Elfriede Jelinek und das französische Vaudeville
0618
2014
978-3-8233-7872-3
978-3-8233-6872-4
Gunter Narr Verlag
Béatrice Costa
Über Jahrhunderte hat man sich in Deutschland mit den Formen des Lachtheaters schwer getan, galt doch die Tragödie als anspruchsvollste literarische Gattung. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zum besseren Verständnis des Vaudeville, eines Genres, das im deutschsprachigen Raum als oberflächliche Unterhaltungsliteratur gilt. Dass Elfriede Jelinek sich in der Frühphase ihres Schaffens mit den Werken der beiden Vaudevillevertreter Eugène Labiche und Georges Feydeau auseinandergesetzt hat, mag auf den ersten Blick befremden. Ein zweiter Blick macht aber deutlich, dass die österreichische Gegenwartsautorin von einem Theater fasziniert ist, das den Zuschauer zur Koproduktion animiert. Als Richtschnur für die eigene Übersetzungstätigkeit gilt ihr der Rhythmus, den sie - in ähnlicher Weise wie der französische Denker Henri Meschonnic - als sinnkonstituierende und nicht als gleichmäßige Bewegung auffasst. Anders als so genannte Berufsübersetzer, die eine möglichst optimale Umsetzung der intendierten Botschaft anstreben, lässt sie sich beim Übersetzen ganz auf die im Text enthaltene Sprechbewegung ein. Dabei nimmt sie bewusst in Kauf, dass die von ihr übersetzten Vaudevillestücke nicht immer den Erwartungen des Zielpublikums entsprechen.
<?page no="0"?> edition lendemains 33 Béatrice Costa Elfriede Jelinek und das französische Vaudeville <?page no="1"?> Elfriede Jelinek und das französische Vaudeville <?page no="2"?> edition lendemains 33 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) <?page no="3"?> Béatrice Costa Elfriede Jelinek und das französische Vaudeville <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: © Béatrice Costa. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6872-4 <?page no="5"?> À mon mari Meinen Eltern <?page no="7"?> Danksagung Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im März 2013 - nach Abschluss der öffentlichen Disputation - vom Promotionsausschuss der Universität Namur (Belgien) angenommen wurde. Die wissenschaftliche Betreuung erfolgte durch Prof. Dr. Anke Bosse (Universität Namur) und durch Dr. Indra Noël (Universität Mons). Beiden möchte ich an dieser Stelle meinen Dank entrichten. Mit besonderem Dank gedenke ich der Anregungen zur Kategorie des Rhythmus, die ich aus den Untersuchungen Hans Löseners schöpfen konnte. Des weiteren danke ich dem Narr Francke Attempto Verlag für die Aufnahme der Arbeit in die von Wolfgang Asholt herausgegebene Schriftenreihe «éditions lendemains». Ma profonde gratitude s ’ adresse à mon mari, qui par sa présence et son généreux soutien a su me donner autant de sources d ’ énergie et de réconfort. Que ce travail lui soit dédié comme témoignage de ma reconnaissance. Auch meinen Eltern, die sich insbesondere in Zeiten «angestrengten Tüftelns» so liebevoll um meine beiden Kinder gekümmert haben, ist diese Arbeit gewidmet. Ihrem unermüdlichen Einsatz ist zuzuschreiben, dass Audrey und Alexandre unter der «wissenschaftlichen Vereinnahmung» ihrer Mutter nicht gelitten haben. Zu guter Letzt danke ich meinen Kindern, dass sie mir geholfen haben, der Welt der Wissenschaft in regelmäßigen Abständen zu entfliehen und den Sinn für Bodenhaftung nicht zu verlieren. 7 <?page no="9"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 II Zur Gattung «Vaudeville» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 III Erster Themenkomplex: Rhythmus und Performativität . . . . . . . . . 36 1. Der systemische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2. Der intertextuelle Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. La Dame de chez Maxim - eine systemische Analyse . . . . . . . . . . 46 3.1 Dynamik der Zusammenstöße und Verwicklungen (erster Akt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.1.1 Bewegungsinszenierung im Haupt- und Nebentext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.1.2 Figurenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.1.3 Inszenierung des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.2 Dynamik der Kontrastbildungen und Verschiebungen (zweiter Akt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.2.1 Bewegungsinszenierung im Haupt- und Nebentext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.2.2 Figurenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.2.3 Inszenierung des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.3 Dynamik der beschleunigten Verzögerung (dritter Akt) . . 80 3.3.1 Bewegungsinszenierung im Haupt- und Nebentext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.3.2 Figurenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.3.3 Inszenierung des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4. L ’ affaire de la rue de Lourcine - eine systemisch-intertextuelle Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.1 Dynamik des Auslassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 4.1.1 Bewegungsinszenierung im Haupt- und Nebentext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.1.2 Figurenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.1.3 Inszenierung des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.2 Intertextuelle Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 9 <?page no="10"?> IV Zweiter Themenkomplex: Jelineks Übersetzungen von Feydeaus La Dame de chez Maxim und von Labiches Affaire de la rue de Lourcine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Poetik des Übersetzens (Henri Meschonnic) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Jelineks Übersetzung von Feydeaus La Dame de chez Maxim . . 126 3. Jelineks Übersetzung von Labiches Affaire de la rue de Lourcine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 V Dritter Themenkomplex: Interkulturalität und das System «Grüber» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Interkulturelle Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Das System «Grüber» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3. Grübers Inszenierung der Affaire Rue de Lourcine . . . . . . . . . . . . . 186 3.1 Die Aufführung als System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3.2 Systemische Analyse der Aufführungskomponenten . . . . . 188 VI Vierter Themenkomplex: Vaudevilleske Züge in Jelineks Theatertexten Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften und Raststätte oder Sie machens alle . . . . . . 196 1. Nora oder der ewige Kreislauf weiblichen Leidens . . . . . . . . . . . 196 2. Raststätte oder die Dynamik unerfüllten Begehrens . . . . . . . . . . 211 VII Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 VIII Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 10 <?page no="11"?> Vorwort Elfriede Jelinek gehört bekanntlich zu jenen «postdramatischen» Autoren, die sich in ihren Stücken maßgeblich von bestehenden Theaternormen distanzieren. Ihre Ankündigung, sie wolle ein neues Theater konzipieren («Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater») 1 , ein Kunstmedium, in dem personal identifizierbare Figuren inexistent sind, hatte nicht nur eine Aushöhlung der klassischen Figurenkonzeption zur Folge, es wurde - wie Hajo Kurzenberger einprägsam formuliert - «dramaturgisch und dramatisch so gut wie alles außer Kraft gesetzt, was das aufklärerische Theater seit dem 18. Jahrhundert stark und wirkungsvoll gemacht hat.» 2 Dass eine solche Autorin sich in der Frühphase ihres Schaffens mit den Werken der beiden Vaudevillevertreter Eugène Labiche und Georges Feydeau auseinander gesetzt hat, mag auf den ersten Blick befremden, gilt doch diese Art von Theater im deutschsprachigen Raum als oberflächliche Unterhaltungsdramatik. Was mag die österreichische Gegenwartsautorin an diesem Genre angezogen, was mag sie dazu bewogen haben, gleich mehrere Vaudevillestücke ins Deutsche zu übertragen? Jelinek erstellte ihre Übersetzungen in den 1980er Jahren im Auftrag des deutschen Theaterverlages Ute Nyssen & J. Bansemer. Zu dieser Zeit soll die finanzielle Situation der Autorin, «soweit sie aus dem Verkauf von Aufführungsrechten resultierte, [. . .] ziemlich katastrophal» 3 gewesen sein. Die beiden Theaterverleger «rieten ihr in dieser Lage [. . .] zu Klassikerübersetzungen und schlugen Georges Feydeau vor.» 4 Zwei Gründe sprachen für diese Wahl: Einmal, weil wir glaubten, dass gerade sie den Witz für diese Vaudeville-Dramatik des 19. Jahrhunderts mitbrächte und zum anderen, weil wir hofften, dass diese Übersetzungen ihre (und unsere) leeren Kassen auffüllen könnten, denn Feydeau- Stücke werden immer in großen Häusern gespielt. Viele Dramatiker haben sich als Klassikerübersetzer finanziell über Wasser gehalten. Die Rechnung ging auf. Die 1 Jelinek, Elfriede: Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater. Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Roeder, Anke (Hg.): Autorinnen: Herausforderungen an das Theater. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 141 - 160. 2 Kurzenberger, Hajo: Die heutige Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet. Über das Erbe der Aufklärung im postdramatischen Theater der Elfriede Jelinek. In: Forum modernes Theater, Bd. 15/ 1, 2000, S. 21 - 30, S. 22. 3 Nyssen, Ute: Zu den eisigen Höhen des Ruhms. Über den Vertrieb einiger Theaterstücke von Elfriede Jelinek. In: Janke, Pia (Hg.): Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek. Wien: Praesens 2007 (= Diskurse. Kontexte. Impulse. Publikationen des Elfriede-Jelinek-Forschungszentrums 1), S. 354 - 374, S. 363. 4 Ebd., S. 364. 11 <?page no="12"?> Feydeau-Übersetzung zog den Auftrag der damaligen Berliner Schaubühne, Direktion Peter Stein, für die Übersetzung von Die Affaire Rue de Lourcine von Labiche nach sich, Regie Klaus-Michael Grüber - und der Regisseurname sowie die Qualität der Übersetzung garantierten das Nachspielen (bis 2004 an über 30 Bühnen), zwei Fernsehaufzeichnungen kamen hinzu und damit erst einmal das Ende der Finanzmisere. 5 Im Jahre 1983 übersetzte Jelinek das Stück Monsieur chasse (Herrenjagd) von Feydeau, das 1998 am Nationaltheater Mannheim unter der Regie von Dominik von Gunten ein einziges Mal aufgeführt wurde. 1986 folgten die Übersetzungen von Feydeaus wohl bekanntestem Stück Le dindon (Der Gockel), das 1987 am Stadttheater Würzburg von Vlad Mugur inszeniert wurde, und von La Puce à l ’ oreille (Floh im Ohr), das 1987 am Schauspiel Bonn unter der Regie von Nikolaus Büchel zur Aufführung gelangte. Im Jahre 1990 erstellte Jelinek die Übersetzung von La Dame de chez Maxim (Die Dame vom Maxim), die Rosemarie Fendel 1991 als Textgrundlage für ihre Inszenierung am Baadischen Staatstheater Karlsruhe verwendete. Jelineks Übertragung von Labiches Affaire de la rue de Lourcine (Die Affaire Rue de Lourcine) erschien 1988 als Erstdruck im Programmheft der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Ein weiteres Stück Labiches (La poudre aux yeux), bislang nur als Bühnenmanuskript unter dem Titel Der Bewerb oder Sand für die Augen erschienen, wurde 1988 übersetzt. 6 Der Erfolg der Übersetzungen Jelineks verdankt sich also einer glücklichen verlegerischen Intuition. Ute Nyssen und Jürgen Bansemer verfügen offenbar über jenen Instinkt, der notwendig ist, um die verbleibenden Marktlücken im Konkurrenzkampf der Neuerscheinungen durch originelle Produktionen zu schließen. So ließen denn auch die Reaktionen nicht lange auf sich warten. Insbesondere Die Affaire Rue de Lourcine wurde von den Kultur-Korrespondenten der einschlägigen Feuilletons zum Gegenstand des Interesses erhoben. Rolf Michaelis attestierte beispielsweise in einem in der Wochenzeitung DIE ZEIT erschienenen Artikel, «daß Labiche anders ist,» 7 anders als Millowitsch & Co, der durch seine überbordende Heiterkeit dem «Schenkelklopftheater» alle Ehre machte. Für dieses Anderssein habe Klaus- Michael Grüber, der «düstere Visionär apokalyptischer Szenarien,» 8 mit seiner Inszenierung einen überzeugenden Beweis erbracht. «Ein Triumph der Schaubühne, ganz ohne Spektakel-Lärm. Ein großer kleiner Abend des Theaters am Ende einer kargen Saison.» 9 Dabei empfand der Journalist die 5 Ebd. 6 Vgl. hierzu: Janke, Pia & Student(Innen): Werkverzeichnis Elfriede Jelinek. Wien: Praesens 2004, S. 298 - 303. 7 Michaelis, Rolf: Leiser Donner. In: DIE ZEIT [Hamburg] 01. 07. 1988 (http: / / www.zeit. de/ 1988/ 27/ leiser-donner, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 8 Ebd. 9 Ebd. 12 <?page no="13"?> unmittelbare Nähe zum Horrorstück als faszinierend: «Was als Clownerie beginnt, verwandelt sich in einen Krimi, in ein Mordstück, in die - eben noch vermiedene - Tragödie.» 10 Die von Michaelis verfasste Rezension ist als Beispiel für das aufflammende Interesse an einer Gattung zu werten, die in erster Linie für die Bühne bestimmt ist. Der Grund, weshalb Autoren wie Labiche und Feydeau zunehmend ins Blickfeld geraten, ist darin zu sehen, dass sie eine Lücke schließen, die von der deutschsprachigen Komödie bisher nicht ausgefüllt werden konnte. Anders als beispielsweise die Literaturkomödien der Romantik wurden die Stücke des Vaudeville ausschließlich im Hinblick auf die unmittelbare Aufführbarkeit geschrieben. Das brüllende Gelächter des Publikums war für die Vertreter des Genres Anlass, die Dynamik ihrer Texte durch treffsichere Rhythmik zu vertiefen. Ein Gedanke, der sich in der Literatur zum bürgerlichen Lachtheater 11 noch nicht durchsetzen konnte, bezieht sich auf die in französischsprachigen Untersuchungen vorgenommene Unterscheidung zwischen Vaudeville- und Boulevard-Dramatik, 12 eine Unterscheidung, die es im einleitenden Teil dieser Arbeit zu erläutern gilt. Fürs erste bleibt an dieser Stelle festzuhalten: Jelineks Übersetzungen haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass die heitere Dramatik von den «Brettern, die die Welt bedeuten» nicht wegzudenken ist. Um so dringlicher muss dem oft zu hörenden Vorwurf nachgegangen werden, wonach die einschlägige Forschung die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Formen des Lachtheaters scheut. Das «Theater zum Lachen» 13 - so die Klage - sei «so sehr aus seiner Rolle gedrängt [worden], daß wir bereits beginnen, es als rara avis zu betrachten, als seltsame Skurrilität, wert, mit wissenschaftlichem Fleiß unter die Lupe genommen zu 10 Ebd. 11 Der Begriff «Lachtheater» wurde von Volker Klotz geprägt. So heißt es in seiner Untersuchung über das Bürgerliche Lachtheater: «Lachtheater meint mehr und anderes als Komödie und Lustspiel. Mehr: Daß darunter nicht nur Stücke fallen, die das Markenzeichen ‹ Komödie › oder ‹ Lustspiel › tragen, sondern auch Possen, Schwänke und Operetten. Es geht also um einen breiteren Zuspruch dessen, was als heitere Dramatik großen Zuspruch fand und teilweise noch findet. Anderes: Daß es Stücke sind, die allererst für die Bühne bestimmt sind.» (Bürgerliches Lachtheater: Komödie, Posse, Schwank, Operette. Heidelberg: Winter 2007, S. 12). Zwar wird in dieser Begriffsdefinition die Gattung «Vaudeville» nicht explizit erwähnt, doch möchte ich sie auch als eine Form des Lachtheaters verstanden wissen. 12 Vgl. hierzu: Gidel, Henri: Le vaudeville. Paris: Presses universitaires de France 1986 (= Que sais-je? ). Corvin, Michel: Le théâtre de boulevard. Paris: Presses universitaires de France 1989 (= Que sais-je? ). 13 Auch dieser Begriff ist auf Klotz zurückzuführen. Vgl. hierzu: Bürgerliches Lachtheater, S. 12. 13 <?page no="14"?> werden.» 14 Diese Aussage, die einem Artikel aus den sechziger Jahren entnommen wurde, ist nach wie vor berechtigt, zumal es nicht eines gewissen Reizes entbehrt, sich mit einem Vogel zu beschäftigen, der gleich über zwei Fertigkeiten verfügt: das Singen und das Sprechen. Während gemeine Vögel (lat. «abiectae aves») sich bekanntlich nur auf die eine Fertigkeit konzentrieren können, stellt sich das komische Tier, das mich hier in Anspruch nehmen wird, als multimediales Talent der ganz besonderen Art dar. Als «zweisprachiges» Wesen, das ständig zwischen Sprech- und Singkanal hin und herspringt, weist es alle Qualitäten auf, die eine Schriftstellerin wie Elfriede Jelinek seit jeher fasziniert haben. Was Wunder, dass sie nicht müde wurde, speziell den Rhythmus nachzuempfinden, den dieses feine Wesen bei seinen komischen Darbietungen an den Tag legt. 14 Beer, Otto F.: Das Boulevardtheater ist nicht tot. In: DIE ZEIT [Hamburg] 14. 12. 1962 (http: / / www.zeit.de/ 1962/ 50/ das-boulevardtheater-ist-nicht-tot, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 14 <?page no="15"?> I Einleitung Forschungsarbeiten zu Übersetzungen von Schriftstellern liegt die Auffassung zugrunde, dass «der Übersetzung und dem Vergleich zwischen Original und Übersetzung besondere Einsichten über die in den Texten repräsentierten Kulturen abgewonnen werden können.» 1 Zu diesen «besonderen Einsichten» gelangt der Interpret dadurch, dass er fundamentale Unterschiede zwischen Original und Übersetzung zu erkennen glaubt. In dieser Hinsicht halten gerade die von Schriftstellern verfassten Übersetzungen für den Interpreten eine Fülle von interessantem Material bereit, was sich auf die Besonderheit des Rezeptionsvorgangs zurückführen lässt. Denn anders als bei Berufsübersetzern, die ihre Praxis als reproduzierende Tätigkeit verstehen, nehmen Schriftsteller ihre Übersetzungstätigkeit als künstlerische Aufgabe wahr, als Anlass für eine eigene Produktion, die ihrerseits eines Rezipienten bedarf. Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich viele Untersuchungen mit so genannten «Gegenübersetzungen» 2 befassen, mit Übertragungen, die sich durch eine «lockere» Bindung an die Vorlage und häufig sogar durch eine andere thematische Schwerpunktsetzung auszeichnen. So geht der bekannte Anglist und Übersetzungstheoretiker Norbert Greiner in einer Studie den Abweichungen in Peter Handkes Übersetzung von The Last Gentleman des amerikanischen Autors Walker Percy nach, «da man an ihnen zeigen [kann], wie sich einerseits ein Profil derartiger Abweichungen abzeichnet, und andererseits aus diesem Profil eine neue Textgestalt ergibt, die zentrale thematische Bereiche des Originals verändert.» 3 Angesichts der Fülle solcher Untersuchungen entsteht zuweilen der Eindruck, dass der übersetzende Schriftsteller schon «von Berufs wegen» das Recht für sich in Anspruch nimmt, grundsätzliche Änderungen am Originalwerk vorzunehmen. Professionelle Übersetzer scheinen von diesem Recht ausgeschlossen zu sein, ihre Arbeiten haben dem Prinzip der Adaption zu genügen, kreative Vorstöße, wie sie von vielen Schriftstellern vorgenommen werden, sind für sie nur in Form minimaler Abweichungen denkbar. Auf die Frage, ob kreative Vorstöße überhaupt zulässig sind, scheint die Forschung nur eine Antwort zu kennen, nämlich die, dass dem übersetzenden 1 Greiner, Norbert: Übersetzung und Literaturwissenschaft. Tübingen: Narr 2004 (= Grundlagen der Übersetzungsforschung), S. 111. 2 Vgl. hierzu: Harbusch, Ute: Gegenübersetzungen. Paul Celans Übertragungen französischer Symbolisten. Göttingen: Wallstein 2005. 3 Greiner: Übersetzung und Literaturwissenschaft, S. 114. 15 <?page no="16"?> Schriftsteller alle Freiheiten zustehen, weil er «im Vorgang des Übersetzens eine Tätigkeit [findet], die derjenigen des kreativen Schreibens ähnelt und diese ergänzt.» 4 Tatsächlich kann der Übersetzungsprozess dazu beitragen, die eigene Produktionsaktivität zu fördern. Stefan Zweig beispielsweise schrieb in seinen Die Welt von Gestern genannten Erinnerungen, dass er - dem Rat eines Freundes folgend - die Zeit nütze, «um aus fremden Sprachen zu übersetzen, was ich noch heute für die beste Möglichkeit für einen jungen Dichter halte, den Geist der eigenen Sprache tiefer und schöpferischer zu begreifen.» 5 In einer Zeit, in der die eigene Produktionslust bedenklich dahinschmolz, übersetzte er Gedichte von Baudelaire, Verlaine, Keats, William Morris, ein Drama von Charles van Lerberghe, einen Roman von Camille Lemonnier. Dieser Aufgabe konnte der junge Schriftsteller deshalb viel abgewinnen, weil ihm die «Vermittlung erlauchten Kulturguts» 6 die Gelegenheit bot, «der fremden Sprache zäh das Eigenste abzuzwingen und der eigenen Sprache ebenso plastisch aufzuzwingen.» 7 Die Frage, warum Jelinek die Werke Labiches und Feydeaus übersetzt hat, lässt sich allerdings nicht einfach mit dem Hinweis abtun, das französische Vaudeville stelle für die Schriftstellerin ein wunderbares Experimentierfeld dar, auf dem sie ihrem Schreibdrang nach Lust und Laune frönen könne. Das Selbstverständnis dieser Autorin schließt aus, sich etwa als «Vermittlerin erlauchten Kulturguts» zu betrachten. Doch warum fühlt sich Jelinek ausgerechnet von jenen beiden Vaudevillisten angezogen, die in Deutschland mit seichtem Boulevard assoziiert werden? Für sie stellt die Auseinandersetzung mit Labiche und Feydeau künstlerisches Neuland dar. Aus dem Bewusstsein, völlig unbetretene Pfade zu begehen, unternimmt sie den Versuch einer übersetzerischen Annäherung, eine Vorgehensweise, die - methodisch gesehen - unproblematisch ist, da ja mit der Übersetzung ein Originaltext vorliegt, eine Nachdichtung, die als solche «ein ebenso komplexes wie disparates Beziehungsgefüge von klanglichen, rhythmischen [und] metaphorischen Komponenten» 8 darstellt wie der Ausgangstext. Um das Verhältnis von Original und übertragenem Text zu beschreiben, greift Jelinek auf eine Metapher zurück: «Die Übersetzung» - so die Autorin in einem Gespräch mit Claudia Augustin - «schmiegt sich an das Original wie 4 Ebd., S. 112. 5 Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. [1944]. Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 143 - 144. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ingold, Felix Peter: Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur. München: Fink 2004, S. 236. 16 <?page no="17"?> das Lamm an den Wolf.» 9 Die tiefere Bedeutung dieses Vergleichs lässt sich erschließen, wenn man sich das in der Aesopischen Fabel tradierte Gespräch zwischen den beiden Tieren vergegenwärtigt: Ein Wolf trank aus einem Bach. Da sah er weiter unten ein Lamm im Wasser planschen. «Ich muss einen Grund finden, um es zu töten», dachte er. Er dachte einen Augenblick nach. Dann schrie er: «Du dummes Geschöpf! Wie kannst du es wagen, in meinem Trinkwasser herumzuplanschen! Du machst es mit deinen dummen Füßen ganz schmutzig! » «Verzeih mir, Herr», sagte das Lamm. «Aber ich wüsste nicht, wie das möglich sein sollte. Das Wasser fließt doch von dir zu mir und nicht umgekehrt. Was ich hier unten treibe, kann dich dort oben doch nicht stören.» 10 Der oben am Bach trinkende Wolf, der dem Lämmchen Todesängste einflößt, steht für das unnahbare Original, für das bedeutende Kunstwerk, dem sich der Übersetzer völlig unterzuordnen hat. Das Lämmchen dagegen darf sich glücklich schätzen, wenn es überhaupt im gleichen Wasser planschen darf, aus dem der Wolf zuvor getrunken hat. Auf die Übersetzung übertragen bedeutet dies: Während das Original in selbstherrlicher Manier nur auf sich verweist, «labt» sich der Übersetzer an der Quelle, die sich aus dem Ausgangstext ergießt. Gleichzeitig macht die Metapher deutlich, dass Ausgangstext (Wolf) und Übersetzung (Lamm) ein Gegensatzpaar bilden, das unterschiedlicher nicht sein kann. Doch gerade die Differenz macht den eigentlichen Reiz der Begegnung zwischen Autor und Übersetzer aus. Sie kann im günstigsten Fall zur Folge haben, dass der Übersetzer zum Co-Autor avanciert, dass das Lämmchen sich zu einem prächtigen Schaf entwickelt. «So wie beim Theater der Regisseur der Co-Autor ist, ist bei einer guten Übersetzung der Übersetzer auch ein Co-Autor,» 11 gibt Jelinek in dem bereits erwähnten Gespräch zu Protokoll. Ein solcher Co-Autor muss allerdings der Versuchung widerstehen, den Wolfspelz anzulegen, d. h. die eigene Sprache über die des Ausgangswerkes zu stellen. Seine Aufgabe besteht darin, sich dem Ausgangstext anzuschmiegen, ihn in behutsamer Annäherung zu umschmeicheln - in der Hoffnung, das Original möge sich diesen «Streicheleinheiten» nicht entziehen. Jelinek dazu: «Wenn ich eine einmalige Übersetzung eines [. . .] großen Werkes machen darf, dann verleugne ich mich, dann nehme ich mich total zurück. Das heißt aber nicht, dass nicht mein Sprachrhythmus unbewusst trotzdem eingeflossen wäre bzw. einfließen wird.» 12 9 Jelinek, Elfriede: «Die Übersetzung schmiegt sich an das Original wie das Lamm an den Wolf.» Elfriede Jelinek im Gespräch mit Claudia Augustin. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 29/ 2, 20. Dezember 2004, S. 94 - 106. 10 Aesop/ Spriggs, Ruth: Die Fabeln des Aesop. 142 Erzählungen. Ausgewählt und nacherzählt von Ruth Spriggs. Nürnberg: Tessloff 1980, S. 76. 11 Jelinek: «Die Übersetzung schmiegt sich an das Original wie das Lamm an den Wolf», S. 101. 12 Ebd. 17 <?page no="18"?> Der Hinweis auf den weiterhin eigenen Sprachrhythmus ist insofern interessant, als in den Stücken Labiches und Feydeaus der Rhythmus eine essenzielle Tätigkeit darstellt, die es nicht nur für den Übersetzer, sondern auch für den Interpreten «zu entdecken, herauszuhören gilt.» 13 Dies ist ein Kerngedanke, der als Leitfaden die gesamte vorliegende Arbeit durchziehen wird. Dabei gehe ich von der Voraussetzung aus, dass für Jelinek gerade die im französischen Vaudeville wirksame Art der Rhythmisierung die Attraktivität von Stücken wie L ’ affaire de la rue de Lourcine (Labiche) und La Dame de chez Maxim (Feydeau) ausmacht. Wer aber vom Primat des Rhythmus ausgeht, der setzt sich - sei es bewusst oder unbewusst - mit allen Ausdrucksmöglichkeiten eines Textes auseinander, «denn der Rhythmus realisiert sich im Text durch die systemischen Beziehungen zwischen den Signifikanten.» 14 Für die Vorgehensweise dieser Arbeit gilt demnach das Prinzip, das Augenmerk besonders auf das Textsystem der zu untersuchenden Dramen zu richten, also auf die Frage, «wie ein Text Wahrnehmungen, Wertungen und Haltungen schafft.» 15 Dabei leite ich meine Beobachtungen aus folgenden Primärquellen ab: → Feydeaus La Dame de chez Maxim und Labiches L ’ affaire de la rue de Lourcine; → Jelineks Übersetzungen dieser Texte; → Grübers Inszenierung von Die Affaire der Rue de Lourcine; → Jelineks Theaterstücke Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften und Raststätte oder Sie machens alle. Befremdlicherweise hat die Forschung bisher den Wert von Jelineks Übertragungen des französischen Vaudeville kaum gewürdigt. Zwar verfasste Birgit Oberger eine allgemeine Einführung, 16 deren erklärtes Ziel darin besteht, «Elfriede Jelineks Schaffen als Übersetzerin einem breiteren Publikum näher zu bringen,» 17 doch finden in diesem Werk die Übersetzungen der Stücke Labiches und Feydeaus nur kurze Erwähnung. Auch ein von mir verfasster Artikel, 18 der die Übersetzungen Jelineks 19 im Kontext ihrer schriftstellerischen Tätigkeit analysiert, lässt noch viele Fragen offen. Wie lässt sich diese Forschungslücke erklären? Ein Grund dürfte darin bestehen, dass es 13 Lösener, Hans: Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse. München: Fink 2006, S. 67. 14 Ebd., S. 68. 15 Ebd. 16 Oberger, Birgit: Elfriede Jelinek als Übersetzerin. Eine Einführung. Frankfurt a. M./ Berlin/ Brüssel: Lang 2008 (= Europäische Hochschulschriften 120). 17 Vgl. hierzu den Klappentext. 18 Costa, Béatrice: Labiche et Feydeau traduits par Elfriede Jelinek. In: Translatio in fabula. Enjeux d ’ une rencontre entre fictions et traductions, Nr. 130, 2010, S. 205 - 225. 19 Jelinek hat nicht nur Vaudevillestücke übersetzt, sondern auch Pynchons Gravity ’ s Rainbow (1973) und Marlowes Famous Tragedy of the Rich Jew of Malta (2001). 18 <?page no="19"?> sich bei Jelineks Übersetzungen des französischen Vaudeville um Auftragsarbeiten 20 handelte, die - zumindest anfangs - nicht unter der Prämisse eines hehren literarischen Konzeptes standen, sondern durch finanzielle Engpässe bedingt waren, die die Autorin durch das Übertragen publikumswirksamer Texte zu beheben suchte. Dennoch haben gerade diese Vaudevillestücke Jelinek in ihrem eigenen schriftstellerischen Schaffen nachhaltig beeinflusst. So originell ihre Theaterästhetik sein mag, bei genauer Prüfung erweist sich, dass gewisse Erscheinungen, die von einigen Interpreten als noch nie zuvor dagewesene postdramatische Tendenzen eingestuft werden, in Wirklichkeit lediglich die Weiterführung von Verfahrensweisen sind, um die in anderen literarischen Epochen nicht viel Aufhebens gemacht wurde. Insbesondere die beiden Theatertexte Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften und Raststätte oder Sie machens alle enthalten Reminiszenzen an die Ästhetik des Vaudeville. Es lässt sich kaum leugnen, dass Jelineks Auseinandersetzung mit Labiche und Feydeau beflügelnde Effekte für ihre eigenen Texte hatte. Von diesen Überlegungen ausgehend, werde ich den Blick auf vier unterschiedliche Themenkomplexe fokussieren, die jeweils andere Fragestellungen ins Blickfeld rücken: 1) Der erste Themenkomplex umfasst die Analyse zweier Theatertexte: Feydeaus La Dame de chez Maxim und Labiches L ’ affaire de la rue de Lourcine, Werke, die für das Schaffen beider Autoren besonders repräsentativ sind. In methodischer Hinsicht lege ich den von Hans Lösener entwickelten Ansatz des systemischen Lesens zugrunde, eine an die sprachtheoretischen Reflexionen Meschonnics anknüpfende Lesepraxis, die die «sinnmachende Dimension des Rhythmus» 21 in den Vordergrund stellt. In terminologischer Hinsicht greife ich auf Löseners Begrifflichkeit und (an dezidierten Stellen) auf die Analysekategorien Manfred Pfisters zurück. 22 Da allerdings Löseners Ansatz Fragen der intertextuellen Verflechtung nur am Rande berührt, soll er durch das von Gérard Genette entwickelte Intertextualitätskonzept ergänzt und bereichert werden. Was die Anordnung der Stücke anbelangt, so muss an dieser Stelle kurz angemerkt werden: Obwohl Feydeau (1862 - 1921) in der Nachfolge Labiches (1815 - 1888) steht und nicht umgekehrt, habe ich mich dennoch dazu entschieden, zunächst La Dame de chez Maxim und danach L ’ affaire de la rue de Lourcine zu analysieren, eine Entscheidung, die mit der Konzeption des dritten Themenkomplexes zusammenhängt, in dem untersucht werden soll, wie die beiden Vaudevillestücke in der Ausgangsbzw. in der Zielkultur inszeniert wurden. 20 Vgl. hierzu die Ausführungen im Vorwort meiner Arbeit. 21 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 187 - 188. 22 Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Fink 2001 (= UTB 580). 19 <?page no="20"?> 2) Im Rahmen des zweiten Themenkomplexes werden die von Jelinek angefertigten Übersetzungen jener Vaudevillestücke untersucht, die im Rahmen des ersten Themenkomplexes einer eingehenden Analyse unterzogen worden sind. Als methodische Grundlage dient die von Henri Meschonnic entwickelte Übersetzungspoetik, 23 in deren Zentrum der Rhythmus steht. 3) Die im dritten Themenkomplex aufgeworfenen Fragen beziehen sich auf die Analyse der Affaire in der Inszenierung von Klaus-Michael Grüber. Als Vergleichsbasis und in dem Bemühen, die Voraussetzungen für das Verständnis einer ausgangssprachlichen Produktion zu schaffen, werde ich zunächst auf einige Rezeptionsaspekte einer französischen Produktion von La Dame de chez Maxim eingehen. Anschließend soll anhand von Grübers Inszenierung zum einen analysiert werden, wie deutsche Regisseure mit dem Vaudeville umgehen (d. h. auf welche Weise die komischen Effekte transponiert werden) und zum anderen, inwiefern die Bedingungen der Inszenierung Einfluss auf das Stück selbst und seine Rezeption ausgeübt haben. Grübers Affaire hat jedenfalls - so viel darf an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden - maßgeblich dazu beigetragen, dem Stück Labiches einen festen Platz im deutschen Theaterrepertoire zu sichern. 4) Mit dem vierten Themenkomplex wird das Augenmerk auf «eine Lektüre der intimen Auseinandersetzung» 24 Elfriede Jelineks mit dem französischen Vaudeville gerichtet. Anhand ihrer Theatertexte Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften und Raststätte oder Sie machens alle soll untersucht werden, ob ihre intensive Beschäftigung mit dem Genre Spuren in ihrem eigenen dramatischen Werk hinterlassen hat. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass ihre übersetzerische Tätigkeit «nicht einfach die Übertragung und Wahrung eines bereits festliegenden Sinns in eine andere Sprache [bedeutet], sondern einen selbst originären Prozess der Sinngebung [darstellt], der sich mit Kristevas Begriff der Intertextualität vergleichen lässt.» 25 Anders formuliert: Das Übersetzen stellt für Jelinek eine Tätigkeit dar, bei der nicht nur einzigartige Einsichten in die sprachlichen Strukturen von Original und Übersetzung entstehen, sondern auch Einblick in anders geartete literarische und philosophische Grundpositionen gewährt wird. Im Laufe des Übersetzungsprozesses unternimmt Jelinek eine Prüfung ihrer Stellung innerhalb der literarischen Tradition, wozu u. a. auch die Beschäftigung mit den von den beiden Vaudevillisten entwickelten 23 Meschonnic, Henri: Poétique du traduire. Lagrasse: Verdier 1999. 24 Harbusch: Gegenübersetzungen, S. 7. 25 Hennig, Thomas: Intertextualität als ethische Dimension: Peter Handkes Ästhetik nach Auschwitz. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 144. 20 <?page no="21"?> Aspekten der Komik gehört. Klärung verlangt also nicht nur die Frage, ob der dem Genre des Vaudeville eigene Sprachrhythmus seinen Niederschlag in den Stücken Jelineks findet, sondern auch, ob die den Werken Labiches und Feydeaus zugrunde liegende Theaterpoetik Auswirkungen auf die ästhetischen Auffassungen von Jelinek zeitigt. Die von mir gewählte Themenstellung birgt die Schwierigkeit, dass es angesichts der im Bereich der Forschung bestehenden Heterogenität der Analysekategorien kaum vorstellbar ist, die einzelnen Ansätze als zusammenschauende «Einheit der Gegensätze» aufzufassen. Ich werde daher nicht an den Anfang dieser Arbeit ein umfangreiches theoretisches Kapitel stellen, das - wie in ähnlichen Untersuchungen üblich - die methodischen Grundlagen für einen integralen Ansatz liefert. Vielmehr soll zu Beginn eines jeden Themenkomplexes der jeweils passende methodische Ansatz dargestellt werden, 26 wobei die praktische Anwendung der theoretischen Annahmen gelegentliche Anpassungen notwendig macht. Eine solche Vorgehensweise dürfte nicht nur die Lektüre der vorliegenden Untersuchung vereinfachen, sondern auch die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes «Literarische Übersetzung» deutlich machen. Allerdings bedeutet Heterogenität nicht Willkür der zugrunde gelegten Analysekategorien. Der Ariadnefaden der vorliegenden Arbeit ist der Rhythmus, den ich - in Anlehnung an die Formulierung Löseners - als «jeweilige Bewegung des Sprechens in der geschriebenen oder gesprochenen Rede» 27 verstehe. Diese Definition geht auf den französischen Sprach- und Literaturwissenschaftler Henri Meschonnic zurück, dessen Sprachtheorie «die Sprache als Sprachtätigkeit vom Rhythmus her denkt, vom Rhythmus als semantischem Organisationsprinzip des Äußerungsaktes.» 28 Mit dem gesonderten Hinweis auf die Theorie Meschonnics sollen nicht nur die Umrisse für ein theoretisches Gerüst beleuchtet werden; es geht mir auch darum, den eventuell auftretenden Vorwurf zu entkräften, dass die aus den einzelnen Themenkomplexen sich ergebenden Interpretationsfragen nicht alle in der Weise Beachtung finden, wie dies in Einzeluntersuchungen üblich ist. Zwar bezieht sich - wie ja auch der Titel nahelegt - die Thematik meiner Arbeit auf Elfriede Jelinek und das französische Vaudeville, doch die Frage, ob die von Meschonnic/ Lösener entwickelte Begrifflichkeit gleichermaßen auf die Systeme «Text», «Übersetzung» und «interkulturelle Inszenierung» übertragbar ist, stellt für mich einen ebenso untersuchenswerten Aspekt dar. 26 Im vierten Themenkomplex wird der methodische Ansatz nicht eigens vorgestellt, da die hier verwandten theoretischen Implikationen dieselben sind wie im ersten Themenkomplex. 27 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 67 und S. 93. 28 Ebd., S. 67, Hervorhebung im Original. 21 <?page no="22"?> Zum Schluss der Einleitung noch eine grundsätzliche Bemerkung zum Titel der Arbeit (Elfriede Jelinek und das französische Vaudeville), der - wie auf den ersten Blick erkennbar - in zwei Segmente zerfällt: - S1: Elfriede Jelinek - S2: das französische Vaudeville. So sehr die in diesen beiden Segmenten angesprochenen Untersuchungsgegenstände miteinander verwoben sind, so sehr möchte ich die Werke Feydeaus und Labiches als eigenständige literarische Werke verstanden wissen, die als solche eine einmalige literarische Komplexität aufweisen. Aus dem Wunsch heraus, mit meiner Untersuchung zu einer Rehabilitierung der Gattung «Vaudeville» beizutragen, habe ich eine Herangehensweise gewählt, die den Werken dreier bedeutender Autoren gerecht werden soll: Georges Feydeau, Eugène Labiche und Elfriede Jelinek. Der «politischen Korrektheit» wegen sei noch darauf verwiesen, dass in meiner Untersuchung die männliche Schreibform lediglich aus Gründen leserfreundlicher Textgestaltung gewählt wurde. Ausnahmen sind kenntlich gemacht. 22 <?page no="23"?> II Zur Gattung «Vaudeville» Boulevardthemen interessieren mich nicht, ich kenne das Genre überhaupt nicht. (Der Dramatiker Bernard-Marie Koltes in einem Spiegel-Gespräch über seine Stücke) 1 Als zu Beginn des Jahres 2014 Präsident François Hollande eine politischwirtschaftliche Wende einläuten will, wird sein Elan durch die Gerüchte über seine Affaire mit der Schauspielerin Julie Gayet geschwächt. Selbst seriöse Zeitungen lassen es sich nicht nehmen, pikante Details über das Liebesleben eines Politikers zu verbreiten, der mit dem Anspruch angetreten war, einen unprätentiösen Gegenentwurf zu seinem Vorgänger - dem als überspannt geltenden Nicolas Sarkozy - zu bilden. Einhellig betont wird seitens der Journalisten, dass der Präsident mit seinen außerehelichen Eskapaden in vaudevilleskes Fahrwasser geraten sei. Hollande habe das Präsidentenamt in Misskredit gebracht, weil ihm - im Strudel der Begehrlichkeit - das Augenmaß abhanden gekommen sei. So schreibt etwa die Wochenzeitschrift L ’ Express in Anspielung auf Hollandes Wahlversprechen: «Avec ce moment de vaudeville, il est difficile de ne pas sourire en relisant: ‹ Moi, président de la République, je ferai en sorte que mon comportement soit en chaque instant exemplaire › .» 2 Die Heranziehung der Vaudeville-Metapher ist insofern interessant, als hiermit deutlich wird, dass das Genre im kulturellen Gedächtnis der Franzosen tief verankert ist. Auch wenn die einschlägige Forschung die Antwort auf eine umfassende Definition des Vaudeville bislang schuldig geblieben ist, lässt sich kaum leugnen, dass gerade das Theater Feydeaus in Frankreich einen Stellenwert einnimmt, der als zentrale Bezugsgröße fungiert. So soll im Folgenden versucht werden, die kulturelle Genese des Vaudeville, die bis ins 15. Jh. zurückreicht, überblickshaft nachzuzeichnen. 1 Matussek, Matthias/ Von Festenberg, Nikolaus: Ich fühle mich völlig verraten. In: Der Spiegel [Hamburg] 24. 10. 1988 (http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-13531829. html, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 2 Karlin, Élise: Hollande. Le discrédit. In: L ’ Express, Nr. 3263, 15. Januar 2014, S. 38 - 48, S. 40. 23 <?page no="24"?> Ursprünge des Vaudeville Für den Begriff «Vaudeville» lässt sich eine Entwicklung von vaudevire (15. Jh. bis zu Beginn des 17. Jhs.) über voix de ville (überwiegend 16. Jh.) zu vaudeville (seit dem 16. Jh.) nachweisen. Der älteste Name, «vaudevire», steht für einen einstimmigen Gesang, der von den «Compagnons gallois», einer im Vire-Tal (Normandie) angesiedelten literarisch-musikalischen Gesellschaft, zur Blüte gebracht wurde. Er kann - allem Anachronismus zum Trotz - als ein Genre bezeichnet werden, das eine Frühform des französischen Schlagers darstellt. So tun sich die Vaudevire durch eine eingängige und von jedermann leicht nachzusingende Melodienführung hervor. Ähnlich wie bei der Troubadourlyrik wurden die oftmals satirischen Texte in zahlreichen Variationen vorgetragen, wobei das satirische Verfahren sich vor allem deshalb durchsetzte, weil es « - außer der Beachtung der musikalischen Prosodie [. . .] und vielleicht noch des spezifischen Melodieaffekts - keiner größeren musikalischen Anstrengungen und Kompetenzen des Chansondichters» 3 bedurfte. Eine erste Voraussetzung für die Wirkung des Genres war, dass die Hörer/ Zuschauer sowohl mit der einschlägigen Melodie (die als «Ohrwurm» für besondere Nachhaltigkeit sorgte) als auch mit den Ursprungstexten vertraut waren. Als (umstrittener 4 ) Begründer des Vaudevire gilt der normannische Volksdichter Olivier Basselin (1403 - 1470), der als Erster Texte zu einem festen musikalischen Repertoire verfasst haben soll. Für die «Wiederverwendung von Melodien und die variable Zuschreibung von Text und Melodie» 5 stehen zudem Namen wie Baïf, Ronsard, Certon und Sermisy, deren Kompositionen vor allem «im sozialen Leben, etwa in der Moralkritik, in der Darstellung von Modeerscheinungen, in den großen Bereichen der Liebeslyrik, der Tafel- und Trinklieder, des Freimaurerliedes» 6 Verwendung fanden. Eine zweite Voraussetzung für die Wirkung des Genres ist durch den Aspekt der Architextualität gegeben, der - unter Berufung auf die Definition Gérard Genettes - die gattungsspezifischen Merkmale eines Textes umfasst. Zu diesen Merkmalen gehört, dass der Erwartungshorizont des Hörers/ 3 Vickermann-Ribémont, Gabriele: Spielarten des Chansons: Vom 15. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution. In: Vickermann-Ribémont: Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung. Tübingen: Narr 2003, S. 96 - 134, S. 98 - 99. 4 Lothar Matthes stellt in seiner Abhandlung die gängige Auffassung infrage, wonach das Genre des Vaudevire dem Komponisten Olivier Basselin zuzuschreiben ist. Vgl. hierzu: Vaudeville. Untersuchungen zu Geschichte und literatursystematischem Ort einer Erfolgsgattung. Heidelberg: Winter 1983. 5 Keilhauer, Annette: Musik-Text-Spiele: Parodie und Kontrafaktur im französischen Chanson der Renaissance. In: Hempfer, Klaus W./ Pfeiffer, Helmut (Hg.): Performanz und Inszenierung in der Renaissance. Stuttgart: Steiner 2002 (= Text und Kontext 16), S. 117 - 130, S. 117. 6 Schneider, Herbert (Hg.): Das Vaudeville. Funktionen eines multimedialen Phänomens. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms 1996 (= Musikwissenschaftliche Publikationen 7), S. 1. 24 <?page no="25"?> Zuschauers durch eine «anspielungsreiche Beziehung» zwischen Textinhalt und Liedmelodie geprägt ist. So hebt etwa Markus Bandur hervor, dass beim Vaudevire ein bestimmter Textinhalt mit einer Liedmelodie so stabil verknüpft [wird], dass ein neugeschaffener Text (oder mehrere), der auf diese Melodie gesungen wird, mit dem nun virtuellen Prätext in anspielungsreiche Beziehung treten kann. Diese Intertextualität ermöglicht ein beständiges Spiel mit Verweisen auf die mit der Liedweise ursprünglich verbundenen Verse und erlaubt ein subtiles Spiel von Anzüglichkeiten und Verspottung bis hin zu politischer Karikatur. 7 Das «subtile Spiel von Anzüglichkeiten und Verspottung» fand im 16. Jh. in den so genannten Voix de ville seine Fortsetzung, die als einstimmige Gesänge in volkssprachigen Bühnenwerken (moralité, farce, sotie usw.) zunehmend ihren festen Platz in der Welt des Theaters behaupteten. Die Ausbildung von Bühnenmelodien, die von Stadt zu Stadt («de ville en ville») weiter getragen wurden, eröffnete «ein neues Verhältnis zwischen Musik und Poesie und damit zugleich zwischen Dichtern und Komponisten.» 8 Im Gegensatz zu den polyphonen Meisterwerken der Renaissance, die ausschließlich einem Kennerpublikum vorbehalten waren, ermöglichte die Homophonie der Voix de villes den breitesten soziokulturellen Schichten einen aktiven Part bei der onstage-performance. Dieser Part bestand im Wesentlichen darin, dass der Rezipient zur Analogiebildung zwischen Musik und Text animiert wurde, wodurch eine verbale und eine vokale Dialogizität (Intertextualität) auf der Bühne aktiviert wurde. Nicht die Autorität des Textes, sondern das «Transitorische, Flüchtige der Aufführung wurde als das eigentliche Konstituens der neuen Gattung begriffen.» 9 Aus heutiger Sicht gibt das musikalische Engagement breiter Bevölkerungsschichten Anlass zum Staunen. Offenbar scheint das Theater damals in der Lage gewesen zu sein, spezifische Bedürfnisse zu befriedigen, die von keinem anderen Medium in derselben Weise bedient werden konnten. Es vermochte - um eine eingängige Formulierung von Peter Iden aufzugreifen - in den Menschen jenes «Potenzial an Phantasie, Antizipation, Einspruch und Kritik, Poesie und Realitätssinn, Anarchie und Amüsement [zu aktivieren], 7 Bandur, Markus: Rezension zu Powrie, Phil/ Stilwell, Robynn (Hg.): Changing Tunes. The use of Pre-existing Music in Film. In: Deutsches Volksliedarchiv (Hg.): Lied und populäre Kultur/ Song and Popular Culture. Münster/ New York: Waxmann 2001, S. 192 - 194, S. 194. 8 Keilhauer: Musik-Text-Spiele, S. 117. 9 Fischer-Lichte, Erika: Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe. In: Martschukat, Jürgen/ Patzold, Steffen (Hg.): Geschichtswissenschaft und performative turn. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Köln: Böhlau 2003 (= Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit), S. 33 - 54, S. 40. 25 <?page no="26"?> ohne das zu leben nicht gelingen kann.» 10 Dass nicht wenige Zuschauer zur Improvisation fähig waren und somit selbst schöpferisch tätig wurden, hat zweifelsohne zur Maximierung dieses Potenzials beigetragen. Die Voix de villes mochten «auf der direktesten und einfachsten Stufe des musikalischen Lebens» 11 angesiedelt sein, aufgrund ihres gleichermaßen anti-elitistischen wie kulturellen Anspruchs kam ihnen eine hohe integrative Funktion zu. Zu welchem Zeitpunkt genau der terminologische Wandel von Voix de villes zu Vaudeville stattgefunden hat, lässt sich nicht rekonstruieren. Schriftlich belegt ist der Begriff «Vaudeville» in einer Passage aus Boileaus Art poétique von 1674, die auch unter dem Stichwort «vaudeville» in der Encyclopédie von Diderot und d ’ Alembert aufgeführt ist. Aus den einschlägigen Zeilen geht hervor, dass die Gattung eine primär französische Erfindung ist, mache sich doch in ihr die «liberté française» bemerkbar, jenes «enfant du plaisir», das seine Daseinsberechtigung ausschließlich aus der Lebensfreude beziehe: Le Français né malin, forma le Vaudeville, Agréable indiscret qui, conduit par le chant, Passe de bouche en bouche et s ’ accroît en marchant. La liberté française en ses vers se déploie: Cet enfant du plaisir veut naître dans la joie. 12 Dass das Vaudeville, das seit dem 17. Jh. auf den Foires St. Germain und St. Laurent beheimatet ist, sich nicht nur dem «enfant du plaisir» verschreibt, sondern durchaus ein hohes literarisches Niveau anstrebt, sucht Diderot am Beispiel eines besonders poetischen Textes zu demonstrieren, in dem - so seine Formulierung - die gleichen zarten Empfindungen («autant de délicatesse») thematisiert werden wie im Minnelied: Si j ’ avois la vivacité Qui fit briller Coulange, Si j ’ avois aussi la beauté Qui fit régner Fontange, Ou si j ’ étois comme Conti 10 Zitiert nach: Wickert, Lena: «Das muss schon Samt sein - das verbindet man mit Theater.» Das Theater und sein Publikum. In: Huber, Nathalie/ Meyen, Michael (Hg.): Medien im Alltag. Qualitative Studien zu Nutzungsmotiven und zur Bedeutung von Medienangeboten. Berlin/ Münster: Lit 2006, S. 247 - 266, S. 249. 11 Strajnar, Julijan: Das Verhältnis zwischen Text und Melodie im Volkslied. In: Haid, Gerlinde/ Hemetek, Ursula/ Pietsch, Rudolf (Hg.): Volksmusik. Wandel und Deutung. Wien: Böhlau 2000 (= Schriften zur Volksmusik 19), S. 79 - 86, S. 80. 12 Diderot, Denis/ d ’ Alembert, Jean (Hg.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Par une société de gens de lettres. Bd. 35. Bern/ Lausanne: Sociétés typographiques 1781, S. 21. 26 <?page no="27"?> Des graces le modèle, Tout cela feroit pour Crequi, Dût-il m ’ être infidèle. 13 Auch Diderot ist - wie seinerzeit Boileau - davon überzeugt, dass die Gattung des Vaudeville nirgendwo anders so viele Blüten treibt wie in Frankreich: «Je crois cependant que notre nation l ’ emporte sur les autres dans le goût & dans le nombre des vaudevilles.» 14 Dieses Interesse lasse sich zurückführen auf die ausgeprägte Neigung der Franzosen zu Sinnesfreuden bzw. zur Satire und auf ihre unbändige Vitalität - alles Eigenschaften, die als Kulturtechniken einen wertvollen Beitrag zur Bewältigung der komplexen Probleme des menschlichen Daseins leisteten: «la pente des François au plaisir, à la satyre, & souvent même à une gaieté hors de saison, leur a fait quelquefois terminer par un vaudeville les affaires les plus sérieuses, qui commençoient à les lasser, & cette niaiserie les a quelquefois consolés de leurs malheurs réels.» 15 Heutige Untersuchungen fokussieren weniger auf «nationaltypische» Merkmale und belegen die herausragende Bedeutung der Aktualisierung jener Melodien, die im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts zum festen Bestandteil des kulturellen Lebens gehörten. Geradezu leitmotivisch wird hervorgehoben, dass die Vaudevillestücke zu einem erheblichen Teil von der mündlichen Tradition geformt wurden, 16 wobei davon auszugehen ist, dass die immer wiederkehrenden rhythmischen Muster der Erinnerungskapazität auf die Sprünge halfen. Nun darf an dieser Stelle nicht der Eindruck entstehen, dass neben der mündlichen nicht auch die schriftliche Tradition existierte. Ein Teil des auf offenen Bühnen dargebotenen Repertoires wurde in (wissenschaftlich noch wenig erschlossenen) Liedersammlungen fixiert. So erschien - wie einer Untersuchung von Herbert Schneider 17 zu entnehmen ist - die erste Vaudeville-Sammlung in den Jahren 1760 bis 1762. Der Beliebtheitsgrad des Chansonnier françois lässt sich an ihrem Umfang bemessen, der immerhin stolze 16 Bände beträgt. Typisch ist die Orientierung an der Textmarke, die als Hinweis auf die bekannte Melodie fungiert. Sie ist - aus der Notation «sur l ’ air de» und dem Namen eines bekannten Liedes bestehend - direkt unter der Überschrift des Vaudeville angebracht. In späteren Sammlungen wird dann «der erste Vers des ursprünglichen Texts einer Chansonmelodie als ‹ timbre › 13 Ebd. 14 Ebd., S. 22. 15 Ebd., Hervorhebung im Original. 16 Vgl. hierzu: Dufief, Anne-Simone: Le théâtre au XIXè siècle. Du romantisme au symbolisme. Rosny-sous-Bois: Bréal 2001 (= Amphi Lettres), S. 9. 17 Schneider, Herbert (Hg.): La clef des chansonniers. [1717]. Erweiterte kritische Neuausgabe. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms 2005 (= musikwissenschaftliche Publikationen 25). 27 <?page no="28"?> [. . .] bezeichnet und im Abdruck des neuen Texts nach dessen Titel als ‹ air › - Angabe angeführt.» 18 Satirische Hypertextualität Nicht zu Unrecht bemerkte Jean-Jacques Rousseau, dass sich - musikalisch gesehen - die Vaudevilles durch einen Mangel an Innovation auszeichneten: «L ’ air des vaudevilles est communément peu musical: comme on n ’ y fait attention qu ’ aux paroles, l ’ air ne sert qu ’ à rendre la récitation un peu plus appuyée; du reste on n ’ y sent, pour l ’ ordinaire, ni goût, ni chant, ni mesure.» 19 Bedenkt man allerdings, dass bei dieser Gattung nicht so sehr das Medium «Musik», sondern die Timbre-Praxis im Vordergrund stand, dann erscheint der von Rousseau hervorgehobene Mangel in völlig neuer Perspektive. Via Benutzung einer bekannten Melodie ging es den Vaudevillesängern um ein individuelles Timbre, um die ironische Inbezugsetzung eines Textes zu einem anderen, ein Verfahren, das sich - in Anlehnung an die Begrifflichkeit Gérard Genettes - unter dem Begriff «satirische Hypertextualität» 20 subsumieren lässt. Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts setzt sich zunehmend unter dem Namen «Vaudeville» eine Gattung durch, die als ausgereiftes Bühnenwerk mit musikalischen Einlagen eine Symbiose aus Text und Musik eingeht. Für das Genre weiterhin charakteristisch ist die Beibehaltung der «pratique des vaudevilles, c ’ est-à-dire des couplets détachés sur de véritables timbres.» 21 Das Mitdenken des Ausgangsliedes beim Anhören der aktualisierten Fassung erzeugt eine ironische Brechung, die auch auf den gesprochenen Teil des Vaudeville zurückwirkt. Durch ihren parodistischen Effekt bringen die musikalischen Einlagen unausgesprochene Dimensionen ins Spiel, die von schöpferischer Fantasie und gestalterischer Kraft zeugen. Zu diesem Zusammenspiel von Text und Musik schreibt der belgische Musikwissenschaftler Maurice Barthélemy: Chanter ‹ Au son de ce nom charmant, je sens que mon coeur se réveille › sur l ’ air Pata, pata, patapon, démontre, parmi cent autres exemples, que le théâtre de la foire a pour ressort l ’ ironie, une ironie qui s ’ affirme sans détours, d ’ une manière péremptoire. A un certain degré, le stade de la parodie étant dépassé, nous atteignons 18 Vickermann-Ribémont: Spielarten des Chansons, S. 99, Hervorhebung im Original. 19 Rousseau, Jean-Jacques: Oeuvres complètes. Band 3. Paris: Furne 1835, S. 54, Hervorhebung im Original. 20 Unter Hypertextualität ist - Genette zufolge - die Gesamtheit aller Relationen zu verstehen, die einen aktuell vorliegenden Text (den Hypertext) mit einem vorausgehenden Text (dem Hypotext) verbinden. Vgl. hierzu: Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 14 - 19. 21 Robinson, Philip: Beaumarchais et la nostalgie de la foire. In: Revue d ’ Histoire littéraire de la France, Nr. 4, Juli-August 2000, S. 1139 - 1148, S. 1145. 28 <?page no="29"?> le stade suprême de la dérision. Les auteurs du théâtre forain ont réussi [. . .] à substituer une vérité à une autre, à donner une dimension nouvelle, comme on dit aujourd ’ hui, à une réalité consacrée par le sentiment populaire. Par un esprit de fantaisie ‹ shakespearien › , pourrait-on dire, ils ont opéré une transmutation d ’ un ‹ donné › en un relevé d ’ essence supérieure. Cela n ’ a plus rien de populaire. Il s ’ agit ici de théâtre à l ’ état pur et les forains y sont arrivés par la musique. 22 Doch nicht nur im Hinblick auf die Einlagen weist das Vaudeville Formen von Musikalisierung auf. Auch auf der Ebene der Sprechsituation lässt sich feststellen, «que par sa nature, [le vaudeville] est d ’ essence musicale.» 23 Die «Tendenzen zu einer umfassenden Musikalisierung» 24 beziehen sich dabei auf «alle Komponenten, die Theater ausmachen,» 25 selbst auf den Handlungsverlauf, eine Komponente, die sich nur scheinbar einer musikalischen Vereinnahmung gegenüber als störrisch erweist. Hierzu Barthélemy: Fondé sur un canevas, [l ’ intrigue] s ’ élabore au cours de la représentation en brodant autour d ’ un fil directeur qui, très lâche, permet toutes les variations, tous les détours vers des perspectives inattendues, parfois saugrenues. C ’ est un théâtre qui se crée par juxtapositions. [. . .] C ’ est le théâtre à l ’ état pur, celui de la liberté. 26 Vaudeville versus Boulevardtheater Von einem solchen umfassend auf Text und Musik ausgerichteten Theater gilt es, eine eigenständige Traditionslinie zu unterscheiden, nämlich das so genannte «Boulevardtheater», das - auf der Nordostseite des «boulevard du Temple» beheimatet - einem in erster Linie bürgerlichen Publikum Kurzweil verschaffte. Dieses «Einlullungstheater», das zwar nicht auf musikalische Einlagen, aber auf die «pratique des vaudevilles» verzichtet, war durch keinen erkennbaren gesellschaftskritischen Anspruch gekennzeichnet. Stattdessen bediente es obsolete Klischees, um die Prinzipien der bürgerlichen Weltordnung zu bejahen. Mit der ihm eigenen Mischung aus triefend pathetischen Emotionen und praller Komik setzte es auf kulinarische Hör- und Seherlebnisse, wobei mit «kulinarisch» (ganz im Sinne Brechts) gemeint ist, dass die Zuschauer zu widerspruchsfreiem Konsum angehalten werden sollten. 22 Barthélemy, Maurice: L ’ opéra-comique des origines à la Querelle des Bouffons. In: Vendrix, Philippe (Hg.): L ’ opéra-comique en France au XVIIIè siècle. Liège: Mardaga 1992 (= Collection musique/ musicologie), S. 9 - 78, S. 74. 23 Ebd., S. 21. 24 Roesner, David: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson. Tübingen: Narr 2003 (= Forum modernes Theater/ Schriftenreihe 31), S. 21. 25 Zitiert nach: ebd., S. 11. 26 Barthélèmy: L ’ opéra-comique des origines à la Querelle des Bouffons, S. 21. 29 <?page no="30"?> Es ist denn wohl auch kein Zufall, dass das Boulevardtheater im Almanach des gourmands 27 als ein Ort gepriesen wird, «où l ’ on fait le plus agréablement possible la bonne digestion d ’ un excellent dîner.» 28 Schenkt man dem «kulinarischen Werk» Glauben, so waren nicht nur die Zuschauer des «Boulevard», sondern auch dessen Dichter guter Speise zugetan, der Appetit schien gar ein geeigneter Gradmesser für das Talent zu sein. Zum Beweis wird der Autor Pierre Yon Barre angeführt: «M. Barre est [. . .] non seulement un auteur distingué, un homme de goût, un excellent administrateur, c ’ est encore un convive fort aimable; heureux qui peut l ’ avoir à ses joyeux festins! mais c ’ est une chose fort difficile.» 29 Ein vehementer Gegner des Boulevardtheaters war Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, der in seinem berühmten Vorwort zu La folle journée ou le mariage de Figaro (1778), dem wohl bedeutendsten Vaudeville des ausgehenden 18. Jahrhunderts, 30 das Kulissenhafte des Boulevardtheaters mit scharfen Worten angreift: J ’ ai donc réfléchi que si quelque homme courageux ne secouait pas toute cette poussière, bientôt l ’ ennui des Pièces françaises porterait la nation au frivole opéracomique, & plus loin encor, aux Boulevards, à ce ramas infect de tréteaux élevés à notre honte, où la décente liberté bannie du Théâtre français, se change en une licence effrénée; où la jeunesse va se nourrir de grossières inepties, & perdre, avec ses moeurs, le goût de la décence & des chefs-d ’ oeuvre de nos maîtres. J ’ ai tenté d ’ être cet homme, & si je n ’ ai pas mis plus de talent à mes ouvrages, au moins mon intention s ’ est-elle manifestée dans tous. 31 Aus dieser Passage geht hervor, dass Beaumarchais die halbseidenen Gesellschaftskomödien, die allabendlich in den Theatern des «Boulevard du Temple» vorgeführt werden, nicht nur für den sittlichen, sondern auch für den literarischen Verfall verantwortlich machte. In der Hoffnung, jener Mann zu sein, der diesen Niedergang aufhalten könne, stellte er seine Theatertexte, 27 Reynière, Grimod de la: Almanach des Gourmands servant de guide dans les moyens de faire excellente chère. Par un vieil amateur. Paris: Cellot 1812. 28 Ebd., S. 139. 29 Ebd., S. 141. 30 Ich schließe mich hier dem Urteil von Jean Emelina an, der in seinem Artikel über die Komik Labiches Folgendes schreibt: «Tous les rires, comme toutes les douleurs et tous les espoirs, de Hugo à Allais, secouent [le 19è] siècle. Les hauts lieux du comique ne désemplissent pas: théâtres du Gymnase, des Funambules, des Variétés, du Palais- Royal, Bouffes-Parisiens, Folies-Marigny et cabarets montmartois. Dans ce raz de marée, les vagues déferlantes les plus hautes viennent sans conteste du vaudeville, comédie à couplets, stricto sensu, puis comédie légère au sens large, dont la gloire - Le Mariage de Figaro! - remonte au siècle précédent.» (Labiche: le comique de vaudeville. In: Romantisme, Nr. 74, 1991, S. 83 - 92, S. 83). 31 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de: La folle journée ou le mariage de Figaro. Comédie en cinq actes, en prose. Paris: Ruault 1785, S. V. 30 <?page no="31"?> die in ausdrücklichem Kontrast zum Boulevard standen, in den Dienst einer literarischen Rundumerneuerung. Allgemein lässt sich sagen, dass die französische Theaterlandschaft des 18. und selbst noch des 19. Jahrhunderts durch ein Spannungsverhältnis zwischen einer repräsentativen Breiten- und einer durch einige «maîtres» bestimmten Hochkultur des Lachtheaters 32 geprägt war. In der Rezeption der deutschsprachigen Literaturwissenschaft ist allerdings diese subtile Unterscheidung zwischen «Boulevard» und «Vaudeville» eingeebnet worden, ist ihr doch seit jeher jede Form des Lachtheaters zunächst einmal suspekt, «anknüpfend etwa an Gottsched, den deutschen Praezeptor einer bürgerlichen Literatur, an eine Abwertung der Satire in der Klassik, an die Entwürfe einer ‹ höheren Komik › u. a. bei Schiller und Hegel.» 33 Die Entwicklung setzt sich alsdann «durch die deutschen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts» fort, in denen «das Komische [. . .] unter den nationalen Teppich der bürgerlichen Bildungs-Anstalten gekehrt» 34 wurde. Selbst heute genießen - wie Volker Klotz bedauernd feststellt - vor allem jene Komödien hohes Ansehen, die als so genannte «Lesestücke» gehandelt werden, so zum Beispiel die Literaturkomödien der Romantik von Tieck, Arnim, Eichendorff, Brentano; desgleichen die Lustspiele Hebbels, Gutzkows und Hofmannsthals. Viele dieser Stücke haben auf Dauer die Bühnenprobe nicht bestanden. Gewiß haben sie mancherlei poetischen Reiz, interessante Problematik und feinsinnigen Witz. Sie geben auch den amtlichen Interpreten immer wieder Anlaß, tiefen Ernst darin auszuloten, was zumal in Deutschland oft als besondere Qualität und Rechtfertigung des Komischen erachtet wird. Nur, sie haben weder einst noch heute ein großes Publikum zum Lachen gebracht. So bleiben diese Komödien und Lustspiele dem Medium, dem sie zugedacht sind, Entscheidendes schuldig. 35 Im Gegensatz dazu ist das französische Lachtheater seit seinen Anfängen durch eine hohe Bühnenwirksamkeit gekennzeichnet, ein Grund, weshalb die deutschsprachige Romanistik so lange die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Genre gescheut hat. Stücke wie L ’ affaire de la rue de Lourcine oder La Dame de chez Maxim bieten den Zuschauern Identifikations- 32 Unter den Begriff «Lachtheater» fallen - Volker Klotz zufolge - «nicht nur Stücke, die das Markenzeichen ‹ Komödie › oder ‹ Lustspiel › tragen, sondern auch Possen, Schwänke, Operetten. Es geht also um einen breiteren Fächer dessen, was als heitere Dramatik großen Zuspruch fand und teilweise heute noch findet.» (Bürgerliches Lachtheater, S. 12). 33 Schmidt-Dengler, Wendelin/ Zeyringer, Klaus: Komische Diskurse und literarische Strategien. Komik in der österreichischen Literatur - eine Einleitung. In: Schmidt-Dengler, Wendelin/ Sonnleitner, Johann/ Zeyringer, Klaus (Hg.): Komik in der österreichischen Literatur. Berlin: Schmidt 1996 (= Philologische Studien und Quellen 142), S. 9 - 19, S. 9. 34 Ebd. 35 Klotz: Bürgerliches Lachtheater, S. 13. 31 <?page no="32"?> momente, die die deutschen Literaturkomödien schmerzlich vermissen lassen. 36 Anders als etwa Kleists Lustspiel Der zerbrochene Krug, in dem so grundsätzliche Fragen wie die nach der Gerechtigkeit verhandelt werden, thematisieren die Stücke der Vaudevillisten «persönliche und öffentliche Alltagserfahrungen» 37 der Zuschauer. Das dabei entstehende Lachen hängt ab von den besonderen historischen, gesellschaftlichen und psychischen Umständen. Es kann die Lachenden beruhigen: meine und unsere Verhältnisse sind längst nicht so schief wie die vorgeführten; sie können bleiben, wie sie sind. Oder es kann die Lachenden beunruhigen: meine und unsre Verhältnisse sind ähnlich schief wie die vorgeführten; sie sollten anders werden. 38 Die Unterscheidung zwischen «Boulevard» und «Vaudeville» fällt auch deshalb nicht leicht, weil sich aus germanistischer Sicht Komik und Gesellschaftskritik nahezu ausschließen. Selbst ein so bedeutender Literaturwissenschaftler wie Klotz, dem eine große Offenheit gegenüber dem europäischen Lachtheater kaum abzusprechen ist, erliegt einer kulturell bedingten Einseitigkeit, wenn er schreibt, dass Labiches Florentiner Hut «geringe, nichts als unterhaltsame Ansprüche» 39 enthält. Offenbar ist ihm nicht bewusst, dass die französische Literaturwissenschaft - spätestens seit den Veröffentlichungen Philippe Soupaults 40 - einen Autor wie Labiche in einem Atemzug mit Molière nennt: «[Il s ’ agit de] l ’ observateur le plus lucide de la classe dominante pendant le Second Empire, un observateur qui ne craignait pas d ’ être cruel, impitoyable même, comme l ’ avait été l ’ auteur du Bourgeois gentilhomme et du Malade imaginaire.» 41 Zwar stehen neuere Untersuchungen diesem Urteil einigermaßen skeptisch gegenüber, 42 doch lässt sich kaum leugnen, dass in Frankreich dem Vaudevillisten ein literarisches Podest errichtet wird. 36 Ausgenommen sei hier die österreichischen Komödie, die dem Zuschauer durchaus Identifikationsmomente bietet. 37 Klotz: Bürgerliches Lachtheater, S. 15 - 16. 38 Ebd., S. 16. 39 Ebd., S. 14. 40 Es handelt sich hierbei um folgende Untersuchungen: Soupault, Philippe: Vingt mille et un jours. Paris: Belfond 1980. Soupault, Philippe: Eugène Labiche. Paris: Mercure de France 1964. 41 Soupault: Vingt mille et un jours, S. 124 - 125. 42 So schreibt Jean Emelina in seiner Untersuchung über das Vaudeville: «Le XXè siècle, plus grave et plus sombre que le XIXè, a ‹ approfondi › Labiche. On en a fait, au second degré, un auteur inquiétant. Soupault intitule un chapitre de son étude: ‹ Esprit et cruauté › . Il parle d ’ auteur ‹ cruel › , ‹ de massacres à coups d ’ éclat de rire › tout en convenant que ‹ ce témoin presque unique d ’ un milieu ‹ frileux et médiocre › ne voulait rien corriger.» (Labiche: le comique de vaudeville. In: Romantisme, S. 85). 32 <?page no="33"?> In einem vergleichbaren Maße nimmt innerhalb der französischen Fachgemeinschaft der als «maître dans la mécanique vaudevillesque» 43 gepriesene Feydeau einen Klassikerstatus ein. Dem Literaturwissenschaftler Henri Gidel zufolge gehört der Vaudevillist gar zu den meist gespielten Autoren der Gegenwart: Plus de quatre-vingts ans après sa disparition, Georges Feydeau n ’ a jamais été aussi vivant. Plusieurs de ses pièces sont inscrites au répertoire de la Comédie Française, mais aussi à celui du Théâtre national anglais. Il est particulièrement applaudi au Japon, ce qui ne l ’ empêche pas d ’ être traduit en tchèque ou en hongrois. Il est [. . .] l ’ auteur français le plus joué à travers le monde et s ’ il n ’ appartient pas au théâtre classique, il est, très certainement, un classique du théâtre. 44 Allerdings bleibt die französischsprachige Forschung zur heiteren Dramatik eine abschließende Antwort auf die Frage nach der Definition des Vaudeville schuldig, was damit zusammenhängt, dass es sich um eine Gattung handelt, deren Konturen einer ständigen Verschiebung unterliegen und deren Definitionskriterien schwanken. Die vorliegende Arbeit möchte sich der Definition Violaine Heyrauds anschließen, die - der musikalischen Ursprünge des Genres eingedenk - den Akzent auf den burlesken Aspekt und auf die Komplexität des Handlungsverlaufs legt: Le terme ‹ vaudeville › , utilisé à l ’ origine exclusivement pour les chansons, [. . .] renvoie à une esthétique, ‹ par figure (déb. XXè s.), il se dit de ce qui a le caractère léger, l ’ intrigue complexe et burlesque du vaudeville › . La tonalité comique et la composition dramatique de la pièce l ’ emportent donc sur la construction musicale, bien que toute musicalité ne disparaisse pas [. . .]. 45 Eine weitere Abgrenzung findet die Definition durch die Hinzuziehung des Begriffs «comédie-vaudeville» und durch die Fokussierung auf die dramatische Bewegung: Le ‹ vaudeville › désigne des comédies d ’ intrigue, avec ou sans couplets, animées d ’ un mouvement dramatique important, au service du divertissement [. . .]. Bien que [. . .] le genre ne soit pas fixe et que la notion de ‹ genre › elle-même soit sujette à caution, le ‹ vaudeville › après 1864 devient un synonyme pratique de la ‹ comédievaudeville › [. . .]. 46 43 Brouwers, José: «Tailleur pour dames» de Georges Feydeau. Mise en scène José Brouwers. In: La Bellonne. Ressources [Brüssel] ohne Datumsangabe (http: / / www.bellone.be/ fr/ ressources/ details/ plays/ 529770, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 44 Gidel, Henry: Georges Feydeau, l ’ auteur. In: Georges Feydeau. Les fiancés de Loches. Mise en scène Jean-Louis Martinelli. L ’ avant-scène théâtre, Nr. 1261, 1. April 2009, S. 6 - 8, S. 6. 45 Heyraud, Violaine: Feydeau, la machine à vertiges. Paris: classiques Garnier 2012 (= Études romantiques et dix-neuviémistes sous la direction de Pierre Glaudes et Paolo Tortonese 25), S. 29. 46 Ebd., S. 43, Hervorhebung durch die Verfasserin. 33 <?page no="34"?> Die Konstituierung von Komik im Handlungsverlauf vollzieht sich demnach durch die Anbindung an den Rhythmus, der nach 1864 gezielt zur Stärkung der komischen Sprechakte eingesetzt wird. Insbesondere Labiche und Feydeau sind sich - als herausragende Virtuosen inszenierter (d. h. künstlich hergestellter) Mündlichkeit - der Spannbreite der Ausdrucksmöglichkeiten bewusst, die mit jener Kategorie verknüpft sind. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des Selbstläufereffekts 47 lässt sich die Antwort auf die Frage nach dem Produktionsmuster des Vaudeville auf folgenden Nenner bringen: → Das Vaudeville, das zwar nicht immer, aber doch häufig musikalische Einlagen aufweist, zeichnet sich durch einen - auf die Tradition der Timbre-Praxis zurückzuführenden - Hang zum Burlesken aus. Mit der französischsprachigen Komödie teilt das Genre die Intensität der dramatisch-rhythmischen Bewegung, die alle Komponenten der im Text angelegten Inszenierung umfasst (Textkomposition, Raum, Körper und Sprechen der Figuren). In den 1860er Jahren zeichnet sich eine Entwicklung ab, in deren Verlauf jene Bewegung zunehmend zum Selbstläufer mutiert, zu einer Rotationsfigur, die im Bild des Teufelsrads eine symbolische Verdichtung erfährt. Als Auslöser dieses Selbstläufereffekts gilt insbesondere im Theater Labiches/ Feydeaus ein Verhalten, das in deutlichem Widerspruch zu dem von den Figuren bekundeten Anspruch auf untadelige Lebensführung steht. Ziel des nun folgenden ersten Themenkomplexes ist, den Rhythmus als besonders wirkungsmächtiges Prinzip darzustellen, dessen Dynamik einen Selbstläufereffekt hervorruft. Dabei soll die in La Dame de chez Maxim enthaltene Rotationsfigur in einen Zusammenhang mit den in der Musik gebräuchlichen Ausdrucksbezeichnungen «tempo rubato» (Begriff zur Schilderung von Passagen, die «vom Grundrhythmus abweichen») und «Scherenfuge» (Begriff, der die kreisförmige Geschlossenheit eines musikalischen Werks bezeichnet) gebracht werden. Eine solche Vorgehensweise ist zwar nicht ganz unproblematisch, weil sich die Differenz zwischen musikalischem Tempo und literarischem Rhythmus nicht einebnen lässt, doch können jene Ausdrucksbezeichnungen insofern als literarische Kategorien herangezogen werden, als die in La Dame de chez Maxim enthaltenen Temposchwankungen auf einen Zeitbegriff zurückzuführen sind, der sich mit dem musikalischen Konzept der «geraubten» bzw. der «geschlossenen Zeit» deckt. Gleichzeitig bietet diese Vorgehensweise den Vorteil, dass die musikalische Tradition des Vaudeville eine entsprechende Würdigung erfährt. Dass auch im Falle der Affaire de la rue de Lourcine der Rhythmus empfindlich gestört wird, soll durch das Vorhandensein so genannter «Leerstellen» nachgewiesen werden. Beiden Stücken gemein ist, dass die Haupt- 47 Der Selbstläufereffekt des Vaudeville soll im ersten Themenkomplex einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden. 34 <?page no="35"?> figuren aufgrund bestimmter Ereignisse «aus dem Takt» 48 geraten und somit in einen «Entrhythmisierungsprozess» gezogen werden, aus dem sie nicht aus eigener Willensanstrengung, sondern lediglich durch einen rettenden Zufall befreit werden. 48 Vgl. hierzu: Brüstle, Christa/ Ghattas, Nadia/ Risi, Clemens/ Schouten, Sabine (Hg.): Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur. Bielefeld: transcript 2005. 35 <?page no="36"?> III Erster Themenkomplex: Rhythmus und Performativität 1. Der systemische Ansatz Jedes Lesen verändert den Leser, es modifiziert - und sei es noch so unmerklich - den Gesichtspunkt des Lesers, und die Kunst des Lesens ist vielleicht nichts anderes als die Kunst, dieses Verwandlungspotential von Texten zu erfahren und zu erkennen. (Hans Lösener) 1 In seinem Buch Zwischen Wort und Wort entwickelt Hans Lösener 2 - in Anlehnung an Henri Meschonnic - einen Interpretationsansatz, der die Form-Inhalt-Dichotomie hinter sich lässt, also «jene im Zeichendenken verankerte Sinnvorstellung, die den Sinn nicht anders denn als Verbindung von Form und Inhalt begreifen kann.» 3 Von der Überzeugung ausgehend, dass sich die spezifische Wirkungsweise von Literatur nicht einfach durch die Analyse ihrer «äußeren» und «inneren» Eigenschaften erfassen lässt, sucht er die Beziehungen zwischen den Wörtern nachzuvollziehen und nicht die Beschaffenheit der Wörter selbst. Diese Änderung des Blickwinkels realisiert sich im so genannten systemischen Lesen, wo es «um das Entdecken von Zusammenhängen, Bezügen und textuellen Wertigkeiten geht.» 4 Allerdings bedeutet der asemiotische Zugang nicht, dass die Sinn-Komponente inexistent ist: «Auch beim systemischen Lesen geht es um den Sinn,» 5 nur ist der Ausgangspunkt ein anderer, wird doch «Sinn» nicht mehr von den Textstrukturen her, nicht mehr als mimetische Abbildung zwischen Form und Inhalt gedacht. Einheit von Sinn und Form Ein solches Denken birgt zunächst einmal die Schwierigkeit, sich von gewohnten Denkmustern lösen zu müssen. Statt - wie beispielsweise in der Gedichtanalyse üblich - die formalen Auffälligkeiten als Ausgangspunkt zu betrachten, werden beim systemischen Ansatz «textuelle Wertigkeiten» 1 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 149. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 62. 4 Ebd., S. 65. 5 Ebd., S. 13. 36 <?page no="37"?> untersucht, die jenseits des Zeichens geortet sind und sich daher nicht immer sofort erschließen lassen. Obwohl auch das systemische Lesen den Strophenaufbau, die Anzahl und die Länge der Zeilen, die klanglichen Auffälligkeiten und das Versschema berücksichtigt, ist doch die Perspektive insofern eine andere, als die Form nicht mehr den Inhalt reflektiert. Während beim Zeichendenken Form und Inhalt distinkte Kategorien darstellen, die zur Sinnkonstituierung aufeinander bezogen werden müssen, geht das systemische Denken von einer einzigen Kategorie aus: der Einheit von Form und Inhalt. 