaft verstärkt: 309 <?page no="322"?> Wenn Major Crampas die Szenerie betritt, öffnen sich (so der Nebentext) die Wände (NP 22). Es handelt sich, das gibt die Inszenierungsskizze im Paratext an, um eine allegorische Raumnutzung in der Weimarer Uraufführung. Crampas eröffnet Effi einen neuen Raum und damit einen neuen (Weit-) Blick: „ Da drüben liegt Bornholm, dahinter Whisby und hinter Whisby kommt Stockholm, wo das Stockholmerblutbad war, und dann das Nordcap und dann die Mitternachtssonne. . . “ (NP 22), sind Crampas ’ erste Worte, mit denen er sich sogleich als weltoffen und beinahe schwärmerisch zu erkennen gibt. Crampas sieht hier weiter, als es der Horizont erlaubt. Es handelt sich bei seinem Text um einen Ausschnitt aus dem Roman, in dem der Erzähler in interner Fokalisierung Effis Sehnsüchte nach Weite und Abwechslung thematisiert (vgl. TF 127). Crampas also spricht hier diese Wünsche aus und ist zudem deutlich jünger als im Roman (nämlich 34 statt 44 Jahre alt, vgl. NP 28). Er wird als adäquater Partner eingeführt, der vielleicht sogar - das aber deutet die Dramatisierung nur an - Liebe für Effi fühlt. Denn die vielen Hinweise auf Crampas ’ strategisches Vorgehen 382 , die den Roman durchziehen, sein erster ‚ Auftritt ‘ auf der bühnenartigen Veranda und überhaupt seine Affinität zum Schauspiel, in dem er sich als Regisseur versucht, fehlen im Drama. Ein Kuss, der auf der Bühne gezeigt wird (vgl. NP 30), besiegelt die Beziehung. Zudem schreibt Gieshübler in einem Brief an Effi über den Verlauf der Duellvorbereitungen: „ Als ich Ihren Namen nannte, wurde er totenblaß und rang nach Fassung, und um seine Mundwinkel sah ich ein Zittern. “ (NP 39). Es ist derselbe Satz, den Wüllersdorf im Roman an Innstetten richtet (TF 282), nur ändert sich durch die neue Gesprächspartnerin der deiktische Verweis auf ‚ Ihren Namen ‘ . Im Roman ahnt Crampas mit der Nennung von Innstettens Namen die Entdeckung seiner Affäre und das bevorstehende Duell. Im Drama kann diese Ahnung ebenfalls ein Grund für seine Reaktion sein; doch die Nennung von Effis Namen dürfte weniger Anlass zu diesen Gedanken geben als die von Innstettens Namen. Für die Art der Beziehung zwischen Effi und Crampas bleibt das Drama damit zwar offen in seiner Aussage. Zumindest aber stärkt die so positiv konnotierte Beziehung durch Kontrast das Bild der repressiven Gesellschaft. Wo die Mechanismen so eindeutig offengelegt sind, braucht es kein besonders subtiles Andeutungssystem mehr. Das Spukmotiv, das wurde bereits dargestellt, wird im Rahmen des erzieherischen Wirkens Innstettens recht bald erklärt, hat aber noch großen Anteil an der direkten Rede. „ Effis 382 Hier sei nur ein einziges Beispiel genannt. Dass Crampas sich in der Zeit der Theaterproben mit Annäherungsversuchen an Effi zurückhält, erklärt nämlich der Erzähler wie folgt (TF 169): „ Und er war klug und Frauenkenner genug, um den natürlichen Entwicklungsgang, den er nach seinen Erfahrungen nur zu gut kannte, nicht zu stören. “ 310 <?page no="323"?> Alptraum “ (NP18) ist als knappe Regieanweisung angegeben, die Art der Umsetzung bleibt offen. Die Szene suggeriert, dass Johanna der Grund für die Albträume sein könnte, denn sie ist während der Szene bei Effi und wird kurz vorher von dieser als blond mit „ weiße[m] Teint “ (NP 18) beschrieben, ähnelt also dem Gespenstermoti der weißen Frau. Gieshübler verweist an anderer Stelle auf das bei Sturm vor der Mole in Seenot geratene Schiff (vgl. NP 33), das im Drama bezeichnenderweise nicht gerettet werden kann. „ Haifisch “ und „ Krokodil “ (NP 11) als Schmuck des Kessiner Hauses und Relikte seiner Exotik kommen als deiktische Verweise im Sprechtext vor und sind vermutlich Teile der Bühnendekoration. So werden einige der Motive aus dem Roman in den Sprechtext übernommen. Sie stehen dabei durch die Kürzungen oft etwas vereinzelt, wie zum Beispiel der „ Schloon “ (NP 31), den Innstetten bei der Beschreibung seines Traumes erwähnt, der aber in der Ehebruchszene gar nicht vorkommt, Roswithas schwarzes Huhn, das nur einmal von Innstetten erwähnt wird (s. o.), oder der Verweis auf die „ Predigerstochter “ Hulda (NP 17), die der Rezipient nur aus dem Roman kennen kann. Effis Zusammenfassung von Clemens Brentanos Ballade Die Gottesmauer bleibt als Spur eines reichen intertextuellen Spiels übrig - und vermag auch in der Dramatisierung ihren Zweck nicht zu erfüllen: Direkt darauf folgt der erste Kuss zwischen beiden. Muss das Spiel mit den Motiven, intertextuellen Verweisen und anderen Anspielungen, Fontanes „ Kunst der Allusion “ 383 also, an Bedeutung verlieren oder allzu offensichtlich wirken, so ergibt sich auf Ebene der körperlichen Darstellung ein neuer Raum für die Charakterisierung der Figuren und für Andeutungen des Fortgangs der Handlung. Das Tanzen als Annäherung zwischen Crampas und Effi (vgl. NP 28) gibt einen Hinweis auf die Art ihrer Beziehung. Leichtigkeit und Dynamik wird über den Tanz auch Effi als Figur zugeschrieben, die damit einen Gegensatz zur hölzernen Art Innstettens bildet. In diese Richtung verweist weiterhin das Schlussbild des Dramas. An zwei getrennten Orten der Bühne sieht der Zuschauer die beiden Protagonisten in polarer Gegenüberstellung, die über die Körperlichkeit gestützt wird: „ Effi schaukelt; Innstetten sitzt im Sessel “ (NP 45). Die Beispiele zu dieser Darstellungsebene erscheinen nun sehr viel deutlicher als Fontanes ‚ disguised symbolism ‘ , vielleicht sogar etwas plump. Doch es gibt bei Niermeyer und Potzger auch eine subtilere Variante eines Körperbildes: Herr Kruse tritt als stumme Rolle auf. Über seine stumme Körperlichkeit wird eine unheimliche Stimmung erzeugt, die zu seinem (so lässt Effi verlauten) attraktiven Äußeren so gar nicht zu passen scheint (vgl. NP 9). Während des erstens 383 Ausführlich dazu Bettina Plett, Die Kunst der Allusion. 311 <?page no="324"?> Treffens zwischen Crampas und Effi überquert der stumme Kruse laut Regieanweisung im Hintergrund die Bühne (vgl. NP 22). Er spielt damit auf das Unheimliche, aber auch dessen Attraktivität an und könnte gleichzeitig die Kontrolle durch die Gesellschaft andeuten. Damit stellt die Figur über ein neues, theatergerechtes Motiv etwas von der Ambivalenz des Romans wieder her, die sonst in Eindeutigkeit aufgelöst wird. Der Roman Effi Briest erweist sich trotz seiner dialogischen Form als ein schwerer Fall für die Dramatisierung. Im SPIEGEL beschwert sich Elke Schmitter über die Freiburger Inszenierung: „ Niermeyer lässt uns vom ersten Moment der Inszenierung an wissen, dass sie Effi [. . .] für ein Opfer trostloser Umstände hält, bedauernswert und anziehend zugleich. “ 384 Sie nennt die Dramatisierung einen „ Bilderbogen für Analphabeten “ , ihr fehlt die Anregung zu „ Zweifel und Nachdenken, Urteilsbildung und Unsicherheit, Einfühlung und Wehmut “ . Wenn die Unbestimmtheit, die Polyperspektivität des Romans das ist, was seine Modernität und Aktualität bis in die heutige Zeit ausmacht, dann ist der Geschichte diese Brisanz tatsächlich weitgehend genommen. Am Beispiel von Effi Briest lässt die Dramatisierung eine Tendenz zu Reduktion und Vereindeutigung durch direktes Spiel besonders eindeutig erkennen. 385 Sie ist eine Interpretation des Romans und muss als solche Stellung beziehen, was man ihr nicht grundsätzlich zum Vorwurf machen darf. Es handelt sich nicht um ein Problem einer einzelnen Variante, sondern um ein häufiges Phänomen bei der Dramatisierung. Die nachfolgenden Analysen werden zeigen, dass trotz der Vereindeutigung im Einzelfall die Varianz zwischen den verschiedenen Fassungen dennoch groß ist. 4.5.2 Retrospektive Gegenüberstellung: die Dramatisierung von Sandra Schüddekopf und Alexandra Henkel Effi Briest wurde 2010 im Deutschen Nationaltheater Weimar in einer weiteren Bearbeitung und Inszenierung aufgeführt. Diesmal handelte es sich nicht um eine Uraufführung: Die ‚ Fassung ‘ 386 wurde schon 2006 am Akademietheater, der zweiten Spielstätte des Wiener Burgtheaters, entwickelt und aufgeführt. 384 Hier und im Folgenden Elke Schmitter: Tolles Triebleben. In: Der SPIEGEL 3 (2003). S. 158. 385 Wo zum Beispiel Frank Castorf Uneindeutigkeit hergestellt hat (vgl. Kapitel 4.4.5.2 zu den Inkohärenzen in der Dramatisierung von Berlin Alexanderplatz), ist das stark in seinem Regiestil begründet, der sich auch in der Textfassung zeigt. 386 Effi Briest für einen Schauspieler und eine Schauspielerin. Nach Theodor Fontane. Fassung von Sandra Schüddekopf und Alexandra Henkel. Wien: Österreichischer Bühnenverlag Kaiser & Co. 2006 (UA: Akademietheater/ Burgtheater Wien 2006, Regie: Sandra Schüddekopf). Die Textausgabe wird in diesem Kapitel in Klammern im Fließtext mit der Sigle SH und der Seitenzahl zitiert. 312 <?page no="325"?> Sandra Schüddekopf als Autorin führte auch Regie, ihre Coautorin, Alexandra Henkel, war die Darstellerin der Effi in Wien. Der Dramentext wurde also von den an der Inszenierung Beteiligten erstellt. Das Personal des Romans wird dabei drastisch reduziert: Effi Briest wird zu einem Stück für eine Schauspielerin und einen Schauspieler, wobei das Geschlecht der Darsteller im Skript vorgegeben wird. Schüddekopf und Henkel machen Effi Briest zu einer Gegenüberstellung 387 der Figuren Effi und Innstetten, bei der Effi über den Redeanteil der wichtigere Part zugestanden wird. Durch zahlreiche Darstellungen ihrer Gefühlswelt in Monologen und Briefen bietet sich dem Publikum eine Einsicht in ihre Handlungsmotivation. In dieser Dramatisierung, die in einem Dialog um Schuld und das richtige Verhalten mündet, ist das ein wichtiger Vorteil. Eine Parteinahme für Effi wird dem Rezipienten im Verlaufe des Dramas durch diese Erzähltechnik nahegelegt. Auf knapp bemessenen 33 Seiten wird die Handlung nur teilweise ausgespielt, vielfach kommentierend zusammengefasst und durch Erzählereinschübe schnell vorangetrieben. Die Grundstruktur der Dramatisierung ist geprägt vom Wechsel zwischen Erzählertext und Figurenrede. Beiden Schauspielern sind mehrere Rollen zugeordnet, darunter auch die im Gesamtbild des Stückes recht dominanten Erzählerrollen. Das Figurenverzeichnis gibt für den männlichen Schauspieler die Rollen „ Erzähler, Innstetten, Crampas “ an, für die Schauspielerin „ Erzählerin, Effi, Annie “ (SH 2), wobei Annie nur sehr kurz und mit geringem Redeanteil auftritt. Sie wird zudem nicht als Sprecherin im Nebentext angegeben, sondern ihr Redeanteil findet sich in Anführungszeichen gesetzt in der Rede Effis (SH 32 f.). So entsteht der Eindruck, Effi stelle die Szene bewusst nach, vielleicht um die mechanische Sprechweise der Tochter zu entlarven und anzuklagen. Das Personal ist also faktisch auf drei Figuren und zwei Erzähler reduziert. Durch den Rollenwechsel bewegen sich die Darsteller zwischen zwei Erzählebenen. Der Sprechtext der Figuren entspricht dabei weitgehend der Figurenrede des Romans; die Passagen, die im Drama den Erzählerfiguren zugeordnet sind, entstammen zum größten Teil den erzählerischen Passagen des Romans, teilweise aber auch den Gesprächen zwischen Effis Eltern, Brief- und Postkartentexten und sogar Redeanteilen Effis, die in die dritte Person gesetzt werden. Die Erzählerfiguren sprechen oft dialogisch miteinander, sodass die Struktur ihrer Rede den Figurengesprächen ähnelt. Das Drama zielt wohl auf eine Parallelsetzung beider Figurenpaare. Ein Beispiel dafür ist 387 Mit dem Titel „ Gegenüberstellung Effi/ Innstetten “ ist auch die letzte Szene des Dramas überschrieben (SH 33), die unten noch genauer betrachtet wird. 313 <?page no="326"?> eine Erzählersequenz, die mit dem Szenentitel „ Erzähler berichten über ihre Ehe “ überschrieben ist (SH 14): ERZÄHLERIN: Huldigungen, Anregungen, - bitte, bitte, bitte - kleine Aufmerksamkeiten, das fehlte ihr doch in ihrer Ehe. ERZÄHLER: Er hatte das Gefühl, Effi zu lieben, und das gute Gewissen, dass es so sei, ließ ihn von besonderen Anstrengungen absehen. ERZÄHLERIN: Innstetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte immer seine Arbeit im Kopf [sic! ] ERZÄHLER: Ja, er sprach viel über seine Arbeit. War er damit durch, so bat er Effi, dass sie was spiele, aus „ Lohengrin “ oder aus der „ Walküre “ , denn er war ein Wagner-Fan. ERZÄHLERIN: Und dann war Innstetten total müde und erging sich in ein paar wohlgemeinten, aber etwas müden Zärtlichkeiten, ERZÄHLER: die sich Effi gefallen ließ, ohne sie recht zu erwidern. ERZÄHLERIN: Weil es so sein musste, denn im Grunde verging sie vor Langeweile. (SH 14) Der Dialog setzt die Erzählerin hier in die Rolle Effis. Über das eingeschobene, kindliche Bitten zu Beginn wird die Identifikation deutlich, weil es aus dem Erzählduktus herausfällt; es wird mimetisch, also direkte Rede. Die Rolle des männlichen Erzählers lässt sich nicht ganz so einfach aus dem Sprechtext ableiten. Seine Rede könnte recht sachlich gesprochen sein; doch auch hier gibt es Hinweise auf eine Identifikation mit Innstetten. Der direkte Anschluss an den Vorwurf der Erzählerin mit den Worten: „ Ja, er sprach viel über seine Arbeit “ , könnte den Ton einer Rechtfertigung erhalten. Auch der kurze Einwurf, Effi habe sich die Zärtlichkeiten ‚ gefallen lassen ‘ , legt nahe, dass es sich um einen Einwurf zur eigenen Verteidigung handelt, den die Erzählerin als Anwältin Effis gleich wieder aufnimmt. Die Wechselrede also legt ein Streitgespräch nahe, das eigentlich den Figuren Effi und Innstetten zukommen würde. Die Erzähler kehren auf diese Weise den nur inneren Konflikt als Stellvertreter der Figuren nach außen. Diese Zuschreibung der Erzählerpositionen ist aber keine durchgängige. So argumentiert der Erzähler schon eine Szene später mit den Worten des alten Briest (vgl. TF 141) gegen Innstetten: „ Mich wundert nur, dass Innstetten nicht mal Urlaub genommen hat und rübergeflitzt ist. Wenn man eine so junge Frau hat . . . “ (SH 15). Im Roman verteidigt Effi ihren Mann nun; doch sie tut es nur zum Schein. Der Erzähler offenbart ihre Gedanken: „ Effi errötete, weil sie gerade so dachte. Sie mochte es aber nicht einräumen. “ (TF 141) Erst dann lässt er sie antworten: „ Innstetten ist so gewissenhaft und will, glaub ’ ich, gut angeschrieben sein, und hat so seine Pläne für die Zukunft; Kessin ist doch bloß eine Station. Und dann am Ende, ich lauf ’ ihm ja nicht fort. Er hat mich ja. “ (TF 141). Es wird deutlich, dass dies nicht Effis Worte sind. Vielmehr 314 <?page no="327"?> scheint es sich um einen Fall der ‚ Poetik der Gänsefüßchen ‘ zu handeln. Effi nimmt Argumente in ihre Rede auf, die sie so oder ähnlich im Gespräch schon einmal gehört hat. Die Dramatisierung Schüddekopfs überlässt der Erzählerin die Verteidigungsrede Effis, gibt aber keinen Hinweis darauf, wessen Meinung diese entspricht: „ Er ist so gewissenhaft und will gut angeschrieben sein, und hat so seine Pläne für die Zukunft; Kessin ist doch bloß eine Station. Und dann am Ende: sie läuft ihm ja nicht fort. “ (SH 15) Der Erzähler ergänzt zustimmend: „ Er hat sie ja “ (SH 15). Der Satz klingt hier als Fremdzuschreibung wesentlich besitzergreifender als im Roman, wo Effi sich selbst Innstettens Eigen nennt; Effi wird zum Objekt. Die Verteilung der Rollen Effis und Innstettens auf Erzählerin und Erzähler wird also nicht durchgehalten; zum Teil sind wohl bühnenpraktische Überlegungen der Grund dafür: Der Rollenwechsel verlangt klar voneinander geschiedene Sprechakte, eine Abwechslung der Sprecher. Wo also beispielweise Effi als Figur redet, muss nach dieser Logik der männliche Schauspieler den Erzählerpart übernehmen, auch wenn darin Effis Inneres geschildert wird. 388 Die starke Reduktion des Personals geht mit rigiden Kürzungen von Handlungssträngen einher und führt zu Umwertungen in der Handlungsmotivation. Die ‚ Gesellschaft ‘ ist hier nur noch in Innstettens Rede über das „ tyrannisierende Gesellschaftsetwas “ (SH 30) vorhanden, nicht aber als handelnde oder kommentierende Personen. Damit wird der Konflikt dem Verhalten der Protagonisten zugeschrieben. 389 Auch das bei Fontane so weitreichende Symbolsystem ist nur relikthaft vorhanden. Ein kleiner Hinweis auf Effis Leidenschaft für das Schaukeln und Klettern bleibt in einem Monolog vorhanden, wird aber nicht weiter ausgebaut; sämtliche in den Roman eingefügten Hinweise auf die Bestrafung von Ehebrecherinnen (wie beim Versenken der Stachelbeerschalen im Teich, beim Besuch der Opfersteine auf Rügen oder in Roswithas Lebensgeschichte) sind getilgt. Der Chinese bekommt einen (wenngleich kleinen) Raum zugestanden, der aber nicht näher mit der unglücklichen Liebe oder gar dem Tod der Braut in Verbindung gebracht wird, wie es Fontane anspielungsreich verknüpft. In Bezug auf den Spuk, der als Gesprächsthema durchaus vorkommt, ist insbesondere eine Szene bedeutsam, die einen Traum Effis ankündigt, aber im Dramentext keinerlei Ausformulierung erhält. Die Szenenüberschrift 388 Deutlich wird das zum Beispiel an der Szene mit dem Titel „ Die einsame Effi “ (SH 9 - 11), die Effis Spukangst schildert. 389 Ein ähnlicher Effekt stellt sich in von Düffels Buddenbrooks in Bezug auf Thomas Buddenbrook ein: In Kapitel 4.1.5 wird dargestellt, dass durch die Figurenauswahl, den Wegfall des gesellschaftlichen Umfelds und eine polare Figurenanordnung die Konflikte stärker selbstverschuldet wirken. 315 <?page no="328"?> „ Effis Alptraum “ (SH 11) bleibt ohne weitere Füllung stehen. Die nächste Szene schließt direkt an die Überschrift an. Diese Leerstelle lässt darauf schließen, dass die unheimliche Atmosphäre, das Andeutungssystem, Dingsymbolik und Spukmotiv als Aufgabe der Inszenierung gedacht werden. Ein genuin sprachliches Mittel wird in der Ehebruchszene als Anspielung genutzt: Der sexuelle Kontakt wird nicht ausgespielt, sondern durch ein sprachliches Pendant, die Aussagen Sidonies über den Schloon, ersetzt. Schon vorher kündigen rasche Sprecherwechsel der Erzähler die anziehende und zugleich beängstigende Kraft des Schloons (und des Ehebruchs) an. Im Moment des ersten sexuellen Kontakts zwischen Effi und Crampas sprechen im Drama beide Erzähler gleichzeitig: Der Schloon. Solche Schlitten; die versinken im Schloon. Dieser Schloon ist eigentlich bloß ein kümmerliches Rinnsal, das sich durch die Dünen schleicht. [. . .] Alles geht unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand ist dann bis tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann über solche Sandstelle weg will, die keine mehr sind, dann sinkt man ein, als ob es ein Sumpf wäre oder ein Moor. Oder ein Schloon. (SH 22 f.) Der Text wird also durch die chorische Rede mit einer Zusatzbedeutung aufgeladen. In diesem Fall werden die sexuellen Handlungen der Protagonisten durch das gemeinsame Sprechen ersetzt. Kleinere Veränderungen des Wortlauts geben dem Sprechtext des Dramas eine andere lautliche Qualität. So wird das Wort ‚ Schloon ‘ in der verdichteten Rede besonders häufig genannt; der Begriff rahmt die Rede. Damit wird der Sogcharakter betont. In der Inszenierung könnte das lautmalerisch, durch Vokaldehnung oder den Wiederholungseffekt performativ noch verstärkt werden. Die Sprechtexte des Dramas, auch das wird in der oben zitierten Passage erkennbar, entstammen fast durchgängig dem Text Fontanes, verändern ihren Charakter aber durch die Auslassungen, die veränderten Sprecher und die Collage der Textteile. Zudem werden sie in einigen Szenen der Mündlichkeit der Bühne angepasst. Zur konzeptionellen Mündlichkeit der Dialogtexte tragen insbesondere Kürzungen in den Sätzen bei, so beispielweise die Auslassung von Nebensätzen. Fremdtext wird kaum genutzt und bleibt dann nahe am Roman. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht eine Szene vom Beginn der Dramatisierung: Die Erzählerin verliest die Postkarten, die Effi ihren Eltern von der Hochzeitsreise schickt. Die erste Nachricht kommt aus München. Sie wird im Roman zitiert; der Dramentext übernimmt sie fast wörtlich. Die folgenden Karten werden bei Fontane nur zusammenfassend erwähnt: Solche Karten trafen nun täglich ein, aus Innsbruck, aus Verona, aus Vicenza, aus Padua, eine jede fing an: „ Wir haben heute Vormittag die hiesige berühmte Galerie 316 <?page no="329"?> besucht, “ oder, wenn es nicht die Galerie war, so war es eine Arena oder irgend eine Kirche „ Santa Maria “ mit einem Zunamen. (TF 46) Die parodistische Beschreibung der Bildungsreise, die Effi und Innstetten in ihrer Gegensätzlichkeit so anschaulich charakterisiert, baut Schüddekopf in ihrer Dramatisierung auf eine Art aus, die in der Zielrichtung Fontanes Parodie durchaus entspricht, wenngleich sie in anderer Form stattfindet. Sie greift elf Ortsangaben zur Reise auf, die fast alle der Roman gibt, und füllt sie mit den typischen Stationen des Bildungsreisenden. Staccato-Stil und Ellipsen parodieren das einförmige Abarbeiten der Sehenswürdigkeiten sowie Effis Desinteresse: Innsbruck - Waren im Tiroler Landesmuseum und im Kunstpavillon. - Meran - Schloss Tirol, 600 Meter Seehöhe besichtigt. Großartiges Panorama. - Verona - Durch die Arena geschritten und das Grab der Julia besucht. Geert ist so belesen; er hat alles von Shakespeare gelesen. [. . .] Florenz - Die Uffizien besucht. - Perugia - Endlich was los: an der etruskischen Stadtmauer Schienbein aufgeschlagen. - Neapel - Um sechs Uhr aufgestanden, um die Sonne über dem Vesuv aufgehen zu sehen. Später Grab des Vergil besucht. Eure müde Effi. (SH 3) Dies ist nur ein Teil der Postkarten, die auf der Bühne verlesen werden. Besonders die Karte aus Perugia, von der der Roman nicht erzählt, bringt auf humoristische Weise Effis Risikofreude in den Text. Meist aber werden die Dialoge direkt aus dem Roman übernommen. Auch Passagen des Erzählertextes finden ohne auffällige sprachliche Veränderungen Eingang in die Dramatisierung und bilden sogar einen recht großen Teil des gesamten Theaterstücks. Durch das Erzählen im Imperfekt bekommt das Drama eine rückblickende Tendenz, den Charakter der Aufarbeitung des Gewesenen, der auch eine Distanz zum Geschehen mit sich bringt. Diese Distanz erzeugt auch im Roman der Erzähler, besonders aber der Humor in der Darstellung der Figuren, zum Beispiel in den anzüglichen rhetorischen Wendungen Vater Briests oder in der Ironisierung durch den Kontrast von Figurenrede und Figurenhandeln, das der Erzähler beschreibt. 390 Die komische Seite allerdings fehlt der Dramatisierung durch Auslassung der parodistisch angelegten Nebenfiguren und die Reduktion des Erzähltextes weitgehend. 391 Die Rollenwechsel können aber eine dis- 390 Ein plakatives Beispiel stellt Sidonies Ruf nach Anstand und Sitte während des Weihnachtsessens im Försterhaus dar. Die Diskrepanz zwischen (zumal bildhaftem) Sprechen und Handeln wirkt hier besonders entlarvend: „‚ Eingreifen, lieber Pastor, Zucht. Das Fleisch ist schwach, gewiß; aber. . . ‘ In diesem Augenblicke kam ein englisches Roastbeef, von dem Sidonie ziemlich ausgiebig nahm “ (TF 179). 391 Die oben beschriebene Verlesung der Postkarten bildet eher eine Ausnahme. Je nach Inszenierung der Erzählerdialoge können auch diese auf der Bühne durch die Wechsel- 317 <?page no="330"?> tanzierende Wirkung wieder verstärken, verweisen sie doch auf eine Distanz der Figuren zu sich selbst, die der Rezipient dann ebenfalls einnehmen kann. Ein Abstand entsteht auch durch die Achronie in der Reihung der Szenen: Schüddekopf beginnt das Drama mit einer Diskussion der beiden Erzähler, die weitgehend das Gespräch von Effis Eltern während der Hochzeitsreise ihrer Tochter wiedergibt. Die Dramenhandlung setzt also erst in Kapitel 5 ein, und der Beginn präsentiert nicht eine Handlung, sondern bereits den Kommentar dazu. 392 Überhaupt enthält die Dramatisierung zahlreiche reflektierende Passagen. Nicht nur die Erzählertexte, auch sogenannte „ Rückblenden “ tragen zu einem kontrollierenden, abwägenden Duktus bei. Vier solcher Montagen finden sich im Drama. Es handelt sich jeweils um monologisch durch Effi wiedergegebene Ausschnitte aus der Zeit vor und um die Hochzeit. Darin stellt sie ihren Liebes- und Ehebegriff dar, den Wunsch nach einer Beziehung als „ gleich und gleich “ und ihre Abneigung gegen jede Form der Langeweile (SH 2 und 3) sowie die „ Liebesgeschichte mit Held und Heldin “ (SH 8), die sie in der Liebe zwischen Innstetten und ihrer Mutter erkennen will. Die Rückblenden greifen zentrale Sätze der Protagonistin auf, 393 die vor allem Effis unreflektiertes Ehebild und ihre Naivität, aber auch ihre Not zeigen. Die Analepsen werden in den weiteren Gang der Handlung montiert, sodass sie eine eigene Kommentarebene bilden. Exemplarisch sei hier die Funktion der letzten Rückblende geschildert: Ihr geht ein Monolog Innstettens voraus. Der betrogene Ehemann denkt über die Konsequenzen und die Notwendigkeit eines Duells nach; in dieser Dramatisierung führt Innstetten das berühmte Gespräch mit Wüllersdorf mit sich allein. So gehen auch Wüllersdorfs Zweifel in den Monolog des Betrogenen ein. Der Monolog präsentiert folglich den Denkprozess - nicht wie im Roman die Argumentation für eine bereits getroffene Entscheidung. Innstetten spricht mit Wüllersdorfs Worten seine Zweifel aus: rede und die Reaktion aufeinander komisch wirken. Das wäre dann aber kaum der Textgrundlage geschuldet. 392 Die Collage aus verschiedenen Gesprächsteilen (der Dialog setzt sich aus verschiedenen Abschnitten zusammen, vgl. insbesondere TF 41 und 47) führt außerdem schon in der ersten Szene, die den Titel „ Intro “ trägt, die wohl berühmteste Wendung des Romans an: „ Das ist wirklich ein zu weites Feld “ (SH 2), und stellt damit einen hohen Wiedererkennungseffekt her. 393 „ Wenn man zwei Stunden verlobt ist, ist man immer ganz glücklich. Jedenfalls denk ich es mir so “ , ist als charakteristische Wendung ebenso in der Adaption präsent wie Effis Aussage: „ Ich klettre lieber und ich schaukle mich lieber, und am liebsten immer in der Furcht, dass es irgendwo reißen oder brechen und ich niederstürzen könnte. Den Kopf wird es ja nicht gleich kosten. “ (beides SH 19). 318 <?page no="331"?> Aber wenn ich so zu der Sache stehe und mir sage: „ Ich liebe diese Frau so sehr, dass ich ihr alles verzeihen kann “ , und wenn wir dann das andere hinzunehmen, dass alles weit, weit zurückliegt, ja, wenn es so liegt, so frage ich, wozu die ganze Geschichte? Wozu (SH 29) Ob es nun beabsichtigt ist oder nur ein Interpunktionsfehler: Dass hier am Ende der Szene das Satzzeichen fehlt, ist ein adäquater Hinweis darauf, dass der Gedankengang noch nicht abgeschlossen ist. Doch bevor Innstetten seine Entscheidung trifft, wird eine Rückblende eingeschoben, in der Effi ihren Mann charakterisiert. Die Worte finden sich im Roman in einem Gespräch mit der Mutter, in dem Effi vorsichtig erste Zweifel und Sorgen vor der Hochzeit äußert. Sie sind hier zum Monolog zusammengefasst: Und ich könnte beinah sagen, ich wäre ganz und gar für ihn, wenn er nur . . . ja, wenn er nur ein bisschen anders wäre. Es ist etwas, was ich erst ganz vor kurzem aufgehorcht habe, drüben im Pastorhause. Wir sprachen da von Innstetten, und mit einem Male zog der alte Niemeyer seine Stirn in Falten, aber in Respekts- und Bewunderungsfalten, und sagte: „ Ja, der Baron! Das ist ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien. “ Und ich glaube, er sagte nachher sogar, er sei auch „ ein Mann von Grundsätzen “ . Und das ist, glaub ich, noch etwas mehr. Ich habe keine. (SH 30) Dieser Mann also befindet sich nun in einer Entscheidungssituation; was könnte er anderes tun, als nach den Grundsätzen und Prinzipien zu beschließen? Der Monolog Innstettens wird in der anschließenden Szene fortgeführt, dem noch offenen ‚ Wozu ‘ wird dort ein klares ‚ Weil ‘ entgegengesetzt: „ Weil es trotzdem sein muss “ (SH 30). Mit diesen Worten beginnt die Szene, in der Innstetten seinen Ehrbegriff und die Gesetzlichkeiten der Gesellschaft beschreibt. Dem Romankenner zeigt sich hier die vorausdeutende Erzählstruktur von Fontanes Werk, dem Rezipienten des Theaterstücks wird eine psychologische Erklärung für Innstettens Entscheidung nahegelegt: Ausschlaggebend sind eher der Charakter und die persönliche Disposition Innstettens als seine gesellschaftlichen Verpflichtungen oder Druck von außen. Zudem entsteht durch die Montage auch strukturell ein dialogisches Prinzip. Die Szenen scheinen in ihrer Abfolge aufeinander zu reagieren, fast zwingend zu folgen. 394 Dieses Schema suggeriert im Zusammenspiel mit den Rückblenden und den Erzählerpassagen im Imperfekt eine Unvermeidlichkeit der Dinge, die das fehlende Netz der Symbole und Andeutungen ablöst. 394 Ganz deutlich wird das auch in den Szenen, die den Ehebruch umgeben. Der Bericht über die Schlittenfahrt folgt direkt auf Innstettens Warnung vor Crampas, die mit dem Zusatz endet, sie solle sich nicht zu sehr vorsehen, denn „ dann hilft es nichts “ (SH 21). Innstettens Warnung wird geradezu zum Anlass für den Ehebruch, da die entsprechende Szene direkt darauf folgt. 