6 Von dieser Prämisse ausgehend, versteht Lösener seinen auf Meschonnics asemiotischer Theorie basierenden Ansatz nicht nur als Beitrag zur Überwindung dekodierender Leseformen, sondern auch als Hilfsmittel für die praktische Anwendung eines Denkens, das - seiner komplexen Theoreme wegen - eine gewisse «Griffigkeit» vermissen lässt. Rhythmus als Schmuckelement Nun stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie «Sinn» jenseits der Form-Inhalt- Dichotomie geortet werden kann. Auf diese Frage bringt Lösener die im Zentrum von Meschonnics Sprachtheorie stehende Kategorie des Rhythmus ins Spiel, eine Kategorie, die als sinnkonstituierende Bewegung aufgefasst wird. Eine solche Auffassung weicht grundlegend von der gängigen Konzeption ab, die Rhythmus als «gleichmäßige, abgemessene» 7 Folge, als ein «nach bestimmten Maß- und Tonverhältnissen geregelter Redegang,» 8 als «Gliederung einer Lautmasse (Prosa oder Vers)» 9 definiert. Wie den einschlägigen Nachschlagewerken 10 zu entnehmen ist, lässt sich der gängige Rhythmusbegriff auf die antike Tradition zurückführen, die die Kategorie als Schmuckelement der elocutio betrachtete, als Mittel der Verfeinerung, mit dem sich bestimmte kommunikative Effekte bewirken lassen. 11 6 Aus dem reichhaltigen Beschreibungsrepertoire Löseners sei beispielhaft verwiesen auf die Begriffe «thematische Bewegung», «thematische Felder», «phonematische Organisation» und «Sinneffekte», die die Einheit von Form und Inhalt dadurch hervorheben, dass sie den Fokus auf die sprachlichen Bezüge richten. 7 Braak, Ivo: Poetik in Stichwörtern. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine Einführung. Kiel: Hirt 1980, S. 71. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Vgl. hierzu beispielsweise: Kasper, Karlheinz/ Wuckel, Dieter: Grundbegriffe der Literaturanalyse. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1985, S. 143. 11 So bezieht sich auch der aus der Tradition der Antike rührende Rhythmusbegriff der frühen deutschen Aufklärung ausschließlich auf den zu erstrebenden Wohlklang literarischer Texte. Bei Gottsched etwa wird der Dichter dazu angehalten, die «lautenden und stummen Buchstaben» in einer Weise zu vermischen, die «die Ohren süßeln», wodurch «das Gemüth eines Lesers oder Zuhörers belustig[t]» werde. (Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unseres besten Dichters erläutert. Leipzig: Breitkopf 1751, S. 377). 37 <?page no="38"?> Für Meschonnic ist jene - in Deutschland u. a. durch Gottsched, in Frankreich u. a. durch Boileau vermittelte - Tradition insofern problematisch, als sie auf eine (von den so genannten «Metrikern» zu verantwortende) Fehlinterpretation zurückzuführen sei. Insbesondere die in den Schriften Aristoxenus ’ entwickelten Differenzierungen seien in der Rezeption eingeebnet und an die kulturell bedingte Sichtweise der Übersetzer angepasst worden. Hierzu Meschonnic: «Aristoxène [. . .] ne parle que d ’ un ‹ ordre déterminé (ou délimité) des temps › , non d ’ une suite régulière. La traduction des métriciens rétablit un faux vrai sens, - non celui du texte, mais celui de sa propre tradition. Traduction-tradition.» 12 Galt der Rhythmusbegriff den Vorsokratikern noch als zeitlich begrenzter Redegang, so entwickelte er sich bei den «Metrikern» zu einer durch Gleichmaß bestimmten Form. Für Meschonnic ist diese Entwicklung ein Indiz dafür, «dass das, was man für die ‹ natürliche › Bedeutung» 13 des Begriffs «Rhythmus» hält, im Grunde genommen «lediglich der Ausschnitt aus der Geschichte des Wortgebrauchs ist.» 14 Rhythmus als Sinnträger Anders als jene «in ihrer eigenen Tradition» gefangenen Metriker geht Meschonnic von der Auffassung aus, dass zum Rhythmus nicht nur schmückende Elemente gehören, sondern alle sprachlichen Momente, die an der Sinngliederung beteiligt sind: lexikalische Beziehungen und Reihungen, syntaktische Artikulation, phonematische Echofiguren und - im Geschriebenen - auch Interpunktion und typografische Anordnungen; im Gesprochenen kommen Intonation, Pausen, Betonungen, Tempo und Lautstärke hinzu. 15 Eine Kategorie, die alle sinnkonstituierenden sprachlichen Momente umfasst, ist - Meschonnic zufolge - als «donnée immédiate et fondamentale du langage» 16 zu verstehen, als grundlegende Eigenschaft der Sprache, die nicht den Visualsinn, sondern den Hörsinn des Lesers anspricht. Im Gegensatz zu den Metrikern macht Meschonnic keinen Unterschied zwischen der sprachlichen Grundstruktur und den ornativen Elementen, zwischen dem Nichtstilistischen und dem Stilistischen, zwischen Inhalt und Form. Für ihn übt der literarische Text seine spezifische Wirkung dadurch aus, dass er durch eine sinntragende Bewegung durchzogen wird, die - in Anlehnung an die eingangs zitierte Formulierung - «den Gesichtspunkt des Lesers verändert». Wollte man die Kategorie des Rhythmus, deren Konturen in den «mystisch» 12 Meschonnic, Henri: Critique du rythme. Anthropologie historique du langage. Lagrasse: Verdier/ poche 1982, S. 123, Hervorhebung im Original. 13 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 93. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 94. 16 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 97. 38 <?page no="39"?> anmutenden Schriften Meschonnics zuweilen zu verwischen drohen, zusammenfassend auf einen Nenner bringen, lässt sich sagen: Der Rhythmus ist eine den Äußerungsakt durchziehende Sprechbewegung, die a) den Hörsinn des Lesers anspricht, und die b) für die semantische Modellierung des Gesagten konstituierend ist. Nicht nur im Hinblick auf die Interpretation von Gedichten, auch im Hinblick auf dramatische Texte erweist sich die Kategorie des Rhythmus als hilfreiches Instrumentarium. Im Unterschied zum dekodierenden Lesen, das die Zeichen eines Textes zu entschlüsseln sucht, zielt das systemische Lesen auf «die mentale Inszenierung des Dramentextes,» 17 auf eine Inszenierung, die «bereits im Text selbst beginnt» 18 und deren Wirkungsweise sich vom Rhythmus her erschließt. Ein solches Lesen stellt keine Novität dar, liegen doch seine Wurzeln seit jeher im Hören, «im Hören auf die Sinnbewegung im Äußerungsakt.» 19 Das Nichtwort, dieses «Etwas», das aus den Beziehungen der Wörter zueinander resultiert, entzieht sich zwar der visuellen Wahrnehmung, aber es wird doch «hörbar durch ein Lesen, das auf die Bewegung des Sprechens im Geschriebenen hört.» 20 Natürlich lassen sich in der Sekundärliteratur noch andere Ansätze finden, die sich von der semiotischen Leseweise distanzieren, so zum Beispiel das strukturalistische Analysemodell von Manfred Pfister 21 oder der von Ursula Christmann und Paul Groeben vertretene «Ansatz der Sinnkonstruktion,» 22 die beide auf eine Abkehr vom traditionellen Dekodierungsmodell hinauslaufen. Einen umfassenden Forschungsbericht zu den asemiotischen Interpretationsansätzen hat Hans Lösener vorgelegt, daher sei an dieser Stelle nur ergänzend auf zwei weitere Arbeiten hingewiesen: den programmatischen Aufsatz Karlheinz Stierles, 23 der die in den Komödien Aristophanes ’ enthaltene Sprachkomik von der Handlungskomik her zu analysieren sucht, 17 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 16. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 17. 20 Ebd. 21 Pfister: Das Drama. 22 Christmann, Ursula/ Groeben, Norbert: Psychologie des Lesens. In: Franzmann, Bodo/ Hasemann, Klaus/ Löffler, Dietrich/ Schön, Erich (Hg.): Handbuch Lesen. Im Auftrag der Stiftung Lesen und der Deutschen Literaturkonferenz. München: Saur 1999, S. 145 - 239. 23 Stierle, Karlheinz: Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie. In: Preisendanz, Werner/ Warning, Rainer (Hg.): Das Komische. Poetik und Hermeneutik VII. München: Fink 1976, S. 237 - 269. 39 <?page no="40"?> und die umfangreiche Untersuchung Gerrit Kloss ’ , 24 die sich - unter Heranziehung von Stierles Modell - mit den Erscheinungsformen komischen Sprechens befasst. Ein letztes Werk, das an dieser Stelle Erwähnung finden soll, ist die Theorie der theatralen Praxis von Patrice Pavis, 25 ein Standard- Kompendium der Theaterwissenschaft, das gerade dem Rhythmus einen großen Raum einräumt und mir daher geeignet scheint, die dichotomische Auffassung Meschonnics, wonach alle bestehenden Literaturtheorien rein semiotischen Ursprungs sind, zu widerlegen. Dennoch bietet das systemische Lesen im Vergleich zu anderen Theorien den Vorteil, das Hören ins Zentrum der Betrachtung zu rücken, das Hören auf die im Äußerungsakt enthaltene Sinnbewegung. Von der Voraussetzung ausgehend, dass nicht das Visualprimat, sondern der auditive Aspekt für das ästhetische Erleben konstituierend ist, misst Meschonnic dem Moment des Leseglücks eine bisher vielleicht unterschätzte Bedeutung bei. Auch Lösener weist auf jenes Glücksmoment hin, das jedem Bibliophilen bekannt sein dürfte: «Noch bevor wir verstehen, was gesagt wird, spüren wir, welche Wirkung von der Art und Weise des Sagens ausgeht, und wir reagieren darauf mit Sympathie, Antipathie, Interesse oder Langeweile usw.» 26 Um diese Performativität geht es Meschonnic, wenn er, in Anlehnung an Austin, den Handlungscharakter von literarischen Texten analysiert, um diese Performativität geht es Lösener, wenn er vom Textsystem ausgeht, von der Frage, «was ein Ausruf, eine Replik, eine Geste macht.» 27 Der systemische Ansatz gehört zu jenen in den vergangenen 20 Jahren entstandenen Theorien, die einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der so genannten «Semiologie der Inszenierung» zugunsten des performativen Aspekts geleistet haben. Dass diese «Überwindung» prozessualen bzw. explorativen Charakter hat, lässt sich folgender Passage aus den einführenden Bemerkungen zu Pavis ’ Theorie der theatralen Praxis entnehmen: Il est encore trop tôt pour appliquer au théâtre et à la littérature la théorie des actes de discours telle qu ’ elle a été développée par Austin ou Searle. Mais on perçoit déjà l ’ utilisation d ’ une théorie de l ’ action, appliquée en particulier au texte littéraire. Ce qui suit n ’ a d ’ autre ambition que de sensibiliser les théoriciens du théâtre à la potentialité d ’ une analyse [. . .] discursive rendant compte de la pragmatique du texte. Pour le moment, nous en sommes encore à l ’ analyse microscopique d ’ un fragment textuel détaché de l ’ ensemble; en scrutant sa matérialité (l ’ enchaînement 24 Kloss, Gerrit: Erscheinungsformen komischen Sprechens bei Aristophanes. Berlin/ New York: de Gruyter 2001 (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 2001). 25 Pavis, Patrice: Vers une théorie de la pratique théâtrale. Voix et images de la scène. Bd. 3. Villeneuve d ’ Ascq: Presses universitaires du Septentrion 2000. 26 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 95, Hervorhebung im Original. 27 Ebd., S. 202, Hervorhebung im Original. 40 <?page no="41"?> discursif et la production du sens), nous souhaitons préparer la voie à une étude macroscopique du discours théâtral comme acte du langage. 28 Von der Überlegung ausgehend, dass die Performativität der gesprochenen Sprache in Stücken wie La Dame de chez Maxim und L ’ affaire de la rue de Lourcine einen wichtigen Anhaltspunkt für die Interpretation darstellt, möchte die vorliegende Arbeit einen eigenen Beitrag auf jenem «Weg zu einer makroskopischen Analyse des Handlungscharakters von dramatischen Texten» leisten. Ein wichtiger Meilenstein ist dabei die Beantwortung der Frage, wie Performativität als Analysekategorie beschrieben werden kann. 29 Folgt man den Überlegungen Löseners, so hat der Interpret die implizite Inszenierung zu berücksichtigen, also jene Momente, die durch den Text selbst realisiert werden. Der performative Aspekt wird beschreibbar, wenn sich der Interpret von der Vorstellung distanziert, «dass die Inszenierung eines Dramas Sache des jeweiligen Regisseurs im Theater sei und dass der Text lediglich das Material für die Erarbeitung einer originären Aufführung liefere.» 30 Im Hinblick auf die Interpretation der Vaudevillestücke bedeutet dies: Eine dem Gegenstand «Vaudeville» adäquate Analyse darf sich nicht mit der Frage aufhalten, ob die Stücke Labiches und Feydeaus eher als Aufführung oder eher als «spectacle dans un fauteuil» 31 erschließbar sind. Eine solche «Polarisierung von Text und Aufführung» 32 geht von einem Textbegriff aus, der das dramatische Werk erneut auf die Kategorien «Form» und «Inhalt» reduziert und dabei über die Fülle der vom Autor angelegten Interpretationsmöglichkeiten hinwegsieht. Eine ganz andere Perspektive ergibt sich, sobald man [. . .] von der systemischen Realisierung des Rhythmus im Text ausgeht. Denn wenn der Text einen Rhythmus hat und wenn dieser Rhythmus vom Text selbst nicht zu trennen ist, dann wird eine Inszenierung des Textes auch die Inszenierung dieses Rhythmus implizieren, was zugleich bedeutet, dass der Text schon ein entscheidendes Moment der Inszenierung enthält. 33 28 Pavis: Vers une théorie de la pratique théâtrale, S. 29. 29 Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass die Untersuchungen Bert O. States ’ aus dem Jahre 1985 als Aufhänger für eine Fülle an Aufsätzen diente, die zu einer immer größeren Differenzierung des Begriffs «Performativität» führten. (States, Bert O.: Great reckonings in little rooms: on the phenomenology of theatre. Berkeley/ London: University of California press 1985). Zu dieser Diskussion möchte ich mich allerdings nicht positionieren, besteht doch der Ariadnefaden meiner Arbeit in der Frage, ob die von Meschonnic/ Lösener entwickelte Begrifflichkeit auf unterschiedliche Systeme (Text, Übersetzung, Inszenierung) übertragbar ist. 30 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 209. 31 Mussets Theatertext Un spectacle dans un fauteuil (1832) sollte sich - nach dem Willen des Autors - nicht auf der realen Bühne abspielen, sondern in der Phantasie des Lesers. 32 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 205. 33 Ebd., S. 206, Hervorhebung im Original. 41 <?page no="42"?> Dabei ist der Nachvollzug jener «systemischen Realisierung» nicht - wie von den «Metrikern» behauptet - an strikt schematische Abläufe gekoppelt. So weist etwa Christa Brüstle darauf hin, dass «Rhythmus» auch unregelmäßige Gestaltung bedeutet, dass er «Störung, Bruch, Pause, Differenz und Diskontinuität [impliziert], und zwar im Wechselspiel, in der gegenseitigen Bezugnahme.» 34 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die Definition Paul Valérys - «Rhythmus als subjektives Wechselspiel zwischen Erwartung und Überraschung» 35 - und das geflügelte Wort des Phänomenologen Bernhard Waldenfels - «der Rhythmus ist nur unterwegs heimisch.» 36 Beide Aussagen machen deutlich, dass die «Flüchtigkeit des [Rhythmus], seine Abhängigkeit vom Verlauf der Zeit [. . .] ihn zu einem performativen Phänomen par excellence macht.» 37 Um die Beziehungen zwischen «Wort und Wort» 38 zu erfassen, um zu dem vorzudringen, «was Hilde Domin das ‹ Nichtwort › nennt,» 39 muss auch die intertextuelle Dimension in die Analyse einbezogen werden. Aus der Perspektive des systemischen Lesens sind intertextuelle Beziehungen «als intersystemische Beziehungen» 40 aufzufassen, als Textelemente, die - zwei oder mehreren Textsystemen angehörend - aufeinander Bezug nehmen. Zu Recht hebt Lösener hervor, dass intertextuelle Beziehungen «nicht im Widerspruch» 41 zum Textsystem stehen, vielmehr ist von einem Verhältnis der Ergänzung auszugehen. Allerdings darf ob dieser Feststellung nicht darüber hinweggesehen werden, dass der intertextuelle Ansatz eine geschlossene Theorie mit eigenen literaturwissenschaftlichen Implikationen darstellt. Das folgende Kapitel möge der Klärung dieser Implikationen dienen. 34 Brüstle: Zur Einleitung: Rhythmus im Prozess. In: Aus dem Takt, S. 9 - 27, S. 15. 35 Zitiert nach: ebd., S. 15. 36 Zitiert nach: ebd., S. 16. 37 Ebd. 38 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 9. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 116. 41 Ebd. 42 <?page no="43"?> 2. Der intertextuelle Ansatz Originalität gibt ’ s sowieso nicht, nur Echtheit. (Bestsellerautorin Helene Hegemann zu dem Vorwurf, sie habe Zitate von anderen Autoren übernommen) 42 Februar 2010. In Deutschland wird in den Feuilleton-Beilagen heftig über die Frage debattiert, ob Helene Hegemann, die sich - nach eigener Aussage - überall da bedient, wo sie Inspiration findet, eine Plagiatorin ist. Sie soll in ihrem Werk Axolotl Roadkill Passagen eingefügt haben, die ursprünglich aus dem Internet-Roman eines unter dem Pseudonym «Airen» schreibenden Berliner Autors stammen. In die Diskussion mischt sich auch der Literaturwissenschaftler Jürgen Graf mit einem Beitrag für die Wochenzeitung DIE ZEIT, 43 in dem er seinem Erstaunen Ausdruck verleiht, dass «eine junge Literatin für etwas maßgeregelt [wird], wofür andere gepriesen werden.» 44 Vor dem Hintergrund der seit Jahrzehnten geführten Diskussion um den «Tod des Autors» könne die Jungautorin nicht als individuelle Schöpferin bezeichnet und somit auch nicht als Plagiatorin beschimpft werden. Schließlich hätten auch Schriftsteller wie Thomas Mann, Bertolt Brecht oder Paul Celan aus dem unendlichen Textuniversum ihre Anregungen gesucht und diese für die eigene Produktion fruchtbar gemacht. Goethe selbst habe in seinen West-östlichen Divan «ein Geflecht an Zitaten [eingebaut], von denen die wenigsten von [ihm] selbst ausgeschildert wurden.» 45 Tatsächlich kann man der Einschätzung Grafs nur beipflichten angesichts der Tatsache, dass der Begriff «Intertextualität», der von der aus Bulgarien stammenden Semiologin Julia Kristeva und den Mitgliedern der um die Zeitschrift Tel Quel versammelten poststrukturalistischen Nouvelle critique geprägt wurde, bereits Ende der 1960er Jahre als Methode Eingang in die literaturtheoretische Diskussion gefunden hat. In den 1980er und 1990er Jahren galt «Intertextualität» gar als Codewort, als «Sesam-öffne-dich» eines breit angelegten Diskurses. Dieser entzündete sich in erster Linie «an der Weite, an dem ‹ Schillernden › des Begriffs,» 46 der - einer ständig steigenden 42 Zitiert nach: Graf, Jürgen: Literatur an den Grenzen des Copyright. Helene Hegemann schrieb nicht ab, sondern verfasste einen Montagetext - und sie hat berühmte Vorgänger wie Bertolt Brecht, Thomas Mann, Georg Büchner und Elfriede Jelinek. In: DIE ZEIT, Nr. 8, 18. 02. 2010, S. 47. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Fix, Ulla: Aspekte der Intertextualität. In: Brinker, Klaus/ Ungeheuer, Gerold/ Steger, Hugo/ Wiegand, Herbert E./ Burkhardt, Armin (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik: ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Band 1. Berlin: de Gruyter 43 <?page no="44"?> Zahl an Publikationen ungeachtet - «vorerst nicht disziplinierbar» 47 zu sein schien. An den beiden extremen Polen der Intertextualitätsdebatte standen auf der einen Seite die zum Großteil ideologisch motivierten Vertreter des poststrukturalistischen Denkens in der Nachfolge Kristevas und auf der anderen Seite die Vertreter des hermeneutisch-strukturalistischen Denkens, die sich für einen praxistauglichen, operablen Intertextualitätsbegriff einsetzten. Da die Prämissen der erstgenannten Position nicht in die Analyse der Vaudevillestücke einfließen, möchte ich mich im Folgenden auf die Darstellung der zweitgenannten Position konzentrieren. Die strukturalistisch-hermeneutische Position Als Schlüssel zum Verständnis des Vaudeville gilt, dass der Leser die spezifische Verfahrensweise der intertextuellen Bezugnahme im Text erkennt. 48 Nur so erfolgt ein «Lesen auf zweiter Stufe», nur so kann jene «semiotische Schnittmenge [erfasst werden], die die Verbindung schafft zwischen einem Text und seinem Prätext.» 49 Wie bereits in Kapitel II dargestellt wurde, lässt sich die im Vaudeville enthaltene Intertextualität auf die historisch bedingte Timbre-Praxis zurückführen, die mit dem Moment der Dialogizität und dem Moment der ironischen Brechung einhergeht. Nicht umsont heißt es bei Olivier Bara: «Le vaudeville se lit comme un immense palimpseste, texte sur lequel d ’ autres textes sont réécrits, théâtre nourri de théâtre, fécondé par d ’ autres vaudevilles, par des pièces contemporaines comme par le répertoire classique.» 50 Um das vor allem in der Affaire de la rue de Lourcine enthaltene intertextuelle Potenzial zu analysieren, werde ich im Folgenden auf die differenzierte Begrifflichkeit Gérard Genettes zurückgreifen, der in Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe 51 den Versuch unternimmt, Kriterien zur Klassifikation textueller Beziehungen zu definieren. Bevor jedoch eine solche Klassifikation erfolgen kann, muss - Genette zufolge - zunächst eine globale Perspektive aufgefunden werden. So wird unter dem Begriff Transtextualität die Gesamtheit an Diskursen erfasst, in die 2000 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16, 1), S. 449 - 457, S. 451. 47 Lachmann, Renate: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Stierle, Karlheinz/ Warning, Rainer (Hg.): Das Gespräch. München: Fink 1984, S. 133 - 138, S. 134. 48 Die intertextuelle Verfahrensweise spielt allerdings vor allem bei Labiche eine Rolle, bei Feydeau ist sie weniger ausgeprägt. 49 Hornscheid, Thomas: Interkontextualität: ein Beitrag zur Literaturtheorie der Neomoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007 (= Film, Medium, Diskurs), S. 85. 50 Bara, Olivier: Dossier L ’ affaire de la rue de Lourcine. In: Labiche, Eugène: L ’ affaire de la rue de Lourcine. [1857]. Dossier réalisé par Olivier Bara. Lecture d ’ images Sophie Barthélémy. Paris: Gallimard 2007, S. 57 - 141, S. 116. 51 Genette: Palimpseste. 44 <?page no="45"?> sich jeder einzelne Text einreiht. Von einem solchen entgrenzten Textbegriff ausgehend, unterscheidet der Literaturwissenschaftler «fünf Typen transtextueller Beziehungen [. . .], die nun in der Reihenfolge zunehmender Abstraktion, Implikation und Globalität aufgezählt werden sollen: » 52 1) Intertextualität: Ko-Präsenz zweier oder mehrerer Texte. Genette spricht von einer «effektive[n] Präsenz eines Textes in einem anderen Text,» 53 wie sie in Zitat, Plagiat, aber auch in der «weniger wörtlichen Form» 54 der Anspielung erkennbar ist. 2) Paratextualität: Beziehung zwischen einem Text und einer Reihe von Signalen, die ihn «mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen.» 55 Gemeint sind Textsorten, die zwar mit dem Textkörper in Verbindung stehen, aber keine integrativen Bestandteile dieses Körpers bilden. Als Beispiele nennt Genette Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen usw. 3) Metatextualität: Texte, die sich als Kommentar eines anderen Textes verstehen, wobei eine explizite Bezugnahme nicht unbedingt erforderlich ist. «So bezieht sich etwa Hegel in der Phänomenologie des Geistes andeutungsweise und gleichsam stillschweigend auf Rameaus Neffe.» 56 4) Hypertextualität: Unter «Hypertextualität» versteht Genette «jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich [. . .] als Hypotext bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist.» 57 In einem aufschlussreichen Aufsatz weist Uwe Wirth 58 darauf hin, dass im französischen Original nicht von Überlagerung, sondern von Aufpfropfung die Rede ist. So lautet die Definition von Hypertextualität im französischen Wortlaut: «J ’ entends par [hypertextualité] toute relation unissant un texte B (que j ’ appelerai hypertexte) à un texte antérieur A (que j ’ appelerai, bien sûr, hypotexte), sur lequel il se greffe d ’ une manière qui n ’ est pas celle du commentaire.» 59 Die Aufpfropfung ist eine Agrartechnik, bei der ausgereifte Triebe zweier Pflanzen beschnitten und anschließend so zusammengesetzt werden, dass sie miteinander verwachsen. Ziel dieser ungeschlechtlichen oder vegetativen Fortpflanzungsmethode ist nicht nur, bestimmte Pflanzenarten zu veredeln, sondern auch durch langwieriges Kreuzen und Rückkreuzen die Zusammensetzung der Pflanzen so stark zu verändern, dass neue Sorten entstehen. 52 Ebd., S. 10. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 13. 57 Ebd., S. 14. 58 Wirth, Uwe: Hypertextuelle Aufpfropfung als Übergangsform zwischen Intermedialität und Transmedialität. In: Meyer, Urs (Hg.): Transmedialität: zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen: Wallstein 2006, S. 19 - 38. 59 Genette: Palimpseste, S. 11 - 12, Hervorhebungen im Original. 45 <?page no="46"?> Wird die Aufpfropfungstechnik im literarischen Bereich angewandt, zeichnet sie sich «als zitierendes Mischen von bereits Geschriebenem [aus], das heißt als intertextuelle Praktik.» 60 5) Architextualität: Zugehörigkeit eines Textes zu einer bestimmten Gattung. Zuweilen bleibt diese Zugehörigkeit unausgesprochen, «entweder deshalb, weil Offensichtliches nicht mehr eigens betont werden muß, oder im Gegenteil, um jegliche Zugehörigkeit zurückzuweisen bzw. dieser Frage überhaupt auszuweichen.» 61 So formalistisch Genettes Klassifizierungen auf den ersten Blick wirken mögen, auf den zweiten Blick stellen sie einen praktisch orientierten Ansatz dar, mit dessen Hilfe die verschiedenen Erscheinungsformen von Intertextualität erfasst werden können. Ich werde daher - sofern es um die Untersuchung der Intertextualität in Labiches Affaire geht - auf Genettes Begrifflichkeit zurückgreifen. Zusätzlich möchte ich - angeregt vom dreifachen Ansatz von Anke Bosse 62 - auf die Modelle von Broich/ Pfister 63 und Lachmann/ Schahadat 64 zurückgreifen. Eine solche Vorgehensweise macht sich - in bewusster Distanz zu dem weit gefassten Modell Kristevas - die spezifischen Vorteile mehrerer, an konkreten Einflüssen und Quellen orientierten Positionen zunutze. Dabei dürfte die Eigentümlichkeit eines Schreibens deutlich werden, das einerseits der Macht gewachsener Tradition verpflichtet ist (das Vaudeville ist eine hochgradig konventionalisierte Gattung) und andererseits mit ebendieser Tradition bricht, indem es sie mit Biss und Ironie hinterfragt. 3. La Dame de chez Maxim - eine systemische Analyse Dass sich im Rahmen einer systemischen Lektüre ein Teil der Analyse der Wiedergabe des Inhalts widmet, dürfte - angesichts der unter III.1. dargestellten theoretischen Prämissen - Befremden auslösen. Ist der systemische Ansatz nicht gerade auf die Überwindung einer Lesepraxis ausgerichtet, 60 Wirth: Hypertextuelle Aufpfropfung als Übergangsform zwischen Intermedialität und Transmedialität, S. 24. 61 Ebd., S. 14. 62 Bosse, Anke: «Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! . . .» - und Abgesänge? Intertextualität - Interkulturalität. In: Bohnenkamp, Anne/ Martinez, Matìas (Hg.): Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte der Goethezeit. Göttingen: Wallstein 2008, S. 99 - 128. 63 Broich, Ulrich/ Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35). 64 Lachmann, Renate/ Schahadat, Schamma: Intertextualität. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995 (= rowohlts enzyklopedie), S. 677 - 685. 46 <?page no="47"?> deren Selbstverständnis sich von der Form-Inhalt-Logik, von den Strukturen, von der «Substanz» des Textes ableitet? Zeichnet sich das Denken Meschonnics nicht gerade dadurch aus, dass Bedeutungen von der Sinnbewegung und nicht von der mimetischen Beziehung zwischen Form und Inhalt gedacht werden? Aus diesen Prämissen allerdings den Schluss zu ziehen, dass inhaltliche Zusammenfassungen von literarischen Texten im Rahmen einer systemischen Analyse unzulässig sind, wäre zu kurz gegriffen. Für Lösener stellt die Inhaltsangabe «in einer bestimmten Phase der Analyse oder zur Vorbereitung auf eine Aufführung durchaus eine [. . .] sinnvolle Station der Rezeption [dar].» 65 Allerdings sollte die Textsorte nicht darüber hinwegtäuschen, dass «den Bezügen zwischen den Personen, zwischen den Aktionen und denen zwischen Personen und Aktionen» 66 Rechnung getragen werden muss. Es gilt, die systemischen Beziehungen innerhalb des dramatischen Geschehens und damit die dramatische Wirkungsweise mitzulesen. Diese Wirkungsweise ist aber [. . .] vom Inhalt und von der Handlung nicht zu trennen, so dass jede Inhaltsangabe, die diese Dimension ausblendet, tatsächlich den Inhalt nicht wiedergibt, sondern bestenfalls glättet und vereinfacht, also reduziert. 67 Folgt man der Überzeugung Löseners, dass die dramatische Wirkungsweise Teil des Leseaktes ist, dann sind auch jene Handlungsstränge zu erfassen, die auf den ersten Blick nicht erwähnenswert scheinen, eine vor allem im Fall Feydeaus nicht leicht zu bewältigende Aufgabe, vor der viele Interpreten unter dem Vorwand zurückschrecken, dass der Vaudevillist sich nicht in das enge Raster einer Inhaltsangabe pressen lasse. 68 Wenn aber eine Wiedergabe des Inhalts unmöglich ist, dann lässt sich die in der einschlägigen Literatur oft anzutreffende Behauptung, dass das Vaudeville im Wesentlichen durch die bestechende Logik seines Handlungsaufbaus gekennzeichnet ist, 69 kaum aufrechterhalten. Die systemische Inhaltsangabe, die ich im Folgenden vorstellen möchte, hat zum Ziel, die in der Forschungsliteratur vorherrschende Auffassung, Feydeau sei ein Meister der «vaudevilleinternen» Logik, dadurch zu belegen, dass den einzelnen Bezügen zwischen den Figuren bzw. zwischen den Aktionen Rechnung getragen wird. Eine solche Vorgehensweise dürfte zweierlei deutlich machen: Zum einen, dass die Figuren in eine Dynamik eingebunden sind, auf die das Moment der Beschleunigung und das Moment des Stillstands gleichzeitig einwirken. Zum anderen, dass 65 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 218. 66 Ebd., S. 220. 67 Ebd. 68 «[Chez Feydau], les événements s ’ accumulent et rendent le ‹ résumé › de la pièce quasi impossible,» schreibt beispielsweise Dufief: Le théâtre au XIXè siècle: du romantisme au symbolisme, S. 110. 69 Dufief schreibt: «L ’ enchaînement des péripéties est parfaitement logique.» (Ebd.). 47 <?page no="48"?> der wichtigste Handlungsparameter der Figuren darin besteht, den Fliehkräften der über sie hereinbrechenden Ereignisse zu trotzen. Insbesondere die Hauptfigur bezieht ihre Komik aus dem Versuch, jene unheimliche Rotationsbewegung mit dem Einfallsreichtum des Bedrängten zum Stillstand zu bringen. 3.1 Dynamik der Zusammenstöße und Verwicklungen (erster Akt) Der erste Akt findet im Arbeitszimmer des Hausarztes Lucien Petypon statt, der sich unversehens nach einer durchzechten Nacht unter dem Sofa wiederfindet. Von starken Kopfschmerzen geplagt, erinnert er sich lediglich an den ersten Teil des Abends, den er - auf Anregung seines Freundes Mongicourt - im «Maxim» zugebracht hat, jenem legendären Pariser Etablissement, wo Schauspielerinnen und Kurtisanen zum Stelldichein laden. Dass es ihm an jenem Abend nicht beschieden war, seinen Gelüsten Einhalt zu gebieten, ist die bittere Wahrheit, mit der Lucien konfrontiert wird, als er in seinem Bett der Tänzerin des «Maxim», des «Mädels» Crevette, gewahr wird. Brenzlig wird die Situation, als Madame Petypon - um Einlass bittend - in der Vorzimmertür erscheint. Um alle Spuren der nächtlichen Ausschweifungen zu löschen, räumt Mongicourt die herumliegenden Kleidungsstücke rasch beiseite, rückt die Möbel zurecht und schafft das «Mädel» ins Schlafzimmer. Lucien täuscht derweil einen Nervenzusammenbruch vor, der genau in dem Augenblick ein jähes Ende findet, in dem er Crevette außer Sichtweite weiß. Madame Petypon deutet den Zusammenbruch als Zeichen göttlicher Strafe, eine Bemerkung, die Crevette zum Anlass nimmt, als himmlische Erscheinung aufzutreten. Mit einem weißen Laken versehen, gibt sie sich als Engel «Gabriel» aus, der seiner treuen Magd «Gabrielle Petypon» eine wichtige Botschaft zu übermitteln habe. Ohne auch nur einen Anflug von Zweifel geht die derart Angesprochene in andächtigem Entzücken in die Knie und lauscht der Stimme des «Himmelsboten». Dieser fordert sie auf, sich flugs auf die «Place de la Concorde» zu begeben, wo ein Mann auf sie warte, der sie kraft seiner Worte befruchten werde. Außer sich vor Freude macht Gabrielle sich auf den Weg, um den himmlischen Auftrag zu erfüllen. Für Lucien scheint - zumindest vorläufig - jede Gefahr gebannt: Die Ehefrau ist außer Haus, und Crevette ist bereit, das Weite zu suchen, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie ein neues Kleid erhält, das alte habe schließlich Mme Petypon soeben in dem Glauben mitgenommen, es sei ihr eigenes. Nachdem Lucien und Mongicourt - zwecks Erfüllung von Crevettes Auftrag - die Wohnung verlassen haben, betritt General Petypon du Grêlé, der Onkel Luciens, die Bühne. Er wünscht, seinen Neffen zu sprechen und ist daher einigermaßen überrascht, als er des «Mädels» ansichtig wird, das, noch immer im Bett liegend, so gar nicht ins Bild der untadelig verheirateten Arztfrau passt. Von der Überzeugung ausgehend, dass Crevette die Frau Luciens ist, lädt er sie 48 <?page no="49"?> zur Vermählung seiner Nichte Clémentine Bourré mit dem Leutnant Corignon ein. Sie soll auf dem Empfang die Honneurs machen und den General in seiner Aufgabe als Gastgeber unterstützen. Die Einladung entbehrt nicht der Pikanterie, ist doch der Leutnant ein verflossener Liebhaber Crevettes. Auch der soeben zurückgekehrte Lucien wird aufgefordert, der Hochzeit Clémentines beizuwohnen, eine Zwickmühle, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint. Ein Aufatmen scheint Lucien beschieden, als Mongicourt - die Prekarität der Situation in Sekundenschnelle erfassend - das Zimmer betritt. Doch auch er weiß sich keinen Rat, als die alptraumartige Maschinerie mit dem Auftritt Madame Petypons, die noch ganz unter dem Eindruck ihrer himmlischen «Begegnung» steht, einen weiteren Gang einlegt. Dass ihre exaltierte Art auf den General befremdlich wirkt, scheint sie nicht zu bemerken. Zur allgemeinen Erleichterung zieht sie sich zurück, um sich von den Aufregungen der «Place de la Concorde» zu erholen. Doch da bricht sich auch schon das nächste Missverständnis Bahn: Der General erliegt dem Glauben, dass Gabrielle die Frau Mongicourts sei, was dieser zwar aus Freundschaft zu Lucien nicht bestreitet, aber doch als Beleidigung empfindet. Nachdem nun - zumindest aus Sicht des Generals - alle Unklarheiten aus dem Wege geräumt sind, steht der geplanten Reise in die Touraine nichts mehr im Wege. Lucien und dessen falsche Ehefrau (das «Mädel» Crevette) haben sich - auf «Befehl» des Generals - bis um 16.05 Uhr reisefertig zu machen. Als willkommene Abwechslung zu einer derartig verfahrenen Beziehungskiste empfindet Lucien die Ankunft des von ihm bestellten «fauteuil extatique», einer Art «Schlafsessel», der den Benutzer per Knopfdruck ins Land der Träume überführt. Lucien ist über seine neue Anschaffung so begeistert, dass er auf die Ankündigung, zwei Herren wünschten ihn zu sprechen, zunächst unwirsch reagiert. Marollier und Varlin geben sich als Sekundanten in der «Affaire der vergangenen Nacht» aus. Auf die Frage Luciens, um welche Affaire es sich handle, stellt sich heraus, dass sein Kontrahent der Leutnant Corignon ist, der in der vergangenen Nacht Zeuge des Stelldicheins zwischen Lucien und Crevette war. Kurz darauf wird Corignon selbst vorstellig. Unter großen Beteuerungen versichert er Lucien, es handle sich bei jener Affaire um ein simples Missverständnis, das umso gegenstandsloser sei, als er ja bald in die Familie Petypon einheiraten werde. Kaum ist die Gefahr eines Duells gebannt, lauern schon wieder neue Schwierigkeiten auf Lucien. Er muss nämlich verhindern, dass sein Onkel, der jeden Moment eintreffen wird, und seine Ehefrau, die soeben per Post von der bevorstehenden Vermählung in der Touraine erfahren hat, aufeinander treffen. In seiner Not weiß Lucien sich nicht anders zu helfen, als Gabrielle auf dem «fauteuil extatique» zu einem Schläfchen zu verhelfen. Ein Straßenfeger, der Zeuge von Luciens nächtlichen Ausschweifungen war, kommt wie gerufen, um Madame Petypon nach seinem Weggang per Knopfdruck aus dem Reich der Träume zu holen. 49 <?page no="50"?> 3.1.1 Bewegungsinszenierung im Haupt- und Nebentext Dass die Kommentatoren Feydeaus sich weigern, die Handlung seiner Werke zusammenzufassen, ist nachvollziehbar, ist doch eine klassische, die Maxime «Konzentration auf das Wesentliche» verfolgende Inhaltsangabe schlicht unmöglich. Zusätzlich erschwert wird die «Stilübung» dadurch, dass die einzelnen Szenenwechsel häufig mit einer neuen Konfiguration einhergehen (und nicht etwa mit einer Änderung des Ortes bzw. der Zeit). Alle dargestellten Ereignisse enthalten bereits den Übergang zur nächsten Handlungsepisode (was sich in der Inhaltsangabe durch ein Fehlen von Absätzen bemerkbar macht). Auf La Dame de chez Maxim trifft der Begriff «Organismus» 70 zu, da «jeder Teil nicht nur in einem zeitlichen Nebeneinander zum vorhergehenden Teil steht, sondern durch ihn bedingt ist.» 71 Dass dieser Handlungsbegriff dazu beiträgt, die Performativität des Vaudeville wirkungsvoll hervorzuheben, soll im vorliegenden Teilkapitel durch die Analyse der rhythmischen Implikationen dargestellt werden. Zu Beginn dieser Analyse sei eine einleitende Bemerkung zur Frage der «Informationsvergabe am Drameneingang» 72 gemacht: Geht man von der Überlegung aus, dass eine Exposition wichtige Auskünfte zu den «Voraussetzungen und Gegebenheiten der unmittelbar dramatisch präsentierten Situationen» 73 enthält, dann wird aus der Inhaltsangabe deutlich, dass die Informationsvergabe nicht ausschließlich «an die Eingangsphase des Textes gebunden ist, sondern in die fortschreitende Handlung integriert und in zahlreiche kleine Teilmengen aufgelöst wird.» 74 Dennoch lässt sich «eine stärkere Konzentration expositorischer Informationsvergabe in den Eingangsphasen des Textes und eine graduelle Abnahme im weiteren Textverlauf feststellen.» 75 So wird der Zuschauer in den Szenen 1 bis 4 mit dem Grundkonflikt des Stückes konfrontiert und in den Szenen 5 bis 24 mit Informationen über den Bedingungszusammenhang der Ausgangssituation. Parallel zu dieser chronologischen Sukzession der Ereignisse wird der gesamte erste Akt durch gegenläufige Zeitrhythmen geprägt, die einer achronologischen Zeitkonzeption der Stasis bzw. der Zyklik entsprechen: So steht bereits die Szenenfolge 1 bis 2 ganz unter dem Eindruck der komischen Gegenüberstellung zwischen dem phlegmatischen Petypon und dem agil wirkenden Mongicourt. In der dritten Szene, die mit dem ersten Auftritt Madame Petypons korrespondiert, stellen das Ohnmachts- 70 Landfester, Manfred: Handlungsverlauf und Komik in den frühen Komödien des Aristophanes. Berlin: de Gruyter 1977 (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte), S. 4. 71 Ebd. 72 Pfister: Das Drama, S. 124. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 125. 75 Ebd., S. 126. 50 <?page no="51"?> gebaren Petypons und der Aktivismus Madame Petypons entgegengesetzte Verhaltensmuster dar, die das Moment der Progression unterlaufen. Nach dem gleichen Schema verläuft die vierte Szene, die sich durch ein bewegtes Wechselspiel zwischen dem um Fassung ringenden Petypon und der nur auf ihren eigenen Vorteil bedachten Crevette auszeichnet. In der fünften Szene, in der Madame Petypon erneut in das Arbeitszimmer ihres Mannes hereinplatzt, wird das zunehmend schneller werdende Tempo durch das Moment des «déjà vu» überlagert. Die sechste Szene wird durch Bewegungen geprägt, die sich sowohl der Stasis (Gespräch zwischen Petypon und Crevette) als auch der Linearität (dritter Auftritt Madame Petypons) zuordnen lassen. Auch in der Szenenfolge 7 bis 9 («himmlischer Auftrag») oszillieren die expressiven Möglichkeiten zwischen Spannung und Entspannung. In der Szenenfolge 10 bis 13 setzt eine Dynamik ein, die die Kluft zur Passivität Petypons umso deutlicher hervorhebt. Der vierte Auftritt Madame Petypons (Szene 14) korrespondiert - wie bereits zuvor die ersten drei Auftritte - mit einer starken Akzentuierung, die in den Szenen 15 bis 20 allmählich wieder abklingt, was einerseits damit zusammenhängt, dass Petypon sich in diesen Szenen nicht unmittelbar bedroht fühlt und andererseits darin begründet liegt, dass die erreichte Situation in Reflexionen und Kommentaren ausgeschöpft wird. Durch die Szenenfolge 21 bis 23 (Besuch von Marollier und Varlin) wird der Handlungsablauf erneut vorangetrieben, wobei die Linearität der Ereignisse eine Eigendynamik entwickelt, die zunehmend zum Selbstläufer mutiert. Am Ende des ersten Aktes steht die Szenenfolge 24 bis 25, deren elektrisierendes Stakkato wiederum in schroffem Gegensatz zu dem Ohnmachtsgebaren der Hauptfigur steht. Aus dieser Beschreibung geht hervor, dass «eine scheinbar so eindeutige musikalische Komponente wie das Tempo verwirrend relativiert werden [kann].» 76 Entgegen der weitläufigen Meinung, La Dame de chez Maxim sei ein ausgesprochenes «Allegro-Stück» 77 (ein Allegro, das in vielen Inszenierungen durchgehend «con brio» ausgeführt wird), bleibt das Tempo nicht in allen Phasen konstant schnell. Zwar gehört die Schnelligkeit (metronomisches 76 Koch, Gerhard R.: Was sehen wir beim Hören, was hören wir beim Sehen? Das Musiktheater, ein unbekanntes Wesen. Wagner hat sein Verschwinden mitkonzipiert. In: Bermbach, Udo/ Borchmeyer, Dieter/ Danuser, Hermann (Hg.): Schwerpunkt Regietheater. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005 (= Wagnerspectrum 2), S. 9 - 22, S. 13. 77 So schreibt beispielsweise Brigitte Brunet: «En premier lieu, comme le remarque avec justesse Marcel Achard, ‹ le miracle de Feydeau, c ’ est le mouvement › . Il s ’ agit bien là en effet de la caractéristique majeure de son théâtre: les péripéties se succèdent sans laisser de répit ni au personnage, ni au spectateur; le tempo s ’ accélère jusqu ’ aux limites du possible.» (Le théâtre de Boulevard. Paris: Nathan 2004, S. 71 - 72, Hervorhebung im Original). 51 <?page no="52"?> Tempo und Ereignisdichte) zu den eminent dramatischen Strukturen des Stückes, doch gibt es eine ganze Reihe von Szenen, die durch unterschiedlichste Farben und Schattierungen innerhalb der Piano-Register gezeichnet sind. Nachdem gezeigt worden ist, dass die Szenenfolge 1 bis 25 rhythmisch gegliedert ist, muss nun der Nachweis erbracht werden, dass auch die Figuren in eine dramatische Bewegung eingebunden sind. Hierzu möchte ich folgenden Ausschnitt aus Szene 7 untersuchen, an dem sich exemplarisch nachweisen lässt, dass der Rhythmus im sprichwörtlichen Sinne «durch die Personen hindurchgeht: » 78 MADAME PETYPON, dont on n ’ a pas cessé d ’ entendre la voix à travers la porte, en même temps qu ’ elle secouait celle-ci, entrant sur une poussée plus violente. Mais enfin, qu ’ est-ce qu ’ il y a donc? PETYPON, se laissant tomber de dos sur l ’ estomac de madame Petypon, ce, en poussant des petits cris inarticulés comme un homme qui a une crise de nerfs. Aha! Aha! Aha! Il amène ainsi sa femme, par petits soubresauts, par le milieu de la scène, presque devant le canapé. MADAME PETYPON, affolée, enserrant son mari sur son estomac. Ah! mon Dieu! qu ’ est-ce qu ’ il a . . . Docteur, vite! La « gueula » qui le reprend! MONGICOURT, sans bouger du dos de la Môme. La gueula! . . . tenez le bien! ne le lâchez pas! MADAME PETYPON Non . . . (A Petypon qui geint toujours et s ’ est placé de biais, face à l ’ avant-scène gauche, de façon à forcer sa femme à tourner le dos à Mongicourt.) Lucien! mon ami! . . . Oh! mais, il est trop lourd! . . . Mongicourt, venez le prendre; je n ’ en puis plus! Elle fait le mouvement de se tourner vers Mongicourt. PETYPON, la ramenant d ’ un coup de reins dans la position première. Non! toi! toi! pas lui! . . . Aha! Aha! MADAME PETYPON, les bras toujours passés sous les aiselles de Petypon. C ’ est que tu es un peu lourd! PETYPON, face au public, ainsi que madame Petypon, derrière lui, d ’ une voix mourante. Ça ne fait rien! .. Aha! . . . Tourne-moi au nord! . . . Tourne-moi au nord! MADAME PETYPON, abasourdie, tournant son mari face à Mongicourt. Au nord . . . où ça le nord? PETYPON, vivement, en même temps que d ’ un coup de reins il la ramène face à l ’ avantscène gauche. Non! ça, c ’ est le midi! . . . Dans ces crises, il faut tourner au nord! . . . Aha! . . . Tournemoi au nord! 78 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 212. 52 <?page no="53"?> MADAME PETYPON, s ’ énervant. Mais, est-ce que je sais où il est, le nord! PETYPON En face du midi! 79 Wendet man sich zunächst «dem zu, was das Lesen zuallererst steuert, der ‹ Organisationsform › und der ‹ Fügeweise › des Textes,» 80 dann fällt auf, dass der Szenenausschnitt zwei unterschiedliche Sprachmuster enthält: die Redeweise Petypons, die durch den Kontrast zwischen unartikulierter Lautproduktion («Aha»-Töne) und prägnanten Befehlssätzen geprägt ist, und das Sprechverhalten Madame Petypons, das im Wesentlichen aus Frage- und Ausrufesätzen besteht. Diese unterschiedlichen Sprachmuster bilden gleichsam die beiden Pole des Textrhythmus. Sie sind um so stärker ausgeprägt, je mehr Petypon versucht, auf seine Ehefrau Einfluss auszuüben, sie davon abzuhalten, den Blick in Richtung Süden zu wenden. Dabei stellt der von ihm eingenommene Befehlston «eine Sonderform [der] Beeinflussung und Umstimmung,» 81 dar, die - Pfister zufolge - eine bestimmte Abhängigkeits- und Autoritätsrelation zwischen den Dialogpartnern voraussetzt. In solchen Formen dramatischer Rede, in denen die appellative Funktion dominiert, wird der allgemein geltende Handlungscharakter dramatischer Rede besonders evident: Umstimmung und Befehl stellen Sprechakte dar, und unabhängig davon, ob der Umstimmungsversuch glückt oder nicht und ob dem Befehl Folge geleistet wird oder nicht, wird durch sie handelnd die Situation verändert. 82 Die für Petypon geltende Dominanz der appellativen Funktion zeigt sich nicht nur in der wirkungsvollen Kombination aus unartikulierten «Aha»- Tönen und artikulierten Befehlen, sondern auch in den Bewegungen seines Körpers, der sich mit animalischer Wucht gegen die von Madame Petypon ausgehende Gefahr aufbäumt. So heißt es zu Beginn des Szenenausschnitts: «PETYPON, se laissant tomber de dos sur l ’ estomac de Madame Petypon.» Auch in folgender Szenenanweisung steht die Triebhaftigkeit Petypons im Vordergrund: «PETYPON, ramenant [son épouse] d ’ un coup de reins dans la position première.» Wenn auch die theatrale Darstellung von Gewalt in den Stücken Feydeaus auf den Nebentext beschränkt bleibt (und im Haupttext keinerlei Rolle spielt), so handelt es sich doch um eine Darstellungsform, die - wie im modernen Performancetheater der Fall - auf ihren sinnlichen Wahrnehmungsbereich hin erweitert wird. 79 Feydeau, Georges: La Dame de chez Maxim. [1899]. Paris: Gallimard 2011 (= Folio Théâtre), S. 77 - 79. 80 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 188. 81 Pfister: Das Drama, S. 158. 82 Ebd. 53 <?page no="54"?> Des weiteren lässt sich anhand der Textpassage nachweisen, dass La Dame de chez Maxim «Sensationstheater» gemäß einem alle Sinne ansprechenden Theater ist. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise auch der von Petypon inszenierte Nervenzusammenbruch zu sehen, der sich als gesamtsomatisches Ereignis ausdrückt, dessen Wirkung auf der vermeintlichen Authentizität der körperlichen Selbstinszenierung beruht. Tatsächlich empfindet Gabrielle nur deshalb Mitleid mit ihrem Mann, weil dieser seinen Nervenzusammenbruch perfekt zu inszenieren vermag. Von seinem Darstellungsvermögen geht eine appellative Wirkung aus, der sich Madame Petypon nicht entziehen kann. Sie wird zur Trägerin von Situationsunzulänglichkeitskomik, da sie - angesichts der Wucht des ihr dargebotenen Schauspiels - nicht imstande ist, auf angemessene Weise zu reagieren. Statt ihrem völlig außer Rand und Band geratenen Mann energisch entgegenzutreten, lässt sie sich in den fingierten Wahnsinnsanfall hineinziehen. Nicht nur auf Petypon, sondern auch auf dessen Ehefrau trifft die Redewendung «perdre le nord» 83 zu, die ihren Effekt aus dem Wörtlichnehmen der Metaphorik bezieht. Nun zurück zum Grundkonflikt, der in seiner ganzen Variationsbreite in der Szenenfolge 1 bis 4 dargestellt wird. Worum geht es hier? Lucien Petypon, ein verdienter Hausarzt und beständiger Bürgersmann, sucht die Grenzen seines wohlgeordneten Lebens durch einen Seitensprung zu überschreiten. Ein solches Vorhaben ist durchaus im Sinne der gegen Ende des 19. Jh. herrschenden Doppelmoral, bei der es - wie Thomas Nipperdey hervorhebt - um die Unterscheidung einer Männer- und einer Frauenmoral [geht] und um die Etablierung und stillschweigende Duldung eines verborgenen Curriculums, einer verborgenen Lebenslinie der Männer, der jungen vor allem, aber auch der älteren, der gegenüber dann die offizielle Moral als Heuchelei, als Verlogenheit wirkte. Verstöße einer Frau gegen Keuschheit und Treue waren unverzeihlich, bei den Männern dagegen waren sie, wenn sie einigermaßen von der Öffentlichkeit abgeschirmt waren, läßlich. 84 Da Petypon allerdings mit den Folgen seiner Tat nicht umgehen kann und somit gegen die «verborgene Lebenslinie der Männer» verstößt, gerät er in einen Strudel erschreckender Ereignisse und außergewöhnlicher Wendungen, die seine vormals gesicherte Existenz bedrohen und ihn in eine andere Welt katapultieren. Ausgangspunkt für die Entstehung des Komischen ist das Prinzip der Normabweichung, wobei aber nicht der moralische Fehltritt an sich problematisch ist, sondern der Verstoß gegen jenes ungeschriebene bürgerliche Gesetz, dem zufolge nur derjenige mit der herrschenden Moral konform ist, der seinem Handeln - ob moralisch richtig oder falsch - die 83 Die Redewendung bedeutet «die Orientierung verlieren». 84 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866 - 1988. Arbeitswelt und Bürgergeist. Bd. 1. München: Beck 1992, S. 99. 54 <?page no="55"?> passende Form zu geben vermag. Aus Sicht des Bürgertums lässt sich über Luciens Fauxpas deshalb nicht hinwegsehen, weil er das für diese gesellschaftliche Schicht konstituierende Prinzip der dissimulatio nicht berücksichtigt. Anders als die Texte der Boulevardautoren, die altbackenen Moralvorstellungen verhaftet waren, zeichnen sich die Texte der Vaudevillisten durch eine besondere, historisch bedingte Zerrissenheit aus, ein Phänomen, das Martina Schwarz folgendermaßen begründet: Die Französische Revolution führte einerseits zu einer Wiederbelebung vergangener Moralvorstellungen und andererseits zu einer «Erstarrung jener bürgerlichen Werte, die im 18. Jahrhundert durchaus lebendig [. . .] auf der Bühne dargestellt wurden.» 85 Dieses gespaltene Bewusstsein macht sich in den Werken Feydeaus in dem Maße bemerkbar, wie in ihnen sowohl progressive als auch restaurative Tendenzen eine Rolle spielen. Als Meister einer Gattung, die schon damals als feste Konvention etabliert war, gelang es ihm, dem Unterhaltungsbedürfnis des Publikums zu entsprechen und gleichzeitig dem Vaudeville neues Leben einzuhauchen. So sehr er die Forderung nach einer Ästhetik zu erfüllen suchte, in der sich das Theater «als Medium des bürgerlichen Fortschritts» 86 verwirklichte, so wenig war er bereit, seine Texte «als Sittenanstalt aus[zu] geben und gerade damit zu [deren] Mittelmäßigkeit beizutragen.» 87 Im Gegensatz zu jenen Stücken, die allabendlich in den Theatern des Boulevard du Temple aufgeführt wurden, ließen die Werke Feydeaus eine Form der Darstellung erkennen, in der die Sprache eine überragende Stellung einnahm. Von dieser Prämisse ausgehend, muss La Dame de chez Maxim als Gegenentwurf zu jenen Boulevardstücken gesehen werden, in denen «moralische Werte und psychologische Kenntnisse sich dem Geschmack eines breiten bürgerlichen Publikums anpaßten und ästhetische Ansprüche immer mehr zurücktraten.» 88 Bereits in der ersten Szene wird deutlich, dass Petypons Seitensprung nicht als moralisches Vergehen im Sinne einer groß angelegten Versöhnungskomödie interpretiert werden darf, sondern als Auslöser einer Abwärtsspirale, deren zunehmende Eigendynamik nicht aufgehalten werden kann. In der Szenenfolge 5 - 24 wird der Grundkonflikt vom scheinbar einfachen Thema hin zu immer mehr Dichte und Komplexität weiterentwickelt. Das für Lucien bis dahin selbstverständlich Geltende verkehrt sich ex negativo - eine 85 Zitiert nach: Schwarz, Martina: Die bürgerliche Familie im Spätwerk Ludwig Tiecks: ‹ Familie › als Medium der Zeitkritik. Würburg: Königshausen & Neumann 2002 (= Epistemata/ Reihe Literaturwissenschaft), S. 54, Auslassung im Original. 86 Möller, Frank: Das Theater als Vermittlungsinstanz bürgerlicher Werte. In: Hahn, Hans- Werner (Hg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf - Vermittlung - Rezeption. Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau 2005, S. 193 - 210, S. 206. 87 Zitiert nach: ebd., S. 207. 88 Ebd., S. 205. 55 <?page no="56"?> 180°-Wendung, die für die Stücke Feydeaus durchaus typisch ist. Die von der Hauptfigur unternommenen Bemühungen, den von ihr begangenen Fauxpas ungeschehen zu machen, laufen paradoxerweise auf ihr Gegenteil hinaus: Nicht die Geliebte wird aus Luciens Leben verbannt, sondern die Ehegattin (so wird in der dritten Szene Madame Petypon aufgefordert, das Arbeitszimmer zu verlassen, um einen Kräutertee zu bereiten, ein Getränk, das Lucien im Übrigen verabscheut; in Szene 10 wird Gabrielle mit einem «himmlischen Auftrag» hinauskomplimentiert, in Szene 14 wird ihr nahegelegt, sich von den Aufregungen der «Place de la Concorde» zu erholen; als letzte Steigerung muss Szene 24 angesehen werden, in der die gebeutelte Ehefrau ins Reich der Träume befördert wird). Spontan seinen Impulsen folgend, unfähig, den Strudel der Ereignisse aufzuhalten, ist Lucien nicht in der Lage, in angemessener Weise zu reagieren. Auch die Sprache scheint kein geeignetes Mittel zu sein, das Knäuel von inneren Wirren in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Die psychologisierende Motivierung fehlt dem Stück ebenso wie ein «realistischer» Handlungsablauf. Das von Petypon entwickelte Reaktionsmuster ist als Abwehrreflex auf die zunehmende Absurdität der Handlungsepisoden zu verstehen. Sein verzweifelter Versuch, die sich überschlagenden Ereignisse zu steuern, seine Weigerung, die absurde Situation als solche anzuerkennen, führt dazu, dass letzlich er selbst in dieser Welt des Irrationalen gefangen ist. Dabei schließen sich die nach dem Prinzip Zufall verknüpften Handlungsepisoden zunehmend in eine eigene Logik ein, die am Ende des ersten Aktes crescendoartig auf einen eklatanten Höhepunkt zutreibt. 3.1.2 Figurenkonzeption Die Figurenkonzeption stellt einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt für das systemische Lesen dar, weil die Auseinandersetzung mit dem der Figur zugrundeliegenden Konzept die Möglichkeit bietet, «Zusammenhänge, Bezüge und textuelle Wertigkeiten» 89 zu entdecken. Gerade im Hinblick auf La Dame de chez Maxim, dessen umfangreiches Figurenpersonal durch ein komplexes System an Kontrastbezügen geprägt ist, liegt der Gedanke nahe, nicht von einzelnen Figuren, sondern von bestimmten Figurenkonstellationen oder Gegensatzpaaren auszugehen, da sich nur so zeigen lässt, dass Feydeaus Vaudeville ein Schauplatz widerstreitender Darstellungsweisen und Prinzipien ist. Besonders aufschlussreich sind die Konstellation Petypon-Crevette und die Konstellation Petypon-Mongicourt: 89 Vgl. Fußnote 4 auf Seite 36. 56 <?page no="57"?> Petypon-Crevette Anhand des Gegensatzpaares Petypon-Crevette lassen sich exemplarisch gegenläufige Stilisierungstendenzen des Komischen aufzeigen: das Mechanische (Petypon) und das Lebendige (Crevette). Bergson hat diesen Kontrast als grundlegenden komischen Effekt hervorgehoben, der sich aus dem «Spiel mit Ordnung und Unordnung, mit Normen und Tabus, [aus] einem Kontrast, einer Inkongruenz etwa von Gegenstand und Begriff, von Ansehen und Aussehen» 90 ergebe. Diese Kontrastfunktion könne auf vielerlei Weise wirksam werden. Für Petypon scheint das Prinzip des Umsonst zu gelten, «d. h. daß eine große Anstrengung für ein nichtiges Resultat» 91 bzw. für eine Verwicklung unternommen wird, die den ursprünglichen Absichten der Figur konträr zuwiderläuft. Bei Crevette macht sich ein Mechanismus bemerkbar, der - ohne erkennbare Willensanstrengung der Figur - «Verwicklungen in Serie» 92 produziert und den Bergson daher «Schneeball- Prinzip» genannt hat. Petypon-Mongicourt Dass der kontrastive Aspekt auch in der Konstellation Petypon-Mongicourt zum Tragen kommt, mag der Dialog aus Szene 18 veranschaulichen: MONGICOURT, [. . .] Qu ’ est-ce que c ’ est que ce fauteuil qu ’ on t ’ apporte? tu te meubles? PETYPON, criant merveille. Eh! non! c ’ est le fameux fauteuil extatique! la célèbre invention du docteur Tunékunc! J ’ ai vu les expériences à Vienne lors du dernier congrès médical et je me suis décidé à me l ’ offrir pour ma clinique. MONGICOURT, s ’ inclinant. Ah? tu te mets bien! PETYPON Mais tu es destiné à l ’ avoir aussi! nous sommes tous destinés à l ’ avoir nous autres médecins! L ’ avenir est là, comme aux aéroplanes. Ces rayons X, on ne sait pas toutes les surprises que cela nous réserve! MONGICOURT Et ça n ’ est que l ’ enfance! 90 Schmidt-Dengler: Komische Diskurse und literarische Strategien, S. 13. 91 Ebd., S. 14. 92 Ebd. 57 <?page no="58"?> PETYPON Quand on pense que, jusqu ’ à présent, on endormait les malades avec du chloroforme, qui est plein de danger. . . et toujours pénible! Tandis que maintenant, avec ce fauteuil! . . . 93 In dieser Textpassage sind erste Anklänge absurden Gedankenguts deutlich zu vernehmen. So fühlt sich Petypon - gleich einem Kind, das vom Zauber eines neuen Spielzeugs wie gebannt ist - von der Welt des Kuriosen, des Irrationalen, wie magisch angezogen. Dem geerdeten Mongicourt hingegen ist eine solche Affinität fremd, was sich an der offensichtlichen Skepsis zeigt, mit der er der Erfindung des «Docteur Tunékunc» begegnet. Je leidenschaftlicher sich Petypon in seine Begeisterung hineinsteigert, desto wortkarger wird Mongicourt. Dessen «Charakter (im neutralen Sinn der Identität)» 94 zeichnet sich durch eine erfahrungsbedingte Abgeklärtheit aus, die sich aus einer in sich ruhenden Persönlichkeit speist. Zwar ist auch er Lebemann, doch ist er sich darüber im Klaren, wie weit er gehen darf, um den Gefahren jener Abwärtsspirale zu entgehen, der Lucien ohnmächtig ausgeliefert ist. Er versteht es, die Extreme der menschlichen Existenz in einer imaginären Mitte auszupendeln und der eigenen Triebnatur in dem Maße Rechnung zu tragen, wie dadurch dem «souci des convenances» kein Abbruch getan wird. Dass eine solche Lebensphilosophie durchaus zynische Züge tragen kann, wird in folgendem Gespräch aus Szene 2 deutlich: PETYPON, la tête douloureusement renversée contre le dossier du canapé. Quel fichu lit! MONGICOURT Je m ’ en doute! . . . (Alerte et éveillé.) Eh bien, moi à huit heures, j ’ étais à mes malades . . . (Se levant et allant à Petypon.) A onze heures, j ’ avais vu tout mon monde; y compris notre opéré d ’ hier. PETYPON, subitement intéressé. Ah? . . . Et bien, comment va-t-il? MONGICOURT, debout à gauche de la chaise du milieu, sur un ton dégagé. C ’ est fini! Il sort un étui à cigarettes de sa poche. PETYPON, vivement. Il est sauvé? MONGICOURT Non! Il est mort! Il tire une cigarette de l ’ étui. PETYPON Aïe! 93 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 123 - 124. 94 Pfister: Das Drama, S. 224. 58 <?page no="59"?> MONGICOURT Oui. (Moment de silence.) Oh! il était condamné. PETYPON Je te disais bien que l ’ opération était inutile. MONGICOURT, dogmatique. Une opération n ’ est jamais inutile. (Remettant l ’ étui dans sa poche.) Elle peut ne pas profiter à l ’ opéré . . . (Tirant une boîte d ’ allumettes de son gousset) elle profite toujours à l ’ opérateur. PETYPON Tu es cynique. 95 Indem Mongicourt peinlichst darauf bedacht ist, sich seiltänzerisch auf der Grenze des moralisch gerade noch Vertretbaren zu halten, scheint Petypon gegenüber der Doppelbödigkeit bürgerlicher Moralvorstellungen eine kritische Haltung einzunehmen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass er bereit wäre, den herrschenden Verhaltenskodex in einem bravourösen Akt bürgerlichen Ungehorsams hinwegzufegen. Im Gegenteil: Nichts wäre ihm lieber, als in den sicheren Hafen der bürgerlichen Ordnung zurückzukehren, sich in jene verlorene Welt wieder einzugliedern, in der er sich der eigenen Identität noch sicher wähnte. Doch gerade dies scheint ihm verwehrt zu sein: Je länger der Strudel der sich überschlagenden Ereignisse anhält, desto bedrohlicher mutet Petypon die ihn verschlingende Weite an, desto mehr schwindet die Hoffnung, das Unheil könnte doch noch gebannt werden. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Energie darauf zu verwenden, eine gewisse Alltagsnormalität vorzutäuschen, den Bürger zu spielen, statt Bürger zu sein. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Eugène Ionesco, einer der bedeutendsten Vertreter des absurden Theaters, sich von dem Werk Feydeaus angezogen fühlte. Der Vaudevillist - so die Überzeugung Ionescos - gehöre zu jenen wenigen Autoren, denen es gelungen sei, die mechanisierten, sinnentleerten Handlungsweisen aufzuspüren und für das Theater fruchtbar zu machen. Werke wie La Dame de chez Maxim oder La Puce à l ’ oreille zeichneten sich durch das Prinzip der antimimetischen Zuspitzung, durch eine von jeder Handlung losgelöste Steigerung aus. Insbesondere Feydeaus Farcen seien mit seinem Theater vergleichbar, nicht in den Themen, nicht im Stoff, aber im Rhythmus. Im Handlungsgefüge eines Stückes wie La Puce à l ’ oreille zum Beispiel gibt es eine Beschleunigung des Ablaufs, eine Steigerung, eine Art Tollheit. Darin könnte man vielleicht das Wesen des Theaters entdecken, oder doch wenigstens das Wesen des Komischen . . . Denn wenn Feydeau einem gefällt, so liegt das nicht an seinen Ideen (er hat keine) noch an den Schicksalen seiner Figuren (sie sind albern) - es liegt an dieser Tollheit, an 95 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 53 59 <?page no="60"?> diesem dem Anschein nach geregelten Mechanismus, der aber in seinem unerbittlichen Ablauf und seiner Beschleunigung schließlich völlig aus den Fugen gerät. 96 Aus dem Zitat geht eindeutig hervor, dass die «Beschleunigung des Ablaufs» auf den skandierenden Rhythmus zurückzuführen ist, der im Genre des Vaudeville als Selbstläufer fungiert. Dabei speist sich die mechanisch determinierte Eigendynamik, die Stücke wie La Puce à l ’ oreille oder La Dame de chez Maxim charakterisiert, aus einem durch Alltagsbanalitäten geprägten Handlungsablauf. Dieser wirkt sich auch auf das Gebaren der Figuren aus, deren prägendstes Merkmal die Unfähigkeit der Einflussnahme auf die «Tollheit» der Ereignisse ist. Allerdings möchte ich nicht den Eindruck aufkommen lassen, La Dame de chez Maxim sei im Grunde ein absurdes Drama «avant la lettre», das rein zufällig in die Nachbarschaft des Vaudeville geraten ist. Zwar durchzieht das für das absurde Theater so charakteristische Motiv der Bedrohung das gesamte Stück, doch ist dieses Motiv nicht-metaphysischer Natur, es hat keinerlei Auswirkungen auf das «Innenleben» der Figuren, die ausnahmslos über eine feste, in kulturell vordefinierten Lebensformen geortete Identität verfügen. 3.1.3 Inszenierung des Raums Auch im Hinblick auf die Inszenierung des Raums lässt sich schwerlich behaupten, dass Feydeaus «Hinweise zur Aufteilung der Bühne, zur Gestaltung des Bühnenbildes im Szenenhintergrund» 97 Anklänge absurden Gedankenguts erkennen lassen. Vielmehr dienen sie der örtlichen Skizzierung des Geschehens: Das Vaudevilletheater verfolgt mit seinen örtlichen Angaben die illusionistisch-mimetische Absicht, ein bürgerliches Interieur zu entwerfen, mit dem sich der Zuschauer vollauf identifizieren kann. Um die räumliche Dramatik in La Dame de chez Maxim zu erfassen, soll zunächst der Fokus auf die Szenenanweisungen zu Beginn des ersten Aktes gerichtet werden, die als ein «zentrale[s] Element der impliziten Inszenierung des Textes» 98 angesehen werden müssen. Anschließend werde ich auf die im Nebentext beschriebenen Requisiten eingehen. Die ausgesprochen detaillierten örtlichen Angaben zu Beginn des ersten Aktes dienen der Beschreibung von Petypons Behandlungs- und Sprechstundenraum. Offenbar war es Feydeau darum zu tun, die vollkommene Illusion einer real existierenden Wirklichkeit herzustellen, ein Bestreben, das vor dem Hintergrund eines Zeitalters zu sehen ist, in dem der Raum sich «als das zentrale Paradigma kultureller Selbstbeschreibung und Selbstverständi- 96 Zitiert nach: Esslin, Martin: Das Theater des Absurden. Von Beckett bis Pinter. [1961]. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2006, S. 150. 97 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 222. 98 Ebd. 60 <?page no="61"?> gung [präsentierte].» 99 Insbesondere die für heutige Auffassung pedantisch anmutenden Hinweise zur Aufteilung der Bühne dienen der genauen Nachbildung eines bürgerlichen Interieurs, das sowohl die Anforderungen einer öffentlichen als auch einer privaten Sphäre zu erfüllen hatte. Zum besseren Verständnis folgt zunächst die dem ersten Akt vorausgehende Skizzierung des «Cabinet du docteur Petypon»: Grande pièce confortablement mais sévèrement meublée. A droite premier plan, une fenêtre avec brise-bise et rideaux. Au deuxième plan, en plan coupé (ou ad libitum, fond droit face au public), porte donnant sur le vestibule. A gauche deuxième plan (plan droit ou plan coupé ad libitum) porte donnant chez Madame Petypon. Au fond, légèrement en sifflet, grande baie fermée par une double tapisserie glissant sur tringle et actionnée par des cordons de tirage manoeuvrant de la coulisse, côté jardin. Cette baie ouvre sur la chambre à coucher de Petypon. Le mur de droite de cette chambre, contre lequel s ’ adosse un lit de milieu, forme avec le mur du côté droit de la baie un angle légèrement aigu, de telle sorte que le pied du lit affleure le ras des rideaux, alors que la tête s ’ en éloigne suffisamment pour laisser la place d ’ une chaise entre le lit et la baie. Celle-ci doit être assez grande pour que tout le lit soit en vue du public et qu ’ il y ait un espace de 75 centimètres entre le pied du lit et le côté gauche de la baie. De l ’ autre côté de la tête du lit, une table de nuit surmontée d ’ une lampe électrique avec son abat-jour. Reste des meubles de la chambre ad libitum. En scène, milieu gauche, un vaste et profond canapé anglais en cuir capitonné, au dossier droit et ne formant qu ’ un avec les bras; à droite du canapé, une chaise volante. A droite de la scène, une table-bureau placée perpendiculairement à la rampe. A droite de la table et face à elle, un fauteuil de bureau. A gauche de la table un pouf tendu « en blanc » et recouvert provisoirement d ’ un tapis de table; au-dessous de la table une chaise volante. Au fond, contre le mur, entre la baie et la porte donnant sur le vestibule, une chaise. Au-dessus de cette chaise, un cordon de sonnette. Sur la table-bureau, un buvard, encrier, deux gros livres de médecine. Un fil électrique, partant de la coulisse en passant sous la fenêtre, longe le tapis, grimpe le long du pied droit (du lointain) de la table-bureau et vient aboutir sur ladite table. Au bout du fil qui est en scène, une fiche destinée à être introduite, au courant de l ’ acte, dans la mâchoire pratiquée dans la pile qui accompagne le fauteuil extatique afin d ’ actionner celle-ci. A l ’ autre bout, en coulisse, un cadran à courant intermittent posé sur un tabouret. (Placer, en scène, les deux gros livres de médecine sur le fil afin d ’ empêcher qu ’ il ne tombe, en attendant l ’ apparition du fauteuil extatique.) 100 Aus dieser Skizzierung geht hervor, dass die Bereiche des öffentlichen und des privaten Lebens nicht strikt voneinander getrennt sind. Zwar lässt sich das Schlafzimmer Petypons durch eine manuell zu betätigende Tapetenvorrichtung abschirmen, doch deutet die Fragilität der Konstruktion auf eine drohende Überlappung der biologischen und gesellschaftlichen Tätigkeiten hin. Nun stimmen Kulturhistoriker darin überein, dass die für heutiges Empfinden als normal angesehene Trennung des Wohnortes vom Arbeits- 99 Krug, Michaela: Auf der Suche nach dem eigenen Raum: Topographien des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 (Epistemata/ Reihe Literaturwissenschaft 437), S. 34. 100 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 39 - 40. 61 <?page no="62"?> platz kaum älter als ein Jahrhundert ist. Als Lebenspraxis setzte sich die zweckbestimmte Unterteilung erst nach und nach durch. Doch Feydeaus Bühnenanweisungen beschreiben nicht nur ein bürgerliches Interieur, sie deuten bereits auf den Grundkonflikt der Hauptfigur hin, der gerade die Unfähigkeit, zwischen privater und öffentlicher Sphäre zu trennen, zum Verhängnis wird. Weil Petypon nicht in der Lage ist, seinen Fauxpas vor der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu verbergen, gerät er in eine Abwärtsspirale, aus der er sich nur mit größter Not zu befreien vermag. Weiterhin fällt die Kargheit der Schlafraumgarnitur auf, die - aus den klassischen Objekten Bett, Nachttisch, Stuhl bestehend - im Zeichen asexueller Schamhaftigkeit steht. Die detaillierten Anweisungen zur optimalen Bettposition, zum Kopfteil des Bettes (das an einer geschlossenen Rückwand steht), zum Nachttisch (auf dem sich keinerlei dekorative Utensilien befinden) weisen auf einen befangenen Umgang mit Sexualität hin. Dabei ist die im Schlafzimmer Petypons herrschende Sprödigkeit auf die normativen Erwartungen des traditionsgeleiteten Umfelds zurückzuführen. Gerade für die bürgerliche Moral des ausgehenden 19. Jahrhunderts gilt das kirchliche Gebot der Eingrenzung von legitimer Sexualität auf die Ehe, durch das der Mensch von seiner Triebnatur befreit werden soll. Da sich - diesen Erwartungen zum Trotz - Petypons Wunsch nach erotischer Freizügigkeit nicht einfach unterdrücken lässt, sucht er den Kontakt mit der Prostituierten Crevette, einer jungen Frau von auffallender Sinnlichkeit. Deren ausschweifende Art, ihre verhängnisvoll fatale Weiblichkeit, stehen in einem schroffen Kontrast zu den Räumlichkeiten des ersten Aktes. Die in Feydeaus Vaudeville enthaltenen Verwicklungen sind somit auch räumliche Verwicklungen, die ihre semantische Gewichtung aus der den Bühnenanweisungen zugrundeliegenden Symbolik beziehen. Des weiteren wird die Bewegung im Raum auch durch die im Nebentext beschriebenen Requisiten festgelegt. Gerade der erste Akt führt eine Fülle an Gegenständen auf, die die Akteure - den Regieanweisungen zufolge - mit ihren Tastbzw. Hautsinnen ergreifen, anstoßen, erwischen, umgehen, anrempeln, bedecken, verstecken, entwenden sollen. Dabei fällt im Hinblick auf die Hauptfigur auf, dass die von ihr gehandhabten Gegenstände nur vom eigenen Körper her wahrgenommen werden und in keinerlei direktem Bezug zur Außenwelt stehen. Ein Beispiel für eine solche Form der Derealisierung stellt folgende Replik dar, in der Petypon - in Verkennung der Wirklichkeit - die Rückenlehne der Ottomane für einen Baldachin hält: PETYPON, se retournant sur le dos. Eh! bien, quoi? Il se remet sur son séant et va donner de la tête contre le dossier du canapé. Oh! . . . mon ciel de lit qui est tombé! Il se réétend sur le dos. 101 101 Ebd., S. 48. 62 <?page no="63"?> In der «Interferenz von Redetext und Nebentext» 102 offenbart sich die beschränkte, auf Abgrenzung ausgerichtete Innenwelt Petypons. Eine solche Tendenz zur Ablösung von der Realität verkörpert auch der seiner Schirmfunktion beraubte «parapluie», den Étienne vom Tisch nimmt und kommentarlos schließt. 103 Dabei ist die Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Gegenständen seines Herrn als Indiz dafür zu werten, dass Étienne hinsichtlich der Unfähigkeit Petypons, Denken und Handeln auf die Realität hin abzustimmen, völlig im Bilde ist. Die von Mongicourt und Étienne verwandten Objekte stellen im Gegenzug keine «absurden Requisiten» dar, da sie nicht isoliert, sondern im Hinblick auf ihre unmittelbare Verwendbarkeit wahrgenommen werden. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die beiden folgenden Repliken: MONGICOURT, indiquant le pouf en blanc renversé par terre. Ah! là! là! Qu ’ est-ce que c ’ est que ce pouf! Pas élégant! ÉTIENNE, relevant le pouf et le couvrant du tapis de table qui gît près de là. Oh! c ’ est provisoire! Madame est en train de faire une tapisserie pour. Alors, en attendant, on met ce tapis dessus. 104 Die hier aufgeführten Requisiten verweisen symbolisch auf die von der Gesellschaft geforderte Notwendigkeit, gewisse menschliche Unzulänglichkeiten mit einem «Deckmäntelchen» zu kaschieren. So ist es denn auch kein Zufall, dass ausgerechnet Mongicourt, dessen Charakter sich durch eine erfahrungsbedingte Abgeklärtheit auszeichnet, über die im Zimmer herrschende Unordnung die Nase rümpft («Ah! là! là! Qu ’ est-ce que c ’ est que ce pouf! Pas élégant! » 105 ). Gerade an «Eleganz» - dies macht die Replik deutlich - darf es ein bürgerlicher Lebemann nicht fehlen lassen, wer diese ungeschriebene Regel ignoriert, läuft Gefahr, in besonders «sensiblen» Bereichen wie dem Ehebruch eine «unelegante» Vorgehensweise an den Tag zu legen und somit gegen jene «verborgene Lebenslinie,» gegen jenes Gebot der «convenance» zu verstoßen, das dem Mann jeden Seitensprung zugesteht, sofern er dabei die gebotene Diskretion walten lässt. 102 Fischer-Lichte, Erika: Der dramatische Dialog. Theater zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. In: Raible, Wolfgang (Hg.): Symbolische Formen. Medien. Identität. Tübingen: Narr 1991 (= Script-Oralia 37), S. 25 - 54, S. 32. 103 So lautet der einschlägige Nebentext: «ÉTIENNE, tout en refermant le parapluie qui est grand ouvert sur la table.» (Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 44). 104 Ebd., S. 43 - 44. 105 Ebd. 63 <?page no="64"?> 3.2 Dynamik der Kontrastbildungen und Verschiebungen (zweiter Akt) Auf der Salonterrasse des «Château du Grêlé» singt ein Kinderchor eine Kantate zu Ehren des Generals, die eigens von dem Abt des nahe gelegenen Klosters komponiert wurde. Kaum sind die letzten Töne verklungen, macht sich auf Seiten der Zuhörerschaft ausgelassene Stimmung breit. Der General stimmt in die allgemeine Begeisterung ein, indem er dem Abt eine Glocke aus Bronze schenkt. Crevette kann sich indes mit ihrer Aufgabe als «Gastgeberin» gut identifizieren: Von Mesdames Virette, Ponant, Hautignol, Claux, der «duchesse» und der Baronin umringt, spielt sie die «grande dame» des gehobenen Pariser Bürgertums, eine Rolle, die sie so überzeugend verkörpert, dass der General seiner Nichte Clémentine nahelegt, sie möge sich an Crevette ein Beispiel nehmen. Um das «Mädel» vor seinem aufdringlichen Beschützer zu bewahren, erteilt der General seinem Neffen den «Befehl», den Unterpräfekten Sauvarel durch das Schloss zu führen. Derweil muss Crevette ohne Lucien zurechtkommen, eine Herausforderung, der sie anfangs gewachsen zu sein scheint. Als Petypon allerdings zurückkehrt, wähnt er neue Gefahren in Sicht und nimmt Crevette heftig in die Mangel, worauf sie sich in einer Art Trotzreaktion rittlings auf einen Stuhl setzt und ihren Ausspruch «Eh! allez donc, c ’ est pas mon père! » 106 zum Besten gibt. Wider Erwarten reagieren die Gäste mit Begeisterung, da sie die Floskel für eine besonders originelle Erfindung der «princesse de Waterloo» und der «baronne Sussemann» halten. 