319 <?page no="332"?> Innstettens Monolog ist aus einem weiteren Grund interessant. Für seine Argumentation benötigt der Ministerialrat ein Gegenüber. Weil Wüllersdorf nicht auftritt, wird das Publikum zum Zeugen, der das Duell zwingend notwendig macht: Vor einigen Minuten hatte ich das Spiel noch in der Hand, konnt ich noch das eine und noch das andere. Jetzt nicht mehr. Ich bin selber schuld daran; ich erzählte es Ihnen und damit war das Spiel aus meiner Hand. Es gibt keine Verschwiegenheit. Und wenn Sie ’ s wahr machen und gegen andere die Verschwiegenheit selber sind, so wissen Sie es. Ich bin, und dabei bleibt es, von diesem Augenblicke an ein Gegenstand Ihrer Teilnahme [. . .]. Und ereignet sich ’ s gar, dass ich in irgendeiner ganz alltäglichen Beleidigungssache zum Guten rede, so geht ein Lächeln über Ihr Gesicht, oder es zuckt wenigstens darin, und in Ihrer Seele klingt es: „ Der gute Innstetten, er hat doch eine wahre Passion, alle Beleidigungen auf ihren Beleidigungsgehalt chemisch zu untersuchen, und das richtige Quantum Stickstoff findet er nie. Er ist noch nie an einer Sache erstickt. “ (SH 30 f.) Damit wird das Publikum nicht nur zum Mitwisser des Ehebruchs, sondern es wird - eben noch in der Rolle des Zeugen - nun zur richtenden Gesellschaft. Es ist in die Frage nach Schuld und Notwendigkeit involviert, die im sehr knappen Schlussteil eine Rolle spielen wird. Das dialogische Strukturprinzip führt schließlich zu einer „ Gegenüberstellung Effi/ Innstetten “ (SH 33), wie die abschließende Szene überschrieben ist. In diesem letzten Dialog findet das Gespräch zwischen Effi und Innstetten statt, das im Roman fehlt. Denn bei Fontane sehen sich - der historischen Gepflogenheit entsprechend - die Ehepartner nicht wieder. Beide reflektieren getrennt über das Leben, das sie nun erwartet. Schüddekopf und Henkel montieren diese Passagen der Reflexion ineinander, sodass sich ein Text ergibt, der einem Gespräch nahekommt: EFFI: Ich war ein Kind. . . Nein, nein, ich war kein Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich will meine Schuld nicht kleiner machen. INNSTETTEN: Schuld, wenn sie überhaupt was ist, ist nicht an Ort und Stunde gebunden und kann nicht hinfällig werden von heute auf morgen. Schuld verlangt Sühne; das hat einen Sinn. EFFI: Und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und dann Blut und Mord. Und ich schuld. Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. INNSTETTEN: Es muss doch eine Verjährung geben, Verjährung ist das einzig Vernünftige. Wenn ich nämlich die Briefe fünfundzwanzig Jahre später gefunden hätte. . . Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht 320 <?page no="333"?> schon bei zehnundeinhalb heißt es Unsinn. Die Grenze. Wo fängt sie an? Die Grenze? EFFI: Ich habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, dass er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Das hat e r dem Kinde beigebracht, „ Oh gewiss, wenn ich darf. “ „ Du brauchst nicht zu dürfen “ ; ich will nicht mehr, ich hass ihn, auch mein eigen Kind. INNSTETTEN: Es gibt so viele Leben, die keine sind, und so viele Ehen, die keine sind . . . EFFI: Ich möchte auf meinem Stein meinen alten Namen wiederhaben. (SH 3) Innstettens Äußerungen sind unterschiedlicher Natur: Rechtfertigt die erste noch sein Verhalten, so bringt die zweite den Zweifel zurück. Im letzten Einwurf scheint er zu resignieren. Die Äußerungen entstammen den Reflexionen auf der Rückfahrt vom Duell in Kessin nach Berlin (TF 286 f.). Effis Redebeiträge hingegen sind nicht der Phase der Trauer und Scham kurz nach der Entdeckung und auch nicht den reuevollen Gedanken kurz vor ihrem Tod entnommen. Sie entstammen der einzigen Passage des Romans, in der Vorwürfe an Innstetten laut werden. Nach dem Besuch Annies, die wie dressiert ihren Text aufsagt, bricht Effi zusammen, um dann ein Gebet zu sprechen, das schließlich in eine Anklage an Innstetten übergeht. Effi beginnt mit den Worten: „ O du Gott im Himmel, vergib mir, was ich gethan “ (TF 325), um schließlich eine Absage an Innstetten zu formulieren: „ Mich ekelt, was ich gethan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. “ (TF 325 f.) Die Worte aus diesem Wutausbruch stehen in der Schlussszene der Dramatisierung den reflektierenden Worten Innstettens gegenüber. In der Dramatisierung darf Effi Anklage erheben. Da wirkt der eigentlich regressive Wunsch nach ihrem Mädchennamen auf dem Grabstein am Ende des Schlagabtausches nicht mehr als Versuch der Wiederherstellung einer Idylle im nahenden Tode. Hier klagt eine Frau an und fordert trotzig ihre Eigenständigkeit zurück. Bis der geforderte Grabstein benötigt wird, kann es noch lange dauern. Denn von Effis Krankheit war bis zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede. 4.5.3 Pubertät und Pädagogik: die Dramatisierung von Edith Ehrhardt Zum Vergleich mit der Dramatisierung von Schüddekopf und Henkel soll hier eine weitere Bühnenversion angeführt werden, die mit zwei Schauspielern - wiederum weiblich und männlich - operiert. Die Dramatisierung 321 <?page no="334"?> der Regisseurin Edith Ehrhardt 395 zielt dabei auf ein junges Publikum und ist außerdem als mobile Produktion für das Klassenzimmer eingerichtet. Trotz der Ähnlichkeiten in der Setzung des Personals arbeitet Erhardt ganz anders als Schüddekopf, setzt wesentlich stärker auf den Figurendialog und Figurenpsychologie. Sie passt das Stück durch Komik einerseits und eine zielgruppengerechte Rahmung andererseits an Jugendliche und Schulklassen als Rezipienten an. Ehrhardts Dramatisierung von Effi Briest wurde am 26. 9. 2003 am Theater Ulm uraufgeführt. Regie führte die Autorin selbst. Auch sie bezeichnet ihren Text als „ Bühnenfassung “ . 396 Die Zielgruppe des Stücks, das verrät der Eintrag in der Datenbank des Verbands Deutscher Bühnen- und Medienverlage, sind Jugendliche ab 14 Jahren. 397 Der Verlag gibt auf seiner Homepage literaturdidaktische Ziele an: „ Diese Spielfassung für zwei Schauspieler ebnet jugendlichen Zuschauern den Weg zu einem Klassiker und ist als mobile Produktion möglich. “ 398 Sie ‚ ebnet den Weg zu einem Klassiker ‘ zunächst deshalb, weil sie direkt in der Schule gespielt werden kann: Die Uraufführung war, das ist im Dramentext festgehalten, als Spiel für das Klassenzimmer geplant (vgl. EE 3). Ehrhardt integriert die Tafel, aber auch das anwesende Publikum ins Spiel. Das soll im Anschluss noch genauer dargestellt werden. Doch auch thematisch orientiert sie sich an ihrem Publikum, entnimmt Fontanes Effi Briest bewusst diejenigen Inhalte, die sie für ihre jugendlichen Rezipienten als angemessen empfindet. Der Verlag drückt das wie folgt aus: Edith Ehrhardt hat Fontanes Roman sensibel für die Bühne bearbeitet - sie verdichtet die wesentlichen Stationen von Effis Weg zu einem zeitlosen Stück über Träume und Enttäuschungen des Erwachsenwerdens. Zwei Schauspieler reichen aus, um die unerfüllten Sehnsüchte fassbar zu machen. Dabei steht Fontanes Sprache einer modernen „ Effi Briest “ nicht im Wege - geschickt integriert 395 Edith Erhardt arbeitet als freie Regisseurin, wurde 1974 geboren und studierte Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. Sie war bis 2002 als Regieassistentin am Ulmer Theater tätig, für das sie ein Jahr später auch Effi Briest bearbeitete und inszenierte. 396 Effi Briest. Bühnenfassung für 1D/ 1H von Edith Ehrhardt. Berlin: Theaterverlag Hofmann- Paul 2003 (UA: Ulmer Theater 26. 9. 2003, Regie: Edith Ehrhardt). Die Textausgabe wird in diesem Kapitel in Klammern im Fließtext mit der Sigle EE und der Seitenzahl zitiert. Die Verlagsfassung enthält im Personenverzeichnis noch die Namen der beiden Schauspieler, Eva Christ und Martin Rüegg, die in der Ulmer Inszenierung spielten. Hier zeigt sich, wie eng die Erstellung des Textes mit der konkreten Bühnenarbeit verbunden ist. 397 www.theatertexte.de/ data/ theaterverlag_hofmannpaul/ 1 177 214 073/ show (letzter Zugriff am 12. 9. 2010). 398 www.theaterverlaghofmann-paul.de/ (letzter Zugriff am 12. 9. 2010). 322 <?page no="335"?> Ehrhardt die Orignal-Monolge [sic! ] der Romanvorlage in die komprimierte Spielfassung. 399 Wie also wirken sich die Zielgruppenorientierung und die Konzeption als mobile Produktion für das Klassenzimmer aus? Ganz pragmatisch betrachtet ist zunächst die Spiellänge günstig, die mit 75 - 80 Minuten (so die Angaben im Dramentext, vgl. EE 1 und die Verlags-Homepage, siehe Fußnote 398) leicht in eine Doppelstunde passt und sich problemlos ohne Pause spielen lässt. 400 Die Textfassung ist mit etwa 6700 Wörtern noch einmal um ein Drittel kürzer als die bereits straffe Fassung von Schüddekopf und Henkel. Die Reduktion auf zwei Schauspieler steigert ebenfalls die Mobilität der Produktion und ist dem geringen Platzangebot im Klassenraum angepasst. 401 Ehrhardt greift als Gestaltungselement die Schultafel mit auf, auf die Effi im Laufe des Stücks verschiedene Sätze schreibt. So wird nach dem Spiel auf der Tafel als literarisch-dramatische ‚ Ergebnissicherung ‘ Folgendes zu lesen sein: Es ist ein. . .. . .weites Feld. Morgenstund hat Gold im Mund. Man muss doch immer dahin passen, wohin man nun mal gestellt ist. Jeder hat es gerade so, wie er es verdient. Die Wirklichkeit kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie. Es ist ein zu weites Feld. [EE 4, 16, 20, 22, 24, 36] Das Sentenzenhafte der Sätze ist unüberhörbar, ein autoritärer Stil und ein apellativer Charakter wird in den kurzen Sätzen erkennbar, die mit Ausnahme des bekannten Sprichworts über die Vorzüge der ‚ Morgenstund ‘ alle dem Roman entnommen sind. Ein wenig fällt die vorletzte Äußerung aus der Reihe, in der Effi in Ich-Form schreibt. Doch auch sie kann als Handlungsanweisung gelesen werden. Durch die schriftliche Fixierung bleiben die Maximen und Sinnsprüche präsent, sind quasi festgeschrieben und veranschaulichen so sehr plakativ das sonst unausgesprochene Regelsystem des ‚ Gesellschafts-Etwas ‘ , mit dem Effi in Konflikt gerät und nach dem Innstetten so konsequent handelt. So scheint die Schule kein unpassender Ort für eine Interpretation von Effi Briest. Der pädagogische Impetus, den Crampas seinem einstigen Kriegskameraden Innstetten nachsagt und der 399 Ebd. 400 Eine Spiellänge auf dem Dramentext anzugeben, ist sehr ungewöhnlich und wohl der Bestimmung für die Schule geschuldet. Da die Dauer der Vorstellung wesentlich von der Regiearbeit abhängt, ist eine Angabe dazu eigentlich nur auf dem Pressematerial (vor allem im Programmheft) zu einer Inszenierung üblich. 401 Eine Schauspielerin ist dabei für die Rolle der Effi vorgesehen. Ein Schauspieler übernimmt verschiedene Rollen: Effis Freund (eine von der Regisseurin eingesetzte Figur), Innstetten, Johanna, Apotheker Gieshübler und Crampas (vgl. EE 3). 323 <?page no="336"?> in dessen Sprechen immer wieder aufscheint, findet im Spielort seine Entsprechung. Das Spukmotiv ist deshalb im Dramentext sehr dominant. Das Drama ist in drei Akte geteilt, von denen der erste Textpassagen aus der Zeit um die Verlobung in Hohen-Cremmen zu einem Gespräch montiert und in drei Szenen darbietet. Der zweite Akt bildet im Umfang den Hauptteil; in ihm wird in sechs Szenen die Zeit in Kessin vor dem Ehebruch dargestellt. Mit Ausnahme einer sehr kurzen Szene (ein Treffen mit Gieshübler) kreisen alle Gespräche um das Thema des Chinesen, um Effis Angst und Innstettens Reaktion darauf. Der Chinese, das lassen deiktische Verweise im Dialog erkennen, ist als Bild auf der Bühne präsent (vgl. EE 18). Im dritten Akt nimmt das Gespräch mit Crampas, in dem dieser den Spuk zur schwarzen Pädagogik Innstettens erklärt, das Leitmotiv in der ersten Szene auf. Die zweite Szene spielt, das gibt der Nebentext an, im „ Kessiner Spukhaus “ (EE 32) und thematisiert wieder Effis Angst. Die dritte Szene schließt trotz Umzugs nach Berlin daran an: Der Chinese ist mit dem Paar umgezogen, die Lichtregie verwandelt das neue Berliner Zuhause durch „ Eindunklung “ (EE 34) wiederum in einen Ort des ‚ Female Gothic ‘ . 402 Diese Dominanz des Spukmotivs knüpft sicher an die Filmerfahrungen der Jugendlichen an und betont außerdem die Spannung der Geschichte; allerding überführt sie das differenzierte Bild, das der Roman von der Beziehung und den vielfältigen Einflüssen auf diese zeichnet, in eine Schwarz-Weiß-Zeichnung. Gegen den Spuk als Repressionselement steht Effis Vitalität. Für die Bilder des Schaukelns, der „ Kunstreiterin “ , für die „ Tochter der Luft “ (TF 7) findet Erhardt eine bühnentaugliche und inhaltlich treffende Entsprechung: Effi tanzt - und das konsequenter als in der Fassung von Amélie Niermeyer. Ehrhardts Fassung präsentiert das Motiv in gleich drei Szenen. Schon ganz zu Beginn wird Effi über das Tanzen charakterisiert (vgl. EE 4); wenn sie sich ihre Zukunft in den schönsten Farben ausmalt, von „ Hofball und Galaoper “ 402 Silke Arnold-de Simine zeigt auf, wie Rainer Werner Fassbinder Effi Briest unter Rückgriff auf das Filmgenre ‚ Female Gothic ‘ (in Anlehnung an Douglas Sirk, Alfred Hitchcock und andere) interpretiert. Sie führt dabei überzeugend vor, welche Ansätze dafür der Roman bereits bietet. Fassbinder verstärke diese Lesart durch filmische Mittel und nutze dabei die Andeutungen und die offene Erzählstruktur Fontanes. Vgl. Silke Arnold-de Simine: „ denn das Haus, was wir bewohnen, [. . .] ist ein Spukhaus “ . Fontanes ‚ Effi Briest ‘ und Fassbinders Verfilmung in der Tradition des ‚ Female Gothic ‘ . In: The Germanic Review 79 (2004, Heft 2). S. 83 - 113. Die Verfilmung durch Fassbinder hat auf die weitere Rezeption des Romans sicher großen Einfluss. Dass in der Dramatisierung von Ehrhardt die Spukdarstellung und die atmosphärische Gestaltung als Schauerstück so verstärkt scheinen, mag also auch nicht nur auf die Zielgruppenorientierung, sondern auch auf die so populären Bilder Fassbinders zurückzuführen sein. 324 <?page no="337"?> spricht, tanzt sie ebenfalls „ forciert “ (EE 10), bricht aber jäh ab. Darin zeigt sich ihre Angst gegenüber ihrem Mann, die sie im dann folgenden Gespräch eingesteht (vgl. EE 11). Das Tanzen zieht sich außerdem durch die einzige Szene, in der sie auf Crampas trifft. Wo der Dialog in den Flirt übergeht, gibt der Nebentext als körperliche Entsprechung an: „ Sie beginnen miteinander zu tanzen “ (EE 30). Dieser Regieeinfall zeigt an, dass Crampas hier Effis Wesen entspricht, und der Tanz steht schließlich allegorisch für den sexuellen Akt. Effi und Crampas trennen sich, der Schauspieler geht ab, doch die „ Musik läuft weiter, steigert sich, wird leidenschaftlicher “ (hier und im Folgenden EE 31), und zieht Crampas zurück auf die Bühne. Mit dem Satz: „ Gnädige Frau, ich kann sie nicht allein lassen “ , mit dem er im Roman in Effis Schlitten steigt, kehrt er zurück. Der Tanz steht nicht nur für den Geschlechtsverkehr, sondern soll auch anzeigen, dass es sich um eine dauerhafte Affäre handelt: „ Sie tanzen immer leidenschaftlicher und wilder, Wiederholung der Begegnungen muss deutlich werden. Schließlich lässt Crampas Effi allein zurück “ (EE 31). Das Motiv des Tanzens bildet eine feine Parallele zu den vermeintlichen Tanzschritten, die Effi als Spuk im Saal des Kessiner Hauses hört (vgl. EE 16 f.). Damit wären Erziehung durch Angst und Freiheitsliebe über diesen Topos verbunden. Den Konflikt um Autorität und Eigenständigkeit stellt Ehrhardt ins Zentrum des Dramas: Sie konstruiert, auch das zeigt der Tanz im körperlichen Ausdruck, eine Effi, die sehr jugendlich wirkt, auch aufmüpfig und provokant, manchmal aufbrausend und patzig, träumerisch und sehnsuchtsvoll. 403 Diese Protagonistin, die dem Publikum als Identifikationsfigur angeboten wird, kämpft mit den ungerechten Erziehungsmethoden ihres Mannes wie gegen einen autoritären Vater. Damit ist der Figur etwas von ihrer Widersprüchlichkeit genommen. Was im Roman durchaus als gesellschaftszugewandt wirkt, Effis Hang zu Luxus, Ehre und feiner Gesellschaft sowie ihr eigenes Standesbewusstsein, ist aus der Dramenfassung größtenteils verschwunden oder bleibt als reine Naivität lesbar. Als exemplarisch für diese Figurendarstellung kann die folgende Szene angesehen werden: INNSTETTEN: [. . .] Aber jetzt mach erst einmal Toilette. EFFI: Was? Ich soll mich aufbrezeln? Jetzt? Wozu? INNSTETTEN: Bitte? EFFI: Nichts. INNSTETTEN: Was war denn das jetzt? EFFI: Nichts, nichts. 403 „ Sehnsucht “ ist dann auch das letzte gesprochene Wort in der Dramatisierung. Es wird gleich dreimal wiederholt (EE 37). 325 <?page no="338"?> INNSTETTEN: Aber jetzt mach erst einmal Toilette, nur ein ganz klein wenig, denn eigentlich bist du so am reizendsten - Toilette für unseren Freund Apotheker Gieshübler. (EE 18 f.) Auch bei Fontane fordert Innstetten seine Frau auf, ‚ Toilette zu machen ‘ . Der Erzähler ergänzt später: „ dann hatte Effi drüben ihre Toilette gemacht, nicht ganz so schnell wie Innstetten angenommen “ (TF 70). Das Drama baut hier einen Hinweis des Romans zu einem Streit aus, der wie ein Vater-Tochterbeziehungsweise Lehrer-Schüler-Konflikt wirkt, zumindest aber eine ungleiche Beziehung schildert. Es zeichnet die Figurenkonstellation geprägt von Autorität und dem Versuch der Auflehnung gegen diese. Zudem übersetzt Ehrhardt in Effis provokativer Entgegnung den veralteten Begriff des ‚ Toilettemachens ‘ ins jugendsprachliche ‚ Aufbretzeln ‘ . Damit ist nicht nur dem Publikum geholfen, das diese Redewendung eventuell nicht kennt, sondern der Sprachunterschied offenbart auch den Altersunterschied der beiden Protagonisten. Die Sprache des Romans wird an einigen wenigen Stellen in ähnlicher Weise verändert oder infrage gestellt. Ein Freund bemerkt in Bezug auf Innstetten: „ Aber du sagtest doch, er sei Landrat, Beamter, Spießer. “ (EE 5) Auch hier geht die Worterklärung mit einer aufmüpfigen Haltung und der Andeutung eines Generationenunterschieds einher. In der Dramatisierung spricht Effi direkt aus, wie sie vom Kessiner Landadel denkt und wie dieser über sie geurteilt hat: Für die einen war ich zu prätentiös, für die anderen zu wenig dezent. „ Rationalistisch angekränkelt “ ! Was soll denn das heißen? Darf man nicht mehr denken? Atheistin! - Dabei habe ich nur so meine eigenen Vorstellungen und Phantasien. Was werden die Leute sagen, was werden die Leute sagen, die Leute, die Leute, die Leute. (EE 20 f.) Diese trotzige Reaktion zeigt eine sehr streitbare Effi, die dem Urteil der ‚ Gesellschaft ‘ mit jugendlicher Rebellion begegnet. So ruft Effi nach dem Duell impulsiv aus: „ Ehre! Ehre! Ehre! “ (EE 36), und scheint damit verärgert den Ehrbegriff ihres Mannes anzuklagen. Durch diese Haltung mag sie für das anvisierte Publikum zur Identifikationsfigur werden. Die Dramatisierung scheint weniger das Verständnis der Romanhandlung, sondern vor allem die Einfühlung in die Protagonistin zum Ziel zu haben. Weitere Auslassungen, Veränderungen und szenische Arrangements stützen diese Annäherung zwischen Effi und den jugendlichen Zuschauern. So hat Effi in dieser Dramatisierung kein Kind, der Konflikt um das Wiedersehen mit Annie entfällt; der durchschnittlichen Schülerin, die sich die Inszenierung ansieht, wird diese Protagonistin näher stehen als ihr Pendant im Roman. Zudem werden die Zuschauer in den Kreis von Effis Freunden 326 <?page no="339"?> aufgenommen; denn das Drama beginnt mit einer (im Verhältnis zur dann folgenden Binnenhandlung sehr umfangreichen) Unterhaltung zwischen Effi und einem „ Freund “ (EE 4 - 12), der auch am Ende (EE 36 f.) in einer Art Rahmung wieder auftritt. So wird die gesamte Handlung als ein Gespräch zwischen Freunden organisiert. Die Ansprache formuliert Effi in dieser Unterhaltung aber im Plural: „ Gott sei Dank, dass ihr da seid “ (EE 4), und integriert so das Publikum in den Freundeskreis. Effi erzählt ihre Geschichte unter Vertrauten und der Freundeskreis beteiligt sich am Gespräch: „ Nun, Effi, wie ist dir eigentlich? “ , und „ Ist es denn auch der Richtige? “ (EE 7), fragen Zuschauer nach der Verlobung - wenngleich ohne Angabe im Nebentext, wie diese Rollenvergabe in der Inszenierung praktisch vonstattengehen kann. Es ist bezeichnenderweise der Lehrer der Schulklasse, dem der desillusionierende Kommentar zukommt, den im Roman Effis Mutter spricht: „ Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, dass es statt Licht und Schimmer ein Dunkel gibt “ (EE 9). Damit ist der Konflikt des Romans zwar in der Lebenswirklichkeit der Rezipienten angekommen, wird offener ausgetragen und außerdem stark enthistorisiert 404 , doch die Konzeption banalisiert die Problematik auch in mehrerlei Hinsicht. Der vereinfachende Gegensatz von Gesellschaft und Individuum wurde oben schon thematisiert. Dazu gehört auch die Darstellung Gieshüblers, der in einer Slapstickszene zur (immerhin sympathischen) Witzfigur dekonstruiert wird: Gieshübler verbeugt sich. Dabei fällt ihm sein Zwicker von der Nase, so dass immer wieder Phasen der Blindheit bei ihm entstehen. Bei der UA wurde die Szene ab hier zur Slapstickszene ausgebaut, während der Effi immer wieder versucht, eine Unterhaltung mit Gieshübler aufrechtzuhalten, was aber immer wieder durch chaotische Vorgänge wegen seiner zwischenzeitlichen Blindheit nicht gelingt. (EE 20) Diese Idee scheint dem Unterhaltungswert geschuldet. Die Darstellung Gieshüblers im Roman legt zwar seine Rolle als komische Figur nahe, doch hier bleiben die sonstigen Funktionen Gieshüblers ungenannt, der Auftritt sein einziger. Der Apotheker, der im Publikum Süßigkeiten verteilt (vgl. EE 19), wird zum schrulligen Großvater. Auch hier stellt der Text also eine Art familiäre Konstellation her. Für Effi kann dieser Narr kein Ansprechpartner oder gar Freund sein. Der Gegensatz zwischen ihr und der Gesellschaft wird durch diese Isolation 405 weiter gestärkt. 404 Hinweise auf das Kaiserreich werden weitgehend, aber nicht vollständig getilgt. Sie werden jedoch nie handlungsrelevant. 405 Auch Effis Eltern kommen in der Dramatisierung, ebenso wie Roswitha und Annie, nicht als Figuren vor; Johanna schürt den Geisterglauben. Der Freund aus dem Prolog 327 <?page no="340"?> Crampas, der außerdem direkt nach einem Streit mit Innstetten eingeführt wird, wird so zum einzigen Vertrauten, der sich nicht nur auf ihre Seite schlägt, indem er eine Erklärung für Innstettens zweifelhafte Pädagogik bietet. Mit einem Alter von nur 32 Jahren (im Gegensatz zu immerhin 44 im Roman, vgl. EE 31 und TF 159) steht er zudem ihrer Generation weit näher als Innstetten und wird so auch ein attraktiverer Partner, zumal von seiner Ehefrau in der Dramatisierung keine Rede ist. Effis Ehebruch mag damit für das Publikum nachvollziehbar werden; durch diese Motivierung allerdings nimmt die Dramatisierung der Geschichte einiges an Raffinesse, macht doch gerade die Uneindeutigkeit der Haltung Effis (und auch Innstettens, der wie bei Niermeyer und Potzger schlecht davonkommt) ihren Reiz aus. Eine Vereindeutigung, die den Handlungen wesentliche Bedeutungsdimensionen nimmt, findet auch im letzten Teil der Dramatisierung statt. Die Frage der Verjährung der Taten spielt hier keine Rolle. Auf den Umzug nach Berlin folgt in direktem Anschluss die Entdeckung der Briefe durch Innstetten, der in einem Monolog von lediglich sechs Sätzen seine Bereitschaft zum Duell erklärt. Darin findet das Schlagwort vom „ Götzendienst “ (EE 35) zwar noch seinen Platz, wird aber nicht wesentlich ausgeführt. Einen Zeugen für den Ehebruch gibt es nicht, sodass Innstetten ganz als Vertreter der Gesellschaft und ohne größere Zwangslage - wiederum in direktem Anschluss - handelt: „ Er zielt mit einer Pistole. Freeze. “ (EE 35) Schließlich geht das Drama hoffnungsvoller aus, als der Roman es anlegt. Kein Wort fällt über die Konsequenzen für Effi, die am Ende im Dialog mit dem Freund wütend und etwas resigniert wirkt. In den letzten Sätzen denkt sie zwar an ein Leben im Himmel, aber nicht an den Tod selbst. Das Drama endet mit der Sehnsucht nach der „ [himmlischen] Heimat “ (EE 37). Mit der dreimaligen Wiederholung des Begriffs „ Sehnsucht “ (EE 37) als Schlussworte des Dramas und der davor entwickelten Geschichte um den Wunsch nach Freiheit und Eigenständigkeit könnte der Seufzer auch einer ganz irdischen Form des selbstbestimmten Lebens gelten. So ‚ ebnet ‘ die Dramatisierung einem jungen Publikum sicher erfolgreich ‚ den Weg zu einem Klassiker ‘ , wie es der Verlag ankündigt, bietet eine eigene Lesart und erhält Analogien zum Frauenbild des 20. und 21. Jahrhunderts. Doch so verständlich das didaktische Anliegen auch sein mag, bleibt doch zu hoffen, dass der ‚ Weg zu Klassiker ‘ mit dieser klaren aber eben auch einseitigen Interpretation noch nicht enden wird. wird zur einzig verständnisvollen Person, doch er tritt nur in einer Art Rahmenhandlung auf. 328 <?page no="341"?> 4.5.4 „ Effi, wie du nur sprichst. Sonst sprachst du doch ganz anders. “ Weitere Dramatisierungen von Effi Briest Die in diesem Kapitel vorgestellten Dramatisierungen haben gemeinsam, dass sie Personal und Textumfang stark reduzieren. Dramatisierungen von Romanen sind dazu aus bühnenpraktischen Gründen gezwungen, können aber in der Rigidität ihrer Kürzungen sehr differieren. So gibt es auch für Effi Briest Bearbeitungen, die ein großes Personal in einem weitläufigen Handlungsbogen auf die Bühne bringen. Die Dramatisierungen von Niermeyer und Potzger, Schüddekopf und Henkel sowie Ehrhardt müssen durch die knappe Handlungsskizze viele Motive auslassen. Diese finden sich, sofern sie in den Dialogtexten auftauchen, in den ausführlichen Varianten schon aus Gründen des Umfangs eher wieder. Zudem gibt es einige Dramatisierungen, die bestimmte Einzelaspekte wie die Intertextualität des Werkes oder das Chinesenmotiv besonders fokussieren oder sogar ausbauen. Im Folgenden soll deshalb zusammenfassend ein Einblick in die Vielfalt weiterer Dramatisierungen gegeben werden, der allerdings nur einen Ausschnitt der gesamten Dramenproduktion zu Effi Briest darstellen kann. Je eine Dramatisierung mit sehr umfangreichen Personal und relativ ausführlichem Zitat der Dialoge Fontanes haben Holger Teschke 406 , Autor, Regisseur und Journalist, und Matthias Brenner 407 , Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter, vorgelegt. Auch sie bezeichnen ihre Varianten als ‚ Bühnenfassungen ‘ , wie es bei allen bisher angeführten Dramen nach Effi Briest der Fall war. 408 Mit 19 Figuren tritt in der Dramatisierung Teschkes das größte Personal auf. Bei einer solchen Anzahl sind dann auch Nebenfiguren wie die Schwestern Jahnke (die hier zu Kindern des Pastors werden) und Frau Pastor Trippel sowie deren Tochter Marietta Tripelli aufgeführt. 409 Die historische Zeit und der Ort der Handlung werden beibehalten: „ Die Handlung spielt zu Hohen-Cremmen in der Mark, Kessin in Pommern und in Berlin gegen Ende 406 Theodor Fontane: Effi Briest. Bühnenfassung von Holger Teschke. Reinbek: Rowohlt Theater 2001. (UA: Staatstheater Cottbus am 4. 11. 2000, Regie: Christoph Schroth). Im Folgenden zitiert mit dem Kurztitel: Teschke, Effi Briest. 407 Effi Briest. In einer Bühnenfassung von Matthias Brenner nach dem Roman von Theodor Fontane. München: Stückgut Bühnen- und Musikverlag 2005 (UA: Theater Magdeburg am 15. 4. 2005, Regie: Matthias Brenner). Im Folgenden zitiert mit dem Kurztitel: Brenner, Effi Briest. 408 Der Verweis suggeriert eine Zurücknahme der eigenen Position als Autor zugunsten der des Romanautors. 409 Teschke, Effi Briest. Personenverzeichnis (ohne Seitennummerierung). Das Verzeichnis gibt 18 Personen an, dabei fehlt jedoch noch Hausdiener Wilke (vgl. S. 2). Weitere Figuren werden im Gespräch erwähnt (so zum Beispiel Effis Vetter Dagobert, vgl. S. 36 f.). 329 <?page no="342"?> des vorigen Jahrhunderts. “ 410 Sie orientiert sich an der Chronologie des Romans und zeichnet die Geschichte in 29 Bildern recht ausführlich nach. Ortswechsel bestimmen dabei meist die Grenzen zwischen den Szenen, wobei die Ortsangaben des Romans in fast bühnenuntauglicher Menge und sogar mit Angaben zu Jahreszeit und Wetterlage übernommen werden. 