107 Kurz darauf mahnt der General die Gäste zum Aufbruch: Der im Nachbardorf auftretende Posaunenchor der Freiwilligen Feuerwehr beehrt sich der Anwesenheit der Hochzeitsgesellschaft. Nur Crevette und der «duc» bleiben im «grand salon» zurück und beginnen ein Techtelmechtel, das jedoch bald von Petypon gestört wird. Dessen Gleichgültigkeit mutet den «duc» erstaunlich an. Erst als Lucien seiner sich dem Schloss nähernden Ehefrau gewahr wird, kehren die alten Lebensgeister zurück: Mit einem Satz springt er auf Crevette zu, fasst sie am Handgelenk und schleift sie zur Tür hinaus. Kaum ist sie außer Sichtweite, betritt Gabrielle die Schlossterrasse und nimmt sichtlich enttäuscht die Abwesenheit der Hochzeitsgesellschaft zur Kenntnis. Als diese kurz darauf zurückkehrt, fordert Gabrielle unumwunden den General auf, er möge sie den anwesenden Gästen vorstellen. Die Begrüßungszeremonie nehmen die Damen zum Anlass, der Pariserin Crevettes Ausspruch «Eh! allez donc, c ’ est pas mon père! » vorzuführen. Von derart «provinziellen» Modeerscheinungen unbeeindruckt, findet sich Gabrielle ganz selbstverständlich in die Rolle der Gastgeberin ein. Dabei muss sie feststellen, dass sich bereits eine andere «Madame Petypon» unter den Gästen befindet, ein Umstand, der Gabrielle zu 106 Ebd., S. 198. 107 Vgl. hierzu: ebd., S. 199. 64 <?page no="65"?> der Schlussfolgerung verleitet, dass es sich um die Ehefrau des Generals handeln muss. Zur allgemeinen Erleichterung zieht sie sich bald auf ihr Zimmer zurück. Kaum hat sie die Bühne verlassen, erfährt der Zuschauer aus dem Munde eines atemlosen Petypon, dass er soeben seine Ehefrau in ihrem Zimmer eingesperrt hat. Durch diese Maßnahme scheint - wenn auch nur vorübergehend - ein Problem aus der Welt zu sein, doch schon harrt das nächste seiner Lösung: Wie kann Crevette davon abgehalten werden, der versammelten Hochzeitsgesellschaft ein Lied vorzusingen? Petypon, dem im Umgang mit Crevette kein Glück beschieden ist, muss hilflos zusehen, wie sie die anstößige «Romanze von der Marmite à Saint-Lazare» vorträgt, deren derb-realistischer Gehalt nur deshalb so wenig Reaktionen auslöst, weil er von den Gästen nicht verstanden wird. Erst als Crevette das Wort «meeerde» in den Mund nimmt, steht der von Petypon so gefürchtete gesellschaftliche Skandal im Haus. Um der Empörung den Wind aus den Segeln zu nehmen, fordert er die Gäste auf, sich auf die Tanzfläche zu begeben. Für Crevette ist dies die Gelegenheit, das gesellschaftliche Protokoll zu vergessen und sich voll und ganz dem Rhythmus und den Klängen der «Quadrille» hinzugeben, was bei den Damen für Empörung sorgt. Des Tanzens müde legen die Gäste - mit Ausnahme von Crevette, die im «grand salon» zurückbleibt - eine Pause im Nebenraum ein. Derweil betritt Leutnant Corignon die Bühne. Als er seiner ehemaligen Geliebten gewahr wird, erscheint ihm seine bevorstehende Eheschließung mit Clémentine in einem negativen Licht. Viel lieber möchte er mit Crevette die Flucht antreten und mit ihr an einem unbekannten Ort in «wilder Ehe» leben. Er verspricht, alle hierfür notwendigen Vorbereitungen zu treffen, schiebt die in diesem Augenblick auftretende Madame Petypon unsanft zur Seite und verlässt kurzerhand den Raum. Der bald darauf die Bühne betretende Petypon muss mit Entsetzen feststellen, dass sich seine Ehefrau - nach dem Schlüssel ihrer Reisetruhe suchend - unter dem Klavier befindet. In reflexartiger Manier greift er nach der Schutzhülle für die Glocke und stülpt ihr das grobe Leinen über den Kopf. Die Stimme des Engels Gabriel suggerierend, fordert er sie auf, das Anwesen des Generals umgehend zu verlassen. Doch bevor sie dieser Aufforderung nachkommen kann, tritt ein atemloser Corignon erneut in Erscheinung. Flehentlich bittet er Petypon, dem General ein Schreiben auszuhändigen, das diesen über die definitive Auflösung seiner Verlobung mit Clémentine unterrichten soll. Derweil huscht Crevette - tief verschleiert und mit Koffern bepackt - über die Bühne. Es folgt der Auftritt des Generals, der noch während der Lektüre des Briefes auf Rache sinnt. «Madame Petypon» - so sein lakonischer Kommentar - sei «une drôlesse,» 108 der man ordentlich die Leviten lesen sollte. Der Satz ist kaum zu Ende gesprochen, da empfängt er auch schon eine schallende Ohrfeige von der «wahren» Madame Petypon, die nicht bereit ist, diese Beleidigung 108 Ebd., S. 277. 65 <?page no="66"?> hinzunehmen. Vor Wut schäumend, verpasst der General dem soeben eintretenden Mongicourt, dem vermeintlichen Ehemann Gabrielles, ebenfalls eine Ohrfeige, ein Affront, der nur durch ein Duell gesühnt werden kann. 3.2.1 Bewegungsinszenierung im Haupt- und Nebentext Gagner du temps, tout est là, dans la vie! (Lucien Petypon in La Dame de chez Maxim) 109 Nachdem die systemischen Beziehungen innerhalb des zweiten Aktes zusammengefasst wurden, soll nun der Fokus auf die Analyse der Bewegungsinszenierung im Haupt- und Nebentext gerichtet werden, d. h. auf jene Bewegungen, die für den Handlungsverlauf maßgeblich bestimmend sind. Dabei fällt zunächst auf, dass der gesamte zweite Akt durch ein Höchstmaß an rhythmischer Elastizität bestimmt ist. War der erste Akt durch unterschiedlichste Tempovariationen charakterisiert, so lässt sich der dem zweiten Akt zugrunde liegende Rhythmus durch die Ausdrucksbezeichnung «tempo rubato» («geraubte Zeit») beschreiben, ein in der Musik häufig gebrauchter Begriff, der «die rhythmische Verschiebung der Melodiestimmen [. . .] bei gleichzeitig konstantem Tempo des Grundrhythmus» 110 bezeichnet. Chopin, dessen Werke sich durch ununterbrochene Temposchwankungen auszeichnen, hat den Begriff folgendermaßen definiert: Die singende Hand darf abweichen, die begleitende Hand muß den Takt halten. Man stelle sich einen Baum vor, dessen Zweige sich im Winde wiegen; die Bewegung des Stammes repräsentiert das gleichförmige Metrum, die zitternden Blätter sind die melodisch-rhythmischen Verschiebungen. 111 Im zweiten Akt von La Dame de chez Maxim bilden die überaus monoton anmutenden Konversationen der Hochzeitsgesellschaft jenes «gleichförmige Metrum», jenen Grundrhythmus für die «melodisch-rhythmischen Verschiebungen» einzelner Figuren. Die Fixierung des Grundrhythmus, der bisweilen Assoziationen zur Autonomie der Sprechmaschine nahe legt, erfolgt in der - als «Sittengemälde» konzipierten - ersten Szene des zweiten Aktes. Innerhalb dieser Szene geht insbesondere von der Konversation der Damen Hautignol, Ponant, Virette, die durch symmetrischen Perioden und metrisch verschobenen Wiederholungen von «ma chère» gekennzeichnet ist, eine «rhythmisierte» Wirkung aus. 109 Ebd., S. 234. 110 Lange, Helmut K. H.: Allgemeine Musiklehre und allgemeine Ornamentik: ein Lehrbuch für Musikschulen, Konservatorien und Musikhochschulen. Stuttgart: Steiner 1991, S. 49. 111 Zitiert nach: ebd. 66 <?page no="67"?> MADAME HAUTIGNOL, MADAME PONANT, MADAME VIRETTE, presque simultanément MADAME HAUTIGNOL, très vite et passant. Eh bien, vous avez vu, ma chère! la jupe est plate par derrière avec l ’ ouverture sur le côté! MADAME PONANT, avant que l ’ autre ait fini sa phrase et aussi vivacement. La manche, ma chère! la manche! avez-vous remarqué comment elle est faite? l ’ épaulette, le haut est rapporté! MADAME VIRETTE, de même. J ’ ai bien regardé la jupe, elle est de biais, ma chère! avec le volant en forme comme je le disais. 112 In den bisherigen Definitionen des «tempo rubato» fehlt noch der Hinweis auf die von Komponisten des 18. Jahrhunderts erhobene Forderung, dass die «geraubte Zeit» an anderer Stelle zurückgewonnen werden muss. Diese Definitionserweiterung ist insofern interessant, als Petypon während des gesamten zweiten Aktes damit beschäftigt ist, der verlorenen Zeit hinterher zu laufen, so auch in folgender Sequenz: PETYPON, débouchant tout essoufflé de la porte de droite premier plan. Ouf! ça y est. LA MOME, se précipitant vers Petypon, l ’ amène à l ’ avant-scène, puis vivement. Ah! te voilà, toi! . . . Qu ’ est-ce que ça veut dire? ta femme est ici! PETYPON Je le sais bien. LA MOME Qu ’ est-ce que tu en as fait? PETYPON Je l ’ ai enfermée. LA MOME, avec un sursaut de surprise. Hein! PETYPON Je l ’ ai aperçue qui entrait dans une chambre; la clef était à l ’ extérieur; alors, vling, vlan! deux tours! LA MOME Mais c ’ est fou! qu ’ est-ce que tu y gagnes? PETYPON J ’ y gagne du temps! Gagner du temps, tout est là, dans la vie! 113 112 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 168. 113 Ebd., S. 234. 67 <?page no="68"?> In diesem Szenenausschnitt wird - um auf eine eingängige Formulierung Elfriede Jelineks zurückzugreifen - «die Gewalt des Opferungsaktes Ehe» 114 auf besonders plastische Weise dargestellt. Der Autorin zufolge [besteht] die verzweifelte Komik [von Feydeaus Komödien] ja darin, daß der Mann die Frau besitzt und auf sein Eigentum für den Rest seines Lebens aufpassen muß und daß er für sein eigenes - außereheliches - Amüsement intellektuelle Leistungen aufbringen muß, als gelte es, einen Doktorgrad zu erwerben. Denn das mindeste, was die Ehefrau erwarten kann, ist, daß man sie sorgfältig und umsichtig hintergeht. Der sexuelle Betrug an der Frau ist nur eine Kleinigkeit, gemessen an den Anstrengungen, die man auf sich nehmen muß, um ihn endlich begehen zu können. 115 Jelinek weist damit auf einen realistischen und durchaus zeit- und gesellschaftskritischen Anspruch des Vaudevillisten hin. Von einigen besonders repräsentativen Ausgangsbeobachtungen ausgehend, entwirft Feydeau in La Dame de chez Maxim ein dichtes Beziehungsnetz, von dem die Welt des Bürgertums um die Jahrhundertwende geprägt war. Mit den ihm eigenen Mitteln des Komischen führt er seinem Publikum vor, dass im Geschlechterverhältnis die Frau die Unterlegene ist. Die Idee der autonomen Persönlichkeit, seit der Zeit der Aufklärung postuliert (allerdings mit verengtem Fokus auf den Mann), wird in seinem Vaudeville als ein dem Mann zukommendes Recht beansprucht, das der Frau nicht in demselben Maße zugestanden wird. Parallel zum Rhythmus bietet die im Nebentext inszenierte Körperlichkeit der Figuren wertvolle Hinweise, um die Wirkung obigen Szenenausschnittes zu beschreiben. Der Körper spricht nämlich - wie von Lösener betont wird - im Drama mit, «und dieses Sprechen des Körpers ist allein schon durch die Tatsache [wirksam], dass jeder Sprechakt und jede Sprechhaltung den ganzen Körper miteinbezieht.» 116 Zwar wird der Aspekt «Körperlichkeit der Figuren» in der einschlägigen Literatur zu Feydeaus Vaudevillestücken kaum untersucht, doch enthält ein Aufsatz von Jean-Pierre Peter 117 einige interessante Bemerkungen, so zum Beispiel die, dass der menschliche Körper das eigentliche Thema Feydeaus ist: Vraiment, il faut parler de l ’ importance du corps dans le théâtre de Georges Feydeau. On forcerait à peine les choses en affirmant que le sujet réel de ses pièces, que leur acteur principal et aussi l ’ accessoire permanent, c ’ est le corps humain. Bien sûr, il ne s ’ agit pas d ’ en faire un système; et puis tout cela semble paradoxal! Comment le justifier? De Feydeau, habituellement, oui, on retient la satire sociale, le merveilleuse et féroce mécanique à brocarder les moeurs. C ’ est juste. Mais je 114 Janke: Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 299. 115 Ebd., S. 300. 116 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 237. 117 Peter, Jean-Pierre: Feydeau à corps et coeur perdus ou le rire meurtrier de soi-même. In: Communications, Nr. 56, 1993, S. 115 - 123, S. 115. 68 <?page no="69"?> dirais plus volontiers encore que son contenu véritable, c ’ est corps à corps et dent pour dent. 118 Tatsächlich lesen sich Feydeaus Szenenanweisungen als eine an die Schauspieler gerichtete Forderung, ihr Spiel so auszurichten, dass nicht nur die verbalen Fähigkeiten, sondern auch die körperlichen Kräfte voll und ganz zum Einsatz gelangen. Insbesondere geschlechterspezifische Machtverhältnisse sollen von den Figuren nicht nur sprachlich - von Angesicht zu Angesicht - , sondern auch in der körperlichen Auseinandersetzung ausgetragen werden. Besonders häufig hält der Autor die Hauptfigur dazu an, das Zuviel an Emotionen und Triebhaftigkeit durch das Ausspielen von physischer Überlegenheit zu kompensieren. Aber auch körperlich unterlegene Figuren bringen ihre Emotionen, zuweilen auch ihre angestaute Wut nonverbal, über analoge Kommunikationskanäle, zum Ausdruck. Zu diesen Kanälen gehört natürlich die Mimik, die Gestik, und - im Falle Madame Petypons - das obsessive Sich-Festhalten an einer anderen Person. Peter hat hierfür die Formel «On s ’ accole pour mieux s ’ insupporter» 119 geprägt. Seine weiteren Ausführungen sind nicht minder zitierenswert: Hargneusement, derechef, on s ’ expédie ailleurs. Mais peuvent aussi survenir d ’ aigres enchantements où l ’ assemblage absurde échoue à se défaire. Ainsi en est-il du pas de danse angoissé qui s ’ empare du lieutenant Corignon et de Mme Petypon, celle-ci s ’ accrochant à celui-là pour le contraindre à l ’ écouter, et lui gambadant de part et d ’ autre pour tenter d ’ échapper, mais en vain. Il ne fait qu ’ entraîner l ’ ensemble dans un va-et-vient haletant, effaré. 120 Doch zurück zu der oben zitierten Szenensequenz, die - wie bereits erwähnt - deshalb so interessant ist, weil sich in ihr eine «Bedeutungsweise der Körpersprache» 121 realisiert, die mit den Rhythmusstörungen des «tempo rubato» korrespondiert. Durch den Nebentext erfährt der Leser, dass Petypon außer Atem ist, dass also sein Körper vom gleichförmigen Metrum des Ein- und Ausatmens abweicht 122 und somit «aus dem Takt» gerät. Eine solche Atemverschiebung, die eine somatische Ausdrucksform für die seelische Verfassung Petypons ist, entspricht der Definition des «tempo rubato»: Während Crevette den Takt einhält («elle ne perd pas le nord»), verliert Petypon im Zuge der sich überstürzenden Ereignisse die Bodenhaftung. Sprachlich trägt dann der Dialog nur noch nach, was der Rhythmus bereits zum Ausdruck gebracht hat: «Mais c ’ est fou,» gibt Crevette zu bedenken, eine Bemerkung, 118 Ebd., S. 115, Hervorhebung im Original. 119 Ebd., S. 117. 120 Ebd. 121 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 239. 122 Vgl. hierzu den Artikel von Christiaan L. H. Nibbrig: Ver-rückte Augenblicke. Vom Atmen der Texte. In: Naumann, Barbara (Hg.): Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 93 - 108. 69 <?page no="70"?> die zwar ins Schwarze trifft, den in seiner Logik gefangenen Petypon jedoch nicht weiter berührt. Mit fortschreitender Handlung gleicht dieser jenem verzweifelten Marionettenspieler, der die Übersicht über das eigene Spiel verloren hat und dessen Puppen derart ineinander hängen, dass eine einzige Bewegung immer eine ganze Reihe von anderen Bewegungen nach sich zieht. War Petypon im ersten Akt noch Meister seines Spiels, so haben im zweiten Akt die Bewegungen der einzelnen Fäden eine Eigendynamik gewonnen, die die Hauptfigur zum kläglichen Spielball unbezwingbarer Mächte degradiert. Für die Analyse der Bewegungsinszenierung weiterhin relevant ist der sich aus dem Nebentext ergebende visuelle Gesamteindruck. So enthält beispielsweise folgende Szenenanweisung interessante visuelle Informationen: Moment de conversation générale. Les dames qui étaient au buffet redescendent devant le piano pour s ’ asseoir. Madame Claux va au-dessus du piano causer avec Chamerot, Guérissac a pris une des chaises au-dessus du piano et la descend face à Madame Virette, assise près du piano. Il s ’ assied et bavarde avec les dames. [. . .] Éclat de rire dans le groupe Duchesse, Vidauban, madame Vidauban. 123 Die dargestellte Konfiguration besticht durch realistischen Detailreichtum und durch die Nonchalance, mit der die Figuren ihr gesellschaftliches Selbstverständnis demonstrieren. Das Augenmerk des Zuschauers richtet sich auf die gesellschaftliche Attitüde und nicht auf die psychologische Dimension der Figuren, auf den Gesamteindruck, den Grundrhythmus, nicht auf das Innere ihrer Gefühlslagen. Eine solche Sorgfalt in der Behandlung des Optischen nimmt ein «Charakteristikum der Visualisierung [vorweg], welches in Deutschland erst in den Inszenierungen Max Reinhardts evident war.» 124 Was hier zum Vorschein tritt, ist die Oberflächlichkeit der menschlichen Beziehungen, das Volatile jener «conversation générale», die so «allgemein» gehalten ist, dass der Zuschauer ihr kein einziges Wort entnehmen kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der zweite Akt durch eine hohe Eigendynamik gekennzeichnet ist, deren Wirkung auf der «Bedeutungsweise der Körpersprache» 125 beruht. Diese fügt sich - wie aus den Ausführungen zu den visuellen Informationen ersichtlich wurde - in das gleichförmige Schema des Grundrhythmus ein, das jedoch nicht durchgehend an regelmäßige Abläufe gekoppelt ist, sondern durch «Verschiebungen», durch «Differenz und Diskontinuität» 126 überlagert wird. Insbesondere Petypon, der sich 123 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 189. 124 Grund, Uta: Zwischen den Künsten: Edward Gordon Graig und das Bildertheater um 1900. Berlin: Akademie 2002, S. 80. 125 Vgl. Fußnote 121. 126 Vgl. Fußnote 34 auf S. 42. 70 <?page no="71"?> während des gesamten Handlungsverlaufs im ständigen Wechselspiel zwischen eigenen Bedürfnissen und Erwartungen der Außenwelt, zwischen freier «Melodienführung» und äußerer «Taktgebung» befindet, fällt durch eine Körpersprache auf, die sich im Kontrast zum Grundrhythmus realisiert. 3.2.2 Figurenkonzeption «Eh allez donc, c ’ est pas mon père.» (Crevette in La Dame de chez Maxim 127 ) «Ein wichtiger, rein quantitativer Parameter» für die Figurenkonzeption ist - so Manfred Pfister in seinen Ausführungen zum Status dramatischer Figuren - «bereits der Umfang.» 128 Was den zweiten Akt von La Dame de chez Maxim anbelangt, so bietet er «eine panoramische Fülle an Figuren,» 129 die sowohl dem «Hang zum Aufwendig-Spektakulären» 130 als auch der wirklichkeitsgetreuen Darstellung des Bürgertums dient. Dabei geht die Ausweitung des Personals mit einer dramatischen Ökonomie einher, die auf den Zuschauer «perspektivensteuernd wirkt.» 131 Dessen Aufmerksamkeit gilt nämlich in erster Linie der Figur Crevettes, die - wie Feydeau in einer Szenenanweisung schreibt - auf alle anderen Figuren eine geradezu «magnetische Wirkung» ausübt: La Môme n ’ a pas plus tôt paru qu ’ aussitôt, attirées comme par un aimant, toutes les dames Virette, Ponant, Hautignol, Claux, la baronne remontent empressées vers elle. On l ’ entoure, on la comble d ’ adulations, de prévenances. On arrive ainsi en groupe devant le buffet. Clémentine, plus effacée, se tient près de la pseudocousine. Quant à Petypon, il va et vient autour du groupe avec des allures de chien de berger ou d ’ « Auguste de Cirque », effaré qu ’ il est à l ’ appréhension des impairs que la Môme peut commettre et voulant être là pour y parer. 132 Die Konfiguration erinnert an ein tableau vivant, wobei der Begriff hier insofern problematisch ist, als er dem Moment des Dynamischen, des Performativen keinerlei Rechnung trägt. Daher ziehe ich den Begriff «Grundgestus» vor, wird doch auf diese Weise deutlich, dass Feydeau aus dem Gestischen heraus schreibt. Gerade bei der Lektüre der Szenenanweisungen stellt sich der Eindruck ein, der Autor habe zunächst die Figuren in seiner Phantasie auftreten lassen und dann erst nach den «passenden Worten» 127 Vgl. Fußnote 106 auf S. 64. 128 Pfister: Das Drama, S. 226. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 163. 71 <?page no="72"?> gesucht. Zum Begriff «Grundgestus» sei auf die Definition von Patrice Pavis verwiesen: Le gestus fondamental rend déjà compte d ’ un condensé de fable; il constitue un substrat inaliénable de la relation gestuelle entre au moins deux personnes, relation qui doit toujours être facilement lisible quels que soient les choix de la mise en scène. Ce gestus [. . .] donne la clé de la relation de la pièce représentée avec le public. L ’ attitude de l ’ auteur envers le public, de l ’ époque représentée et de l ’ époque à laquelle on joue la pièce, le jeu collectif des personnages, etc. sont autant de paramètres du gestus fondamental. 133 Wenn man - wie Pavis - davon ausgeht, dass der Grundgestus der sichtbare Ausdruck einer menschlichen Beziehung ist, dann legt die Deutung der oben zitierten Szenenanweisung nahe, dass die in ihr dargestellte Figurenkonstellation der grundlegenden Konfliktstruktur des zweiten Aktes entspricht. Diese Konfliktstruktur ist dadurch gekennzeichnet, dass Crevette vornehmlich zwei Arten von Beziehungen unterhält: eine sich durch Ehrerbietung auszeichnende Beziehung zu den Gästen und eine durch Desinteresse geprägte Relation zu Petypon. Indem Crevette in die Rolle der «grande bourgeoise» schlüpft und sich um das Wohlergehen der Gäste sorgt, befriedigt sie ihr Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, die ihr in der ungewohnten Umgebung in völlig neuer Weise zuteil wird. Zu Petypon, der als «Wissender» Crevette mit Verachtung behandelt, geht sie hingegen auf Distanz. Sie spürt, dass sie von ihm nach wie vor lediglich als Prostituierte angesehen wird, als Objekt, dem der Hauch des Verbotenen, des Anstößigen anhaftet. Mit fortschreitender Handlung empfindet Crevette ihrerseits Verachtung für die Verlogenheit eines Mannes, dem das «qu ’ en dira-t-on? » als einziger moralischer Imperativ gilt. Dass Crevette die Fragilität, die Fragwürdigkeit der bürgerlichen Moral durchschaut, lässt sich auch anhand des von ihr vorgetragenen Chanson de la marmite (Szene 8, Akt II) nachweisen, das - wie der Autor in einer Fußnote hervorhebt - den Gästen des Generals zugedacht ist: Ayant remarqué que beaucoup d ’ interprètes ont une tendance à chanter la romance ci-dessus bien plus face au public que face aux invités, je leur ferai observer qu ’ en ce faisant elles commettent un véritable non-sens au détriment de la situation. La Môme, à ce moment, est censée chanter pour les invités du général, donc elle doit leur faire face et ne pas descendre à l ’ avant-scène comme le bon sens l ’ indique. Je compte sur les artistes qui interpréteront ce rôle pour prendre en considération cette observation. Lorsque j ’ aurai affaire à une cabotine, bien entendu, je l ’ autorise à agir au mieux de ses intérêts. 134 Mit dieser Bemerkung wird der gesellschaftskritische Charakter des Liedes angezeigt, der auf das Bürgertum und dessen Ethos zielt. Dabei richtet sich 133 Pavis: Vers une théorie de la pratique théâtrale, S. 70, Hervorhebung im Original. 134 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 239. 72 <?page no="73"?> die adversative Intention in erster Linie gegen die vom General geladenen Gäste, gegen die Vertreter jener Doppelmoral, die Prostitution einerseits mit zweifelhaften staatlichen Maßnahmen fördert und andererseits mit Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft ächtet. Weil es in dem Lied u. a. um diese Thematik geht, ist es nur folgerichtig, dass Crevette vor der Hochzeitsgesellschaft und nicht vor dem Publikum steht. Aus den Reaktionen der Gäste geht allerdings hervor, dass sie die gesellschaftskritische Dimension des Liedes nicht erfasst haben. Die Frage, ob Feydeau grundsätzlich seinem Publikum die Fähigkeit zutraute, die in seinen Stücken enthaltenen ironischen Anspielungen nachzuvollziehen, ist mit einem eindeutigen «Ja» zu beantworten. Nicht nur der «gebildete Franzose» dürfte in der Lage gewesen sein, eine Beziehung zwischen der gewölbten Form des Goldtopfes und dem Körper der Prostituierten herzustellen, wenn er mit folgendem Wortlaut konfrontiert wurde: LA MOME, chantant. (1) Calme, ordonné, fait pour l ’ ménage (2) Dans mon p ’ tit taudis, (3) ‹ Vec ma marmit › pour tout potage (4) J ’ avais l ’ paradis. (5) Hélas! pourquoi, sur cette terre, (6) Le bonheur du (respirer.) re-t-il si peu? (7) Le mien devait être éphémère; (8) Voyez, il n ’ a pas fait long feu: (9) Ma pauv ’ marmit ’ , la chèr ’ petite! (10) Faut-il que le mond ’ soy méchant (11) Pour Saint-Lazar, v ’ là qu ’ on me la prend, (12) Ma pauv ’ marmite! (13) On s ’ inquièt ’ peu de mon existence, (14) Comment je m ’ en tir ’ ai? (15) A Saint-Lazare faut sa pitance, (16) Moi, je turbin ’ rai! (17) Et, sans coeur, ils (respirer.) me l ’ ont bouclée. (18) Ell ’ qui f ’ sait l ’ orgueil des fortifs! (19) Ell ’ n ’ était pas matriculée. (20) V ’ là c ’ qu ’ ils ont donné comm ’ motif! (21) A Saint Lazar ’ , v ’ là qu ’ on l ’ abrite! (22) T ’ en as donc pas assez comm ’ ça, (23) Grand Saint, qu ’ il faut aussi cell ’ -là, (24) Ma pauv ’ marmite? (25) Eh bien, soit, je t ’ en fais l ’ offrande, (26) Puisqu ’ y faut, y faut (27) En priant Dieu me la rende (28) Quelque jour là-haut! (29) Et j ’ f ’ rai trois crans, à ma ceinture 73 <?page no="74"?> (30) En attendant que je trouv ’ un ’ peau (31) Pour m ’ assurer ma nourriture (32) Puisqu ’ hélas! on ne vit pas que d ’ eau. (33) Sois heureux a (respirer.) ’ vec la petite! (34) Je m ’ sacrifi ’ le coeur bien gros! (35) Pour le bonheur et le repos (36) D ’ ma pauv ’ marmite. 135 In der ersten Strophe lassen sich zwei thematische Felder nachweisen, die aus jeweils unterschiedlichen referentiellen Bezügen konstituiert werden. Das erste thematische Feld ergibt sich aus den semantischen Verknüpfungen, die sich zu dem Leitwort paradis herstellen lassen (Vers 1 bis 4), 136 das zweite thematische Feld aus den Verknüpfungen zu dem Leitwort méchant (Vers 5 bis 12). 137 Das durch paradis geprägte Feld, das das Bild einer unbekümmerten Zweisamkeit zwischen einem Zuhälter (dem Sprecher-Ich) und seiner Prostituierten evoziert, entfaltet seine humoreske Wirkung aus der Anhäufung der Adjektive (calme, ordonné), der Apostrophierung einzelner Wörter (p ’ tit . . .) und vor allem aus eben jenen Sinnbezügen zu paradis. Dabei markiert der Verweis auf das himmlische Gefilde einen Pol, von dem aus die Sprechbewegung in die entgegengesetzte Richtung, gen «Diesseits» umschlägt, ins Hier und Jetzt einer als «böse» empfundenen Welt (Faut-il que le mond ’ soy méchant, Vers 10), in der Sexarbeiterinnen zu Opfern der - von Staats wegen - angeordneten Maßnahmen werden. Auch in der zweiten Strophe, die den burlesken Monolog vertieft, lässt sich eine Bewegung nachweisen, die zwischen «Diesseits» und «Jenseits» oszilliert. Im Vordergrund stehen die «existenziellen Zweifel» des Sprecher- Ichs, die ihren Niederschlag in der Alternierung zwischen Aussagesätzen (Verse 13, 15, 17, 19), Ausrufesätzen (Verse 16, 18, 20, 21) und Fragesätzen (Verse 14, 22, 23, 24) findet. Was hier ironisch vorgeführt wird, ist der zwischen Glaube und Zweifel hin- und hergerissene Mensch, ist eine «theatralisierte» Frömmigkeit, die ihre komische Wirkung aus der Differenz zwischen irdischen und überirdischen Belangen bezieht. Die gedachte Ausgangsposition ist dabei das völlige Auf-sich-gestellt-sein, die von Gott verlassene Kreatur, die sich auf die Suche nach den letzten Antworten begibt. Diese Suche findet ihren vorläufigen Höhepunkt in der Bedeutungsverschiebung von Saint-Lazar ’ , einem Wort, das in Vers 21 das Pariser Frauengefängnis bezeichnet, und in Vers 22 zu jenem Grand Saint mutiert, der die nicht 135 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 240 - 241, Hervorhebungen und Versnummerierung durch die Verfasserin. 136 In einem engen thematischen Zusammenhang zu paradis stehen beispielsweise calme, ordonné usw. 137 In einem engen thematischen Zusammenhang zu méchant stehen beispielsweise peu, éphémère usw. 74 <?page no="75"?> ordnungsgemäß eingetragene marmite gefangen hält. Eine solche in den Text eingeschriebene Assoziation entbehrt nicht der Pikanterie, wird doch Lazarus in verschiedenen Kirchen als ein Heiliger geehrt, den Jesus Christus von den Toten auferweckte. Dass ausgerechnet dieser Heilige ein Leben als Zuhälter fristen soll, kann als deutliche Kritik an der kirchlichen Sexualmoral verstanden werden, die seit jeher ein problematisches Verhältnis zur Sexualität (und zur weiblichen Sexualität im Besonderen) hatte. Die in der dritten Strophe enthaltenen referentiellen Bezüge 138 lenken das Augenmerk auf das thematische Feld «Selbstopferung», auf das Moment der Entsagung, das - der kirchlichen Heilslehre zufolge - eine Gewähr für göttliche Gnade bietet. Was hier in karikierender Weise dargestellt wird, ist die wiedergefundene Einigkeit zwischen Gott und dem Menschen, die mit der Preisgabe des diesseitigen Glücks einhergeht (Puisqu ’ y faut, y faut, Vers 26). Dass dieser Sinneswandel ein bloß vorgetäuschter ist und mitnichten von den tatsächlichen Regungen des Sprecher-Ichs zeugt, 139 wird in Vers 36 durch die Wiederholungsfigur (ma pauv ’ marmite) 140 deutlich, deren Funktion darin besteht, die Kluft zwischen gespielter und tatsächlicher Überzeugung des Sprecher-Ichs zu versinnbildlichen. Im Hinblick auf die thematischen Felder lässt sich somit feststellen, dass sie sich erstens auf den Nenner «existenzielle Glaubensfragen» bringen lassen und dass sie zweitens am Ende einer jeden Strophe und ganz besonders am Ende der letzten Strophe durch die Gegenläufigkeit der Wiederholungsfigur «konterkariert» werden. Eine weitere textuelle Wertigkeit stellt die phonematische Organisation dar, die nicht durch musikalische Raffinements gebildet wird, sondern der «Motivation sprachlicher Elemente» 141 geschuldet ist. Aufgrund der Dichte der in dem Lied enthaltenen phonematischen Beziehungen werde ich mich im Folgenden auf die Eingangsstrophe konzentrieren, deren erster Vers bereits mehrere Auffälligkeiten enthält: Calme, ordonné, fait pour l ’ ménage Die beiden Ränder des Verses - Calme (. . .) l ’ ménage - enthalten drei phonematische Echos (wobei das Moment der Apostrophierung einen gesonderten Sinneffekt darstellt, der - als «Antimetrum» fungierend - den «Wohlklang» der Laute zerstört und damit die komische Wirkung erhöht). Sie beschwören die freundliche Idylle eines beispiellos glücklichen Zusammenlebens zwischen einem Zuhälter und seiner Prostituierten, die beide den ‹ Verrichtungen des Alltags › eine große Zufriedenheit abgewinnen. Dass diese 138 Vgl hierzu die semantischen Verknüpfungen zwischen offrande, rende, là-haut, repos . . . 139 Die «marmite» verweist im Französischen nicht nur auf die Prostituierte, sondern auch auf das weibliche Geschlechtsorgan. 140 Ma pauv ’ marmite! kommt - unter winzigen Abweichungen - in den Versen 12, 24, 36 vor. 141 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 296. 75 <?page no="76"?> Verrichtungen vor allem sinnlich-erotischer Natur sind, lässt sich an der Gegenüberstellung der beiden Reimverbindungen ménage/ potage und taudis/ paradis ablesen (Verse 1 - 4), die ein «wohlig-warmes», sexuell erfüllendes Ineinanderaufgehen des Zuhälterpaars suggerieren. Zusätzlich wird durch den Parallelismus, der durch l ’ ménage/ l ’ paradis evoziert wird, die Sorgerelation im Verhältnis der Geschlechter unterstrichen. Durch das Empfindungswort hélas! in Vers 5 werden die mit dem Konsonaten / l/ verknüpften positiven Bedeutungen in ihr Gegenteil verkehrt: Verwies zu Beginn des Liedes der Konsonant auf eine bürgerlich anmutende Häuslichkeit, so fungiert er in hélas! als Sinneffekt eines aus der Bahn geratenen Lebens, als Signal für die in ihr Gegenteil verkehrte Idylle des Zuhälterpaars, das sich den usurpierenden Übergriffen der Staatsgewalt nicht entziehen kann. Zum Ausklang der Liedanalyse sei noch auf das besondere Zusammenwirken von Wortakzenten und Pausen hingewiesen, eine Wertigkeit, die zwar nur einen kleinen Teil der rhythmischen Organisation des Textes umfasst, bei der Gesamtinterpretation jedoch nicht unberücksichtigt bleiben sollte. Allerdings möchte ich mich auf einige besonders aussagekräftige Beispiele konzentrieren, nämlich auf die Verse (6), (17) und (33), die durch eine weitere Spielart der Wortwiederholung gekennzeichnet sind. (6) Le bonheur du (respirer.) re-t-il si peu? (17) Et, sans coeur, ils (respirer.) me l ’ ont bouclée. (33) Sois heureux a (respirer.) ‹ vec la petite! Durch die dreifache Wiederholung der Szenenangabe respirer werden - ohne Rücksicht auf das metrische Prinzip der Untrennbarkeit des Zusammengehörigen - Wortfolgen auseinander gerissen, die - dem französischen Sprachgefühl nach - als untrennbar gelten. Natürlich lässt sich dies zunächst als fehlgeschlagener Versuch Crevettes deuten, den normativen Vorgaben der «Metriker» zu entsprechen, die in der richtigen Verwendung der Akzente die wichtigste Voraussetzung für die Schaffung von Wohlklängen sahen. Wenn man allerdings die Wiederholungsfigur von ihrer Performativität her zu lesen sucht, dann lässt sich die willkürliche Trennung der Silben als sprachliche Realisierung des dem Zuhälterpaar widerfahrenden Schicksals deuten. So wie das unmotivierte Atemholen Wortfolgen auseinander reißt, die eigentlich zusammenbleiben müssten, so werden auch das Sprecher-Ich und seine marmite gewaltsam voneinander getrennt. Gleichzeitig folgt die Wiederholungsfigur dem Aufbauprinzip des Liedes, dessen Strophengliederung den Etappen der vom Sprecher-Ich «inszenierten» Glaubenskrise entspricht: → Erste Etappe: Zweifel an der Sinnhaltigkeit des Lebens (Le bonheur du (respirer.) re-t-il si peu? ) → Zweite Etappe: Verzweiflung an Gott und der Welt (Et, sans coeur, ils (respirer.) me l ’ ont bouclée.) 76 <?page no="77"?> → Dritte Etappe: Moment der Entsagung und der Hinwendung zu Gott (Sois heureux a (respirer.) ’ vec la petite! ) Vor diesem Hintergrund lässt sich Crevettes Lied als herbe Kritik an der kirchlichen Sexualethik um die Jahrhundertwende interpretieren, deren Vertreter Sexarbeit als Überbleibsel eines primitiven Geschlechtslebens qualifizierten und hieraus die moralische Rechtfertigung ableiteten, die Figur der Prostituierten der Verachtung anheimzugeben. Ein solcher «Prostitutionsdiskurs» degeneriert vollends zur absurden Ideologie, wenn - wie hier der Fall - der Zuhälter von einem geordneten, geradezu «bürgerlichen» Leben mit seiner marmite träumt. Würde die Hochzeitsgeselschaft die gesellschaftskritische Dimension von Crevettes Lied verstehen, müsste ihr aufgehen, dass in der «Môme» sehr viel mehr Bürgerlichkeit steckt als in manch einer «grande dame de la bourgeoisie». Insgesamt ist der zweite Akt als schonungslose Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, die in ihren grundlegenden Charakteristika im Umgang mit Menschen aus nicht-bürgerlichen Kreisen entlarvt wird. Der konsequent ironische Blick richtet sich dabei auch auf die Frauenfiguren, deren verinnerlichte Arroganz sich dadurch bemerkbar macht, dass sie mit grotesker Verzweiflung um das Wohlwollen der Prostituierten Crevette kämpfen. Letztere fungiert demnach nicht nur als Gradmesser für männliche, sondern auch für weibliche Entgleisungen, an ihrer Person wird eine ganze Verwicklung an genderspezifischen Verhaltensmustern erkennbar. Während die Männerfiguren durch Feigheit, Verlogenheit, Aggressivität und Egozentrik gekennzeichnet sind, werden die Frauenfiguren als Provinzlerinnen dargestellt, deren Provinzlertum umso deutlicher zutage tritt, je größer das Bemühen ist, genau diesem Eindruck entgegen zu wirken. So erliegen die Damen gleich einem doppelten Irrtum, wenn sie den Ausspruch Crevettes «Eh allez donc, c ’ est pas mon père» für eine in Paris gängige Begrüßungsformel halten: Weder gelten in der französischen Hauptstadt andere Begrüßungssitten als in der Provinz, noch darf die Floskel als Ausdruck ziviler Höflichkeit verstanden werden. Im Gegenteil, sie enthält einen Aufruf zum zivilen Ungehorsam, da hier - symbolisch gesprochen - gegen den «Vater» («c ’ est pas mon père»), d. h. gegen das bestehende Normensystem aufbegehrt wird. Unfähig, die tiefere Bedeutung der Formel zu erfassen, plappern die Damen sie zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit nach. Dabei führen sie eine Geste aus, deren erotischer Beigeschmack so evident ist, dass man als Zuschauer nicht umhin kann, zu fragen, wer denn nun die eigentlichen Prostituierten des Stückes sind. 77 <?page no="78"?> 3.2.3 Inszenierung des Raums Die Hinweise zur Bühnengestaltung des zweiten Aktes machen detailliert das prätentiöse Ambiente sichtbar, in dem der Vaudevillist seine Satire im bürgerlichen Milieu ansiedelt. Im Unterschied zu den betont schlichten Räumlichkeiten des ersten Aktes zeugt der «grand salon au rez-de-chaussé» von einem Lebensstil, der den höfisch-aristokratischen Gewohnheiten in nichts nachsteht. 142 Offenbar kommt es Feydeau im zweiten Akt darauf an, jenes übersteigerte Anspruchsdenken zu karikieren, von dem Teile der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit befallen waren. Mitnichten geben die Räumlichkeiten Zeugnis ab von dem Katechismus von Pflicht und Pflichterfüllung, was ja für eine Figur wie den General durchaus denkbar gewesen wäre. Bereits in den ersten Zeilen offenbart sich eine Tendenz zum Hedonismus, die in den darauf folgenden Zeilen noch verstärkt wird. So erblickt der Zuschauer beim Öffnen des Vorhangs un grand salon au rez-de-chaussé donnant de plain-pied par trois grandes baies cintrées sur la terrasse dominant le parc. Aux baies seules les impostes vitrées, les battants de portes ayant été enlevés pour la circonstance. A droite de la scène, premier et deuxième plan, deux grandes portes pleines. Entre les portes, une cheminée assez haute surmontée d ’ un portrait d ’ ancêtre enchâssé dans la boiserie. A gauche, une porte entre premier et deuxième plan. En scène, à gauche, un peu au-dessous de la porte, un piano quart de queue placé le clavier tourné à gauche perpendiculairement au public. Entre le cintre et la queue du piano, trois chaises volantes, deux autres au-dessus du piano. Devant le clavier, une chaise et un tabouret de piano, ce dernier au lointain par rapport à la chaise. A droite de la scène, une bergère le siège tourné à gauche face au piano; lui faisant vis-à-vis une chaise volante; audessus une autre chaise face au public. Ces trois sièges sont groupés ensemble, le tout placé à 1 m 50 environ de la porte de droite, premier plan. Au-dessus de la porte, une autre chaise volante. Partant obliquement de la cheminée jusqu ’ au chambranle gauche de la baie de droite, un buffet servi, avec services d ’ argenterie. Au fond, consoles dorées de chaque côté de la baie du milieu. Lustre et girandoles actionnés par un bouton placé au-dessus et à gauche de la console de gauche. Tout est allumé dès le début de l ’ acte. Sur la terrasse, trois ou quatre chaises volantes. 143 Die weiträumige Schlossterrasse, von der man einen schönen Blick auf die private Parkanlage hat, dürfte - jedenfalls beim französischen Leser - ein Schmunzeln erzeugen, erinnert sie doch an die so genannten «palais à volonté», die bei einem «Klassiker» wie Corneille ein beliebter Kunstgriff waren, um den klassizistischen Vorschriften für die Gestaltung von Hand- 142 Der General gehört zu jenen Repräsentanten der bürgerlichen Oberschicht, die über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt, um mit dem ausschweifenden Lebensstil des Adels konkurrieren zu können. 143 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 152 - 153. 78 <?page no="79"?> lung, Ort und Zeit Genüge zu tun. Zum besseren Verständnis dieses Kunstgriffs seien im Folgenden die Ausführungen von Anne Surgers zitiert: La fiction de théâtre de Corneille est ce lieu unique de l ’ action tragique, dont la matérialisation sensible est le palais à volonté. La nécessité de la vraisemblance et le respect de l ’ unité de lieu exigeaient donc un décor qui fût à la fois l ’ appartement de Phocas, celui de Léontine et celui de Pulchérie dans Héraclius, où à la fois celui de Titus, celui de Bérenice, un lieu commun pour leur confidence et une salle du palais dans Bérénice. 144 Legt man Genettes Klassifizierungssystem zugrunde, dann liegt bei Feydeaus Beschreibung des Bühnenraums ein offensichtlicher Fall von Hypertextualität vor. Wie in Kapitel III, 2.2. dargestellt wurde, ist Hypertextualität immer dann gegeben, wenn ein Text von einem früheren Text (bisweilen auch von mehreren) abgeleitet wurde. Die Hinweise zur Bühnengestaltung des zweiten Aktes stellen einen Hypertext dar, der den Tragödien Corneilles entlehnt ist. Er bezieht sich «andeutungsweise und gleichsam stillschweigend» 145 auf Bühnenbilder, die in der Geschichte des französischen Theaters zeitweilig als nachahmungswürdige Norm erachtet wurden. Insbesondere die in nahezu allen Stücken Feydeaus auftauchenden «chaises volantes» reihen sich in eine Tradition der Bühnengestaltung ein, die von Alexandre Hardy (1570 - 1632) bis Alexandre Dumas fils (1824 - 1895) reicht. Man kann bei diesen szenischen Elementen daher von «interinszenatorischen» Bezugspunkten ausgehen. Doch anders als bei seinen Vorgängern sind in Feydeaus Hinweisen die «chaises volantes» kein schmückendes Beiwerk, wird doch hier eine ästhetische Intention erkennbar: Die flexibel positionierbaren Stühle stehen für die Austauschbarkeit der Frauenfiguren, die sich in ihren Ansichten und in ihrem Verhalten kaum voneinander unterscheiden. Eine weitere Gliederung lässt sich vornehmen, wenn man die satirische Absicht miteinbezieht. Feydeaus Beschreibung des Bühnenraums (Hypertext) ahmt den Stil vorausgehender Beschreibungen (Hypotexte) in parodierender Weise nach, was den Fall von Persiflage nahelegt. Dabei besteht das Eigentümliche seiner Beschreibung darin, dass er die von klassischen Autoren oftmals nur angedeuteten Hinweise wortreich ausführt. Er versieht das Bühnenbild des zweiten Aktes mit vielen einzelnen Details, obwohl es - klassischen Maßstäben zufolge - gerade nicht der Eloquenz bedarf, um seine poetische Funktion ausüben zu können: «Pour être polysémique, le palais à volonté fait [. . .] l ’ ellipse de toute référence à une réalité d ’ architecture, [. . .]. Ne représentant aucun lieu particulier, il peut les représenter tous: il suffit que la parole de l ’ acteur le définisse pour transformer le lieu neutre en un lieu 144 Surgers, Anne: Et que dit ce silence? La rhétorique du visible. Paris: Sorbonne nouvelle 2007, S. 172, Hervorhebung im Original. 145 Genette: Palimpseste, S. 14. 79 <?page no="80"?> particulier.» 146 Indem Feydeau eine Reihe von Spezifizierungen vornimmt, widersetzt er sich der klassizistischen Forderung, das Bühnenbild in den Dienst des lediglich ornamental Wirkungsvollen zu stellen. Die Genauigkeit, mit der die szenischen Elemente beschrieben werden, führt beim Leser zu einer perzeptiven Voreinstellung, die den Fokus der Betrachtung nicht auf die einzelnen Figuren, sondern auf das von den Räumlichkeiten ausgehende bürgerliche Ambiente richtet. 3.3 Dynamik der beschleunigten Verzögerung (dritter Akt) Zu Beginn des dritten Aktes betritt eine sichtlich schlecht gelaunte Gabrielle das Sprechstundenzimmer ihres Mannes. Offenbar noch immer unter dem Eindruck der durchlittenen Strapazen stehend, teilt sie dem Diener Étienne mit, Besuch nur in Notfällen empfangen zu wollen. Kurz darauf meldet sich der «duc» unter dem Vorwand an, eine dringende Angelegenheit mit Madame Petypon besprechen zu müssen. Als er jedoch der Dame des Hauses ansichtig wird, steht ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Unverrichteter Dinge muss er das Haus wieder verlassen. Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, erscheint Petypon auf der Bühne. Vor Wut schäumend konfrontiert er seine Frau mit dem Vorwurf, den General ohne Grund geohrfeigt zu haben. Dieser habe nicht sie bezichtigt, eine «drôlesse» zu sein, eine andere «Madame Petypon» sei gemeint gewesen. Nun erliegt Gabrielle dem Glauben, dass die «andere» nur die Gattin des Generals gewesen sein könne. Bevor es in dieser Frage zu einer Einigung kommt, betritt Étienne die Bühne, um Gabrielle ein Schreiben auszuhändigen. Es handelt sich um einen an «Madame Petypon» gerichteten Liebesbrief aus der Feder des «duc». Lucien lässt sich die Gelegenheit nicht nehmen, seine Frau des Ehebruchs zu beschuldigen. Mitten in die Ehediskussion platzt ein aufgebrachter Mongicourt hinein. Er bittet seinen Freund nachdrücklich, den General endlich über die wahre Identität des «Mädels» aufzuklären, damit er nicht als Duellant in einem Zweikampf auftreten müsse, mit dem er im Grunde nichts zu tun habe. Obwohl Lucien vorgibt, alle Missverständnisse beheben zu wollen, kommt es zu keiner klärenden Aussprache mit dem soeben eingetroffenen General. Dies ist Gabrielle zuzuschreiben, die ihren «cher oncle» mit ihren Reuebekundungen ob der verpassten Ohrfeige in Beschlag nimmt. Als «Mann von Welt» beschließt der General, Milde walten zu lassen, worüber Lucien sichtlich erleichtert ist, lässt sich doch auf diese Weise das Duell verhindern. Um weiteren Missverständnissen vorzubeugen, weist Lucien seine Frau an, das Sprechstundenzimmer zu verlassen. Doch scheint diese Maßnahme nicht auszureichen, um den Strudel der Ereignisse aufzuhalten. Zu Luciens Entsetzen ist sein Onkel gewillt, ihn und Crevette miteinander zu versöhnen. 146 Surgers: Et que dit ce silence? , S. 175, Hervorhebung im Original. 80 <?page no="81"?> Stillschweigend muss er zusehen, wie der General ihm ausgerechnet jene Frau zuführt, derer er sich in den vergangenen 24 Stunden zu entledigen suchte. Kaum ist die «Versöhnung» vollzogen, tritt Étienne in Erscheinung, um den Herrschaften die Ankunft der Sekundanten Marollier und Varlin zu melden. Auf die verdutzte Frage Luciens hin, welche Bewandtnis es mit diesen beiden Herren habe, gibt der General zur Auskunft, dass er - im Namen seines Neffen - ein Duell mit Corignon verabredet habe. Als habe sie das Gespräch belauscht, betritt in diesem Moment Gabrielle die Bühne, wodurch für Petypon eine höchst «gefährliche» Konstellation entsteht: Durch ein falsches Wort des Generals könnte seine Frau von seinem Verhältnis zu Crevette erfahren. Aus Angst vor dem gesellschaftlichen Skandal weiß Petypon keine andere Lösung, als den General mithilfe des «fauteuil extatique» in den Schlaf zu versetzen. Auch Gabrielle, die im Angesicht des plötzlich Eingeschlafenen auf den Stuhl stürzt, sinkt in Morpheus ’ Arme. In der Folge unterliegen Petypon, Étienne und der kurz zuvor eingetroffene Offizier Chamerot der anästhetischen Wirkung des Stuhls. Aus ihrer Erstarrung befreit werden die Figuren erst durch das Einwirken Mongicourts, der - aus dem Vestibül tretend - die Lage blitzartig erfasst und den Ausschaltknopf betätigt. Nachdem Petypon wieder zu sich gekommen ist, setzt er mit neuer Energie alles daran, der Unterredung mit dem General auszuweichen. Hierzu sind ihm auch handgreifliche Mittel recht: Unsanft fasst er Mongicourt und Gabrielle beim Handgelenk und stößt sie ins Nebenzimmer. Der General, Chamerot und der Offizier verlassen ihrerseits freiwillig den Raum, sodass die Bühne für kurze Zeit leer bleibt. Als der General - Crevette im Schlepptau führend - erneut Petypons Sprechstundenzimmer betritt, ist er zunächst über die Abwesenheit des Hausherrn verärgert, findet aber dann an dem unverhofften Beisammensein mit der jungen Frau zunehmend Gefallen. Immer schwerer fällt es ihm, sich aus ihrer zärtlichen Umarmung zu lösen. Immer weniger kann er nachvollziehen, dass sein Neffe für die Reize Crevettes unempfänglich ist. Um von Petypon eine Antwort auf dieses Rätsel zu erhalten und um ihm gründlich die Leviten zu lesen, reißt er sich von dem «Mädel» los und bittet sie, während seiner Abwesenheit auf dem «fauteuil extatique» Platz zu nehmen. Kaum hat der General ihr den Rücken zugekehrt, setzt auch schon die anästhetische Wirkung des Stuhls ein, sodass der «duc», der soeben die Bühne betreten hat, Crevette schlafend vorfindet. Der Anblick der geliebten Erscheinung verleitet ihn zu einem leidenschaftlichen Kuss. Doch in dem Augenblick, in dem er Crevettes Mund streift, geht die anästhetische Wirkung des Stuhls auch auf ihn über. Als der General bei seiner Rückkehr das Paar in dieser zweifelhaften Stellung vorfindet, nimmt das Erstaunen kein Ende. Petypon, der im Gegensatz zum General alles andere als schockiert wirkt, betätigt den Ausschaltknopf, woraufhin Crevette und der «duc» aus tiefem Schlaf erwachen. Als dieser des Generals gewahr wird, verlässt er fluchtartig den Raum, während Crevette in einer Art 81 <?page no="82"?> Trancezustand verharrt. Um die «Versöhnung» des vermeintlichen Ehepaares nachhaltig zu besiegeln, fordert der General Lucien und Crevette zu einer innigen Umarmung auf. Just in diesem Moment betritt Gabrielle die Bühne. Beim Anblick des sich liebkosenden Paars vermag sie sich eines Schreis des Entsetzens nicht zu erwehren. Im nächsten Augenblick erkennt sie in der «Môme» die Frau des Generals wieder, heißt sie herzlich willkommen und bittet sie zwecks einer privaten Unterredung auf ihr Zimmer, ein Unternehmen, das Petypon nahezu zur Verzweiflung bringt. Allerdings bleibt ihm zu weiteren Maßnahmen keine Zeit, da die Herren Marollier und Varlin endlich empfangen zu werden wünschen. Das sich nun entwickelnde Gespräch zwischen dem General und den beiden Sekundanten über die Bedingungen des Duells scheint Petypon, der doch als Duellant zu den Hauptbetroffenen gehört, nicht im geringsten zu interessieren. Erst als die Bemerkung fällt, dass bei dem Duell eine Verwundung nicht auszuschließen ist, merkt Petypon plötzlich auf und spricht in erstaunlich klaren Worten seine Abneigung gegen den bewaffneten Zweikampf aus. Unterstützt wird er dabei von der soeben eingetretenen Gabrielle, die sich - aus Sorge um ihren Mann - in Liebesbeteuerungen ergeht. Angesichts dieser Szene glaubt der General die wahren Hintergründe für das rätselhafte Benehmen seines Neffen erfasst zu haben: Die Dame, die ihm als «Madame Mongicourt» vorgestellt wurde, muss Luciens Geliebte sein. Der General ist über diese «traurige Wahrheit» so schockiert, dass er sich genötigt sieht, eine Reihe von moralisierenden Betrachtungen anzustellen. Beim Anhören seines Vortrags fällt es Gabrielle plötzlich wie Schuppen von den Augen: Sie wurde nicht nur als Ehefrau hintergangen, sondern auch noch in aller Öffentlichkeit der Lächerlichkeit preisgegeben. Während Gabrielle auf ewige Rache schwört, nimmt Petypon reflexartig Zuflucht zu seinem Schlafstuhl. Doch weiß Mongicourt durch Betätigung des Ausschaltknopfes zu verhindern, dass der Freund in Morpheus ’ Armen die Welt um sich herum vergisst. Beim Aufwachen kommt Petypon der rettende Einfall, wie er einer drohenden Scheidung entgehen kann. Er gibt vor, Crevette aus reinem Altruismus als seine Gattin ausgegeben zu haben. Da sie die Geliebte Corignons gewesen sei, habe auf diese Weise der Skandal umgangen werden können. 3.3.1 Bewegungsinszenierung im Haupt- und Nebentext Im Gegensatz zum zweiten Akt, der durch ein Höchstmaß an rhythmischer Elastizität geprägt ist, zeichnet sich der dritte Akt durch eine stufenartige Handlungsentwicklung aus, die auf einen sich in der Mitte des Aktes befindenden Höhepunkt zustrebt und anschließend wieder abfällt. Diese Handlungsentwicklung lässt sich besonders deutlich anhand der Figurenkonfigurationen nachweisen. Unter Konfiguration versteht Pfister «die Teilmenge des Personals, die jeweils an einem bestimmten Punkt des Text- 82 <?page no="83"?> verlaufs auf der Bühne präsent ist.» 147 Dabei ist für den Literaturwissenschaftler die «Frage nach dem Primat, der Dominanz von Figur oder Handlung» 148 von weitaus geringerem Interesse als die Frage nach der Interdependenz der beiden Kategorien. Es erscheint daher nur folgerichtig, die Konfigurationsstruktur des dritten Aktes im Rahmen eines Kapitels zu untersuchen, das der Bewegungsinszenierung vorbehalten ist. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, geht der Aufbau des dritten Aktes mit einer Dynamik der beschleunigten Verzögerung einher, deren komplexe Phrasierung in schroffem Gegensatz zu der Bedeutungslosigkeit der Thematik steht. Dies soll zunächst anhand der Szenenfolge 1 - 11 nachgewiesen werden, die sich schematisch als eine in Stufen aufsteigende Linie darstellen lässt: Szene 11 tableau vivant Szene 9 Auftritt Crevettes Szene 10 Szene 7 Auftritt des Generals Szene 8 Szene 6 Auftritt Mongicourts Szene 4 Auftritt Petypons Szene 5 Szene 2 Auftritt des «duc» Szene 3 Szene 1 Gabrielle + Étienne Der Auftritt des «duc» zu Beginn der zweiten Szene leitet einen Konfigurationswechsel ein, dessen Dauer die Szenen 2 und 3 umfasst. Szene 4 und 5 werden durch den Auftritt Petypons bestimmt. In Szene 6 übt Mongicourt Einfluss auf den weiteren Handlungsverlauf aus. Die Szenen 7 und 8 werden durch die Figur des Generals geprägt. Die Konfigurationsstruktur der Szenen 9 und 10 steht unter dem Eindruck der Figur Crevettes. Als Höhepunkt muss Szene 11 angesehen werden, in deren Verlauf der General, Gabrielle und 147 Pfister: Das Drama, S. 235. 148 Ebd., S. 220, Hervorhebung durch die Verfasserin. 83 <?page no="84"?> Lucien zu einem «tableau vivant» erstarren. 149 Dabei wohnt den einzelnen Konfigurationswechseln sowohl ein Moment der Verzögerung (mit jedem neuen Auftritt wird die Gemengelage zusätzlich verschärft) als auch ein Moment der Beschleunigung inne (mit jedem neuen Auftritt entsteht eine neue Dynamik). In der Szenenfolge 12 - 21 nimmt die Abfolge der Konfigurationen einen noch rascheren Verlauf, da jede neue Szene durch einen Konfigurationswechsel konstituiert wird. Zusätzlich wird der Effekt der Beschleunigung dadurch verstärkt, dass im zweiten Teil des dritten Aktes die (im ersten und zweiten Akt geschnürten) Problemknäuel entwirrt werden und die Handlungsstränge unaufhaltsam auf das Ende zulaufen. Nicht minder hervorhebenswert sind die Ensemble-Konfiguration der letzten Szene, die im französischen Theater eine feste Konvention der Schlussszene darstellt, 150 und die Null-Figuration beim Übergang von Szene 12 zu Szene 13, die sich «als Augenblick der leeren Bühne» 151 realisiert. Wenn man den Handlungsverlauf des dritten Aktes vom Rhythmus her erschließt, dann zerfällt die Anordnung der Ereignisse - in Anlehnung an das Prinzip der Scherenfuge - in zwei voneinander getrennte Teile: In den Szenen 1 bis 11 lässt sich eine Entwicklung beobachten, die crescendoartig zu einem Höhepunkt aufläuft, während in den Szenen 12 bis 21 diese Entwicklung decrescendoartig zum Stillstand kommt. Besonders sinnfällig wird das Kompositionsprinzip des dritten Aktes, wenn man sich jenen Nebentext aus Szene 11 vor Augen führt, in dem Feydeau ausführlich auf das «huit ou neuf secondes» andauernde Moment der Peripetie eingeht: [Petypon] se précipite vers [Gabrielle], instinctivement lui aussi, l ’ attrape par le bras, et, subissant le fluide, glisse à terre par la force de l ’ élan, et reste figé sur place, les jambes allongées parallèlement à la rampe, la main gauche tenant toujours le bras de sa femme, la main droite appuyée à terre. Huit ou neuf secondes se passent ainsi. Se baser pour cela sur l ’ intensité et la durée de l ’ effet, attendre le decrescendo du rire. 152 Im Hinblick auf die Szenenfolge 1 bis 11 lässt sich weiterhin feststellen, dass hier eine Einheit vorliegt, die nach dem Prinzip der übergebundenen Synkopierung aufgebaut ist. Bei diesem Prinzip handelt es sich um eine aufsteigende Melodie, in deren Verlauf bestimmte musikalische Motive miteinander verbunden und zunehmend synkopiert werden. Am Ende der Melodie steht dann die spielerische Zusammenführung mehrerer, zuweilen auch aller Motive. Im ersten Teil des dritten Aktes liegen die synkopierten 149 Étienne und der Offizier Chamerot gesellen sich erst zu Beginn der Szene 12 dem «tableau vivant» zu. 150 Vgl. hierzu: Pfister: Das Drama, S. 235. 151 Ebd. 152 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 317. 84 <?page no="85"?> Akzente auf Szene 1, Szene 6 und Szene 11, also auf jenen Szenen, in denen die fiktive gespielte Zeit 153 nur eine Szene umfasst. Die «übergebundenen» Motive ergeben sich aus der Szenenfolge 2 - 3, der Szenenfolge 4 - 5, der Szenenfolge 7 - 8 und der Szenenfolge 9 - 10. Szene 11 mündet in ein grotesk anmutendes tableau vivant, in dem sich polyphone Elemente finden, die eine Identifkation mit den dargestellten Figuren verhindern und das Dargebotene ironisch verzerren. Die überzogene Fratze des Generals, der auf dem Hochsitz der Selbstgewissheit erstarrt, die auf dessen Schulter ruhende Hand Gabrielles, deren mütterliches Gemüt in dieser Pose eine wirkungsvolle Konkretisierung erfährt, die akrobatische Drehung Petypons um die horizontale Körperachse sind nicht als Hinweise auf komplexe Persönlichkeitsstrukturen zu interpretieren, sondern als Gestus des Bourgeois, in dem sich auf prototypische Weise ein Bewusstsein vom bürgerlichen Habitus enthüllt. In der Szenenfolge 12 bis 21 wird dieser Gestus motivartig, d. h. in einer Kette aus zwei sich ergänzenden «tableaux vivants» aufgegriffen (Szene 13 - 15, Szene 18). Auf diese Weise gelingt es Feydeau, das Themenfeld «Bourgeoisie» auszuloten und verschiedene Perspektiven zu entwickeln, die untereinander eine Einheit bilden. Das lebende Bild der Szenenfolge 13 - 15 bietet die Gelegenheit, das im bürgerlichen Milieu um die Jahrhundertwende vorherrschende Geschlechtermodell zu hinterfragen. Die eingeschlafene Crevette, die «auf Befehl» des Generals auf dem «fauteuil extatique», einer Art deus ex machina, Platz genommen hat, ist als Sinnbild weiblicher Passivität zu interpretieren. Auf ironische Weise tradiert Feydeau ein Frauenbild, das ästhetischen Codes und festgelegten Verhaltenserwartungen entspricht und somit durch und durch gendered ist. Was das lebende Bild der Szene 18 anbelangt, so verlagert sich hier der Themenschwerpunkt auf die Verdrängungsproblematik: Petypon, der von sich aus Zuflucht zum «fauteuil extatique» nimmt, zieht (noch immer) der offenen Auseinandersetzung die Strategie der Verdrängung vor. Seine Identifikation mit dem bürgerlichen Wertekanon geht so weit, dass er seinen Widerstand aus Angst vor dem «Qu ’ en dira-t-on? » nicht aufzugeben vermag. Vor diesem Hintergrund lässt sich feststellen, dass der Rhythmus in La Dame de chez Maxim einer Konzeption der Zeit als Zyklik entspricht, als Wiederkehr des Gleichen oder Ähnlichen. Hier liegt zwar auch Progression vor, jedoch nicht eine lineare Progression, die von einem Punkt A zu einem von A verschiedenen Punkt B fortschreitet, sondern eine zyklische Bewegung, die, ausgehend von A über davon verschiedene Positionen zum gleichen Punkt A bzw. zu einem entsprechenden Punkt A' zurückkehrt. 154 153 Die «fiktive gespielte Zeit» wird vom Text fixiert. Die «reale Spielzeit» hingegen umfasst die Zeitdauer, die eine Aufführung beansprucht. (Pfister: Das Drama, S. 369). 154 Pfister: Das Drama, S. 376 - 377. 85 <?page no="86"?> Einen solchen Punkt A' stellt beispielsweise das «tableau vivant» der Szene 18 dar, in dem die für Petypon so charakteristische Verdrängungsproblematik nicht einfach mechanisch, sondern in variierender Form wiederholt wird. Doch letztlich sind auch variierende Wiederholungen lediglich unterschiedliche Reproduktionen ein und desselben Verhaltensschemas. Petypon erfährt im Laufe des Stückes keinerlei Entwicklung, er durchläuft keinen Läuterungsprozess, an dessen Ende die distanzierte Analyse der ihm widerfahrenden Ereignisse steht. Das der Figur zugrunde liegende Menschenbild ist durch die ritualisierte Inflexibilität eines Reaktionsmusters bestimmt, das den Werthaltungen und Mentalitäten des Großbürgertums entlehnt ist. In diesem Milieu wird bekanntlich dem Festhalten an Bewährtem, den Pflichten und der Anerkennung der Regeln großes Gewicht beigemessen. Ziel des nun folgenden Abschnitts ist, den Implikationen einer solchen statischen Figurenkonzeption 155 nachzugehen. 3.3.2 Figurenkonzeption Nachdem den quantitativen Relationen innerhalb des Personals Rechnung getragen wurde, möchte ich im Folgenden die aus der rhythmischen Artikulation des Textes sich ergebenden qualitativen Merkmale analysieren. Dabei fällt zunächst auf, dass im dritten Akt der Fokus der Darstellung von Crevette und der von ihr ausgehenden «magnetischen Wirkung» auf die Figur Petypons verlegt wird, deren Bühnenpräsenz 14 von 21 Szenen umfasst. 156 Zwar ist die Bühnenpräsenz «kein absolut zuverlässiges Kriterium für eine Einteilung des Personals in Haupt- und Nebenfiguren,» 157 doch handelt es sich um «einen wichtigen Parameter für die zentrale bzw. periphere Position einer Figur im Personal.» 158 Ein weiterer Indikator für die zentrale Position Petypons sind die zwischen den einzelnen Auftritten dieser Figur eindeutig vorhandenen Korrespondenzbezüge, die im Vaudeville weniger der «ästhetischen Wohlgeformtheit des dramatischen Textes» 159 als der Vertiefung der dem Stück inhärenten Dynamik dienen, des dem Vaudeville zugrundeliegenden «Rhythmus, der die Gliederung der kleinen und großen Sinneinheiten, die 155 Pfister zufolge «[bleibt sich] eine statisch konzipierte Figur während des ganzen Textverlaufs gleich; sie verändert sich nicht, wenn sich auch das Bild des Rezipienten von dieser Figur durch das notwendige Nacheinander der Informationsvergabe erst allmählich entwickeln, vervollständigen und dabei eventuell verändern kann.» (Das Drama, S. 241 - 242). 156 Szene 4, Szene 5, Szene 6, Szene 8, Szene 9, Szene 10, Szene 11, Szene 12, Szene 15, Szene 16, Szene 17, Szene 18, Szene 19 und Szene 21. 157 Pfister: Das Drama, S. 226 - 227. 158 Ebd., S. 227. 159 Ebd., S. 293. 86 <?page no="87"?> Abfolge der [. . .] Szenen, die Bewegungsabläufe und die Körpersprache, die Dramaturgie der Dialoge und den Aufbau der einzelnen Repliken organisiert.» 160 Die von dieser Dynamik ausgehende Wirkung besteht in der Intensität des komischen Effekts: Das Komische erscheint komischer, weil die Wiederholung von bestimmten Verhaltensmustern ein Konturen verschärfendes Relief schafft, das sich dem Zuschauer besonders einprägt. Zum besseren Verständnis dieses Zusammenhangs sei im Folgenden Pfister zitiert: Die Duplizität der Ereignisse ist ja nach Bergson in sich schon potentiell komisch. Eine extreme Häufung und ein extremer Schematismus solcher Korrespondenzen, wie er gerade in komischen Texten häufig auftritt, stellt darüber hinaus ein Stilisierungsprinzip dar, das durch die offensichtliche Künstlichkeit der Symmetrien den Artefaktcharakter des Stücks anti-illusionistisch bloßlegen kann. 161 Ob in der Ehediskussion mit Gabrielle, im Streitgespräch mit Mongicourt oder in der «Aussprache» mit dem General, stets findet sich bei Petypon ein «extremer Schematismus» der Verdrängung wieder, der dem Protagonisten zwar ein einheitliches Weltbild garantiert, aber unweigerlich zur Zerstörung menschlicher Beziehungen führt. Dabei ist gerade die Angst vor der sozialen Isolation der eigentliche Auslöser für die Verdrängung. Um der Ausgrenzung zu entgehen, um weiterhin als vollwertiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt zu sein, greift Petypon auf drei unterschiedliche Verdrängungsmechanismen (Verleugnung, Entwertung, Rollenvertauschung) 162 zurück, die sich exemplarisch anhand des Gespräches zwischen Petypon und Mongicourt (Szene 6) analysieren lassen: PETYPON, [. . .] Eh bien, quoi? Qu ’ est-ce qu ’ il a? MONGICOURT, bondissant à cette question. Comment, « qu ’ est-ce qu ’ il a »! tu en as de bonnes, toi! (Déposant son chapeau sur la chaise qui est derrière le canapé.) Ah! ça, as-tu oublié ce qui s ’ est passé entre le général et moi? PETYPON, sur un air détaché et avec un geste d ’ insouciance. Ah! . . . oh! . . . MONGI- COURT Quoi, « ah! Oh! » Comment! ton oncle, à propos de rien, sans provocation de ma part, m ’ administre une paire de gifles! . . . PETYPON, l ’ arrêtant net. Pardon! tu as mal compté! . . . une seule! 160 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 248. 161 Pfister: Das Drama, S. 294. 162 Mit den Verdrängungsmechanismen hat sich nicht so sehr Sigmund Freud, sondern dessen Tochter Anna beschäftigt. Zu den verbreitetsten Verdrängungsmechanismen zählen ihr zufolge die Aufsplitterung, das Rückgängigmachen, die Repression, die Entwertung, die Verlegung, die Verleugnung und die Rollenvertauschung. Vgl. hierzu: Znoj, Hansjörg: Regulation emotionaler Prozesse in Psychotherapie und Verhaltensmedizin. Bern/ Berlin/ Brüssel: Lang 2008, S. 68. 87 <?page no="88"?> MONGICOURT, s ’ asseyant sur le canapé. Oh! une! deux! . . . PETYPON Oui! C ’ est pas le nombre qui fait! MONGICOURT, se retournant vers Petypon. Et tu t ’ imagines que ça va en rester là? PETYPON, appuyé nonchalamment sur le dossier du canapé. Alors, quoi? . . . un duel? MONGICOURT, écartant les bras comme devant une chose inéluctable. Eh! un duel. PETYPON, descendant, avec une moue des lèvres et un hochement de tête significatifs. Oh! c ’ est embêtant! . . . Ah! C ’ est embêtant! 163 Die zu Beginn des Dialogs gestellte Frage «Eh bien, quoi? Qu ’ est-ce qu ’ il a? » ist eine rein rhetorische, hat sie doch in keinster Weise den Informationsgewinn zum Ziel. Um sich nicht der Realität stellen zu müssen und in der irrigen Annahme, Mongicourt werde seine Verleugnungsstrategie stützen, spielt Petypon den Ahnungslosen. Verleugnung manifestiert sich demnach hier «im Fehlen angemessener emotionaler Reaktionen auf unmittelbare, ernste und drängende Bedürfnisse.» 164 Petypon legt angesichts der drohenden Duellgefahr, die die Möglichkeit seines Todes einschließt, eine grotesk anmutende Gelassenheit an den Tag, «während er gleichzeitig [. . .] einen gesamten Bereich aus dem Bewusstsein ausschließt,» 165 nämlich die Angst vor dem eigenen Sterben. Was Mongicourt anbelangt, so wird aus seiner sprunghaften Reaktion («MONGICOURT bondissant») zum einen ersichtlich, dass er die Frage Petypons als nicht situationsadäquat (Ebene des Gesagten) empfindet, und zum anderen, dass er nicht willens ist, auf die eigentlichen Absichten des Freundes einzugehen (Ebene des Gemeinten). Im weiteren Verlauf des Gesprächs verlegt sich Petypon auf die Entwertung, indem er die Mitteilung seines Freundes lediglich einiger «Ah! »- und «Oh»-Laute würdigt. Auch die von ihm vorgenommene Korrektur der Ohrfeigenzahl ist als Entwertungsstrategie zu interpretieren. Dass er mit derlei Methoden vorläufig an Überlegenheit gewinnt, lässt sich an der gereizten Reaktion Mongicourts ablesen, der sich von seinem Freund manipuliert fühlt und an diesem Punkt des Gesprächs vor allem an einer raschen Klärung der Angelegenheit interessiert ist. Der Angriff des Generals auf seine Ehre muss abgewehrt werden, dies stellt Mongicourt als unumstößliche Tatsache dar. Petypon ist sich dieser Unumstößlichkeit ebenso bewusst, was beim Zuschauer wiederum die Erwartung weckt, er werde sich nun endlich 163 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 296. 164 Clarkin, John F./ Yeomans, Frank E./ Kernberg, Otto F.: Psychotherapie der Borderline- Persönlichkeit: Manual zur psychodynamischen Therapie. Stuttgart/ New York: Schattauer 2008, S. 84. 165 Ebd. 88 <?page no="89"?> zu dem Eingeständnis durchringen, die Ohrfeigen hätten nicht Mongicourt, sondern ihm gegolten. Doch gelingt es Petypon auch dieses Mal, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indem er die Strategie der Rollenvertauschung ins Spiel bringt. Tatsächlich geht die Rechnung insofern auf, als Mongicourt sich (zumindest anfangs) nicht darüber im Klaren ist, dass der Freund mit dem scheinbar unverfänglichen Satz «Oh! c ’ est embêtant! » die Absicht verfolgt, das Duell von sich abzuwenden und auf ihn abzuladen. Nur der Zuschauer ahnt bereits, dass es Petypon lediglich darum geht, «sein Schäfchen ins Trockene zu bringen». Auch im weiteren Verlauf des Gesprächs setzt Petypon die Rollenvertauschung gezielt ein, um sein Gegenüber zu destabilisieren: MONGICOURT A qui le dis-tu? PETYPON, après un temps. Écoute, mon cher, je regrette vivement que l ’ affaire ait eu lieu avec le général, parce que tu comprends, étant donné le lien de famille, je ne peux vraiment pas te servir de témoin. MONGICOURT, relevant la tête. Comment, « de témoin »? PETYPON Eh ben, oui! (Sur un ton facétieux.) Tu ne comptes pas te battre sans témoins! MONGICOURT Me battre? mais où as-tu pris que je voulais me battre? PETYPON Dame! qui dit: « duel »! . . . Tu voudrais un duel sans te battre? MONGICOURT Mais c ’ est à toi de te battre! c ’ est pas à moi! PETYPON Hein! Tu veux que je me batte avec le général? moi? MONGICOURT Évidemment! PETYPON Parce qu ’ il t ’ a giflé? MONGICOURT Il m ’ a giflé . . . à cause de ta femme! 166 Anhand dieses Dialogs lässt sich zeigen, dass Petypons Auftritte in rhythmischer Hinsicht ein kontrapunktisches System durchlaufen, d. h. sie bilden kreislaufartige Motivgestaltungen, die die Handlung in keinster Weise voranbringen. Ähnlich wie im absurden Theater Ionescos «[trägt] jedes Tun in sich zugleich sein Scheitern. Das Leben enthüllt sich [. . .] als ewig wiederholender 166 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 297. 89 <?page no="90"?> Kreislauf mit der Erkenntnis, nirgendwo anzukommen, nichts verändern zu können, nichts zu erreichen, nie eine Antwort zu erhalten, nichts zu bedeuten.» 167 Keine andere Figur innerhalb des Personals weist so statisch umrissene Persönlichkeitsmerkmale auf wie Petypon, der sich während des gesamten Handlungsverlaufs gleich bleibt. Er durchläuft keine Entwicklung, weil er nicht in der Lage ist, seine starren Vorstellungen zu revidieren und sie in neue, unbetretene Bahnen zu lenken. Sein verzweifeltes Bemühen, persönliche Schuld von sich abzuwenden, erweist sich als höchst prekärer Lösungsversuch, der weder von ihm noch von seiner Mitwelt durchzuhalten ist. Mit Petypon hat Feydeau eine Figur geschaffen, die den Typus des Verräters der bürgerlichen Ideale verkörpert. Er ist Verräter, insofern er auf immer komplexere Verdrängungsstrategien zurückgreifen muss, um die Maske der Bürgerlichkeit zu wahren. Indem er den Bürger spielt, kann er sich vormachen, dass das eigene Versagen so unredlich nicht ist und notfalls dem Sittenkodex der bürgerlichen Weltordnung durchaus entspricht. Damit aber missbraucht er jenen Wertekanon, der sich in Vorstellungen von ehelicher Treue, von Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit widerspiegelt. 3.3.3 Inszenierung des Raums Dass sich die Funktion des Raumes in La Dame de chez Maxim «nicht in der Notwendigkeit eines Schauplatzes für eine Geschichte» 168 erschöpft, lässt sich bereis an der «epischen Ausführlichkeit» 169 ablesen, mit der die Bühnenanweisungen zur Szenerie geschildert werden. So nimmt das (in Kapitel III, 3.1.3. untersuchte) Bühnenbild zum ersten Akt alle drei Dimensionen räumlicher Orientierung in Anspruch (Seitigkeit: «côté jardin», «A l ’ autre bout en coulisse»; Seitigkeit + Nähe vs. Ferne: «A droite premier plan», «En scène, milieu gauche»; Nähe vs. Ferne: «au deuxième plan»; in der Tiefe: «au fond», «au fond contre le mur») 170 und stellt darüber hinaus einen «Bedingungsrahmen für die Aktion der Figuren» 171 dar. Auch aus der Analyse der Bühnenanweisungen zum zweiten Akt (Kapitel III, 3.2.3.) dürfte deutlich geworden sein, dass Feydeaus Vorliebe für ausgearbeitete Dingfülle und realistische Effekte im Dienst der Figurencharakterisierung steht. Neben den visuellen Aspekten erfährt Feydeaus Raum durch das nicht enden wollende Türgeklapper eine rhythmische Qualität, die die auditive Wahrnehmungswelt des Vaudeville wesentlich mitbestimmt. Das auditive Muster, das sich dem Zuschauer durch das unentwegte Öffnen und Schließen 167 Drechsler, Ute: Die «absurde Farce» bei Beckett, Pinter und Ionesco: Vor- und Überleben einer Gattung. Tübingen: Narr 1988 (= Tübinger Beiträge zur Anglistik 12), S. 103. 168 Pfister: Das Drama, S. 338. 169 Ebd., S. 346. 170 Feydeau: La Dame de chez Maxim, S. 259 - 260. 171 Pfister: Das Drama, S. 339. 90 <?page no="91"?> der Türen einprägt, darf nicht als einfaches klangliches Beiwerk aufgefasst werden. Vielmehr stellt es ein «gleichförmiges Metrum» 172 dar, einen Grundrhythmus, einen geraden Takt, der zu der Dynamik der sich überschlagenden Handlung kontrastiv wirkt. Der rhythmischen Straffheit des Türgeklappers steht eine freie, durch unterschiedlichste Tempi gekennzeichnete Handlungsführung gegenüber. Die Bedingungen des tempo rubato sind damit auch auf klanglicher Ebene erfüllt. Doch zurück zum Nebentext, der zu Beginn des dritten Aktes gänzlich fehlt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Bühnenbild dem Leser bereits bekannt ist, handelt es sich doch um Petypons Sprechstundenzimmer, also um die Räumlichkeiten des ersten Aktes. Dem entspricht eine Konzeption des Raumes als zyklische Wiederkehr des Gleichen. Der mittelalterlichen Lehre von der Singularität menschlichen Daseins (Augustin) hält Feydeau ein Modell entgegen, in dem die Dimensionen «Zeit» und «Raum» als perpetuum mobile des Immergleichen gedacht werden. Die Analyse der Bewegungsinszenierung (Kap. III, 3.3.1.) machte ja bereits deutlich, dass die dargestellten Ereignisse zwar einem dynamischen Kompositionsprinzip unterliegen, aber keiner linearen Progression folgen, in der sich eine Ausgangssituation mit fortschreitender Handlung dynamisch steigert. Das Prinzip der Scherenfuge, wonach die Anordnung der Ereignisse in zwei voneinander getrennte Teile zerfällt, bildet den Ausgangspunkt für selbstständige Teilprogressionen, die nicht in einer höheren Einheit synthetisiert werden. So sehr Petypon sich abmüht, einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden, die Handlung entwickelt sich keiner wirklich positiven Lösung entgegen. Nicht aus eigener Kraft vermag er das zunehmend komplexer werdende Problemknäuel zu entwirren, eine nichtige Lüge bewahrt ihn vor dem Ende seiner Ehe. Insofern sind die in La Dame de chez Maxim dargestellten Konflikte «auch räumliche Konflikte, die sich als Spannungen innerhalb einzelner Räume oder zwischen verschiedenen Räumen artikulieren und die bewirken, dass die Räume des Geschehens selbst in einem konfliktgeladenen Spannungsverhältnis zueinander stehen.» 173 Das Prinzip der Wiederkehr deutet auf die Festgefahrenheit der Situation hin, auf rigide Verhaltensmuster, die lediglich zu reaktiven, nicht jedoch zu proaktiven Entscheidungen befähigen. Dass das Stück seiner Pseudo-Lösung ausgerechnet in jenem Raum zuschreitet, in dem die Gemengelage ihren Anfang nahm, ist als Zeichen eines unendlichen Regresses (regressus ad infinitum) zu werten. 172 Vgl. Fußnote 111 auf S. 66. 173 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 221 - 222. 91 <?page no="92"?