411 Die ‚ Originalschauplätze ‘ werden im Nebentext angegeben: Hohen-Cremmen erscheint dabei in Form von Freitreppe, Garten und Veranda, also als ‚ Kindheitsparadies ‘ unter freiem Himmel, Innstettens Haus mit Salon und Veranda. Kessin ist außerdem mit Friedhof und Dünen, Straße und Strand vertreten, Berlin mit verschiedenen Wohnungen, Treppenhaus und sogar der Pension, in der Effi übernachtet, als sie auf Wohnungssuche für sich, Annie und Innstetten ist. Auch der Herthasee kommt vor. Die Angaben orientieren sich eng an den Formulierungen des Romans. Wo selbst die Rückfahrt vom Duell im Eisenbahncoupé gezeigt wird, erstaunt es umso mehr, dass zentrale Ereignisse dann doch ausgespart werden: Es gibt keine Entsprechung zum Weihnachtsessen im Forsthaus, das mit Sidonie von Grasenapp eigentlich eine reizvolle Figur böte, folglich auch keine Heimfahrt in der Kutsche, keinen Schloon und nicht einmal einen Handkuss zwischen Crampas und Effi. Die einzige Szene, die eine Annäherung zwischen beiden nahelegt, zeigt ein Gespräch am Strand, das wie bei Fontane mit vielen intertextuellen Verweisen den Ehebruch ankündigt. 412 Die Szene endet mit dem Zitat aus Goethes Ballade Der König in Thule; die Dramatisierung verzichtet aber auf jeden körperlichen ‚ Beweis ‘ einer Affäre. Viele Motive des Romans werden, wie die intertextuellen Verweise oben, mit der Rede übernommen, aber auch das Andeutungssystem über Handlungen bleibt teilweise bestehen. So versenken die Kinder die Schlusen der Stachelbeeren unter Reden über die Strafen für Ehebruch im Teich; Crampas steckt Effis Becher nach dem Picknick in die eigene Tasche statt in den Korb, was Effi zur Replik über den oben erwähnten König in Thule veranlasst. 413 Die beiden Beispiele lassen aber schon erahnen, dass für die Motive immer die Figurenrede bestimmend ist. Auch der Chinese kommt im Gespräch vor, es wird kein Traum inszeniert, wie es andere Dramatisierungen vorschlagen, sondern lediglich darüber gesprochen. Auch über das Duell wird nur 410 Ebd. (ohne Seitennummerierung). 411 So findet sich zum Beispiel im Nebentext zum dritten Bild die Angabe „ [h]eller Oktobertag “ . Sie tendieren ins Epische und sind dabei als pragmatische Angaben teilweise dysfunktional. So gibt in Bild 6 die Regieanweisung vor, es sei „ [f]rüher Vormittag “ , während Innstetten erklärt: „ Es ist aber schon spät “ . Diese Differenz wird dem Zuschauer wohl verborgen bleiben. Ebd. S. 6 und S. 15. 412 Ebd. S. 29 - 33. 413 Vgl. ebd. S. 2 und 32. 330 <?page no="343"?> berichtet. Eine Passage fällt auf, in der Teschke die Dialoge sogar erweitert: So wird Wüllersdorf noch vor der Entdeckung der Briefe als Gast bei Innstetten und Effi gezeigt. Die Szene wird im Roman lediglich als knapper Redebericht (vgl. TF 261 f.) dargestellt, der durch zwei direkte Redezitate Wüllersdorfs ein wenig anschaulicher wird. Teschke formuliert die Szene aus, wohl um Wüllersdorf schon vor dem bekannten Verjährungsgespräch mit Innstetten als Freund des Hauses einzuführen und um zu zeigen, dass Wüllersdorf von Major Crampas schon zuvor gehört hat. Während im Roman die Gesprächserwähnung zeigt, dass Effi immer wieder peinlich berührt ist, wenn die Rede auf Crampas fällt, kann das Gespräch bei Teschke allerdings nur darstellen, wie adäquat sie im Dialog reagiert. Der Hinweis des Erzählers, Effi fühle sich „ immer aufs neue von den alten Vorstellungen gequält, und es war ihr zu Sinn, als ob ihr ein Schatten nachginge “ (TF 262), geht nicht in den Redetext ein, muss also - soll Effis Angst vor einer Entdeckung Thema sein - ins Rollenspiel gelegt werden. Die Rede ahmt Fontanes Duktus nach, fällt also als Fremdtext kaum auf. 414 Die Dramatisierung verzichtet weitgehend darauf, Figuren im Monolog sprechen zu lassen, vertraut allein auf die Figurendialoge. Briefe werden, wo es nötig ist, vorgelesen - selbst dies wird kaum als monologische Form etabliert, sondern meist naturalistisch in das Gespräch integriert oder nur „ halblaut “ 415 vorgenommen, um das illusionistische Spiel zu wahren. In einem einzigen Fall vertraut Teschke nicht ausschließlich auf die Figurendialoge. Er übernimmt das Motiv des Schaukelns in die Kulisse. Die Schaukel wird mehrfach im Nebentext erwähnt, auch wenn sie nicht benutzt wird. Die Eingangsszene im Garten in Hohen-Cremmen entspricht in diesem Motiv der Verfilmung Fassbinders: 416 Dort und in Teschkes Dramatisierung schaukelt Effi während des Gesprächs mit ihrer Mutter und illustriert so deren Rede von Effi als ‚ Tochter der Luft ‘ . 417 Auch der Grabstein wird in diese Dramatisierung aufgenommen und bildet die Kulisse für das abschließende Gespräch der Eltern. 414 Vgl. ebd. S. 46. 415 Ebd. S. 48. 416 Vgl. Fontane Effi Briest oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und dennoch das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen (Verfilmung BR Deutschland 1974, Regie: Rainer Werner Fassbinder). 417 Vgl. Teschke, Effi Briest. S. 1. Vgl. auch S. 3, 44, 59, 60 und 61; die Schaukel wird im Nebentext auch dort erwähnt, wo sie unbenutzt bleibt. Sie markiert dann eine Leerstelle, also Effis Abwesenheit in Hohen-Cremmen, oder verdeutlicht ihre Krankheit und den bevorstehenden Tod, wenn Effi als Kontrastbild unbeweglich auf einem Stuhl neben der verwaisten Schaukel sitzt. 331 <?page no="344"?> Darüber, ob die Dramatisierung auf der Bühne zu überzeugen vermag, kann hier nur spekuliert werden. Zumindest bietet sie die Grundlage für eine illusionistische Kostüminszenierung mit hohem Wiedererkennungswert für die Zuschauer. Der Reichtum an Andeutungen ist groß, die Begegnungen zwischen Effi und Crampas bleiben im Vagen, die Dramatisierung fokalisiert nicht und positioniert sich nicht eindeutig zugunsten einer Figur. Diese Uneindeutigkeit bringt allerdings keine dramatische Brisanz des Stoffes mit sich. Die Konflikte bleiben schwach; so wird beispielsweise der Brief der Mutter, in dem sie der Tochter die Rückkehr nach Hause verweigert, nicht erwähnt. Eine ebenfalls figuren- und umfangreiche Dramatisierung hat Matthias Brenner erstellt und selbst bei der Uraufführung am Theater Magdeburg Regie geführt. Neben 16 Figuren des Romans bringt er auch den Hund Rollo auf die Bühne. Den Roman hat er in eine am klassizistischen Regeldrama orientierte Fünf-Akt-Struktur überführt, in der sich mit etwas gutem Willen auch Gustav Freytags Inhalts- und Funktionszuschreibungen wiederfinden lassen. Die Akte tragen Titel und bestehen aus jeweils vier bis acht Szenen, die ebenfalls Überschriften tragen. Über dem ersten Akt steht die Überschrift „ Hohen-Cremmen — Die Verheiratung “ 418 ; er bildet mit der Vorgeschichte zwischen der Mutter und Innstetten, Effis Verlobung und Hochzeit tatsächlich eine Art Exposition des Dramas. Der zweite Akt hat ganz wesentlich die Ankunft in Kessin, die ersten Sorgen Effis und den Spuk zu Thema, ist entsprechend mit dem Titel „ Kessin - Die Epoche des Chinesen “ 419 benannt. Es finden eine Eröffnung von Konflikten und eine Steigerung der Handlung statt. Der dritte Akt fasst eine lange Zeit zusammen, trägt entsprechend den Titel „ Drei Jahre Weihnachten “ 420 und ist mit acht Szenen der längste der drei Akte. Darin sind Effis Briefe als Innensicht zwischen Szenen montiert, die den Druck der Gesellschaft und die unglückliche Ehe thematisieren. Das Ende bildet der Ehebruch im Schlitten - möglicherweise die Peripetie, die der Aktstruktur gemäß hier erfolgen müsste. Die Dramatisierung wird hier explizit und zeigt einen leidenschaftlichen Kuss. 421 Die eigentliche ‚ Glückswende ‘ jedoch folgt erst im vierten Akt, „ Berlin heilt alle Wunden “ 422 , der mit Zitaten der Briefe zwischen Crampas und Effi beginnt, um den Fortgang der Affäre zu zeigen, dann Effis Abreise nach Berlin und Aufenthalt in Hohen- 418 Brenner, Effi Briest. S. 4. 419 Ebd. S. 11. 420 Ebd. S. 22. 421 Vgl. ebd. S. 40. 422 Ebd. S. 41. 332 <?page no="345"?> Cremmen. Während in Berlin die Heimkehr Effis vorbereitet wird, stürzt Annie, und die Briefe werden bei der Suche nach Verbandszeug entdeckt. Der vierte Akt endet mit einem Gespräch Gieshüblers (er ersetzt auch in Brenners Dramatisierung Wüllersdorf als Sekundant) und Innstettens über die Notwendigkeit des Duells und stellt sicher mehr als ein retardierendes Moment, wenn nicht gar den heimlichen Höhepunkt der Geschichte dar. Der fünfte Akt beschert unter dem Titel „ Jeder stirbt für sich allein “ 423 zwei Tote, der Titel mag aber suggerieren, dass auch Innstetten wenn nicht sein Leben, so doch die Lebensfreude verliert. Der Aufzug beginnt mit dem Gespräch der Bediensteten über die Zeitungsnachricht zum Duell, Effi bricht beim Lesen des Briefes ihrer Mutter zusammen. Die folgenden drei Szenen thematisieren Effis Einsamkeit und den Besuch Annies. Zuletzt wird in einer Szene zunächst Effis Krankheit und Heimkehr nach Hohen-Cremmen dargestellt sowie ihre Entschuldigung von Innstettens Verhalten. Dagegen wird ein Gespräch zwischen Gieshübler und Innstetten montiert, in dem Innstetten seine Resignation eingesteht. Der letzte gesprochene Satz gehört Diener Kruse, der den Neufundländer Rollo zu Effi bringt: „ Gnädige Frau, ich habe Ihnen Rollo gebracht. . . Gnädige Frau? “ 424 Die Frage markiert den Tod der Protagonistin. Dass die Titel durchaus Interpretationen vermitteln, zeigt schon die Überschrift dieses letzten Aktes. Auch einzelne Szenen werden so überschrieben, dass die Lesart deutlich wird oder Figuren charakterisiert werden. Einige Szenen scheinen mit intertextuellen Verweisen und Wortspielereien betitelt. 425 Sie zeigen interpretatorische Ansätze, machen sichtbar, dass jede Dramatisierung auch eine Auslegung des Romans bedeutet, und rücken das sonst so regelhafte Drama wieder näher an epische Darstellungsweisen heran. Die Szene um die Affäre mit Crampas heißt bei Brenner „ Der Sog “ 426 , die Handlung ist entsprechend von der Anziehungskraft Crampas ’ auf Effi geleitet. So trifft sie ihn beim Baden am Strand, was eine stärker körperliche Dimension ausdrückt. Das bestätigt die Darstellung des ersten Kusses. Der 423 Ebd S. 55. 424 Ebd. S. 69. 425 Das oben zitierte „ Jeder stirbt für sich allein “ verweist auf den gleichnamigen Roman Hans Falladas aus dem Jahr 1947. „ Die Lizenz zu Töten “ heißt das Kapitel, das dem Duell vorausgeht und in dem Innstetten allerdings keineswegs seine berufliche Aufgabe oder das Recht auf ein Duell thematisiert, sondern vor allem dessen Notwendigkeit durch den gesellschaftlichen Druck und den Ehrenkodex. Eine Verbindung zur James- Bond-Figur wäre also nur durch sehr freie Assoziation zu ziehen. Brenner, Effi Briest. S. 52. 426 Ebd. S. 36. 333 <?page no="346"?> Nebentext zitiert zunächst die Worte des Romanerzählers 427 , um dann nach einem kurzen Redebeitrag Effis zu ergänzen: „ CRAMPAS küsst EFFI, die sein Verlangen leidenschaftlich erwidert “ . 428 Bei allem Zitat geht Brenner etwas freier mit dem Inhalt des Romans um als Teschke. Das zeigt sich in Montagen wie in der oben beschriebenen Kussszene: Effi beschreibt in ihrem Redebeitrag vor dem Kuss mit Crampas den Weg nach Kessin, den die beiden offensichtlich von ihrem Standort aus sehen können, mit exakt denselben Worten, mit denen Innstetten (im Roman und auch in Brenners Dramatisierung) dies bei der ersten Fahrt nach Kessin formuliert. Effi etabliert dabei ausgerechnet mit den Worten ihres Mannes das vertraute ‚ Du ‘ mit Crampas und nimmt damit den Ehebruch voraus. Besonders opulent fällt bei Brenner das gesellschaftliche Leben aus. Gerade im dritten Akt wird durchgehend gefeiert. Andere Szenen wechseln sich mit den Feierlichkeiten ab, werden wie filmisch als Kontrast hineingeschnitten. Gesang, Sprichwörter und literarische Zitate zeichnen ein für Kessin erstaunlich lebendiges, aber oberflächliches Gesellschaftsleben. Kleinere Abweichungen und Aktualisierungen charakterisieren dabei die Art des Beisammenseins und die Figuren, so werden Getränke pompös „ en cascade “ ausgeschenkt, die Tripelli wünscht „ Eierlikör und Schokobecher “ 429 . Erzählertext und Dialogtexte werden auf die Figuren aufgeteilt, die auch mal ungerührt aneinander vorbeireden - so im Gespräch zwischen Sidonie, ihrem Vater Grasenapp, der Witwe Trippel, der Sängerin Tripelli, Pastor Lindequist, Crampas, Innstetten und Gieshübler. Die Dialoge springen außerdem zu den Eltern nach Hohen-Cremmen; auch Kruse und Johanna kommentieren von der ‚ Dienerebene ‘ aus. 430 Die Hochstimmung im dritten Akt wird im vierten bereits gedämpft, doch auch in Berlin werden noch Lieder einstudiert, um Effi bei der Ankunft zu begrüßen. 431 Parallelmontagen stellen dem die Eltern in Hohen-Cremmen, Effi in Bad Ems und sogar Crampas gegenüber. 432 Diese Technik lässt etwas von der Vielstimmigkeit des Romans erklingen und zeigt 427 Crampas spricht Effi mit Namen an. Dieses „ Effi “ übernimmt Brenner in den Sprechtext der Figur. Anschließend folgt der Erzählertext, der bei Brenner als Nebentext aufgenommen ist: „ CRAMPAS: Effi . . . klang es jetzt leise an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an. “ Ebd. S. 40. 428 Ebd. S. 40. 429 Ebd. S. 32 und S. 27. 430 Vgl. u. a. Akt III, vierte Szene „ Vernebelte Aussicht “ und 6. Szene „ Kein schöner Land “ ; Brenner, Effi Briest. S. 29 f. und 32 - 35. 431 Vgl. ebd. S. 46 f. 432 Vgl. ebd. S. 47. 334 <?page no="347"?> die gesellschaftliche Diskussion ebenso wie Innensichten der Figuren. Die Feiern gehören im fünften Akt dann aber endgültig der Vergangenheit an. Mit der Entdeckung der Briefe als Wendepunkt der Geschichte, der an dieser Stelle die Fünf-Akt-Struktur etwas unterläuft, kippt die Stimmung. Eine sehr ‚ tragödiennahe ‘ Gestaltung ergibt sich in der Parallelführung der Geschichte der Dienerin Roswitha mit derjenigen Effis. Schon zu Beginn des zweiten Aktes erzählt Roswitha in recht intimer Situation ( „ allein, dem Freitode nah an das Publikum “ ) ihre traurige Lebensgeschichte als „ [v]orauseilende Klage “ , wie die Szene überschrieben ist. 433 Einen solchen Monolog ad spectatores hält außer ihr - zudem an gleichem Ort - nur Effi, 434 womit beiden Figuren eine besondere Nähe zum Publikum eingeräumt wird. Die Geschichte wird über die frühe Komplizenschaft zwischen Rezipienten und Protagonistin in beinahe interner Fokalisierung dargeboten. Sidonie von Grasenapp hingegen schimpft über die junge Cora, die sie im Publikum entdeckt haben will. Auch hier stellt sich der Rezipient wohl schnell gegen Sidonie und schlägt sich damit auf Effis Seite. 435 Eine wertende Interpretation ist also auch hier gegeben, weniger gegen die Eltern oder gegen Innstetten als vielmehr gegen die Oberflächlichkeit einer Gesellschaft, die hier vor allem durch die selbstgerechte Sidonie parodiert wird. Ergibt sich diese Deutung in Brenners Dramatisierung aus dem eigentlichen Dramentext, so explizieren einige Stücke ihre Interpretation schon im Paratext. Petra Maria Grühn stellt ihrer Dramatisierung einen kurzen Kommentar voran, in dem sie ihre Auslegung wie folgt darstellt: Diese Bühnenfassung des großen Romans von Theodor Fontane fokussiert die Handlung der sechs Hauptpersonen auf eine Gesellschaftsordnung, die von ihnen zwar in Frage gestellt wird, die aber keiner verlassen will. Die strenge Einhaltung der Regeln garantiert soziale Akzeptanz und verspricht ihnen eine erfolgreiche Karriere, nur die Liebe lässt sie an die Grenzen stoßen. Sie werden zu Opfern, Männer wie Frauen. Fontanes Sprache entführt uns in eine vergangene Zeit, das Thema seines Romans hat bis heute nicht an Gültigkeit verloren. 436 433 Ebd. S. 11. 434 Vgl. ebd. S. 4 und 7. 435 Vgl. ebd. S. 24. 436 Effi Briest von Theodor Fontane eingerichtet für die Bühne von Petra Maria Grühn. München: Stückgut Bühnen- und Musikverlag 2004 (UA: Teamtheater München am 20. 10. 2004, Regie: Martina Veh). Im Folgenden zitiert mit dem Kurztitel: Grühn, Effi Briest. Petra Maria Grühn ist Schauspielerin und Gründungsmitglied des Münchner Teamtheaters, dem sie seit 1994 als Leiterin vorsteht. Sie hat neben Adaptionen auch eigene Theaterstücke verfasst. 335 <?page no="348"?> In dieser Vorschaltung positioniert sich Grühn zum Roman, zeigt ihre Wertschätzung für Fontanes Werk und begründet die Bearbeitung mit der Aktualität des Stoffes. Dabei gibt sie eine bestimmte Lesart für die Dramatisierung vor. Ob die Liebe in Fontanes Roman eine so zentrale Rolle einnimmt, wie es Grühn für ihre Dramatisierung angibt, darf bezweifelt werden - es handelt sich eben um eine Interpretation, die die Geschichte, indem sie Liebe als Grund für das Scheitern der Figuren angibt, für den heutigen Rezipienten möglicherweise leichter nachvollziehbar macht (wie es in vielen Dramatisierungen der Fall ist, vgl. insbesondere die Adaption Edith Ehrhardts). Mit einer Art interpretatorischer Eingangsrede veröffentlicht auch Ulrike Dietmann ihre Fassung. 437 Hier allerdings wird der Kommentar in seiner Ausführlichkeit zu einer Rede auf die Verderbtheit der heutigen Gesellschaft und wirkt beinahe skurril. Dietmann will die Figuren in ihren „ subtilen Rebellionen “ 438 gegen die Gesellschaft zeigen. Die Relevanz für das Heute legt sie ebenfalls dar: „ Auch der Fortschritt eines Jahrhunderts, meine ich, hat keine wesentlich neue Antwort auf dieses Problem. “ Effi Briest sei eine Figur, „ neurotisch und labil wie Janis Joplin, Kurt Cobain oder Lady Di “ , sie sei ein „ Pop-Mythos “ . Die anderen Figuren hält Dietmann für „ noch bedauerlicher “ als Effi selbst und außerdem für „ Waschlappen “ . Sie schließt ihr fast eineinhalb Seiten langes Vorwort mit einer Paraphrase, die Adorno vermutlich nicht gutgeheißen hätte: „ Der Tod ist [. . .] die einzige wirkliche Freiheit, die es gibt. Es gibt kein wahres Leben im Falschen. Wahres Leben gibt es nur im Tod. “ Ähnlich reich an Interpretationen, dabei häufig bildhaft, assoziativ und klar subjektiv, zeigen sich die Nebentexte innerhalb des Dramas; schon die erste Regiebemerkung zum Ort der Handlung lautet: Hohen-Cremmen ist ein lichter Ort voll Sonne. Still und langweilig erfüllt er die Menschen mit Passivität, Gleichmut und Todessehnsucht. ‚ Ein weites Feld ‘ . Das Geschehen hat etwas Unwirkliches, Traumhaftes. Ich stelle es mir vor wie eine Erinnerung an die Kindheit, die von einem Kinderlied oder Drehorgelmusik begleitet ist. 439 Solche längeren Nebentexte, die Ortsangaben, körperliche Handlungen und innere Zustände der Figuren sowie wertende Einschübe enthalten, druckt Dietmann recte in eigenen Absätzen; Nebentexte innerhalb der Dialoge geben meist nur sehr kurz und dramentypisch Hinweise zur Mimik oder zu 437 Ulrike Dietmann: Effi Briest. Theaterstück nach dem Roman von Theodor Fontane. Bremen: LitAG Theaterverlag 1999 (UA: Theater Basel 1999, Regie: Ricarda Beilharz). Im Folgenden zitiert mit dem Kurztitel: Dietmann, Effi Briest. 438 Hier und im Folgenden: Dietmann, Effi Briest. S. 1 f. 439 Ebd. S. 3. 336 <?page no="349"?> phonetischen Besonderheiten. Sie sind kursiv gesetzt. Für den ‚ disguised symbolism ‘ im Roman findet Dietmann Entsprechungen, die auf der Bühne eindeutig bis oberflächlich werden. So schickt Crampas den Anstandsbegleiter Kruse auf die Suche nach Effis rotem Seidenschal, den diese verloren habe. Innstetten bezweifelt die Ausrede zu recht, denn es ist nur eine Finte des Majors und ein Vorwand, um mit Effi allein sein zu können. Der Schal taucht in der Ehebruchsszene in allzu klischeehafter Manier wieder auf 440 und liegt später zwischen den Briefen, die Innstetten findet. Er trägt ihn um den Hals, als er Crampas zum Duell fordert. Das Spukmotiv, das schon bei Fontane dominant ist, bringt Dietmann ganz konkret auf die Bühne. Der Chinese erscheint als unheimliches Automat in Effis Traum. 441 Zuletzt führt er Effi in den Tod, wie der Nebentext beschreibt: „ Der Chinese erscheint. Er lässt eine Strickleiter herunter. Effi steigt aus dem Bett, sie formt ihre Bettdecke zu einem Körper [sic! ] wirft das Leinentuch darüber, klettert die Leiter hoch und verschwindet. Der Chinese mit ihr. “ 442 Die Parallele zur Geschichte des Chinesen, wie sie Innstetten erzählt, wird damit deutlicher: Das Verschwinden des Mädchens, das der Kessiner Chinese geliebt hat, die Nichte des Kapitän Thomsen, wiederholt sich hier, indem der Tod inszeniert wird, als folge Effi ihrem Verführer und verschwinde so. Den Chinesen verkörpert derselbe Schauspieler, der auch den Crampas darstellt. Beide Figuren werden zudem über Toneinspielungen verbunden. Allerdings wird die Parallele durch weitere Mehrfachbesetzungen (der Darsteller des Crampas wird außerdem für die Rolle des Postboten und die Pastor Niemeyers vorgeschlagen) in ihrer Aussagekraft zurückgenommen. Eine Gleichsetzung von Crampas und dem Chinesen über eine Doppelrolle nimmt auch Petra Maria Grühn vor. Hier beginnt das Stück mit einer Prolepse: Kurz vor Effis Tod kommt der Chinese auf die Bühne und „ öffnet das Fenster “ . 443 Später tritt er im Albtraum wieder auf, er bleibt auch in Berlin präsent und ist vor Ort, wenn der Brief der Mutter eintrifft, der Effi von der Familie ausschließt. In diesem Moment trägt er sogar die Uniform des Major von Crampas. Die Legierung beider Figuren wird also bildlich deutlich. Am Ende erscheint der Chinese wieder im Fenster von Effis Zimmer in Hohen- 440 „ Crampas bindet ihr [Effi] mit dem Schal die Augen zu. [. . .] Als Crampas sie zu umarmen versucht, schlägt sie nach ihm. Crampas versteht es als Spiel. Die Wut geht über in Zärtlichkeit. “ Ebd. S. 36. 441 Vgl. Ebd. S. 18. 442 Ebd. S. 66. 443 So gibt es der Nebentext an. Grühn, Effi Briest. S. 1. 337 <?page no="350"?> Cremmen und schließt den Bogen zur Prolepse der Eingangsszene. 444 Auch Brenner lässt den Chinesen auftreten, hier allerdings als Schatten. 445 Im Gegensatz zu Grühn und Dietmann, die über die Besetzung recht deutlich einen Interpretationshinweis auf der extradiegetischen Ebene geben, entspricht der Schatten des Chinesen bei Brenner möglicherweise Effis Innensicht. Die intertextuellen Verweise des Romans nutzt Reinhard Göber 446 durch ein Spiel im Spiel: Göber lässt Effi und Innstetten auf dem eigenen Polterabend die Holunderbuschszene aus Kleists Käthchen von Heilbronn spielen. In Fontanes Roman verkörpert Hulda, die Tochter des Pastors, das Käthchen und Leutnant Engelbrecht den Grafen Wetter vom Strahl. Die Gleichsetzung der Figuren mit dem Brautpaar ist aber auch dort schon intendiert: „ Niemeyer, der sich den Vater der Idee nennen durfte, hatte keinen Augenblick gesäumt, auch die verschämte Nutzanwendung auf Innstetten und Effi hinzuzudichten “ (TF 27). Die Gleichsetzung verärgert Vater Briest, der aber „ keineswegs aus literarischen Gründen “ (TF 28) protestiert, sondern vor allem wegen der Anrede ‚ Hoher Herr ‘ , die er für unangemessen hält, weil sie einen Standesunterschied zwischen Effi und Innstetten ausdrücke, der nicht gegeben sei, und deshalb dem Ansehen der Familie Briest schade. Vater Briest nimmt also die ‚ Nutzanwendung ‘ ernst und unterscheidet nicht zwischen Realität und Fiktion. Göber verwendet die ‚ Holunderbuschszene ‘ , in der Effi als Käthchen träumend die Unbedingtheit ihrer Liebe beteuert und eine Hochzeit mit Graf Wetter von Strahl als vorherbestimmt darstellt, weitgehend im Originalton, aber mit einigen Kürzungen. 447 Käthchens unbedingte Liebe gründet auf einem Aberglauben: Die Heirat mit dem Ritter sei ihr beim Bleigießen vorhergesagt worden. Diese Motive in Kleists Drama konterkarieren den Hergang von Effis Verheiratung. Effi spielt die Liebende, die vorhergehende Szene hat jedoch gerade ihr Desinteresse an Innstetten 444 Vgl. ebd. S. 6, 27, 33 und 39. 445 Vgl. Brenner, Effi Briest. S. 14. 446 Effi Briest von Theodor Fontane. Dramatisierung von Reinhard Göber. München: Theater Verlag Desch 2004 (UA: Theater Konstanz am 24. 1. 2004, Regie: Reinhard Göber). Im Folgenden zitiert mit dem Kurztitel: Göbel, Effi Briest. 447 Es handelt sich um den zweiten Auftritt des vierten Aktes aus Kleists Drama Das Käthchen von Heilbronn. Göber lässt dabei den langen Eingangsmonolog des Grafen aus. Der übernommene Text gibt (mit einigen Kürzungen) die Verse 2054 bis 2094 wieder. Der letzte Teil der Szene fehlt und mit ihm die Erzählung vom Traum in der Silvesternacht. Gerade diese Erscheinung aber bestätigt Käthchens Idee einer Vorbestimmtheit der Liebe und zeigt Wetter von Strahl, dass sie die Kaisertochter und seine zukünftige Frau ist. Diese Art der transzendent ontologischen Bestimmung bleibt Effi und Innstetten konsequent verwehrt. 338 <?page no="351"?> gezeigt. Sie erklärt ihre Liebe für alle Menschen, „ die ’ s gut mit mir meinen und mich verwöhnen. Und Geert wird mich auch verwöhnen. “ 448 Zur Exklusivität der Liebe Käthchens bildet diese Aussage den größtmöglichen Gegensatz. Spuk und Aberglaube werden später Effis Unsicherheit bestärken, Zeichen ihrer Angst und Langeweile sein. Auch dem steht Kleists Käthchen motivisch polar entgegen. Effis Geschichte wirkt also als Kontrafaktur des Käthchen von Heilbronn - das Spiel im Spiel demaskiert das ‚ Komödienspiel ‘ , das Effis Ehe bestimmen wird. Göber offenbart die Verschiebungen in kleinen Veränderungen der Holunderbuschszene und in den Reaktionen des intradiegetishen Publikums. Auf die Frage des Grafen, ob er der Ritter sei, den sie für den ihr vorbestimmten Ehemann halte, antwortet Effi als Käthchen eindeutig: Käthchen Ein großer, schöner Ritter, würd mich heuern. Der Graf Und nun meinst du so frischweg, das sei ich? Käthchen Ja! Laut Nebentext folgt, anders als bei Kleist, ein Kuss, der das nur auswendig gelernte Ja-Wort zur Trauungsszene vervollständigt; darauf ertönt „ [e]rleichterter Beifall der Hochzeitsgesellschaft “ , 449 die sich Parallelen zwischen Effi und Käthchen offenbar wünscht, aber selbst nicht ganz daran zu glauben scheint. In Szene 13 zitieren Effi und Innstetten beim Einzug in ihre neue Wohnung in Berlin noch einmal aus dem Theaterstück. Es ist ihr Hochzeitstag und beide hoffen auf einen glücklichen Einstieg ins Berliner Gesellschaftsleben. Die Frage des ‚ Grafen ‘ wiederholt sich, das eindeutige ‚ Ja ‘ als Antwort bleibt diesmal aus, denn die Redebeiträge sind umgestellt: Auf Innstettens Frage, ob er der Auserwählte sei, antwortet Effi: „ Ein großer, schöner Ritter, wird mich heuern. “ Trotz der glücklichen Stimmung der Protagonisten wirft die Szene bereits ein ungünstiges Licht auf die Zukunft des Paares. Wenige Sätze später wird Innstetten Crampas ’ Briefe entdecken. Reinhard Göber fügt aber auch intertextuelle Verweise ein, die nicht dem Roman entstammen; so schreibt er Effis Mutter ein Gedicht Fontanes mit dem Titel Seifenblasen als kurzen Monolog zu. Sie spricht es, als sie während einer Feier kurz allein im Raum zurückbleibt: Kinder, ihre Lust zu zeigen,/ Ließen Seifenblasen steigen./ Wie das schimmert im Sonnenschein - / Ein ’ ge groß und ein ’ ge klein./ Die geblasen mit Durchschnittsmunde,/ Hielten sich eine volle Sekunde; / Mehrere aber waren dabei,/ Ja - das hielt sich bis zu zwei! / Eine stieg so hoch wie das Haus,/ Da stieß sie an, da war es aus. 450 448 Göber, Effi Briest. S. 6. 449 Ebd. S. 7. 450 Ebd. S. 18. 339 <?page no="352"?> Leicht und unbeschwert scheint der Text fast wie Kinderlyrik, thematisiert jedoch eigentlich die Vergänglichkeit - zumal die Seifenblase bei Fontane als Trope eingesetzt wird, die das Hohle, das Leere und den Schein bezeichnet. 451 Auch wenn die Leere auf der Bühne nur kurze Zeit andauert und die Feiernden sich schnell wieder einfinden - „ Tanzgesellschaft durch den Saal, in verschiedenen Formationen, Effi mit Crampas, Effi mit Innstetten, die Musik überschlägt sich, allgemeines Chaos “ 452 - ist die Heiterkeit als vergänglich entlarvt. 4.5.5 Symbolik, Allusion und Historizität: eine vergleichende Auswertung Viele Theater arbeiten mit Fontanes Effi Briest nach demselben Prinzip wie bei der üblichen Erstellung einer Strichfassung aus einem älteren, urheberrechtsfreien Dramentext. Die fast durchgängige Bezeichnung der Dramen als ‚ Bühnen- ‘ oder ‚ Spielfassungen ‘ betont dieses Selbstverständnis schon in den Paratexten. Denn der Roman ist so stark dialogisch konzipiert, dass eine spielbare Form über die großzügige Streichung des Erzählertextes und die Reduktion des Personals leicht erstellt ist. Die große Zahl der Dramatisierungen in den letzten Jahren hat ihre Ursachen also nicht nur in der Popularität, sondern wohl auch in der Form des Romans. Dieser allerdings zeigt sich bei näherer Betrachtung weniger ‚ dramatisch ‘ als zunächst angenommen. Die Andeutungen und der ‚ disguised symbolism ‘ aus dem Roman können zwar, das mögen diese exemplarischen Analysen veröffentlichter Dramatisierungen zu Effi Briest gezeigt haben, durchaus Eingang ins Drama finden. Dabei werden aber hauptsächlich die schon im Roman durch die Rede transportierten Motive übernommen, im Falle des Chinesen zudem verstärkt und ‚ verkörpert ‘ . Auch über die Besetzung kann eine Interpretation stattfinden - wie etwa in der Gleichsetzung des Chinesen und der Figur des 451 Zwei Beispiele bieten die autobiographischen Schriften Meine Kinderjahre und Kriegsgefangen: „ [D]as andere war Komödie, Schein, eine Seifenblase, die jeden Augenblick platzen konnte. Und dann war nichts da. “ Theodor Fontane: Meine Kinderjahre. In: Ders.: Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Bd. 4. Autobiographisches. Hrsg. v. Walter Keitel. München: Hanser 1973. S. 7 - 177. Hier S. 123. „ Losgelöst von allem Tieferen wird auch die Vaterlandsliebe [. . .] leicht zu einer Karikatur, überschlägt sich und gewinnt den Charakter des Hohlen, einer schillernden Seifenblase, eines Nichts. “ Theodor Fontane: Kriegsgefangen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Bd. 4. Autobiographisches. Hrsg. v. Walter Keitel. München: Hanser 1973. S. 541 - 689. Hier S. 583. 