> 4. L ’ affaire de la rue de Lourcine - eine systemisch-intertextuelle Analyse 4.1 Dynamik des Auslassens Hauptfigur des Stückes ist der Rentier Lenglumé, der am Morgen nach einer durchzechten Nacht neben einem fremden Mann erwacht. Dieser entpuppt sich als sein ehemaliger Klassenkamerad Mistingue. Die Erinnerung der beiden Männer reicht noch an den Beginn des gestrigen Abends: Jeder hatte sich aufgemacht, um dem alljährlichen Ehemaligentreffen der Labadensschule im berühmten Pariser Restaurant «Véfour» beizuwohnen. Was aber danach geschah, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Auch das geheimnisvolle Verschwinden von Lenglumés Schirm, das rätselhafte Auftauchen einer Halbperücke, das unerklärliche Vorhandensein von Kirschkernen und Kohlepulver in den Hosentaschen Lenglumés und Mistingues bleiben vorerst ungeklärt. Während des Mittagessens liest Norine, Lenglumés Ehefrau, einen Artikel über den Mord an einer jungen Kohlenträgerin vor. Dass das Blatt längst nicht mehr aktuell ist, bemerkt sie nicht, weil sie - wie der Zuschauer durch den Diener Justin erfährt - Zeitungsdaten grundsätzlich überliest. Im Laufe dieses Vortrags wird den beiden Männern bewusst, dass die mysteriösen Gegenstände schwerwiegende Indizien sind, die ihnen - im Fall einer Anklage - angelastet werden könnten. Die bis dahin unbescholtenen Bürger werden im Angesicht des Unfassbaren von einem einzigen Gedanken getrieben: den gesellschaftlichen Skandal mit allen erdenklichen Mitteln abzuwenden. So hegen sie beide die Absicht, den jeweils anderen umzubringen, um eine Zeugeneinvernahme auszuschließen. Die immer grotesker anmutenden Mordpläne werden erst dann aufgegeben, als Lenglumé zufällig feststellt, dass die morgendliche Zeitung auf den 24. Juli 1837 datiert und der Mord an der Kohlenträgerin somit um zwanzig Jahre verjährt ist. Was die vermeintlichen Indizien betrifft, so gibt es auch dafür eine Erklärung, die von der «mère Moreau» geliefert wird. Der Kirschlikörfabrikantin zufolge hätten Lenglumé und Mistingue im herzlichen Einvernehmen mit der Bardame dem Getränk des Hauses so stark zugesprochen, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen seien, den Weg nach Hause zu finden. Man habe sie daher im Kohlenkeller eingesperrt und sie erst dann wieder befreit, als sich erste Anzeichen der Ernüchterung bemerkbar machten. 92 <?page no="93"?> 4.1.1 Bewegungsinszenierung im Haupt- und Nebentext Il y a une lacune dans mon existence! (Lenglumé in L ’ affaire de la rue de Lourcine) 174 Ähnlich wie in der vorausgegangenen Analyse von Feydeaus La Dame de chez Maxim möchte ich im Folgenden Labiches L ’ affaire de la rue de Lourcine systemisch lesen, d. h. eine Lesart anwenden, die «nicht nur die Handlung, sondern auch das Wie der Handlung und die Einbindung der Ereignisse in den dramatischen Zusammenhang» 175 berücksichtigt. Hierfür ist zunächst die Frage zu klären, ob die erste Szene einer «Exposition» oder einem «Texteingang» entspricht. Eine solche Differenzierung erscheint besonders sinnvoll, wenn - wie in L ’ affaire de la rue de Lourcine der Fall - beide Funktionen nicht zusammenfallen, sondern als «isolierbare Phasen des Textverlaufs aufeinanderfolgen.» 176 Labiche konfrontiert den Zuschauer nicht von Anfang an mit dem Grundkonflikt des Stückes. Die erste Szene, die durch einen Dialog zwischen Norine und dem Diener Justin konstituiert wird, muss als Texteingang oder Auftakt aufgefasst werden. Sie dient der Einstimmung auf ein Milieu, in dem Bürgerlichkeit und vertrocknete Wohlgeordnetheit eine innige Symbiose eingehen. Indem Labiche dem Zuschauer die Informationen zum Grundkonflikt vorenthält, weckt er sein Interesse für den weiteren Handlungsverlauf. Gleichzeitig wird im Texteingang das wichtigste Indiz eingeführt und auf diese Weise auf kommendes Geschehen vorverwiesen. So fordert Norine den Diener Justin auf, sich auf die Suche nach jenem grünen Regenschirm zu begeben, der sich im weiteren Handlungsverlauf als vermeintliche Mordwaffe entpuppt: «Vous chercherez aussi le parapluie que j ’ ai emprunté au cousin Potard . . . un parapluie vert . . . avec une tête de singe . . . sa bonne est là qui l ’ attend.» 177 In der darauf folgenden Szene liefert Lenglumé in einem Monolog alle notwendigen Informationen, um den Grundkonflikt des Stückes zu erfassen. Szene 2 stellt somit die Exposition, den eigentlichen Beginn der Melodienführung dar. Dass mit der Darstellung des Grundkonflikts auch der Grundrhythmus eingeführt wird, lässt sich anhand einer Analyse des Expositionsmonologs nachvollziehen. Im Folgenden sei zunächst die einschlägige Passage vollständig zitiert: Où est donc mon pantalon? 178 . . . Le regardant. Tiens! je suis dedans! . . . Voilà qui est particulier! . . . je me suis couché avec . . . Ah! je me rappelle! Avec mystère. Chut! 174 Labiche, Eugène: L ’ affaire de la rue de Lourcine. [1857]. Paris: L ’ Arche 1989, S. 16. 175 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 233. 176 Pfister: Das Drama, S. 124. 177 Labiche: L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 14. 178 Alle Hervorhebungen durch die Verfasserin. 93 <?page no="94"?> madame Lenglumé n ’ est pas là . . . Hier, j ’ ai fait mes farces . . . Sapristi, que j ’ ai soif! Il prend une carafe d ’ eau sur la cheminée, et boit à même. Je suis allé au banquet annuel de l ’ institution Labadens, dont je fus un des éléments les plus . . . médiocres . . . Ma femme s ’ y opposait . . . alors, j ’ ai prétexté une migraine; j ’ ai fait semblant de me coucher. . . et v ’ lan! j ’ ai filé chez Véfour. . . Ah! c ’ était très bien . . . on nous a servi des garçons à la vanille . . . avec des cravates blanches . . . et puis du madère, du champagne, du pommard! . . . Pristi, que j ’ ai soif! Il boit à même la carafe. Je crois que je me suis un peu . . . pochardé! . . . Moi, un homme rangé! . . . J ’ avais à ma droite un notaire . . . pas drôle! et à ma gauche, un petit fabricant de biberons, qui nous en a chanté une passablement . . . darbo! ah! vraiment, c ’ était un peu . . . c ’ était trop . . . - Faudra que je la lui demande . . . Par exemple, mes idées s ’ embrouillent complètement à partir de la salade! Par réflexion. Ai-je mangé de la salade? . . . Voyons donc! . . . Non! . . . Il y a une lacune dans mon existence! Ah ça! comment diable suis-je revenu ici? . . . J ’ ai un vague souvenir d ’ avoir été me promener du côté de l ’ Odéon . . . et je demeure rue de Provence! . . . Était-ce bien l ’ Odéon? . . . Impossible de me rappeler! . . . Ma lacune! toujours ma lacune! . . . Prenant sa montre sur la cheminée. Neuf heures et demie! . . . Il la met dans son gousset. Dépêchons-nous de nous habiller. On entend ronfler derrière les rideaux. Hein! . . . on a ronflé dans mon alcôve! Nouveaux ronflements. Nom d ’ un petit bonhomme! j ’ ai ramené quelqu ’ un sans m ’ en apercevoir. De quel sexe encore? 179 Der Monolog besteht aus kurzen, parataktisch aneinandergereihten Sätzen, deren Ende jeweils durch drei Gedankenpunkte gebildet wird. Durch die Regelmäßigkeit dieser gemeinhin als Leerstellen bezeichneten Textlücken entsteht ein Rhythmus von Gehen und Stehenbleiben, der dem Torkeln eines unter Alkoholeinfluss stehenden Menschen entspricht. Der massenhafte Konsum von Madeira- und Pommard-Wein, von Champagner und Kirschlikör hat Lenglumés Gehirn im sprichwörtlichen Sinne «ausgeschaltet», sodass er nach jedem Satz innehalten und sich auf den nächsten besinnen muss. Allerdings gibt es für das lückenhafte Sprechen der Hauptfigur noch andere Gründe. Die Tatsache, dass nicht nur Lenglumé, sondern auch Mistingue und Norine regelmäßig in einen lallenden Sprachrhythmus verfallen, dass also die Aufeinanderfolge von Pause und Klang den eigentlichen Grundrhythmus des Stückes bildet, ist ein Indiz dafür, dass bei Labiche die sprachliche Reduktion die seelische Verödung der Figuren widerspiegelt. Durch die Art und Weise ihres Sprechens gibt der Vaudevillist Aufschluss über die Schwäche ihrer Persönlichkeit, die die Neigung zum Verbrechen nicht ausschließt. Wenn auch die Aufeinanderfolge von Pause und Klang dem eigentlichen Grundrhythmus des Stückes entspricht, so lässt sich kaum leugnen, dass es eine Reihe von rhythmischen Abweichungen gibt, die sich nicht direkt aus der konventionellen Bedeutung der Wörter, «aus der Beschaffenheit der 179 Labiche: L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 15 - 16, Hervorhebungen durch die Verfasserin. 94 <?page no="95"?> Wörter selbst» 180 erschließen lassen. Dabei handelt es sich - in Anlehnung an «Kristevas Konzept der Textpraxis» 181 - um so genannte Transformationen, die «den Sinn von seiner Eindeutigkeit zur fruchtbaren Mehrdeutigkeit vervielfältig[en].» 182 Als Beispiel kann Lenglumés Feststellung «Il y a une lacune dans mon existence! » dienen, deren Ende bezeichnenderweise nicht durch Gedankenpunkte (durch eine «lacune») gebildet wird, sondern durch ein Ausrufezeichen. Auf normativer Sprachebene wird in dem Satz die Erinnerungslücke angesprochen, die die Ereignisse des vorigen Abends betrifft. Jenseits des normativen Sprachgebrauchs aber enthält die Aussage eine weitere Bedeutung, nämlich die, dass Lenglumé - wenn auch nur in dumpfer Ahnung - um die Leere seines bürgerlichen Daseins weiß. Die rhythmischen Abweichungen ergeben sich somit - ganz im Sinne Löseners - aus jenen «Beziehungen der Wörter zueinander,» 183 aus jenen «Nichtwörtern,» 184 die sich «nicht in einer Begrifflichkeit des Zeichens fassen» 185 lassen, die «aber dennoch von fundamentaler Bedeutung» 186 sind. In diesem «Etwas», 187 das «den Text [. . .] zur Textur, zum Sinngewebe macht,» 188 wird die Schuldfrage (und die mit dieser Frage einhergehende Thematik der Verdrängung) virulent. In dem Maße, wie Lenglumé die Auseinandersetzung mit den Abgründen, den «lacunes» seiner Existenz scheut, verweigert er sich der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldhaftigkeit. Eine solche Verweigerungshaltung ist auf jene psychischen Mängel zurückzuführen, die unsere Sprache mit Worten bezeichnet wie innere Armut, Seelenarmut, Seelenverarmung, Lebensarmut oder, die Färbung des Mangels umschreibend, mit Flachheit des Erlebens im Gegensatz zu seiner Tiefe, Armut des Eigenlebens im Gegensatz zu dessen Reichtum, innere Leere, seelische Verödung im Gegensatz zu der sich selbst genügenden und aus sich selbst schöpfenden Fülle. 189 Vor dem Hintergrund der Schuldthematik wird auch verständlich, warum der Expositionsmonolog jede thematische Linearität vermissen lässt. Ein 180 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 9. 181 Sugahara, Misa: Rhythmus in der Bühnenkunst. Von der «Theatergemeinschaft» zur sekundären Oralität. In: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.): Stimmen, Klänge, Töne: Synergien im szenischen Spiel. Tübingen: Narr 2002 (= Forum modernen Theater/ Schriftenreihe 30), S. 165 - 182, S. 172. 182 Ebd. 183 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 9. 184 Vgl. hierzu: Lösener: ebd., S. 9. 185 Ebd. 186 Ebd. 187 Ebd. 188 Ebd. 189 Schneider, Hans-Joachim: Psychologie des Verbrechens. In: Elster, Alexander/ Lingemann, Heinrich/ Sieverts, Rudolf (Hg.): Kriminalpolitik - Rauschmittelmißbrauch. Berlin: de Gruyter 1977 (= Handwörterbuch der Kriminologie), S. 415 - 458, S. 444. 95 <?page no="96"?> Mensch, dessen Bewusstsein und Sprachvermögen restringiert sind, vermag unter Alkoholeinfluss die Textkohäsion 190 zwischen den Sätzen und zwischen den thematischen Einheiten noch weniger herzustellen. So lassen sich auf der Ebene der Oberflächenstruktur drei Themenfelder unterscheiden, die völlig unzusammenhängend nebeneinander stehen. Das erste Themenfeld (ohne Markierung) liefert dem Zuschauer eine Reihe von Details zu Lenglumés Ausschweifungen des vorigen Abends. Im zweiten Themenfeld (Fett-Markierung) geht es um die ungeklärte Frage, wie die Hauptfigur nach Hause gekommen ist. Das dritte Themenfeld (unterstrichene Markierung) befasst sich mit dem Unbekannten in Lenglumés Bett. Auf der Ebene der Tiefenstruktur lässt sich eine relative Textkohärenz feststellen, die der Leser/ Zuschauer «nicht vom Text her» 191 erfassen kann, sondern «selber mit Präsuppositionen und anderen Instrumenten kognitiv [. . .] herstellen» 192 muss. In diesem Zusammenhang sei hier die berühmte Definition Wolfgang Isers über die Funktion der Leerstelle zitiert: Als Unterbrechung der Textkohärenz transformieren sich Leerstellen zur Vorstellungstätigkeit des Lesers. Sie gewinnen dadurch den Charakter einer sich selbst regelnden Struktur, indem die von ihnen verursachten Aussparungen als Antriebe für das Vorstellungsbewusstsein des Lesers wirksam werden: es gilt, das Vorenthaltene durch Vorstellungen zu besetzen. 193 Die Frage, ob sich tatsächlich alle Leerstellen «zur Vorstellungstätigkeit des Lesers» umwandeln lassen, kann allerdings nicht eindeutig mit «ja» beantwortet werden. Die Formulierung «relative Textkohärenz» habe ich mit Bedacht gewählt, weil es für den Leser/ Zuschauer in diesem Stadium der Lektüre/ der Aufführung nicht leicht ist, die im Expositionsmonolog enthaltenen blancs zu ergänzen. Insgesamt sind die Informationen zum Grundkonflikt so spärlich gesät, dass er im Wesentlichen auf seine eigene «mentale intertextuelle Enzyklopädie,» 194 auf das kulturelle Gedächtnis angewiesen ist, durch das Intertextualität konstituiert wird. Anders als das Zitat Isers nahelegt, ging es Labiche weniger um die «mannigfachen Möglichkeiten 190 In der modernen Textlinguistik wird zwischen Textkohäsion und Textkohärenz unterschieden: Während sich die Textkohäsion auf die Ebene der Oberflächenstruktur bezieht, wird die Textkohärenz auf der Ebene der Tiefenstruktur hergestellt. Vgl. hierzu: Feng, Xiaohu: Konzeptuelle Metaphern und Textkohärenz. Tübingen: Narr 2003, S. 111. 191 Ebd., S. 111 - 112. 192 Ebd. 193 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink 1984 (= Uni-Taschenbücher 636), S. 301. 194 Reif, Danielle: Die Ästhetik der Leerstelle. Raymond Federmans Roman «La Fourrure de ma tante Rachel». Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 87. 96 <?page no="97"?> des Füllens» 195 als um diejenigen des Auslassens. Der Leser/ Zuschauer sollte vor allem jene Leerstellen in Augenschein nehmen, die tatsächlich leer bleiben und gerade dadurch zum Hauptthema des Stückes avancieren. Labiches Affaire thematisiert die blinden Flecken der Seele, jenen mentalen Vorgang, der den Menschen befähigt, unliebsame Erinnerungen und Gefühle ins Unterbewusstsein abzudrängen. Es geht um die als Neutralisationsmechanismus funktionierende Abwehrreaktion, auf die Täter zurückgreifen, um die eigene Schuld nicht wahrnehmen zu müssen. Dabei ziehen die Leerstellen feine Risse nach sich, die sich im Zuge der Dialogentwicklung zu tiefen, den Grundrhythmus prägenden Furchen erweitern. Als Beispiel möge ein Auszug aus der siebten Szene dienen: NORINE, à part. Comme c ’ est agréable! . . . recevoir un jour de baptême! MISTINGUE, mangeant. Voilà une sauce complètement ratée! NORINE Hein? MISTINGUE Ce n ’ est pas pour me vanter; mais, quand je m ’ y mets . . . LENGLUMÉ, bas. Mais tais-toi donc! Haut, à sa femme. T ’ en offrirai-je, ma louloute? NORINE, sèchement. Merci! puisque la sauce est mauvaise! MISTINGUE Moi, je fais revenir mes oignons . . . j ’ ajoute un verre de vin blanc, et je tourne, je tourne . . . pour que ça mijote. NORINE, à part. Quel drôle de notaire . . . Haut. Justin . . . donnez-moi le journal. JUSTIN, à part. Saprelotte! . . . je l ’ ai prêté à la cuisinière du premier, pour lire son feuilleton! . . . MISTINGUE Vous ne mangez pas, madame Louloute? NORINE, furieuse. Il m ’ appelle Louloute! LENGLUMÉ C ’ est un lapsus . . . Un peu d ’ omelette? 196 In dieser Textpassage kommt der Grundrhythmus auf repräsentative Weise zum Tragen, enthält sie doch eine ganze Reihe von Leerstellen, die das so mühelos sich entfaltende Alltagsgespräch zum Stocken bringen. In Anlehnung an Moisés Mayordomo-Marin lassen sich diese Aussparungen als affektive/ pragmatische Leerstellen bezeichnen, die sich durch «Offenheit bei der Umsetzung der übermittelten Normenwerte und Handlungsanweisungen» 197 auszeichnen. Gemeint ist hiermit, dass die innerhalb der Sätze entstehenden Pausen auf die Unfähigkeit der Figuren hinweisen, das auf der Ebene der Textoberfläche artikulierte Normensystem anzuerkennen und sich nach Maßgabe der ihm inhärenten Regeln zu verhalten. So wird der regelmäßige Schlagabtausch der Kontrahenten immer wieder durch winzige Zwischenfälle unterbrochen, so genannte «coups de théâtre», die das 195 Pietzcker, Carl: Ein Netz lockender Lücken. Versuch über Abwehrmechanismen in der Literatur. In: Adamowsky, Natascha/ Matussek, Peter (Hg.): Auslassungen. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 93 - 102, S. 99. 196 Labiche: L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 27. 197 Mayordomo-Marin, Moisés: Den Anfang hören: leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1 - 2. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 79. 97 <?page no="98"?> Gespräch wie eine Musikpartitur rhythmisieren. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang Norines Aussage, Gäste seien ihr an einem Tauftag besonders willkommen. Die mitten im Satz enthaltene Pause weist darauf hin, dass sie das genaue Gegenteil denkt, sich also eigentlich wünscht, niemand fiele ihr an einem solchen Tag zur Last. Um hinsichtlich ihrer eigenen Bedürfnisse keinen Verdacht aufkommen zu lassen, flüchtet sie in stereotype Formulierungen, in hohle Phrasen, hinter denen nicht viel mehr als die totale Anpassung an ein bürgerliches Normensystem steckt. Umso direkter mutet die Replik des an keine Konvention gebundenen Mistingue an, der mit seiner unverhohlenen Kritik an der misslungenen Sauce dem Gebot der Contenance keinerlei Rechnung trägt. Prompt ist die an unverbindlich-liebenswürdigen Konversationsstil gewöhnte Norine zutiefst beleidigt, ein Umstand, der von Mistingue jedoch gar nicht erst zur Kenntnis genommen wird. Der Völlerei ergeben, interessiert ihn in erster Linie die reich gedeckte Tafel. Der Verweis auf die Niederungen des Lebens darf aber nicht als Nebensächlichkeit aufgefasst werden, sondern stellt - um in der Sprache des Kulinarischen zu bleiben - das «Hauptingredienz» der Szene dar. Das Motiv des Essens tritt hier in grotesker Pervertierung in Erscheinung. So unbedeutend die Rede von der Zubereitung einer guten Sauce sein mag, gewisse Assoziationen mit dem Zeremoniell der Totemmahlzeit, diesem «erste[n] Fest der Menschheit,» 198 lassen sich nicht von der Hand weisen, 199 wobei diese Anbindung nicht explizit hergestellt wird, sondern vielmehr vor dem Hintergrund eines Mythos erfolgt, über den auch der psychoanalytische Diskurs Auskunft gibt. 200 Zwar ist in der Affaire rue de Lourcine von Vatermord keine Rede. Doch die Tatsache, dass Mistingue und Lenglumé von dem Tod des Kohlenmädchens im Verlauf einer Mahlzeit erfahren, dürfte nicht dem Zufall zuzuschreiben sein. Was hier dargestellt wird, ist die komische Variante eines Ritus, der auf 198 Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. [1913]. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 2005, S. 8. 199 Vgl. hierzu die Analyse des einschlägigen Dialogsabschnitts in Kapitel VI, 2. 200 So schreibt Freud über die Genese der Totemmahlzeit: «Eines Tages taten sich die (wegen ihrer heftigen Begierde nach den Frauen des Vaters) ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich geblieben wäre. Vielleicht hatte ein Kulturfortschritt, die Handhabung einer neuen Waffe, ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegeben). Dass sie den Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich. Der gewaltige Urvater war gewiss das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an. Die Totemmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion.» (In: Freud: Totem und Tabu, S. 8). 98 <?page no="99"?> die Urgeschichte der Menschheit zurückgeht. Die Unmengen an Speisen und Getränken, die Mistingue zu sich nimmt, sind als symbolische Vergegenwärtigung sexueller Praktiken zu interpretieren. Der Zuschauer soll auf subtile Weise auf das nachfolgende Geschehen vorbereitet werden, in dessen Verlauf Mistingue und Lenglumé mit dem Mord an dem Kohlenmädchen konfrontiert werden. Neben der vorausdeutenden Funktion macht die Vermischung von sexuellen und kulinarischen Kategorien die Abweichung vom bürgerlichen Normensystem sichtbar. Der groteske, einer eigenen Identität entbehrende Mistingue erscheint als Verkörperung eines anonymen, triebgesteuerten «Es», als Ausdruck einer fremden, nicht zu beherrschenden Macht, die sich in das Leben des Bürgers Lenglumé einschleicht und immer mehr Platz beansprucht. Dessen flehentliche Bitte, Mistingue möge endlich den Mund halten, ist auf zweierlei Weise zu verstehen: zunächst als Ausdruck seiner Sorge, Norine könne Argwohn gegen den sich als Notar ausgebenden Gast schöpfen, des weiteren als verzweifelter Versuch, jener von ihm als dämonisch empfundenen Macht Einhalt zu gebieten. Doch der von Lenglumé unternommene Ablösungsversuch ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Mistingue hat Lenglumé fest im Griff. Durch geschickte Machenschaften gelingt es ihm, den Bourgeois so gefügig zu machen, dass er zu selbstbestimmtem Handeln nicht mehr fähig ist. Das Ausmaß der Manipulation lässt sich bereits an Mistingues zudringlichem Verhalten gegenüber Lenglumés Frau ablesen: «Il m ’ appelle Louloute! », stellt die dem Schwerenöter schutzlos ausgelieferte Norine fest. 4.1.2 Figurenkonzeption Indem Labiche den Familienalltag des wohlhabenden Pariser Bürgertums vergegenwärtigt, gibt er den Blick frei auf wesentliche Bereiche der bürgerlichen Kultur- und Lebensführung, die von Kapitalismus und Ökonomisierung geprägt sind. Sein karikierendes Schreiben stellt er in den Dienst einer Entmythologisierung jenes Diskurses, der die bürgerlichen Lebensvorstellungen zum Distinktionsmerkmal erhebt. Dabei interessiert ihn vor allem die Frage, wie unter Norm, Konvention, Mode die viel beschworenen bürgerlichen Werte verschüttet werden, wie in dem Bild der Bürgerfamilie als «Keimzelle der Gesellschaft» feine Risse zutage treten. Dass diese Risse im 19. Jh. noch keine tiefen Furchen hinter sich ziehen und die bürgerliche Lebensweise auch in den Jahrzehnten des Umbruchs (1850er Jahre) als anzustrebendes Ideal gilt, ist der Parallelität zwischen Beziehungs- und Wirtschaftsnetz zuzuschreiben, ein Phänomen, das in nahezu allen Komödien Labiches thematisiert wird. Teils humorig-verständnisvoll, teils ironisch-sarkastisch beschreibt er eine Welt, in der eine solide finanzielle Basis als nahezu einziger Garant für ewig währendes Familienglück gilt, in der die viel gerühmte bürgerliche Kohäsion auf handfesten materiellen Interessen 99 <?page no="100"?> beruht, denen sich persönliche Neigungen zu beugen haben. Dass ein solches Schreiben in den Rhythmus, in das Sprechen der Figuren eingeschrieben ist, soll im Folgenden durch die Analyse der Figurenkonstellation Lenglumé- Mistingue dargestellt werden. In L ’ affaire de la rue de Lourcine gestaltet sich die Ökonomisierung der menschlichen Beziehungen unter anderen Vorzeichen als zum Beispiel in den wenige Jahre zuvor erschienenen Stücken Embrassons-nous Folleville (1850) oder La fille bien gardée (1850), in denen amourös motivierte Intrigen im Vordergrund stehen. In der Affaire geht es nicht um die das Genre des Vaudeville bestimmende Frage «Wer heiratet wen? », vielmehr wird die Parallelität zwischen Beziehungs- und Wirtschaftsnetz auf eine gleichsam subtilere Weise thematisiert, so wie etwa in Szene 6, in der Lenglumé seinen ehemaligen Klassenkameraden zum Mittagessen einlädt, weil er sich von ihm ein gesellschaftliches Fortkommen erhofft. Nicht das in Jugendtagen gemeinsam Erlebte ist Anlass für die Einladung, sondern die mit der Position Mistingues verbundene Chance auf einen gesellschaftlichen Aufstieg. Zuvor gilt es allerdings zu klären, welche Stellung der einst als «prix de vers latins» 201 Gefeierte innehat: LENGLUMÉ, Haut, tout en s ’ habillant. Ah ça! tu dois être dans une jolie position, toi? un prix de vers latins! MISTINGUE, s ’ habillant. Oui . . . je n ’ ai pas à me plaindre . . . je suis chef . . . LENGLUMÉ De division? MISTINGUE Non! . . . LENGLUMÉ De bataillon? MISTINGUE Non, je suis chef . . . LENGLUMÉ Chef d ’ une nombreuse famille? MISTINGUE Chef de cuisine. LENGLUMÉ Hein! . . . cuisinier? 202 In dieser Textpassage wird der Rhythmus durch die gleiche, dreifach wiederholte Fragestruktur markiert. Indem der Vaudevillist seinen Protagonisten in klimaxartiger Steigerung die bürgerlichen Hoheitszeichen aufzählen lässt, gelingt es ihm, den komischen Effekt zu intensivieren, der sich - einer Sprungfeder gleich - in Mistingues Aussage entlädt, er stehe als «Chef» weder einer Division noch einem Bataillon, sondern lediglich einem Küchenpersonal vor. Die Enttäuschung ob dieser Antwort veranlasst Lenglumé zu der Überlegung, Mistingue in der Küche speisen zu lassen: LENGLUMÉ, à part. Cuisinier! Je suis fâché de l ’ avoir invité! MISTINGUE Ah ça! dépêchons-nous de déjeuner, car, ce soir, je quitte la France. LENGLUMÉ Comment? MISTINGUE Je vais dans le duché de Brunswick. 201 Labiche: L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 26. 202 Ebd. 100 <?page no="101"?> LENGLUMÉ Ah! te posséder si peu! . . . MISTINGUE Une place superbe! . . . Quatre mille balles! . . . et le beurre! LENGLUMÉ, à part. Ah! qu ’ il est commun! . . . Si je pouvais le faire manger dans la cuisine! 203 Auch diese Textsequenz ist in rhythmischer Hinsicht aufschlussreich, sind doch die Repliken Lenglumés durch eine Reihe von Leerstellen durchzogen, die die innere moralische Leere der Figur sinnbildlich bekräftigen. In einer Art Spiegelfunktion machen die Gedankenpunkte deutlich, dass die an Mistingue gerichtete Kritik den Protagonisten im gleichen Maße betrifft. Dass Lenglumé seinen früheren Klassenkameraden der Mittelmäßigkeit bezichtigt, entbehrt nicht der Ironie, zeichnet sich doch sein eigener Wahrnehmungshorizont durch eben jene geistige Enge aus, die mit Depraviertheit, egozentrischer Selbstsucht, roher Sinnlichkeit und Gewissenlosigkeit einhergeht. Vor diesem Hintergrund wirkt nicht die Tatsache störend, dass ein Unschuldiger mit zwingenden Indizien belastet wird, sondern der Eindruck, dass Lenglumé den Mord an der jungen Kohlenträgerin tatsächlich ausgeführt haben könnte, dass er die psychologischen Voraussetzungen für eine solche Tat erfüllt. Eine dieser Voraussetzungen ist in seiner Gewissenlosigkeit zu sehen. Als er in Szene 7 seiner kohlschwarzen Hände gewahr wird, verschwendet er nicht einen einzigen Gedanken an das Opfer. Zwar lässt er sich in Szene 8 zu der Formulierung «Pauvre charbonnière! . . . moissonnée à la fleur de l ’ âge» 204 herab, doch die dem Satz vorausgehende Nebentextangabe «poétiquement» 205 ist als ironischer Hinweis darauf zu interpretieren, dass Lenglumé kein Schuldbekenntnis abgibt, sondern mit unverhohlener Genugtuung einen Tatbestand feststellt. Aus Angst vor der Strafe scheut er auch vor gewalttätigen Maßnahmen nicht zurück, sodass daran deutlich wird, wie brüchig die zivilisatorische Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist. Die Leerstellen fungieren in obigem Dialogabschnitt somit als Bruchstellen, die den Riss zwischen den rigiden Kontrollen des bürgerlichen Verhaltenskodex und der moralischen Verderbtheit des Einzelnen vorführen. Lenglumé scheint in seinen praktischen Überlegungen und Handlungen von Wertvorstellungen unberührt zu sein, die in der bürgerlichen Kultur traditionell eine wichtige Rolle spielen: Vernunft, Beherrschbarkeit der Naturhaftigkeit des Menschen, Kanalisierbarkeit der menschlichen Triebe sowie jene «aufgeklärte Selbstliebe,» 206 mit der die Überzeugung verbunden ist, «daß der Respekt vor fremden Rechten und Freiheiten im eigenen Interesse liege.» 207 203 Ebd. S. 26 - 27. 204 Ebd., S. 36. 205 Ebd. 206 Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Berlin: Akademie 2007, S. 31. 207 Ebd. 101 <?page no="102"?> Die unzulängliche Moralität Lenglumés enthält die eigentliche Anfrage an den Zuschauer, wie es zu einer solchen moralischen Ödnis kommen kann, welche Erklärungsansätze die bürgerliche Gesellschaft hierfür liefert. So unscheinbar die Gedankenpunkte in oben zitierter Textpassage scheinen mögen, sie enthüllen durch ihre Spiegelfunktion Lenglumés Charakter als unmündigen Bürger, dem es in der symbiotischen Vernetzung mit dem fernab von den normativen Setzungen lebenden Mistingue um die Selbstversicherung der eigenen Existenz geht. Die Umgangsformen des «chef de cuisine», die - gemessen an bürgerlichen Kriterien - von einem Mangel an Distinktion zeugen, üben auf Lenglumé eine morbide Faszination aus, eine Faszination, die sich mit einem Leben als unbescholtener Bürger, als «homme rangé» 208 nicht verträgt. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto deutlicher ist zu erkennen, dass Lenglumé sich von der ambivalenten Wirkung seines Kontrahenten angezogen fühlt, einer Wirkung, die gerade auf ihn, den Typus des «unmündigen Menschen», einen magischen Effekt ausübt. «Das Böse erscheint hier als ein Schaudern verursachendes, unergründbares Phänomen,» 209 dem Lenglumé aus eigener Kraft nichts entgegenzusetzen vermag. In der spezifischen «Korrespondenz- und Kontrastrelation» 210 zu seinem «maître d ’ oeuvre» entlarvt er sich als autoritäre Persönlichkeit, die sich in erster Linie über eine Unfähigkeit definiert: die Unfähigkeit nämlich, Eigenverantwortung zu übernehmen und ein von starren Konventionen befreites Denken zu entwickeln. 4.1.3 Inszenierung des Raums Zum sicheren Bestand des von Lösener - auf der Grundlage von Meschonnics Denken - entwickelten systemischen Ansatzes gehört die Einsicht, dass das Spiel der Figuren maßgeblich durch räumliche Verhältnisse bedingt ist. Auch im Hinblick auf die Affaire lässt sich sagen, dass die «räumliche Dynamik sich weitgehend einem inhaltsbezogenen Lesen [entzieht], welches das Drama auf einen bloßen Plot, wie er in einem beliebigen Schauspielführer zu finden wäre, reduziert.» 211 Auf die Frage, wie der Rhythmus des Raumes im Text zu analysieren ist, antwortet Lösener, dass jeder Raum durch «die systemischen Beziehungen zwischen den Szenen, Repliken und Spielanweisungen» 212 bestimmt wird und dass diese Beziehungen maßgeblich an der «Schaffung 208 Labiche: L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 16. 209 Friedrichs, Sabine: Die Imagination des Bösen. Zur narrativen Modellierung der Transgression bei Laclos, Sade und Flaubert. Tübingen: Narr (= Romanica Monacensia 54), S. 10. 210 Pfister: Das Drama, S. 224 - 225. 211 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 222, Hervorhebung im Original. 212 Ebd. 102 <?page no="103"?> einer mentalen Inszenierung» 213 beteiligt sind. Ähnlich wird dieser Zusammenhang von Petra Meurer gesehen, die dem Nebentext «den Status einer Partitur [beimisst], also einer Notation, die zwar selbst beispielsweise keine Töne enthält, aber nach der sich Musik aufführen lässt.» 214 Bevor ich jedoch näher auf die kompositorischen Aspekte der Raumdynamik eingehe, sei zunächst jener Nebentext zitiert, in dem Labiche die Räumlichkeiten seines Vaudeville entwirft: Le théâtre représente la chambre à coucher de Lenglumé. Au fond, lit fermé par des rideaux; lavabo, avec ses ustensiles. Cheminée à gauche, deuxième plan; porte au fond, à la droite du lit; porte à la gauche du lit. Portes au premier et au deuxième plan de droite; chaises, fauteuils, etc. 215 Der vom Leser mental zu inszenierende Raum setzt sich - im Gegensatz etwa zu demjenigen Feydeaus - aus nur wenigen, nur stichwortartigen Komponenten zusammen, doch tragen diese nichtsdestotrotz zur Schaffung eines «gelebten Raums» bei, der aus der Gestimmtheit dieser einzelnen Komponenten konstituiert wird. Die begrenzte Zahl an Requisiten ist kein Hinweis auf räumliche Abwesenheit, sondern Ausdruck dafür, dass sich der Raum durch die Handlungen der Akteure und durch die «möglichen Interaktionsformen» 216 mit den vom Autor (spärlich) gesäten Objekten jedesmal neu schafft. Die sich auf diese Weise ergebende räumliche Dynamik weist den Bühnenraum als bürgerliches Schlafzimmer aus. Die Tatsache, dass sich keine Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Teil vornehmen lässt, deutet - ähnlich wie in La Dame de chez Maxim - auf eine Überlappung der beiden Lebensbereiche hin. Lenglumé und Norine empfangen ihre Gäste im Schlafzimmer des Hausherrn, nehmen dort ihre Mahlzeiten ein, verbringen dort einen Großteil des Tages. Nur zum Schlafen ziehen sich die Ehepartner in ihre eigenen Räumlichkeiten zurück. Eine solche spezifisch bürgerliche Nivellierung von Sinnlichkeit erweist sich in der Affaire als Konfliktherd, auf dessen Grundlage ein Gewirr von Ereignissen seinen Lauf nimmt. Lenglumé kann nur deshalb unbehelligt ins Restaurant «Véfour» schleichen, weil seine Frau sich abends in ihrem Gemach aufhält. So nimmt denn der Konflikt seinen Ausgangspunkt in dem missglückten Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, in dem Ungleichverhältnis zwischen Mann und Frau, das im Laufe der Handlung zunehmend schärfere Konturen annimmt. Gleichzeitig entspricht die räumliche Konzentration des Dargestellten, die enge 213 Ebd., S. 319. 214 Meurer, Petra (Hg.): Theatrale Räume. Theaterästhetische Entwürfe in Stücken von Werner Schwab, Elfriede Jelinek und Peter Handke. Berlin/ Münster: Lit 2005 (= Literatur - Theater - Medien 3), S. 50. 215 Labiche: L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 11. 216 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen. Band. 1. Tübingen: Narr 1983, S. 147. 103 <?page no="104"?> Abgeschlossenheit des Raumes einer Perspektivierung, die den begrenzten Denkstrukturen der Hauptfigur entspricht: Lenglumé nimmt das ihm widerfahrende Geschehen immer nur aus dem eigenen Blickwinkel wahr und erweist sich als unfähig, den persönlichen Horizont an die gegebenen Verhältnisse anzupassen. So werden in den Szenenanweisungen zum ersten Akt bereits schemenhaft die Grundrisse des autoritären Charakters skizziert, jenes Untertans, dessen Ich-Schwäche mit einem ausgeprägten Minderwertigkeitsgefühl einhergeht, jenes abgestumpften Wesens, das sich von dem primitiven Gräuel nicht abschrecken lässt und dessen Denken sich an einfachen Schwar-Weiß-Kategorien orientiert. 4.2 Intertextuelle Bezüge Wie bereits im einführenden Kapitel zur Gattung des Vaudeville (Kapitel II) festgestellt wurde, sind die historischen Ursprünge des Genres auf die Timbre-Praxis zurückzuführen, die gegen Mitte des 18. Jahrhunderts Eingang in die so genannte «pratique des vaudevilles» fand. Diese wiederum wirkte sich «beflügelnd» auf die intertextuelle Schreibweise der Vaudevillisten aus, deren «kommunikative Strategie» dadurch gekennzeichnet war, dass sie sich sowohl an Zuschauer richtete, denen das Wiedererkennen verstreuter Zitate Vergnügen bereitete, als auch an solche, die der mühsamen Rekonstruktion den Unterhaltungswert der Handlungsepisoden vorzogen. Ein besonders repräsentatives Beispiel für diese Vorgehensweise stellt Labiches Affaire dar, die - in Anlehnung an Olivier Bara - eine Fülle an intertextuellen Verweisen enthält: «La comédie est tissée de souvenirs dramatiques comme elle bruisse d ’ échos culturels (Horatius Flaccus, scène 4) ou de souvenirs de poésies scolaires (la charbonnière « moissonnée à la fleur de l ’ âge », scène 8).» 217 Auch für Hans Färnlöf ist das Vaudeville - gemessen an dem Kriterium der Intensität des intertextuellen Bezugs - eine hochgradig intertextuelle Komödie: «C ’ est du second degré; c ’ est à la fois un discours et un anti-discours, ou mieux un ‹ para-discours › , qui se situe constamment par rapport à d ’ autres textes (et de chansons) et donc par rapport à d ’ autres façons de saisir le monde au moyen du langage et de constructions fictives.» 218 Im Folgenden soll der Fokus auf zwei intertextuelle Fremd-Bezüge gerichtet werden: Shakespeares Tragödie Macbeth und Moreaus Voltaire chez Ninon. Der Macbeth-Bezug begegnet dem Leser/ Zuschauer in der siebten Szene, die der ersten Szene des fünften Aktes aus Shakespeares Drama 217 Bara, Olivier: Dossier L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 115 - 116. 218 Färnlöf, Hans: Le nivellement du vaudeville - remarques sur le para-discours chez Labiche, Bd. VIII, Nr. 1, Dezember 2008 (http: / / etc.dal.ca/ belphegor/ vol8_no1/ articles/ 08_01_farnlo_vaudev_fr.html, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 104 <?page no="105"?> «aufgepfropft» wurde, während Voltaire chez Ninon in dem Vaudeville- Chanson der vierzehnten Szene als Prätext fungiert. Dessen Identität erschließt sich dem Interpreten durch den paratextuellen Hinweis «AIR de Voltaire chez Ninon,» 219 der für eine explizite Markierung sorgt. Was den Macbeth-Bezug anbelangt, so kann die von Macbeth zur Affaire führende Transformation als eine einfache oder direkte Transformation beschrieben werden, die darin besteht, eine Schlüsselszene aus Macbeth ins Frankreich des 19. Jahrhunderts zu verlegen. Bei diesem Transformationsvorgang kommt der im Akt des Zitierens enthaltene travestierende Aspekt zum Tragen, wobei die Schnittstellen überall dort entstehen, wo Macbeth und Affaire aufeinander treffen. Dem Modell von Lachmann/ Schahadat folgend ist zu fragen, ob der intertextuelle Bezug auf Macbeth zum Typ der Partizipation (Weiter- und Wiederschreiben), der Tropik (Widerschreiben), oder der Transformation (Umschreiben) gehört, wobei (wie bereits an anderer Stelle ausgeführt) 220 diese drei Typen selten in Reinform anzutreffen sind. Grundsätzlich besteht im Werk Labiches die Tendenz zur Tropik, doch lässt sich an vielen Stellen eine Alternierung von «Phasen der Imitation und der Ablehnung» 221 beobachten, wie zum Beispiel bei dem in Szene 7 vorliegenden Bezug auf die Figur der Lady Macbeth. Von ihr übernimmt der Vaudevillist die Gestik der Hände (Imitation), verzichtet aber auf weitere Aspekte ihrer komplexen Persönlichkeitsstruktur (Ablehnung), wodurch ein komischer Effekt entsteht: Das Händewaschen fungiert in der Affaire lediglich als Referenz auf das anerkannte, kanonisierte Theaterstück Macbeth und steht nicht mehr für das verzweifelte Bedürfnis eines von Schuldgefühlen gemarterten Menschen, sich rein zu waschen. Stand bei Shakespeare die Geste noch für die Tragweite, die Wucht der Schuld, wird sie bei Labiche als Karikatur, genauer: als Travestie vorgeführt. Durch das Zusammentreffen von Text (Affäre) und Prätext (Macbeth) ergibt sich ein intertextuelles Geflecht, dessen Symbolgehalt sich dem damaligen französischen Publikum durch wenige pointiert ausgewählte Einzelheiten erschloss. Die folgenden Ausführungen Olivier Baras mögen diesen Transformationsvorgang erhellen: L ’ affaire de la rue de Lourcine peut se lire comme une variation fantaisiste autour d ’ un scénario tragique canonique: le héros, frappé dans sa démesure criminelle, puni pour avoir outrepassé les lois de la nature et violé les tabous de la civilisation, est livré aux brulures du remords ou aux tortures des divinités de la vengeance. La tragédie mobilise alors les vertus du symbole ou de l ’ allégorie pour figurer, dans les mots et les gestes, les tortures de la conscience. Lenglumé, obsédé par la propreté de 219 Ich beziehe mich hier (anders als im vorausgegangenen Kapitel) auf die bei Gallimard erschienene Textausgabe. (Labiche, Eugène: L ’ affaire de la rue de Lourcine. [1857]. Dossier réalisé par Olivier Bara. Lecture d ’ images Sophie Barthélémy. Paris: Gallimard 2007, S. 41). 220 Vgl. hierzu Kapitel III, 3.4. 221 Lachmann/ Schahadat: Intertextualität, S. 678 f., S. 681 f. 105 <?page no="106"?> ses mains, est ainsi la version masculine et burlesque de la Lady Macbeth shakespearienne. 222 In Shakespeares Tragödie vollzieht sich eine Genese des Gewissens, die in der Figur der Lady Macbeth eine exemplarische Konkretisierung erfährt. Die berühmte Frauengestalt durchläuft unterschiedliche Phasen der Auseinandersetzung mit dem Gewissen, jener Instanz des Bewusstseins, die eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse vorzunehmen vermag. Diese Auseinandersetzung erfolgt nach vollzogener Tat, nachdem Lady Macbeth den Mord an dem Rivalen ihres Mannes aktiv mitgeplant hat. Von heftigen Skrupeln geplagt, irrt sie - an Schlafwandeln leidend - durch das nächtliche Schloss. Panisches Entsetzen bemächtigt sich ihrer, als sie der unsichtbaren Blutspur gewahr zu werden glaubt, die der Mord an Duncan auf ihren Händen hinterlassen hat. Ihr verzweifeltes Bemühen, sich dieser Spur zu entledigen, kann durchaus als Reuebedürfnis aufgefasst werden. So lautet die einschlägige Passage aus Shakespeares Tragödie: LADY MACBETH: Da ist immer noch ein Fleck. [. . .] Raus, verdammter Fleck! Raus, sage ich! Eins, zwei: nun, dann ist es Zeit, es zu tun. - Die Hölle ist finster. [. . .] Was brauchen wir darum zu bangen, wer es weiß, wenn keiner unsere Macht zur Rechenschaft ziehen kann? - Doch wer hätte gedacht, daß der alte Mann so viel Blut in sich gehabt hätte? [. . .] - Was, wollen diese Hände niemals sauber werden? - Nichts mehr davon, mein Gebieter, nicht mehr davon: Ihr verderbt alles mit diesem Zusammenzucken. [. . .] Hier ist noch der Geruch des Blutes: alle Wohlgerüche Arabiens werden diese kleine Hand nicht süßer riechen machen. Oh! oh! Oh! 223 Während Shakespeares Figur - von ihren Skrupeln verfolgt - rasend wird und stirbt (oder sich selbst möglicherweise tötet), bezeigen Labiches Figuren keine Reue. Anders als Lady Macbeth erweist sich Lenglumé als unfähig, das eigene Tun an seinem Gewissen zu messen. Formen der Selbstkritik bzw. Selbstverurteilung sind bei ihm in keiner Weise vorhanden. War an die Texte Shakespeares noch der Glaube an die kathartische Funktion des Theaters gekoppelt, so scheint Labiche an diesem Glauben nur noch bedingt festhalten zu wollen. Zwar galt auch im Frankreich des Zweiten Kaiserreichs die Bühne als Ort der Verherrlichung bürgerlicher Tugenden, doch weichen die Stücke Labiches insofern von dieser Norm ab, als sie keine moralische Reinigung der Figuren auf der Bühne vorführen und somit auch dem Zuschauer die kathartische Reinigung verweigern, die eine Sühne (oder zumindest Reue) des Verbrechens bewirkt hätte. Labiche widerschreibt dieser Norm und zivilisierenden Funktion des Theaters. In diesem Sinne kann der Vaudevillist als Wegbereiter einer «Poetik der Störung» aufgefasst werden. Mit seinem Theater schlug er eine Bresche, die dann von den Vertretern der «Moderne» 222 Bara: Dossier L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 116. 223 Shakespeare, William: Macbeth. [1623]. Aus dem Englischen von Barbara Rojahn-Deyk. Stuttgart: Reclam 1977, S. 141. 106 <?page no="107"?> und «Postmoderne» (darunter auch Jelinek) nur noch verbreitert zu werden brauchte. «Les dramaturges modernes se sont engouffrés dans la brèche ouverte par le théâtre de Labiche: [. . .]; les meurtriers, désormais, enferment la conscience dans leur valise, affrontent crânement le fantôme de leurs victimes et, comme Lenglumé et Mistingue, ‹ s ’ en lavent les mains › .» 224 Der zweite intertextuelle Bezug, der im Rahmen dieses Teilkapitels analysiert werden soll, betrifft das Vaudeville-Chanson der vierzehnten Szene, wobei das von Labiche verwendete Transformationsverfahren einen Fall von Travestie nahelegt. 225 Allerdings lässt die Rekonstruktion der Referenztexte keine eindeutige Interpretation zu. Trotz aller Bemühungen, über die Konstatierung des intertextuellen Phänomens hinauszukommen, war - angesichts der hermetischen Chiffriertheit der von Labiche markierten Spuren - eine eindeutige Interpretation nicht möglich. Daher möchte ich die im Folgenden dargestellten Ergebnisse unter Vorbehalt verstanden wissen. Die Lektüre von Baras Dossier 226 veranlasste mich, den paratextuellen Hinweis als Fingerzeig auf eine Thematik zu verstehen, die Labiches gesamtes Schaffen nachhaltig prägte. Gemeint ist die sich im Zweiten Kaiserreich verschärfende Zensurpraxis, die auch den Vertretern des Vaudeville einen einschränkenden Riegel vorschob. «Je crains la censure,» 227 soll Labiche am 4. Oktober 1852 in seinem Tagebuch vermerkt haben. Tatsächlich gaben die von der Obrigkeit verwandten Methoden Anlass zur Besorgnis: «Les censeurs forts de leur omnipotence, deviennent tyranniques et intolérables. En France, c ’ est toujours comme cela. On donne la force au pouvoir et aussitôt il prend l ’ abus.» 228 Mit diesen Worten zog Labiche, der einst treue Anhänger Napoleon Bonapartes, eine kritische Bilanz über die von den staatlichen Kontrollorganen ausgeführte Zensurpraxis. Auch Autoren wie Victor Hugo, Théophile Gautier und Alexandre Dumas monierten mit scharfen Worten die als Form der politisch-literarischen Gängelung wahrgenommenen Zensurmaßnahmen. Doch umsont: Am 30. Juli 1850 kam es zu einer weiteren Verschärfung der Zensurordnung, auf deren Grundlage noch wirkungsvollere Kontrollinstanzen geschaffen wurden. So lautet der einschlägige Passus im französischen Wortlaut: «Aucun ouvrage 224 Bara: Dossier L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 117. 225 Auch Bara geht in seinem Dossier dem paratextuellen Hinweis nach. Der Zusammenhang, der sich seiner Meinung nach aus diesem Hinweis ergibt, ist für mich allerdings nicht nachvollziehbar: «Les paroles de Labiche parodient sans doute l ’ air de la scène 1: Ninon malgré ses cheveux blancs / N ’ a pas encore changé d ’ usage, / Et conserve, sur ses vieux ans, / Les dons heureux de son jeune âge.» (Vgl. hierzu die von Bara eingefügte Fußnote 1 in L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 41). 226 Bara: Dossier L ’ affaire de la rue de Lourcine. 227 Zitiert nach: ebd., S. 103. 228 Ebd. 107 <?page no="108"?> dramatique ne pourra être présenté sans l ’ autorisation préalable du ministère de l ’ Intérieur, à Paris, et du préfet dans les départements.» 229 Ihren durchschlagenden Charakter erhielt die zentrale Vorzensur, als am 30. Dezember 1852 ein Mandat erlassen wurde, mit dessen Hilfe die Zensurbehörden nahezu jedes Stück mit einem Aufführungsverbot belegen konnten. Selbst als im Jahre 1864 das in Frankreich verbreitete Privilegien-System abgeschafft und den Theatern die volle Gewerbefreiheit zugestanden wurde, gingen die Zensoren weiterhin ihrer «Pflicht» nach, die Verbreitung politischer Ideen zu verhindern und regimekritische Schriften einer autoritären Kontrolle zu unterziehen. Vor diesem Hintergrund sah sich Labiche gezwungen, seine literarischen Einfälle intertextuell so aufzubereiten, dass die Zensoren seltener Gelegenheit erhielten, einzuschreiten. Ein Beispiel für einen solchen ‹ literarischen Schmuggel › stellt Labiches Vaudeville-Chanson der 14. Szene dar, das auf Moreaus/ Lafortelles Stück Voltaire chez Ninon Bezug nimmt. Im Folgenden seien Hypertext und Hypotext einander gegenübergestellt: Hypertext-Labiche 230 Hypotext-Moreau 231 LENGLUMÉ, joyeux: À part. AIR de Voltaire chez Ninon DUJARRY: (1) Le progrès règne maintenant. (2) Jadis on ne faisait usage (3) Que de l ’ art sublime du chant. (4) A présent on a . . . le chantage! (1) Voulant par ses oeuvres complètes, (2) Fixer sa réputation, (3) Il a de ses lettres secrètes, (4) Fait la première édition. À Potard. (5) Noble coeur! de toi je suis fier, (6) Tu pouvais, sur ta serinette, (7) Me faire chanter un grand air; (8) Tu t ’ en tiens à la chansonette! VOLTAIRE: (5) Ce sont bien ses lettres secrètes, (6) Si secrètes que pour lecteur, (7) Elles n ’ ont que leur imprimeur (8) Et le monsieur qui les a faites. Der Hypertext Labiches steht zum Hypotext Moreaus «in einer extremen semantischen, normativen und ideologischen Spannung,» 232 die für den zeitgenössischen Leser/ Zuschauer erst durch die Rekonstruktion der vom Autor gelegten Spuren einsichtig wird. Diese resultieren nicht aus der inhaltlichen Bedeutung des bezugnehmenden Textes, «nicht aus der Beschaf- 229 Ebd. 230 Labiche: L ’ affaire de la rue de Lourcine, S. 41 - 42. 231 Moreau, Jean-Baptiste/ Lafortelle, A. M.: Voltaire chez Ninon, Fait historique, en un acte et en prose, mélé de vaudevilles. Paris: Barba 1806, S. 35. 232 Weiß, Wolfgang: Satirische Dialogizität und satirische Intertextualität. In: Broich (Hg.): Intertextualität, S. 244 - 261, S. 248. 108 <?page no="109"?> fenheit der Wörter selbst,» 233 sondern aus der Resonanz der Schlüsselwörter, mit denen der damalige Zuschauer bestimmte Assoziationen verknüpfte. Ein solches Schlüsselwort stellt «jadis» dar (Hypertext: Vers 2), der auf jene vergangenen Zeiten 234 verweist, in denen sich die Vaudevillestücke durch «l ’ art sublime du chant» (Hypertext: Vers 3), d. h. durch die «pratique des vaudevilles,» 235 auszeichneten. Heute («A présent» 236 ) wird das Genre von anderen Faktoren bestimmt, nämlich von den brutalen Methoden der Zensur, die im Dienst der Durchdringung des Kulturbetriebs stehen: «A présent on a . . . le chantage! » 237 Eine weitere Spur ergibt sich aus dem paratextuellen Hinweis (AIR de Voltaire chez Ninon), der als Anspielung auf die politische und kulturelle Aufbruchstimmung der Aufklärung gedeutet werden könnte. Für die Autoren des 19. Jahrhunderts (darunter auch Labiche) galten die «Lumières» und der Name Voltaires als Inbegriffe für eine Zeit des ausgreifenden intellektuellen Austausches, der von der geistigen Elite dieser Zeit als immens anregend empfunden wurde. Weniger «aufgeklärte» Geister, wie der in Voltaire chez Ninon persiflierte Houdart La Motte, der ein vehementer Gegner Voltaires war, fielen der beißenden Kritik der Literaten 238 und der Vaudevillisten zum Opfer. So ergeht sich Moreau im Hypotext über La Mottes Horaz- Übersetzung, die niemals den Weg in die breite Öffentlichkeit gefunden haben soll: «Ce sont bien ses lettres secrètes,/ Si secrètes que, pour lecteur,/ Elles n ’ ont que leur imprimeur/ Et le monsieur qui les a faites.» 239 Geht man von der Voraussetzung aus, dass das damalige Publikum der Affaire 240 den Hypotext eindeutig hinter dem Hypertext erkannte, dann 233 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 9. 234 Historisch gesehen sind mit diesen vergangenen Zeiten die Jahre unmittelbar nach der Revolution von 1848 gemeint, in denen die Vorzensur vorläufig aufgehoben wurde. 235 Vgl. hierzu die Fußnote 21 auf S. 28. 236 Hypertext: Vers 4. 237 Hypertext: Vers 4. 238 Marie de Vichy-Chamrond, marquise du Deffand, die einem berühmten literarischen Salon vorstand, soll beispielsweise eine Parodie auf La Mottes Inès de Castro verfasst und sich auf diese Weise hinter Voltaire gestellt haben. So heißt es in ihrer Correspondance: «Madame du Deffand se range déjà du côté de Madame de Prie, qui va gouverner la France comme M. le Duc; mais elle est encore plus aimable pour Voltaire, dont le pouvoir, fondé sur le génie, sera éternel. Elle lui rend, par exemple, tout en satisfaisant son antipathie personnelle pour tout ce qui est exageré, déclamatoire, le service de ridiculiser ce la Motte, malencontreux rival dont l ’ Inès de Castro fait insolemment pleurer tout Paris. Madame du Deffand écrit une parodie qui venge, par le rire des admirateurs eux-mêmes de la Motte et surtout de Baron, les sifflets qui ont affligé à la fois dans Voltaire le poëte et l ’ amant, l ’ amant de mademoiselle de Corsembleu et l ’ auteur d ’ Artémire.» (Lescure, Mathurin-Adolphe de (Hg.): Correspondance complète de la marquise du Deffand avec ses amis. Band 1. Paris: Plon 1865, S. XXVI). 239 Hypotext: Vers 5 - 8. 240 Die Affaire wurde am 26. März 1857 am Théâtre du Palais-Royal uraufgeführt. 109 <?page no="110"?> könnte das Schlüsselwort «lettres secrètes» (Hypotext: Vers 5) als Hinweis auf all jene zensierten Werke gedeutet werden, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen durften. Labiches intertextuelle Verfahrensweise wäre als Kritik an der im Zweiten Kaiserreich betriebenen Zensurpraxis zu deuten. Durch die intertextuellen Beziehungen der beiden Liedtexte würde der Vaudevillist sein Publikum für das Problem sensibilisieren, dass zahlreiche Theaterstücke der Öffentlichkeit verborgen blieben, weil vom Aufführungsverbot belegt. Tatsächlich bestand - angesichts der Strenge der zensorischen Maßnahmen - für diese Werke, die als «geheime Schriften» ein Schattendasein fristeten, wenig Hoffnung auf eine nachträgliche Aufhebung des Aufführungsverbots. Statt eines breiten Publikums gelangten nur der «Drucker» («l ’ imprimeur», Hypotext: Vers 7) und der Autor («le monsieur qui les a faites», Hypotext: Vers 8) in den Genuss ihrer Lektüre. Eine Gewähr dafür, dass das In-Beziehung-Treten der Liedtexte funktionierte, bot die Melodie, die - wie im Folgenden 241 deutlich werden dürfte - die Funktion eines «Ohrwurms» innehatte: Die Melodie ist in jener einfachen B-Dur-Tonart («si bémol majeur») verfasst, die sich in der Blasmusik-Literatur großer Beliebtheit erfreut. Was den Aufbau anbelangt, so gliedert sie sich - dem Inhalt des Textes folgend - in zwei Abschnitte: Der erste besteht aus den Versen 1 bis 4, der zweite aus den Versen 5 bis 8. Die Zäsur wird musikalisch durch die Wiederaufnahme 241 Moreaus Vaudeville-Chanson, das von dem Komponisten Joseph-Denis Doche vertont wurde, ist folgender Liedersammlung entnommen: Doche, Joseph-Denis: La musette du vaudeville ou Recueil complet des airs de Monsieur Doche. Ancien maître de Chapelle et chef d ’ orchestre du théâtre de vaudeville. Paris: Ex libris Marcel Boussuge 1822. 110 <?page no="111"?> des Auftakts hervorgehoben. Des weiteren passt sich die Vertonung der Interpunktion des Textes an, werden doch die sieben Satzeinheiten (Vers 1, Vers 2, Vers 3, Vers 4, Vers 5, Vers 6, Vers 7 - 8) jeweils durch eine Achtelpause («demi-soupir») voneinander getrennt. Der Rhythmus entspricht einem Zweivierteltakt («mesure à deux temps»), also einer einfachen Taktart («mesure simple»). Die Gesamtstimmung deutet auf eine vom Sinn des Textes getragene musikalische Nachahmung des sprachlichen Wortlauts hin, auf deren Grundlage die intertextuelle Bezugnahme funktionieren konnte. Die Melodie hat kein Eigengewicht, sondern schmiegt sich den formalen Regeln der Sprache an. Dass Labiche sich auf einen Hypotext bezieht, dessen Melodienführung rein illustrativer Art ist, entspricht durchaus der für das Genre des Vaudeville konstitutiven Timbre-Praxis. Würde die Melodie neuartige Perspektiven eröffnen, wäre eine wichtige Voraussetzung für die Wirkung des Genres nicht erfüllt, nämlich die im musikalischen Arbeitsgedächtnis des Zuschauers gespeicherte Verknüpfung zwischen Melodie und Ursprungstext. 242 Nur auf der festen Grundlage des Timbre konnte die «variable Zuschreibung von Text und Melodie» 243 erfolgen, die als «Ort der Bedeutungsgenerierung» 244 dem Zuschauer neue Rezeptionsräume eröffnete. Nur aus der Kombination von Singkanal und Sprechkanal konstituierte sich jenes komplexe intertextuelle Verweisfeld, durch das politisch brisante Inhalte in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit «geschmuggelt» werden konnten. 242 Vgl. hierzu die Ausführungen über das Genre des Vaudeville in Kapitel II. 243 Vgl. Fußnote 5 auf S. 24. 244 Schultze, Brigitte/ Paul, Fritz: Zitat, Allusion und andere redegestützte und nichtverbale Referenzen in Dramenübersetzungen. Dargestellt an polnisch-deutschen Übersetzungsfällen des 20. Jahrhunderts. In: Schultze, Brigitte (Hg.): Literatur und Theater: Traditionen und Konventionen als Problem der Dramenübersetzung. Tübingen: Narr 1990, S. 161 - 210, S. 161. 111 <?page no="112"?> IV Zweiter Themenkomplex: Jelineks Übersetzungen von Feydeaus La Dame de chez Maxim und von Labiches Affaire de la rue de Lourcine 1. Poetik des Übersetzens (Henri Meschonnic) In Frankreich wird die von Henri Meschonnic verfasste Poétique du traduire 1 als «théorie d ’ ensemble de la traduction» 2 gefeiert. Der Anspruch, der in dieser Einschätzung zum Ausdruck kommt, schlägt sich in der dreifachen Ausrichtung des Werkes nieder: kritische Auseinandersetzung mit der strukturalistisch-linguistisch orientierten Übersetzungsforschung, Entwicklung einer Poetik des Übersetzens, Übertragung dieser Poetik auf konkrete Übersetzungsbeispiele. Dass der Sprach- und Literaturwissenschaftler, Dichter und Philosoph von «poétique du traduire» (Poetik des Übersetzens) spricht und nicht etwa von «poétique de la traduction» (Poetik der Übersetzung), ist kein Zufall, geht es ihm doch um den Übersetzungsakt als dichterische Tätigkeit: «Comme le langage, la littérature, la poésie sont des activités avant de laisser des produits.» 3 Im deutschen Sprachraum ist Meschonnics Poetik wenig bekannt, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass das Werk noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Dank der umfangreichen Untersuchung Hans Löseners kann aber der deutschsprachige Leser einen ersten Zugang zu den Schriften des französischen Denkers finden. Gleichzeitig stellt das Buch für den künftigen Übersetzer von Meschonnics Kategorienlehre eine terminologische Fundgrube ersten Ranges dar. Dass nur der Schriftsteller in der Lage sei, die übersetzerische Praxis als schöpferischen Akt zu begreifen, gehört zu den Grundüberzeugungen Meschonnics. 4 Ein durchschnittlicher Berufsübersetzer könne die spezifisch ästhetische Dimension eines literarischen Werkes, jenes «Etwas» 5 nicht erfassen, das den Text zum literarischen Werk erhebt. Dass «dieses Etwas aus den Beziehungen der Wörter zueinander [resultiert], nicht aus der 1 Zu den bibliographischen Angaben vgl. Fußnote 23 auf S. 20. 2 Verdier Éditions: Poétique du traduire. Henri Meschonnic. In: Éditions Verdier [Lagrasse] ohne Datumsangabe (http: / / www.editions-verdier.fr/ v3/ oeuvre-poetiquetraduire. html, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 3 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 11. 4 Ob dem tatsächlich so ist, möchte ich dahingestellt sein lassen. Die Frage, ob nur Schriftsteller übersetzen können, läuft auf die ebenso komplexe Frage hinaus, ob nur Schriftsteller in der Lage sind, literarische Werke zu produzieren. 5 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 9. 112 <?page no="113"?> Beschaffenheit der Wörter selbst,» 6 muss als die eigentliche Übersetzungsmaxime Meschonnics aufgefasst werden. So lautet die in seiner Poétique immer wiederkehrende Forderung: Traduire ce que les mots ne disent pas, mais ce qu ’ ils font. 7 Im nämlichen Zusammenhang verweist der französische Denker auf Du Bellay, der seinerzeit die Forderung aufstellte, «que la traduction d ’ un poème doive être un poème.» 8 Auch das Kapitel Traduire la littérature, 9 bringt Meschonnics Überzeugung unumwunden auf den Punkt: «De fait, les meilleures traductions de poèmes sont celles de poètes.» 10 Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Übersetzungsforschung In der Poétique du traduire sind wissenschaftliche Reflexion und empirische Praxis eng ineinander verzahnt. Meschonnics Verständnis des literarischen Übersetzens basiert auf einem eigentümlichen poetologischen Programm, das sich als Gegenkonzept zur strukturalistisch-linguistisch orientierten Übersetzungsmethode versteht, einem Ansatz, der an den Instituten für Translationswissenschaft allgemeine Anwendung findet: Ce point de vue fonde actuellement l ’ enseignement de la traduction dans les écoles d ’ interprètes et de traducteurs. Il paraît avoir pour lui l ’ expérience et le bon sens. Ses préceptes majeurs sont la recherche de la fidélité et l ’ effacement du traducteur devant le texte. Faire oublier qu ’ il s ’ agit d ’ une traduction, viser le naturel. La transparence. Cependant sa force s ’ inverse en faiblesse devant le constat du vieillissement des traductions, par rapport à l ’ activité permanente de l ’ original, quand il s ’ agit d ’ un texte littéraire qui fait partie de ceux qui transforment la littérature. Sa faiblesse consiste à n ’ être qu ’ une pensée de la langue, non une pensée de la littérature. 11 Meschonnic zufolge sind also die an den einschlägigen Instituten gelehrten Methoden, wonach der Übersetzer nach potenziellen Äquivalenten zu suchen und als Übersetzerpersönlichkeit hinter den Text zurückzutreten habe, problematisch, weil das spezifisch Literarische beim Translationsvorgang aus dem Blick gerate und demzufolge die Übersetzung nicht literaturfähig sei. Zwar eigne sich der strukturalistisch-linguistisch orientierte Ansatz dazu, einen Ausgangstext durch einen kommunikativ vergleichbaren Zieltext zu ersetzen, doch würden andere textuelle Implikationen wie Rhythmus, Komposition, Ästhetik usw. (Implikationen, die die vorliegende Arbeit gerade in ihr Zentrum stellt) vernachlässigt. 6 Ebd. 7 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 55, Hervorhebung im Original. 8 Ebd., S. 83. 9 Ebd., S. 82 - 96. 10 Ebd., S. 83. 11 Ebd., S. 14 - 15. 113 <?page no="114"?> Obwohl Meschonnic auf das Problem der Äquivalenz nicht weiter eingeht und auch auf eine weitere Auseinandersetzung mit dem strukturalistischlinguistischen Modell verzichtet, möchte ich an dieser Stelle die Frage vertiefen, inwiefern dieses Denken den Anforderungen einer Theorie der literarischen Übersetzung nicht gerecht wird. Zu diesem Zweck soll - stellvertretend für das strukturalistisch-linguistische Modell - die übersetzungsorientierte Texttypologie von Katharina Reiß beschrieben werden, 12 um hernach - im Lichte der von Meschonnic geforderten Prämissen - die problematischen Aspekte dieses Ansatzes zu beleuchten. Der von Reiß entwickelte Ansatz wurde «mit dem Ziel einer wissenschaftlichen Fundierung der Übersetzungskritik im Übersetzungsunterricht» 13 konzipiert. In Anlehnung an die drei kommunikativen Zeichenfunktionen des Bühlerschen Organon-Modells der Sprache (Darstellung, Ausdruck, Appell) unterscheidet Reiß zunächst zwischen drei Texttypen: dem inhaltsbetonten, dem formbetonten und dem appellbetonten Texttyp. Eine weitere Orientierungsgröße stellt die Kategorie «Textsorte» dar: «Je nach dem Übergewicht der einen oder anderen Funktion der Sprache» 14 ließen sich drei Arten von Textsorten unterscheiden: Textsorten, die dem informativen Texttyp angehören, dienen primär der Vermittlung von Inhalt (Darstellungsfunktion). Textsorten, die sich dem expressiven Texttyp zuschreiben lassen, fallen durch die Dominanz des sprachlichen Ausdrucks auf (Ausdrucksfunktion). Die dem operativen Texttyp zugehörigen Textsorten sind auf die pragmatische Funktion ausgerichtet (Appellfunktion). 15 Eine solche Einteilung von Textvorkommen geht weit über das von Bühler entwickelte Modell des einzelnen sprachlichen Zeichens hinaus. Texte sollen 12 Ich habe diesen Ansatz gewählt, weil er nach wie vor an den deutschsprachigen Instituten unterrichtet wird (Germersheim, Heidelberg, Saarbrücken, Köln, Wien, Graz). 13 Stolze, Radegundis: Hermeneutik und Translation. Tübingen: Narr 2003 (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 467), S. 17. 14 Reiß, Katharina: Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik. München: Hueber 1971 (= Hueber Hochschulreihe 12), S. 32, Hervorhebung im Original. 15 Natürlich lässt sich an dieser Stelle eine Verbindung zum linguistischen Strukturalismus Roman Jakobsons herstellen. Dieser entwickelte in seinem Aufsatz zur Linguistik und Poetik ein Sprachkonzept mit sechs Funktionen: referentielle Funktion oder Bezugnahme auf einen Kontext, konative Funktion oder Appell an den Empfänger, phatische Funktion oder Sicherstellung des «Empfänger»-Kontaktes, emotive/ expressive Funktion oder Haltung des Sprechers, metalinguale Funktion oder Thematisierung des Kodes, poetische Funktion oder Ausrichtung auf die sprachliche Form. (In: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. München: Nymphenburger 1974.) Allerdings möchte ich diesen Ansatz - trotz seiner zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten - nicht vertiefen, da Meschonnics Kritik in erster Linie gegen die im Übersetzungsunterreicht gelehrten strukturalistischen Methoden gerichtet ist. Die in literaturwissenschaftlichen Seminaren verwendeten Theorien (zu denen auch der Ansatz Jakobsons gehört) werden offenbar von dem französischen Denker als weniger problematisch eingestuft. 114 <?page no="115"?> nun nicht mehr als Summe einzelner Sprachzeichen wahrgenommen, sondern auf die in ihnen dominierende Sprachfunktion hin untersucht werden. Denkt man die Funktionstheorie konsequent weiter, so führt sie zu der von Reiß entwickelten Textsortenklassifikation, die sich nach der Überlegenheit der jeweiligen Sprachfunktion richtet. Dabei ergeben sich folgende Zuordnungen: 16 1) Informativer Texttyp (inhaltsbetont): Textsorten Bericht, Aufsatz, Urkunde, Gebrauchsanweisung, Kommentar, Sachbuch; 2) Expressiver Texttyp (formbetont): Textsorten Roman, Novelle, Lyrik, Schauspiel, Komödie, Lehrgedicht, Biographie; 3) Operativer Texttyp (appellbetont): Textsorten Predigt, Propaganda, Reklame, Demagogie, Pamphlet, Satire usw. Die Bestimmung der Textfunktion ist - Reiß zufolge - eine unabdingbare Voraussetzung für die übersetzungsrelevante Analyse. Für die Vertreterin der Texttypologie besteht die Arbeit des Übersetzers zunächst in der Zuordnung des Ausgangstextes zu einem bestimmten Texttyp. Hieraus ergibt sich die Suche nach Äquivalenten, die es in der zielsprachlichen Gestaltung zu erhalten gilt. Der Übersetzer muss die entsprechenden Textsortenkonventionen der Zielsprache berücksichtigen, sodass der übersetzte Text sich ohne Weiteres in die Textsorte der Zielsprache einordnen lässt. Aus der Bestimmung des Texttyps ergibt sich dann die angemessene Übersetzungsmethode. Dabei entsteht etwa folgendes Bild: 1) Für inhaltsbetonte Texte, «die in der Absicht übersetzt werden, die textimmanente Information an einen weiteren, zielsprachlichen Empfängerkreis zu vermitteln,» 17 fordert Reiß Invarianz auf der Inhaltsebene. 2) Für formbetonte Texte, die in der Absicht übersetzt werden, «ein Sprach- oder Dichtkunstwerk auch zielsprachlichen Lesern zugänglich zu machen,» 18 muss die Analogie der künstlerischen Gestaltung angestrebt werden. 3) Für operative Texte, die in der Absicht übersetzt werden, «gleichwertige Verhaltensimpulse bei zielsprachlichen Textempfängern auszulösen,» 19 ist das Übersetzungsziel die Identität des textimmanenten Appells. Unter dem Blickwinkel der von Meschonnic geforderten Prämissen erweisen sich alle drei Übersetzungsmethoden als problematisch. Was die «Invarianz auf der Inhaltsebene» anbelangt (eine Methode, die sich als «sachgerecht», zuweilen auch als «schlicht-prosaisch» versteht), so wird hier übersehen, dass lediglich technische oder naturwissenschaftliche Texte aus konventionalisierten Elementen bestehen. Andere inhaltsbetonte Texte (wie zum Beispiel 16 Vgl. hierzu: Reiß, Katharina: Texttyp und Übersetzungsmethode. Der operative Text. Kronberg Ts.: Scriptor 1976 (= Monographien Literatur, Sprache, Didaktik 11), S. 29. 17 Ebd., S. 23. 18 Ebd. 19 Ebd. 115 <?page no="116"?> der Bericht, der Aufsatz, der Kommentar, das Sachbuch usw.) zeichnen sich auch, mitunter sogar in erster Linie, durch variable Elemente aus. Eine Methode, die ausschließlich auf den Erhalt der Bedeutung ausgerichtet ist (Meschonnic spricht in diesem Zusammenhang von «informationnisme»), kann der «Übersummativität und Multiperspektivität» 20 einer hohen Zahl von Textsorten des informativen Texttyps kaum Rechnung tragen. Entgegen der verbreiteten Auffassung, der Übersetzer sei mit einem Fährmann (mit einem «Über-Setzer») zu vergleichen, dem die Aufgabe obliege, die Texte des Textuniversums unversehrt an das gegenüberliegende Ufer zu befördern, glaubt Meschonnic, «[qu ’ ]en aucun cas, même quand elle est superbe, une traduction ne peut passer, se faire passer pour l ’ original. Elle a sa propre historicité.» 21 Auch die «Analogie der künstlerischen Gestaltung» (die so genannte «identifizierende» Methode) ist Meschonnic ein Dorn im Auge, täuscht doch das Prinzip der Wirkungstreue darüber hinweg, dass auch der Übersetzer ein Recht auf schöpferischen Umgang mit Sprache hat. So heißt es in der Poétique: «Si quelque chose comme une affinité est requis, c ’ est bien que la réussite demande une présence maximale du traducteur dans sa traduction.» 22 Der zurückhaltende Übersetzer sei der Illusion verfallen, dass richtige Übertragungen lediglich durch die Analyse der Gesetzmäßigkeiten zweier Sprachen zustande kämen. Die strukturellen Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zielsprache könnten aber nicht dadurch überwunden werden, dass die Erwartungen des Zielpublikums hinsichtlich Wohlgestalt der sprachlichen Ausdrücke erfüllt würden. Gerade in Bezug auf die Übersetzung literarischer Texte ist zu berücksichtigen, dass der zielsprachliche Leser nicht nur mit den Normen des eigenen Sprachsystems konfrontiert werden möchte, sondern auch - so weit sie sich in die Zielsprache integrieren lassen - mit denjenigen des ausgangssprachlichen Sprachsystems. Aus dem Kontakt mit dem Fremden, dem Transfer der Literarizität, gewinne der Leser eine besondere Befriedigung, die der Übersetzer ihm nicht vorenthalten dürfe. Dessen Aufgabe bestehe demnach darin, fremde Gestaltungsstrukturen in das eigene Sprachbewusstsein zu integrieren und somit Sprachpotenziale zu mobilisieren, die unkonventionelle Ausdrucksmöglichkeiten lebendig werden ließen. Nur so könne er zur Performativität der Sprache vordringen, zu dem, «was Worte zwar nicht sagen, aber was sie machen.» 23 Die dritte Übersetzungsmethode («Identität des textimmanenten Appells») wird von Katharina Reiß auch als «appellgerecht» bzw. als «adap- 20 Steger, Hugo/ Wiegand Herbert E. (Hg.): Sprachgeschichte. Band 1. Berlin/ New York: de Gruyter (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft), S. 954. 21 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 18. 22 Ebd., S. 310. 23 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 95. 116 <?page no="117"?> tierend» bezeichnet. Relevant ist bei diesem Verfahren die soziokulturelle Einbettung sowohl des Ausgangsals auch des Zieltextes, «denn natürliche Sprachen werden nicht in der Retorte hergestellt, sondern von der Kultur, von welcher sie ein Teil sind, geprägt.» 24 Aufgabe des Übersetzers ist, alle notwendigen Anpassungen vorzunehmen, damit der textimmanente Appell in der Zielsprache erhalten bleiben möge. In Meschonnics Augen ist diese Vorgehensweise nicht weniger problematisch als die identifizierende Methode. In dem Maße, wie die Analogie der künstlerischen Gestaltung dem Übersetzer jedes Recht auf schöpferischen Umgang mit Sprache verwehrt, wird er bei dem adaptierenden Verfahren als eigenmächtiger «Produzent» dargestellt, der nötigenfalls gravierende Einschnitte am Ausgangstext vornehmen darf. Innerhalb einer solchen Vorgehensweise kann auch der performative Charakter von Sprache (das eigentliche Herzstück der Theorie Meschonnics) keinerlei Anwendung finden, wird doch Sprache lediglich als wohlfeiles Instrument angesehen, «mit dessen Hilfe alles ‹ kommuniziert › werden kann, was eine Kultur zum Ausdruck bringen will.» 25 Poetik des Übersetzens Wenn Sprache nun aber kein Instrument ist, wenn - mit Ausnahme technischer oder naturwissenschaftlicher Texte - bei jedem Übersetzungsakt der performative Aspekt von Sprache zum Tragen kommen soll, was bedeutet dies für die übersetzerische Praxis? Wie hat der Übersetzer mit dem Phänomen Sprache umzugehen? Für Meschonnic ist das Übersetzen eine schöpferische Tätigkeit, in die in erster Linie dynamische Elemente einfließen. Indem die Vertreter der strukturalistisch-linguistischen Schule den Übersetzungsakt auf ein schematisches Raster reduzieren, werden sie der Dynamik von Sprache nicht gerecht. Auf die Frage, wie einer so unfassbaren Größe wie Dynamik überhaupt Rechnung getragen werden kann, weist Meschonnic fast gebetsmühlenartig auf den Rhythmus hin, auf jene Kategorie, die der Leser als «organisation d ’ un discours par un sujet» 26 wahrnimmt, als «allgemeine Bedeutungsweise der Rede.» 27 Mit der Kategorie des Rhythmus, die eines der Zentren der vorliegenden Arbeit bildet, ist der Übersetzer nicht mehr auf das semiotische Denken angewiesen. Er verlässt «die Sphäre des Zeichens, nicht aber die der Rede und des Sinnes, denn in jeder geschriebenen oder gesprochenen Äußerung gliedert der Rhythmus die Sinnbewegung der Rede.» 28 Die ganze bisherige 24 Reiß, Katharina/ Vermeer, Hans J.: Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen: Niemeyer 1984 (= Linguistische Arbeiten 147), S. 152. 25 Ebd. 26 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 131. 27 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 94. 28 Ebd., S. 86. 117 <?page no="118"?> Literaturtheorie - so die Überzeugung Meschonnics - krankt an der abendländischen Vorstellung, dass der Sinn eines sprachlichen Kunstwerks in der Logik des Zeichens begründet sei. Dabei könne Sprache nur jenseits der Grundeinheit des Semiotischen gedacht werden, als Rede, als Sprechbewegung. Der «Ort des Semantischen» 29 sei nicht die Abfolge der Zeichen, sondern der Rhythmus. Zu Recht hebt Lösener hervor, dass sich hier die eigentliche Tragweite von Meschonnics Denken eröffnet, ist doch die Kategorie des Rhythmus ein Spezifikum menschlicher Rede überhaupt, er begegnet uns im Geschriebenen wie im Gesprochenen, [. . .] in jeder Äußerung und in jedem Gespräch. Es gibt keine geschriebene oder gesprochene Rede ohne Rhythmus, weil es keine Rede ohne Sinngliederung und damit ohne semantische Bedeutungsweise geben kann. 30 Unter Rückgriff auf Benveniste, «qui [. . .] a montré, par l ’ histoire de la notion, que le rythme était l ’ organisation du mouvant,» 31 möchte Meschonnic den Rhythmus als das performative Ereignis verstanden wissen, das sich in den systemischen Beziehungen der Wörter zueinander realisiert. «Eine solche [. . .] Konzeption der Performativität» 32 rührt aus der «alltägliche[n] Erfahrung, dass in jedem Sagen ein Moment des Machens, der Transformation von Wahrnehmungen, Wertungen, Haltungen wirksam ist.» 33 Wenn aber der Rhythmus durch das ihm eigene Transformationspotenzial Wahrnehmungen zu ändern vermag, dann stellt er nicht nur eine Übersetzungsmethode, sondern auch ein Übersetzungsziel dar. In diesem Zusammenhang schreibt Meschonnic: «Je prends le rythme comme l ’ organisation et la démarche même du sens dans le discours. [. . .] Ce qui s ’ impose immédiatement comme l ’ objectif de la traduction.» 34 Fallen Übersetzungsmethode und Übersetzungsziel in der Kategorie des Rhythmus zusammen, dann ist die Voraussetzung dafür gegeben, dass der zielsprachliche Leser den übertragenen Text als eigenständiges literarisches Werk wahrnimmt, als sinnliches Erlebnis, das sich als solches in sein Bewusstsein festsetzt. Das Kriterium übersetzerischer Größe ist an die Art der Rhythmisierung, an die Organisation der physisch zu erfassenden sprachlichen Momente gebunden. Dem Übertragungsakt geht somit ein intensives Hören voraus, das nach den Sinn stiftenden Erscheinungen aller sprachlicher Momente fragt. Um ein Beispiel für ein solches Hören zu geben, möchte ich das Sprichwort «Der Mensch denkt, und Gott lenkt» analysieren, dessen semantische Performativität durch die Organisation phonematischer Bezie- 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 99. 32 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 104. 33 Ebd. 34 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 99 - 100. 118 <?page no="119"?> hungen realisiert wird. 35 Der Spruch zerfällt in zwei Teile, die durch die nebenordnende Konjunktion «und» zusammengehalten werden. Zusätzlich markiert wird die Zäsur durch das Komma. Auf klanglicher Ebene ist die Setzung phonetisch fast identischer Wörter («denkt»/ »lenkt») an dritter und an sechster Stelle zu beobachten, durch die zum einen eine Echowirkung zustande kommt und zum anderen der parallele Aufbau der beiden Satzteile unterstrichen wird. Die systemische Echowirkung der Signifikanten «wird zum ‹ Beweis › für die Aussage des Sprichwortes: » 36 Das Menschliche und das Göttliche mögen noch so unterschiedlichen Sphären angehören, sie müssen aufeinander bezogen bleiben, damit der Mensch das eigene Tun an einem übergeordneten Maßstab messen kann. Somit zielt der Spruch auf die Einsicht in die beschränkte Reichweite der menschlichen Vernunft. 37 Der Redlichkeit halber muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass die intensive Auseinandersetzung mit der Kategorienlehre Meschonnics für mich eine wichtige Frage offen lässt: Geht es dem französischen Denker bei seiner Kritik an der strukturalistisch-linguistischen Schule um eine grundsätzliche Abwertung dieser Theorien? Sollte sich im Zuge der künftigen wissenschaftlichen Diskussion herausstellen, dass Meschonnics Übersetzungstheorie mit den strukturalistischen Prämissen unvereinbar ist, so könnte ich mich - aufgrund der didaktischen Relevanz von Ansätzen wie demjenigen von Katharina Reiß - mit dieser Art von Radikalisierung nur schwer anfreunden. 38 Leider lassen die zuweilen polemisch anmutenden Ausführungen in der Poétique den Schluss zu, dass an eine konziliante Sichtweise nicht zu denken ist. Für Diskussionen dürfte in Zukunft auch die von Meschonnic vertretene Auffassung sorgen, dass die strukturalistischlinguistischen Ansätze für den Durchschnittsübersetzer ein probates Hilfs- 35 In Zwischen Wort und Wort entschlüsselt Lösener die in dem Sprichwort «Morgenstund hat Gold im Mund» enthaltene Performativität (S. 93 - 94). Seinem Beispiel folgend untersuche ich an dieser Stelle ein Sprichwort, dessen Art der Rhythmisierung ähnlich komplex ist. 36 Ebd., S. 95 - 96, Hervorhebung im Original. 37 Schon die Bibel wusste in den Sprüchen Salomons 16, 9 von der Begrenztheit menschlichen Handelns zu berichten: «Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.» 38 Im Zuge der Auseinandersetzung mit Meschonnics Theorien konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der französische Denker in seiner Poétique du traduire die neuesten Entwicklungen der strukturalistisch-linguistisch orientierten Übersetzungswissenschaft bewusst ausgeklammert hat. Der einheitliche Konsens innerhalb dieser Forschungsrichtung lautet nämlich, dass «Regel-, Normen- und Strategiedenken den schöpferischen Charakter des Übersetzens im Allgemeinen und des literarischen Übersetzens im Besonderen nicht in Frage stellen, sondern [. . .] nur systematisieren, entlasten und entschlacken [soll].» (Umbreit, Hannelore: Zu einigen Aspekten des Verhältnisses von literarischem und nichtliterarischem Übersetzen. In: Fleischmann, Eberhard/ Kutz, Wladimir/ Schmitt, Peter (Hg.): Translationsdidaktik: Grundfragen der Übersetzungswissenschaft. Tübingen: Narr 1997, S. 546 - 551, S. 551). 119 <?page no="120"?> mittel darstellen, dass aber der Schriftsteller («De fait, les meilleures traductions de poèmes sont celles de poètes» 39 ) auf eine Übersetzungstheorie angewiesen ist, die - wie bei der «asemiotischen Konzeption des Lesens» 40 der Fall - alle Kriterien einer Literaturtheorie erfüllt. Über derartige Problemstellungen weiter nachzudenken, führte mich zu weit von meinem eigentlichen Gegenstand ab. Stattdessen sei zum Ausklang dieses Abschnitts das Augenmerk nochmals auf einen Aspekt gelenkt, den ich als Gradmesser für die Analyse der Übertragungen Jelineks heranziehen möchte: Es ist der in der Poétique du traduire wiederholt auftretende Gedanke, dass der Übersetzer der Literarizität eines Textes nur dann gerecht werden kann, wenn er sich schlechterdings auf das Ungewohnte, das Fremde einlässt. Eine solche Position, die der Literatur als Kunstwerk gerecht zu werden sucht, erinnert unwillkürlich an die von Walter Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers vertretenen Auffassungen. 41 In diesem 1923 erschienenen Aufsatz wird der Übersetzer dazu aufgefordert, auf althergebrachte Theoreme wie «Treue gegen das Wort», 42 «Wiedergabe des Sinnes» 43 usw. zu verzichten, und stattdessen dem «Echo» des Originals 44 nachzuspüren. Dabei gelte es, die eigene «Sprache durch die fremde [zu] erweitern und [zu] vertiefen,» 45 eine Forderung, die auch Meschonnic stellt, wenn er das Hören auf die im Text enthaltene Sprechbewegung zum Ausgangspunkt der übersetzerischen Tätigkeit erhebt. Die deutlichen Gemeinsamkeiten zwischen dem französischen und dem deutschen Denker werden in der Poétique du traduire nicht eigens hervorgehoben. Vielmehr nimmt Meschonnic die belastete Rezeption des Aufsatzes zum Anlass, um erneut Kritik an den Vertretern des Zeichendenkens zu üben. Diese hätten - so der Vorwurf - die Ausführungen Benjamins nicht als das erkannt, was sie sind: als Zeugnis einer sich anbahnenden Abkehr vom Zeichenprinzip. Statt auf den Nenner «Literarizität» seien Benjamins Prämissen auf den Nenner «Literalismus» gebracht worden, eine Rezeptionsweise, die - glaubt man Meschonnic - reiner Polemik geschuldet ist: Du point de vue de son rendement théorique, on peut considérer que la théorie traditionnelle du signe et de la traduction a vécu. Cependant, elle se survit abondamment. Ces survivances sont choses courantes. [. . .] Plus par les pouvoirs de son établissement que comme une science. Non seulement sa linguistique est démunie devant le discours, sa poétique inexistante, sa philologie défaillante, mais 39 Vgl. Fußnote 10 auf S. 113. 40 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 86. 41 Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers. [1923]. In: Rexroth, Tillmann (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Band IV/ 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 9 - 21. 42 Ebd., S. 17. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 16. 45 Ebd., S. 20. 120 <?page no="121"?> son rapport à l ’ histoire des pratiques de traduction a quelque flou. Le flou du rapport de la phénoménologie à l ’ histoire. Elle opère envers Walter Benjamin (dont « La tâche du traducteur » en 1923 marque un symptôme des transformations logiques entre langue et culture) [. . .] polémiquement. Elle le rabat dans le littéralisme. 46 Übertragung der Poetik auf konkrete Übersetzungsbeispiele Meschonnics Poétique du traduire enthält viele beeindruckende Übersetzungsbeispiele, die sich an der im Ausgangstext enthaltenen Performativität, an der «Art und Weise des Sagens,» 47 orientieren und somit dem Übertragungsakt als schöpferischem Prozess Rechnung tragen. Zwar besteht an dieser Stelle nicht die Möglichkeit, diese Beispiele in ihrer Vielfalt auch nur annähernd wiederzugeben, dennoch soll die Analyse des von Meschonnic übertragenen Sonetts 27 von William Shakespeare zumindest einen kleinen Einblick in die Vorgehensweise des französischen Denkers gewähren. Im Folgenden sei zunächst die Originalfassung des Gedichts in der berühmten Quarto-edition 48 zitiert (jene Erstausgabe von 1609 weist eine Widmung an einen gewissen «Mr. W. H.» auf, der in homoerotischer Beziehung zum Verfasser gestanden haben soll). Es folgen die metrische Notation Meschonnics, die von ihm verfasste Übersetzung und der von mir unternommene Versuch, seine übersetzerischen Entscheidungen nachzuvollziehen: 46 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 152, Hervorhebung im Original. 47 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 95. 48 Zitiert nach: Meschonnic: Poétique du traduire, S. 277. 121 <?page no="122"?> 122 <?page no="123"?> Las de l ’ effort, à mon lit je recours, Le cher repos aux peines du voyage, Mais lors commence en ma tête un décours, Qui le corps épuisé, l ’ esprit ravage. Car mes pensers (du plus loin que je veille) En pèlerins vers toi vont pour te voir, Ouvrant mes yeux pendant que je sommeille, Voyant comme un aveugle dans le noir. Sauf que mon âme en sa vision feinte Offre ton ombre invisible à mes yeux, Qui (dans la nuit) comme un joyau empreinte Rend la nuit belle, et jeune son air vieux. Ainsi de jour le corps, de nuit l ’ esprit, Pour toi, ni moi, ne trouvent de répit. 49 Nach eingehender Lektüre fällt «eine vom ersten bis zum letzten Vers des Gedichtes wirksame thematische Bewegung» 50 auf, die - dem Schwung eines Pendels gleich - zwischen verschiedenen Extremitäten oszilliert. Diese Bewegung wird von Begriffspaaren getragen, die immer wieder andere Beziehungen zueinander eingehen und somit dem Rezipienten wechselnde Vorstellungen von der Verbindung zwischen limbs/ corps und mind/ esprit (Vers 13) vermitteln. In diesem Zusammenhang besonders interessant ist die Wiedergabe von journey (But then begins a journey in my head, Vers 3) durch décours (Mais lors commence en ma tête un décours), ein kreativer Vorstoß, der - nach dem Vorbild des Originals - die Bewegung auf die innere Vorstellungswelt des lyrischen Ich einengt (dieses unternimmt in den Versen 3 bis 6 eine Reise durch «Kopf» und «Geist», also durch head und mind). Gleichzeitig kündigt «décours» die in den Versen 8 bis 12 enthaltene Nachtmetaphorik an, weist doch das Substantiv auf das Abnehmen des Mondes hin («le décours, le décroissement de la lune») und somit auf die Zunahme der Nachtschwärze. In den Versen 9 bis 12 polarisiert sich die thematische Bewegung auf den vom lyrischen Ich gewünschten Pol: Die Nacht ist schwarz, doch zeichnet sich vor seinem inneren Auge der Schatten der geliebten Gestalt, qui (dans la nuit) comme un joyau empreinte, das alte Gesicht der Nacht nicht nur verschönt (makes blacke night beautious), sondern auch erneuert (and her old face new). Von einem besonders schöpferischen Umgang mit Sprache im Modus der Intertextualität zeugt die übersetzerische Entscheidung von empreinte, durch die der Leser eine Assoziation zu Corneilles Tragödie La mort de Pompée herstellt, in der es heißt: «La même majesté sur son visage empreinte.» Auch wenn Meschonnic die in Vers 12 enthaltene Metapher des Gesichtes der Nacht (her 49 Zitiert nach: ebd., S. 278, Hervorhebungen durch die Verfasserin. 50 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 289. 123 <?page no="124"?> old face) nicht aufgreift, bleibt sie dennoch durch den Rückgriff auf das kulturelle Gedächtnis der französischen Sprachgemeinschaft erhalten. Zum Vergleich zieht Meschonnic eine andere Übersetzung heran, nämlich die auf das Jahr 1857 datierte Version von François-Victor Hugo (1828 - 1873), der der Nachwelt als bedeutender Shakespeare-Übersetzer gilt: Épuisé de fatigue, je me jette sur mon lit, reposoir cher à mes membres lassés du voyage; mais alors commence un voyage dans ma tête qui fait travailler mon esprit, quand expire le travail de mon corps. Car alors mes pensées, loin du lieu où je suis, entreprennent vers toi un religieux pèlerinage et tiennent mes paupières languissantes toutes grandes ouvertes, fixées sur les ténèbres que les aveugles voient. Là, la vision imaginaire de mon âme présente ton ombre à ma vue sans yeux. Et ton ombre, comme un bijou pendu à la nuit lugubre. Fait belle nuit noire et en fait jeune la vieille face. Ainsi, hélas! le jour, mon corps, la nuit, mon âme, à cause de toi, pour moi ne trouvent pas de repos. 51 Auffällig ist bei dieser Version, dass die Übersetzung Hugos der thematischen Bewegung des Originals keinerlei Rechnung trägt. So spielen die antithetischen Begriffspaare, die bei Shakespeare und bei Meschonnic für komplizierte Verschränkungen unterschiedlichster Wahrnehmungen und Gefühlsebenen sorgen, kaum noch eine Rolle. Weiterhin charakteristisch ist die Änderung der Strophengliederung (drei Quartette mit Kreuzreimen und ein abschließender gereimter Zweizeiler werden optisch umgeformt zur klassischen Sonettform) und der wichtigsten Spannungsmomente (wie etwa den akzentuierenden Versen 8, 12, 13 und 14), wodurch der dem Original innewohnende Rhythmus, dem ein Moment der bedrohlichen Ruhelosigkeit innewohnt, nicht zum Tragen kommt. Will man aber der Eigentümlichkeit des Originals gerecht werden, so muss man auf eben diesen Rhythmus hören, darf sich nicht mit einer Leseweise begnügen, «die alle Spannungsmomente des Gedichts konsequent übergeht.» 52 Wo sich diese Spannungsmomente genau befinden, wird von Meschonnic eingehend analysiert: Rythmiquement, si on regarde les contre-accents (la succession immédiate de deux accents, ou plus), après les moments de cadence qui accomplissent l ’ alternance métrique, ils sont sur blind do see (v. 8), et surtout le vers 12, marqué par sept accents, aux quatre premières positions (Makes black night beauteous) et aux trois dernières, 51 Zitiert nach: Meschonnic: Poétique du traduire, S. 279. 52 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 281. 124 <?page no="125"?> old face new, ainsi qu ’ aux deux derniers vers, Lo thus et -self no quiet find. Ce sont des superlatifs rythmiques, donc des superlatifs sémantiques. Sans oublier les contreaccents enjambants, des vers 7 à 8, de 8 à 9, de 11 à 12, de 12 à 13. 53 Indem Meschonnic blind do see (3 Hebungen) durch dans le noir (2 Hebungen) wiedergibt, makes black night beauteous (4 Hebungen, 1 Senkung) durch rend la nuit belle (4 Hebungen, 1 Senkung), old face new (3 Hebungen) durch son air vieux (3 Hebungen) und Lo thus (2 Hebungen) durch ainsi (2 Hebungen), trägt er den «semantischen Superlativen» und damit der «systemischen Organisation» 54 des Originaltextes Rechnung. Lediglich der letzte Vers - self, no quiet find (3 Hebungen, 1 Senkung, 1 Hebung) weist in der französischen Übersetzung eine Abweichung vor, wobei diese angesichts des semantischen Superlativs völlig unerheblich ist (ne trouvent de répit: 1 Senkung, 1 Hebung, 3 Senkungen, 1 Hebung). Was die Übertragung von Theatertexten anbelangt, so ist auch Meschonnic der Auffassung, dass das Metrum nicht in derselben Weise wiedergegeben werden kann wie im Bereich der Lyrik. Es ist hier dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Übersetzung von Dramentexten «einen Transfer aus einer Theaterbzw. Dramenkultur in eine andere, fremde Kultur [darstellt]» 55 und dass ein solcher Kulturtransfer Probleme aufwirft, die schöpferischer Lösungen bedürfen. Allerdings darf das Einbeziehen von kulturellen Praktiken und referentiellen Bezügen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im Bereich des Dramas die Frage nach der Art der Rhythmisierung eine zentrale Rolle spielt, stellt doch der Rhythmus das eigentliche Konstituens der poetischen Redeweise dar. Ähnlich wie im Bereich der Lyrik gilt es, die performative Seite der Sprache zu erfassen und in die Zielsprache zu übertragen, und nicht in erster Linie den Sinn der Wörter zu fokussieren, wie dies von Übersetzern praktiziert wird, die sich lediglich als Übermittler von offensichtlichen Bedeutungen verstehen. Dass bei der Übertragung der performativen Wirkung zuweilen Informationen verloren gehen, liegt in der Logik der Sache. Kein Übersetzer kann bei jedem Übertragungsakt alle sprachlichen Momente gleichzeitig berücksichtigen. Bereits A. W. Schlegel soll - wie Ulrike Jekutsch eigens hervorhebt - bereits «darauf hingewiesen [haben], dass es für das poetische Übersetzen unumgänglich sei, frühzeitig zwischen den Dominanten eines Textes, die im übersetzten Text erscheinen müssen, und den sekundären Elementen, die notfalls geopfert werden können, zu unterscheiden.» 56 53 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 278, Hervorhebung im Original. 54 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 97. 55 Jekutsch, Ulrike: Die Übersetzung des Verses im Drama. In: Kittel, Harald (Hg.): Übersetzung. Translation. Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. 1. Teilband. Berlin: de Gruyter 2004 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 26.1), S. 980 - 986, S. 980. 56 Ebd., S. 985 - 986. 125 <?page no="126"?> Der Gedanke, dass es beim literarischen Übersetzen nicht primär darum geht, die in der Zielsprache geltenden Gepflogenheiten und Stilerwartungen zu transferieren, erweist sich auch im Hinblick auf Jelineks Übertragungen des französischen Vaudeville als brauchbar. Wie aus folgender Übersetzungsanalyse deutlich werden dürfte, macht sich die Autorin die von Meschonnic vertretene Auffassung zu eigen, dass die vornehmliche Aufgabe des Übersetzers darin besteht, die semantische Modellierung des Ausgangstextes in die Zielsprache zu übertragen. Das entscheidende Argument für diese Auffassung liefert Meschonnics Formulierung vom «Primat der Rede über die Sprachstruktur,» 57 die sich wie folgt paraphrasieren lässt: Wer beim Übersetzungsakt mit dem immer gleichen Selbstverständnis die spezifischen sprachlichen Eigenheiten der Ausgangssprache durch diejenigen der Zielsprache ersetzt, läuft Gefahr, die poetische Praxis zu zerlegen. Wer hingegen sich vom «Primat der Rede» lenken lässt, entgeht den mit dem «Gewaltakt» des «Substituierens» verbundenen Gefahren. Zwei besonders gelungene Beispiele für die von Meschonnic propagierte Vorgehensweise dürften die Übersetzungen Jelineks von Feydeaus La Dame de chez Maxim und von Labiches Affaire de la rue de Lourcine darstellen, die ich im Folgenden einer eingehenden Analyse unterziehen möchte. 2. Jelineks Übersetzung von Feydeaus La Dame de chez Maxim In diesem Kapitel soll - auf der Grundlage der zuvor erarbeiteten theoretischen Prämissen - der Versuch unternommen werden, Jelineks Übersetzung von Feydeaus La Dame de chez Maxim einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Dabei möchte ich - nach dem Vorbild Meschonnics - eine vergleichende Perspektive einnehmen, 58 indem ich der Übersetzung Jelineks eine andere Version entgegenhalte, nämlich die von Barbara Basel erstellte szenische Vorlage für die von ihr realisierte Inszenierung am Renaissance- Theater in Berlin (1995). Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass der Vergleich nicht ganz unproblematisch ist, sind doch zwischen Übertragungen, die im Hinblick auf eine szenische Umsetzung konzipiert wurden (Textadaption), und literarischen Auftragsarbeiten (Textübersetzung) grundsätzliche Unterschiede zu beobachten. Diese Unterschiede lassen sich - in Anlehnung an Jean-Louis Besson - daran festmachen, dass die Textüber- 57 Die einschlägige Passage lautet: «Le discours scientifique s ’ identifie au maximum à la langue. [. . .] Mais dans la littérature, il y a d ’ abord le primat empirique du discours sur la langue.» (Poétique du traduire, S. 83). 58 Vgl. hierzu den Teilaspekt «Übertragung der Poetik auf konkrete Übersetzungsbeispiele» im Kapitel IV, 1. 126 <?page no="127"?> setzung (Jelinek) 59 keine signifikanten Abweichungen vom Ausgangstext aufweist, während die Textadaption (Basel) eine Reihe von kulturell einbürgernden Textänderungen enthält, die - nach Maßgabe des Übersetzers - den nationalen Gepflogenheiten der Zielkultur bzw. dem Zeitgeist entsprechen. Hierzu die einschlägige Passage im französischen Original: «Seul le lecteur étant à même d ’ apprécier la lettre d ’ un texte et le passage au théâtre nécessitant des ajustements plus ou moins importants, on gommera ce qui peut indisposer le public, lui paraître obscur et contredire son caractère national.» 60 Trotz dieser manifesten Unterschiede halte ich den Vergleich zwischen beiden Fassungen für sinnvoll, zum einen, weil Basels Version zwei Jahre nach der Aufführung vom Verlag Hartmann & Stauffacher publiziert wurde 61 und somit verlegerischen Ansprüchen Genüge leisten dürfte, zum anderen, weil die Kontrastierung eine gezieltere Herausarbeitung der die Übersetzung Jelineks charakterisierenden Merkmale erlaubt. Bevor jedoch eine solche Kontrastierung erfolgen kann, stellt sich zunächst die Frage, inwiefern der Rhythmus als tertium comparationis geeignet ist. Zur Beantwortung dieser Frage sei zunächst vorausgeschickt, dass der Leser/ Zuschauer in den zielsprachigen Versionen (Jelinek, Basel) andere Rhythmuserfahrungen macht als im Original (Feydeau), das sich durch eine nicht reproduzierbare «Art und Weise des Bewegungsablaufs» 62 auszeichnet. Geht man des weiteren von der Prämisse Meschonnics aus, dass der Übersetzungsvergleich den Fokus auf die den Äußerungsakt durchziehende Sprechbewegung richtet, dann erscheint gerade der Rhythmus als Gradmesser für die an der übersetzerischen Vorgehensweise beteiligten Prozesse. Der Interpret gewinnt Einblick in die übersetzerischen Entscheidungen, indem er der Frage nachgeht, wie der Rhythmus der dichterischen Sprache Sinn erzeugt, wie eine Version durch ihre vielfältigen semantischen Verknüpfungen auf eine bestimmte Bedeutungsweise festgelegt wird. Von diesen Voraussetzungen ausgehend lässt sich obige Frage wie folgt beantworten: Der Rhythmus eignet sich deshalb als tertium comparationis, weil er das Augenmerk des Interpreten auf die Unterschiede in der semantischen Modellierung lenkt. 59 Elfriede Jelinek übersetzte La Dame de chez Maxim 1990 im Auftrag des Theaterverlags Nyssen & Bansemer. Die von ihr erstellte Version ist als Bühnenmanuskript unter folgenden bibliographischen Angaben zu beziehen: Feydeau, Georges: Die Dame vom Maxim. Stück in drei Akten. Deutsch von Elfriede Jelinek. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Theater Verlag (ohne Datumsangabe). 60 Besson, Jean-Louis: Pour une poétique de la traduction théâtrale. In: Critique. Le théâtre sans illusions, Nr. 699 - 700, August-September 2005, S. 702 - 712, S. 705. 61 Feydeau, Georges: Die Dame vom Maxim. Komödie in 3 Akten. Deutsch von Barbara Basel. Köln: Hartmann & Stauffacher 1997. 62 Zitiert nach: Brüstle (Hg.): Aus dem Takt, S. 16, Hervorhebung im Original. 127 <?page no="128"?> Gleich zu Beginn des Stückes stechen einige dieser Unterschiede ins Auge. Da, wo Jelinek große Sorgfalt anwendet, um die der Eingangsszene vorausgehenden Bühnenanweisungen wiederzugeben, werden diese von Basel ignoriert. Eine solche Vorgehensweise findet sich bei Regisseuren häufig, werden doch konkrete Hinweise auf das Bühnenbild sowie Tonfall, Gestik und Mimik der Figuren nicht nur aus dem Nebentext, sondern auch aus dem Haupttext geschöpft. «Die Tatsache, dass sich Theaterpraktiker in der Regel wenig an die Vorgaben des Nebentextes gebunden fühlen,» 63 ist in der Inszenierungspraxis stark verbreitet und legitim. Gerade das Theater Feydeaus hat seit seiner Entstehung die unterschiedlichsten Auffassungen zum Umgang mit dem Nebentext zutage gefördert. Der französische Spielleiter Thomas Le Douarec verzichtete beispielsweise für seine Inszenierung von Le dindon (1995) auf die gängigen Utensilien des Vaudeville, 64 was allerdings nicht schon heißt, dass ihm die Notwendigkeit einer intensiven «Wundreibung» mit Feydeaus direktivistischen Anweisungen nicht bewusst gewesen wäre. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung lässt sich bei Olivier Mongin nachlesen: Voulant séduire les nouvelles générations de spectateurs autant que les anciennes, il a décidé de se passer du décor de vaudeville, mais il n ’ a cependant pas pu renoncer aux portes. « Je me suis rendu compte que ce serait une erreur de me passer de ‹ ses › portes. Aussi ai-je pris le parti de construire le décor uniquement avec elles. Elles sont dix-sept, leurs claquements donnent une cadence effrénée et musicale à la pièce. » On peut se passer de bien des éléments du décor, pas des portes, de ces seuils et de ces battants qui matérialisent la possibilité même de la ‹ relation › . La porte, élément indispensable du décor, met en rapport l ’ intérieur (le couple à l ’ intérieur) et l ’ extérieur (les fantômes et les réalités du désir). 65 Auch Jelinek ist sich der Wirksamkeit der Flügeltüren bewusst, die das Ungleichgewicht in den ehelichen Beziehungen bereits dadurch vorführen, dass der Eintretende einen breiteren Zugang zum Raum hat als der Verbleibende. Sie weiß um die rhythmisierenden Effekte eines Geklappers, das nicht nur im Dienste der Unterhaltung, sondern auch als Indikator für die Engpässe des Begehrens steht. Im Gegensatz zum «statischen Mobiliar» geben die beweglichen Schwingteile Zeugnis ab über die unerfüllt bleibende Sehnsucht nach gelingender Intimität. Die ständigen Auf- und Abgänge, die die Begrenzungen zwischen innen und außen gleichsam aufheben, sind dahingehend zu interpretieren, dass die Figuren über keinen geschützten Raum verfügen, in dem die Dynamik der Affekte zur Entladung gelangen 63 Albrecht, Jörn: Übersetzen für das Theater: Redetext und Nebentext. In: Kittel, Harald (Hg.): Übersetzung. Translation. Traduction. 3. Teilband. Berlin: De Gruyter 2004 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 26.1), S. 1026- S. 1036, S. 1029. 64 Vgl. hierzu: Mongin, Olivier: De quoi rions-nous? Paris: Plon 2006, S. 172. 65 Ebd., S. 172 - 173. 128 <?page no="129"?> würde. Indem Jelinek eine Angleichung an das Vorbild anstrebt und die Flügeltür zum wichtigsten Requisit erhebt, rückt sie nicht nur den begehrenden Körper in den thematischen Fokus, sondern entwirft auch einen symbolträchtigen Raum, der als Sinnträger für die - mit sexueller Energie aufgeladenen - Figuren fungiert. Neben den Flügeltüren stellt - wie auch Mongin zu Recht hervorhebt - der bürgerliche Raum einen weiteren Signifikanten dar, der aus Feydeaus «Werksystem» 66 nicht wegzudenken ist: «Feydeau n ’ aurait jamais eu recours qu ’ à un seul et même décor dans la mesure où tous les décors qu ’ il décrit dans ses didascalies sont identiques.» 67 Besonders an Petypon, der erst ein Gefangener des bürgerlichen Raumes ist, bevor er zum Gefangenen der sich überschlagenden Ereignisse wird (so genannter Selbstläufereffekt), lässt sich nachvollziehen, dass die in La Dame de chez Maxim enthaltenen Räume keine neutralen Räume sind. 68 Es sind räumliche Spannungen, die das anfangs überschaubare Konfliktknäuel zum Alptraum-Szenario mutieren lassen, es ist eine räumliche Dramatik, die die Wohlgeordnetheit der bürgerlichen Verhältnisse und die Konflikunfähigkeit der Hauptfigur sinnfällig macht. In Jelineks Fassung erfährt jene Wohlgeordnetheit dieselbe «Präzision dramatischer Darstellung» 69 wie im Original, eine Präzision, die auf die Strenge der dem Bühnen-Fachjargon der Jahrhundertwende entnommenen Ausdrücke angelegt ist («à droite premier plan» = «rechts im Vordergrund»; «au deuxième plan» = «im Mittelgrund»; «en pan coupé» = «im stumpfen Winkel»; «légèrement en sifflet» = «leicht schräg» usw.). Von dieser Beobachtung ausgehend lässt sich - unter Zuhilfenahme der Begrifflichkeit Fischer- Lichtes - folgende Präzisierung vornehmen: Im Gegensatz zu Basels Version, die durch «Dominanz des Redetextes» 70 geprägt ist, zeichnet sich Jelineks Fassung durch «Interferenz von Redetext und Nebentext» 71 aus, d. h. durch einen «Dialogtypus, dessen Bedeutungen durch die spezifische Interferenz von Redetext und Nebentext konstituiert werden.» 72 Im Laufe dieses Kapitels wird sich noch mehrfach herausstellen, dass die Übertragungen Jelineks und Basels grundverschiedene Merkmale aufweisen, 66 Aus den Ausführungen Löseners wird deutlich, dass Meschonnic eine subtile Unterscheidung zwischen dem «Text-» und dem «Werksystem» eines Schriftstellers vornimmt. 67 Mongin: De quoi rions-nous? , S. 171. 68 Der Begriff «neutrale Räume» wurde von Hans Lösener geprägt. (Zwischen Wort und Wort, S. 223). 69 Zitiert nach: Wetzig, Karl-Ludwig: Diskrete Bewegungen des kleinen Fingers. Nebentext im Zusammenspiel des Systems theatralischer Zeichen. In: Kittel, Harald (Hg.): Geschichte, System, literarische Übersetzung. Histories, systems, literary sensations. Berlin: Schmidt 1992 (= Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 5), S. 142 - 165, S. 151. 70 Fischer-Lichte: Der dramatische Dialog, S. 27. 71 Ebd., S. 32. 72 Ebd. 129 <?page no="130"?> wobei eine Gemeinsamkeit darin besteht, dass beide Versionen durch ein «Hingegebensein an die Sprache» 73 gekennzeichnet sind, durch ein feines Empfinden dafür, «was zwischen den Buchstaben, Wörtern, Wortgruppen und Sätzen geschieht.» 74 Der nun folgende Übersetzungsvergleich der Eingangsszene, die der Übersicht halber in vier Abschnitte unterteilt werden soll, möge vorführen, dass in beiden Fassungen Äquivalenz angestrebt wird, wenn auch diese eine je unterschiedliche Ausprägung erfährt. 1. Szene Erster Dialogabschnitt: Replik 1 - 16 Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (1) VOIX DE MONGICOURT Comment! Comment! Qu ’ est-ce que vous chantez? STIMME MONGI- COURTS: Wie? Was? Was wollen Sie mir da einreden? Mongicourts Stimme: Was erzählen Sie mir da! Ich glaub Ihnen kein Wort. (2) VOIX D ’ ÉTIENNE C ’ est comme je vous le dis, Monsieur le docteur! STIMME ÉTIENNES: Aber wenn ich es Ihnen doch sage, Herr Doktor! Étiennes Stimme: Es ist aber wahr, Herr Doktor! (3) MONGICOURT pénétrant en scène et à pleine voix à Étienne qui le suit. - C ’ est pas possible! Il dort encore! MONGICOURT: (betritt die Bühne und spricht in voller Lautstärke zu Étienne, der ihm gefolgt ist) Das ist doch nicht möglich! Er schläft noch! Mongicourt: (im Hereinkommen) Er schläft noch? - Um diese Zeit! (4) ÉTIENNE Chut! Plus bas, Monsieur! ÉTIENNE: Psst! Etwas leiser, Monsieur! Étienne: Pscht! Nicht so laut! (5) MONGICOURT, répétant sa phrase à voix basse. Il dort encore! MONGICOURT: (wiederholt etwas leiser) Er schläft noch! Mongicourt: (wiederholt leise) Er schläft noch - um diese Zeit! 73 Paepcke, Fitz: Einleitung. In: Paepcke, Fritz/ Berger, Klaus/ Speier, Hans-Michael (Hg.): Im Übersetzen leben. Übersetzen und Textvergleich. Tübingen: Narr 1986 (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 281), S. XIV-XIX, S. XV. 74 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 13, Hervorhebung im Original. 130 <?page no="131"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (6) ÉTIENNE Oui, Monsieur, je n ’ y comprends rien! Monsieur le docteur qui est toujours debout à huit heures; voici qu ’ il est midi . . .! ÉTIENNE: Ja, Monsieur. Ich verstehe es einfach nicht! Der Herr Doktor, immer steht er um acht Uhr auf, und jetzt ist es Mittag! Étienne: Ja, Monsieur, ich verstehe das auch nicht. Es ist Mittag! (7) MONGICOURT Eh bien! En voilà un noceur de carton! (Il remonte légèrement vers le fond! ) MONGICOURT: Tja . . . Die heimlichen Herumtreiber sind die schlimmsten! (Er geht etwas nach hinten) Mongicourt: Die heimlichen Nachtvögel sind die schlimmsten! (8) ÉTIENNE Monsieur a dit? ÉTIENNE: Hat Monsieur etwas gesagt? Étienne: Wie bitte? (9) MONGICOURT Rien, rien! C ’ est une réflexion que je me fais. MONGICOURT: Nichts, nichts . . . Ich habe nur laut gedacht. Mongicourt: Nichts, nichts! (10) ÉTIENNE Ah! c ’ est que j ’ avais entendu: «noceur»! ÉTIENNE: Ach so! Ich glaubte «Herumtreiber» verstanden zu haben. Étienne: Haben Sie nicht was von Vögeln gesagt? (11) MONGICOURT, redescendant même place. Pardon! J ’ ai ajouté «de carton». MONGICOURT: (kommt wieder nach vorn) Verzeihung! Ich habe aber «heimlich» hinzugefügt. Mongicourt: Von «Nachtvögeln» habe ich etwas gesagt, von «heimlichen». (12) ÉTIENNE Mais, ni de carton, ni autrement. Ah! ben, on voit que Monsieur ne connaît pas Monsieur! Mais je lui confierais ma femme, Monsieur! ÉTIENNE: Weder heimlich noch unheimlich! Ha! Man merkt, daß Monsieur meinen Monsieur nicht kennt! Ich würde ihm meine eigene Frau anvertrauen, Monsieur! Étienne: Oh nein, weder heimlich noch unheimlich! Der. Ich würde ihm glatt meine eigene Frau anvertrauen. (13) MONGICOURT Aha! Vous êtes marié! MONGICOURT: Aha! Sie sind verheiratet? Mongicourt: Ah! Sie haben eine Frau? 131 <?page no="132"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (14) ÉTIENNE Moi? Ah! non alors! . . . Mais c ’ est une façon de parler! . . . pour dire que s ’ il n ’ y a pas plus noceur que Monsieur! . . . ÉTIENNE: Ich? Aber nicht doch! . . .Wie man halt so sagt! Ich wollte nur betonen, wenn es einen gibt, der kein Herumtreiber ist . . . Étienne: Ich? Nein. - Gott bewahre! Ich meine nur - bildlich gesprochen . . . ich wollte nur sagen, ich kenne niemanden, auf den der Begriff «Nachtvogel» weniger zutrifft als Monsieur. (15) MONGICOURT, coupant court. Oui, et bien! en attendant, si vous donniez un peu de jour ici? Il fait noir comme dans une taupe. MONGICOURT: Jaja, ist schon gut . . . Wie wär ’ s, wenn Sie etwas Licht hereinließen . . . Hier ist es ja schwarz wie ein Kuharsch. Mongicourt: Na ja, schon gut! Wie wär ’ s, wenn Sie mal ein wenig Licht hereinließen? (16) ÉTIENNE Oui, Monsieur. Il va à la fenêtre de droite dont il tire les ridaux: il fait grand jour. ÉTIENNE: Ja, Monsieur. (Er geht rechts zum Fenster und zieht die Vorhänge auf: Es ist heller Tag.) Étienne: Jawohl, Monsieur. (Er zieht die Vorhänge auf) Aus der Gegenüberstellung «Originalfassung Feydeau (OF) - Übertragung Jelinek (ÜJ) - Übertragung Basel (ÜB)» geht hervor, dass die OF und die ÜJ in formal-ästhetischer Hinsicht äquivalent sind, 75 während die ÜB eine ganze Reihe von individualistischen Eigenschaften aufweist, die deutlich vom Textsubstrat abweichen. Diese Unterschiede machen sich u. a. dadurch bemerkbar, dass Jelinek dem Moment des Impliziten in einem sehr viel stärkeren Maße Rechnung trägt als Basel. Offenbar ist die Schrifstellerin im Zuge ihrer Übersetzungstätigkeit zu der Erkenntnis gelangt, dass Unbestimmtheit aus dem Theater Feydaus nicht wegzudenken ist und dass La Dame de chez Maxim eine Fülle von indirekten Sprechakten inszeniert, «in denen ein Sprecher mehr sagen möchte als die konventionelle Bedeutung des 75 Der Begriff «formal-ästhetische Äquivalenz» verweist auf die Ähnlichkeitsbeziehungen, die zwischen den ästhetischen, formalen und individualistischen Eigenschaften des Ausgangs- und des Zieltextes bestehen. (Koller, Werner: Einführung in die Übersetzungswissenschaft. Heidelberg/ Wiesbaden: Quelle & Meyer 1992, S. 214 ff.). 132 <?page no="133"?> durch ihn geäußerten Satzes hergibt.» 76 Während in der ÜB die impliziten Äußerungen in explizite überführt werden und somit das Moment des Unausgesprochenen in den Hintergrund tritt, wird in Jelineks Version die im Original angelegte Offenheit reproduziert. Allerdings ist diese Offenheit nur um den Preis eines antiquiert wirkenden Sprachstils zu erreichen, der dem an der ‹ Alltagssprache › ausgerichteten Sprachstil des Vaudeville zuwiderläuft. Von dieser Feststellung ausgehend, lassen sich folgende Verallgemeinerungen vornehmen: 1) Wenn auch die in der ÜJ enthaltenen parole-Sprachvorkommen eine formal-ästhetische Äquivalenz aufweisen, so lässt sich in textnormativer Hinsicht 77 beobachten, dass viele Formulierungen ungleich gekünstelter wirken als im Original. 2) Wenn auch die in der ÜB enthaltenen parole-Sprachvorkommen keine formal-ästhetische Äquivalenz aufweisen, so lässt sich in textnormativer Hinsicht beobachten, dass die gewählten Formulierungen (mindestens) genauso modern wirken wie diejenigen des Originals. Im Folgenden sollen die sinnkonstituierenden Unterschiede zwischen der ÜJ und der ÜB auf den Prüfstand gehoben und konkret nachvollziehbar gemacht werden. Dabei dürfte sich zum einen herausstellen, dass der Rhythmus tatsächlich ein geeignetes tertium comparationis darstellt, um zwei Übertragungen miteinander zu vergleichen. Zum anderen dürfte nachvollziehbar werden, dass die mit der ÜJ und der ÜB verbundenen Zielsetzungen Auslegungsmöglichkeiten eröffnen, die auch für den Inszenierungsprozess nicht ohne Folgen bleiben. Es wäre allerdings falsch, jene Unterschiede als Qualitätsurteile zu betrachten, sind doch die jeweiligen sprachfunktionalen Konzepte zu berücksichtigen, die den Textsorten «Übersetzung» und «Adaption» zugrundeliegen. Während Jelinek die Zielfunktion der Textübersetzung dadurch realisiert, dass sie ein geradezu «akademisches Interesse am Fremden» 78 entwickelt, erfüllt Basel die Kriterien der Textübertragung, indem sie «das Drama einer fremden Kultur zum Bestandteil der eigenen [macht].» 79 Tatsächlich hat ja die Inszenierung «eine ganz bestimmte, auf die aktuelle Situation bezogene Funktion zu erfüllen,» 80 eine Vorgabe, die bei Jelinek deshalb keine Berücksichtigung findet, weil ihre Übertragung nicht im 76 Burkhardt, Armin: Soziale Akte, Sprechakte und Textillokutionen. A. Reinachs Rechtsphilosophie und die moderne Linguistik. Tübingen: Niemeyer 1986 (= Reihe germanistischer Linguistik 69), S. 165. 77 Der Begriff «textnormative Äquivalenz» bezieht sich auf die Gebrauchsnormen, die für bestimmte Textgattungen gelten. (Ebd.). 78 Fischer-Lichte: Die Inszenierung der Übersetzung als kulturelle Transformation, S. 142. 79 Ebd. 80 Ebd. 133 <?page no="134"?> Hinblick auf eine bestimmte Inszenierung, sondern im Auftrag des Theaterverlages Ute Nyssen & J. Bansemer erfolgte. Klangwirkung Gleich die erste Replik macht deutlich, dass Jelinek sich beim Übersetzen auf ihr «inneres Ohr» stützt, auf jenes Instrument, das die semantische Modellierung des Gesagten vom Klangwerden der Sprache her erfasst. So gibt sie die im Original vorhandene Alliteration in der Wortwiederholung («Comment! Comment! ») durch eine Alliteration im Wort- und Klangspiel («Wie? Was? ») wieder, wodurch nicht nur die Zusammengehörigkeit der beiden Fragewörter hervorgehoben, sondern auch ein musikalischer Übergang zu dem darauffolgenden Fragesatz hergestellt wird. Der dreifache Gleichklang der Anlaute konfrontiert den Zuschauer/ Leser auf rhythmischer Ebene mit dem Strukturprinzip der Wiederkehr, das sich in unendlichen Variationen auf alle Gestaltungszusammenhänge des Textsystems erstreckt. 81 Anders stellt sich die Melodienführung bei Basel dar: Während in der OF und in der ÜJ erstaunte Ausrufe dominieren, bildet ein vorwurfsvoller Frage-Ausrufsatz («Was erzählen Sie mir da! ») den Auftakt. Auch der diesem Auftakt folgende Ausruf «Ich glaub Ihnen kein Wort» mutet agressiver an als die versteckt vorwurfsvolle Frage «Qu ’ est-ce que vous chantez? », deren interrogative Form Jelinek bewusst beibehält. Des weiteren wird deutlich, dass Jelinek - in textnormativer Hinsicht - Differenzen zwischen Ausgangstext und Zieltext in Kauf nimmt, zeichnet sich doch die erste Replik («Wie? Was? Was wollen Sie mir da einreden? ») durch einen gespreizt wirkenden Sprachstil aus, der den Dialog eindeutig als Theatersprache ausweist. Während Basel ihre Bestrebungen daran ausrichtet, das gesprochene Französisch an das Repertoire der deutschen Sprechgemeinschaft anzupassen, ist Jelinek peinlichst um den Erhalt der phraseologischen Verbindungen bemüht. Gerade die Alliteration stellt ein besonders pointiertes Beispiel für den ihr eigenen Hang dar, eine Kunstsprache zu produzieren, deren Artifizialität zu einem «bedächtigeren» Zuschauen anhält als das Original. Tonhöhenverlauf Die zweite Replik zeichnet sich in der OF und in der ÜJ durch einen parallel ausgerichteten Tonhöhenverlauf aus, der in dem Wort «dis» bzw. «sage» zum Höhepunkt gelangt. Durch dieses Fokussierungsverfahren wird die Performativität des Textes insofern wirkungsvoll hervorgehoben, als der auf die Wahrheit seiner Aussage pochende Diener den Zuschauer/ Hörer mit dem Hauptthema des Stückes konfrontiert: der Schwierigkeit der Verständigung 81 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Inszenierung des Raums (Kapitel III, 3.3.3.). 134 <?page no="135"?> mittels Sprache. Während jedoch im Original und in der ÜJ jenes Hauptthema in den Rhythmus des Satzes selbst eingeschrieben ist, entwirft die ÜB eine Situation der Verständigung, in der Kommunikationsschwierigkeiten keinerlei Rolle spielen. Rhythmisierende Zeichensetzung Die dritte Replik zerfällt in der OF und in der ÜJ durch die stark rhythmisierenden Ausrufezeichen in zwei Teile. Indem Mongicourt auf den Satz «Das ist doch nicht möglich! » den Ausruf «Er schläft noch» folgen lässt, indem er auf rhythmischer Ebene eine Gleichstellung beider Sätze herstellt, hebt er das Unerhörte, das noch nie Dagewesene des Vorfalls gesondert hervor. Auch die Tatsache, dass Mongicourt «in voller Lautstärke» (ÜJ) spricht, unterstreicht das Moment der Verblüffung angesichts des sonderbaren Gebarens Petypons, für den das bürgerliche Zeitempfinden keine verlässliche Richtschnur mehr darstellt. In der ÜB hingegen erscheint der Sprechakt («Um diese Zeit! ») insofern reduziert, als das im Original dargestellte «Schockerlebnis» vereindeutigend auf moralische Entrüstung ausgerichtet ist. Tonfall Die vierte Replik steht in enger semantischer Beziehung zur zweiten Replik: Während Étienne in der Originalversion und in der ÜJ den «Herrn Doktor» vorsichtig bittet, leiser zu sprechen, kommt in der ÜB die Aufforderung einem Befehl gleich («Pscht! Nicht so laut! »), wodurch die Diener-Figur ein ihrer Funktion konträres Gebaren zeigt. In der fünften Replik, die wiederum in enger semantischer Beziehung zur dritten Replik steht, wiederholt Mongicourt die eingangs getroffene Feststellung, dass Petypon noch schlafe. Hierdurch entsteht ein komischer Effekt, der in der ÜJ in ähnlicher Weise reproduziert wird. In der ÜB kommt durch die Wiederholung der «Um diese Zeit! »-Formel zwar auch ein komischer Effekt zustande, doch wird hier die moralisierende Dimension in den Vordergrund gerückt. Dass die Figuren in der OF und in der ÜJ «durch die Blume sprechen» und über Anspielungen den Hörer dazu anregen, Interpretationsspielräume zu aktivieren und eigene Schlüsse zu ziehen, lässt sich am Beispiel des «noceur de carton» nachweisen, einem Begriff, den Jelinek mit der Andeutungsvokabel «Herumtreiber» übersetzt und Basel mit dem sehr viel anschaulicher wirkenden Ausdruck «Nachtvogel». Natürlich stellen sich beim «Herumtreiber» nicht nur Assoziationen zum «Vagabunden», «Landstreicher» ein, sondern auch zu «treiben», «es treiben», «es mit jemandem treiben». Dennoch ist der Interpretationsspielraum hier noch relativ groß, während Basels übersetzerische Entscheidung den Zuschauer auf direktestem Wege mit den sexuellen Aktivitäten Petypons konfrontiert. 135 <?page no="136"?> Wortwahl/ Wortverbindungen Wie sehr indirekte Sprechakte «kooperative Anstrengungen» 82 sind (wobei «die Kooperationsbereitschaft des jeweils anderen von den Partnern in der Regel wechselseitig unterstellt [wird]»), 83 macht die achte Replik deutlich, in der Étienne sich vergewissert, dass er richtig gehört hat. Dies erfolgt in der OF und in der ÜJ in einem indirekt-höflichen, in der ÜB in einem deutlich rauheren Ton («Wie bitte? »). Auch in der neunten Replik wird Kooperation zwischen den Gesprächspartnern unterstellt, zeugt doch die Aussage «C ’ est une réflexion que je me fais» (ÜJ: «Ich habe nur laut gedacht») von einem wohlkalkulierten Mitteilungsbedürfnis. Wollte man die «konversationelle Implikatur» 84 zu Ende denken, lautete die Replik: «Ich habe laut gedacht und nicht leise, weil ich die Hoffnung habe, dass du zu dem Gedachten Stellung beziehst.» Tatsächlich kommt Étienne in der zehnten Replik der impliziten Aufforderung Mongicourts nach, wobei der Gebrauch des Verbs «croire» (ÜJ: «glauben») darauf hindeutet, dass der Diener sich zögerlich tastend aufs offene Terrain eines Gespräches wagt, dessen Ausgang er nicht kennt. In der ÜB spielt dieses zögerliche Vorgehen keine Rolle, wird doch hier ganz unverblümt gefragt: «Haben Sie nicht was von Vögeln gesagt? » Eine derart direkte Ausdrucksweise entspricht den Usancen des deutschen Regietheaters (und somit den sprachfunktionalen Konzepten der «Textübertragung»); in textnormativer Hinsicht jedoch wirkt die Formulierung ungleich moderner als im Original, was jedoch nicht den Umkehrschluss erlaubt, dass Feydeau das Thema Geschlechtlichkeit tabuisieren würde, ganz im Gegenteil: Seine Komik beruht sogar ausschließlich auf dem alten Reigen von Begehren und Liebesvollzug. Zu Recht weist Mongin darauf hin, dass es dem Vaudevillisten gelingt, den Zuschauer zum Lachen zu bringen, «parce qu ’ il ne met jamais un terme à la ronde des corps et des sexes.» 85 Dabei liegt allerdings der Schwerpunkt auf dem Begehren und nicht - wie die ÜB nahelegt - auf dem Vollzug. Hierzu noch einmal Mongin: Centré sur la sexualité, la fragilité des couples, la force du désir, le théâtre de Feydeau fait rire de l ’ impossibilité de s ’ arrêter. Burlesque, car pessimiste et réciproquement, il évoque moins le passage à l ’ acte qu ’ il ne met en scène la répétition permanente. D ’ où son incapacité à se trouver ailleurs qu ’ entre deux portes, entre homme et femme, entre deux femmes, entre deux hommes. D ’ où sa capacité à épuiser les corps (qui n ’ en finissent pas de courir, de se courir après, de 82 Burkhardt: Soziale Akte, Sprechakte und Textillokutionen, S. 166. 83 Ebd. 84 Grice zufolge ist eine «konversationelle Implikatur» gegeben, wenn «in einer gegebenen Kommunikationssituation Äußerungen andere Sätze ‹ implikatieren › [können].» (Ebd., S. 165). 85 Mongin: De quoi rions-nous? , S. 121. 136 <?page no="137"?> mentir et de se cacher) et les langues (qui perdent le fil du sens). Voilà ce qui fait rire chez Feydeau, non pas des histoires salaces, mais l ’ effondrement des corps et du langage, la désorientation de ceux qui ne tiennent qu ’ à un fil, celui du désir impossible. 86 In der Eingangsszene wird das unerfüllte Begehren in verhaltenen Andeutungen thematisiert. So fällt in der zwölften Replik erneut die Wiederholungsfigur auf, die beim Zuschauer für eine gewisse Irritation sorgt, bedarf es doch seiner ganzen Aufmerksamkeit, um die einzelnen «Monsieurs» auseinander zu halten. Wird der Satz sehr schnell gesprochen, 87 führt dies zu der Annahme, dass vor dem letzten «Monsieur» die Präposition «à» steht («Je lui confierais ma femme, à Monsieur! »). Der hiermit einhergehende komische Effekt beruht auf dem Eindruck, es werde ein Reigen des Begehrens entworfen, in dem die Frau zum Tauschobjekt degeneriert. Tatsächlich kommt es im weiteren Verlauf der Handlung zu diversen «Verschiebungen» des weiblichen Personals: Gabrielle Petypon wird Mongicourt zugeschoben, Crevette geht - auf Drängen der männlichen Figuren - Beziehungen zu Lucien, Corignon und dem General ein. Im Hinblick auf die sinnkonstituierenden Unterschiede lässt sich somit sagen, dass in der ÜJ der Reigen des Begehrens durch den Erhalt der Wiederholungsfigur thematisiert wird, während die ÜB auf einen mit dieser Thematik verbundenen komischen Effekt verzichtet. Auch im Hinblick auf den Nebentext lässt sich feststellen, dass die von Mongin angeführte «répétition permanente» ein wichtiges Gestaltungsmittel vaudevillesker Komik darstellt. Indem Feydeau in den szenischen Angaben Verben mit starkem Bewegungsgehalt (pénétrer, répéter, remonter, couper court, redescendre) bzw. Wortverbindungen mit Richtungsadverbien (en scène, devant, à droite) verwendet, treibt er den Körper des Schauspielers bis an den Rand der Erschöpfung (Mongin spricht in diesem Zusammenhang von Feydeaus «capacité à épuiser les corps»). Was die ÜJ anbelangt, so wird der Bewegungsgehalt des Nebentextes in einer dem Original entsprechenden Weise reproduziert, wohingegen Basel - aus Rücksicht auf zielkulturelle Gepflogenheiten - auf dieses Prinzip der Vergegenwärtigung verzichtet. Interjektionen Die dreizehnte Replik - so unscheinbar sie auf den ersten Blick sein mag - ist allemal des Interesses würdig. Auffällig ist hier das wenig französisch anmutende «Aha! », das Basel durch die Interjektion «Ah! » wiedergibt, wodurch der Satz eine andere Gewichtung erfährt. Während in der OF und in der ÜJ der Eindruck überwiegt, Mongicourt habe den Diener «auf 86 Ebd., S. 163. 87 Dies ist beispielsweise in der Inszenierung Jean-François Sivadiers von La Dame de chez Maxim der Fall. 137 <?page no="138"?> frischer Tat ertappt», wird in der ÜB dem Zuschauer suggeriert, der überzeugte Junggeselle sei am Privatleben des Dieners interessiert. Auch die Tatsache, dass Mongicourt die persönlich anmutende Wendung «Sie haben eine Frau? » benutzt (statt: «Sie sind verheiratet? »), zeugt von einem gewissen Voyeurismus. Bei Jelinek ist der komische Effekt ein anderer: Er entsteht dadurch, dass jemand aufgrund der Tatsache überführt werden soll, dass er verheiratet ist. Eine solche Auslegung trägt einem Autor Rechnung, der davon überzeugt war, dass der Nichtehestand die einzig geeignete Lebensform sei, um den Wirren des unerfüllten Begehrens zu entkommen. 88 Metaphern In der fünfzehnten Replik sieht sich Jelinek mit der Frage konfrontiert, wie eine kulturspezifische Metapher aus der Ausgangssprache in die Zielsprache übertragen werden kann. Ihre Lösungsstrategie besteht darin, von der «emotionale[n] Sprachform im Rhythmus des Originals» 89 auszugehen und nicht vom Gehalt der zu übersetzenden Einheit. So entsteht aus dem Bild des «Maulwurfs» das Bild des «Kuharschs», eine übersetzerische Entscheidung, die den gleichen Sinn transportiert wie im Original, wenn auch um den Preis einer Bildüberhöhung. Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass die ÜJ dadurch gekennzeichnet ist, dass sie «der textuellen Wirkungsweise,» 90 der performativen Dimension des Dialogs Rechnung trägt. Indem Jelinek die syntaktische Struktur beibehält, 91 wird sie nicht nur der musikalischen Qualität des Ausgangstextes gerecht, sondern auch der «Mehrschichtigkeit der [. . .] Sinnbezüge.» 92 Allerdings nimmt die Autorin mit ihren künstlich anmutenden Biegungen in Kauf, dass ihre Version weder den «natürlich» anmutenden Konversationston des Vaudeville widerspiegelt noch die aktuelle Inszenierungsströmung, die bei Basel ihren exemplarischen Niederschlag findet. Während letztere das Kriterium der textnormativen Äquivalenz dadurch erfüllt, dass sie einen Dialog konzipiert, der den Usancen der deutschen Sprechgemeinschaft nachempfunden ist, weist sich Jelineks Sprache als eine von umgangssprachlichen Wendungen durchbrochene Kunstsprache aus, die durch ein «besondere[s] 88 So ist es denn auch kein Zufall, dass Mongicourt zu den wenigen Figuren im Theater Feydeaus zählt, die sich als glückliche Menschen bezeichnen würden. 89 Stolze: Hermeneutik und Translation, S. 261. 90 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 106. 91 In diesem Zusammenhang schreibt Radegundis Stolze ganz im Sinne Meschonnics: «Ziel einer klangbewussten Übersetzung [. . .] könnte es also sein, die vorgegebene syntaktische Struktur so weit wie möglich beizubehalten, um die spezifische emotionale Sprachform durchscheinen zu lassen.» (In: Hermeneutik und Translation, S. 261). 92 Ebd. 138 <?page no="139"?> Wechselverhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit konstituiert wird.» 93 Dieses Wechselverhältnis kommt insbesondere in der indirekten, künstlich anmutenden Rede der Figuren zum Tragen, die der galanten Konversation (der «conversation à la française») nachempfunden ist und der Auffassung zugrunde liegt, dass Sprache als Zeitvertreib dient, als «natürliches» Mittel, das von Stillstand und Immergleichheit beherrschte Dasein erträglicher zu machen. Offenbar geht es der Autorin darum, die Überzeugung Lügen zu strafen, wonach Sprache die Sachverhalte dieser Welt zu benennen und die «Innerlichkeit» des Einzelnen zu objektivieren vermag. Indem sie in erster Linie der formal-ästhetischen und nicht der textnormativen Äquivalenz Rechnung trägt, macht sie ihre eigene Sichtweise auf den Vaudevillisten deutlich, den sie - zwar nicht explizit, aber doch unverkennbar - in unmittelbare Nähe zu Johann Nestroy rückt. So wie dieser ein «verspielter Autor» sei, der mit den Worten so lange um sich «schmeiße», bis irgendwann eine völlig neue Wahrheit ans Licht trete, gehöre auch Feydeau zu den Autoren, die sich in erster Linie von den Sprachrändern angezogen fühlten, von jenen Abgründen, hinter denen eine durch Willkür und Irrationalität beherrschte Gegenordnung verborgen liege. Zur Veranschaulichung der Gemeinsamkeit zwischen beiden Komödiendichtern sei im Folgenden eine Passage aus Jelineks Aufsatz sich mit der Sprache spielen zitiert, die sich ebenso gut auf die satirische Schreibweise Feydeaus anwenden lässt: Nestroy ist ein verspielter Autor, glaube ich, er spielt sich (ja: sich! ) mit der Sprache, in die er sich einmal hineinbringt und dann wieder herausnimmt. Er zwängt sich hinein, schmeißt ein bissel mit den Worten und Sätzen herum, dann läßt er sie wieder fallen, und dann sagen sie ohne Umschweife: was los ist. Was sich irgendwo losgerissen hat. 94 Zweiter Dialogabschnitt: Replik 17 - 24 Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (17) ÉTIENNE et MONGI- COURT, ne pouvant réprimer un cri de stupéfaction en voyant le désordre qui règne dans la pièce. Ah! ÉTIENNE und MONGI- COURT: (die einen erstaunten Ausruf angesichts des Chaos im Zimmer nicht unterdrücken können) Ha! Étienne und Mongicourt: (als sie die Unordnung im Raum erblicken) Ah! 93 Fischer-Lichte: Der dramatische Dialog, S. 26. 94 Jelinek, Elfriede: sich mit der Sprache spielen. Johann Nestroy. [2001]. In: Homepage Elfriede Jelinek 1997 (http: / / www.elfriedejelinek.com, über die Rubrik «zum Theater», zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 139 <?page no="140"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (18) ÉTIENNE, entre la fenêtre et la table-bureau. Mais, qu ’ est ce qu ’ il y a eu donc? ÉTIENNE: (zwischen dem Fenster und dem Schreibtisch) Aber was ist denn hier passiert? Étienne: Oh, Gott! Was ist denn hier passiert? (19) MONGICOURT, au milieu de la scène. Et bien! pour du désordre! MONGICOURT: (in der Bühnenmitte) Also wirklich . . . das ist ja ein Chaos! . . . ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (20) ÉTIENNE, gagnant le milieu de la scène en passant devant la table. Mais qu ’ est ce que Monsieur a bien pu faire pour mettre tout ça dans cet état? ÉTIENNE: (geht in die Mitte der Bühne, vor dem Tisch vorbei) Aber wie konnte Monsieur das Zimmer in einen solchen Zustand versetzen? ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (21) MONGICOURT Le fait est! . . . MONGICOURT: Er konnte! ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (22) ÉTIENNE A moins d ’ être saoul comme trente-six bourriques! ÉTIENNE: Außer er war besoffen wie sechsunddreißig Kesselflicker! Étienne: Er muß ja sternhagelvoll gewesen sein! (23) MONGICOURT, sur un ton de remontrance blagueuse. Eh! ben, dites donc, Étienne! MONGICOURT: (mit scherz-haftem Vorwurf) Na! also hören Sie mal, Étienne! Mongicourt: Aber Étienne! (24) ÉTIENNE, vivement. Oh! ce n ’ est pas le cas de Monsieur! Un homme qui ne boit que de l ’ eau de Vichy! . . . et encore il l ’ allonge! . . . avec du lait! . . . ÉTIENNE: (lebhaft) Oh! aber das ist nicht seine Art! Dieser Mann trinkt nur Mineralwasser! Und das verdünnt er noch mit Milch! Étienne: Aber das ist gar nicht seine Art! Er trinkt nur Mineralwasser! Und nicht mal pur! Er verdünnt es noch mit Milch! Es ist nicht zu fassen! Der dargestellte Dialogabschnitt führt jene Unterschiede in der Handhabung des Nebentextes vor Augen, die bereits zu Anfang dieses Kapitels betont wurden. Während die Figurenrede der ÜJ «einen - mehr oder weniger umfangreichen - Nebentext enth[ält], der nicht im Redetext implizierte 140 <?page no="141"?> Informationen zum Dialog liefert,» 95 zeichnet sich die ÜB durch einen Dialogtypus aus, dessen «Bedeutung allein durch den Redetext der Figuren und seine Zuordnung durch die Namen konstituie[rt wird].» 96 Nun stellt sich an dieser Stelle die Frage, welche Funktion die «Interferenz von Redetext und Nebentext» in der ÜJ erfüllt und welche Funktion die «Dominanz des Redetextes» in der ÜB einnimmt. Bei Jelinek fällt auf, dass der Nebentext eine deutliche Rückbindung an die sprechende oder angesprochene Person bzw. an die Situation herstellt. 97 Die face-to-face-Interaktion ist aufgrund dieser engen Kopplung dem Moment der Mündlichkeit und der Körperlichkeit in hohem Maße verpflichtet. 98 Die Frage, wie sich Mündlichkeit im Text nachweisen lässt, wurde von den Romanisten Koch und Oesterreicher 99 beantwortet, denen zufolge mündliche Sprechakte (bzw. schriftliche Sprechakte, in denen Mündlichkeit kunstvoll hergestellt wird) auf ein Maximum an kommunikativer Nähe zurückgeführt werden können. Zu den «Nähe-Merkmalen» zählen v. a. parasprachliche Elemente, also Gesten oder Bewegungen, die via Körperlichkeit eigene Sinnzusammenhänge schaffen. Diese Elemente lassen sich in dem zu analysierenden Dialogabschnitt der «capacité à épuiser les corps» 100 zuordnen, die - wie oben ausgeführt 101 - eng mit dem theatralen Darstellungsprinzip der Wiederholung zusammenhängt. Die Wirkung des zweiten Dialogabschnitts beruht zum großen Teil darauf, dass die Figuren sich entweder in einem «Zwischen» («entre la fenêtre et la table-bureau») oder in einem «Mittendrin» aufhalten («au milieu de la scène»/ »gagnant le milieu de la scène en passant devant la table»). Durch den wiederholten Gebrauch von Wortverbindungen mit Richtungsgehalt wird auf performativer Ebene der Reigen des Begehrens zwar noch nicht zur Darstellung gebracht, aber bereits angekündigt. Noch bevor der Zuschauer/ Hörer einen Einblick in die Handlungszusammenhänge des Stückes erhält, wird er durch den Nebentext rhythmisch auf das 95 Fischer-Lichte: Der dramatische Dialog, S. 27. 96 Ebd. 97 Vgl. hierzu Erika-Fischer Lichtes Interpretation eines Dialogabschnitts aus Hofmannsthals Fragment Der Tod des Tizian. Die Textpassage, von der ich mich habe inspirieren lassen, lautet: «Obwohl es sich um eine face-to-face-Interaktion handelt, finden sich keine weiteren Charakteristika, die auf Mündlichkeit verweisen würden. Weder wird eine deutliche Rückbindung an die sprechende oder angesprochene Person hergestellt noch an die Situation.» (In: ebd., S. 29). 98 Hier sei ausdrücklich darauf verwiesen, dass nicht nur der zitierte Dialogabschnitt, sondern die gesamte Figurenrede in Feydeaus Stück Merkmale der Mündlichkeit aufweist. 99 Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf: «Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte». In: Romanistisches Jahrbuch, Nr. 36. Berlin/ New York: de Gruyter 1986, S. 15 - 43. 100 Vgl. Fußnote 86 auf S. 136. 101 Zum Strukturprinzip der Wiederkehr vgl. den Abschnitt «Klangwirkung». 141 <?page no="142"?> unerfüllte Begehren eingestimmt. Im Zuge der fortschreitenden Handlung erfährt das Motiv eine Intensivierung, deren Logik folgender Gesetzmäßigkeit unterliegt: Je mehr die Figuren sich in den Reigen des Begehrens hineinziehen lassen, je verzweifelter sie sich in diesen Reigen einzuordnen suchen, desto mehr entgleitet ihnen der Gegenstand ihrer Sehnsüchte, desto mehr entfernen sie sich von der Erfüllung ihres Begehrens. Die weiteren für den Dialogabschnitt relevanten Dimensionen von Mündlichkeit sollen im Folgenden direkt auf den Begriffskatalog der beiden Romanisten zurückgeführt werden, denen zufolge die «Sprache der Mündlichkeit» in erster Linie durch referentielle Nähe, d. h. durch «die gemeinsame Kenntnis des Gesprächsgegenstands» 102 gekennzeichnet ist. Aus der ÜJ geht eindeutig hervor, dass Mongicourt und Étienne der Gesprächsgegenstand «Petypon» vertraut ist. So zeugt beispielsweise die recht trocken anmutende Replik «Er konnte» (21) davon, dass Mongicourt über die «Zweitnatur» Petypons Bescheid weiß. Étiennes Bemerkung, Petypon habe «[g]esoffen wie sechsunddreißig Kesselflicker! » 103 (22) trifft ebenfalls «ins Schwarze», wenn auch aus der «scherzhaften» Ermahnung Mongicourts (23) hervorgeht, dass dieser die Bemerkung des Dieners für distanzlos und daher für unpassend hält. Um die sich anbahnende Verstimmung nicht zu vertiefen, wechselt Étienne sofort «die Fronten» und ergreift für Petypon Partei (24). Diese Beobachtungen lassen sich dahingehend verallgemeinern, dass in der ÜJ - nach dem Vorbild des Originals - ein subtiles Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz vorgeführt wird, das in der ÜB aufgrund der fehlenden «Interferenz zwischen Redetext und Nebentext» nicht in derselben Weise zum Tragen kommt. Ein weiteres «Merkmal der Nähe» ist die emotionale Beteiligung: In der ÜJ lässt sich für Étienne ein relativ hohes, für Mongicourt hingegen ein relativ niedriges Maß an emotionaler Beteiligung nachweisen. So deutet beispielsweise die in der 24. Replik enthaltene szenische Angabe «vivement» darauf hin, dass Étienne in die Defensive geraten ist und sich nun aus der Bredouille zu reden sucht. Was die ÜB anbelangt, so werden diese Unterschiede aufgrund der fehlenden Repliken eingeebnet. Das dritte «Merkmal der Nähe» ist die Synchronizität von Produktion und Rezeption: Es handelt sich hier um eine Nähe-Dimension, die im mündlichen Kontext als selbstverständlich vorausgesetzt wird und in schriftlichen Sprachsituationen unter Aufwand zahlreicher Versprachlichungsstrategien ‹ künstlich › hergestellt werden muss. In der ÜJ, in der die Figuren sich die 102 Blank, Andreas: Literarisierung von Mündlichkeit. Louis-Ferdinand Céline und Raymond Queneau. Tübingen: Narr 1991 (= ScriptOralia 33), S. 13. 103 Die von Jelinek hier gefundene Übersetzungslösung entspricht dem, was in der einschlägigen Literatur als «maximal äquivalentes Übersetzungsresultat» (formale und semantisch-lexikalische Äquivalenz) bezeichnet wird. 142 <?page no="143"?> Repliken wie Bälle zuwerfen, ist die Synchronizität von Produktion und Rezeption gegeben: Jede Replik ist genauestens auf die vorausgehende Äußerung abgestimmt. 104 Anders verhält es sich in der ÜB, in der die Bezüge zwischen den einzelnen Repliken nicht immer eindeutig sind. Der vaudevilleske Effekt, der zu erheblichem Teil auf dem komikgenerierenden Schlagabtausch zwischen den Figuren beruht, wird bei Basel aufgrund unscharfer Kohäsionsmittel merklich abgemildert. Anders als im Original steht hier nicht der reibungslose Ablauf von Produktion und Rezeption im Vordergrund, sondern die intentionalen Veränderungen der Übersetzerin, der es in ihrer Doppelrolle als Übersetzerin und Regisseurin nicht nur um den Text, sondern auch um eigene Akzentsetzungen geht. Die vierte für den Dialogabschnitt relevante Dimension ist die physische Nähe der Kommunikationspartner: Das Merkmal ist an die Voraussetzung parasprachlicher, körperlicher Elemente gebunden. Ein solches Element ist in der ÜJ beispielsweise durch die Regieanweisung «ÉTIENNE: (geht in die Mitte der Bühne, vor dem Tisch vorbei)» gegeben, die eine physische Nähe zwischen dem Diener und Mongicourt herstellt und somit (vorübergehend) die soziale Distanz aufhebt. Dass in der ÜB parasprachliche Elemente kaum eine Rolle spielen, mag auf den ersten Blick vernachlässigenswert sein. Dennoch lässt sich kaum leugnen, dass hier ein wichtiges Merkmal des «Vaudeville» übergangen wird, dessen Bedeutungen einerseits aus der «Interferenz von Redetext und Nebentext» resultieren und andererseits aus Bewegungsabläufen, die ausschließlich im Nebentext beschrieben werden. Aus der Analyse des zweiten Dialogabschnitts ergibt sich somit folgendes Untersuchungsergebnis: Im Unterschied zu Basel, die aus dem Wunsch nach zielkultureller Anpassung auf eine Reihe von Nähe-Merkmalen verzichtet, schenkt Jelinek der von Feydeau inszenierten Dialogizität und Körperlichkeit große Beachtung. Sie trägt damit nicht nur einer medialen Ausprägung Rechnung, die für die Gattung des Vaudeville konstituierend ist, sondern erfüllt auch die in der Poétique du traduire gestellte Forderung, wonach der Übersetzer sich ganz auf den Rhythmus der Mündlichkeit einlassen solle. Insbesondere die den Theaterdialog charakterisierenden rhythmischen Gestaltungen, die nicht der geschriebenen Sprache, sondern einer fingierten Mündlichkeit zuzurechnen seien, dürften - Meschonnic zufolge - im Zuge des Übertragungsaktes nicht einfach übergangen werden. Während Basel mit ihrer Übertragung das Ziel verfolgt, das französische Vaudeville zum 104 Interessanterweise sind unscharfe Kohäsionsmittel für mündliche Sprachsituationen durchaus charakteristisch. Anders verhält es sich mit schriftlichen Sprachsituationen, in denen Mündlichkeit kunstvoll «inszeniert» wird. Hier müssen die Bezüge genauestens aufeinander abgestimmt sein. 143 <?page no="144"?> Bestandteil der deutschen Theaterkultur zu machen, 105 sucht Jelinek - jener fingierten Mündlichkeit eingedenk - die spezifische Wirkungsweise des Vaudeville dadurch zu erhalten, dass sie beim Übertragungsakt vom Primat des Rhythmus ausgeht. Dieses Primat, das mit dem Moment der geschriebenen Mündlichkeit intrinsisch verwoben ist («dans un texte littéraire, c ’ est l ’ oralité qui est à traduire» 106 ), gilt ihr als ureigenste Übersetzungsmaxime, der sich andere Kriterien unterzuordnen haben. Allerdings kann diesem Untersuchungsergebnis noch eine weitere Nuance hinzugefügt werden: So sehr Jelinek dem Moment der Mündlichkeit verpflichtet ist, so sehr ist sie auf den Erhalt einer Theatersprache bedacht, in der einzelne - durch sprachliche Elaboriertheit charakterisierte - Distanz- Merkmale den freien Fluss der Rede unterbrechen. So zeichnet sich in der ÜJ der Nebentext der Replik (17) durch eine höhere syntaktische Integration aus als in der ÜB. Auch der von Jelinek in der Replik (22) herangezogene Vergleich («besoffen wie sechsunddreißig Kesselflicker») weist nicht nur Merkmale umgangssprachlichen («besoffen»), sondern auch distanzsprachlichen Stils auf («Kesselflicker» nimmt Bezug auf die Rahmenhandlung von Shakespeares The Taming of the Shrew, in deren Verlauf ein Kesselflicker nach einer durchzechten Nacht im Hause eines Lords erwacht). Im Ergebnis kann somit festgehalten werden, dass sich Jelinek beim Übersetzen einer mit vielen Farben und Schattierungen versehenen Palette bedient, die von konzeptioneller Mündlichkeit bis zu konzeptioneller Schriflichkeit reicht. Dritter Dialogabschnitt: Replik 25 bis 49 Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (25) MONGICOURT, indiquant le pouf en blanc renversé par terre. Ah! là! là! Qu ’ est-ce que c ’ est que ce pouf! Pas élégant! MONGICOURT: (weist auf den Puff) Oh je! Und was soll dieser Puff vorstellen? Schaut ja nicht sehr elegant aus! ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (26) ÉTIENNE, relevant le pouf et le couvrant du tapis de table qui gît près de là. Oh! c ’ est provisoire! Madame est en train de faire une ÉTIENNE: (stellt den Puff auf und legt das Tischdeckchen wieder drüber) Ach, das ist nur provisorisch! Madame macht ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) 105 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Textadaption und Textübersetzung (Fußnote 60 auf S. 127). 106 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 29. 144 <?page no="145"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL tapisserie pour. Alors, en attendant, on met ce tapis dessus. D ’ un geste circulaire, indiquant tous les meubles en désordre. Non, mais, regardez moi tout ça. gerade eine Stickerei dafür. Bis sie fertig ist, hat sie das Deckerl drübergelegt. (Weist mit einer ausholenden Geste auf die Unordnung ringsum) Also wirklich . . . Schauen Sie sich das an! (27) MONGICOURT, retirant le restant de chapeau du pied de la chaise. Ah! . . . et ça! MONGICOURT: (nimmt den ramponierten Zylinder vom Stuhlbein) Aha! . . . und das? ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (28) ÉTIENNE, prenant le chapeau des mains de Mongicourt. Oh! . . . Un chapeau neuf, Monsieur! ÉTIENNE: (nimmt ihm den Hut aus der Hand) . . . Oh! . . . Ein neuer Hut, Monsieur! ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (29) MONGICOURT On ne le dirait pas! MONGICOURT: . . . Neu würde ich nicht gerade sagen! ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (30) ÉTIENNE, remettant la chaise sur ses pieds. Vraiment, moi qui ai la misebas de Monsieur! Si c ’ est comme ça qu ’ il arrange mes futures affaires! . . . Tout en parlant, il est allé déposer le chapeau sur la table-bureau. ÉTIENNE: (stellt den Stuhl wieder auf die Füße) Und ich hab Anspruch auf die abgelegte Kleidung von Monsieur! So behandelt man meine zukünftigen Sachen! (Im Sprechen geht er den Hut ablegen.) ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (31) MONGICOURT C ’ est pas tout ça! Je voudrais bien voir votre maître; il me semble que ce ne serait pas du luxe de le réveiller à cette heure-ci. MONGICOURT: Wenn es weiter nichts ist! Ich hätte ihren Herrn gern selbst gesehen . . . Mir scheint es nicht unangebracht, ihn um diese Zeit aufzuwecken. Mongicourt: Es scheint mit nicht unangebracht, ihn um diese Zeit zu wecken. 145 <?page no="146"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (32) ÉTIENNE, tout en refermant le parapluie qui est grand ouvert sur la table. Dame, si Monsieur en prend la responsabilité. ÉTIENNE: (schließt den Regenschirm, der geöffnet auf dem Tisch liegt) Allerdings! Aber nur, wenn Monsieur die Verantwortung übernimmt! Étienne: Aber auf Ihre Verantwortung! (33) MONGICOURT, il remonte dans la direction de la baie. Je la prends. MONGICOURT: (er geht auf den Durchgang zu) Ich übernehme. Mongicourt: Auf meine Verantwortung. (34) ÉTIENNE, remontant rejoindre Mongicourt à la baie. Soit! . . . Mais alors avec des bruits normaux. ÉTIENNE: (geht ihm nach) Na gut . . . Aber bitte nur mit normalem Geräusch. Étienne: Aber ich darf ihn nur mit sanften Tönen wecken, durch Singen zum Beispiel! (35) MONGICOURT, blageur. Qu ’ est-ce que vous entendez par des bruits normaux? MONGICOURT: (scherzend) Was verstehen Sie denn unter normalem Geräusch? ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (36) ÉTIENNE C ’ est Monsieur qui les appelle comme ça. C ’ est, par exemple, de ne pas aller lui tirer un coup de canon dans les oreilles. ÉTIENNE: Monsieur nennt das so. Das heißt, daß man nicht beispielsweise einen Kanonenschuß an seinem Ohr abfeuern soll. ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (37) MONGICOURT, même jeu. Je vous assure que je n ’ ai pas l ’ intention . . . MONGICOURT: (wie vorhin) Ich versichere Ihnen, daß das nicht meine Absicht ist! . . . ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (38) ÉTIENNE Mais, au contraire, de le réveiller petit à petit; par des bruits doux et progressifs, en chantonnant, par exemple! . . . Nous pourrions chantonner, Monsieur? ÉTIENNE: Sondern ihn im Gegenteil ganz langsam, nach und nach aufweckt . . . und zwar durch leise, sich langsam steigernde Geräusche, wie beispielsweise durch ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) 146 <?page no="147"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL Gesang! . . . Wir könnten vielleicht singen, Monsieur? (39) MONGICOURT, bon enfant. Si vous voulez. MONGICOURT: (gutwillig) Wenn Sie wollen . . . ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (40) ÉTIENNE D ’ abord doucement, et puis en augmentant. ÉTIENNE: Zuerst leise, sodann anschwellend. ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (41) MONGICOURT, blageur. Il n ’ y a pas un air spécial? MONGICOURT: (scherzend) Es muß nicht eine besondere Melodie sein? Mongicourt: Durch Singen! Hat er da einen speziellen musikalischen Wunsch? (42) ÉTIENNE Non! par exemple, tra, la, la, la, la, la. Il chantonne l ’ air de Faust: «Paresseuse fille.» ÉTIENNE: Nein! Zum Beispiel tra la la la la . . . (Er singt eine Melodie aus dem FAUST: «Paresseuse fille».) Étienne: Nein, ich dachte an: . . . (43) MONGICOURT, souriant. Tiens, vous connaissez ça? MONGICOURT: (lächend) . . . He, das kennen Sie . . . ? Mongicourt: Ach, das kennen Sie? (44) ÉTIENNE, avec indulgence. C ’ est le seul air que joue Madame au piano, alors, à force de l ’ entendre! . . . ÉTIENNE: (nachsichtig) Es ist die einzige Melodie, die Madame am Klavier spielen kann . . . Mit der Zeit lernt sich das! Étienne: Zwangsläufig . . . Es ist das einzige, was Madame auf dem Klavier spielen kann, und mit der Zeit geht das ins Ohr! (45) MONGICOURT, remontant jusqu ’ à la tapisserie qui ferme la baie. Et bien! . . . Allons-y! Justement c ’ est un air matinal! . . . MONGICOURT: (geht zum Vorhang, der die Wandöffnung abschließt) Na schön! Dann los! . . . Immerhin ist das eine passende Morgenmelodie . . . Mongicourt: Also! Los, singen Sie! 147 <?page no="148"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (46) ÉTIENNE, qui a suivi Mongicourt. Doucement pour commencer, hein! ÉTIENNE: (der ihm gefolgt ist) Am Anfang ganz leise, ja? ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (47) MONGICOURT Entendu! Entendu! MONGICOURT: Schon gut! Schon gut! ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (48) MONGICOURT et ÉTIENNE, entonnant à l ’ unisson. Paresseuse fille Qui sommeille encor, Déjà le jour brille, Sous son manteau d ’ or. Tralala lalalaire Tralala lala. MONGICOURT und ÉTIENNE: (Beide beginnen leise zu singen - wenn ihnen der Text ausgeht auf «tralala» - und steigern sich langsam zu voller Lautstärke.) Mongicourt und Étienne: Tra la la, la la la. (49) ÉTIENNE, chanté à Mongicourt. Moi, j ’ sais pas les paroles. Alors je chant ’ l ’ air. Tralala lalalaire Tralala lala . . . ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) Ich kann keinen Text, ich sing immer nur: la la . . . Was in dieser Passage vorgeführt wird, ist die Variation eines beliebten Komödienmotivs: der Rollentausch zwischen Diener und Herr. Doch anders als zum Beispiel in Shakespeares The Taming of the Shrew (Der Widerspenstigen Zähmung) büßen Herr und Diener ihre Rollen nicht über den Kleiderwechsel, sondern ausschließlich über die sprachliche Ebene ein. Der zu Beginn des Dialogabschnitts angeschlagene Plauderton gleitet zunehmend in einen Diskurs über, in dem der Diener das Zepter übernimmt und der Herr die neue Ständeordnung «nachsichtig-lächelnd» anerkennt. Dabei vollzieht sich dieser Rollentausch graduell, in einer für den Zuschauer fast unmerklichen, indirekten Weise. Vor allem das deutschsprachige Publikum, das die französische Konversationskultur zuweilen als «Leerlauf», 107 als «fundamentale Belanglosig- 107 Der Begriff wurde einer Rezension entnommen, die unter folgender bibliographischer Angabe zu finden ist: Langhoff, Thomas: «Wie man Hasen jagt» von Georges Feydeau am Deutschen Theater Berlin. Regie Thomas Langhoff. In: Neues Deutschland [Berlin] 24. 08. 1998 (http: / / www.berliner-schauspielschule.de/ hasen.htm, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). Auch die Berliner Zeitung nimmt eine kritische Haltung ein, wenn sie schreibt, 148 <?page no="149"?