452 Göber, Effi Briest. S. 18. 340 <?page no="353"?> Crampas. Am Beispiel der Dramatisierung Göbers ist deutlich geworden, wie intertextuelle Hinweise ausgebaut und neu hinzugenommen werden können, um das Anspielungssystem im Sprechtext zu situieren. Die Motive und Andeutungen differieren in den Dramatisierungen und sind nach verschiedenen Parametern zu unterscheiden. Sie können zunächst nach ihrer Art bestimmt werden: Wird die Andeutung über Intertextualität, über ein Erzählmotiv, einen Gegenstand oder eine Figurensymbolik 453 geleistet? Zweitens muss der Ort ihres Vorkommens betrachtet werden: Sind die Hinweise in Figurenrede, Nebentext oder Paratext zu finden? Außerdem sind die Häufigkeit und Konsequenz, mit der sie verwendet werden, entscheidend: Kommt das Motiv durchgängig vor, und wie häufig und wie explizit sind die Hinweise? Viertens muss bestimmt werden, auf welcher Ebene die Hinweise oder Motive auftreten: Sind sie in der fiktiven Welt vorhanden, als Innensicht einer Figur oder als Interpretation auf extradiegetischer Ebene zu lesen? Gerade die Dingsymbolik Fontanes wirkt jedoch in der Dramatisierung allein durch die zwangsweise Reduktion vereindeutigt. Was im so viel kompakteren Drama noch Erwähnung findet, gerade im Nebentext, der Vermittlerrede des Dramas, wird als bedeutungstragend rezipiert. Dem entspricht die Rezeption auf der Bühne: Wenn Teile der breiten Schilderungen von Landschaft und Gegenständen im Roman auf der Bühne als Kulisse und Requisiten gezeigt werden, so erhalten schnell einen sehr offensichtlich symbolischen Charakter, da die Welt hier immer nur reduziert dargestellt werden kann. Das scheinbare ‚ Nebenbei ‘ , mit der im Fontaneschen Text die Dinge erwähnt werden, macht aber gerade die Spannung im Romantext aus. Hier muss die Dramatisierung also vereindeutigen. Gerade im Falle eines so subtilen Bedeutungsnetzes wie in Fontanes Effi Briest lässt sich zeigen, wie sehr das Dramatisieren einem ‚ Zwang ‘ zur konkretisierenden Interpretation unterliegt. Ein Roman mit starken dialogischen Passagen sichert noch nicht eine dieser Vorlage entsprechende Dramatisierung. Die Notwendigkeit zur Vereindeutigung muss aber nicht negativ bewertet werden: Wenn das Spiel auf der Bühne zwangsläufig mit einer Konkretisierung einhergeht, ist es folgerichtig, dass die Dramatisierung diese Vereindeutigung im Sinne einer Interpretation betreibt. Das Andeutungssystem Fontanes und seine versteckten Hinweise zum Ausgangspunkt der Analysen zu machen, ist somit ein möglicher Ansatz, um die aktuellen Deutungen von Fontanes Roman herauszulesen. Doch eine Bewertung der Stücke nach diesem Kriterium wäre dem Gegenstand ‚ Drama ‘ kaum angemessen. Die 453 Dazu können auch leitmotivisch wiederkehrende Eigenschaften gehören wie im Fall des stummen Herrn Kruse bei Niermeyer und Potzger. 341 <?page no="354"?> Stärke des Romans muss nicht zur Stärke der Dramatisierungen werden, die alternativ auch die Stärken ihres Zielmediums ausnutzen kann. Damit wäre zwar eine ‚ illustrative ‘ Dramatisierung in vielen Fällen nicht mehr möglich, dafür aber ein anregendes Gesamtergebnis eigener Qualität. Die Offenheit und die Mehrdeutigkeit des Romans bewirken, dass der Interpretationscharakter der aktuellen Dramatisierungen umso deutlicher hervortritt. Effi wird in fast allen Stücken, das fällt bei einem Vergleich der Fassungen auf, eindeutig als Sympathieträgerin etabliert. Die Mittel zu dieser Darstellung sind unterschiedlich; der Eindruck entsteht durch interne Fokalisierung in Monologen oder Erzählerpassagen, durch den Kontrast zu einem als repressiv dargestellten Umfeld, durch Einbezug des Publikums und durch Annäherung der Figurenzeichnung an die Lebenswirklichkeit der intendierten Rezipienten. Letzteres ist vor allem in der didaktisch orientierten Fassung Ehrhardts zu sehen. Die insgesamt so positive Darstellung Effis entsteht auch durch den historischen Abstand: Während Effis Mutter, die dargestellte Gesellschaft und allen voran Innstetten für den heutigen Rezipienten ferne Modelle von Ehre und Moral verkörpern, ist Effi erstaunlich modern geblieben. Das mag daran liegen, dass sie (als Kind und junge Frau) weniger stark durch ihre politische Position gekennzeichnet ist als andere Figuren. Eine Figur, die dem eigenen Gefühl folgt, ist historisch unabhängiger - weil allgemein menschlicher - als jemand, der einer sozialhistorisch gebundenen Gesellschaftsordnung, Moral oder Politik folgt. Wie historisch beispielsweise der Ehrbegriff geworden ist, zeigt sich in der Dramatisierung Dietmanns, die sich ein Duell ohne emotionale Ursache offenbar nicht vorstellen kann. Bei ihr „ verliert er [Innstetten] die Fassung, schluchzt “ , als er die Briefe findet; er „ windet und krümmt sich “ 454 . Dieses Bild ist mit Innstettens Argumentation im Gespräch mit Wüllersdorf kaum vereinbar; einem heutigen Rezipienten aber mag ein Mord aus Affekt verständlicher scheinen als ein Duell der Ehre wegen. Doch aus diesem Pathos spricht gerade in Kombination mit der klischeehaften Ehebruchszene eine Trivialisierung des Stoffes. Der Fremdheit der im Roman geschilderten Lebenswelt für den heutigen Rezipienten wird mit Vereinfachung begegnet. Diese empfundene Fremdheit könnte auch begründen, warum Effis Abhängigkeit von der sie umgebenden Gesellschaft, ihre Zugewandtheit zu deren Ordnungen sowie ihr Wunsch nach Ansehen und Luxus in den Dramatisierungen kaum eine Rolle spielen. Das vermeintlich ‚ rein Menschliche ‘ scheint näher. 455 Deshalb wird auch ihr ‚ Komödienspiel ‘ erstaunlich 454 Dietmann, Effi Briest. S. 44. 455 Aus den Briefen Fontanes lässt sich ablesen, dass die Reaktionen auf den Roman entsprechend häufig Parteinahmen für Effi darstellten (vgl. Fußnote 380 in diesem 342 <?page no="355"?> selten zum Thema, 456 obwohl sich daraus im Theater eine reizvolle Metareferenz ergeben könnte. Die verbreitete Lesart, nach der Effi gar gegen ihr Umfeld rebelliert, betont die Distanz zu einem Gesellschaftsmodell, das vom heutigen Rezipienten durch die historischen Veränderungen ebenfalls mit Distanz wahrgenommen wird. Was Ehrhardt in ihrem Jugendstück so eindeutig betreibt, ist vielen Dramatisierungen von Effi Briest eigen: Effi wird dem Publikum angenähert - ihre apolitische Haltung und ihr Leiden an der preußisch-militärisch geprägten Welt des Kaiserreichs lässt sie ohne ein besonderes Zutun moderner erscheinen als andere Romanfiguren. Dennoch bleibt der Vorwurf, den Elke Schmitter in ihrer Rezension zur Inszenierung Niermeyers erhebt, für viele der Dramatisierungen relevant: Da Effi scheitert und oft als Opfer unterdrückender Verhältnisse dargestellt wird, gerät die Figur leicht zum Objekt des Mitleids. Dazu trägt auch bei, dass so viele Varianten die Beziehung zwischen Effi und Crampas durch Liebe motivieren oder eine solche Deutung zumindest nahelegen. Wenn dann als historischer Zeitpunkt der Handlung das Ende des 19. Jahrhunderts bleibt, fungiert die Geschichte als Selbstbestätigung für den Theaterbesucher, der sich der historischen Welt überlegen fühlen kann. 457 Eine wirkliche Aktualisierung der Handlung wird (deshalb? ) trotz der Vielzahl der Dramatisierungen nie versucht. Die Stücke stoßen sich an der Alterität, suchen Aktuelles, um Relevanz zu schaffen, und müssen versuchen mit der Fremd- Kapitel). Denn Effi wird als ‚ Naturkind ‘ präsentiert und steht damit in einer Tradition, die die (kindliche) Frau als unschuldig und tugendhaft zeichnet. Doch die Figur ist eigentlich vielschichtiger: Das ‚ Naturkind ‘ ist nur eine Facette und steht zu Effis Hang zu Luxus und Anerkennung im Widerspruch. Eine gewisse Distanz zum Ehrbegriff war außerdem schon bei Erscheinen des Romans gegeben. Liberale, sozialistische und katholische Kräfte forderten ein Aussetzen des Duells. Zudem waren Ehrenkodex und Duell als Praktik des Adels und des ranghohen Militärs großen Leserschichten und insbesondere den weiblichen Lesern fremd. Der Ehrbegriff war bereits zum Klischee geworden und wird als solches bei Fontane diskutiert. Renate Böschnstein weist außerdem darauf hin, dass das Reden in Klischees bei Effi nicht so stark ausgeprägt ist wie bei anderen Romanfiguren. Sie spreche stärker individuell. Vgl. Renate Böschenstein: Zur Funktion des Klischees in Fontanes Sprache (am Beispiel von Effi Briest). In: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hrsg. v. Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Würzburg: Könighausen & Neumann 2006 (= Fontaneana 3). S. 64 - 84. Hier S. 80 f. und 71. Diese Aspekte werden schon zur Erscheinungszeit zu einer Parteinahme für Effi beigetragen haben; die Polarisierung verstärkt sich heute bei der Lektüre durch den historischen Abstand weiter. 456 Göber erreicht dies durch die Szene aus Das Käthchen von Heilbronn. 457 Ähnlich Elke Schmitter: Tolles Triebleben. S. 158: „ So zeigt das bürgerliche Theater dem bürgerlichen Publikum, wie zufrieden es mit sich sein kann, und das Publikum ist ganz zu Recht begeistert. Man klatscht und trampelt in Freiburg, feiert sein eigenes Theaterwunder und ist lächelnd zufrieden, dass es doch einen Fortschritt in der Weltgeschichte gibt. “ 343 <?page no="356"?> heit umzugehen. Dies könnte ein Grund für die auffallend vielen Dramatisierungen sein, die die Geschichte aus der Retrospektive schildern oder über Rahmungen und Brüche mit der Chronologie eine kommentierende Haltung ihr gegenüber einnehmen: So lässt Schüddekopf zwei Erzähler im Imperfekt berichten, Erhardt rahmt das Geschehen über das Gespräch mit dem Freund, Grühn durch die Krankheit Effis in der ersten Szene. Niermeyer stellt eine distanzierte Haltung über das Vorspiel her, das ebenfalls aus der Chronologie herausfällt. Bei Brenner zeigt sich die Distanz in den kommentierenden Akt- und Szenentiteln. In den Texten tritt also auf Ebene der Erzählstruktur besonders zutage, was alle Dramatisierungen kennzeichnet: das dialogische Verhältnis zur Romanvorlage und die interpretierende Haltung gegenüber der erzählten Geschichte. 4.6 Nach dem Gattungswechsel: Ergebnisse der Analysen im Vergleich Auch wurden, standen nicht unüberwindliche scenische Schwierigkeiten im Wege, diese Erzählungen mit Musikbegleitung auf dem Puppentheater dargestellt. . . (Thomas Mann, Buddenbrooks, S. 687) Die Analysen haben eine große Varianz zwischen den unterschiedlichen Übertragungs- und Darstellungsverfahren und eine Vielzahl von Veränderungen zwischen dem Prätext Roman und dem Hypertext Dramatisierung gezeigt, die durch den Gattungswechsel entstehen. Im Folgenden sollen deshalb die Einzelbeobachtungen ausgewertet werden, um die verschiedenen Möglichkeiten der Transposition des Romans in einen dramatischen Text aufzuzeigen. Die einzelnen Beobachtungsschwerpunkte werden dabei vor allem aus Inhalten und Darstellungsformen des Romans (und aus der Erzähltheorie) abgeleitet, für deren Übertragung ins Drama unterschiedliche Lösungswege aufgezeigt werden, aber auch aus markanten Formen und Inhalten der entstandenen dramatischen Texte. Einige Phänomene und Beispielpassagen sind in Bezug auf verschiedene Beobachtungsschwerpunkte relevant und werden dann mehrfach erwähnt, um einen systematischen Zugang zu ermöglichen. Sie werden jedoch nur bei der ersten Nennung ausführlich erläutert. Eine Einschätzung zu typischen Formen und Häufigkeiten der einzelnen Phänomene erfolgt in den Kapiteln 5.2 und 5.4. 344 <?page no="357"?> In den ersten drei Abschnitten stehen die Auswahl der Handlungen und ihre Anordnung im Vordergrund (Auswahl der Handlungsstränge, grobe Struktur des Textes und Spannungsverlauf), die Abschnitte 4.6.4, 4.6.5 und 4.6.6 thematisieren Veränderungen in der Anlage der histoire (Zeit, Ort und Figurenkonstellation). Anschließend werden in vier Unterkapiteln Aspekte behandelt, die den discours betreffen ( ‚ Ersatz ‘ des Erzählers, Rede- und Gedankenwiedergabe und extradiegetische Hinweise wie Symbole und Leitmotivstrukturen). Zuletzt folgt in den Abschnitten 4. 6. 11 bis 4. 6. 13 die Betrachtung von Phänomenen, die sich aus der dramatischen Form ableiten (Art der Nebentexte, Fragen der theatralen Darstellbarkeit der Inhalte und Metareferenzen). 4.6.1 Handlungsauswahl und Kürzungen Alle Verfasser von Dramatisierungen nehmen Kürzungen vor. Diese sind der neuen Gattung und der avisierten Rezeptionssituation geschuldet, können in den einzelnen Werken in ihrer Rigidität aber stark variieren, wie der Vergleich zwischen Castorfs ausladender Version von Berlin Alexanderplatz und einigen der Effi Briest-Dramatisierungen eindrucksvoll zeigt. Der Umfang der Kürzungen hängt dabei stark mit dem Umfang des Personals zusammen: Dramen, die das Personal stark reduzieren, haben meist einen sehr viel geringeren Umfang. Das hat ganz pragmatische Gründe, fallen doch mit jeder Figur auch deren Redeanteil, ihre Einführung oder Vorstellung durch andere Figuren oder auch Handlungen - manchmal ein ganzer Handlungsstrang, der sich an den Charakter knüpft - weg. Die Dramatisierung ist eine sehr flexible Textsorte: Sie kann in Länge und Besetzung gut den aktuellen Bedingungen am jeweiligen Theater und dem Bedarf des Spielplans angepasst werden. Gestrichen werden besonders gern Erzählertexte, die nicht Rede oder Handlungen der Hauptfiguren wiedergeben. Dazu gehören Beschreibungen von Landschaft und Menschen ebenso wie (zum Beispiel philosophische) Reflexionen. Im Falle von Berlin Alexanderplatz gehören auch Auszüge aus Medien der Massenkommunikation dazu. Eine weitere Art der Reduktion besteht darin, wiederholte Handlungen, die im Roman iterativ dargestellt werden, auf eine exemplarische Handlung zu reduzieren (vgl. die Einbrüche und die Ausflüge in Castorfs Berlin Alexanderplatz). Wenig überraschend ist auch, dass schriftliche Kommunikationsformen (vgl. Hirches wahlverwandtschaften) und Äußerungen über das Schreiben (vgl. unter anderem Jonigks Elixiere des Teufels) ausgespart werden, die ihren metareferentiellen Charakter 345 <?page no="358"?