> keit» 108 empfindet, dürfte angesichts der vielen, nichtendenwollenden Windungen im subtilen Schlagabtausch zwischen Étienne und Mongicourt von den Vorteilen einer radikalen Strichfassung überzeugt sein. Basel jedenfalls scheint mit ihrer Version für diese Überzeugung eintreten zu wollen: Sie tilgt nämlich in konsequenter Weise nicht nur einen Großteil des Nebentextes, sondern auch all jene «aus ihrem Handlungsbezug entzogenen Dialoge,» 109 deren Komik sich dem deutschsprachigen Zuschauer erst auf den zweiten Blick enthüllt. Während sich in der ÜJ die dem Original entlehnte Wiederholungsstruktur verdichtet und die enge Gegenständlichkeit von Feydeaus Bühne (Puff, Regenschirm . . .) ihre äquivalente Entsprechung findet, sucht Basel die als fremd empfundenen Konversationsmuster an die deutschen Gesprächsgepflogenheiten anzupassen. Auf diese Weise werden die zwischen Frankreich und Deutschland bestehenden Differenzen in der Perzeption von dramatischen Sprechsituationen eingeebnet und dem Zielpublikum nahe gebracht. Jelinek hingegen bleibt ihrer übersetzerischen Devise treu, wonach kulturelle Unterschiede nicht als Vorwand dafür dienen dürfen, auf die Übertragung der den Ausgangstext charakterisierenden Sprechbewegung zu verzichten. Umso erstaunlicher mutet ihre übersetzerische Entscheidung an, das von Étienne angestimmte Lied aus Charles Gounods Oper Faust nicht zu übertragen und die parodistische Wirkung lediglich durch einen Hinweis im Nebentext zu erzielen. So lautet bei Jelinek die Replik (48): «MONGICOURT und ÉTIENNE: (Beide beginnen leise zu singen - wenn ihnen der Text ausgeht auf «tralala» - und steigern sich langsam zu voller Lautstärke.)» Warum verzichtet die Autorin auf die Übertragung des Liedtextes, obwohl in der OF der intertextuelle Zusammenhang eindeutig über den Text hergestellt wird? Zur Beantwortung dieser Frage sollen im Folgenden Hypertext (Originalfassung Feydeau) und Hypotext (Liedtext aus der 1. Szene von Gounods Oper) einander gegenübergestellt und hernach einer intertextuellen Analyse unterzogen werden: dass die Inszenierung von Thomas Langhoff am Deutschen Theater in Berlin «etwas großartig Gediegenes, um nicht zu sagen etwas Konservierendes» ausstrahlt. Vgl. hierzu: Friedrich, Detlev: Gemütliche Bürgerhölle. Neu im Deutschen Theater: Thomas Langhoff inszeniert Georges Feydeau. In: Berliner Zeitung [Berlin] 22. 08. 1998 (http: / / www.berlinonline.de/ berliner-zeitung/ archiv/ .bin/ dump.fcgi1998/ 0822/ feuilleton/ 0058/ index.html, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 108 Ebd.: Der Ausdruck ist der Rezension im Neuen Deutschland entnommen. 109 Pfister: Das Drama, S. 170. 149 <?page no="150"?> Hypertext (Feydeau) Hypotext (Gounod) MONGICOURT et ÉTIENNE, entonnant à l ’ unisson. (1) Paresseuse fille (2) Qui sommeille encor, (3) Déjà le jour brille, (4) Sous son manteau d ’ or. (5) Tralala lalalaire (6) Tralala lala. Choeur (1) Ah! Paresseuse fille (2) Qui sommeille encor! (3) Déjà le jour brille (4) Sous son manteau d ’ or; (5) Déjà l ’ oiseau chante (6) Ses folles chansons; (7) L ’ aube carressante (8) Sourit aux moissons; (9) La fleur s ’ ouvre au jour, (10) Toute la nature (11) S ’ éveille à l ’ amour. 110 Der Kern der Veränderung betrifft die Zeilen 5 bis 11. Während der Hypotext einen auf erotische Naturerfahrung ausgerichteten Faust beschreibt, den die Sinnenwelt mit neuer Verheißung lockt, werden im Hypertext die einschlägigen Zeilen durch ein reichlich prosaisch anmutendes «Tralala» ersetzt. Dieses der Timbre-Praxis des Vaudeville entlehnte Verfahren ist - der Begrifflichkeit Genettes folgend - im Bereich der satirischen Hypertextualität anzusiedeln. Indem der Hypertext das Thema des Hypotextes (Lockungen der Sinnenwelt) beibehält und gleichzeitig den Stil transformiert, weist er sich als Travestie aus. Dabei nimmt die von Feydeau vorgenommene Adaption das Unerfülltsein erotischen Sehnens vorweg, das dem Getriebensein Petypons wenn nicht eine tragische, so doch eine groteske Komponente verleiht. Seine komische Wirkung bezieht der Hypertext zusätzlich dadurch, dass die erste Zeile («Paresseuse fille») einen versteckten Hinweis auf Crevette darstellt, die in wenigen Augenblicken erwachen wird. Was Jelinek anbelangt, so verzichtet sie nur scheinbar auf diesen Bedeutungszuwachs. Zu ihren Überzeugungen gehört, dass der Zuschauer nicht unterfordert, dass ihm der intertextuelle Zusammenhang nicht «mundgerecht aufgetischt» werden darf - eine Gefahr, die ihrer Meinung gegeben wäre, wenn sich im deutschen Zieltext die parodistische Spannung über Musik und Text entfaltete. Tatsächlich besteht bei deutschsprachigen Zuschauern ein besonderes Verhältnis zu Vertonungen der Faust-Thematik. Anders als in Frankreich zeichnen sich die einschlägigen deutschen Kompositionen durch einen Verzicht auf die dra- 110 Barbier, Jules/ Carré, Michel: Livret de l ’ Opéra «Faust» de Charles Gounod d ’ après la pièce «Faust et Marguerite» de Carré, elle-même tirée du «Premier Faust» de Goethe. In: Opernführer. The virtual opera house [Bern] ohne Datumsangabe (http: / / www.impresario.ch/ libretto/ libgoufau_f.htm, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 150 <?page no="151"?> matisierte Wiedergabe aus. Als Beispiel sei die achte Symphonie Gustav Mahlers genannt, die - Otto Brusatti zufolge - zur Kantate [geriet], zur auskomponierten Darstellung menschlicher Erlösung, zur Auferstehungsmusik ähnlich jener aus seiner II. Symphonie. Die Goethe-Rezeption der großen Komponisten hat sich [. . .] zur oratorialen Konzertmusik hin entwickelt; und ebenso verlagerten sich die Schwerpunkte bei der Auswahl aus den beiden Faust-Teilen von der menschlichen Tragödie Faustens und Gretchens zum Mystizismus des Schlusses. 111 Aus diesem Zitat lässt sich schließen, dass der deutschsprachige Zuschauer zu den Faust-Vertonungen «quasi automatisch» gewisse Assoziationen zu den Themenkomplexen «menschliche Erlösung», «Auferstehung», «Mystizismus» herstellt. Zwar decken sich diese Begriffe nicht mit dem Motiv des Hypotextes (Lockungen der Sinnenwelt), doch geht es beidesmal um die «Erlösung» aus einer als untragbar empfundenen Existenz. Anders formuliert: Indem Jelinek die parodistische Spannung über das Medium «Musik» herstellt, indem sie Assoziationsketten zur «Erlösungsprophetie» herstellt, gelingt es ihr, auf indirekte Weise die intertextuellen Verweise des Ausgangstextes äquivalent zu übertragen. Ein weiteres Kennzeichen der ÜJ besteht darin, dass der Fokus auf das Gespräch um des Gespräches willen gerichtet wird. In dem Bewusstsein, dass die Unbezogenheit der Rede auf die Handlung eine spezifische, für die Gattung des Vaudeville konstituierende Komik produziert, übersetzt Jelinek alle Repliken des Dialogs und rekonstruiert somit ein absurd anmutendes Gespräch, das seine Bedingung in sich hat und nicht in dem für den Zuschauer sichtbaren Geschehen. Die hierfür verwendeten Mittel sind einer Form der Sprachkomik entlehnt, die in der französischen Literaturgeschichtsschreibung als «marivaudage» bezeichnet wird. Dieser Begriff weist auf «eine Sprache hinter dem Sprechen» hin, auf ein subtiles Versteckspiel, das Marivaux als Hauptmovens seines Schreibens galt und das es vom Zuschauer/ Hörer zu erfassen, aufzudecken gilt. Eine genaue Definition erfährt der Begriff bei Frédéric Deloffre: Marivauder, c ’ est jouer avec des mots, mais en jouer de façon sérieuse [. . .]. Car le devoir de sincérité est essentiel aux yeux de Marivaux [. . .]. Or ce problème moral, transposé sur le plan littéraire, se réduit à un problème d ’ expression. Avouer ce que l ’ on ne veut pas s ’ avouer, exprimer ce que personne n ’ a jamais su exprimer auparavant, tels sont les deux aspects fondamentaux du marivaudage. 112 Dass Jelinek die Implikationen des «marivaudage» ausnahmslos übersetzt, dass sie die Art der Rhythmisierung nachempfindet, die diesen Implikationen 111 Brusatti, Otto: Faust und Musik. In: Brusatti, Otto: Ausgesuchtes - Geschriebenes («mystisch - bukolisch - gelangweilt»). Wien: Böhlau 2008, S. 73 - 86, S. 80. 112 Deloffre, Frédéric: Une préciosité nouvelle. Marivaux et le marivaudage. Genève: Slatkine 1993 (= Références 18), S. 8. 151 <?page no="152"?> innewohnt, ist insofern gesondert zu betonen, als sie sich offenbar mit einem Autor identifiziert, der - ähnlich wie sie - den Gedanken ablehnt, wonach Sprache als «Kleid» eines Gedankens, als Spiegel der Wirklichkeit zu verstehen sei. Feydeau und Jelinek ist die Überzeugung gemein, dass der Logos unter dem Kleid bleiben muss, dass er allenfalls antinarrativ, die Möglichkeit der «grande histoire» bestreitend, eingesetzt und nicht zu mimetischen Zwecken «missbraucht» werden darf. Vor diesem Hintergrund lässt sich die berühmte Passage aus Jelineks Prosatext Sinn egal. Körper zwecklos 113 auch auf die Stücke Feydeaus übertragen. Dem Ideal des Vaudevillisten entspricht nämlich ebenfalls die Vorstellung, dass Sprache unter dem Kleid bleibt. Da ist, aber sich nicht vordrängt, nicht vorschaut unter dem Kleid. Höchstens daß sie eine gewisse Standhaftigkeit verleiht dem Kleid, das aber, wie jenes des Kaisers, wieder verschwindet, wie Rauch zerfließt (obwohls eben noch da war), um Platz zu machen für ein anderes, neues. Wie unter dem Pflaster der Strand, so unter dem Pflaster die nie heilende Wunde Sprache. 114 Die auf die klassische Rhetorik zurückgehende metaphorische Rede vom Kleid der Worte bedeutet eine Ablehnung des instrumentalen Charakters der Sprache. Mit der Forderung, Sprache möge unter dem Kleid bleiben (sozusagen als «Unterrock»), wird die «Kleiderfunktion» des Logos gleichsam zurückgenommen: Zwischen dem Gedanken und seinem Ausdruck steht wohl noch immer das Element der Sprache (es verleiht dem Gedanken eine gewisse «Standhaftigkeit»), aber es dient nicht mehr der kognitiven Erschließung der Erscheinungen. Die Sprache als Abbild der sinnlich erfahrbaren Welt ist eine Vorstellung, die weder der Sichtweise Feydeaus noch derjenigen Jelineks gerecht wird. Eher trifft die Auffassung zu, dass dem Logos ein ‹ bescheideneres › Auftreten ziemt, dass er lediglich ein Element darstellt, mit dem sich die Welt erschließen lässt. Sprache und Denken sind zwar nach wie vor miteinander verbunden, doch hat der Logos keinerlei ‹ Sonderrechte › mehr, er hat in Zeiten, die sich bevorzugt mit Mehrdeutigkeiten, Brüchen und Konflikten befassen, seine Funktion als absoluter Wahrheitsmittler eingebüßt. Aus diesen Ausführungen ergibt sich als markantester Befund, dass Jelinek bei der Übertragung des Ausgangstextes einen gesteigerten Wert darauf legt, «die Gliederung der Rede durch den Rhythmus» 115 zu reproduzieren. Die Konsequenzen ihres Vorgehens sind weitreichend, führt doch ihre Version «die Interdependenz zwischen Rhythmus und Sinn» 116 vor Augen. Dass die aus dem Rhythmus des Originals nachempfundenen «Sinn- 113 Jelinek, Elfriede: Sinn egal. Körper zwecklos. [1997]. In: Homepage Elfriede Jelinek 1997 (http: / / www.elfriedejelinek.com, über die Rubrik «zum Theater», zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 114 Ebd. 115 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 94. 116 Ebd., S. 95. 152 <?page no="153"?> effekte» 117 beim Zielpublikum auf kulturspezifische Verständnisschwierigkeiten stoßen, wird von Jelinek in Kauf genommen. In der ÜB hingegen werden die Besonderheiten der französischen Konversationskultur durch Rekurs auf einbürgernde Übersetzungsstrategien eingeebnet. Basels Vorgehensweise steht somit im Widerspruch zu der Überzeugung Jelineks, wonach der Literarizität eines Textes ausschließlich durch die Auseinandersetzung mit dem schlechthin Ungewohnten beizukommen ist. Ihr geht es um einen rezipientenorientierten Text, der dem Zuschauer die Vorstellung suggerieren soll, der Autor sei ein Vertreter des zielsprachlichen Kulturfeldes. Dass diese Vorgehensweise die Streichung von Passagen nach sich zieht, die Einblick in den Funktionsmechanismus des Vaudeville gewähren, betrachtet Basel als unvermeidlichen Nebeneffekt, der gegenüber den Vorteilen der einbürgernden Übersetzung nicht weiter in die Waagschale fällt. Vierter Dialogabschnitt: Replik 50 bis 70, Replik 79 bis 94 Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (50) MONGICOURT, imposant silence à Étienne qui continue à chanter. Chut! (Plötzlich hört man ein dumpfes Grunzen aus man weiß nicht welcher Ecke.) Mongicourt: Pscht! (51) ÉTIENNE laire . . . Quoi? ÉTIENNE: (unterbricht seinen Gesang) Was? Étienne: Trala . . . Was ist? (52) MONGICOURT J ’ ai entendu comme un grognement d ’ animal. MONGICOURT: Ich habe etwas wie das Knurren eines Tieres gehört. Mongicourt: Ich hab da eben einen merkwürdigen animalischen Laut gehört. (53) ÉTIENNE, en homme renseigné. C ’ est Monsieur qui se réveille. ÉTIENNE: (wissend) Das ist Monsieur, wenn er aufwacht. Étienne: Animalisch? Das ist Monsieur. Da wacht er auf. (54) MONGICOURT Ah? Bon! . . . MONGICOURT: So? Gut! Mongicourt: So? Na schön. 117 Ebd., S. 94. 153 <?page no="154"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (55) VOIX DE PETYPON, toujours invisible du public, - grognement - . Hoon! STIMME PETYPONS: (der immer noch nicht zu sehen ist, grunzend) Uaaarrr! Petypons Stimme: Huaah! (56) MONGICOURT, appelant à mi-voix et dans la direction de la chambre du docteur. Petypon! MONGICOURT: (ruft halblaut in Richtung des Zimmers des Doktors) Petypon! Mongicourt: He! Petypon! (57) ÉTIENNE, appelant de même. Monsieur! ÉTIENNE: (ebenso) Monsieur! Étienne: Monsieur! MONGICOURT Hé! Petypon! MONGICOURT: He! Petypon! ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (59) VOIX DE PETYPON, nouveau grognement. Hoon? STIMME PETYPONS: (wie vorhin) Uarrr? Petypons Stimme: (wie vorhin) Huaah? (60) MONGICOURT, dos au public. Eh! ben, mon vieux! ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (61) VOIX DE PETYPON Hoon? ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (62) MONGICOURT Tu ne te lèves pas? MONGICOURT: Stehst du denn gar nicht mehr auf? Mongicourt: Na, komm schon, Alter! Willst du nicht endlich aufstehn? (63) VOIX DE PETYPON, ensommeillée. Quelle heure est-il? STIMME PETYPONS: (schläfrig) Wie spät ist es denn? Petypons Stimme: Wie spät ist es? (64) MONGICOURT, se retournant. Ah ça! Mais! . . . on dirait que la voix ne vient pas de la chambre . . . MONGICOURT: (dreht sich um) Na sowas! . . . Also . . . man könnte fast glauben, die Stimme kommt gar nicht aus seinem Zimmmer . . . Mongicourt: Komisch . . . das klingt so, als ob die Stimme gar nicht von da hinten käme . . . 154 <?page no="155"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL (65) ÉTIENNE, avec un geste du pouce par-dessus l ’ épaule. C ’ est vrai! Ça sort comme qui dirait de notre dos. Il se retourne. ÉTIENNE: (mit dem Daumen über die Schulter zeigend) Das stimmt! Sie kommt von ungefähr da hinten! (Er dreht sich um) Étienne: Stimmt, als ob er hinter uns wäre. (Er dreht sich um.) (66) MONGICOURT, cherchant des yeux autour de lui. Où es-tu donc? MONGICOURT: (blickt um sich) Wo bist du denn? Mongicourt: Wo steckst du denn? (67) VOIX DE PETYPON, endormi et bougon. Hein? Quoi? Dans mon lit! STIMME PETYPONS: (schläfrig) Was? In meinem Bett! Petypons Stimme: Na wo? In meinem Bett (68) MONGICOURT, indiquant le canapé. Mais c ’ est de là-dessous que ça sort. MONGICOURT: (zeigt aufs Sofa) Aber das kommt ja von hier drunter! Mongicourt: (zeigt auf die umgestülpte Bank) Das kommt von da unten! (69) ÉTIENNE et MONGI- COURT, ahuris. Ah! ÉTIENNE und MONGI- COURT: (verblüfft) Ha! ! Étienne: Ja, wirklich! (Sie stürzen zur Bank und stellen sie so auf, daß die Rückenlehne parallel zum Boden ein «Dach» über Petypon bildet.) Ah! (70) MONGICOURT Et bien! qu ’ est ce que tu fais là? Petypon ouvre les yeux, tourne la tête de leur côté et les regarde d ’ un air abruti. Mongicourt, pouffant, ainsi qu ’ Étienne. Ah! ah! ah! Elle est bien bonne! MONGICOURT: Sag mal! Und was machst du da? (Petypon öffnet die Augen, wendet den Kopf in Richtung der beiden, die in schallendes Gelächter ausbrechen, und betrachtet sie verblüfft.) Ha! Ha! Ha! Na, der ist gut! Mongicourt: Was machst du da? (79) PETYPON, rageur, se débattant sous le canapé. Qu ’ est-ce que c ’ est que cette plaisanterie? Qui est- PETYPON: (wütend, sich unter dem Sofa windend) Was soll denn der Blöd- ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) 155 <?page no="156"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL ce qui m ’ a mis ce canapé sur moi? sinn! Wer hat das Sofa auf mich gelegt? (80) MONGICOURT, relevant à moitié le canapé. Tu ferais mieux de demander qui t ’ a mis dessous. MONGICOURT: (hebt das Sofa ein wenig an) Du solltest dich besser fragen, wer dich daruntergelegt hat! Mongicourt: Die Frage ist eher: Wer hat dich druntergelegt? (81) PETYPON Allons, retiremoi ça. On relève complètement le canapé, contre lequel Petypon, qui s ’ est remis sur son séant, reste adossé, l ’ air épuisé. Oh! que j ’ ai mal à la tête. PETYPON: Los doch, nimm mir das ab! (Das Sofa wird endlich entfernt. Petypon, der sich wieder in sitzende Stellung hochgearbeitet hat, lehnt sich erschöpft dagegen) Oooh! Tut mir der Kopf weh! Petypon: Mein Gott! hab ich einen Brummschädel! (82) MONGICOURT, qui a fait le tour du canapé, redescendant extrême gauche et allant s ’ asseoir sur le canapé. Aha! C ’ est bien ça! MONGICOURT: (der einmal ums Sofa herumgekommen ist, kommt von ganz links wieder zurück und setzt sich auf das Sofa) Aha! Da haben wir ’ s! Mongicourt: Das kann ich mir vorstellen. (83) PETYPON, tout en se frottant les yeux, d ’ une voix lamentable. Est-ce qu ’ il fait jour? PETYPON: (reibt sich die Augen, mit erbarmungswürdigem Ton) Ist es schon Tag? Petypon: Ist es schon hell? (84) MONGICOURT, blagueur. Oui! Un temps. Encore un peu. Un temps. Mais, dépêche-toi, si tu veux en profiter. MONGICOURT: (scherzend) Ja (Pause) Noch ein wenig . . . ! (Pause) Beeil dich, wenn du noch was davon haben willst! Mongicourt: Schon? . . . Gerade noch. (85) PETYPON, se prenant la tête lourde de migraine. Oh! la, la, la, la! A Mongicourt. Ah! mon ami! PETYPON: (hält den Kopf in beiden Händen, wie von Migräne geplagt) Oh je oh je oh je oh je! (zu Petypon: (hält sich den schmerzenden Kopf) Oh Gott, o Gott! 156 <?page no="157"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL Mongicourt) Ach! Mein Freund! (86) MONGICOURT Ah! oui! il n ’ y a pas d ’ autre mot! MONGICOURT: Ach ja! Anders kann man ’ s wohl nicht ausdrücken. ( . . . . . . . . . . . . . . . . . . ) (87) ÉTIENNE, descendant à droite du canapé. Monsieur veut-il que je l ’ aide à se lever? ÉTIENNE: (geht zur rechten Seite des Sofas) Wünscht Monsieur, daß ich ihm beim Aufstehen behilflich bin? Étienne: Darf ich Monsieur beim Aufstehen helfen? (88) PETYPON, à part, sur un ton vexé. Étienne! PETYPON: (beiseite, verärgert) Étienne! Petypon: Warum? (89) ÉTIENNE Monsieur n ’ a pas l ’ intention de rester toute la journée par terre? ÉTIENNE: Monsieur hat nicht etwa vor, den ganzen Tag auf dem Fußboden zu verbringen? Étienne: Monsieur wird doch nicht die Absicht haben, den Rest des Tages so zu verbringen? (90) PETYPON Quoi «par terre»? Si ça me plaît d ’ y être? Je m ’ y suis mis exprès tout à l ’ heure! . . . Parce que j ’ avais trop chaud dans mon lit! Ça me regarde! PETYPON: Was heißt «auf dem Fußboden»? Und wenn es mir Spaß macht? Ich hab mich extra dahin gelegt! . . . Weil ’ s mir in meinem Bett zu heiß war! Wen geht ’ s was an? Petypon: Warum nicht? Wenn es mir Spaß macht! Wen geht ’ s was an, wo ich liege! (91) ÉTIENNE, bien placide. Ah oui, Monsieur! A part. Seulement c ’ est une drôle d ’ idée. Il ramasse la redingote de Petypon qui traînait par terre. ÉTIENNE: (sanftmütig) Aber ja, Monsieur! (beiseite) Nur . . . eine komische Idee ist es in jedem Fall! (Er hebt den Gehrock Petypons auf, der auf dem Boden gelandet ist. Étienne: Gewiß, Monsieur. (92) PETYPON, se levant péniblement, aidé par Mongicourt. Et maintenant, je me lève parce que ça me plaît PETYPON: (steht mühsam auf, gestützt von Mongicourt) Und jetzt steh ich eben auf, weil es Petypon: Und jetzt steh ich auf, weil es mir Spaß macht aufzustehen! Oder 157 <?page no="158"?> Originalfassung FEYDEAU Übertragung JELINEK Übertragung BASEL de me lever! Je suppose que je n ’ ai pas besoin de vous demander la permission? mir so gefällt! Ich hoffe doch nicht, daß ich Sie deswegen um Erlaubnis fragen muß! muß ich Sie erst um Erlaubnis fragen? (93) ÉTIENNE, tout en secouant la redingote. Oh! non Monsieur! A part. Ce qu ’ il est grincheux quand il couche sous les canapés. Il met la redingote sur le bras du canapé. ÉTIENNE: (schüttelt den Gehrock aus) Aber nein, Monsieur . . . ! (beiseite) Wie schlecht gelaunt der immer ist, wenn er unter einem Sofa schläft! (Er legt den Gehrock über die Armlehne des Sofas) Étienne: Aber nein, Monsieur! (94) PETYPON, maugréant, à Mongicourt. C ’ est assomant d ’ être vu par son domestique dans une position ridicule. Sans transition. Oh! que j ’ ai mal à la tête! Il se prend la tête. PETYPON: (schimpfend zu Mongicourt) Es ist entwürdigend, von seinem Diener in einer so lächerlichen Lage gesehen zu werden! (ohne Übergang) Oh, hab ich Kopfweh! (Er hält sich den Kopf) Petypon: Mein Gott! Hab ich einen Kopf! Wenn man von der Annahme ausgeht, dass Jelinek das Übersetzungsziel verfolgt, die «Gliederung der Rede durch den Rhythmus» 118 in der Zielsprache zu reproduzieren, wenn man sich auf die Prämisse Meschonnics besinnt, wonach sich die «Bedeutungsweise,» 119 die «semantische Organisation jeder Äußerung» 120 aus der rhythmischen Gliederung der Sätze ergibt, dann fällt auch im Hinblick auf den vierten Dialogabschnitt auf, dass die in der ÜJ enthaltenen Äußerungsakte die gleiche Wirkung erzielen wie in der OF. Während die rezipientenorientierte Version Basels «das Unbekannte des Rhythmus» 121 an die Spracherwartungen in der Zielkultur anpasst, zeugt die ÜJ von einem Hören, das den zwischen den Wörtern bestehenden Sinnbewegungen nachspürt. Dies lässt sich beispielsweise anhand der Replik (84) 118 Ebd. 119 Ebd., S. 81. 120 Ebd., S. 86. 121 Ebd., S. 275. 158 <?page no="159"?> nachweisen, die durch die beiden Intervalle des Nebentextes rhythmisiert wird: (J) MONGICOURT: (scherzend) Ja (Pause) Noch ein wenig . . . ! (Pause) Beeil dich, wenn du noch was davon haben willst! » Durch die Steigerung der Zäsurmerkmale (Pausenangabe, Auslassungspunkte, Ausrufezeichen) zerfällt der Äußerungsakt in drei Teile und erzeugt somit den Eindruck merklicher Bewegung. Ein weiterer rhythmischer Effekt ist dadurch gegeben, dass die Länge der einzelnen Satzblöcke zunimmt (1 Silbe, Pause/ 4 Silben, Auslassungspunkte, Ausrufezeichen, Pause/ 12 Silben, Ausrufezeichen) und somit eine «rhythmische Vergrößerungsbewegung,» 122 ein performatives Moment der Beschleunigung entsteht, das eine von der Hauptfigur erlebte Zeiterfahrung vorwegnimmt: das Gefühl des völligen Ausgeliefertseins angesichts eines erbarmungslos voranschreitenden Zeittaktes, angesichts der Wucht der sich überstürzenden Ereignisse. Das Ausgeliefertsein wird zusätzlich dadurch versinnbildlicht, dass die Hauptfigur zwar auf der Bühne präsent ist, aber weder von den beiden anderen Figuren noch vom Publikum gesichtet wird. Erst nachdem Petypon zu wiederholten Malen ein animalisches Grunzen von sich gegeben hat, gelingt es Mongicourt und Étienne, ihn in seinem Versteck aufzustöbern. Dieses Grunzen, das dem «Knurren eines Tieres» (52) gleicht, birgt ein hohes komisches Potenzial, das jedoch in der ÜJ und in der ÜB mit unterschiedlichen Bedeutungen behaftet ist. Zwar stehen das «Uaaarrr! » (ÜJ) und das «Huaah! » (ÜB) beide für die instinkthafte Energie, für die ungezähmten Leidenschaften, die Petypon im Laufe der Handlung zum Verhängnis werden sollen, doch wird dieses Lustprinzip bei Basel direkt versprachlicht (53), während Jelinek - nach dem Vorbild des Originals - im Suggestiven bleibt. Ihr geht es offenbar um die Umsetzung eines ehernen Gesetzes des Vaudeville, wonach die Suggestion zugleich deutlich und diskret sein muss. Nicht umsonst heißt es in Bergsons berühmter Abhandlung über das Lachen: Il faut que cette suggestion soit nette, et que nous apercevions clairement, comme par transparence, un mécanisme démontable à l ’ intérieur de la personne. Mais il faut aussi que la suggestion soit discrète, et que l ’ ensemble de la personne, où chaque membre a été raidi en pièce mécanique, continue à nous donner l ’ impression d ’ un être qui vit. 123 Im Unterschied zu Jelinek scheint Basel die Auffassung zu vertreten, dass die Komik Feydeaus der Erläuterung bedarf, dass sie also nicht diskret, sondern explizit zu sein hat. Indem jedoch die ÜB die Figur Petypons auf den 122 Ebd., S. 294. 123 Bergson, Henri: Le rire. Essai sur la signification du comique. [1900]. Paris: PUF 2007, S. 73 - 74. 159 <?page no="160"?> animalischen Aspekt fixiert, kommen andere Charakterzüge, die im Original eine ebenso wichtige Rolle spielen, nur ansatzweise zur Geltung. So ignoriert Basel beispielsweise den bürgerlichen Stolz, der in dem Eingeständnis Petypons zum Ausdruck kommt, dass es für einen honorigen Vertreter seines Standes peinlich ist, «von seinem Diener in einer so lächerlichen Lage gesehen zu werden» (94). Doch gerade dieses Eingeständnis ist notwendig, um zu verstehen, warum Petypon seinem Diener gegenüber ein derart gereizt-impulsives Verhalten an den Tag legt. Was Jelinek anbelangt, so bleibt sie hinsichtlich der Charakterzeichnung und der Gestaltung von Komik dem Vorbild Feydeaus verpflichtet: Sie gibt dem Zuschauer klare Anhaltspunkte für die Stimmungsschwankungen der Hauptfigur und intensiviert die komische Wirkung dadurch, dass sie zwischen den Gemütszuständen Petypons hin und her pendelt. Als Beispiel möge die bereits zitierte Replik aus der ÜJ dienen, in der zwei Sätze «ohne Übergang» nebeneinander stehen: «Es ist entwürdigend, von seinem Diener in einer so lächerlichen Lage gesehen zu werden! (ohne Übergang) Oh, hab ich Kopfweh! » (94). Das komische Prinzip, das dieser Replik innewohnt, hat Bergson als Interferenz der Serien bezeichnet. Zwar lässt sich - wie der französische Denker einräumt - deren komischer Effekt nur schwer auf eine Formel bringen, doch scheint mit folgender Definition zumindest der Grundmechanismus umschrieben zu sein: «Une situation est toujours comique quand elle appartient en même temps à deux séries d ’ événements [. . .] indépendantes, et qu ’ elle peut s ’ interpréter à la fois dans deux sens tout différents.» 124 Wenn man Bergsons Definition auf obigen Dialogabschnitt überträgt, dann ergibt sich eine erste Ereignisreihe dadurch, dass Petypon in Selbstmitleid zerfließt, und eine zweite dadurch, dass er verzweifelt versucht, das Gesicht zu wahren. Der Zuschauer ist über beide Ereignisketten im Bilde und bezieht aus diesem Überlegenheitsgefühl ein besonderes Vergnügen. Hierzu Bergson: «Nous apercevons le sens réel de la situation, parce qu ’ on a eu soin de nous en montrer toutes les faces; mais les acteurs ne connaissent chacun que l ’ une d ’ elles: de là leur méprise, de là le jugement faux qu ’ ils portent sur ce qu ’ on fait autour d ’ eux.» 125 So bleibt Petypon dem Glauben verhaftet, er könne Étienne gegenüber die Fassade bürgerlichen Anstandes aufrechterhalten, während die Zuschauer den Diener als eine Figur erleben, die um die Schwächen ihres Herrn weiß und dessen Komödienspiel durchschaut. Indem Basel dem Zuschauer nur eine Ereignisreihe darstellt (und ihm die zweite Ereignisreihe vorenthält), bringt sie ihn um den Genuss jenes Überlegenheitsgefühls, das das französische Publikum angesichts der in La Dame de chez Maxim enthaltenen Fülle an Zweideutigkeiten ganz selbstverständlich empfindet. 124 Ebd. 125 Ebd., S. 74. 160 <?page no="161"?> Wie lässt sich nun aber erklären, dass die deutsche Regisseurin auf diesen komischen Effekt verzichtet? Das Schwanken zwischen zwei Positionen stellt ein Phänomen dar, das zwar dem Genre des Vaudeville «auf den Leib geschrieben» ist, 126 nicht jedoch dem deutschen Inszenierungsstil, der - im Zuge der «Entauratisierung, Entinstitutionalisierung und Demokratisierung» 127 des Theaters in den 60er Jahren - zunehmend von dem Anspruch auf Transparenz und Authentizität getragen ist. Das virtuose Spiel mit der Ambiguität, das das französische Lachtheater 128 von seinen Anfängen bis in die Gegenwart auszeichnet, stellt ein Phänomen dar, das auf deutschen Bühnen mit einer gewissen Skepsis beäugt wird, und im Übertragungsakt einem Prozess der Disambiguierung unterzogen wird. Jelinek scheint ihrerseits gerade von dieser Virtuosität angezogen zu sein. Es geht ihr nicht unbedingt um die Konformität mit einem bestimmten Zeitgeist, sondern um das sehr spezifische Nachempfinden der dem Original eingeschriebenen semantischen Performativität. Indem sie ausschließlich von den phraseologischen Verbindungen ausgeht, vermag sie jene «Wahrnehmungen, Wertungen und Haltungen» 129 zu übertragen, die das Stück «durch die Art und Weise seines Sagens» 130 hervorbringt. Anders als von der strukturalistischen Übersetzungswissenschaft propagiert wird, widersetzt sie sich dem Credo, wonach der Übersetzer sich an die Lese- und Sehgewohnheiten des Zielpublikums anzupassen habe. Mit dieser Haltung löst sie die in der Poétique du traduire wiederholt gestellte Forderung ein, wonach der Übersetzer den Sinnbezügen des Originals nur gerecht wird, wenn er nicht vom sprachlichen Zeichen, sondern von den rhythmischen Implikationen des Textes ausgeht. 3. Jelineks Übersetzung von Labiches Affaire de la rue de Lourcine Im vorausgegangenen Kapitel wurde festgestellt, dass Jelinek das komischsubversive Potenzial von Feydeaus Vaudeville durch Wiedergabe all jener Nuancen zu erhalten sucht, die das Sprechen der Figuren in seiner Komplexität sichtbar machen. Während in der ÜB ein Petypon vorgeführt wird, der seine nächtlichen Eskapaden nur notdürftig kaschiert, präsentiert sich in 126 Bergson leitet seine Komiktheorie großteils vom Genre des Vaudeville ab. So bezieht er sich beispielsweise auf Labiches Voyage de Monsieur Perrichon, um anhand dieses Stückes das Inversionsprinzip zu erklären. (Bergson: Le rire, S. 70). 127 Gilcher-Holtey, Ingrid/ Kraus, Dorothea/ Schößler, Franziska (Hg.): Politisches Theater nach 1968. Regie. Dramatik und Organisation. Frankfurt a. M./ New York: Campus 2006, S. 10. 128 Zum Begriff «Lachtheater» vergleiche Fußnote 11 auf S. 13. 129 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 109. 130 Ebd. 161 <?page no="162"?> der ÜJ die Hauptfigur als «Mann der Mitte», den nichts so sehr schreckt wie die Ränder der Gesellschaft. Aus dieser Angst heraus verwendet er einen Großteil seiner Energie darauf, die Fassade des bürgerlichen Anstandes zu wahren - auch wenn das Fundament, auf dem diese Fassade ruht, bereits zu bröckeln beginnt. Jelineks Petypon lebt in dem Bewusstsein, dass ein einziger «Fauxpas» ihn alles kosten kann: seinen Ruf, seinen Status und nicht zuletzt seinen Lebensrhythmus. 131 So setzt denn gleich mit Beginn des Stückes die «Vertuschungsarbeit» ein, die umso emsiger betrieben wird, als sie mit diffusen Schuldgefühlen einhergeht. Wie lässt sich aber nun erklären, dass Basel ein so ausgeprägtes Bedürfnis verspürt, das komische Potenzial des Vaudeville-Genre einzudämmen? Wie kommt es, dass Sabrina Zwach, die für das Theater Magdeburg Labiches Affaire rue de Lourcine 132 übertragen hat, die Komik des Stückes als überholt einstuft und damit als veränderungsbedürftig empfindet? Die Klärung dieser Fragen steht im Vordergrund dieses Kapitels, wobei von vornherein klar sein dürfte, dass die Antworten nicht ‹ geradlinig › sein können. Dass das französische Vaudeville auf deutschsprachigen Bühnen als überholt gilt, dass der deutsche Zuschauer den Eindruck hat, die in dem Genre auftretenden Figuren gehörten einer «versunkenen Welt» 133 an, lässt sich an der Rezeption der Inszenierung Thomas Langhoffs von Feydeaus Wie man Hasen jagt (1998) nachweisen, 134 die - so Detlev Friedrich von der Berliner Zeitung - «etwas großartig Gediegenes, um nicht zu sagen etwas Konservierendes» 135 ausgestrahlt habe. Langhoff sei offenbar - wie der Journalist mit Bedauern feststellt - bewusst der Frage aus dem Wege gegangen, «ob es heute noch ein solches bürgerliches Publikum gibt, das sich mit der dramaturgisch immer gleichbleibenden Folge von Seitensprung, Verwicklung und glücklichem Ausgang in drei Akten zufrieden gibt.» 136 Hätte sich der Regisseur dieser Frage gestellt, wäre er - hiervon ist der von deutschen Theaterkonventionen einseitig geprägte Journalist überzeugt - unweigerlich zu dem Schluss gekommen, dass Feydeau reine Unterhaltungsdramatik schreibt, die zwar nicht der «Raffinesse», aber der «Tiefe» 137 entbehrt. Die Frage, ob das Vaudeville noch heute aktuell ist, wird in Frankreich als weniger beklemmend empfunden als in Deutschland. So ist beispielsweise 131 Vgl. hierzu den Artikel von Peter Kümmel: Ach was. Ein Leben ohne Loriot ist möglich, aber nicht sinnvoll. In: DIE ZEIT, Nr. 35, 25. 08. 2011, S. 41. 132 Labiche, Eugène: Die Affaire der Rue de Lourcine. Fassung von Sabrina Zwach. Frankfurt a. M.: Fischer 2010. 133 Kümmel: Ach was, S. 41. 134 Als Textgrundlage diente bei dieser Inszenierung die Übersetzung von Mario Hindermann und nicht diejenige von Elfriede Jelinek. 135 Friedrich: Gemütliche Bürgerhölle. 136 Ebd. 137 Ebd. 162 <?page no="163"?> Stanislas Nordey, der für seine hochintensiven, von großer Kargheit geprägten Inszenierungen bekannt ist, dem Theater Feydeaus und Labiches offen zugetan. Insbesondere Feydeau reihe sich - so der Regisseur - in die Kontinuität seiner Produktionen ein, die stets dem Neuen, Unerforschten, Geheimnisumwitterten verpflichtet gewesen seien: J ’ ai toujours privilégié dans mes choix de textes, l ’ inédit, l ’ inexploré, le contrepoint, les terres mouvantes. Après Schwab, Pasolini et Gabily ces trois dernières années, la saison qui s ’ ouvre me donne l ’ opportunité de travailler sur deux créations théâtrales. J ’ ai choisi Magnus Dahlström et Georges Feydeau, un grand écart apparent, mais en réalité un chemin très cohérent dans mon parcours. Dahlström s ’ inscrit délibérément dans l ’ exploration obstinée du répertoire contemporain que je mène depuis dix ans et Feydeau, un peu au même titre que mon voyage en terre élisabéthaine (Le Songe d ’ une nuit d ’ été), représente un passage à l ’ acte toujours différé mais ardemment désiré. 138 Mit Feydeau würden - so der eigenwillige Künstler - Wände fallen, Schranken aufgehen, Gedanken sich weiten, Gewohnheiten zerfallen. Seine Stücke stellten einen immensen Schatz dar, den es als Regisseur auszuheben und zu sichten gelte. Bei dieser Sichtung käme insbesondere den Figuren Aufmerksamkeit zu, von denen einige «alptraumartige Wachzustände» durchlebten: Feydeau est pour moi celui qui a su peut-être le mieux, au cours du siècle précédent, explorer la vie du cauchemar éveillé, de la fantaisie inquiétante sans limites de vraisemblance. Le deuxième acte de La Puce à l ’ oreille est sans conteste pour moi un chef d ’ oeuvre de «nonsense», une mécanique théâtrale maîtrisée d ’ abord, puis qui s ’ emballe au point de verser dans le fossé. J ’ aime la rythmique d ’ une langue, pouvoir m ’ y attacher, la décrypter et la précision d ’ écriture de Feydeau me fascine à plus d ’ un titre. 139 Das Zitat ist insofern interessant, als hier ein Regisseur den Rhythmus eines Vaudeville zum Ausgangspunkt seiner szenischen Umsetzung erhebt. Wichtiger als die Handlung, wichtiger als das diese Handlung festschreibende Wort, sind die rhythmischen Gestaltungen, die zuweilen mehr verraten, als die Sprache hergibt. Rhythmus und Inszenierung sind für Nordey komplementäre Begriffe, die nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. Wenn aber das Hören auf die besondere Systemik des Rhythmus 140 die eigentliche Voraussetzung für die Regiearbeit darstellt, dann liegt der Gedanke nahe, dass Inszenierung und Übersetzung artverwandt sind. «Traduire, c ’ est mettre en scène,» 141 lautet die Überschrift eines Kapitels in 138 Nordey, Stanislas: Création «La Puce à l ’ oreille». Mise en scène Stanislas Nordey. In: Théâtre National de Bretagne [Rennes] Saison 2011/ 2012 (http: / / www.t-n-b.fr/ fr/ saison/ fiche. php? id=67, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 139 Ebd. 140 Vgl. hierzu: Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 109. 141 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 394. 163 <?page no="164"?> Meschonnics Poétique du traduire. 142 Der französische Denker verleiht hier seiner Überzeugung Ausdruck, dass Inszenierung und Übersetzung Transformationsprozesse sind, die sich gegenseitig ergänzen und idealiter beflügeln. Ein besonders eindringliches Beispiel für diese Art interdisziplinärer Kreativität stelle - Meschonnic zufolge - die französische Fassung von Tschechows Möwe dar, die Antoine Vitez nahezu zeitgleich zu seinen Regiearbeiten anfertigte. Anders als die Übertragung Elsa Triolets, die sich einer künstlichen, der Inszenierungspraxis fernen Theatralisierung verschreibe, gehorche die von Vitez erstellte Fassung in erster Linie den Gesetzen des «théâtre de la voix». Hierzu Meschonnic: J ’ ai voulu voir comment Vitez mettait en pratique ce qui, depuis qu ’ il le disait, peut devenir un adage du traduire: l ’ affinité entre traduire et mettre en scène, et même, que traduire est déjà mettre en scène. Ou non. D ’ où il apparaît que le critère de la valeur, en traduction, est le rythme. Le théâtre de la voix, contre la théâtralisation du théâtre. Le langage comme théâtralité, qui ne devient un langage véritable que de découvrir sa propre théâtralité (c ’ est pourquoi celles qu ’ on lui ajoute sont vicieuses, parce qu ’ elles sont inutiles, et sonnent faux). C ’ est quelque chose qui apparaît comme une figure du langage même, dans Tchékhov, c ’ est cette écriture de la vie qui est si forte dans Tchékhov, et qu ’ Antoine Vitez a mise dans sa traduction de La Mouette. 143 Aus dem Zitat geht eindeutig hervor, dass jene Affinität zwischen «traduire» und «mettre en scène» nicht immer gegeben ist, dass es den Übersetzern/ innen nicht immer gelingt, die «besondere Systemik des Rhythmus» aufzuspüren und für die Übertragung fruchtbar zu machen. So muss die von Sabrina Zwach erstellte Fassung der Affaire rue de Lourcine als Beispiel für die «Theatralisierung» und nicht für die strenge Wiedergabe der im Original enthaltenen Sinngewichtungen angesehen werden. In dem Bestreben, den Inszenierungsabsichten des Spielleiters Herbert Fritsch so weit wie möglich entgegen zu kommen, nimmt sie schwerwiegende Änderungen am theatralen Potenzial des Ausgangstextes vor und schafft auf diese Weise völlig neue Akzensetzungen - «heimtückische» Akzentsetzungen (um die Formulierung Meschonnics aufzugreifen), «heimtückisch» deshalb, weil sie den Sinngewichtungen des Originals zuwiderlaufen. Anders als in der Originalfassung, deren Brisanz sich an der Frage entzündet, ob das Handeln der Figuren durch Gewissensnöte oder durch die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung bestimmt wird, meint Zwach in dem Schlagabtausch zwischen Lenglumé und Mistingue «eine tolle Wahrheit» erkennen zu können, «näm- 142 Der vollständige Titel des Kapitels lautet: Traduire, c ’ est mettre en scène comme Antoine Vitez dans «La Mouette» de Tchékhov. (In: Meschonnic: Poétique du traduire, S. 394 - 419). 143 Ebd., S. 394. 164 <?page no="165"?> lich die, dass man sich eigentlich nicht kennt.» 144 Auch Fritsch legt auf diese «Wahrheit» einen gesteigerten Wert, stellt sie doch für ihn die eigentliche Triebfeder des Komischen dar. So zitiert das Programmheft den Regisseur mit folgenden Worten: Was gibt es Komischeres als Menschen, die sich unbegründet schuldig fühlen? Obwohl sie die größten Angsthasen und Feiglinge sind und keiner Fliege etwas zu Leide tun können, wuchern in ihrer Fantasie die unglaublichsten Grenzüberschreitungen und Brutalitäten. Das geht so weit, dass sie irgendwann nicht mehr wissen, ob sie fantasiert haben oder ob etwas tatsächlich passiert ist . . . 145 Sind «Menschen, die sich unbegründet schuldig fühlen», wirklich komisch zu nennen? Haftet ihnen nicht eher das Wesen des Tragischen an - wie etwa den Helden des Euripides, die ohne eigenes Zutun in aussichtslose Situationen geraten? Nicht die Ambivalenz zwischen Schuld und Unschuld thematisiert Labiches Vaudeville, sondern die Frage, wie zwei Repräsentanten des Bürgertums mit der Schuldfrage umgehen. Auch wenn diese kein Verbrechen begangen haben - die Unschuldsvermutung kann für sie nicht gelten, da von Anfang an deutlich ist, dass Mistingue und Lenglumé verbrecherische Neigungen haben. Fritsch missversteht das Stück, wenn er behauptet, dass Labiches Figuren «Angsthasen und Feiglinge» sind, die «keiner Fliege etwas zu Leide tun können». Vielmehr verhält es sich doch so, dass sie alle psychologischen Voraussetzungen erfüllen, um «die unglaublichsten Grenzüberschreitungen und Brutalitäten» nicht nur «in der Fantasie», sondern auch realiter zu begehen. Was die Affaire phasenweise in den Bereich der Tragödie hebt, ist - um die Formulierungen Jelineks zu bemühen - die Tatsache, dass jeder ein Mörder sein und vorübergehend vom Alkohol ausgeknipst werden [kann] wie ein Lichtschalter, damit er es auch sicher nicht gewesen sein kann, weil er vorübergehend überhaupt nicht gewesen ist. Er war es nicht, es war ein anderer, der nur so ausgesehen hat wie er, und daher war es einer, der in die eigene Haut hineingeschlüpft, aber nicht identisch mit einem selber ist. Wir können es nicht gewesen sein, denn wir sind immer ein andrer als sogar wir selbst glauben. Das hat in der Rue de Lourcine keinerlei Auswirkungen, außer einer kleinen Störung des Haushalts, und die handelnden Personen können ganz beruhigt wieder in ihre alten Körper hineinschlüpfen, welche die ganze Zeit geduldig auf sie gewartet haben. Leider können sie sich an den Spaß, den sie gehabt haben, absolut nicht mehr erinnern, aber ein Schrecken bleibt ihnen in den Knochen, den werden sie nicht so schnell vergessen. 146 144 Labiche, Eugène: Programmheft des Theaters Magdeburg zu «Die Affäre der Rue de Lourcine». Eugène Labiche (Informationen zum Stück, Interview mit dem Regisseur). Spielzeit 2009/ 2010, S. 5. 145 Ebd. 146 Labiche, Eugène: Programmheft der Berliner Schaubühne zu Eugène Labiches «Die Affaire Rue de Lourcine» in der Übersetzung von Elfriede Jelinek (vollständiger Textabdruck). Spielzeit 1987/ 1988, keine Seitenangabe. 165 <?page no="166"?> Wer wie Jelinek die in literarischen Texten «wirksame sprachliche Individuation» 147 mit wenigen Sätzen zu beschreiben, wer auch die «kleinen Störungen des Haushalts» wahrzunehmen vermag, der muss von der grundsätzlichen Überzeugung ausgehen, dass der Verstehensakt an die Voraussetzung des «hörenden Lesens» 148 gebunden ist, an die Fähigkeit, dem Text «die Qualität eines Gegenüber» 149 abzugewinnen, ihn «als Sprechtätigkeit eines Ichs wahrzunehmen.» 150 In ihrer Eigenschaft als Übersetzerin ist Jelinek grundsätzlich dazu bereit, die Ausgangssprache in ihrer Fremdheit wahrzunehmen, um sie hernach - der zielkulturellen Gepflogenheiten ungeachtet - in dieser ihrer Fremdheit nachzubilden. Im Gegensatz zu Zwach, die dem «Wagnis» 151 des «hörenden Lesens» das «projizierende Lesen» 152 vorzieht, ist Jelinek an der bloßen «Affirmation (ziel)kultureller Eigenheiten» 153 nicht interessiert. Während Zwach von «Projektionen [geleitet wird], die das Entdecken des Neuen verhindern,» 154 räumt Jelinek dem Erhalt der Mehrdeutigkeit von Sprache den Vorzug ein. Sie mutet dem Leser/ Zuschauer ganz bewusst eine Fremdheit zu, mit der er sich (zumindest teilweise) nicht identifizieren kann. Da, wo Zwach Polysemie als ein Übel betrachtet, das es mit allen Mitteln zu vereindeutigen gilt, sucht Jelinek die zwischen Ausgangs- und Zielsprache bestehenden Differenzen zu erhalten. Dadurch gelingt es ihr, jenen Missstand zu überwinden, der - Meschonnic zufolge - in dem Paradoxon begründet liegt, dass literarische Übersetzungen oftmals reine Sprachprodukte sind und keine literarischen Werke: Le paradoxe est que, devant la littérature, ce n ’ est pas la littérature que vise alors la traduction, mais la langue. Aussi l ’ échelle du traduire n ’ y dépasse guère la phrase. Encore sa notion linguistique de la redondance (les fréquences et les habitudes de la langue d ’ arrivée) amène-t-elle un protocole de permutations où la visée du naturel accomplit [les mêmes types et formes de phrases]. La polyvalence du langage, et sa rythmique, sont redoutées comme un mal. On les traite par la réduction: réduction du discours à la langue, de la rythmique au sens, de la polysémie à la monosémie. 155 Die literarische und die sprachliche Übersetzung sind demnach unterschiedliche Herangehensweisen, deren Auswirkungen sich anhand der existenten bzw. nicht existenten Literarizität eines übertragenen Textes messen lassen. 147 Lösener: Von Wort zu Wort, S. 29. 148 Ebd., S. 122. 149 Ebd. 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Ebd., S. 121. 153 Luthe, Heinz Otto: Komikübersetzung - ein Feld auszuhandelnder symbolischer Ordnung. In: Unger, Thorsten (Hg.): Differente Lachkulturen: fremde Komik und ihre Übersetzung. Tübingen: Narr 1995 (= Forum modernes Theater/ Schriftenreihe 18), S. 47 - 66, S. 49. 154 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 123. 155 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 84. 166 <?page no="167"?> Diese Unterschiede sollen im Folgenden anhand der zweiten Szene der Affaire herausgearbeitet werden. 156 Im Folgenden sei zunächst die Originalversion Labiches (OL) zitiert, anschließend die Übertragung Jelineks (ÜJ) und zuletzt die Übertragung Zwachs (ÜZ). Die Markierungen dienen der besseren Hervorhebung der Gemeinsamkeiten bzw. der Unterschiede: Originalfassung LABICHE Übertragung JELINEK Übertragung ZWACH LENGLUMÉ [. . .] Où est donc mon pantalon? . . . Le regardant. Tiens! je suis dedans! . . . Voilà qui est particulier! . . . je me suis couché avec . . . Ah! je me rappelle! Avec mystère. Chut! madame Lenglumé n ’ est pas là . . . Hier, j ’ ai fait mes farces . . . Sapristi, que j ’ ai soif! Il prend une carafe d ’ eau sur la cheminée, et boit à même. Je suis allé au banquet annuel de l ’ institution Labadens, dont je fus un des éléments les plus . . . médiocres . . . Ma femme s ’ y opposait . . . alors, j ’ ai prétexté une migraine; j ’ ai fait semblant de me coucher . . . et v ’ lan! j ’ ai filé chez Véfour . . . Ah! c ’ était très bien . . . on nous a servi des garçons à la vanille . . . avec des cravates blanches . . . et puis du madère, du champagne, du pommard! . . . Pristi, que j ’ ai soif! Il boit à même la LENGLUMÉ: [. . .] Wo ist denn nur meine Hose? . . . (sich betrachtend) Nanu . . . ich bin ja drin! . . . Das ist aber sonderbar . . . Ich bin mit der Hose ins Bett gegangen . . . Ach! Ich erinnere mich! . . . (geheimnisvoll) Psst! Madame Lenglumé ist nicht hier . . . Gestern hab ich wirklich über die Stränge geschlagen . . . Sakrament! Hab ich einen Durst! (nimmt eine Wasserkaraffe vom Kamin und trinkt direkt daraus) Ich war beim Jahresbankett der Ehemaligen des Labadens- Internats, wo ich einer der aller . . . mittelmäßigsten Schüler war . . . Meine Frau war dagegen . . . Also habe ich eine Migräne vorgeschützt. Ich hab so getan, als ob ich mich hinlegen wollte . . . und husch! schon bin ich zu Véfour gezischt . . . Ach, war das gut! Es gab Lenglumé: [. . .] Wo ist denn nur meine . . . Hose? Wo ist meine Hose . . . Ach . . . ich stecke drin! . . . Seltsam . . . ich habe geschlafen mit . . . Jetzt erinnere ich mich . . . Pssst! Frau Lenglumé? . . . ist nicht hier! Gestern hab ich ’ s vielleicht krachen lassen, Manomann, hatte ich einen Durst! Ich war beim Jahrgangstreffen vom Internat, wo ich der aller . . . der aller mittelmäßigste Schüler war . . . ganz im Gegensatz zu meiner Frau . . . Frau Lenglumé . . . ich bin verheiratet mit Frau Lenglumé . . . ähhh . . . meine Frau war dagegen . . . Satz hab ich gesagt . . . äh Schatz hab ich gesagt: ich hab Migräne und hab Kopfschmerzen vorgetäuscht . . . schnell ins Bett . . . zack zack . . . und schon bin ich zu Vefour abgezischt . . . das ist ein Restaurant . . . 156 Obwohl besonders jene Szenen eines besonderen Interesses würdig sind, in denen Lenglumé und Mistingue sich einen Schlagabtausch liefern, habe ich mich dennoch für die zweite Szene entschieden, da in dieser monologischen Textpassage die Grundproblematik des Stückes angesprochen wird und die eigentliche Melodienführung ihren Anfang nimmt. 167 <?page no="168"?> Originalfassung LABICHE Übertragung JELINEK Übertragung ZWACH carafe. Je crois que je me suis un peu . . . pochardé! . . . Moi, un homme rangé! . . . J ’ avais à ma droite un notaire . . . pas drôle! et à ma gauche, un petit fabricant de biberons, qui nous en a chanté une passablement . . . darbo! ah! vraiment, c ’ était un peu . . . c ’ était trop . . . Faudra que je la lui demande . . . Par exemple, mes idées s ’ embrouillent complètement à partir de la salade! Par réflexion. Aije mangé de la salade? . . . Voyons donc! . . . - Non! . . . Il y a une lacune dans mon existence! Ah ça! comment diable suis-je revenu ici? . . . J ’ ai un vague souvenir d ’ avoir été me promener du côté de l ’ Odéon . . . et je demeure rue de Provence! . . . Était-ce bien l ’ Odéon? . . . Impossible de me rappeler! . . . Ma lacune! toujours ma lacune! . . . Prenant sa montre sur la cheminée. Neuf heures et demie! . . . Il la met dans son gousset. Dépêchons-nous de nous habiller. On entend ronfler derrière les rideaux. Hein! . . . on a ronflé dans mon alcôve! Nouveaux ronflements. Nom d ’ un petit bonhomme! j ’ ai ramené quelqu ’ un sans Brandteigkrapfen mit Vanille-sauce . . . mit Schlagobers! . . . und dann der Madeira . . . der Champagner . . . der Pommard! . . . Sakra, hab ich einen Durst! (trinkt wieder aus der Karaffe) Ich fürchte, ich habe mich ein bißchen . . . vollaufen lassen . . .! Ich! Ein gesetzter Mann! . . . Zu meiner Rechten saß ein Notar . . . nicht sehr aufregend . . . (lustig) Und zu meiner Linken so ’ n kleiner Babyflaschenfabrikant, der uns da eins gesungen hat . . . meine Herren! Also . . . das war mehr als ein bißchen gewagt . . .! Ich muß ihn unbedingt noch danach fragen . . . Allerdings . . . was nach dem Salat passiert ist . . . da verschwimmt mir alles komplett . . . (nachdenkend) Habe ich überhaupt Salat gegessen? Mal sehn . . . Nein! . . . Ich habe eine Gedächtnislücke! . . . Sowas! Wie zum Teufel bin ich hierher zurückgekommen? Ich erinnere mich noch schwach, beim Odéon herumspaziert zu sein, wo ich doch in der Rue de Provence wohne! . . . War es auch wirklich beim Odéon? Ich kann mich einfach nicht das war gut! Manomann hab ich einen Durst gehabt . . . da hab ich mich wohl ganz schön vollaufen lassen! Ich! Ein gestandener Mann! . . . Rechts saß ein Notar . . . LANGWEILIG . . . und links ein Babyflaschenhersteller, der ständig Schweinereien von sich gegeben hat . . . nach dem Salat kann ich mich an nichts mehr erinnern . . . Filmriss . . . hab ich Salat gegessen? Keine Ahnung! Ich sag ’ s ja: Filmriss! Wie bin ich eigentlich nach Hause gekommen? Letzte Erinnerung: ich bin beim Odéon herumspaziert . . . war es das Odéon? . . . Filmriss . . . und ich wohne doch Rue de Provence. Halb elf! Jetzt aber schnell in die Klamotten . . . (man hört Schnarchen). . . Was ist das? In meinem Bett wird geschnarcht! (Schnarchen) Ach du Scheiße, ich hab jemanden abgeschleppt ohne es zu merken! (Norine tritt von rechts ein). 168 <?page no="169"?> Originalfassung LABICHE Übertragung JELINEK Übertragung ZWACH m ’ en apercevoir. De quel sexe encore? Il se dirige vivement vers le lit. Norine paraît. erinnern . . . Eine Gedächtnislücke! Immer ist da diese Lücke! (seine Uhr vom Kamin nehmend) Halb zehn! . . . (Er steckt die Uhr in die Uhrtasche seiner Hose.) Beeilen wir uns mit dem Anziehen! (Man hört es hinter den Vorhängen schnarchen.) Was? . . . Aus meinem Bett hat es geschnarcht! (erneutes Schnarchen) Himmelarsch! . . . Ich hab jemanden abgeschleppt, ohne es zu merken! . . . Mann oder Frau? (Er bewegt sich hastig zum Bett hin. Norine erscheint.) Aus dieser Gegenüberstellung geht hervor, dass die ÜJ - im Gegensatz zur ÜZ - durch eine dem Original nachempfundene poetische Sprechweise charakterisiert ist. Als Beispiel möge die Beschreibung des Véfour-Menüs dienen, die ihre sinnliche Komponente aus der übergangsartigen Gliederung der Teilsätze und der vokalistischen Lautgestaltung bezieht: «Ach, war das gut! Es gab Brandteigkrapfen mit Vanillesauce . . . mit Schlagobers! . . . und dann der Madeira . . . der Champagner. . . der Pommard! . . .» In dieser sechsfachen Skandierung, in der die Leerstelle ausnahmsweise nicht dem Innehalten, dem Besinnen auf unbewusst gewordene Seeleninhalte dient, wird das zweite Glied («Es gab Brandteigkrapfen mit Vanillesauce . . .») durch das erste ausgelöst («Ach, war das gut! »), das dritte («mit Schlagobers! . . .») durch das zweite, das vierte («und dann der Madeira . . .») durch das dritte, das fünfte («der Champagner. . .») durch das vierte, das sechste («der Pommard») durch das fünfte. Der fließende Charakter der Äußerung «wird zum Beweis» 157 für die Maßlosigkeit der Hauptfigur, die dem Strom der eigenen Gelüste keinen Einhalt zu gebieten vermag. Gleichzeitig versinnbildlichen die «a»- und «o»-Laute in den ersten drei Gliedern und die «e»- und «a»-Laute in den letzten drei Gliedern den Übergang der festen Körper («Brandteig- 157 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 95. 169 <?page no="170"?> krapfen», «Vanillesauce», «Schlagobers») in flüssige Körper («Madeira», «Champagner», «Pommard»). Die Beschreibung erinnert an den Destillierungsvorgang, an dessen Ende erlesene Weine stehen. Dabei ist jedoch weniger der Alkohol als Lenglumés grundsätzliche Unfähigkeit, das erlebte Geschehen mit bewusster Aufmerksamkeit wahrzunehmen, für jene «Gedächtnislücke» verantwortlich, die Zwach durch «Filmriss» wiedergibt. Indem Jelinek den Teilsatz «mes idées s ’ embrouillent complètement» durch «da verschwimmt mir alles komplett» übersetzt, macht sie deutlich, dass Lenglumés Tendenz zum Vergessen kein isoliertes Phänomen darstellt, sondern einem grundsätzlichen Charaktermangel zuzuschreiben ist. Als Protoyp des Möchtegern-Bürgers macht sich die Hauptfigur durch ein Fehlen an berechenbarer Kontinuität bemerkbar, einer Tugend, die im bürgerlichen Wertekanon als wichtigste Voraussetzung gelingenden Lebens betrachtet wird. In beiden Übertragungen (ÜJ/ ÜZ) «kommt dem Beiseitesprechen ad spectatores eine deutliche epische Vermittlungsfunktion zu.» 158 Dem Vorbild des Originals folgend, weist sowohl in der ÜJ als auch in der ÜZ ein einleitender Satz (ÜJ: «Psst! Madame Lenglumé ist nicht hier. . .»/ ÜZ: «Pssst! Frau Lenglumé? . . . ist nicht hier! ») den gesamten Monolog als Publikumsanrede aus. Ziel dieses a parté ist es nicht nur, das Publikum über die Voraussetzung der Situation [. . .] zu informieren und damit Spannung auf das Kommende zu wecken [. . .], sondern auch Distanz aufzubauen und durch die ‹ Komplizenschaft › , den phatischen Kontakt zwischen intrigierender Figur und Publikum, die Atmosphäre der Heiterkeit zu verstärken. 159 Allerdings ist die OL nur vordergründig durch eine «Atmosphäre der Heiterkeit» geprägt. Die Monologpassage ist ein eindringliches Beispiel dafür, dass - um nochmals die Formulierung Jelineks aufzugreifen - «jeder ein Mörder sein und vorübergehend vom Alkohol ausgeknipst werden [kann] wie ein Lichtschalter.» 160 Lenglumé verhält sich wie jemand, der von starken Gewissensnöten gepeinigt wird, deren Ursache er aber nicht kennt. Um wieder Herr im eigenen Seelenhaushalt zu werden, versucht er mit verzweifelter Konzentration die Ereignisse der vergangenen Nacht zu rekonstruieren. In der ÜJ wird dieses Ringen um die Erinnerung in ähnlicher Weise thematisiert wie im Original. So verzichtet Jelinek (im Gegensatz zu Zwach) nicht auf die Übertragung jener beiden Regieanweisungen, denen zufolge Lenglumé - in der Hoffnung, die «schwarzen Flecken seiner Seele» in einem Zug wegspülen zu können - gierig eine Wasserkaraffe austrinkt. Die bedeutungsschwangere Geste verleiht dem Monolog eine scharfe, fast tragische 158 Pfister: Das Drama, S. 194. 159 Ebd., S. 194 - 195. 160 Vgl. Fußnote 146 auf S. 165. 170 <?page no="171"?> Konturierung, die in der ÜZ völlig fehlt. Während diese nur durch die Aufeinanderfolge von Pause und Klang gekennzeichnet ist, tritt in der ÜJ zu diesem Grundrhythmus die Interferenz der Serien hinzu, ein - wie Bergson feststellt - gerade bei Labiche häufig verwendetes Mittel der Komik, das allerdings in der Affaire nicht im Dienste der Komik, sondern im Dienste der Tragik steht. Hierzu Bergson: Labiche a usé du procédé sous toutes ses formes. Tantôt il commence par constituer les séries indépendantes et s ’ amuse ensuite à les faire interférer entre elles: il prendra un groupe fermé, une noce par exemple, et le fera tomber dans des milieux tout à fait étrangers où certaines coïncidences lui permettront de s ’ intercaler momentanément. Tantôt il conservera à travers la pièce un seul et même système de personnages, mais il fera que quelques-uns de ces personnages aient quelque chose à dissimuler, soient obligés de s ’ entendre entre eux, joue enfin une petite comédie au milieu de la grande: à chaque instant l ’ une des deux comédies va déranger l ’ autre, puis les choses s ’ arrangent et la coïncidence des deux séries se rétablit. Tantôt enfin c ’ est une série d ’ événements toute idéale qu ’ il intercalera dans la série réelle, par exemple un passé qu ’ on voudrait cacher, et qui fait sans cesse irruption dans le présent, et qu ’ on arrive chaque fois à réconcilier avec les situations qu ’ il semblait devoir bouleverser. Mais toujours nous retrouvons les deux séries indépendantes, et toujours la coïncidence partielle. 161 Die erste Serie ergibt sich aus der Schilderung der nächtlichen Eskapaden (unmarkierte Textpassage), die zweite Serie wird hauptsächlich durch den Griff zur Wasserkaraffe konstituiert (markierte Textpassage), eine Geste, die gleichsam die siebte Szene vorwegnimmt, jene Passage, in deren Verlauf Lenglumé und Mistingue durch Waschen der Hände eine Art Genese des Gewissens vollziehen. 162 Indem Zwach auf diese Regieanweisungen verzichtet, weicht sie von den im Original enthaltenen Akzentsetzungen ab. Zwar zeichnet sich auch ihre Fassung durch den Erhalt des Grundrhythmus aus, doch begegnet dieser keiner weiteren Melodienführung, er verflacht in jene Eindimensionalität, die von Meschonnic als «Theatralisierung» 163 bezeichnet wird. So weist der Einschub «Satz hab ich gesagt . . . äh Schatz hab ich gesagt» den Monolog nur zusätzlich als Rede eines unter Alkoholeinfluss stehenden Mannes aus. Aus der Perspektive Meschonnics betrachtet, ist die Entscheidung, den Schlüsselbegriff «lacune» durch das Modewort «Filmriss» wiederzugeben, als «heimtückische Akzentsetzung» zu werten, die in erster Linie dem Zeitgeist frönt. Nicht minder auffällig ist der Verzicht auf die Beschreibung des «Véfour-Menüs», das insofern eine wichtige Funktion erfüllt, als in dem Stück wiederholt große Mengen an Nahrung vertilgt 161 Bergson: Le rire, S. 76 - 77. 162 Vgl. hierzu: Kapitel III, 4.2. 163 Vgl. Fußnote 143 auf S. 164. («Le théâtre de la voix, contre la théâtralisation du théâtre»). 171 <?page no="172"?> werden. Dass Jelinek die «garçons à la vanille . . . avec des cravates blanches» 164 durch «Brandteigkrapfen mit Vanillesauce . . . mit Schlagobers» wiedergibt, ist als geschickter Kunstgriff einer österreichischen Schriftstellerin zu werten, die regional geprägte Begriffe verwendet, um die natürlichen Akzentsetzungen des Ausgangstextes beizubehalten. Indem das Kompositum «Schlagobers» 165 Assoziationen zu «Ober» herstellt, wird nicht nur der besonderen «Systemik des Rhythmus» Rechnung getragen, zusätzlich klingt die kannibalistische Komponente des Stückes an, die an anderer Stelle des Stückes erneut aufgegriffen und in noch schrilleren Tönen variiert wird. 166 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwischen Jelinek und Zwach erhebliche Unterschiede hinsichtlich der verwendeten Übersetzungsstrategien bestehen. Während Jelinek ihre Transferentscheidungen von der Literarizität des Ausgangstextes abhängig macht, orientiert sich Zwach am Regiekonzept des Spielleiters Herbert Fritsch. Dessen Interpretation zur szenischen Gestaltung zeichnet sich durch einen freien Umgang mit den Vorgaben des Textes aus, die im Zuge des Übertragungsaktes wesentliche Umgestaltungen erfahren. So wird in der ÜZ Lenglumé als eine Figur dargestellt, deren mittlere intellektuelle Flexibilität mit einem jeder objektiven Grundlage entbehrenden Schuldbewusstsein einhergeht. Das hier gezeichnete psychologische Profil ist dasjenige eines Menschen, der - trotz fehlender Schuldzuschreibung - von subjektiven Reuegefühlen getrieben wird. Im Gegensatz hierzu steht die Auffassung Jelineks, die den Figuren nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Schuldbzw. Unrechtbewusstsein attestiert. In der ÜJ wird das Gebaren Lenglumés gerade nicht durch übertriebene Schuldgefühle, sondern durch rückhaltlose Schamlosigkeit bestimmt, die deshalb so beklemmend wirkt, weil sie deutlich macht, dass «jeder ein Mörder sein und vorübergehend vom Alkohol ausgeknipst werden [kann].» 167 Die Frage, welche Interpretation die ‹ richtige › ist, lässt sich nicht endgültig beantworten, steht doch jedem Regisseur die Freiheit zu, sein Material so zu organisieren, wie seiner künstlerischen Vorstellung Genüge getan wird. Zudem werden - wie Klaus Kaindl zu Recht hervorhebt - Bühnenübersetzungen, die «in den kollektiven Prozeß der Inszenierung eingebunden» 168 sind, in einem sehr viel stärkeren Maße «durch eine konkrete Inszenierungs- 164 Ich gehe davon aus, dass es sich hier um einen bewusst eingebauten Versprecher handelt: Mit «garçons» à la vanille ist «gâteaux à la vanille» gemeint. Von hier aus ist es dann nicht mehr weit zu den «cravates blanches». 165 «Schlagobers» dient in einigen Teilen Österreichs als Bezeichnung für Schlagsahne. 166 Vgl. hierzu: Kapitel III, 4.2. 167 Vgl. Fußnote 146 auf S. 165. 168 Kaindl, Klaus: «Let ’ s have a party! » - Übersetzungskritik ohne Original? Am Beispiel der Bühnenübersetzung. In: Snell-Hornby, Mary (Hg.): Translation studies: an interdiscipline. Amsterdam: Benjamins 1992, S. 115 - 126, S. 119. 172 <?page no="173"?> konzeption» 169 geprägt als Übertragungen, die außerhalb dieses Prozesses entstehen: «Je enger [. . .] die Beziehung zwischen Aufführung und Übersetzung ist, je stärker die Übersetzung durch eine Inszenierung vereinnahmt wird,» 170 desto größer die Interaktion zwischen den Regievorgaben und dem sprachlichen Material. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, hat eine Regieübersetzung «eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Tütensuppe. Sie enthält bestimmte, stark kondensierte Bestandteile, die im Rahmen eines vorgeschriebenen Regelsystems in einen anderen Aggregatzustand gebracht werden müssen, wobei mancherlei Finessen, Zutaten und Varianten möglich sind.» 171 Dennoch drängt sich der Einwand auf, dass die in der ÜZ vorgenommenen Änderungen weit über jenes «vorgeschriebene Regelsystem» hinausgehen. Während Jelinek den mit dem Phänomen der «Theatralisierung» 172 verbundenen Gefahren dadurch entgeht, dass sie sich streng an den Rhythmus hält, diesen gar als sicheren Gradmesser für ihre übersetzerische Intuition erachtet, lässt sich Zwach in erster Linie durch ein dem Text fern stehendes Regiekonzept beeinflussen. Nachdem in diesem Kapitel eine Passage aus Jelineks Übertragung der Affaire untersucht wurde, möchte ich im Folgenden anhand der Inszenierung Klaus-Michael Grübers der Frage nachgehen, wie Jelineks Textvorlage in der Zielkultur inszeniert wurde. Zuvor soll jedoch die Stellung des Vaudeville- Genre innerhalb der ausgangssprachlichen Kultur eruiert werden. Zu diesem Zweck möchte ich - anhand einer Rezension zu Sivadiers Inszenierung von La Dame de chez Maxim - allgemeine Tendenzen der Vaudeville-Rezeption aufzeigen und somit die Voraussetzungen für das Verständnis einer ausgangssprachlichen Produktion schaffen. 169 Ebd. 170 Ebd. 171 Koch: Was sehen wir beim Hören, was hören wir beim Sehen? , S. 9. 172 Vgl. die Fußnoten 163 auf S. 171 und 143 auf S. 164. 173 <?page no="174"?> V Dritter Themenkomplex: Interkulturalität und das System «Grüber» 1. Interkulturelle Perspektive La joie, c ’ est un outil de communication extraordinaire. (Jean-François Sivadier in einem Interview über seine Inszenierung von La Dame de chez Maxim) 1 Zwar misst die einschlägige Forschung zur Internationalität nationaler Literaturen 2 der Inszenierung einen hohen Stellenwert bei, doch «[zählt] die Dramenübersetzung als Übersetzung für das Theater zu den vernachlässigten Gegenständen» 3 dieser Forschungsrichtung. Dies ist insofern bedauerlich, als doch gerade die Aufführung 4 eine wichtige Rolle bei der Akkulturation fremdsprachiger Literatur spielt. Erst durch die öffentliche Zurschaustellung ist eine vollständige Kommunikationssituation gegeben (Sender/ Autor → Text → Übersetzer → Text → Inszenierung → Empfänger). Die Dramenübersetzung kann ihrer vornehmlichen Aufgabe, der Vermittlung zwischen der vertrauten und der fremden Kultur, 5 nur gerecht werden, 1 Sivadier, Jean-François: Jean-François Sivadier du côté de chez Feydeau. Rencontre avec Jean- François Sivadier à l ’ occasion de sa mise en scène de la Dame de chez Maxim. In: PREMIÈRE.FR [Paris] ohne Datumsangabe (http: / / spectacles.premiere.fr/ pariscope/ Theatre/ Exclusivites-spectacle/ Interviews/ Jean-Francois-Sivadier-du-cote-de-chez-Feydeau, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 2 Vgl. hierzu: Schöning, Udo (Hg.): Internationalität nationaler Literaturen: Beiträge zum ersten Symposion des Göttinger Sonderforschungsbereichs 529. Göttingen: Wallstein 2000 (= Veröffentlichung aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529). 3 Turk, Horst: Soziale und theatrale Konventionen als Problem des Dramas und der Übersetzung. In: Fischer-Lichte, Erika/ Paul, Fritz/ Schultze, Brigitte/ Turk, Horst (Hg.): Soziale und theatralische Konventionen als Problem der Dramenübersetzung. Tübingen: Narr 1988 (= Forum modernes Theater/ Schriftenreihe 1), S. 9 - 54, S. 9. 4 In seinem Aufsatz Narrativik und die Polyphonie des Theaters schreibt Peter Diezel zum Unterschied zwischen Inszenierung und Aufführung: «Aufführung meint alles, was auf der Bühne sichtbar und hörbar ist, ohne jedoch bereits rezipiert und als Bedeutungssystem wahrgenommen worden zu sein, während die Inszenierung [. . .] die Produktionswie die Rezeptionsinstanzen (Schauspieler, Regisseur, Bühne im allgemeinen vs. Zuschauer) umfasst.» In: Lämmert, Eberhard (Hg.): Die erzählerische Dimension: eine Gemeinsamkeit der Künste. Berlin: Akademie 1999 (= LiteraturForschung), S. 52 - 72, S. 69. 5 Vgl. hierzu die Unterscheidung von ‹ Eigenem › versus ‹ Anderem › , ‹ Vertrautem › versus ‹ Fremdem › , die im ersten Fall ein Verhältnis der Distanz, im zweiten Fall ein Verhältnis der Differenz bezeichnet und die allzu übliche Gegenüberstellung ‹ Eigenes › versus 174 <?page no="175"?> wenn sie sich zuvörderst der Konfrontation mit den Konventionen der Zielkultur aussetzt. Im Zuge dieses Transformationsprozesses erfolgt eine restlose Einbeziehung nicht nur fremder Texte, sondern auch fremder theatralischer Mittel, 6 die der Zuschauer in zunehmendem Maße als integrative Bestandteile der Zielkultur wahrnimmt. Vor diesem Hintergrund stellt die angelsächsische Theaterwissenschaftlerin Susan Bassnett fest, dass der Theaterbetrieb geradezu ein Labyrinth ist, das Theatertexte in ihrer Funktion als Medium zwischen Bühne und Publikum durchlaufen müssen. 7 Im Zentrum dieses Irrgartens steht die Inszenierung, mittels derer Bühnenwerke einer bestimmten Ausgangskultur in Raum und Zeit der Zielkultur verankert werden. Eine Theaterübersetzung könne sich demnach der Herausforderung der kulturellen Vielfalt nicht entziehen. Sie habe sich dem Härtetest der besonders auf Zuschauerseite ergebnisoffenen Performance zu stellen. Dem Regisseur komme im Zusammenspiel der Kulturen die Aufgabe eines Dirigenten zu, eines «Maestro instrumental», der über die Relevanz von kulturellen Praktiken zu befinden habe: Welche Muster geben den Ton an und welche Variablen sind lediglich für die Hintergrundmusik verantwortlich? Mit Bassnetts Überlegungen ist gleichsam eine Forschungsrichtung eröffnet, deren Hauptanliegen darin besteht, die Wirkung von übersetzten Theatertexten innerhalb der Zielkultur zu analysieren und somit die literarische Übersetzung nicht nur als «produziertes», sondern auch und vor allem als «produzierendes» Objekt zu betrachten. Zu Recht weist Ute Schilly darauf hin, dass hier der Kristallisationspunkt der Interkulturalität literarischer Übersetzungen [liegt]. Das heißt, die hier eingenommene Perspektive interessiert sich weniger für Fragen wie die nach der ‹ prinzipiellen Un-Übersetzbarkeit › von literarischen Texten als vielmehr für den jeweiligen Sinn, der sich in einer jeweiligen Umgebung neu konstituieren kann bzw. konstituiert hat. 8 ‹ Fremdes › als problematische Vermischung von Kategorien desavouiert: Bosse, Anke: Interkulturalität. Erscheint in: Lüsebrink, Hans-Jürgen/ Schmeling, Manfred/ Sollte- Gresse, Christiane (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive. Berlin: Akademie- Verlag 2013 (= ViceVersa. Deutsch-französische Kulturstudien 5). 6 Vgl. hierzu: Fischer-Lichte, Erika: Die Inszenierung der Übersetzung als kulturelle Transformation. In: Fischer-Lichte (Hg.): Soziale und theatralische Konventionen als Problem der Dramenübersetzung, S. 129 - 144, S. 143. 7 Bassnett-McGuire, Susan: Ways through the Labyrinth. Strategies and Methods for Translating Theatre Texts. In: Hermans, Theo (Hg.): Manipulation of Literature. Studies in Literary Translation. Beckenham: Routledge 1985, S. 87 - 102. 8 Schilly, Ute B.: Carmen spricht Deutsch. Literarische Übersetzung als interkulturelle Kommunikation am Beispiel des Werkes von Miguel Delibes. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 24. 175 <?page no="176"?> Schillys Perspektive wird mich bei der im vorliegenden Kapitel geplanten Analyse von Grübers Inszenierung der Affaire de la Rue de Lourcine interessieren. Weitere Überlegungen zur «Interkulturalität literarischer Übersetzungen» möchte ich aus den einschlägigen Untersuchungen Anke Bosses 9 und Heinz Antors 10 schöpfen. Beide Autoren kommen darin überein, dass Interkulturalität ein Prozess ist, dem die Vorstellung «von mindestens zwei differenzierbaren Größen» 11 unterliegt. Diese Vorstellung schließt einen offenen Kulturbegriff keineswegs aus, lässt doch gerade die Verschiedenheit von Kulturen den «dialogischen Austausch im Sinne eines Überwindens von Grenzen und Barrieren zu.» 12 Im Hinblick auf Grüber - so viel darf an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden - lässt sich sagen, dass er zu jenen Künstlern gehört, die den «dialogischen Austausch» als konstitutiv für die eigene künstlerische Praxis erachten. Die von ihm erkundeten Räume geben Zeugnis ab über sein intensives Bemühen, vertraute künstlerische Produktionsmuster umzusetzen, ohne dabei das Primat der rhythmischen Bewegtheit des Ausgangstextes aus den Augen zu verlieren. Grüber siedelt seine Inszenierung der Affaire in einem Zwischenraum an, der von grundsätzlicher Offenheit gegenüber dem als «anders» wahrgenommenen fremdsprachlichen Ausgangstext geprägt ist. Bevor ich mich allerdings mit der Wirkungsweise einer zielsprachlichen Produktion auseinander setze, möchte ich zunächst die Voraussetzungen für das Verständnis einer ausgangssprachlichen Inszenierung schaffen. Natürlich eignete sich hierfür - im Sinne einer direkten Vergleichsbasis - eine der vielen französischen Produktionen von Labiches Affaire. 13 Dennoch ziehe ich Sivadiers Inszenierung von La Dame de chez Maxim vor, 14 deren künstlerischer «Mehrwert» darin besteht, auf eine besonders überzeugende Weise die in der 9 Bosse: Interkulturalität. Von ‹ Transfer › zu ‹ Vernetzung › . 10 Antor, Heinz: Inter- und Transkulturelle Studien in Theorie und Praxis: Eine Einführung. In: Antor, Heinz (Hg.): Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis. Heidelberg: Winter 2006, S. 9 - 39. 11 Bosse, Anke: Interkulturalität. Von ‹ Transfer › zu ‹ Vernetzung › . 12 Antor: Inter- und Transkulturelle Studien in Theorie und Praxis, S. 30. 13 Viel Lob erhielt beispielsweise die Inszenierung von Nicole Gros, die am 21. November 2010 am Théâtre du Nord Ouest (Paris) Premiere feierte. 14 Die Inszenierung Jean-François Sivadiers feierte am 08. Dezember 2009 am Théâtre National de Bretagne Premiere. An der künstlerischen Leitung beteiligt waren Nicolas Bouchaud, Véronique Timsit und Nadia Vonderheyden. Für das Bühnenbild zeichneten Daniel Jeanneteau, Jean-François Sivadier und Christian Tirole verantwortlich. Die Kostüme wurden von Virginie Gervaise und Tanya Sayer entworfen. Die Rolle Lucien Petypons wurde von Nicolas Bouchaud gespielt, die der Môme Crevette von Narah Krief. 176 <?page no="177"?> Tradition des Vaudeville stehenden Regietechniken mit der Forderung nach einem zeitgemäßen Theater zu vereinen. 15 Ein erster Anhaltspunkt für das Verständnis von Sivadiers ästhetischer Konzeption ergibt sich aus der Einschätzung der Spielleiterin Solène Zantman, die in einer Rezension auf den von Sivadier zum Inszenierungsprinzip erhobenen «Schneeball-Effekt» hinweist: La langue de Feydeau claque et rythme l ’ effet boule de neige qu ’ a provoqué la situation initiale. Les comédiens forment une sorte d ’ orchestre, dont chaque instrument sonne juste en résonnant de manière propre, et dont la globalité est une harmonie rocambolesque. Si cette langue est un plaisir à jouer, elle est également, dans de telles mises en scène, un plaisir à écouter. 16 Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass Sivadier von der Performativität gesprochener Sprache, von deren Klang und Rhythmus geleitet wird. In Anlehnung an eine Formulierung Jelineks lässt sich sagen, dass für ihn das Vaudeville ein «kontrapunktisches Sprachgeflecht» 17 darstellt, das es zu entwirren und in Einzelstimmen zu zerlegen gilt. Ausgangspunkt seiner Arbeit ist nicht die psychologische Motivierung der Figuren, sondern der in dem Vaudeville enthaltene Grundrhythmus, der als Inspirationsquelle für die Schaffung weiterer rhythmischer Bögen aufgefasst wird. Um jenes anti-mimetische Spiel zu verwirklichen, das ausschließlich von der Sprache getragen wird, wurden die Schauspieler während der Probenarbeit dazu angehalten, die Vieldeutigkeit ihrer Figur vorzuführen - eine Aufgabe, die insbesondere für den Hauptdarsteller Nicolas Bouchaud (Petypon) eine Herausforderung dargestellt haben dürfte. Seinem schauspielerischen Talent ist zuzuschreiben, dass ihm die Umsetzung von Sivadiers ästhetischem Konzept geglückt ist. Indem Bouchaud sich von der Sprache Feydeaus leiten ließ, ebnete er sich einen Weg zu einer Darstellungsform, die auf die Wiedergabe einer differenzierten Innerlichkeit verzichtet und den Fokus stattdessen auf das Welt-Verhältnis der Figur richtet. Nicht über das Mitempfinden, sondern über die Performativität der Sprache gelang es ihm, dem Zuschauer Einblick in das Verhalten eines typischen Repräsentanten des 15 Die DVD-Bearbeitung von Sivadiers Inszenierung ist unter folgender filmographischer Angabe zu beziehen: Sivadier, Jean-François (Theaterregie)/ Kent, Don (Fernsehregie): La Dame de chez Maxim. Production réalisée par Agat Films & Cie pour ARTE France. DVD (200 Minuten). Straßburg: ARTE France 2009. 16 Zantman, Solène: La Dame de chez Maxim de Georges Feydeau à l ’ Odéon (Rezension). In: Artistik Rezo [Paris] 30. 05. 