> im Gattungswechsel einbüßen. 458 Die Striche tilgen häufig den historischen Rahmen sowie breite Gesellschaftsbilder. Manche Auslassung wirkt sich auch auf die Handlung und die Figurenzeichnung stark bedeutungsverändernd aus. 459 Insgesamt werden vor allem dialog- und handlungsstarke Passagen der Romane ausgewählt, die in der neuen Struktur verdichtet wirken. Das beschleunigt den Handlungsgang insgesamt und trägt zu einem Eindruck stärkerer Kohärenz bei. Am Beispiel der Elixiere des Teufels lässt sich deutlich eine Konzentration auf den handlungsstärkeren ersten Teil erkennen, Albrecht Hirches wahlverwandtschaften nach goethe steigert dies noch ironisch, indem filmschnittähnliche Verfahren schnelle Anschlüsse schaffen. In dieser Reduktion auf handlungsstarke Elemente mögen Dramatisierungen teilweise einem Digest ähneln. Oft jedoch wird die verlorene reflexive oder zeitgeschichtliche Dimension durch eine neue Qualität in anderen Bereichen aufgefangen. Doch nicht nur Kürzungen, auch Ergänzungen werden vorgenommen. Zunächst werden im Roman erwähnte Gespräche, die nicht genauer geschildert sind, in einigen Fällen ausgeschrieben. Die meisten Dramatisierungen vermeiden größere Ergänzungen dieser Art; manche allerdings versuchen gar, sie stilistisch den Texten des Romanautors anzupassen. 460 Dramatisierungen, die große Passagen eigenen Textes enthalten, sind selten, doch mit Thomas Jonigks Adaption ist auch dazu im Korpus dieser Arbeit ein Beispiel vertreten. Andere Arten von Ergänzungen werden offenbar als unproblematisch empfunden: Die Nebentexte werden äußerst selten wörtlich dem Roman entnommen, sondern vom Autor in einem Stil eingefügt, der in seiner Verknappung der pragmatischen Funktion für die Inszenierung gerecht wird. 461 Häufig werden auch die im Roman nur erwähnten Lieder und 458 Briefe hingegen werden gern übernommen, weil sie häufig Motivationen und Gefühle in Worte fassen und zudem durch die Schreibinstanz bereits fokalisiert sind. So lassen sie sich leicht in Figurenrede verwandeln. 459 Als besonders plakatives Beispiel sei hier das fehlende Ende in Castorfs Dramatisierung von Berlin Alexanderplatz genannt. Durch Auslassungen ändern sich aber häufig auch die Charaktere der Figuren, zum Beispiel wenn in Albrecht Hirches Dramatisierung der Wahlverwandtschaften Ottilies Engagement bei der Ausmalung der Kirche und bei der Betreuung der Dorfkinder fehlt. Sie erhält in ihrer Innerlichkeit ohne diesen Einsatz schnell egoistische und pubertäre Züge. 460 So entwirft Holger Teschke in seiner Dramatisierung von Effi Briest einen längeren Dialog zwischen der Protagonistin, Instetten und Wüllerdorf (vgl. 4.5.4), der im Roman nur kurz erwähnt wird. 461 Auch hier gibt es allerdings Ausnahmen: Holger Teschke versieht seine Adaption mit ausführlichen Ortsangaben, die sich am Roman orientieren. Auch Ulrike Dietmann und 346 <?page no="359"?> Lektüren ausgeführt, denn sie müssen nun auf der Bühne präsentiert werden. Hier ist das Zitat bekannter (also wiedererkennbarer) Literatur die Regel. Wie am Beispiel der wahlverwandtschaften ausgeführt, werden gern Texte des Romanautors ergänzt. 462 Solche Zitate werden auch dann eingefügt, wenn der Roman dazu keinen Anlass im Text gibt. 463 Auch Verweise auf Werke anderer Autoren sowie bekannte Lieder werden gern montiert; Lieder entstammen dabei auch der Popkultur. Diese Art Fremdtext entspricht in besonderem Maße den bekannten Inszenierungstechniken, denn die Untermalung mit Musik ist inzwischen so üblich, dass die Lieder kaum noch als Fremdtext gewertet werden, selbst wenn sie in der Figurenrede vorkommen. 464 Eine Besonderheit, die in Kapitel 6.3 noch einmal genauer interpretiert wird, sind Rückgriffe auf Texte aus anderen Adaptionen desselben Romans. In den untersuchten Dramatisierungen kamen sie in John von Düffels Buddenbrooks und in Holger Teschkes Effi Briest vor. Dramatisierungen, die das Geschehen aktualisieren, müssen notwendig Fremdtext nutzen. Die Tilgung der Zeitbezüge ist wohl auch aus diesem Grund häufiger als eine wirkliche Aktualisierung (genauer dazu Kapitel 5.3). 4.6.2 Grobstruktur: Aufteilung in Szenen und Akte Alle Dramatisierungen legen eine Binnenstruktur in Szenen an. Das ist nicht nur dramatische Konvention, sondern auch pragmatisch sinnvoll. Die Struktur ist zur Probenplanung nützlich. Außerdem halten sich die Dramatisierungen oft an die Konvention, Szenen nach Ortswechseln und Personenauf- und abgängen einzuteilen. Auch dies ist für die Probenarbeit wie auch für die spätere Lichtregie und eventuelle Umbauten ein sinnvolles Vorgehen; Akteinteilungen sind deshalb selten. Es darf also umgekehrt behauptet Tadeus Pfeifer fügen ausladende Nebentexte ein, die allerdings vor allem interpretieren und kommentieren, also nicht mehr die Funktion einer Regieanweisung im engeren Sinne haben. 462 In Albrecht Hirches Dramatisierung lesen die Figuren unter anderem aus Goethes Farbenlehre und aus den Dramen Stella, Clavigo und Torquato Tasso vor. 463 So legt zum Beispiel Reinhard Göber Effis Mutter ein Fontane-Gedicht in den Mund. 464 Astrid Sebastian stellt schon für das 18. Jahrhundert eine ähnliche Tendenz fest: Es würden häufig musikalische Elemente, Lieder, gerade auch bekannte Stücke aus Opern in die Dramatisierungen eingefügt. Hier zeigt sich zeitübergreifend eine starke Orientierung an der Theaterpraxis und der unterhaltenden Funktion der Stücke. Vgl. Astrid Sebastian: Auf dem Schnittpunkt zweier Gattungen. Dramatisierungen englischer Romane des 18. Jahrhunderts. Egelsbach: Hänsel-Hohenhausen 1994. S. 144. 347 <?page no="360"?> werden: Die Strukturierung durch Szenen ist bis heute dramatische Konvention, weil sie pragmatisch ist. 465 Die Strukturierung der Dramatisierungen orientiert sich meist lose am Roman. Zwar teilen auch Romankapitel die Handlung in Sinnabschnitte, sodass sich Kapitel und Szenen oft entsprechen, doch die Dramen ordnen weit stärker nach Ortswechseln und beteiligten Figuren. Üblich ist eine Zweiteilung: Viele der Dramatisierungen setzen eine Pause, was darauf verweist, dass sie oft mit Blick auf die einzelnen Inszenierungen entstehen. Die Platzierung der Pause orientiert sich an der späteren Rezeptionssituation, wird aber auch nach inhaltlichen Kriterien vorgenommen. Durch das szenische Strukturprinzip entstehen verstärkt Oppositionen: Aufeinanderfolgende Szenen werden häufig genutzt, um unterschiedliche Ansichten zu präsentieren oder äußeres Handeln und inneren Monolog miteinander abzuwechseln (vgl. John von Düffels Buddenbrooks). Eine spezifisch dramatische Darstellungsmöglichkeit ist die Anlage simultaner Handlungen. Dieses Mittel wird ebenfalls gern genutzt, um Oppositionen zu betonen (wie in den Effi Briest-Adaptionen von Amélie Niermeyer und Thomas Potzger sowie Matthias Brenner) oder um Widersprüche zwischen Handlungserwartungen und tatsächlichem Verhalten zu thematisieren; ähnlich werden auch das Geschehen und das Sprechen über das Geschehen voneinander abgegrenzt. 466 So kann die Dramatisierung trotz des Zurücktretens der Vermittlungsinstanz ironische Effekte und Kommentarfunktionen erzielen. Dass beim Dramatisieren von Romanen ein Text mit stärkerem Zusammenhang der Handlung entsteht, fällt in allen analysierten Adaptionen auf. Am Beispiel von Frank Castorfs Berlin Alexanderplatz (vgl. Kapitel 4.4.5) wurde dieser Aspekt ausführlich dargestellt. Die Kohärenz entsteht durch die Kürzungen und die oft starke Fokussierung der Handlung auf wenige Hauptfiguren sowie die Rezeptionsgewohnheiten von Dramen. Auch das oben beschriebene Prinzip der Gegenüberstellung verschiedener Meinungen oder die simultanen Handlungen tragen zu einem Eindruck stärkerer Geschlossenheit der Handlung bei. In der Effi Briest-Adaption von Sandra Schüddekopf und Alexandra Henkel scheinen die Szenen fast im dialogischen Prinzip aufeinander zu reagieren. Durch solche Montagen entsteht der Eindruck einer Zwangsläufigkeit der Handlungen. Besonders bei den stark 465 Die historischen Begriffe ‚ Aufzug ‘ und ‚ Auftritt ‘ enthalten noch den Bezug auf die praktische Bühnenarbeit. 466 Ein Beispiel hierfür sind die Briefe des jugendlichen Franz an seine Mutter, die mit den tatsächlichen Erlebnissen im Kloster wenig gemein haben (vgl. dazu die Analyse von Thomas Jonigks Die Elixiere des Teufels in 4.2.5). 348 <?page no="361"?> psychologisch angelegten Dramatisierungen zu Buddenbrooks und Effi Briest fällt dieser Effekt ins Auge, ergeben sich doch hier Handlungsmotivationen jeweils aus der vorhergehenden Szene. Aber selbst in Frank Castorfs Dramatisierung, die einer logischen Abfolge der Ereignisse mit verschiedenen Mitteln entgegenarbeitet, ist eine solche Wirkung noch erkennbar. Zu diesem Effekt trägt bei, dass der Rezipient die Übergänge zwischen einzelnen Geschehnissen oft kausal deutet, wenn sie nicht durch Nebenhandlungen oder Reflexionen des Erzählers getrennt werden. Dieser Aspekt wirkt bei der Rezeption der Dramatisierung ebenfalls in Richtung einer starken Kohärenz der Handlung. 4.6.3 Spannungsverlauf und Informationsvergabe Im Abschnitt zur Struktur und zur typischen Auswahl der Handlungsstränge sind bereits einige Phänomene beschrieben, die auch in Bezug auf den Spannungsverlauf relevant sind. Mit den Kürzungen, den erzeugten Oppositionen und (teilweise durch den Rezipienten realisierten) kausalen Verknüpfungen ist eine starke Bindung und Beschleunigung der Handlung verbunden. Gerade am Beispiel von Buddenbrooks wird dieser Aspekt sichtbar: Der schleichende Verfall der Familie, die langsamen Veränderungen über Generationen hinweg sowie die zirkulären Strukturen im Erzählen lassen sich schwerlich ins Drama übertragen. Selbst Tadeus Pfeifer, der der Ahnenfolge und dem Generationswechsel größere Bedeutung einräumt als John von Düffel, entwickelt (verglichen mit dem Roman) einen schnellen Niedergang der Familie, der durch einzelne Konfliktpunkte und vor allem durch die ständige Opposition zwischen Individuum und Gesellschaft bedingt ist (vgl. dazu insbesondere die Kapitel 4.1.5 und 4.1.8). Abgesehen von den konflikthaften Oppositionen wird Spannung in vielen Dramatisierungen eher durch das Wie als durch das Was aufgebaut: Da der Ausgang der Romane vielen Rezipienten bekannt sein wird, machen sie Prolepsen oder erzählen rückblickend. „ Entspannt gleiten wir in die Katastrophe “ , erklärt Mittler in Albrecht Hirches wahlverwandtschaften und erinnert damit an das unglückliche Ende des Romans. Die Spannung ist gerade bei den psychologisch angelegten Stücken auf die Figurenentwicklung und die Konflikte gelegt, weniger auf den Ausgang der Handlung. Durch die Montagetechnik, mit der Szenen (und damit Figuren in ihren Wünschen und Zwängen) gegenübergestellt werden, entwickelt sich dann eine ganz eigene Spannung, die auf die Aktion und Reaktion des Individuums gerichtet ist und im Medienwechsel den Schauspielern eine reizvolle Aufgabe bietet. 349 <?page no="362"?> 4.6.4 Zeitstrukturen Die meisten Dramatisierungen setzen direkt in der Handlung ein, führen also nicht auf den Zeitpunkt der Handlung hin, sondern vermitteln gegenwärtiges Geschehen. Das betonen insbesondere Dramatisierungen, in denen die Figuren das Publikum ansprechen und die Rampe überspielen. Damit wird eine Gleichheit zwischen der Zeit der Ereignisse auf der Bühne und im Zuschauerraum hergestellt. Ausnahmen von dieser ‚ Darstellung im Präsens ‘ sind dort zu finden, wo Erzählerfiguren die Handlung führen: Sie haben die Möglichkeit, die einzelnen Szenen durch Einleitungen und Kommentare im Imperfekt zu rahmen, wie am Beispiel der Dramatisierung von Effi Briest durch Sandra Schüddekopf und Alexandra Henkel erläutert. 467 In diesen Fällen ergeben sich zwangsläufig unterschiedliche Zeitebenen, die häufig mit einem Moduswechsel einhergehen: Episch rückblickendes Erzählen prägt die Erzählerpassagen, die den Charakter einer Rahmenerzählung annehmen; dramatische Gegenwart des Geschehens bestimmt die handlungsstarken Episoden, die als Binnenhandlung angelegt sind und auf der Bühne gespielt werden. Doch eine Vermittlerfigur muss nicht zwangsläufig rückblickend erzählen: In Albrecht Hirches wahlverwandtschaften fungiert die Figur Mittler gleichzeitig als Erzähler und als Figur der Handlung. Wenn er erzählt, stellt er die Vorgeschichte einzelner Personen oder deren Meinungen dar, das aktuelle Bühnengeschehen wird aber als Gegenwart arrangiert. Diese Gegenwart läuft so unmittelbar parallel zur realen Zeit des Zuschauers ab, dass während der Pause das Geschehen voranschreitet und Mittler vorgibt, über die Ereignisse der letzten 20 Minuten (nun doch rückblickend) berichten zu müssen. Erzählerpassagen sind gleichzeitig oft diejenigen Passagen, die die chronologische Reihung unterbrechen. Wo ohne das Einwirken einer Erzählinstanz zum Beispiel auf den Schluss der Handlung vorgegriffen wird, muss entweder von der Vertrautheit der Rezipienten mit dem Roman ausgegangen werden oder es muss in der Rede ein Hinweis auf den Zeitsprung enthalten sein. In Petra Maria Grühns Effi Briest-Adaption sinniert Effi zu Beginn über 467 Hier hat allerdings die Rahmung noch einen dialogischen Charakter, wird sie doch als Wechselrede zweier Erzähler angelegt. In einer Dramatisierung von Thomas Manns Roman Der Zauberberg hingegen findet sich eine Off-Erzählstimme, die dem Drama starke Züge eines Hörspiels verleiht. Diese Technik ist aber verhältnismäßig selten zu finden. Vgl. Der Zauberberg von Thomas Mann. Für die Bühne bearbeitet von Vera Sturm und Hermann Beil. Frankfurt a. M.: Fischer 2002 (UA: Festspiele Reichenau am 6. 7. 2001, Regie: Vera Sturm). 350 <?page no="363"?> ihr fortgeschrittenes Alter. 468 Wenn nun mit einem Lichtwechsel eine Jugendszene ansetzt, ist der Rezipient auf den Zeitwechsel über den Inhalt der Rede schon vorbereitet. Die nachfolgenden Szenen scheinen dann durch Effis Erinnerung konstruiert. Der Zeitraum der Handlung muss im Drama (wie in der epischen Erzählung) in seinem Verhältnis zur Rezeptionszeit betrachtet werden: Die erzählte Zeit entspricht zwar in den Spielszenen gewöhnlich der Erzählzeit/ Spielzeit, weicht davon beim Blick auf die Gesamthandlung aber oft stark ab. Szenenübergänge, bei denen keine Angaben zur Dauer oder zum Abstand einzelner Ereignisse untereinander gemacht werden oder erschließbar sind, werden im Drama als zeitdeckend rezipiert (das ist deutlich an Frank Castorfs Berlin