2009 (http: / / www.artistikrezo.com/ theatre/ comedie/ la-dame-de-chez-maxim-de-georges-feydeau-a-l ’ odeon.htr, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 17 Jelinek, Elfriede: Ich bin im Grunde ständig tobsüchtig über die Verharmlosung. Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek. [Mai/ Juni 1996]. In: Homepage Elfriede Jelinek (http: elfriedejelinek.com, über die Rubriken Zum Theater und Zu «Stecken, Stab und Stangl» (Interview), zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 177 <?page no="178"?> Bürgertums zu gewähren. Nicht über den Inhalt, sondern über die «Systemik des Rhythmus» fand er Zugang zum Theater Feydeaus, dessen performativen bzw. «illokutionären» Charakter 18 er in seinem Spiel wiederzugeben suchte. Bouchauds Performance liest sich somit als Fortsetzung derjenigen «Artikulation des Sinns,» 19 die sich aus dem Rhythmus des Textes speist, ein Vorgehen, das seine Wirkung auf die Zuschauer/ Hörer nicht verfehlte. So betont die Rezensentin Zantman, dass dem Publikum die von psychologischem Ballast befreite Sprache Vergnügen bereitet: «Si cette langue est un plaisir à jouer, elle est également, dans de telles mises en scène, un plaisir à écouter.» 20 Worin liegt nun aber dieses Vergnügen begründet? Es rührt aus dem - in Gemeinschaft mit anderen Sprachteilhabern empfundenen - Erlebnis der Begegnung mit Klang und Rhythmik der französischen Sprache. Sivadiers Inszenierung ist die an den Zuschauer eingehende Einladung, den Rhythmus, die Klangmöglichkeiten, die feinsinnig abstufende Musikalität und die Kodes des Französischen zu reflektieren. Das Publikum soll die Gelegenheit erhalten, sich mit jenen indirekten Sprechakten auseinander zu setzen, die in den Stücken Feydeaus zu verbalen Feuerwerken stilisiert werden und ein Mitdenken des Zuschauers erfordern. 21 Gerade das Vaudeville aktiviert die Zuschauervorstellung, dass das Französische über Eigenschaften verfügt, die es von anderen Sprachen abhebt. Diejenige Eigenschaft, die - einer in Frankreich weit verbreiteten Einschätzung zufolge - im Genre des Vaudeville am deutlichsten zum Tragen kommt, lässt sich in Anlehnung an eine Formulierung Pascal Baudrys wie folgt beschreiben: «Le français ne fut pas pendant plusieurs siècles la langue des cours d ’ Europe parce que ce serait la langue la plus précise, comme on a voulu le faire accroire, mais parce que c ’ est la langue qui permet d ’ être le plus précisément imprécis.» 22 Dabei zeichnet sich die Inszenierung Sivadiers besonders dadurch aus, dass sie den Akzent nicht nur auf die Möglichkeiten, sondern auch auf die Begrenzungen des Instruments «Sprache» legt, das sich mit fortschreitender Konfliktualisierung als wenig geeignetes Mittel erweist, Störungen der zwischenmenschlichen Kommunikation aufzuheben. Der sich um Kopf und Kragen redende Petypon, der an der Sprache festhält wie ein Schiffbrüchiger an der Planke, wirkt komisch, weil er unfähig ist, den über ihm zusammenschlagenden Wellen immer neuer Konfliktsituationen mit dem 18 Für Bouchaud ist der theatrale Text ein «illokutionärer Akt»: «L ’ écriture devient un acte illocutoire dans la mesure où l ’ énoncation même de la phrase constitue un acte.» In: Bouchaud, Nicolas: Entretien avec Nicolas Bouchaud, Gaël Baron, Charlotte Clamens, Valérie Dréville, Jean-François Sivadier. In: file: / / / C: / DOCUME~1/ User/ LOCALS~1/ Temp/ entretien_partagedemidi.pdf, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014. 19 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 95. 20 Vgl. Fußnote 16 auf S. 177. 21 Vgl. hierzu Kapitel IV, 2 (zweiter Themenkomplex). 22 Baudry, Pascal: Français et Américains. L ’ autre rive. Paris: Village mondial 2007, S. 44. 178 <?page no="179"?> geeigneten Werkzeug zu trotzen. Obwohl er «eigentlich» wissen müsste, dass es angesichts wechselnder Strömungsrichtungen zwecklos ist, den Rettungsanker «Sprache» auszuwerfen, greift er immer wieder auf dasselbe Mittel zurück und sieht sich zusehends weniger in der Lage, an Boden zu gewinnen. Um bei seinem Publikum eine Form der Belustigung zu erzeugen, die mit der Erkenntnis in jene Schuldverstrickung der Figuren einhergeht, bedient sich Sivadier des Schneeball-Effekts, eines Prinzips, dem in der französischen Regietradition zentrale Bedeutung zukommt 23 und dem die deutschsprachige Komödie allenfalls eine zweitrangige Bedeutung zuweist. Woher rühren diese Unterschiede? Warum verzichten deutschsprachige Autoren auf das so wirksame, erkenntnisfördernde Mittel der Komik? Zur Beantwortung dieser Fragen greife ich auf die Überlegungen Angelika Kempers zurück, die in ihrer Untersuchung über schuldhaftes Fehlverhalten in der deutschsprachigen Komödie 24 von der «Ausgangshypothese» ausgeht, daß komödientaugliche ‹ Schuld › existiert; dies bedeutet auch, daß solche ‹ Schuld › Handlungsabläufe regelt und Charakterproblematiken befördert, die Rezeptionsprozesse beeinflusst, einen [. . .] psychologischen und anthropologischen Mehrwert aufweist, spieltechnische Äußerungsformen besitzt und trotz allem ein komisches Wirkungspotential wahrt. 25 Kempers Hypothese folgend, lässt sich vermuten, dass deutschsprachige Autoren dazu tendieren, das «komische Wirkungspotential komödientauglicher Schuld» nur als Begleiterscheinung in den Blick zu nehmen. Betrachten französische Vaudeville-Autoren schuldhaftes Verhalten als nicht versiegende Quelle für clowneske, dem Rhythmus des Schneeballprinzips unterliegende Einfälle, zielen deutschsprachige Autoren auf den «psychologischen und anthropologischen Mehrwert». Insbesondere die didaktisierende Aufklärungskomödie, die erstmalig die Frage nach dem moralisch richtigen Handeln in den Vordergrund rückt, mag zur «Genese der Ernsthaftigkeit» geführt haben. Allzu wirkungsmächtig war offensichtlich die von «Litera- 23 Auch in französischen Filmkomödien dient der Schneeball-Effekt der Rhythmisierung der Sprache. So bezieht der im Herbst 2011 angelaufene Film Intouchables von Eric Toledano einen Großteil seiner komischen Wirkung aus der «Aneinanderreihung von im Grunde einfachen Gags». Dass diese Aneinanderreihung «so gut funktioniert, liegt [. . .] an dem Rhythmus, in dem sie präsentiert werden. Diesem Film ist alles Elegische fremd, dem Zuschauer bleibt keine Zeit, sich lange einzulassen auf die abwechselnd emphatischen und parodistischen Momente, weil die Geschichte gleich weiterspringt, einmal gar einen unerwarteten Haken schlägt, um schließlich dort zu enden, wo wir sie erwartet haben: in einer besseren Welt.» (Bopp, Lena: Helft einander, das ist lustig! «Ziemlich beste Freunde», einer der erfolgreichsten französischen Filme, vereint Ungleiches zart und witzig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 3, 04. 01. 2012, S. 29). 24 Kemper, Angelika: «Auf aufgelebt, du alter Adam! » ‹ Schuld › in der deutschsprachigen Komödie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. St. Ingbert: Röhrig 2007 (= Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 41). 25 Ebd., S. 10. 179 <?page no="180"?> turpäpsten» wie Gellert und Gottsched erhobene Forderung, wonach die Figuren der Komödie ein den Zuschauer bekehrendes Exemplum sein sollten, sodass die magische Formel des Vaudeville, die «schuldhaftes Verhalten» und «Schneeball-Effekt» vereint, nicht die gleiche durchschlagende Wirkung ausüben konnte wie in Frankreich. Interessanterweise stehen nicht nur die Vaudevillisten, sondern auch die Regisseure beim französischen Publikum in der «Bringschuld», sind doch Vaudeville-Inszenierungen grundsätzlich mit der Auflage verknüpft, das Publikum zum Lachen zu bringen. In diesem Zusammenhang bemerkt Sivadier: Je fais toujours le même travail par rapport au texte, un travail de découverte de l ’ écriture. Simplement, avec Feydeau, il y a comme un pacte avec le public, à savoir que le public doit rire. S ’ il y a grand écart, il est dans le travail d ’ un genre très particulier. C ’ est ça qui est compliqué. Si on fait un film d ’ horreur, le public doit avoir peur. Il y a donc un travail sur le rire qui induit forcément quelque chose en plus dans le travail des répétitions. 26 Diesem Textverständnis und dem damit verbundenen Inszenierungsansatz stehen die Auffassungen eines Regisseurs gegenüber, der sich an diese Auflagen in keinster Weise gebunden fühlt. Im Unterschied zu Sivadier sieht Grüber seine Aufgabe nicht darin, sein Publikum zum Lachen zu bringen. Dass seine Inszenierung der Affaire hin und wieder ein Schmunzeln erzeugt, wird von ihm als positiver Nebeneffekt gewertet, nicht jedoch als ein um jeden Preis anzustrebendes Ideal. Damit zeichnet sich ab, dass Grübers Inszenierungsstil sowohl der oben skizzierten deutschsprachigen Tradition verpflichtet ist als auch dem Einfluss des interkulturellen Dialogs unterliegt. 2. Das System «Grüber» Für Klaus-Michael Grüber, der das geflügelte Wort von der Inszenierungsarbeit als einem Tal der Tränen prägte, 27 ist die Geste das eigentliche ästhetische Material des Theaters. Allerdings weder im Sinne der physiognomischen Schauspieltheorie, die dem Zuschauer einen - der psychologischen Verfasstheit der Figuren gemäßen - «Charakterspiegel» vorhält, noch im Sinne des epischen Theaters nach Brecht, das die Möglichkeiten der Identifikation durch gestische Distanzierung zu unterbinden sucht. Der weit gereiste Regisseur, der seine «Lehr- und Wanderjahre» als Assistent von Giorgio Strehler am Mailänder Piccolo Teatro absolvierte, 26 Plantin: Jean-François Sivadier du côté de chez Feydeau. 27 Banu, Georges/ Blezinger, Mark (Hg.): Klaus Michael Grüber. . . Il faut que le théâtre passe à travers les larmes. Portrait proposé par Georges Banu et Mark Blezinger. Paris: Éditions du Regard 1993 (= Académie expérimentale des théâtres). 180 <?page no="181"?> war von der Notwendigkeit einer verhaltenen Gestik, eines ökonomischen Umgangs mit Bewegung überzeugt. Eine solche «verhaltene Beredsamkeit» 28 war für ihn der Tenor der Inszenierungsarbeit - wenn auch nicht das Hauptingredienz des Theaters. Der ästhetische Genuss resultiere - so Grübers Überzeugung - aus dem sinnenfreudigen Nachvollziehen der im Lauf der Proben erarbeiteten symbolischen Akzentuierungen, durch die der Zuschauer schlaglichtartig Einblick in die Psyche der dramatis personae erhalte. Diese Akzentuierung oder - mit Freud gesprochen - «Verdichtung» stellt in sämtlichen Inszenierungen Grübers die körperliche Fehlleistung dar, die nicht als Zufalls-, sondern als Symptomhandlung gesehen werden muss. Als solche vermag sie symbolisch zum Ausdruck zu bringen, «was der Täter selbst nicht in [ihr] vermutet und was er in der Regel nicht mitzuteilen, sondern für sich zu behalten beabsichtigt.» 29 Für Grübers Inszenierungspraxis weiterhin charakteristisch ist die Heranziehung zweier «monokultureller Konzepte,» 30 die sich der Tradition speziell des deutschen Ausdruckstanzes zuordnen lassen: extreme Beschleunigung und Zeitlupe. Die so genannte slow motion-Bewegung wird in der Affaire gar zum wichtigsten Inszenierungsprinzip erhoben. Für Grüber galt, was bereits die Performance-Künstlerin Valeska Gert (1892 - 1978) als ihr künstlerisches Credo formulierte: «Slow motion serves to italicize some gesture or magnify a tension.» 31 Die Verwendung des Verbs «italicise» ist insofern «bemerkenswert,» 32 als hierdurch deutlich wird, dass Gert der Zeitlupe den Effekt der Unterstreichung, der Kursivschreibung wesentlicher tänzerischer Momente zu[misst]. Diese Kursivität bedeutet dann nicht nur übergroße Verdeutlichung, sondern auch die Sichtbarmachung des schräg laufenden Bewegungsvokabulars, das den Blick auf die feinen Details lenkt, die im üblichen Tempo unsichtbar sind. 33 So wie Gert die Zeitlupe einsetzte, um das Unsichtbare sichtbar zu machen, so diente auch bei Grüber die Allmählichkeit der Veränderung dazu, jene Grauzonen zu beleuchten, die im alltäglichen Bewegungsvokabular der Nichtbeachtung zum Opfer fallen. Zusätzlich kommt der Dehnung der 28 Vgl. hierzu den Titel des folgenden Sammelbandes: Darian, Veronika (Hg.): Verhaltene Beredsamkeit? Politik, Pathos und Philosophie der Geste. Frankfurt a. M./ New York: Lang 2009. 29 Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. [1920]. Bremen: Outlook 2012, S. 230. 30 Antor: Interkulturelle Studien in Theorie und Praxis, S. 36. 31 Das Zitat ist in englischer Sprache verfasst, weil die Tänzerin viele Jahre im amerikanischen Exil verbrachte und dort kaum mehr ihre Muttesprache gebrauchte. Zitiert nach: Foellmer, Susanne: Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1960er Jahre. Bielefeld: Transcript 2006 (= TanzScripte 2), S. 63. 32 Ebd. 33 Ebd. 181 <?page no="182"?> körperlichen Bewegungen die Funktion zu, genügend Zeit zu gewinnen, um die Aufmerksamkeit für die Klang- und Rhythmusqualitäten der Sprache zu schärfen. In Anlehnung an eine von dem Dirigenten Christian Thielemann gern gebrauchte Formulierung lassen sich diese Qualitäten auf den Nenner «dunkel mit Leichtigkeit» 34 bringen, wird doch hierdurch der besondere Klang und Rhythmus einer Aufführung hervorgehoben, die mit Finesse die Register des Tragischen und des Komischen zu bedienen weiß. Grüber, der sich im Laufe seiner vierzigjährigen Schaffenstätigkeit zunehmend der Opernregie zuwandte, 35 war darum bemüht, die unterschiedlichsten Register zu bedienen und miteinander zu kombinieren. Treibt man den Vergleich mit der Musik auf die Spitze, dann ist in der Affaire das Ergebnis dieser Kombinationsarbeit ein dunkler Dur-Ton, «vielleicht As-Dur,» 36 eine Tonart, die jede Aufdringlichkeit vermeidet. Nun mag an dieser Stelle der Eindruck entstanden sein, dass Grüber von unterschiedlichsten Kunsterfahrungen geprägt war (Piccolo Teatro, Ausdruckstanz, Musik . . .), die sich jeder kulturellen Festlegung verweigern. Tatsächlich bemühen die Feuilletonisten die Formulierung vom «Mittler zwischen den Welten,» 37 um ihre Bewunderung für seine Offenheit gegenüber unterschiedlichsten kulturellen Ausdrucksformen kundzutun. Auch der Theaterwissenschaftler Bernard Dort vertritt die Überzeugung, dass Grüber in einer Art interkulturellem Niemandsland anzusiedeln ist: Grüber n ’ est établi nulle part. Allemand, il a monté ses premiers spectacles en italien, au Piccolo Teatro de Milan où il a été, quelques années, assistant de Strehler. Depuis, il n ’ a cessé d ’ aller et venir entre l ’ Italie, l ’ Allemagne et la France, mettant en 34 Koelbl, Herlinde: «Wenn alles zusammenbricht, dann gehst du nach Hause.» Der Dirigent Christian Thielemann über seinen Weg von jugendlicher Egozentrik zur Gelassenheit. In: ZEITmagazin, Nr. 13, 24. 03. 2011, S. 20 - 23, S. 23. 35 Grüber inszenierte 1971 Woyzeck von Alban Berg am Theater Bremen. Im gleichen Haus erfolgte 1972 die Inszenierung von Georg Friedrich Händels Oper Julius Caesar. Es folgten im Jahre 1974 die Aufführungen von Bela Bartoks Blaubart und von Arnold Schoenbergs Erwartung an den Städtischen Bühnen in Frankfurt a. M.; im Jahre 1976 die Aufführung von Richard Wagners Walkyre am Opéra National de Paris; im Jahre 1983 die Aufführung von Wagners Tannhäuser am Teatro Communale in Florenz; im Jahre 1983 die Aufführung von Gioachino Rossines La Cenerentola am Théâtre du Châtelet in Paris; im Jahre 1990 Wagners Parzifal an der Oper Amsterdam; im Jahre 1991 Bruno Madernas Hyperion nach Hölderlin an der Opéra Comique in Paris; im Jahre 1992 Leo š Janá č eks Aus einem Totenhaus im Rahmen der Salzburger Festspiele; im Jahre 1993 Giuseppe Verdis La Traviata am Théâtre du Châtelet in Paris; im Jahre 2000 Wagners Tristan und Isolde im Rahmen der Salzburger Festspiele; im Jahre 2002 Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni im Rahmen der RuhrTriennale; im Jahre 2006 Janá č eks Aus einem Totenhaus an der Opéra National de Paris. 36 Koelbl: «Wenn alles zusammenbricht, dann gehst du nach Hause», S. 22. 37 Vgl. hierzu beispielsweise den Artikel von Dermutz, Klaus: Der Wanderer. In: Süddeutsche Zeitung [München] 23. 06. 2008 (http: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ zum-tod-vonklaus-michael-grueber-der-wanderer-1.189675, zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 182 <?page no="183"?> scène dans les trois langues, avec, parfois, des choix inattendus: ce n ’ est pas en allemand mais en français qu ’ il a réalisé La mort de Danton de Büchner (aux Amandiers de Nanterre en 1989) tandis que pour Labiche (L ’ affaire de la rue de Lourcine, 1988), c ’ est l ’ allemand qu ’ il a choisi, et il a fait précéder son Faust berlinois de 1982 d ’ un Faust parisien: le mémorable Faust Salpêtrière de 1975 . . . 38 Doch grundsätzliche Offenheit für Ausdrucksformen unterschiedlicher Kulturen ist nicht mit kultureller Permeabilität gleichzusetzen, «die Abdrücke monokultureller Konzepte» 39 sind gerade im Bereich der Inszenierung noch vorhanden, wird diese doch von ästhetischen Formierungen und persönlicher Erfahrung bestimmt. Als Vertreter einer Avantgarde, die sich in den sechziger Jahren aus Künstlern wie Peter Stein, Hans Neuenfels, Claus Peymann, Hansgünther Heyme, Achim Freyer, Pina Bausch, Johann Kresnik und Robert Wilson rekrutierte, sah Grüber sich in der moralischen Pflicht, seine Kunst in den Dienst einer Veränderung des öffentlichen Bewusstseins zu stellen. Er gehörte einer Generation in Deutschland an, die jedes Vertrauen in die staatlichen Machtstrukturen verloren hatte. Er sympathisierte (wie viele andere Intellektuelle dieser Zeit) mit der 68er Studentenbewegung, die er als fällige Distanzierung von der Generation der kompromittierten Väter und Mütter wertete. Grüber stand somit in einer Tradition von Künstlern, deren Selbstverständnis in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Abwehr kollektiv zu verantwortender Schuld begründet lag. Dabei richtete Grüber sein Augenmerk nicht nur auf die Verdrängungsproblematik im Zusammenhang mit den Verbrechen im «Dritten Reich». Es ist das Phänomen an sich, das ihn nicht los ließ, seine Funktionsweise, die ihm zugrunde liegenden Mechanismen. In all seinen Inszenierungen ging es ihm um die «Erinnerung aus der Tiefe des Schweigens,» 40 um die unerschöpfliche Frage, wie der Mensch durch Schweigen schuldig wird. Indem Grüber diese Überlegung zum Ausgangspunkt seines künstlerischen Schaffens erhob, erfuhren seine Inszenierungen eine Perspektivierung, die Auswirkungen auf die Fiktionalität, den Handlungsablauf, die Figurendarstellung und den Rezeptionsprozess zeitigte. Vor diesem Hintergrund ergibt sich auf die Frage, weshalb Grüber den Schneeball-Effekt in der Affaire nicht zum Inszenierungsprinzip erhob, die Antwort, dass diese Regietechnik der von ihm vorgegebenen Perspektivierung zuwiderläuft. Während Sivadier den Fokus der Aufmerksamkeit auf den Strudel der Ereignisse richtet, ist es Grüber darum zu tun, die Frage nach dem angemessenen Umgang mit der Schuld bis in alle Facetten hinein 38 Dort, Bernard: Le geste latéral de Klaus Michael Grüber. In: Banu (Hg.): Klaus Michael Grüber. . . Il faut que le théâtre passe à travers les larmes, S. 21 - 27, S. 21. 39 Antor: Inter- und Transkulturelle Studien, S. 36. 40 Siegmund, Gerald: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas. Tübingen: Narr 1996 (= Forum modernes Theater/ Schriftenreihe 20), S. 154. 183 <?page no="184"?> auszuleuchten, genauer: «auszudehnen», in der Hoffnung, dass dem quälenden «Wie ist es möglich? » auf diese Weise eine Antwort abgetrotzt werden kann. Die slow motion-Bewegung fungiert somit als «Kristallisationspunkt der Interkulturalität literarischer Übersetzungen: » 41 Wo in der französischen Inszenierung sich die Figuren um Kopf und Kragen reden, wo der Schneeball- Effekt nicht nur das Tempo und den Rhythmus der Handlung, sondern auch der Sprache vorgibt, da klinken sich bei Grüber die Figuren aus dem Geschehen aus, da stolpern sie von einem Satz zum nächsten, da treibt die Handlung nach «hinten» statt nach vorne. Es ist ein «umgekehrter» Schneeball-Effekt, der in Grübers Inszenierung zum Tragen kommt, eine Regieführung, die ihre Originalität aus der Offenlegung psychischer Abwehrmechanismen bezieht. So sehr Grüber die Spielräume des Fiktiven immer wieder von neuem auslotete, 42 so sehr blieb er seiner Grundüberzeugung treu, wonach Originalität des Stils in der vermeintlichen Harmlosigkeit des Schauspiels, in der «verhaltenen Beredsamkeit» der Gestik begründet liegt. In diesem Sinne lässt sich seine Inszenierungspraxis in die Nähe von Jelineks eigenwilligem Ich möchte seicht sein 43 rücken, eine Willensbekundung, die eine radikale Absage an die traditionelle Schauspielästhetik signalisiert, an eine dem Mitempfinden verpflichtete Darstellungsweise. Beide Künstler gehen von der Überzeugung aus, dass Schauspielkunst sich nicht in einem «Wechselverhältnis zwischen den inneren Regungen [. . .] der Seele und ihrem körperlichen Ausdruck» 44 erschöpft, sondern als performatives Ereignis, als «illokutionärer Akt», als Darstellung von «Tätigkeiten» 45 aufgefasst werden muss, die die Kräfte der Verdrängung ins Zentrum des theatralen Geschehens rücken. Weder dem Regisseur noch der Schriftstellerin geht es um die Authentizität des Schauspiels, um die bürgerliche Vorstellung, dass das Theater vornehmlich repräsentativen Zwecken zu dienen habe. Grüber und Jelinek zielen vielmehr auf eine Ausdrucksform, die sich von der psychologisierenden Darstellungsweise distanziert und aus dieser Distanz heraus ein seichtes Schauspiel anstrebt, «Seichtigkeit» gar zum Inszenierungsprinzip erhebt, 41 Vgl. Fußnote 8 auf S. 175. 42 In der einschlägigen Literatur wird insbesondere die Inszenierung von Rudi als nie dagewesenes Spiel mit Fiktionalisierungsprozessen hervorgehoben. So schreibt etwa Fischer-Lichte: «En comparaison à d ’ autres spectacles (même d ’ autres productions de Grüber), le rapport entre espaces réels et espaces fictionnels était fondamentalement différent.» (Réalité et fiction dans le théâtre contemporain. In: Théâtres du contemporain. Revue d ’ études théâtrales, Nr. 11/ 12, Winter- und Frühjahrsausgabe 2006/ 2007, Paris: Sorbonne, S. 7 - 22, S. 16.) 43 Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. [1983]. In: Homepage Elfriede Jelinek (http: / / www. elfriedejelinek.com, über die Rubrik «zum Theater», zuletzt eingesehen am 10. 02. 2014). 44 Kandinskaia, Natalia: Postmoderne Groteske - groteske Postmoderne? Eine Analyse von vier Inszenierungen des Gegenwarttheaters. Münster/ Westfalen: Lit 2012, S. 51. 45 Jelinek: Ich möchte seicht sein. 184 <?page no="185"?> wobei gerade das Frivole zuweilen Abgründe enthüllt. Das auf sprachliche Oberflächlichkeit zielende Gebot der Seichtigkeit soll «das Phantasma des Lebendigen, der lebendigen Person auf der Bühne» 46 zerstören. Auf die Frage, ob seine Kunst «typisch deutsch» sei, hätte Grüber womöglich ähnlich zurückhaltend reagiert wie der jetzige Intendant der Berliner Schaubühne Thomas Ostermeier, der in einem Interview mit dem ZEITmagazin sein Unbehagen darüber äußerte, von der Öffentlichkeit als «Gesicht des modernen deutschen Theaters» 47 wahrgenommen zu werden. 48 Diesem Unbehagen zum Trotz gehören sowohl Grüber als auch Ostermeier zu jenen Theaterschaffenden, die sich von einem Theater der «Sehnsucht» angezogen fühlen und die gleichzeitig zu eben dieser Sehnsucht bewusst auf Distanz gehen, weil mit ihr die Gefahr gegeben ist, dass sie «einen ins Verderben zieht.» 49 Es bedarf umsichtiger Regisseure, um den Untiefen, der Abgründigkeit des wohl dynamischsten aller Leiden nicht zu erliegen. Grübers Inszenierungsstil, die diesen auszeichnende «verhaltene Beredsamkeit in As-Dur», ist aus der Angst vor diesen Untiefen geboren. Im Zuge seiner Beschäftigung mit Texten, in denen «Verdrängung» thematisiert wird, stieß Grüber auf den in Deutschland als «seichter Boulevardautor» geltenden Labiche, den er zum geheimen Spezialisten für das Erinnern und Vergessen kürte. Mit dem seiner Zunft eigenen Instinkt erkannte er, dass Labiche mit der Affaire der Übergang von der Salonkomödie zur satirisch-literarischen Komödie gelungen war und dass man dem Vaudevillisten Unrecht tat, wenn man dieses Stück als oberflächliches Unterhaltungstheater diskreditierte. Es ist anzunehmen, dass Grüber mit seiner Textwahl auch dazu beitragen wollte, das in Deutschland vorherrschende Vorurteil zu beheben, wonach das Vaudevilletheater ausschließlich «von einem konservativen Grundkonsens geprägt» 50 sei und «Gesellschaftskritik» nur auf oberflächliche Weise betreibe. Auf die Entscheidung für Labiches Affaire folgte die Suche nach einem einfühlsamen Übersetzer, der die notwendigen Qualitäten mitbrachte, um das Werk auf angemessene Weise ins Deutsche zu übertragen. Grüber war sich durchaus darüber im Klaren, dass die Qualität seiner Inszenierungs- 46 Schößler, Franziska: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre. Tübingen: Narr 2004 (= Schriftenreihe 33), S. 30. 47 Lebert, Stephan: Der Radikale. Der Regisseur Thomas Ostermeier ist das Gesicht des modernen deutschen Theaters. In: ZEITmagazin, Nr. 50, 08. 12. 2011, S. 14 - 25, S. 14. 48 Ostermeier gibt dem Journalisten folgende Aussage zu Protokoll: «Der Blick auf mich ist wohl so. Aber fragen Sie mich nicht, was an mir deutsch ist. Vermutlich viel, aber ich zucke bei allem zusammen, ich will das nicht. Vielleicht ist das gerade das Deutsche.» (Ebd., S. 24). 49 Ebd., S. 17. 50 Grosse, Bettina: Das Café-théâtre als kulturelles Zeitdokument. Geschichte - Gattung - Rezeption. Tübingen: Narr 1990 (= Forum modernes Theater/ Schriftenreihe 3), S. 101. 185 <?page no="186"?> arbeit wesentlich von der Qualität der Textvorlage abhing. War ihm, als er sich mit seinem Anliegen an den Verlag Nyssen & Bansemer wandte, bewusst, dass mit dieser Wahl eine Entscheidung für eine Autorin getroffen war, die sich mit ihren eigenen Texten dem «Theater des Gedächtnis» verschreibt? Auch wenn es auf diese Frage keine klare Antwort gibt, so ist zumindest davon auszugehen, dass zwischen Grüber und Jelinek völlige Übereinstimmung hinsichtlich der Leseweise des Stückes bestand: Beide fassten die Affaire gerade nicht als Boulevardstück auf, sondern als vaudevilleskes Alptraumszenario, dessen eigentümliche, düster-heitere Atmosphäre aus der ihm eigenen «Systemik des Rhythmus» gespeist wird. Beide entwickelten ein besonderes Gespür für «die systemischen Beziehungen innerhalb des dramatischen Geschehens,» 51 für «die dramatische Wirkungsweise» 52 des Textes und vermieden dadurch einen allzu simplifizierten Schematismus, wonach Schicksallosigkeit der Charaktere ein eindeutiges Indiz für oberflächliche Unterhaltung sei. In den nächsten Kapiteln möchte ich die in Grübers Affaire 53 enthaltenen Aufführungskomponenten analysieren, 54 wobei sich der Fokus auf die in Kapitel IV, 3 bereits untersuchte «Szene 2» richtet. Im Vordergrund meiner Untersuchung sollen - unter Heranziehung der bereits gewonnenen Ergebnisse - die Figurengestik, die Konzeption der Sprechpause, die Dramaturgie des Lichts und der Requisiten stehen. Wie aus den Ausführungen des Kapitels V, 2 deutlich geworden sein dürfte, wird der theoretische Unterbau durch das Denken Meschonnics bzw. durch die Begrifflichkeit Löseners geliefert. Da letztere allerdings noch nicht im Hinblick auf die Aufführungsanalyse, sondern lediglich im Hinblick auf die Dramenanalyse definiert wurde, steht das nun folgende Teilkapitel im Dienst einer begrifflichen Erweiterung. 3. Grübers Inszenierung der Affaire Rue de Lourcine 3.1 Die Aufführung als System Der Erfolg von Grübers Inszenierung verdankt sich zu einem erheblichen Teil Jelineks Übertragungsarbeit, die dem Stück Labiches im deutschen Sprachraum zu neuer Bekanntheit verhalf. Allerdings wurde die Berliner Aufführung 51 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 220. 52 Ebd. 53 Co-Regie: Ellen Hammer/ Lenglumé: Udo Samel/ Mistingue: Imogen Kogge. 54 Ich stütze mich hierbei auf folgende Fernsehaufzeichnung des Zweiten Deutschen Fernsehens: Grüber, Klaus-Michael (Theaterregie)/ Behle, Peter (Fernsehregie): Affaire de la Rue de Lourcine. Schauspiel im ZDF: Die aktuelle Inszenierung. DVD (89 Minuten). Mainz: ZDF 1988. 186 <?page no="187"?> mit ganz anderen Inhalten und Gedanken verknüpft, die mit den Bedeutungen des Entstehungszusammenhangs [. . .] wenig zu tun haben. Es kommt in solchen Fällen zu einer ‹ trahison créatrice › (Escarpit), zu einem ‹ schöpferischen Verrat › am Original, der die Grundvoraussetzung für das neue Leben in der Fremde bildet. 55 Da Jelinek in ihrer Übersetzung die im Original enthaltene «Systemik des Rhythmus» wiedergibt, ist die «trahison créatrice» demnach bei Grüber anzusiedeln, der zu der burlesken Komik Labiches ganz andere Assoziationsräume herstellt als seine französischen Kollegen. Im Gegensatz zu den hellen Klangfarben, die Sivadiers Inszenierung auszeichnen, entfaltet sich bei Grüber eine andere Art der Musikalisierung, die sich - um erneut Thielemann zu zitieren - auf den Nenner «dunkel mit Leichtigkeit» 56 bringen lässt. Statt mit aufgeregter Betriebsamkeit, ständigen Tempovariationen und hektischen Konfigurationswechseln wird der deutsche Zuschauer mit slow motion- Bewegungen konfrontiert, die eine statuarische, der Definition vaudevillesker Komik zuwiderlaufende Ruhe ausstrahlen. Der Schneeball-Effekt weicht einer besonnenen, sich zuweilen ins Lethargische ziehenden Regieführung, die die Frage nach dem gebotenen Tempo des Vaudeville-Genres auf den Kopf stellt: Wie lässt sich erklären, dass Grübers Inszenierung auf unentwegtes Türenklappern problemlos verzichten kann? Um obige Frage zu beantworten, soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, das systemische Denken um die Aufführungskomponente zu erweitern. Dabei gehe ich zunächst - in Anlehnung an Lösener - von der Prämisse aus, dass die Inszenierung ein System darstellt, in dessen Zentrum die performative Seite der Sprache steht, jene bereits im Text angelegte Inszenierung, die durch die Aufführung eine vollsinnliche Realisierung erfährt. Mit dieser Prämisse soll nicht der Anspruch erhoben werden, eine definitive Antwort auf die Frage gefunden zu haben, wie im Rahmen einer Aufführungsanalyse der physischen Materialität der theatralen Performance Rechnung getragen werden kann. Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass mein «Experiment» ein Beitrag unter vielen in der regen Diskussion um die Überwindung des semiotischen Ansatzes 57 darstellt. Dennoch reizt mich der Gedanke, eine Begrifflichkeit zu erproben, die sowohl der dramatischen 55 Strutz, Johann/ Zima, Peter V. (Hg.): Literarische Polyphonie: Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur. Tübingen: Narr 1996 (= Beiträge zum Symposium anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Instituts für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Klagenfurt), S. 8. 56 Vgl. Fußnote 34 auf S. 182. 57 Die Theaterwissenschaft hat die Diskussion um die Überwindung des semiotischen Ansatzes in ihre Überlegungen um den Begriff der Performativität aufgenommen. Sie geht dabei von der Feststellung aus, dass die so genannte «Semiologie der Inszenierung», wie sie von Erika Fischer-Lichte oder Anne Ubersfeld in der 1980er Jahren entwickelt wurde, keine Antwort auf die Frage nach der Wirkungsmächtigkeit von Aufführungen parat hält. 187 <?page no="188"?> Wirkungsweise des Textes als auch der Aufführung Rechnung trägt. Weil der systemische Ansatz die Komponenten «Text» und «Aufführung» nicht als Gegensätze betrachtet, sondern als symbiotische Einheit, bietet er die Möglichkeit, Beziehungen und Bezüge zwischen geschriebener (Text) und gesprochener Handlung (Aufführung) herzustellen und somit «die Interaktion zwischen dem wahrgenommenen theatralen Ereignis und der sprachlichen Formulierung» 58 in Augenschein zu nehmen. Ähnlich wie bei der systemischen Textinterpretation (erster Themenkomplex), in der es «unentwegt darum [ging], was ein Ausruf, eine Replik, eine Geste macht,» 59 geht der hier vorgestellte Ansatz von der Frage aus, was die theatralischen Komponenten im jeweiligen «Zusammenspiel der vielfältigen Gliederungsmomente» 60 bewirken. So wie ein Text systemisch gelesen werden kann, so lässt sich auch die Aufführung als ein System von Werten definieren, die «ihre semantische Produktivität» 61 innerhalb klar definierter Grenzen entfalten. Auch wenn dieser Gedanke nicht explizit in Meschonnics Poétique du traduire entwickelt wurde, ist doch die Tatsache, dass für den französischen Denker «Übersetzung» und «Inszenierung» eine enge Symbiose bilden («Traduire, c ’ est mettre en scène») 62 ein Indiz dafür, dass sein Denken auch auf das System «Aufführung» übertragbar ist. 3.2 Systemische Analyse der Aufführungskomponenten Zu Beginn der Szene schält sich Lenglumé Stück für Stück aus dem Bettvorhang hervor, mit dem er seinen Unterkörper bedeckt hält. Als er zu sprechen beginnt, sind nur Kopf und Oberkörper für den Zuschauer sichtbar, sodass der Eindruck entsteht, er sei unbekleidet und wolle seine Nacktheit hinter dem Vorhang verbergen. Doch der Eindruck trügt: Denn erstens ist Lenglumé nicht nackt (er glaubt es nur), und zweitens kennt er kein Schamgefühl - jedenfalls nicht, wenn er sich unbeobachtet weiß. Tatsächlich löst sich der Griff um den samtenen Stoff, nachdem er sich schweifenden Auges vergewissert hat, dass er allein ist. Der Blick der Zuschauer, denen sein Monolog ad spectatores zugedacht ist, kümmert ihn nicht, da von ihnen keinerlei Gefahr ausgeht. Was hier zu Beginn der zweiten Szene angedeutet wird, gilt für die gesamte Inszenierung: Grüber verlässt sich auf winzige Fingerzeige, um den Zuschauer in die Thematik des Stückes einzuführen. Gerade die erste Szene enthält eine ganze Reihe «von Hinweisen, aus denen 58 Stenzel, Julia: Der Körper als Kartograph. Umrisse einer historischen Mapping Theory. München: ePodium 2010 (= Intervisionen 9), S. 109. 59 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 202, Hervorhebung im Original. 60 Ebd., S. 203. 61 Ebd., S. 100. 62 Meschonnic: Poétique du traduire, S. 394. 188 <?page no="189"?> sich ein komplexes, semantisch performatives 63 Spiel ergibt. Von Anfang an soll die Unfähigkeit der Hauptfigur demonstriert werden, das bestehende Normensystem anzuerkennen, es so zu verinnerlichen, dass es sich auch in «unbeobachteten Momenten», auch ohne gesellschaftliche Zensur, als tragfähig erweist. Die Tatsache, dass Lenglumé keine Körperscham empfindet, dass ihm jene Selbstreflexion fehlt, deren Funktion in einem allgemeinen Bremsvorgang begründet liegt, ist als Zeichen selbstbezogenen Agierens zu werten. Die Banalität des völlig emotionslos gesprochenen Eingangssatzes («Wo ist denn nur meine Hose? ») stimmt den Zuschauer auf eine Figur ein, die die Welt von ihrer Gegenständlichkeit her wahrnimmt. Angesichts der Zusammenhanglosigkeit der auf Lenglumé einströmenden Gedanken und Bilder geht offenbar von der Konkretheit der verloren geglaubten Hose eine tröstliche Wirkung aus. Gleichzeitig wird durch die mangelnde Modulation der Stimme die Unaufgeregtheit, die Passivität einer Figur vorgeführt, die in allen Momenten ihres Daseins ein ausgeprägtes Phlegma an den Tag legt. Auffallend ist weiterhin das «Sprechen in Intervallen», das Assoziationen zu dem von Jelinek geprägten Bild nahelegt, wonach der Alkohol die funktionelle Organisation von Lenglumés Hirn vorübergehend «ausknipst.» Diese Vermutung bestätigt sich im weiteren Handlungsverlauf: Je erbarmungsloser der Selbstläufer-Effekt unaufhaltsam aneinandertreffender Ereignisse, desto «löchriger» Lenglumés Redeweise, desto unausgeprägter dessen Fähigkeit, angemessen auf jene Ereignisse zu reagieren. Anders als die von Wolfgang Iser postulierten Leerstellen, die auf den Leser als Aufforderung wirken, die Lückenhaftigkeit des Textes aufzufüllen, fühlt sich der Zuschauer, der einer Aufführung von Grübers Affaire beiwohnt, nicht bemüßigt, das Ausgesparte in eigene Vorstellungsinhalte zu transformieren. Dies mag damit zusammenhängen, dass Grüber das Sprechen in Intervallen als eine vom dramatischen Subjekt emanzipierte Bühnensprache konzipiert. Im Gegensatz etwa zu der Inszenierung Herbert Fritschs, in der der Zuschauer ständig dazu angehalten wird, eigene Assoziationen zu aktivieren und die vorenthaltenen Textstellen in einen kohärenten Zusammenhang einzubetten, stellt in Grübers Inszenierung das wiederholte Schweigen ein für sich stehendes Prinzip der kreisenden Bewegung dar, die sich im leerlaufenden Spiel der Wiederholung gleichsam wieder aufhebt. Die Aufeinanderfolge von Pause und Klang führt das Verstreichen der Zeit vor und steht somit in direkter Beziehung zu dem wohl wichtigsten Requisit des Grüberschen Inszenierungssystems, der «pendule à poser» (zu Dt. Kommodenuhr), die als Sinnbild geordneter Bürgerlichkeit die Vorstellung erzeugt, eigens dafür erfunden worden zu sein, den bürgerlichen Alltag zu rhythmisieren, ihn in geordnete Bahnen zu lenken. Beide Aufführungs- 63 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 231. 189 <?page no="190"?> komponenten (Sprechen in Intervallen, Uhr) stellen Hör- und Seherlebnisse dar, bei denen die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das Moment des «Wiederkehrenden» gerichtet ist und nicht auf das [. . .] Zeitintervall, somit auch nicht auf die Anzahl seiner Wiederholungen, um etwa festzustellen, wie lang das Phänomen dauert. [Er] bemerkt lediglich die gleichmäßige Jetzt-Wiederkehr; [er] ‹ zähl[t] › ; dazwischen gibt es ‹ Nichts › . Was [er] registrier[t], ist nicht Dauer, sondern eben Wiederkehr, das gleichförmig wiederkehrende, das je und je gezählte Jetzt: tik-tik-tik - . . ., jetzt-jetzt-jetzt - . . . 64 Als Moment der «Jetzt-Wiederkehr» erscheint die Sprechpause bei Grüber zugleich aufgefüllt und als Leerstelle angezeigt: aufgefüllt, weil sie als Symbol für die innere Leere der Figuren fungiert; als Leerstelle angezeigt, weil sie die (Sprach)handlung gleichsam aufzuheben scheint. Indem Grüber das wiederholte Schweigen zum wichtigsten Inszenierungsprinzip erhebt, gelingt es ihm, den «Jetzt»-Bezug der Figuren, deren unheimlich anmutendes Verhaftetsein an das «Hier und Jetzt» des bürgerlichen Wohllebens auf rhythmische Weise zu versinnbildlichen. Wenn die systemische Organisation der Aufführung analysiert werden soll, dann muss auch die Dramaturgie des Lichtes als Wert aufgefasst werden, der mit den übrigen Werten des Aufführungssystems zahlreiche Verknüpfungen eingeht. So wie die Konzeption der Sprechpause zur Rhythmisierung der Inszenierung beiträgt, so werden auch durch die Beleuchtung «Gewichtungen» 65 produziert, deren «Sinneffekte» 66 im Zusammenspiel mit den anderen Werten entstehen. 67 In Analogie zur Konzeption der Sprechpause stellt das Licht eine «aktive» Komponente dar, die von ihrer Umkehrung, vom Dunklen her gemessen wird. Das helle Licht, in dem Lenglumé agiert, steht in deutlichem Kontrast zu dem schemenhaften Dunkel der ihn umgebenden gegenständlich-dinglichen Welt. Helligkeit fungiert hier als abgekehrter Teil des Dunklen, sie «ist nicht ein Etwas [. . .], das außerdem leuchtet, sondern [. . .] ein Es leuchtet, ein Sich-Hervorbringen.» 68 Unter psychoanalytischer Perspektive verweist dieses «Es leuchtet» auf eine Welt, die jenseits der bürgerlichen Ordnung situiert ist und eigenen Regeln gehorcht, auf eine Welt, die von dem triebgesteuerten Es beherrscht wird, von jener psychischen Instanz, die dem Bewusstsein verborgen bleibt. Zwischen dem «Es leuchtet» und der Dunkelheit gibt es keinen Schatten, kein optisches Ausgleichselement, wodurch die Vorstellung nahegelegt wird, dass zwischen Lenglumé und 64 Georgiades, Thrasybulos: Nennen und Erklingen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985 (= Sammlung Vandenhoeck), S. 42, Hervorhebung im Original. 65 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 92. 66 Ebd., S. 270. 67 Meschonnic weist explizit auf die «Interdependenz zwischen Rhythmus und Sinn» hin. (Ebd., S. 95). 68 Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 117. 190 <?page no="191"?> der in Umrissen wahrgenommenen bürgerlichen Welt keinerlei Verbindung mehr besteht. Dem Zuschauer erscheint die Hauptfigur der Affaire in einem Licht, dessen unheimlich anmutende Strahlkraft die Kluft zur bürgerlichen Ordnung offenbar macht. Es vergehen Minuten, ehe sich Lenglumé aus dem Bett erhebt und eine ratlos-tastende Suche nach einer Hose vornimmt, die er seit dem vergangenen Abend nicht abgelegt hat. Den Blick streng nach vorne gerichtet, lässt er sich auf das Wagnis ein, das Zimmer schlurfenden Schrittes zu durchqueren, wobei er alle Mühe darauf verwendet, die Belastung auf den Bewegungsapparat möglichst gering zu halten. Die so entstehende Gangart mutet starr an, jeder Schritt muss dem Körper abgerungen, jede Bewegung vorausgeplant werden. Durch einen Blick in den Spiegel erhält Lenglumé Aufschluss über den Verbleib seines Kleidungsstücks: «(sich betrachtend) Nanu . . . Ich bin ja drin! . . . Das ist aber sonderbar. . . Ich bin mit der Hose ins Bett gegangen . . .» Auf diese Sätze folgt eine auffallend lange Sprechpause, in der die dramatische Qualität durch die bildhafte Komponente (Spiegel) an Intensität gewinnt. Der Gefahr der Schwerfälligkeit entgeht der Schauspieler durch eine durchgearbeitete Mimik, die nicht exzessiv, sondern auf die Essenz zusammengedrängt wirkt. Sein im Bild des Spiegels auftauchendes Gesicht stellt eine grotesk verzerrte Fratze dar, in der sich das Bewusstsein existenzieller Bedrohung andeutet. Bevor allerdings der Zuschauer versucht ist, dieses Mienenspiel als Zeichen aufziehender Tragik zu interpretieren, weicht die Spannung einem desinteressierten Gesichtsausdruck. Die nun folgenden Sätze («Ach! Ich erinnere mich! . . . Psst! Madame Lenglumé ist nicht hier. . .») werden mit jenem Gleichmut gesprochen, von dem Lenglumé immer dann erfasst wird, wenn von seiner Frau die Rede ist. Auch der vielsagende Blick lässt sich im Hinblick auf sein spannungsvolles Verhältnis zu «Norine» interpretieren, die ausnahmsweise «nicht hier ist», um dem Ehemann aufzulauern. Aus dieser ungewohnten Freiheit heraus ergibt sich für Lenglumé die Gelegenheit, eigenen Gedanken nachzuhängen, die - ungeordneten Fetzen gleich - vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. Bald schleicht sich auf seinen dumpf wirkenden Gesichtszügen ein Zug des Triumphes ein, den der Zuschauer dahingehend interpretiert, dass die Konturlosigkeit der inneren Bilder zunehmend einer gewissen Strukturierung weicht. Insgesamt sind die einzelnen Bewegungen der Gesichtsoberfläche Lenglumés im Sinne einer «performativen Kohärenz» sorgfältig aufeinander abgestimmt. «Kohärenz» meint hier die Aufeinanderfolge von mimischen Facetten, die in ihrer Gesamtheit das Bild einer allein auf ihren eigenenen Vorteil ausgerichteten Persönlichkeit ergeben. Auch der nachfolgende Satz («Gestern hab ich wirklich über die Stränge geschlagen . . .») wird durch eine aussagekräftige Geste begleitet: Lenglumé hält sich während des Sprechens mit der Hand den Kehlkopf, eine Geste, die die Vermutung nahelegt, er wolle seine löchrige Sprechweise durch äußere 191 <?page no="192"?> Einwirkung anregen, ihr auf mechanische Weise abhelfen. Die Bewegung ist als Ersatzhandlung zu verstehen, als Indiz für ein Milieu, das grundsätzlich auf Ursachenbehebung verzichtet und stattdessen Symptombehandlung betreibt. Während der nächsten Replik («Sakrament! Hab ich einen Durst! ») bewegt sich Lenglumé auf die rechte Seitenwand zu und «nimmt eine Wasserkaraffe vom Kamin», um «direkt daraus» zu trinken. Dabei hält er - wie zur Erinnerung an bürgerlich kultivierte Umgangsformen - in der linken Hand ein Glas, das angesichts seines übermäßigen Dursts keinerlei Verwendung findet. Was hier sichtbar wird, ist Grübers Interesse für die bereits im Text angelegten gestischen Störungen, die eine an den Zuschauer gerichtete Signalwirkung ausüben. Das ungebrauchte Glas steht für die Selbstverständlichkeit, mit der Lenglumé sich über einfache soziale Gepflogenheiten hinwegsetzt, für die Nonchalance, mit der er eigene Bedürfnisse befriedigt. Nachdem er sich der Karaffe und des Glases entledigt hat, holt er zu einem Vortrag aus, der seine rhythmische Strukturierung ausschließlich aus der Lückenhaftigkeit des Textes bezieht: «Ich war beim Jahresbankett der Ehemaligen des Labadens-Internats, wo ich einer der aller. . . mittelmäßigsten Schüler war. . . Meine Frau war dagegen . . . Also habe ich eine Migräne vorgeschützt. Ich hab so getan, als ob ich mich hinlegen wollte . . .» An dieser Stelle hält Lenglumé erneut auffallend lange inne, um plötzlich den Zuschauern im Flüsterton anzuvertrauen: «und husch! schon bin ich zu Véfour gezischt . . .» Bei diesem Beiseitesprechen ist zwar die epische Funktion offenkundig, dennoch wird hier kein «klassischer» Illusionsbruch vorgeführt, ist doch der gläserne Blick Lenglumés als Indiz dafür zu werten, dass die Figur ihrer Welt verhaftet bleibt und somit unfähig ist, das Publikum als eigene Entität wahrzunehmen. Bei den nun folgenden Sätzen («Ach, war das gut! Es gab Brandteigkrapfen mit Vanillesauce . . . mit Schlagsahne! . . . 69 und dann der Madeira . . . der Champagner. . . der Pommard! ») deutet das süffisante Lächeln Lenglumés darauf hin, dass er in Erinnerungen an die lukullischen Genüsse schwelgt, die ihm im «Véfour» zuteil wurden. Allerdings können in einer Inszenierung, die auf eine vordergründige Umsetzung der Figurenrede verzichtet, Text und Gestik nur phasenweise zur Deckung gelangen. Beim Stichwort «Pommard» wird Lenglumé von einer merkwürdigen Körperstarre erfasst, die die Vorstellung nährt, sein Körper rebelliere gegen den Habitus der Figur, die sinnlich-körperliche Dimension an das Verborgene abzutreten. Im Modus des Körperlichen tritt die Brüchigkeit einer Fassade zum Vor- 69 Offenbar aus Rücksicht auf das Berliner Publikum wird in Grübers Inszenierung auf den in Österreich gebräuchlichen Ausdruck «Schlagobers» verzichtet. 192 <?page no="193"?> schein, die die zunehmende Kluft zwischen Sein und Schein nur noch notdürftig zu kaschieren vermag. Auch in folgender Sequenz äußert sich der unsichtbare psychische Sinn in körperlichen Symptomhandlungen: «Sakra, hab ich einen Durst! (trinkt wieder aus der Karaffe) Ich fürchte, ich habe mich ein bißchen . . . vollaufen lassen . . .! Ich! Ein gesetzter Mann! . . .» Indem Lenglumé sich zu Beginn der Sequenz erhebt, um zum zweiten Mal direkt «aus der Karaffe» zu trinken, wird dem Zuschauer erneut die Unbekümmertheit eines vermeintlich «gesetzten Mannes» vorgeführt, der die grundlegendsten Umgangsformen nicht einzuhalten vermag. Wie wenig sich die Hauptfigur mit der Redewendung vom «gesetzten Mann» identifizieren kann, lässt sich zum einen an der Sprechpause erkennen und zum anderen daran, dass er sie im wörtlichen Sinn auffasst: Er setzt sich just in dem Augenblick, in dem er die Wendung ausspricht. Die sich anschließenden Sätze werden von der Monotonie der Stimme Lenglumés getragen, von jener Eintönigkeit, die durch die «Jetzt-Wiederkehr» der Sprechpausen gleichsam rhythmisiert wird: «Zu meiner Rechten saß ein Notar. . . nicht sehr aufregend . . . (lustig) Und zu meiner Linken so ’ n kleiner Babyflaschenfabrikant, der uns da eins gesungen hat . . . meine Herren! Also . . . das war mehr als ein bißchen gewagt . . .! Ich muß ihn unbedingt noch danach fragen . . . Allerdings . . . was nach dem Salat passiert ist . . . da verschwimmt mir alles komplett . . . (nachdenkend) Habe ich überhaupt Salat gegessen? Mal sehn . . . Nein! . . . Ich habe eine Gedächtnislücke! . . .» Besonders interessant ist in dieser Sequenz die Mimik, die den Satz «Mal sehn . . .» begleitet: Kaum hat Lenglumé die beiden Worte ausgesprochen, kneift er die Augen zu, d. h. er führt auf gestischer Ebene das genaue Gegenteil dessen aus, was er Sekunden zuvor gesagt hat. Der Zuschauer deutet diese (aufgrund der Leerstelle bereits im Text enthaltene) Diskrepanz als Hinweis darauf, dass die Figur - ihrer bekundeten Absicht zum Trotz - nicht willens ist, einen ungetrübten Blick auf den Strom der «ihr verschwimmenden» Gedanken zu werfen. Der Grund für diese Verweigerungshaltung ist in der «Gedächtnislücke» zu sehen, die an dieser Stelle als auffallend lange Pause, als «amnestische Episode» inszeniert wird. Dass diese Episode kein Einzelfall ist, sondern eine grundsätzliche Störung darstellt, deren Symptomatik Auswirkungen nicht nur auf Lenglumé selbst, sondern auf sein gesamtes gesellschaftliches Umfeld zeitigt, wird in der nächsten Sequenz deutlich: «Sowas! Wie zum Teufel bin ich hierher zurückgekommen? Ich erinnere mich noch schwach, beim Odéon herumspaziert zu sein, wo ich doch in der Rue de Provence wohne! . . . War es auch wirklich beim Odéon? Ich kann mich einfach nicht erinnern . . . Eine Gedächtnislücke! Immer ist da diese Lücke! » An dieser Stelle sieht der Nebentext vor, dass Lenglumé seine Taschenuhr vom Kamin nimmt (im originalen Wortlaut heißt es: «seine Uhr vom Kamin nehmend»). In Grübers Inszenierung gleitet 193 <?page no="194"?> sein Blick unversehens zu der auf dem Kamin thronenden «pendule à poser», von der - zum Erstaunen der Zuschauer - keine «uhrtypischen» Klänge, sondern graumelierter Dampf ausgeht. In dieser zugleich komisch wie unheimlich wirkenden Momentaufnahme fungiert Zeit nicht mehr als «Summation von Gegenwarten,» 70 als Moment der «Jetzt-Wiederkehr», sondern als diffuse Größe, die das Prinzip des «jeweiligen Neueinsetzens der Wiederkehr» gleichsam aus den Angeln hebt. Was bedeutet das Requisit nun im Hinblick auf die Figur Lenglumés? Wenn das zum bürgerlichen Statussymbol erhobene Messinstrument die Zeit nicht mehr wiederzugeben vermag, dann ist die bürgerliche Ordnung aufgehoben, die Welt wie aus den Fugen geraten. Wer sich wie die Hauptfigur über die in ihrem Milieu geltenden moralischen Richtwerte systematisch hinwegsetzt, dem gilt die alte Zeitrechnung nicht mehr, dem bieten andere (bzw. gar keine) Maßstäbe Orientierung. Wie wenig sich Lenglumé darüber im Klaren ist, dass er die bürgerliche Ordnung längst hinter sich gelassen hat, dass er seit langem einer Welt angehört, die jenseits der bürgerlichen Gesetze geortet ist, wird aus der letzten Sequenz deutlich, in der er jenem «Verdrängungsaktivismus» anheimfällt, der bereits dem originalen Haupt- und Nebentext eingeschrieben ist: «Halb zehn! . . . Beeilen wir uns! (Man hört es hinter den Vorhängen schnarchen.) Was? . . . Aus meinem Bett hat es geschnarcht! (erneutes Schnarchen) Himmelarsch! . . . Ich hab jemanden abgeschleppt, ohne es zu merken! . . . Mann oder Frau? (Er bewegt sich hastig zum Bett hin. Norine erscheint.) « So ergibt sich aus der Analyse der in Szene 2 enthaltenen Aufführungskomponenten, dass sich Grübers Inszenierung durch einen eigenen Rhythmus auszeichnet, der zwar in schroffem Gegensatz zum Schneeballeffekt steht, aber nichtsdestotrotz die im Text angelegten dramatischen Qualitäten in ebenso überzeugender Weise zum Leben erweckt wie die von den französischen Regisseuren inszenierten Kettenreaktionen. Ob Schneeballeffekt oder slow motion, beiden Mustern liegt eine «im Kopf des Regisseurs» vollzogene implizite Inszenierung 71 zugrunde, die «den Beziehungen der Textelemente zueinander» 72 Rechnung trägt. Im Hinblick auf Grüber stellt etwa die Dramaturgie des Lichts eine medial realisierte Aufführungskomponente dar, die sich direkt aus der sprachlich-rhythmischen Organisation des Textes ableitet. Auch die anderen Aufführungskomponenten (Figurengestik, Konzeption der Sprechpause, Requisiten) lassen sich auf die dramatische Performativität des Textes zurückführen. Anders als etwa Herbert Fritsch, der in 70 Vgl. hierzu das Kapitel zur Zeiteinteilung im bürgerlichen Alltag. In: Roeck, Bernd: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der frühen Neuzeit. München: Oldenburg 2010 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 9), S. 22 - 24, S. 22. 71 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 208 f. 72 Ebd., S. 210. 194 <?page no="195"?> seiner Inszenierung der Affaire den rhythmischen Qualitäten des Ausgangtextes wenig Beachtung schenkt und dadurch «heimtückische Akzentsetzungen» 73 schafft, gelingt es Grüber, das deutschsprachige Publikum an das vaudevilleske Spiel heranzuführen, ohne das Original zu verraten. Durch die Übersetzung Jelineks steht der Regisseur in einem ständigen dialogischen Austausch 74 mit den rhythmischen Bewegungen des Ausgangstextes - ein Austausch, der laut Antor zu den kreativen Potenzialen von Interkulturalität zu zählen ist. Grüber spürt die Affinität zwischen «traduire» und «mettre en scène», das dialogische Prinzip zwischen der dem Original nachempfundenen Sprache Jelineks und dem sich aus dieser Sprache ergebenden theatralen Potenzial. Hierin ist wiederum eine Gemeinsamkeit zu Sivadier gegeben, ist doch beiden Spielleitern gemein, dass sie in ihrer Inszenierungsarbeit einen gesteigerten Wert auf die «Art und Weise des Sagens» 75 legen, auf die Wirkung, die von dem ausgeht, «was die Wörter [. . .] nicht sagen, aber was sie machen.» 76 So lässt sich abschließend - unter Zuhilfenahme der Begrifflichkeit Antors - sagen, dass in Grübers Inszenierung das interkulturelle Dialogizitätsprinzip dadurch realisiert wird, dass die rhythmischen Bewegungen des Ausgangstextes einerseits nachempfunden und andererseits in ihr Gegenteil verkehrt werden. 73 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel IV, 3. 74 Vgl. hierzu die Ausführungen Heinz Antors, die in Kapitel V, 1. dargelegt wurden. 75 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 95. 76 Es handelt sich bei dieser Formulierung um Löseners Übersetzung von Meschonnics Übersetzungsmaxime («Traduire ce que les mots ne disent pas, mais ce qu ’ ils font»). In: ebd., Hervorhebung im Original. 195 <?page no="196"?> VI Vierter Themenkomplex: Vaudevilleske Züge in Jelineks Theatertexten Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften und Raststätte oder Sie machens alle 1. Nora oder der ewige Kreislauf weiblichen Leidens Dass literarische Werke durch interkulturellen Austausch geprägt sind, kann man fast schon als Gemeinplatz bezeichnen. Besonders augenfällig sind diese Transferprozesse im Bereich des westlichen Avantgardetheaters: «Namen wie Artaud, Craig, Reinhardt [. . .] Brook, Barba, Mnouchkine oder Wilson machen deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Theater, das in kulturell anders geprägten Kontexten entstanden ist, immer wieder zur Entwicklung radikal neuer Theaterästhetiken geführt hat.» 1 Elfriede Jelinek, die seit jeher im «Dialogizitätsprinzip» 2 der Kulturen wesentliche Anregungen fand, hat - in einer den genannten Regisseuren vergleichbaren Weise - vertraute Vorstellungen zum Theater durch fremdkulturelle 3 Ansichten erweitert. 4 Doch wodurch zeichnet sich die Singularität ihres interkulturellen Schreibens aus und was verbindet dieses Schreiben mit den Texten Labiches und Feydeaus? Als Gemeinsamkeit mit den Vaudevillisten ist die Schnelligkeit in der Abfolge der Szenen zu werten, die rhythmische Bewegtheit der Rede, die den Regisseuren «eine eigene theatralische Phantasie zu dem abverlangt,» 5 was die einschlägigen Werke bereithalten. Dabei besteht die inszenatorische Herausforderung darin, «das Tempo der Gedanken nachzuvollziehen, 1 Regus, Christine: Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik - Politik - Postkolonialismus. Bielefeld: Transcript 2007, S. 9. 2 Vgl. hierzu die Definition Heinz Antors: Beim Dialogizitätsprinzip «handelt [es] sich [. . .] um die Idee, dass kulturelle wie individuelle Identität dialogisch formiert wird und sich so auch weiter entwickelt. Das Dialogizitätsprinzip bildet auch das präferierte Modell für das Aufeinandertreffen differenter Kulturen beziehungsweise für den Kontakt unterschiedlicher Positionierungen im hybriden transkulturellen Raum [. . .].» (Inter- und Transkulturelle Studien in Theorie und Praxis, S. 33). 3 Die Gegenüberstellung «fremd» vs. «vertraut» wurde - in Anlehnung an Anke Bosse - bewusst gewählt, um das Verhältnis der Differenz zu betonen. (Vgl. die Fußnote 515). 4 Insbesondere Roland Barthes stand bei der Abfassung ihrer theatertheoretischen Schriften Pate. (Vgl. hierzu: Ich möchte seicht sein sowie Sinn egal. Körper zwecklos). 5 Janke, Pia: Die Gedanken sind die Handlung. Nicolas Stemann im Gespräch mit Pia Janke. In: Janke, Pia & Team (Hg.): Elfriede Jelinek: «Ich will kein Theater.» Mediale Überschreitungen. Wien: Praesens 2007, S. 172 - 177, S. 174. 196 <?page no="197"?> aber auf eine theatralische Art und Weise» 6 (Nicolas Stemann). Wird diesem Anspruch nicht Genüge getan, besteht die Gefahr, dass die komischen Verästelungen, die das Vaudeville und das Theater Jelineks auszeichnen, im Konventionellen erstarren und in den Leerlauf münden. Eine weitere Gemeinsamkeit ist darin zu sehen, dass Jelinek und die Vaudevillisten Zweifel an so genannten bürgerlichen Texten hegen, die sich als Hort des Schönen, Wahren, Guten verstehen. Durch die Beschäftigung mit dem Vaudeville wurde Jelinek zweifellos in der Auffassung bestärkt, dass literarische Werke nicht auf bestimmte Ideen verweisen, nicht auf bestimmte Sachverhalte in der Welt referieren dürfen. Zwar entwickelten die Vaudevillisten noch keine dezentrierte Textstruktur und stellten auch nicht die Autorität der Autorinstanz infrage, doch waren sie bereits von der Notwendigkeit einer antimimetischen Darstellungsform überzeugt, in der die Inszenierung dadurch vorweggenommen wird, dass sie im Text selbst eingeschrieben ist. 7 Das Vaudeville und das postdramatische Theater Jelineks zeichen sich durch das Vorhandensein einer impliziten Inszenierung 8 aus, deren «wohl wichtigste Komponente» 9 die rhythmische Bewegung des Textes ist. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen liegt der Gedanke nahe, dass mit dem Vaudeville erste Weichen für eine neue Theaterästhetik gestellt werden, eine Ästhetik, die sich nicht dem Diktat des Zeichens unterordnet, der Logik eines Denkens, wonach Sinn nur «als Verbindung von Form und Inhalt» 10 gedacht werden kann. Ähnlich wie Jelinek gehen Labiche und Feydeau von der «Möglichkeit einer asemiotischen Konzeption» 11 des Schreibens aus, wobei Jelinek von der Tatsache fasziniert gewesen sein muss, dass die Vaudevillisten dem Rhythmus einen höheren Stellenwert beimaßen als dem Form-Inhalt-Dualismus. Dieser Perspektivenwechsel eröffnet eine neue Positionierung im Spannungsfeld von Mimesis und Theatralität, eine Positionierung, die sich wie folgt präzisieren lässt: «Anstatt die Welt bildhaft darzustellen,» 12 ihren vermeintlichen Sinn in eine unvergängliche Form zu gießen, wird auf die Worte selbst verwiesen, auf die Art und Weise, wie diese Worte Sinn produzieren. Auch wenn die Vaudevillisten noch keine «postdramatischen Autoren» sind, auch wenn Sprache in ihren Texten noch nicht - wie später bei Jelinek - als «Fläche» aufgefasst werden kann, lässt sich doch kaum leugnen, dass sie mit vermeintlich seichten Texten avantgardistisches Gedankengut transportieren. 6 Ebd. 7 Vgl. die Ausführungen zur «impliziten Inszenierung» in Kapitel III, 1. 8 Vgl. hierzu die Ausführungen Löseners auf den Seiten 205 f. 9 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 210. 10 Ebd., S. 62. 11 Ebd., S. 65. 12 Gilcher-Holtey: Politisches Theater nach 1968, S. 7 197 <?page no="198"?> Im Folgenden soll das Augenmerk auf Jelineks ureigenste Art der «intimen Auseinandersetzung» 13 mit den Werken der Vaudevillisten gerichtet werden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob diese Auseinandersetzung Auswirkungen auf ihr eigenes dramatisches Schreiben gezeitigt hat. Erste Antworten auf diese Frage hat die Forschung bereits gegeben. 14 So schreibt etwa Karin Hochradl, dass die Figuren in Jelineks 1996 erschienenem Stück Raststätte oder Sie machens alle durch die Prüfungen und Wirrungen keine Läuterung erfahren, weshalb dieses Werk bezüglich seiner Handlungsmodalität und dem gesellschaftskritischen Gehalt in etwa den Vaudevilles von Georges Feydeau oder Eugène Labiche gleichzusetzen wäre und vergleichend angemerkt werden kann, dass sowohl Inhalt als auch Sprache nicht obszöner oder kärglicher scheinen, als sei es noch vor hundert Jahren gewesen. 15 Es wäre allerdings falsch, zu glauben, Jelinek habe ausschließlich unter dem Eindruck ihrer Übersetzungstätigkeit vaudevilleskes Theater geschrieben. Bereits ihr 1977 verfasstes Drama Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften enthält deutliche Reminiszenzen an das Vaudeville, obwohl die eigentliche Begegnung mit dem Genre erst in den Jahren 1983 - 1990 erfolgen sollte. 16 Offenbar hatte die Autorin von Anfang an eine Affinität zum Vaudevillesken, eine Affinität, die im Zuge ihrer Übersetzungstätigkeit nur noch verstärkt zu werden brauchte. Gerade Nora ist hierfür ein eindrückliches Beispiel: So wie bei den Vaudevillisten die Ehe lediglich als äußere Ordnung, als bloße Oberfläche dargestellt wird, so kommt auch bei Jelinek die Ausschließlichkeit der Geschlechtsgemeinschaft lediglich als Farce vor. Zu Recht hebt Bernard Banoun hervor, dass sich das Stück durch ein vaudevilleskes Ende auszeichnet, d. h. durch «die Wiederherstellung einer Ordnung, wo die Personen am Ende ‹ kuriert › und wieder auf den ‹ rechten Weg › gebracht werden.» 17 Für diese vermeintlich gute Lösung muss Nora allerdings den Preis der Selbstaufgabe entrichten und ihre Emanzipationsträume zu Grabe tragen. Hierzu Banoun: «Die letzte Szene, das sogenannte Idyll, zeigt wie im Vaudeville das Fortbestehen der Ehe.» 18 13 Vgl. Fußnote 24 auf S. 20. 14 Den Vergleich zum Vaudeville stellt Karin Hochradl in Anlehnung an einen von Bernard Banoun verfassten Artikel her: Komik und Komödie in einigen Stücken Elfriede Jelineks. In: Schmidt-Dengler (Hg.): Komik in der österreichischen Literatur, S. 285 - 299. 15 Hochradl, Karin: Olga Neuwirths und Elfriede Jelineks gemeinsames Musiktheaterschaffen. Ästhetik. Libretto. Analyse. Rezeption. Bern: Lang 2010 (= Salzburger Beiträge zur Musik- und Tanzforschung 4), S. 344. 16 Vgl. hierzu die Ausführungen im Vorwort. 17 Banoun: Komik und Komödie in einigen Stücken Elfriede Jelineks, S. 294. 18 Ebd. 198 <?page no="199"?> Geht man von der Voraussetzung aus, dass Jelineks Nora ein modernes Vaudeville ist, dann lohnt sich ein Blick auf den Umgang der Autorin mit der deutschsprachigen Rezeption von Ibsens Et dukkehjem, einem von vielen Autoren geschätzten Hypotext, 19 dessen erstmalige szenische Umsetzung 20 eine Kontroverse um die Frage nach der Gattungszugehörigkeit auslöste. Im Vorfeld dieser Kontroverse stand die briefliche Auseinandersetzung zwischen Ibsen und dem Übersetzer Wilhelm Lange, 21 der gegen den erklärten Willen des Autors auf die originalgetreue Übersetzung des Titels (Ein Puppenheim) verzichtete und für den Vornamen der Hauptfigur (Nora) optierte. Durch diese übersetzerische Entscheidung, die als Anspielung auf Victorien Sardous beliebtes Gesellschaftsdrama Theodora 22 (zu Dt. Dora, 1877) verstanden werden sollte, wurde im deutschsprachigen Raum eine Erwartungshaltung geschaffen, die das Stück nicht erfüllen konnte. Die Premiere geriet zum Debakel, weil die Zuschauer auf eine «pièce à spectacle» eingestellt waren, auf eine Boulevardkomödie, und nicht auf eine «Gegenwartstragödie» mit gesellschaftskritischem Anspruch. 23 Eine zusätzliche Brisanz erfuhr die Aufführung dadurch, dass sie im Wallner-Theater (dem ehemaligen Königstädtischen Theater) gespielt wurde, einer «Volksbühne», die seit ihrer Eröffnung im Jahre 1824 dem Repertoire des Boulevard huldigte. 24 Mit der Neuübersetzung durch Marie von Borch wurde Nora oder Ein Puppenheim im deutschsprachigen Raum nur noch als «Gegenwartstragödie» gelesen und inszeniert. Genau dieser wiederum einseitigen Tendenz schreibt Jelinek mit ihrem Nora-Stück zuwider. Ziel ihres intertextuellen Schreibens 19 Vgl. zur Rezeption von Ibsens Schauspiel: Gutjahr, Ortrud: Starker Abgang aus dem trauten Heim? Henrik Ibsens Nora. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Nora und Hedda Gabler von Henrik Ibsen. GeschlechterSzenen in Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005 (= Theater und Universität im Gespräch 2), S. 17 - 42. 20 Nora wurde in Kopenhagen 1879 uraufgeführt, die deutsche Erstaufführung fand 1880 in Flensburg statt. Am 21. November 1880 wurde das Stück zum ersten Mal in Berlin aufgeführt. 21 Vgl hierzu: Ibsen, Henrik: Nora (Ein Puppenheim) (Et Dukkehjem). [1879]. Aus dem Norwegischen von Wilhem Lange. Stuttgart: Reclam 1988 (= Universal-Bibliothek 1257). 22 Sardou schrieb das Stück eigens für die Schauspielerin Sarah Bernhardt, die in den 1880er Jahren Weltruhm erlangte. 23 Durch die Übersetzung Marie von Borchs erfuhr Ibsen eine gewisse Genugtuung. Bereits der Titel Nora oder Ein Puppenheim macht deutlich, dass von Borch nicht in derselben Weise wie Lange auf eine Neutralisierung aller Fremdheitseffekte ausgerichtet war. Vgl. hierzu: Ibsen, Henrik: Nora oder Ein Puppenheim (Et Dukkehjem). [1879]. Aus dem Norwegischen in der von Ibsen autorisierten Übersetzung von Marie von Borch. In: Ibsen, Henrik: Nora oder Ein Puppenheim. Hedda Gabler. Frankfurt a. M.: Fischer 2008, S. 7 - 96. 24 Zu diesem Repertoire gehörten beispielsweise die Werke Carl Blums, der italienische und französische Unterhaltungsdramatik ins Deutsche übertrug. 199 <?page no="200"?> ist, nicht nur den gesellschaftskritischen Ansatz, sondern auch die parodistischen, grotesken, vaudevillesken Züge des Hypotextes ins Licht zu rücken. Jene unsichtbaren Fasern, die im Zuge der Neuübersetzung ins Abseits gedrängt wurden, sollen hervorgehoben und damit die Möglichkeit anderer Auslegungen eröffnet werden. Indem Jelinek in Nora den Fokus auf die Doppelbödigkeit des Stückes legt, macht sie deutlich, wie gerade das Leichte, Grazile zuweilen unvermutete Tiefen verschleiert. Sie bekennt sich zu einem «seichten» Theater, das die Form-Inhalt-Dichotomie des theatralen Zeichens, «das Kräftespiel dieses ‹ gut gefetteten Muskels › (Roland Barthes) aus Sprache und Bewegung» 25 hinter sich lässt. Ein solches Bekenntnis, das «den Willen zur Provokation» 26 signalisiert, knüpft an die Überzeugung an, wonach semiotische Bedeutungsweise und mimetische Nachahmung einer «verspielten Sprache» zu weichen haben, einer Sprache, die - so die Formulierung Jelineks - «in keiner Metaphysik, Religion, nicht einmal in einem Materialismus gründet, sondern eben: ist was sie ist und immer weiter, spielerisch, entwickelt, was die ganze Zeit schon da ist und gar nicht entwickelt zu werden braucht.» 27 Ein solches «verspieltes Schreiben» gleitet in Nora unversehens in ein provokatives ‹ Fortschreiben › : Wird bei Ibsen die Frage offen gelassen, ob die Hauptfigur eigene Schritte in ein selbstbestimmtes Leben finden wird, so wird bei Jelinek diese Frage mit einem eindeutigen «Nein» beantwortet. Der oben verwendete Begriff «Affinität», der auf eine früh angelegte Vorliebe Jelineks für das Vaudevilleske verweist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorin durch ihre ganz eigene Art der Auseinandersetzung mit Literatur Prägungen erfuhr, die für ihre eigene intellektuelle Positionsbestimmung entscheidend waren. Gerade im Hinblick auf das Vaudevilleske hat es mehrere Autoren gegeben, die ihr die Wege zu dieser spezifischen Form der Komik geebnet haben. Einer von ihnen ist Roland Barthes, dessen Einfluss auf Jelineks im Jahre 1983 erschienene Schrift Ich möchte seicht sein unverkennbar ist. 28 In diesem Text wird - in Anlehnung an Barthes - die Forderung nach einer Abschaffung des auf Repräsentation ausgerichteten schauspielerischen Systems der Darstellung erhoben, nach einer Auflösung des Verkörperungsbzw. des Mimesisprinzips, wonach eine kohärente Form einen ebenso kohärenten Inhalt zu übermitteln hat. Der Einfluss Barthes ’ macht sich auch durch dessen offenes Bekenntnis zum Vaudeville bemerkbar, einem Genre, das ein völlig neues Verhältnis zu der an 25 Jelinek: Ich möchte seicht sein. 26 Pflüger, Maja Sibylle: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek. Tübingen/ Basel: Francke (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 15), S. 254. 27 Jelinek: sich mit der Sprache spielen. Johann Nestroy. 28 Vgl. hierzu: Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität, S. 254 f. 200 <?page no="201"?> vielen Theatern nach wie vor gültigen «Moral der Verkörperung,» 29 der Repräsentation, entwickelt habe. Umso bedauerlicher empfindet Barthes die Tatsache, dass ein Autor wie Labiche seit Jahren auf die gleiche Weise gespielt wird, sei es bei Barsacq, bei Vitaly oder heute bei Postec: mit den gleichen, bis zur Sinnlosigkeit stilisierten Kostümen, dem gleichen Augenrollen, der gleichen Emphase der Komik, der gleichen Verwendung der ulkigen Triebfedern des Lachens. Es gibt inzwischen eine richtiggehende Rhetorik der Labiche-Inszenierungen, die zwischen der Avantgarde und dem Boulevard liegt: all das, von den Kritikern unter dem Namen der guten Laune abgesegnet, ergibt eine Dramaturgie, die ebenso konventionell und kodifiziert ist wie die Racine-Dramaturgie des Théâtre Français. 30 Ganz im Sinne Barthes ’ und der Vaudevillisten verficht Jelinek eine Schauspielprogrammatik, die - «jenseits der semiotischen Artikulation» 31 - den Zwängen der Repräsentation auszuweichen sucht: «Die Schauspieler sollen sagen, was sonst kein Mensch sagt, denn es ist ja nicht Leben. [. . .] Sie sollen sagen, was los ist, aber niemals soll von ihnen behauptet werden können, in ihnen gehe etwas ganz anderes vor.» 32 Gutes Schauspiel zeichne sich - so die Überzeugung - nicht dadurch aus, dass «innere Gefühle» in angemessene Bewegungen umgesetzt, dass die emotionalen Aspekte der Sprache gesondert hervorgehoben werden. Nicht auf das, was der Schauspieler empfindet, kommt es an, sondern auf die Wirkung, die sich aus dem «Machen im Sagen» 33 ergibt, auf den Rhythmus, der sich als Bewegung des Sprechens realisiert. Um diese Performativität der Sprache geht es Jelinek, wenn sie schreibt, dass «die Schauspieler sagen sollen, was los ist,» um diese Performativität geht es Barthes, wenn er im Reich der Zeichen 34 ein dezentriertes Theater vorstellt, dessen befreiende Wirkung nicht von der Einheit, sondern von der Trennung zwischen dem Körper und der psychischen Verfasstheit des Schauspielers ausgeht. Die Einmütigkeit dieser Überzeugungen darf allerdings den Interpreten nicht daran hindern, zu fragen, was eigentlich falsch daran ist, Gefühle auf die Bühne zu transponieren. Lässt sich der Mensch überhaupt anders darstellen als durch das, was er empfindet, als durch jene machtvollen Affekte, Emotionen, Leidenschaften, die das charakteristisch Menschliche aus- 29 Barthes, Roland: Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin (die deutsche Version bezieht sich auf das in den Écrits sur le théâtre enthaltene Kapitel J ’ ai toujours beaucoup aimé le théâtre et pourtant je n ’ y vais presque plus.) Aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig. Berlin: Alexander 2001, S. 105. 30 Ebd., S. 155. 31 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 90. 32 Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. 33 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 95. 34 Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. [1970]. Deutsch von Michael Bischoff. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981. 201 <?page no="202"?> machen? Fehlt dem Theater, dem Ort der Menschendarstellung, nicht eine wesentliche Dimension, wenn es sich dem Ausleben der menschlichen Gefühlspalette verschließt, wenn es die Katharsis und damit sein wesentliches Wirkungsprinzip seit der Begründung des Theater in der Antike verabschiedet? Eindeutige Antworten auf diese Fragen sucht man in der Forschung vergebens, gehört es doch inzwischen zum unhintergehbaren Konsens, dass psychologisierendes Theater per definitionem schlechtes Theater sein muss. Auch Jelinek beschränkt sich in Ich möchte seicht sein darauf, die eingespielten Theaterkonventionen zu hinterfragen, ohne auf das «Warum» dieser vermeintlich unverbrüchlichen Wahrheit einzugehen. So möchte ich denn an dieser Stelle eine vorsichtige Neuformulierung des Mimesisproblems wagen: Theater ist immer ein gedachter, ein fiktiver, ein imaginärer Raum, der zwar zu dem erlebten Raum der Wirklichkeit in einer - wie auch immer gearteten - Beziehung steht, dessen Konstruktionscharakter aber nicht negiert werden kann. «Das Problem sind nicht die Gefühle, die ja auch im gewöhnlichsten Leben durchaus groß geraten können. Das Problem ist, dass die Gefühle als wahrhaftig, als echt, als in dem Augenblick real erlebt behauptet werden.» 35 Indem sich das Schauspiel als Konstruktion zeigt, befreit es sich von dem Widerspruch, Emotionen vorzuführen, die vom Zuschauer als genauso ‹ wahrhaftig › , als genauso ‹ echt › wahrgenommen werden wie im wahren Leben. Es ist ein ‹ Befreiungsschlag › , durch den das Theater die Möglichkeit erhält, seiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen, die - den postdramatischen Autoren zufolge - in erster Linie darin besteht, «dem Zuschauer Material vorzuwerfen.» 36 Wie gelingt es aber nun der Autorin, das Genre des Vaudeville zu modernisieren? Wie wird die Ausschließlichkeit der Geschlechtsgemeinschaft in Jelineks hochaktuellem Theaterstück 37 Nora ad absurdum geführt? Im Folgenden soll - unter Heranziehung der systemischen Lesepraxis - der Versuch unternommen werden, diese Fragen «über die Grenzen des Zeichenmodells hinaus» 38 zu beantworten. Dabei gereicht mir die Prämisse Löseners zum Nutzen, wonach die wichtigsten Inszenierungsgrößen der Körper und die Sprache sind. Beide Komponenten leiten sich aus der 35 Kermani, Navid: Befreit Bayreuth! In: DIE ZEIT, Nr. 34, 16. 08. 2012, S. 44. 36 Lehmann, Hans-Thies: Vom Zuschauer. In: Deck, Jan/ Sieburg, Angelika (Hg.): Paradoxien des Zuschauers. Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater. Bielefeld: transcript 2008, S. 21 - 26, S. 22. 37 Nora ist deswegen so aktuell, weil «viele Themenbereiche [. . .], etwa Finanzen, Globalisierung und Spekulation, im heutigen Schreiben von Elfriede Jelinek wieder sehr präsent [sind].» (In: Janke, Pia: Wie aktuell sind Elfriede Jelineks feministische Theatertexte der 70er und 80er Jahre? Videokonferenz vom 21. 10. 2009 mit Allyson Fiddler, Christa Gürtler, Gitta Honegger, Pia Janke und Karen Jürs-Munby, moderiert von Peter Clar. In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek[jahr]buch. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 2010. Wien: Praesens 2010, S. 177 - 185, S. 180). 38 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 63. 202 <?page no="203"?> Kategorie des Rhythmus ab, aus jener «Dimension der impliziten Inszenierung», die die «Bezüge zwischen den verschiedenen Inszenierungsgrößen herstellt.» 39 Betrachtet man den Text vom Rhythmus her, dann fällt auf, dass er sich durch «eine Art Choreographie» 40 auszeichnet, durch ein dichtes Netz an tänzerischen Bewegungen, die weniger im Zeichen des Ausdrucks als im Zeichen der Montage stehen. Indem Jelinek Körperlichkeit ausstellt, vollzieht sie einen gleitenden Übergang vom Theatertext zum Tanzlibretto, von der Sprechvorlage zu einer den Schauspielkörper regulierenden Choreographie. Auch hierin zeigt sich die Nähe zum Vaudeville, auch hierin teilt Jelineks Nora eine Ästhetik, die sich Ende des 20. Jahrhunderts in den namhaften Schauspielhäusern und bei Theaterfestivals durchsetzen sollte. Dass das Bewusstsein für eine «Tanzästhetik im Theater» sich nicht früher herausgebildet hat, gibt - angesichts der in den 1920er Jahren von Performance-Künstlern wie Kurt Jooss, Mary Wigman und Valeska Gert initiierten Reformbewegung - Anlass zum Staunen. Es bedurfte wohl der Impulse des in den 1970er Jahren entstandenen Tanztheaters, 41 damit eine nachhaltigere Begegnung zwischen beiden Ausdrucksformen stattfinden konnte. Diese Begegnung hat Jelinek seit jeher fasziniert, sind doch die tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten in ganz anderer Weise dazu geeignet, die eigenen künstlerischen Voraussetzungen zu hinterfragen. 42 Ganz im Sinne der heutigen Theateravantgarde fungiert Körperlichkeit in Jelineks Nora nicht als «bloße Begleiterscheinung des dialogischen Ablaufs,» 43 sondern als eigenes korporales Sprechen, das «allein schon durch die Tatsache [wirksam ist], dass jeder Sprechakt und jede Sprechhaltung den ganzen Körper miteinbezieht in der dialogischen Artikulation des Textes.» 44 Die im Stück implizierte körperliche Realisierung darf allerdings nicht im Sinne einer virtuos auszuführenden Fertigkeit, einer zu verkörpernden Technik aufgefasst werden, die das Auge des Zuschauers gefällig reizen soll. Vielmehr wird ein Körperbild entworfen, das durch die «Möglichkeit der Distanz» 45 gekennzeichnet ist, einer «Distanz des Körpers zum Gesetz,» 46 zu jener Norm, 39 Ebd., S. 248. 40 Janke, Pia: Wie aktuell sind Elfriede Jelineks feministische Theatertexte der 70er und 80er Jahre? , S. 180 - 181. 41 Das Tanztheater wird u. a. durch Pina Bausch, Susanne Linke und Reinhild Hoffmann vertreten. 42 Vgl. hierzu: Spahn, Claus/ Kümmel, Peter: Kunst kann das Leben verändern. In: ZEIT- Kultursommer, Nr. 18, 26. 04. 2012, S. 8 - 11, S. 10. 43 Lösener, Hans: Zwischen Wort und Wort, S. 237. 44 Ebd. 45 Siegmund, Gerald: Choreographie und Gesetz: Zur Notwendigkeit des Widerstands. In: Haitzinger, Nicole (Hg.): Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden. München: Epodium 2010 (= Derra dance research 2), S. 118 - 129, S. 124. 46 Ebd. 203 <?page no="204"?> die die totale Überwindung des Physischen, die Hyperästhetisierung des Körperlichen zum Ideal erhebt. Als Beispiel für dieses «Herausfallen des tanzenden Körpers aus der Choreographie» 47 möge die erste Szenenanweisung dienen, die eine Aufforderung an die Nora-Darstellerin enthält, die von ihr auszuführenden Turnübungen «ruhig auch ein wenig ungeschickt aussehen» zu lassen: Das Stück spielt in den zwanziger Jahren. Man kann aber auch in den Kostümen ein wenig die vorkommenden ‹ Zeitsprünge › andeuten, vor allem die vorweggenommene Zukunft. Nora muß auf jeden Fall von einer akrobatisch geübten Schauspielerin gespielt werden, die auch tanzen kann. Sie muß die [. . .] angeführten Turnübungen machen können, dabei ist es aber egal, ob es ‹ professionell › wirkt oder nicht, es kann also ruhig auch ein wenig ungeschickt aussehen, was sie macht. 48 Der Hinweis auf die zwanziger Jahre ist kein Zufall, entspricht doch dieser Zeitabschnitt in der Geschichte des Tanzes einer Phase der umfassenden Neuorientierung, in der Choreographen wie Valeska Gert, Mary Wigman, Rudolf Laban und Kurt Jooss ein revolutioniertes Verständnis tänzerischer Ausdrucksmöglichkeiten entwickelten. Doch im Gegensatz zu diesen Vorbildern gelingt es Jelineks Nora nicht, sich vom vorherrschenden Kunstideal zu emanzipieren und einen eigenen Stil zu entwickeln. Zwischen Anpassung und Selbstverwirklichung unschlüssig verharrend, fehlt ihr das Selbstbewusstsein, das notwendig wäre, um ihren tänzerischen Bewegungen eigenen Ausdruck zu verleihen. Als ewig Unschlüssige laviert sie hin und her zwischen gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen und eigenen Wünschen. Ähnlich wie Petypon, die Hauptfigur in La Dame de chez Maxim, verharrt sie in einem «Dazwischen», in einer suchenden Kreis-Bewegung, die sich im Laufe des Stückes zunehmend auf eine «Ich-möchte-aber-ich-kannnicht-Haltung» einpendelt. Parallel hierzu fungiert der Körper der «akrobatisch geübten Schauspielerin» als idealtypischer Bedeutungsträger bürgerlich-kontrollierter Sinnlichkeit. Durch die Betonung der sportlichen Dimension wird ein Körperkonzept in Szene gesetzt, das Erotik und Disziplin miteinander vereint. Wenn Nora sich beispielsweise in der Tarantella-Szene «sinnlich, doch nicht zu sinnlich» 49 zum Takt der Musik bewegt, wenn sie sich «unwillkürlich so weit zurück [biegt], daß [ihr] Kopf beinahe den Erdboden berührt,» 50 wenn jede ihrer Bewegungen dazu dient, Weygang zu umwerben, dann wird in ihrem 47 Ebd., S. 124. 48 Jelinek, Elfriede: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. [1977]. In: Nyssen, Ute (Hg.): Elfriede Jelinek. Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, S. 7 - 78, S. 8. 49 Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, S. 23. 50 Ebd., S. 26. 204 <?page no="205"?> körperlichen Gebaren nicht nur das Eingeständnis weiblicher Unterlegenheit zum Ausdruck gebracht, sondern auch der («bürgerlichen» Frauen eigene) Dünkel, «Lebensfragen» durch den Rekurs auf raffinierte Verführungsstrategien lösen zu wollen. «Statt in originären Erfahrungen den eigenen Körper sich anzueignen,» 51 leitet Nora ihr Existenzrecht aus den Blicken des als überlegen empfundenen Mannes ab. Die Frage nach der eigenen Verwirklichung beantwortet sie nicht durch die Aneignung beruflicher Perspektiven, sondern dadurch, dass sie sich in die Arme eines Liebhabers wirft. Entgegen ihrer Behauptung, sie strebe ausschließlich ihre persönliche Verwirklichung an, 52 macht Nora im Tarantella-Tanz deutlich, dass sie nach wie vor das Ideal des auf Verschmelzung ausgerichteten bürgerlichen Paars 53 anstrebt. Glaubte sie noch zu Beginn des Stückes, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, sich «vom Objekt zum Subjekt [zu] entwickeln,» 54 wird sie im Zuge ihrer Liebesbegegnung von dem Gefühl der Auflösung der Ich-Grenzen überwältigt. Auch Weygang fühlt sich anfangs in eine Art Rauschzustand versetzt, der ihn - den von Eigennutz getriebenen Machtmenschen - «zu ganzheitlicher Betrachtung fähig» 55 werden lässt. Beim Anblick der tanzenden Nora «fährt etwas wie ein Pfeil durch [ihn] hindurch,» 56 eine Bemerkung, die als Anspielung auf die Herkunft der Tarantella, eines neapolitanischen Nationaltanzes, verstanden werden soll, dessen Ausführung den «physischen Re-Aktionen eines von einem Spinnenbiss verursachten Fiebers» 57 unterliegt. Nach dem Volksglauben, dass der Vergiftete «nur durch heftiges Schwitzen aufgrund körperlicher Anstrengung» 58 genesen könne, «wird der Körper des Kranken durch schnelle und energische Musik im 6/ 8-Takt in Bewegung versetzt. Die Lebendigkeit der gesamten Bewegungen können elektrische Effekte auf das beschädigte Nervensystem ausüben.» 59 51 Zitiert nach: Hessler, Bettina: Tanzende Körper im Wandel der Zeit - Die Rolle der Geschlechter in verschiedenen Epochen des Tanzes. In: Funk, Julika (Hg.): Körper-Konzepte. Tübingen: Narr 1999 (= Literatur und Anthropologie 5), S. 223 - 242, S. 227. 52 Vgl. hierzu Noras Aussage in Szene 1: «Ich will aber mein Leben noch nicht aufgeben. Ich strebe meine persönliche Verwirklichung an.» (Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, S. 9). 53 Vgl. hierzu: Haller, Melanie: «Verschmelzung»: Bürgerliches Paarideal im Tango Argentino. In: Klein, Gabriele (Hg.): Tango in Translation: Tanz zwischen Medien, Kulturen, Kunst und Politik. Bielefeld: Transcript 2009, S. 89 - 104. 54 Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, S. 10. 55 Ebd., S. 24. 56 Ebd. 57 Jeschke, Claudia: Repertoire fremder Tänze. In: Jeschke, Claudia/ Vettermann, Gabi/ Haitzinger, Nicole (Hg.): Interaktion und Rhythmus: zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts. München: Epodium 2010 (= Derra dance research 3), S. 81 - 101, S. 101. 58 Ebd. 59 Ebd. 205 <?page no="206"?> Wie magisch angezogen ist Weygang von Noras «Frauenkörper,» 60 der ihm Distanz zu seiner von Interessenkämpfen geprägten beruflichen Tätigkeit verspricht. Sexualität fasst er nicht als Ausdruck partnerschaftlicher Bindung, sondern als Regulativ für die richtige Balance zwischen Arbeit und Erholung auf. So lautet eine seiner Plattitüden: «Gäbe es solche Körper in unserem Leben nicht, nie könnten wir uns regenerieren.» 61 Anders als Nora, die in der symbiotischen Verschmelzung «etwas Langentbehrtes» 62 zu erkennen glaubt, ist Weygang an nichts als einer Dienstleistung interessiert. Als profitorientierter Mensch, der über der bürgerlichen Moral steht, 63 betrachtet er seine Eroberungen lediglich im Hinblick auf ihr erotisches «Kapital,» 64 das im Falle Noras «von allergrößter Schönheit [ist].» 65 An die Stelle der liebenden Begegnung «tritt der ‹ intime › Austausch des Monetären: » 66 Zwar beteuert Weygang noch zu Beginn der achten Szene, er werde seine «kleine, übermütige Hummel» 67 nicht «verschachern,» 68 doch handelt er kurz darauf ein Szenario mit dem Minister aus, in dem sie als Lockvogel für die kriminellen Machenschaften des selbstherrlichen Männerduos dienen soll. Indem Nora auf Weygangs Plan eingeht, erkennt sie selbst den Objektcharakter an, den Status eines nicht-denkenden Wesen, der ihrer Person zuteil wird. Ihre zaghaften Versuche, einen eigenen Standpunkt zu behaupten und sich der männlichen Fremdbestimmung zu entziehen, wehrt Weygang «lächelnd ab.» 69 Noras Abstieg, der bereits in dem Moment eingeleitet wird, in dem sie ihrer finanziellen Unabhängigkeit abschwört und sich von ihrem Liebhaber aushalten lässt (Szene 9), ist mit der Instrumentalisierung ihrer Person endgültig besiegelt. Während Weygang erfolgreich seinen Geschäftspraktiken nachgeht, begibt sie sich erneut in ein Abhängigkeitsverhältnis: «Der ökonomischen Gesellschaft der Leistungsfähigen nicht mehr nützlich,» 70 kehrt sie zu Helmer zurück, dem Mann, den sie einst «verlassen hatte», um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der ewige Kreislauf weiblichen 60 Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, S. 23. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 25. 63 So lautet eine Replik Weygangs: «Ein Mann kann auch oft über die bürgerliche Moral siegen.» (Ebd., S. 29). 64 Ebd., S. 33. 65 Ebd. 66 Ablass, Stefanie: Ökonomisierung des Körpers: Interdependenzen von ökonomischer und physischer Sphäre im Wirtschaftsroman. In: Zemanek, Evi/ Krones, Susanne: Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld: Transcript 2008 (= Lettre), S. 163 - 178, S. 168. 67 Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, S. 27. 68 Ebd., S. 34. 69 Ebd., S. 44. 70 Ablass: Ökonomisierung des Körpers, S. 170. 206 <?page no="207"?> Leidens schließt sich in der Endszene, in der die Utopie der Gleichheit der Geschlechter auf vaudevilleske Weise in ihr Gegenteil verkehrt wird. Zu Beginn dieser Szene befinden sich - laut Nebentext - Helmers im Eßzimmer. Helmer sitzt beim Abendessen und liest Zeitung. Idyll. Er läßt sich von Nora bedienen. (1) HELMER: nimmt einen Schluck aus der Teetasse: Da sind schon wieder nur drei Stück Zucker statt vier Stück Zucker drinnen! Kannst du nicht achtgeben? (2) NORA: Du kannst nichts als meckern. Gestern nacht erst ließest du mich erneut teilweise unbefriedigt. (3) HELMER: Ich las neulich, daß nur die Bürgerlichen Orgasmusschwierigkeiten haben und daß das Proletariat sie nicht kenne. (4) NORA: Zum Glück bin ich bürgerlich und nicht proletarisch. (5) HELMER: Dieser Liebhaber, der dich sitzenließ, war wohl besser als ich, wie? (6) NORA: Er ließ mich nicht sitzen, wie oft soll ich dir das noch sagen! Das ständige Leben im Schatten des Kapitals drückte mich zu stark nieder, und ich verlor meinen ganzen Frohsinn, den du doch so an mir liebst. Daher verließ ich das Kapital. In dieser Dialogpassage wird jene Vorstellung, wonach die Funktion der Sprache im Austausch von Ideen begründet liegt, ad absurdum geführt. Nora und Helmer sind unfähig, den Standpunkt des jeweils anderen aufzugreifen und in den eigenen Vorstellungsbereich zu integrieren. Es gibt zwischen den Protagonisten keine Abstimmung, keine intersubjektive Verständigung, durch die sich die individuelle Erlebnisperspektive vermitteln ließe. Die Unfähigkeit zum Gespräch liegt dabei jedoch nicht in der Psychologie der Figuren, sondern in einer Sprache begründet, die sich zum einen durch ritualisierte Formeln («Da sind schon wieder nur drei Stück Zucker statt vier Stück Zucker drinnen! ») und zum anderen durch Merkmale der Entstellung bzw. der Verfremdung auszeichnet. Besonders charakteristisch sind in diesem Zusammenhang der Gebrauch des «theatralisch» wirkenden Konjunktivs («ließest»), die Häufigkeit von Distanzmerkmalen (d. h. von Wörtern, die in Vis-à-vis-Situationen unüblich sind, so zum Beispiel «Frohsinn»), sowie der Rekurs auf eine alltagsferne Wirtschaftsterminologie, die unterschiedliche Themenbereiche miteinander verknüpft. So lässt etwa der sperrig anmutende Ausdruck «teilweise unbefriedigt» nicht nur Anklänge an den Bereich der Sexualität, sondern auch an die Welt des Kapitals erkennen, in der die Nachfrage nur dann «vollständig befriedigt» werden kann, wenn die angebotene Gütermenge die Konsumwünsche deckt, wenn den Konsumenten also das Gefühl der «Unbefriedigung» erspart bleibt. Mit dem Starrsinn eines Petypon stoßen sich die Protagonisten «in einer eigenen Art Logik» 71 an die Begrenzungen, die ihnen durch die Sprache, jenes fälschlich vermutete Kommunikationsinstrument, auferlegt werden. Eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Vaudeville ist dadurch gegeben, dass die 71 Jelinek: sich mit der Sprache spielen. Johann Nestroy. 207 <?page no="208"?> Figuren gleichzeitig in der Defensive sind und aus der Defensive heraus spielen. Ähnlich wie bei Feydeau, jenem «verspielten Autor», der «sich (ja: sich! )» 72 in die Sprache «einmal hineinbringt und dann wieder herausnimmt,» 73 treiben auch bei Jelinek die Figuren ein befremdendes «Spiel» mit der Sprache, die mit zunehmendem Gesprächsverlauf immer eigenständigere Züge annimmt. Entsprechend dem demonstrativen Charakter ihrer Rede führen sie die Abgründigkeit eines Sprechens vor, das nicht auf bestimmte Inhalte, sondern auf das Eigentliche des Sprechens verweist, auf das, «was los ist. Was sich irgendwo losgerissen hat.» 74 Indem die Autorin nicht etwa Kommunikation, sondern die Unfähigkeit zum Gespräch «dramatisch» in Szene setzt, macht sie Sprache als Sprache kenntlich, macht sie die «Voraussetzungen» 75 offenkundig, die für die Unmöglichkeit des Sichmitteilens verantwortlich sind. So wie Jelinek in ihren Übersetzungen des französischen Vaudeville eine von umgangssprachlichen Wendungen durchbrochene Kunstsprache inszeniert, so rekurriert sie auch in Nora auf eine vermeintliche Nähesprache, deren Illusionscharakter durch die «Infiltrierung» von Distanzmerkmalen entlarvt wird. Das Spiel mit der Sprache beginnt bereits im Nebentext, durch den der Rezipient erfährt, dass Nora zu ihrem Mann zurückgekehrt ist. Das Wiedersehen zwischen ihr und Helmer, die Reaktionen der Kinder auf die Rückkehr der Mutter, all dies wird szenisch nicht ausgestaltet, weisen doch die Regieanweisungen darauf hin, dass alles wieder beim Alten ist: Helmer interessiert sich für die Geschicke der Welt (er liest Zeitung), während Nora die Pflichten einer guten Ehefrau ausübt (sie bedient ihn). Der Endszene (Szene 18) vorangegangen war die in Szene 17 leidenschaftlich vorgetragene Erklärung Noras, sie könne «jederzeit» beruflich auf eigenen Beinen stehen («Ich kann jederzeit mein eigenes Geschäft haben. Wann immer ich will.» 76 ). Von dem Anspruch, der dieser Erklärung innewohnt, bleibt nun nicht mehr viel übrig: Nora sieht sich erneut in die Rolle der Dienenden gedrängt, in eine Rolle, die weibliche Ohnmacht auf sinnbildliche Weise verkörpert. Somit erhält die Endszene ihre semantische Wertigkeit durch den Gegensatz zwischen Noras vollmundiger Absichtsbekundung und dem tatsächlichen Verlauf ihrer ‹ Lebensgeschichte › . Das Moment weiblicher Ohnmacht kommt insbesondere «in der Gegenläufigkeit zwischen sprachlicher und körperlicher Reaktion» 77 zum Tragen. So traulich-bürgerlich das einander sich gegenüber sitzende Paar auf den ersten Blick anmuten mag, der Dialog des Haupttexts straft das im Nebentext 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, S. 72. 77 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 249. 208 <?page no="209"?> beschriebene «Idyll» Lügen, indem er das Miteinander der Eheleute als das entlarvt, was es tatsächlich ist: eine vertrackte Beziehungskiste mit ausgeprägter Machtkomponente. Bereits in der ersten Replik tritt der zwischen den Ehepartnern herrschende «Urkrieg» zutage: Auf die Anschuldigung Helmers, Nora habe «schon wieder» vergessen, ein viertes Stück Zucker in seinen Tee zu werfen, antwortet diese, dass er «erneut» nicht in der Lage gewesen sei, sie zu befriedigen. Hier wird deutlich, dass sich Nora nicht auf den eigentlichen Inhalt von Helmers Aussage bezieht, sondern nur einen Nebenaspekt des verwendeten Sprachmaterials aufgreift («schon wieder»). «Solche ‹ Kommunikationsstörungen › werden [. . .]» - wie Maja Sibylle Pflüger zu Recht hervorhebt - «exzessiv benutzt, um den Kontext einer Äußerung sprunghaft zu wechseln. Die Figuren selbst registrieren die Diskrepanz zwischen den Repliken nicht, so dass von tatsächlichen Mißverständnissen nicht die Rede sein kann.» 78 Als habe Nora den inhaltlich relevanten Teil der Äußerung nicht mitbekommen, als würde sie nur bestimmte rhythmische Muster erkennen, nimmt sie eine Wortumwandlung vor («schon wieder» → «erneut») und stellt einen neuen Sinnzusammenhang zu ihrer eigenen unerfüllten Sexualität her. Die vermeintliche Oberflächlichkeit (Seichtigkeit) der Repliken wird auf diese Weise zum Anlass, tiefere Seelenzusammenhänge zu enthüllen. Ähnlich gestalten sich die inhaltlich auseinander strebenden Repliken (3) und (4), deren Kohärenz lediglich durch die Wiederaufnahme des Wortes «bürgerlich» gewahrt ist. Würde sich Nora auf den Inhalt von Helmers Äußerung beziehen, dürfte sie es gerade nicht als «Glück» empfinden, der bürgerlichen Klasse anzugehören, sind doch - Helmer zufolge - nur bürgerliche Frauen von sexuellen Problemen betroffen. Doch werden durch die dialogische Dimension des Textes, durch dessen semantische Performativität, andere Sinnzuschreibungen festgelegt. Diese lassen sich auf folgenden Nenner bringen: Indem Nora das Wort «bürgerlich» rhythmisch erfasst und zu diesem Wort eine konnotative Verbindung zum eigenen «Lebensglück» herstellt («Zum Glück bin ich bürgerlich und nicht proletarisch.»), lässt sie die tieferen Gründe für ihre gescheiterte Emanzipation erkennen, die in einer übertriebenen Identifikation mit den Wertvorstellungen des bürgerlichen Milieus zu sehen sind. Nora fühlt sich ihrem Herkunftsmilieu in einer Weise verpflichtet, die jeden Loslösungsversuch, jede Emanzipationsbestrebung von vorneherein unmöglich macht. Ähnlich wie Petypon, der sich von den an ihn gestellten Erwartungen nicht zu distanzieren vermag, bringt auch Nora gerade nicht die notwendige «Charakterstärke» 79 auf, um sich von jenen Zuschreibungen zu befreien, die ihr durch das bürgerliche Leitbild auferlegt werden. 78 Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität, S. 24 - 25. 79 Vgl. hierzu die Replik (10). 209 <?page no="210"?> In den Repliken (5) bis (10) vollzieht sich die Bedeutungskonstitution in der Interferenz mit einem Hypotext, den Jelinek im zweiten Teil des Dramentitels explizit aufruft (Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften 80 ). Bei diesem Hypotext handelt es sich um Ibsens Stützen der Gesellschaft, 81 der - um mit Genette zu sprechen - von dem Text Jelineks «auf eine Art und Weise überlagert [wird], die nicht die des Kommentars ist.» 82 Tatsächlich ist Jelineks Nora - mittels eines transformierenden Verfahrens - aus zwei Ibsen-Dramen hervorgegangen, wobei die von Ibsen zu Jelinek führende Transformation eine komplexe Form der Nachahmung darstellt. Zu Jelineks transformierender Vorgehensweise schreibt Pflüger: Jeder ihrer Theatertexte ist das Ergebnis von Transformationen einer Anzahl von Prätexten oder von deren Strukturen und setzt diese als Konstituenten seiner eigenen Struktur voraus. Jelinek gestattet den hereingespielten Texten ein gewisses Maß an ‹ Eigenleben › , da sie nicht vom neuen Kontext absorbiert, sondern mit ihrem individuellen Profil und ihrem Kontext ins Spiel gebracht werden. [. . .] Die Sinnschichten der Prätexte rücken zwar ineinander, aber nur, um nun in der gedrängten Form die Differenzen untereinander noch schärfer hervorzutreiben. 83 In Nora «rückt» Jelinek die «Sinnschichten der Prätexte» so «ineinander», dass die in den Dramen Ibsens enthaltenen Züge des Vaudevillesken in den Vordergrund treten. Als Beispiel möge die fünfte Replik dienen, in der das Wort «sitzenließ» eine deutlich erkennbare Spur markiert, die direkt zu Stützen der Gesellschaft 84 führt, einem Stück, das gegen die Doppelmoral und gegen den allgemeinen Stumpfsinn der bürgerlichen Schichten zu Felde zieht. In der Figur des Konsuls Karsten Bernick kritisiert Ibsen jene vermeintlichen «Stützen der Gesellschaft», die vor keinem Mittel zurückschrecken, um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. So «lässt» Bernick seine Jugendliebe Lona Hessel «sitzen» und heiratet die Millionenerbin Betty, deren Mitgift eine einträgliche geschäftliche Grundlage für seine Reederei darzustellen verspricht. In Anlehnung an die Begrifflichkeit von Lachmann/ Schahadat lässt sich sagen: Indem Jelinek eine Beziehung zwischen Ibsens Drama und ihrem eigenen Stück herstellt, widerschreibt sie jenen «Sinnschichten der Prätexte», die von einer allzu eindeutigen Opfer-Täter-Beziehung ausgehen, von einer Polarisierung in Weibliches und Männliches, in Gut und Böse. Gleichzeitig 80 Der Plural «Gesellschaften» verweist auf die Handelsgesellschaften. 81 Der Singular verweist auf die dem liberalen Staat gegenüberstehende bürgerliche Gesellschaft. 82 Vgl. hierzu Fußnote 57 auf S. 45. 83 Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität, S. 47 - 48. 84 Ibsen, Henrik: Stützen der Gesellschaft (Samfundets Støtter). Schauspiel in vier Akten. [1877]. Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt. Stuttgart: Reclam 1981 (= Universal- Bibliothek 958). 210 <?page no="211"?> schreibt sie an jenen Stellen weiter, die innerhalb eines zum Klassiker gewordenen Stücks ein Schattendasein fristen. Anhand dieser von der Rezeption kaum beachteten Stellen wird deutlich, dass Ibsen selbst die patriarchalen Dualismen hinterfragt, die an anderer Stelle so stark betont werden. So ergibt sich beispielsweise aus dem letzten Akt, dass Lona durch ihren an Naivität grenzenden «Frohsinn» durchaus Schuld an ihrem Unglück trägt. Was Jelineks Nora anbelangt, so weist sie viele Gemeinsamkeiten mit Lona auf, zeichnen sich doch beide Frauen durch kindlich-naive Reaktionsmuster aus, die im Falle Noras noch von der Fehleinschätzung übersteigert werden, nicht Weygang habe sie, sondern sie habe Weygang verlassen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Noras Abhängigkeitsdenken zum einen durch die Bedeutungsweise der Körpersprache und zum anderen durch die intertextuelle Bezugnahme inszeniert wird. Ähnlich wie im Vaudeville, das geschlechterspezifische Machtverhältnisse im subtilen Wechselspiel zwischen körperlicher und sprachlicher/ intertextueller Auseinandersetzung vorführt, wird auch in Jelineks Nora die Geschlechterdichotomie zum einen in eine Performance übersetzt und zum anderen auf die intertextuelle Ebene überführt. Auffällig ist dabei, dass Jelineks Text - nach dem Vorbild des Vaudeville - «nicht in einer konventionellen Theatersemiotik aufgeh[t]: » 85 Die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, die «die bekannten Trennungen zwischen Laut und Sinn, Form und Inhalt» 86 impliziert, wird aufgelöst. So lassen sich auch die intertextuellen Bezüge nur dadurch erschließen, dass der Leser die semantische Ebene verlässt und den verwandten Beziehungen nachgeht, die zwischen den rhythmischen Mustern des Prätextes und denjenigen des Textes bestehen. Nur wenn die intertextuellen Spuren zunächst vom Rhythmus her erfasst werden, lassen sich die Bedeutungsveränderungen nachvollziehen, die «beim Transfer von einem Textsystem auf das andere» 87 entstehen. 2. Raststätte oder die Dynamik unerfüllten Begehrens Ähnlich wie bei Nora befinden sich die Figuren des «Satyrspiels» 88 Raststätte oder Sie machens alle, 89 das 1994 am Wiener Akademietheater in einer Inszenierung von Claus Peymann uraufgeführt wurde, in einem ewigen Kreislauf. 85 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 242. 86 Ebd., S. 87. 87 Ebd., S. 116. 88 Wolken.Heim. und Totenauberg stellen die ersten beiden Teile einer Trilogie dar, deren Abschluss von Raststätte gebildet wird. 89 Jelinek, Elfriede: Raststätte oder Sie machens alle. [1995]. In: Jelinek, Elfriede: Stecken, Stab und Stangl. Raststätte. Wolken. Heim. Neue Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, S. 69 - 134. 211 <?page no="212"?> Die Gattungsangabe «Satyrspiel» - als Hinweis auf die befreiende Posse konzipiert, die im Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus auf eine Tragödien- Trilogie folgte - legt die Nähe zum Vaudeville Labiches bzw. Feydeaus nahe, das mit dem antiken Nachspiel den anzüglichen Dialog und die Effekte des Vaudevillesken teilt. Diese Effekte lassen sich wie folgt präzisieren: - Sowohl Labiches Affaire als auch Jelineks Satyrspiel bedienen sich der Strategie des Auslassens, um den Fokus der Aufmerksamkeit auf das Ungesagte, das Unaussprechliche, das Verschwiegene zu lenken. - Im Hinblick auf Feydeaus La Dame de chez Maxim ergeben sich die Gemeinsamkeiten zum einen durch den von den Figuren angeschlagenen Plauderton und zum anderen durch die Dynamik, die durch unbefriedigtes Verlangen entsteht. Ähnlich wie Petypon, der dem Zugriff des Lustprinzips willenlos ausgeliefert ist, bleiben auch in Raststätte die Figuren in ihrer Endlosnachfrage gefangen. So wie das Vaudeville einen Reigen des Begehrens entwirft, der nicht in die Vereinigung zweier Liebender, sondern in den unendlichen Regress rastlosen Sehnens mündet, so steht auch bei Jelinek die Paradoxie unerfüllten Begehrens im Zentrum des Geschehens. Was die Parallele Labiche-Jelinek anbelangt, so lässt sich - anhand des Assoziationsfeldes «Menschenfressertum» - feststellen, dass die Strategie des Auslassens bei Labiche über Leerstellen und bei Jelinek über Wortfelder erfolgt. Im Vaudeville lenken die Leerstellen das Augenmerk auf die Verdrängung und Verleugnung von Triebansprüchen, die im Phänomen der Abwehr übereinkommen. Ein Beispiel hierfür stellt der folgende Dialogabschnitt dar, in dem der Themenbereich «Essen» explizit zur Sprache gebracht wird, während die von Mordphantasien begleiteten sexuellen Regungen Mistingues in die Leerstelle, in das Verdrängte, das Verschwiegene abdriften: MISTINGUE, mangeant. Voilà une sauce complètement ratée! NORINE. Hein? MISTINGUE. Ce n ’ est pas pour me vanter; mais, quand je m ’ y mets . . . LENGLUMÉ, bas. Mais tais-toi donc! Haut, à sa femme. T ’ en offrirai-je, ma louloute? 90 So unbedeutend das Gerede über die Zubereitung einer guten Sauce scheinen mag, aus der heftigen Reaktion Lenglumés geht hervor, dass er die durch die Leerstelle markierte unausgesprochene Intention der Äußerung Mistingues erfasst hat. Diese bezieht sich im ausgesprochenen Sinne auf seine Küchenkünste, im unausgesprochenen Sinne verweist sie auf ein Sexualdelikt, das er vielleicht begangen haben könnte. Dieses «vielleicht», diese unausgespro- 90 Labiche, Eugène: L ’ Affaire de la rue de Lourcine, S. 31. 212 <?page no="213"?> chene Möglichkeit, die Mistingue nicht mit Grauen, sondern mit Stolz erfüllt, wird hier durch die Auslassung zur Sprache gebracht. Zu Jelineks Wortfeldern, die im Spannungsfeld zwischen Explizitheit und Negation angesiedelt sind, ist im Hinblick auf Raststätte zu bemerken, dass der Text durch eine Reihe von Assoziationen durchzogen wird, die sämtlich dem Topos der Einverleibung zuzuschreiben sind und die durch die strukturierenden Wortfelder: ‹ Essen/ Fressen › , ‹ Erbrechen › und ‹ Ausscheiden › [konnotiert werden]. Diese Wortfelder konstituieren nicht nur über die Regieanweisung den Ort des Spiels: die schmutzige, unratversehene Raststätte im ersten Akt, die Toiletten im zweiten und den Parkplatz, der zum Ort eines Schlachtfestes im dritten Akt wird. Über die [. . .] syntagmatische Verknüpfung stellen sie ‹ Sexualität › dar, die damit dem Paradigma ‹ Konsum › angehört. 91 Über die «syntagmatische Verknüpfung» erfolgt auch der bereits im Titel enthaltene Verweis auf Mozarts Oper Così fan tutte (So machen es alle Frauen), 92 einen Hypotext, den Jelinek durch ihr intertextuelles Widerschreiben aktualisiert. Dieses Schreiben im Sinne der Tropik zielt - wie Bernard Banoun zu Recht hervorhebt 93 - eindeutig nicht auf die im Mozart/ Da Ponte-Stück vorhandene Frauenfeindlichkeit. Zwar modifiziert Jelinek den ausschließlich auf Frauen zielenden Untertitel So machen es alle Frauen zu So machen es alle (nämlich Frauen und Männer), doch ist die wesentliche Abweichung auf einer anderen Ebene zu verorten: Im Vergleich zu «Mozarts Musik», 94 die «das zeitbedingt konventionelle Libretto [. . .] nuanciert,» 95 treibt Jelinek das plappernde secco-Rezitativ auf die Spitze und nähert sich auf diese Weise dem Vaudeville. Aus dem abgefeimten Liebesspiel der Vorlage wird ein beißender Porno-Schwank, der - unter Beibehaltung des «Grundschema[s] von Così fan tutte» 96 - von einer unversöhnlichen Lagerbildung im Geschlechterverhältnis ausgeht. Im Folgenden soll anhand eines Textausschnitts gezeigt werden, dass jenes Moment der Unversöhnlichkeit in direktem Zusammenhang zum Topos der Einverleibung steht. Dabei möchte ich auf die von Lösener vorgenommene Differenzierung zwischen inner- und außertextuellen Verknüpfungen zurückgreifen, eine Differenzierung, die mir gerade im Hinblick auf Raststätte besonders sinnvoll erscheint, da das Stück sowohl durch eine innerals auch durch eine außertextuelle Lexik gekennzeichnet ist. Zunächst sei jedoch der «große Auftritt der Tiere» zitiert, der - in humoriger Anspie- 91 Bühler-Dietrich, Annette: Auf dem Weg zum Theater. Else-Lasker Schüler, Marieluise Fleißer, Nelly Sachs, Gerlind Reinshagen, Elfriede Jelinek. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003 (= Epistemata/ Reihe Literaturwissenschaft 444), S. 188. 92 Mozarts Oper liegt ein von Lorenzo da Ponte verfasstes Libretto zugrunde. 93 Banoun: Komik und Komödie in einigen Stücken Elfriede Jelineks. 94 Ebd., S. 297. 95 Ebd. 96 Ebd. 213 <?page no="214"?> lung auf Freuds kulturtheoretische Arbeit Totem und Tabu - auf die Frage nach der Grundlage der kulturellen Ordnung verweist: Zwei riesige Tiermänner kommen herein, wie Totems, alle starren sie an. Nur Kurt und Herbert spähen weiterhin auf den Parkplatz hinaus, um nach ihren Wagen zu sehen. Nach einer Weile ziehen sie ein Taschenschachspiel heraus und beginnen zu spielen. Die Tiere sind riesig groß, sie tragen Plateausohlen. Der Bär ist, ausgestopft, sehr dick. Der Elch sehr lang und dünn. Sie müssen gefährlich wirken wie Götzenbilder, sprechen jedoch im leichtesten Konversationston. Das Geschehen im Hintergrund, hinter der Glastür, nimmt an Turbulenz zu. (1) ELCH: Ist hier frei? (2) BÄR: Sieht so aus. Ist Ihnen etwa auch die Sprache versprochen worden? Und haben Sie sie schon abgeholt? (3) ELCH: Ja. Ich äußere mich, denn in mir hat sich einfach zuviel angesammelt. Mit dem Sprechen mache ich mich selbst. Eine fürchterliche Situation! (4) BÄR: Sie machen sich sehr gut, finde ich. (5) ELCH: Sagst du uns bitte deinen Beruf? Und machst eine passende Handbewegung dazu? (6) BÄR: Ich bin Vertreter für Baumaschinen, die EG-Ursprungs sind. Wer hätte je etwas so Unwirkliches dargestellt und noch dazu versucht, darauf zu bauen? Ich bin meist im Ausland, Ungarn, Polen, in Ländern, deren Namen man sich gar nicht mehr merken kann, und den neuen Bundesländern des alten Bundes unterwegs. (7) ELCH: Schön, daß diese lieben Länder so lang gewartet haben, und ausgerechnet auf uns. (8) BÄR: Dass wir sie mit unserer Lebensfreude auf ihrem eigenen Boden pflanzen können. (9) ELCH: Ich bin auch Vertreter, aber für Büromaschinen. Spaß und Vögeln! Spaß und Vögeln! (10) BÄR: Wenn das Sprechen schon eine menschliche Leistung ist, so sind diese wunderbaren Maschinen beinahe übermenschlich. Wer hat sie ersonnen? Vor allem die Frauen gehen ja mit der Sprache fortwährend in sich hinein und kommen mit leeren Händen wieder heraus. (11) ELCH: Ja, das Seelenleben bringt man einfach nie zuende. Mit Maschinen jedoch gelangt man über sich hinaus! (12) BÄR: Großartig, wie Sie sich als Körper aufführen! (13) ELCH: Großartig, wie Sie Ihren Körper ausführen! (14) BÄR: Diese Länder, in die wir uns einführen, können auf eine tote Vergangenheit zurückblicken. Das täte mancher gern: Spritzen und danach stehenbleiben. (15) ELCH: Der Westen hat mit dem Zungenspiel begonnen. Das war ein Fehler. (16) BÄR: Danach haben sie sich selbst in die Hand genommen. Inzwischen können sie sich nicht mehr für sich behalten! So viele Bewegungen, nur um sich an jeden herzugeben, der da kommt. (17) ELCH: Dann kommen wir zum Vorschein. Reifere Semester und gut gebaut. (18) BÄR: Wenn sie vernünftig sind, so bleiben sie das Einkaufszentrum, das sie jetzt sind. In dem jeder gute Witz bekundet, daß sie nun eine gute Verfassung haben. 97 97 Jelinek: Raststätte, S. 93 - 95. 214 <?page no="215"?> Durch die Anweisung, die Figuren mögen «im leichtesten Konversationston» miteinander kommunizieren, wird die im engeren europäischen Kulturraum seit jeher tradierte Auffassung, wonach der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen sei, dem durch Sprache die fundamentale Möglichkeit gegeben ist, sich über komplexe Fragen der Gegenwärtigkeit auszutauschen, ad absurdum geführt. Aus der Allgemeingültigkeit des traditionellen Kommunikationssystems herausgerissen, sind die Figuren auf jenen heiteren Ton des geselligen Plauderns verwiesen, der im Vaudeville Labiches und Feydeaus zu größter Perfektion reift. Das jeder prosaischen Schwerfälligkeit enthobene vaudevilleske Sprechen liefert den beiden «Tiermännern» das Vorbild für einen galanten Dialog, der - seiner rhetorischen Gemeinplätze zum Trotz - unter dem Vorzeichen der ästhetischen Überformung, der galanten Geselligkeit steht. Anders als im herkömmlichen Drama, in dem die Figuren sich als Redende selbst darstellen, erhalten «Elch» und «Bär» nicht die Gelegenheit, sich mittels der Sprache zu äußern. Es ist ihnen lediglich vergönnt, auf sprachspielerische Weise jener «feinen und geistvollen Hochstimmung Raum zu geben,» 98 die im Vaudeville aus der performativen Dimension der dialogischen Rede erwächst. Die vielfältigen sprachlichen Variationen, mit denen Jelinek das Thema um die rechtlichen Rahmenbedingungen der deutschen Einheit ausschmückt, stellen gleichermaßen einen Zustand von Stillstand und Beschleunigung her, der sich dem Gedanken eines umfassenden Fortschritts der Geschichte versagt. Ähnlich wie in den Stücken Labiches und Feydeaus sprudelt den Protagonisten die Rede anmutig über die Lippen, wobei diese elegante Leichtigkeit des Stils auch daher rührt, dass «von hohen Dingen ganz einfach, von niederen aber mit nobler Distanz [gesprochen wird].» 99 Ohne jede Anstrengung zitieren «Elch» und «Bär» aus den komplexen Reden zur deutschen Wiedervereinigung, bemühen politische Floskeln und stellen fließende Zusammenhänge zum Topos der Einverleibung her. Als Beispiel mögen die Sprechaktverben «versprechen» (2), «äußern» (3), «sprechen» (3), «sagen» (5), «darstellen» (6), «ausführen» (13), «bekunden» (18) dienen, die nahezu bruchlos ineinander übergehen. Und doch deuten die mit diesen Verben betriebenen Sprachspiele 100 auf die «Unfähigkeit» so genannter Kommunikationsverben hin, sprachliche Handlungen zu vollziehen. Gerade die 98 Montandon, Alain: Zur Galanterie im Frankreich des 17. Jahrhunderts. In: Florack, Ruth/ Singer, Rüdiger (Hg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der frühen Neuzeit. Berlin: de Gruyter 2012 (= Frühe Neuzeit 171), S. 19 - 50, S. 32. 99 Gelzer, Florian: Konversation und Geselligkeit im «galanten Diskurs» (1680 - 1730). In: Schnell, Rüdiger: Konversationskultur in der Vormoderne: Geschlechter im geselligen Gespräch. Köln: Böhlau 2008, S. 473 - 524, S. 482. 100 Vgl. hierzu etwa die Replik (2): «Ist Ihnen etwa auch die Sprache versprochen worden? », die Repliken (12): «Großartig, wie Sie sich als Körper aufführen! » und 13: «Großartig, wie Sie Ihren Körper ausführen! » 215 <?page no="216"?> Austauschbarkeit der Wörter (so etwa: «aufführen»/ »ausführen») macht deutlich, dass für Jelinek Sprache unverfügbar, d. h. nicht auf bestimmte Mitteilungen festlegbar ist und dass die Funktion literarischen Sprechens «lediglich» darin besteht, die Sprache zu Worte kommen zu lassen, ihr als verlängertes Mitteilungsrohr für jene verborgenen Wahrheiten zu dienen, die sich der willentlichen Verfügbarkeit entziehen. Sprache wird hier als rhetorische Performativität thematisiert, als Werk- und Spielzeug, das die Protagonisten reflexhaft, d. h. bar jeden reflexiven Abstands, handhaben. Liest man die Szene aus intertextueller Perspektive, dann wird deutlich, dass die Passage auf jene «Verkleidungsszene» in Mozarts Oper anspielt, in der sich Guglielmo und Ferrando - als «Albaner» getarnt - auf die Begegnung mit ihren Bräuten vorbereiten. Doch im Unterschied zu Da Pontes Libretto, das keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, dass die lachhaften Kostüme Teil eines abgekaterten Spiels sind, hat man bei Jelinek den Eindruck, dass die Kostüme nicht der Tarnung, sondern der Sichtbarmachung von Absichten dient, die im politisch-offiziellen Diskurs ins Abseits gedrängt werden. Die beiden Tiermänner, ein Sinnbild patriarchalischer Verhältnisse und manifester Frauenfeindlichkeit, sind das alter ego von Kurt und Herbert, die sich aber durch ihre unheimlichen Doppelgänger in keinster Weise bedroht fühlen. Ausgangspunkt der nun folgenden Überlegungen ist die Frage, wie Jelinek ein Tarnspiel inszeniert, das nicht im Dienste der Tarnung, sondern der Aufdeckung steht. Jelinek greift auf ein dichtes Netz an inner- und außertextuellen Assoziationen zurück, wobei unter innertextuellen Assoziationen solche Verknüpfungen gemeint sind, die «innerhalb des Textsystems selbst» 101 entstehen, und unter außertextuellen Assoziationen solche Bezüge, die in Relation zu «textexternen Gegebenheiten» 102 realisiert werden. Dabei lässt sich in Raststätte nicht immer eine klare Abgrenzung der beiden Kategorien nachweisen, vielmehr liegt häufig eine Vermischung vor, die - wie Jacques Lajarrige hervorhebt - im Dienst der Zerstreuung von Sinn steht: Le tissage de chaînes d ’ allusions aboutit [. . .] à la formation d ’ isotopies structurantes, mais en même temps toujours mouvantes [. . .]. L ’ écriture [. . .] obéit à la fois à des règles de combinaison, de transformation et de glissement. Juxtaposant des discours hétéroclites et hétérogènes, Elfriede Jelinek s ’ adonne ainsi au rituel rigoureux de l ’ inversion et de la suversion du langage. Par cette tentative de maintenir une fluidité de sens en le renversant continuellement dans un circuit illimité de renvois plus ou moins opaques, l ’ auteure se refuse à proposer une lecture figée du réel. 103 101 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 323. 102 Ebd. 103 Lajarrige, Jacques: «Bis zur Kenntlichkeit entstellen.» Effets de déréalisation historique dans «In den Alpen» et «Das Werk». In: Lartillot, Françoise/ Hornig, Dieter (Hg.): Jelinek, une répétition? Jelinek, eine Wiederholung? A propos des pièces «In den Alpen» et «Das Werk». Zu 216 <?page no="217"?> Bereits im Nebentext werden jene beiden Themenfelder, jene «discours hétéroclites et hétérogènes» angesprochen, die den gesamten Textauschnitt durchziehen: das Themenfeld Opfer, das der Isotopieebene «Tiere». . . «Tiermänner». . . «Totems». . . «riesig groß». . . «gefährlich». . . «Götzenbilder» geschuldet ist, und das Themenfeld Sprechen, das zum einen durch die Sprechaktverben und zum anderen durch die im Nebentext enthaltene Anweisung konstituiert wird, die Figuren mögen im «leichtesten Konversationston» miteinander sprechen. Durch die Beziehungen zwischen diesen beiden Themenfeldern werden die Schattenseiten einer Sprache angekündigt, die sich vornehmlich an den Interessen der Systemgewinner orientiert. Ähnlich wie in Nora sieht Jelinek auch in Raststätte ihre Aufgabe darin, die Widersprüche aufzudecken, die asymmetrischen Machtverhältnisse anzuprangern, die durch die Reden der Herrschaftsträger produziert werden. Dabei verzichtet sie auf die «gewöhnlichen Mittel der Satire,» 104 die «im Namen eines moralischen Reinheitsideals» 105 herangezogen werden, eines Soll-Zustands, den Jelinek schon deshalb ablehnt, weil sie auch hier wieder die Nähe zur Ideologie wittert. Ihrer kritischen Einstellung gegenüber den Mustern ideologischen Denkens verleiht sie auch dadurch Ausdruck, dass sie gegenüber dem Heldenstatus von Theaterfiguren eine skeptische Haltung einnimmt. So ist das Personal im «großen Auftritt der Tiere» durch «Scheinhelden» 106 gekennzeichnet - «Scheinhelden» insofern, als sie «nicht einmal imstande sind, die gesellschaftlichen Lügen glaubhaft zu verkörpern.» 107 Die beiden «Tiermänner» wirken bereits dadurch unglaubhaft, dass sie zwei vom Aussterben bedrohte Tierarten repräsentieren, von denen die eine den Angreifer- («Bär») und die andere («Elch») den Opferstatus innehat. Diese im Nebentext deutlich vorgenommene Unterscheidung zwischen «Täter» und «Opfer» wird im Laufe des Textes zugunsten einer Täter- Opfer-Komplementarität aufgegeben, die dadurch zum Ausdruck gebracht wird, dass «Bär» und «Elch» fast den gleichen Beruf innehaben, fast den gleichen Diskurs halten, fast die gleichen Überzeugungen vertreten. Im Sinne der Komplementarität ist auch die «passende Handbewegung» zu verstehen, die an eine in Selbsthilfegruppen praktizierte Vorstellungsmethode erinnert und die - im Sinne eines Täter-Opfer-Ausgleichs - der Aufweichung der Fronten zwischen Verfolger und Verfolgtem dient. den Theaterstücken «In den Alpen» und «Das Werk». Bern/ New York: Peter Lang 2009 (= Genèses de textes 1), S. 5 - 25, S. 16. 104 Thiériot, Gérard: Sinnzerstörung? Sinngebung? Zur Fleischwerdung von Text in Elfriede Jelineks Dramen «In den Alpen» und «Das Werk». In: Lartillot (Hg.): Jelinek, une répétition? , S. 99 - 110, S. 102. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Ebd. 217 <?page no="218"?> In schroffem Gegensatz zu den «belasteten» Assoziaten steht der Rhythmus des «Konversationstons», der die Abwesenheit alles Schwerfälligen suggeriert. Diesem Rhythmus sind ästhetische Wiederholungsstrukturen eigen, die sich in den Dialogpassagen des Hypotextes und des französischen Vaudeville in ähnlicher Weise finden lassen. So wie sich Da Ponte die Wirkung phonematischer Echos zunutze macht, um die satirische Leichtigkeit seines Librettos hervorzuheben, so wie Feydeau die Wortwiederholung bedient, um den Eindruck von Sprechmaschinen zu erzeugen, so greift auch Jelinek auf unterschiedliche Spielarten der Wiederholung zurück. Zum Vergleich sei zunächst die berühmte «Abschiedsszene» aus Da Pontes Libretto zitiert, 108 in der die mehrmalige Wiederholung des Possessivpronomens der ersten Person weniger die Exklusivität als die Austauschbarkeit der Partner vorführt: Recitativo Don Alfonso: Non v ’ è più tempo, amici; andar conviene Ove il destino, Anzi il dover v ’ invita. Fiordiligi: Mio cor! Dorabella: Idolo mio! Ferrando: Mio ben! Guglielmo: Mia vita! Fiordiligi: Ah, per un sol momento . . . Don Alfonso: Del vostro reggimento Già è partita la barca; Raggiungerla convien coi pochi amici Che su legno più lieve Attendendo vi stanno. Fernando e Guglielmo: Abbracciami, idol mio! Fiordiligi und Dorabella: Muojo d ’ affano! Rezitativ Don Alfonso: Nicht Zeit ist mehr, Ihr Freunde, Ihr müßt nun eilen Wohin das Schicksal, und auch die Pflicht Euch führet. Fiordiligi: Mein Herz! Dorabella: Mein Allerliebster! Ferrando: Mein Schatz! Guglielmo: Mein Leben! Fiordiligi: Ach, einen Augenblick nur . . . Don Alfonso: Zu Eurem Regimente ist schon fort Eure Barke. Eilt nun zu diesen Freunden, die dort warten, die in leichterem Boote auf das Schiff Euch nun bringen. Fernando und Guglielmo: Umarme mich, Geliebte! Fiordiligi und Dorabella: Sterben nur will ich! 108 Mozart, Wolfgang Amadeus/ Da Ponte, Lorenzo: Così fan tutte. [1790]. Textbuch (Italienisch-Deutsch). Mainz: Schott Musik International 1983, S. 61. 218 <?page no="219"?> Auch bei Feydeau unterstreicht das Moment der Wiederholung die Austauschbarkeit der Figuren. So wurde in Kapitel III, 3.2.1. bereits festgestellt, dass die Repliken der dramatis personae zwar nicht durch «Flächen», aber durch das Prinzip der Entindividualisierung charakterisiert sind. Zum besseren Nachvollzug sei an dieser Stelle noch einmal die einschlägige Passage zitiert: MADAME HAUTIGNOL, MADAME PONANT, MADAME VIRETTE, presque simultanément MADAME HAUTIGNOL, très vite et passant. Eh bien, vous avez vu, ma chère! la jupe est plate par derrière avec l ’ ouverture sur le côté! MADAME PONANT, avant que l ’ autre ait fini sa phrase et aussi vivacement. La manche, ma chère! la manche! avez-vous remarqué comment elle est faite? l ’ épaulette, le haut est rapporté! MADAME VIRETTE, de même. J ’ ai bien regardé la jupe, elle est de biais, ma chère! avec le volant en forme comme je le disais. 109 Der wiederkehrende Einsatz von «ma chère» über alle drei Repliken hinweg, «dieses im Nachsprechen Anwesend-Sein, die Sprechmaschine selbst zu sein,» 110 führt bei Feydeau jenes Maß an Entfremdung vor, das der Depersonalisierung der Figuren Vorschub leistet. So besteht zwischen dem Vaudevillisten und Jelinek die Gemeinsamkeit darin, dass die Protagonisten an einem versprochenen (und nicht etwa an einem versprochenen) Sprechen festhalten, das deshalb keinerlei verbindliche Zusage enthält, weil es ein falsches Sprechen ist. Für dieses falsche Sprechen repräsentativ ist die Frage «Ist Ihnen etwa auch die Sprache versprochen worden? », die aufgrund der Nähe zum Farbphraseologismus «das Blaue vom Himmel versprechen» den unsicheren Bestand einer Sprache vorführt, die das Eigentliche nicht sagt. So wie Feydeaus Petypon die größten Anstrengungen auf sich nimmt, um die Wahrheit nicht aussprechen zu müssen, um der direkten Konfrontation zu entgehen, so wird auch bei Jelinek das Paradoxon auf die Spitze getrieben, dass das Eigentliche unsagbar ist. Während der auf die Scholastiker zurückgehende Satz «individuum est ineffabile» («Das Individuum ist nicht zu fassen») auf die Unaussprechbarkeit des Individuums hindeutet, das in seiner unergründlichen Tiefe nur von Gott erfasst werden kann, begegnen die Figuren Feydeaus/ Jelineks der Programmatik dieser Sentenz auf eine völlig neue Weise: Sie negieren die bloße 109 Vgl. Fußnote 112 auf S. 67. 110 Meister, Monika: «Theater müßte eine Art Verweigerung sein.» Zur Dramaturgie Elfriede Jelineks. In: Lartillot (Hg.): Jelinek, une répétition? , S. 55 - 71, S. 59. 219 <?page no="220"?> Existenz von Individualität, von jener unaussprechbaren Tiefe, die in der mimetischen Darstellungsweise einen unmittelbaren und einmaligen Ausdruck erfährt. Weil sie die Einmaligkeit personaler Existenz abstreiten, lassen sie sich nicht über ein subtiles Innenleben definieren. Dies führt bei Jelinek sogar so weit, dass ihre Figuren «nur» noch aus ineinandergeschobenen Sprachflächen bestehen. Angesichts einer solchen nihilistischen Abwendung vom Sprachglauben ist es nur folgerichtig, dass «Elch» zu dem Schluss gelangt: «Mit dem Sprechen mache ich mich selbst», wobei das Verb «machen» die Absurdität eines Sprechaktes unterstreicht, dessen Performativität lediglich auf das Sprechen selbst verweist und nicht mehr - wie von jener Sentenz nahegelegt wird - auf die Partizipation des menschlichen Geistes an Gottes Schöpfung. Das Verb «machen» ist auch insofern interessant, als es Assoziationen zum modernen ‹ Machbarkeitsgedanken › freilegt, wonach wirtschaftliche Schwierigkeiten wie Arbeitslosigkeit, Preissteigerungen und gesamtwirtschaftliches Ungleichgewicht zu bewältigen sind, sofern im richtigen Augenblick die richtigen Maßnahmen ergriffen werden. Der Glaube an die eigenen Fähigkeiten zog sich wie ein Leitfaden durch die Diskurse zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, galt es doch die «neuen Bundesländer des alten Bundes» («Bär») von der ‹ Machbarkeit › der deutschen Einheit zu überzeugen. Im Zuge dieser Überzeugungsstrategie wurde den DDR-Bürgern die Ausdehnung «blühender Landschaften» (Helmut Kohl 111 ) versprochen. 112 «Das war ein Fehler,» lässt Jelinek ihren «Elch» in anspielungsreicher Beziehung zu den späteren reumütigen Bekundungen Helmut Kohls sagen. Der Widerspruch zwischen vollmundiger Ankündigung und Realität, zwischen «Zungenspiel» («ELCH») und Desillusionierung wird auch durch den Assoziat «Verfassung» zum Ausdruck gebracht, der in außertextueller Beziehung zur Diskussion um den verfassungsrechtlichen Weg der deutschen Vereinigung steht. Zum besseren Nachvollzug der von Jelinek herangezogenen Diskurse sei im Folgenden der damalige Kontext kurz umrissen: Nachdem am 9. November 1989 die Mauer gefallen und die Chance auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in greifbare Nähe gerückt war, machte sich die Regierungspartei, allen voran Bundeskanzler Kohl, für einen Beitritt der neuen Länder nach Artikel 23 des Grundgesetzes stark. Die Kräfte der Opposition hingegen befürworteten ein Vorgehen nach Artikel 146, der die Ausarbeitung einer neuen Verfassung vorsah. Weil die Entscheidungsträger angesichts des zunehmenden Verfalls der staatlichen Strukturen in der DDR unter Handlungsdruck standen, setzte sich der 111 Die Formel von den «blühenden Landschaften» prägte Helmut Kohl im Zuge der Wahlkampagne zu den ersten freien Wahlen auf DDR-Boden (März 1990). 112 Von dieser Formel ist es dann nur noch ein Schritt zu der Replik «Dass wir sie mit unserer Lebensfreude auf ihrem eigenen Boden pflanzen können.» 220 <?page no="221"?> schnelle Weg 113 über Artikel 23 durch. Dabei fühlten sich aber jene DDR- Bürgerbewegungen in die Enge getrieben, die die «Montagsdemonstrationen» angeführt hatten und mit dem Fall der Mauer die Möglichkeit gegeben sahen, über einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» nachzudenken. ‹ Uns bleibt ja doch nur die Einverleibung › , lautete damals die Klage, wobei mit «Einverleibung» die widerrechtliche Übernahme des DDR-Territoriums gemeint war. Die Frage, ob eine andere Form des Beitritts Perspektiven jenseits des «Einkaufzentrums» («BÄR») eröffnet hätte, beherrscht noch heute die Debatte über die Folgen der Wiedervereinigung. Hier ist allerdings nicht der Ort, eine Erörterung dieser Frage vorzunehmen. Stattdessen soll der Versuch unternommen werden, eine abschließende Antwort auf die Frage zu finden, wie in Raststätte die Beziehung zwischen den überlagerten Hypotexten (Mozart/ Vaudeville) und dem überlagernden Hypertext gestaltet wird. Die Autorin lässt sich vom Spielwerkhaften ihrer Vorlagen, vom liebenswürdig-gestellten bzw. galant-leichten Duktus der Figuren in der Mozart- Partitur und im Vaudeville inspirieren, um die Zuschauer vor diesem Hintergrund mit einer Unmenge an «belasteten» Assoziaten zu konfrontieren, die - im Zeichen der Aufdeckung stehend - über das «Zungenspiel» der Herrschaftsdiskurse Auskunft geben sollen. Sie bedient sich dabei einer von Distanz- und Nähe-Merkmalen durchzogenen Kunstsprache, die zuweilen an die künstlich anmutende Sprache ihrer eigenen Vaudeville-Übersetzungen erinnert. Nun würde man dem Schreiben Jelineks nicht gerecht, wenn man nicht gesondert auf die Differenzen einginge, die sich vor allem aus dem unterschiedlichen Umgang mit der Thematik des Begehrens ergeben. Während der Vaudevillist «sexuelle Unbefriedigung» als festen Bestandteil menschlicher Existenz betrachtet, rückt Jelinek die Thematik in einen kausalen Zusammenhang mit den Erfordernissen des Marktes. Die brennende Aktualität von Raststätte liegt darin begründet, dass Sexualität hier als Teil der unendlichen Vervielfältigungsmaschinerie der modernen kapitalistischen Medienindustrie aufgefasst wird. Die weiblichen Hauptfiguren, Claudia und Isolde, die sich per Inserat mit zwei ihnen unbekannten Männern auf einer Raststätte verabreden, liefern sich dem Anspruchsdenken, das hinter der Allgegenwart sexistischer Darstellungen verborgen liegt, willenlos aus. Sie sind Opfer jener medial geprägten Konstruktionen von Geschlechtlichkeit, die die Illusion einer von hoher Leidenschaftlichkeit gekennzeichneten Sexualität suggerieren. Beide Figuren leben in dem Glauben, dass erotische Begegnungen mit einem Unbekannten, die - fernab der ehelichen Gewohnheiten - an einem jeglicher Intimität entbehrenden Ort stattfinden, zur Erhöhung der eigenen sexuellen Wirksamkeit beitragen. Beide geben sich der Illusion hin, dass sich 113 «Bär» spricht von einem «vernünftigen» Weg. 221 <?page no="222"?> der «Marktwert» ihres Körpers durch strikte Anpassung an das massenmedial produzierte Schönheitsideal steigern lasse. Im Folgenden soll anhand der Figurenbewegungen erörtert werden, wie Jelinek den Themenbereich «Sex in der Oberflächenwelt» 114 inszeniert. Dabei dürfte deutlich werden, dass die Autorin zwar einen anderen Umgang mit der Thematik pflegt als die Vaudevillisten, dass aber die Textwirkung in ähnlicher Weise aus der Gestaltung des Spielraums bzw. den im Nebentext verorteten Bewegungen im Bühnenraum resultiert. So enthalten die Regieanweisungen eine ganze Reihe von Angaben zum «Raum-Körper-Kontinuum,» 115 das in direktem Zusammenhang mit dem «semantisch performativen Zusammenspiel der Akteure» 116 steht. Besonders repräsentativ für das Ineinandergreifen der beiden Inszenierungsgrößen «Körper» und «Raum» ist folgende Textpassage, in der die Degradierung des Körpers zum Reizapparat inszeniert wird: ISOLDE: Wo sind die einfachen Vergnügungen? KURT: Na, dann viel Vergnügen! Plötzlich wird grell das Licht eingeschaltet. Obszöne Neon-Nackte in allen Farbschattierungen und Stellungen stroboskopieren. Plakate, überdimensional große Poster von Titelseiten von Pornomagazinen werden hochgezogen wie Fronleichnams-Fahnen in der Kirche. Auch Sandwich-Männer können damit herumgehen etc. Unser Quartett tut so, als merkte es von all dem nichts. 117 Die Regieanweisungen dokumentieren die medial gesteuerte Mobilmachung der Lust, die - blasphemisch als religiöser Ritus inszeniert 118 - im Dienst der Konsumierbarkeit der Welt steht. Die «Neon-Nackten», die mit heiligem Ernst an einer fronleichnamsähnlichen Prozession teilnehmen, sind die Akteure eines allgegenwärtigen Sex-Diskurses, der die Menschen so weit treibt, die Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität von seiner Sexualität abhängig zu machen. Dabei stellt das stroboskopierende Licht (griech. Strh ό bos: Wirbel, Sichdrehen), das eine Abfolge von abgehackt erscheinenden Bewegungen generiert, eine Variante des vaudevillesken Schneeballeffekts dar. Womöglich hat hier das Prinzip der stroboskopischen Scheiben und Zylinder, das 1832 der Mathematiker Simon von Stampfer in Wien und der belgische Physiker Joseph Anton Ferdinand Plateau entdeckten, Pate gestanden. Die entsprechenden Geräte wurden ihrerzeit Phänakistoskop oder Phantaskop, also ‹ Täuschungsseher › genannt, 114 Vgl. hierzu den Titel folgenden Werkes: Metelmann, Jörg (Hg.): Porno-Pop: Sex in der Oberflächenwelt. Würzburg: Königshausen & Neumann (= Film - Medium - Diskurs 8). 115 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 230. 116 Ebd., S. 231. 117 Jelinek: Raststätte oder Sie machens alle, S. 76. 118 Interessanterweise wird auch in La Dame de chez Maxim (1. Szene, 1. Akt) die Verbindung von Religion und Sexualität als vermeintliches Erlösungsversprechen dargestellt. 222 <?page no="223"?> um den Illusionscharakter der wahrgenommenen Scheinbewegungen zu kennzeichnen. 119 So wie in La Dame de chez Maxim der Raum als zyklische Wiederkehr des Gleichen konzipiert wird, 120 so suggeriert die Rotationsmechanik der Stroboskop-Scheiben dem Betrachter einen kreisartig angelegten Raumkörper, dessen Effekt sich auf die wahrgenommene Folge rhythmisierender Bewegungen bezieht. Die «plötzlich» einsetzenden Licht/ Dunkel-Kontraste, deren schockhafte Wirkung durch die vielfachen «Farbschattierungen» noch verstärkt wird, stehen im Dienst einer Ästhetik der Immersion, eines kalkulierten Spiels mit der Auflösung der Einheit von Körper und Selbst. Durch seinen Täuschungscharakter trägt das Stroboskoplicht das gestische als ob zur Schau, diesbezüglich den Slapsticks eines Pantomimenspielers verwandt, dessen stockende Bewegungen die Kluft zwischen Körper und Seele, zwischen Materie und Intelligiblem vorführen. Der Körper wird als Schein ausgestellt, als immersiver Sog, mit dem sich «die Erfahrung von Ort- und Zeitlosigkeit [verbindet].» 121 Dass die Allgegenwart des Sex-Diskurses nicht zu einer Abstumpfung, sondern zu einer Überreizung der Sinne führt, lässt sich an der wiederum auf Schein zielenden Reaktion der Figuren abmessen, die nur so tun, als merkten sie von dem unheimlichen Treiben der Neon-Nackten nichts. Indem Jelinek das unstillbare Begehren zum eigentlichen Thema von Raststätte erhebt, gelingt es ihr, die Gattung des Vaudeville von Grund auf zu erneuern: Wurde bei Feydeau das Motiv noch als existenzielles Problem verhandelt, so führt Jelinek das Getriebensein des Menschen auf die der westlichen Konsumgesellschaft eigene Tendenz zurück, Lust für die wichtigste Sinnbestimmung menschlichen Lebens zu erachten. Indem die Autorin eine Gesellschaft darstellt, die - unter Preisgabe anderer wesentlicher Bestimmungen des Menschseins - den sexualisierten Lebensentwurf zum einzig richtigen Modell geglückten Lebens stilisiert, führt sie die Konsequenzen vor, die sich aus jener Trennung von Körper und Selbst ergeben. Das der Logik der Marktzirkulation gehorchende «Raststättenpersonal» reiht sich - ähnlich wie in La Dame de chez Maxim - in den ewigen Kreislauf ein, dessen unheimlich anmutende Rotationsbewegung durch die Grammatik der Kostüme noch verstärkt wird. Hierzu der einschlägige Nebentext: [Die als Tiere verkleideten Ehemänner Claudias und Isoldes] zucken gleichmütig die Achseln und nesteln an ihren Kostümen. Sie öffnen die Reißverschlüsse und 119 Clausberg, Carl: Zwischen den Sternen. Lichtbildarchive. Was Einstein und Uexküll, Benjamin und das Kino der Astronomie des 19. Jahrhunderts verdanken. Berlin: Akademie 2006, S. 36. 120 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel III, 3.3.3. 121 Lehmann, Annette J.: Black Box Inside Out. Wahrnehmungsprozesse in einem immersiven Raum. In: Kröncke, Meike/ Mey, Kerstin/ Spielmann, Yvonne (Hg.): Kultureller Umbau. Räume. Identitäten und Re/ Präsentationen. Bielefeld: transcript 2007, S. 59 - 76, S. 59. 223 <?page no="224"?> steigen heraus. Allerdings merkt man, daß Elch und Bär wieder nur in einem Elch- und Bärenkostüm stecken, das sie darunter anhaben, sozusagen zwei Kostüme ineinander. Das Geweih des Elchs ist aus Schaumgummi und ploppt wie ein Springteufel unter der Kopfmaske hervor, zu einer Art Fernseh-Libellenantenne geformt. Die beiden Männer, Herbert und Kurt, scheinen sich aber nicht darüber zu wundern. 122 Wollte man diese Textpassage vom Form-Inhalt-Dualismus her erschließen, dann müssten die ineinander geschachtelten Kostüme als hierarchisch organisierte Folge von Zeichen gedeutet werden: Die ‹ Zweitkostüme › führten echohaft vor, mit welcher Hartnäckigkeit sich die Natur gegenüber der Kultur durchsetzt. Der Code des Textes ließe sich auf die Aussage reduzieren, dass die Wiederholungsfigur die von Kant vertretene Überzeugung obsolet macht, wonach Kultur ein teleologischer, fortschrittsorientierter Prozess ist. Eine solche Leseweise richtete das Augenmerk auf die im Text enthaltene Botschaft, auf die vom sprachlichen Zeichen abgeleitete Vorstellung, der zufolge nicht das vernunftbegabte, frei denkende Individuum am Ende der moralischen Entwicklung des Menschen steht, sondern «wieder nur» ein Elch und ein Bär, Tiere, die es schon immer gegeben hat und die es immer geben wird. Eine solche Leseweise trägt jedoch nicht den «Zusammenhängen, Bezügen und textuellen Wertigkeiten» 123 Rechnung, die für das Stück konstituierend sind. Wenn hingegen der Text systemisch gelesen wird, wenn der Leser bereit ist, «auch das zu lesen, was zwischen den Wörtern des Textes geschieht,» 124 dann fallen Beziehungen in den Blick, die von der semiotischen Leseweise nicht erfasst wurden. Jelineks Texte erfordern «ein misstrauisches Lesen, ein Lesen, das bereit ist, über einzelne Wörter zu stolpern.» 125 Ein solches «Stolperwort» stellt das konzessive Adverb «Allerdings» dar, das sich durch eine komplexe Relation zu dem vorausgegangenen Hauptsatz auszeichnet. «Allerdings» hebt einerseits auf die im vorausgegangenen Satz angesprochene regelhafte Beziehung ab (Elch und Bär stecken wieder in einem Elch- und Bärenkostüm) und betont andererseits, dass diese Beziehung eine Einschränkung erfährt (plötzlich «merkt man», dass die Kostüme sich wiederholen). Seine Wertigkeit bezieht «Allerdings» also aus dem Moment des Aufmerkens, aus dem Hereinbrechen des Unvertrauten, des Fremden: Das, was eben noch ein einfaches Tierkostüm war, das, was als Symbol der «männlichen Natur» aufgefasst werden konnte, tritt in der Wiederholungsfigur als ein unheimlich anmutendes Wiederkehrendes auf. Ein solches Wiederholungsprinzip hat zur Konsequenz: Nichts ist so, wie es scheint, hinter den vermeintlich 122 Jelinek: Raststätte, S. 102. 123 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 65. 124 Ebd., S. 181. 125 Ebd., S. 191. 224 <?page no="225"?> eindeutigen geschlechtsspezifischen Zuweisungen liegt eine Komplexität, eine Abgründigkeit verborgen, die sich nicht ausloten lässt. Des weiteren ergibt sich aus der Systemik des Textes, dass zwischen dem Wort «Kostüm» und den Wörtern «Bär» bzw. «Elch» eine Verbindung besteht, die auf den Zusammenhang zwischen der Bekleidung/ der Kostümierung/ der Mode und dem kulturellen Alltag hindeutet. Dieser Zusammenhang legt folgende Schlussfolgerung nahe: Das, was nach Natur aussieht, ist nur dem Schein nach Natur, das, was authentisch wirkt, ist das Resultat eines künstlichen Ästhetisierungsprozesses. Die Elch- und Bärenkostüme führen vor, dass die sichtbare Oberfläche nicht überwunden werden kann, dass es unmöglich ist, von der Kultur zur Natur, vom Künstlichen zum Natürlichen, vom Gemachten zum Authentischen vorzudringen. Ein weiteres «Stolperwort», dem im Rahmen dieser Lektüre Rechnung getragen werden soll, ist das Geweih, dessen Fortsätze, «zu einer Art Fernseh- Libellenantenne geformt», die Assoziation «Medienwelt» nahelegen. Durch die verschränkte Form der Sprossen wird in selbstreferentieller Betonung auf die Verschränkung der Themenbereiche «Medienwelt» und «Schein und Sein» hingewiesen, eine Verschränkung, die im Folgenden formelhaft verdichtet werden soll: Medienwelt + Schein und Sein = mediale Scheinwelt. Bevor ich näher auf diese Verschränkung eingehe, möchte ich zunächst den Signifikanten «Geweih» analysieren, dessen Wertigkeit erst vor dem Hintergrund folgender Informationen fassbar wird: Das Geweih des Elchs, das nur männlichen Tieren vorbehalten ist, dient in der Paarungszeit dazu, schwächere Konkurrenten auszuschalten. Seiner Größe ungeachtet, bildet es sich Jahr für Jahr neu und wird nach der Fortpflanzungszeit abgeworfen. Wenn der Elch älter wird, «setzt er zurück», d. h. sein Geweih nimmt an Größe ab. Aus diesen Informationen wird ersichtlich, dass das von Jelinek verwandte Requisit von einem klischeehaft besetzten Assoziationsraum umgeben ist, der einerseits das Bild des Mannes als Herrscher aufruft, ihn andererseits als ‹ Gehörnten › , d. h. von seiner Frau Betrogenen zeigt. Beides wird dadurch ins Lächerliche gezogen, dass das Geweih hier lediglich aus Schaumgummi ist und wie ein Kinderspielzeug («wie ein Springteufel») funktioniert. Weitere Schichten des Textes lassen sich erschließen, wenn man die gekrümmte Form der Geweihsprossen als selbstreferentiellen Verweis auf «Verschränkung» und somit auf Jelineks eigene Art des Schreibens deutet, die sich durch eine Überlappung der Themenbereiche auszeichnet, durch jenes «Zusammenspiel der Signifikanten im Textsystem,» 126 aus dem sich das 126 Ebd., S. 125. 225 <?page no="226"?> «Sinnmachen des Textes» 127 ergibt. Dieses «Sinnmachen» lässt sich nun auf folgende Weise formelhaft verdichten: Medienwelt + Schein und Sein + männliches Herrschaftsgebaren = Sex in der Oberflächenwelt Die Formel kann als Kritik an der einseitig visuell ausgerichteten Mediengesellschaft aufgefasst werden, in der «das Pornographische vollends aus den tabuisierten Räumen [. . .] an die Oberflächen der breiten Öffentlichkeit getreten» 128 ist. Für die Figuren in Raststätte, die sich an die Pluralität der «Oberflächen» angepasst haben, ist die zunehmende gesellschaftliche Pornografisierung ein integrierender Bestandteil ihres Lebens. So stellt auch die «weibliche Mode», die gleich in der ersten Regieanweisung angesprochen wird, eine Variante dieses Phänomens dar: Zwei Frauen in extrem sportlicher Kleidung, die offenkundig sehr teuer war, kommen herein, eine jüngere, Claudia, und eine ältere, Isolde. Die ältere ist zu alt und etwas zu dick für ihren Sportdreß. Aber auch die jüngere paßt nicht recht zu ihrer Bekleidung, die beinahe futuristisch ist. 129 Der Verweis auf die «Mode» ist als Kritik an einer Gesellschaft zu verstehen, die ihr Selbstverständnis aus der Bandbreite möglicher Körpertransformationen bezieht: «Mode war immer eine Frage der Willenskraft und ein Mittel, der natürlichen Realität des Körpers ein Ideal entgegenzuhalten. Mode will das Unerreichbare.» 130 Claudia und Isolde zwängen sich in eine betont jugendliche Kleidung, weil sie nur das Ideal, die Oberfläche im Blick haben, an die sich die «Realität» ihrer Körper aber nicht anpassen lässt. Die Diskrepanz zum «Sportdreß» wird noch durch Extremwerte («extrem sportlich,» «sehr teuer», «beinahe futuristisch») unterstrichen. Eine solche Diskrepanz ist Ausdruck jener von der pornographischen Medien- und Konsumgesellschaft vertretenen Einstellung, wonach sexuelle Erfüllung in erster Linie von der Anziehungskraft körperlichen «Kapitals» abhängt. So sind denn die Gemeinsamkeiten zwischen dem Vaudeville und dem Theater Jelineks nicht auf der inhaltlichen, sondern auf der systemischen Ebene zu orten. Ein besonders eindrückliches Beispiel für ein solches «systemisches Aufeinandertreffen» stellt das oben bereits zitierte Geweih des Elchs dar, das - wie aus dem oben zitierten Nebentext hervorgeht - «wie ein Springteufel unter der Kopfmaske hervor[ploppt]». Bergson hat - unter Verweis auf Labiches Vaudeville Le Voyage de Monsieur Perrichon - diesen komischen Mechanismus zur Veranschaulichung des dem Vaudeville ent- 127 Ebd., Hervorhebung im Original. 128 Metelmann: Einleitung. Porno-Pop. Sex in der Oberflächenwelt, S. 7. 129 Jelinek: Raststätte oder Sie machens alle, S. 71. 130 Raether, Elisabeth: Seit Jahren dominiert die enge Passform den Jeansmarkt. Warum schnüren wir unseren Schenkeln die Luft ab? In: ZEITmagazin, Nr. 37, 06. 09. 2012, S. 66. 226 <?page no="227"?> nommenen Prinzips der Wiederholung eingehend beschrieben. Unter seinen Ausführungen ist vor allem jene Beschreibung gesondert hervorzuheben, die das «Springteufelprinzip» als eine über sich selbst hinausweisende Art der Komik deutet: Man sieht zuerst eine gewöhnliche Schachtel - ein vertrauter und harmloser Anblick. Dann springt plötzlich etwas oder jemand durchaus Ungewöhnliches aus der Schachtel heraus. Doch wird sogleich klar, daß dieses oder dieser andere schon die ganze Zeit in der Schachtel gewesen war. Der Springteufel enthüllt, daß die Dinge nicht sind, wie sie scheinen. 131 Das Prinzip, wonach «die Dinge nicht sind, wie sie scheinen» stellt eine Triebfeder des Komischen dar, die Jelinek dem Vaudeville entnommen und für ihr eigenes Schreiben fruchtbar gemacht hat. Dass sie sich - zur Veranschaulichung ihrer literarischen Vorgehensweise - eines Fingerzeigs bedient, der auf die theoretischen Implikaturen des Vaudeville hinweist, gehört zu den Kunstgriffen einer Autorin, die seit jeher das Recht für sich in Anspruch nimmt, den Zuschauern ihre Inspirationsquellen auf höchst verschlüsselte Weise zugänglich zu machen. 131 Berger, Peter L.: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. Berlin: de Gruyter 1998, S. 44. 227 <?page no="228"?> VII Schlussfolgerung Aus der vorliegenden Arbeit dürfte deutlich geworden sein, dass das von Lösener auf der Grundlage der theoretischen Annahmen Meschonnics entwickelte systemische Lesen einen mehrfach nutzbaren Ansatz darstellt, der sowohl für die Interpretation von literarischen Texten und Übersetzungen als auch für die Analyse von Theateraufführungen ein geeignetes Hilfsmittel darstellt. Dabei liegt die Attraktivität von Meschonnics Denken in einem - wie Lösener schreibt - grundlegenden Perspektivenwechsel begründet: «Das systemische Lesen beruht nicht auf der Grundeinheit des Zeichens,» 1 sondern auf der Grundeinheit des Rhythmus, einer Kategorie, die zwar auch als Prinzip der Sinngliederung fungiert, aber - im Gegensatz zum sprachlichen Zeichen - dem Aspekt der Performativität, d. h. der «jeweilige[n] Bewegung des Sprechens in der geschriebenen oder gesprochenen Rede,» 2 Rechnung trägt. Ausgehend vom Rhythmus als unhintergehbarer Kategorie stellt sich mir die Frage, ob sich das systemische Denken prinzipiell auf jede kulturelle Praxis übertragen lässt. Muss die Tatsache, dass Regisseure, Choreographen, Maler, Bildhauer u. a. den rhythmischen Aspekt wie selbstverständlich in ihre künstlerische Tätigkeit einbeziehen, als Indiz dafür gewertet werden, dass auch «nicht-literarische» Kunstobjekte vom Rhythmus her gedacht werden können? Meschonnic hat sich in der Poétique du traduire auf die literarische Reflexion und auf die theoretischen Implikationen seiner eigenen Übersetzungstätigkeit konzentriert. Die Frage, ob sein Denken auch auf andere kulturelle Praktiken übertragbar ist, wird in seinem Werk nicht beantwortet. Die von ihm vertretene Übersetzungsmaxime «Traduire, c ’ est mettre en scène» 3 bleibt metaphorisch, sie wird nicht perspektiviert in Richtung der theatralen mise en scène und damit um die Möglichkeit gebracht, Theateraufführungen vom Rhythmus her zu interpretieren. Meine Hypothese, dass dies sehr wohl möglich ist, habe ich durch die Analyse von Grübers Inszenierung der Affaire vorzuführen versucht. Als Ergebnis dieser Analyse ergibt sich in der Folge Meschonnics/ Löseners: Nicht nur das System «Text», auch das System «Inszenierung» kann durch eine Annäherung an die der Aufführung innewohnende semantische Performativität erschlossen werden. So wie der Leser durch die Analyse der systemischen Artikulation einen Zugang zu literarischen Texten findet, so 1 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 65. 2 Vgl. Fußnote 27 auf S. 21. 3 Vgl. Fußnote 62 auf S. 188. 228 <?page no="229"?> kann auch der Zuschauer eine Aufführung dadurch erfassen, dass er die Wertigkeit der Signifikanten untersucht, «die Art und Weise, wie ein Text durch seine systemischen Bezüge Sinn macht.» 4 Dabei lässt sich im Hinblick auf das Vaudeville feststellen, dass der stärkste Signifikant durch den Rhythmus gegeben ist, «insofern im Rhythmus Verschleierung und Entlarvung, Passivität und Schuld am engsten verwoben sind.» 5 Von diesem ersten Versuch ausgehend wäre es die Aufgabe der zukünftigen Forschung, die allgemeine Anwendbarkeit von Meschonnics Denken zu überprüfen. Durch den Verweis auf die Rhythmustheorie wurde indirekt auch ein Beitrag zur Beantwortung auf die in der jüngsten Forschung gestellte Frage geleistet, wie interkulturelles Theater zu analysieren sei. Im Gegensatz zur semiotisch ausgerichteten Aufführungsanalyse, die den interkulturellen Aspekt auf seine Zeichenhaftigkeit reduziert, betrachtet der systemische Ansatz das kulturell Fremde als eine Kategorie, die mit den performativen Aspekten der Inszenierung intrinsisch verwoben ist. Das systemische Denken, das den Interpreten von der Vorstellung befreit, dass eine Aufführung als «strukturierter Zusammenhang von Zeichen» 6 gedacht werden müsse, verzichtet auf eine klare Trennung zwischen dem kulturell Fremden und der spezifischen Vorgehensweise des Regisseurs. Mitnichten geht es Klaus- Michael Grüber um die interkulturelle Vermittlung von Inhalten, vielmehr ist sein künstlerisches Credo darin zu sehen, dass er sich einen eigenen Rhythmus schafft, der wider Erwarten der Performativität des Vaudeville ebenso gerecht wird wie der von den französischen Regisseuren verwandte Schneeballeffekt. In Grübers Inszenierung der Affaire, die von manch einem Feuilletonisten zu Unrecht als «kulturneutral» eingestuft wurde, lösen sich die kulturellen Spannungen in einer höheren Einheit auf. Somit lässt sich - in Anlehnung an die Begrifflichkeit Heinz Antors - sagen, dass Grüber das interkulturelle Dialogizitätsprinzip dadurch realisiert, dass die rhythmischen Bewegungen des Ausgangstextes einerseits nachempfunden und andererseits in ihr Gegenteil verkehrt werden. Ein weiteres Anliegen dieser Arbeit bestand darin, zur Rehabilitation eines höchst komplexen literarischen Genres beizutragen, dessen Originalität sich aus der so genannten Timbre-Praxis, der historisch bedingten Kombination von Singkanal und Sprechkanal speist. Gerade die in Labiches Affaire verwendeten Timbres entfalten «im Ohr» des Zuhörers ein komplexes intertextuelles Verweisfeld, das der Vaudevillist geschickt zu nutzen weiß, um unter dem Deckmantel vermeintlicher Harmlosigkeit politisch brisante Inhalte in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu «schmuggeln»: So 4 Lösener: Zwischen Wort und Wort, S. 109. 5 Ebd., S. 190. 6 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Die Aufführung als Text. Band 3. Tübingen: Narr 2003, S. 10. 229 <?page no="230"?> harmlos Lenglumés «Air de Voltaire chez Ninon» anmuten mag, bei genauerer Betrachtung stellt sich der einstimmige Gesang als beißende Gesellschaftskritik dar, die zu ihrer vermeintlich seichten Oberfläche in krassem Widerspruch steht. Nicht minder erwähnenswert ist die dem Vaudeville eigene Tendenz, das «bedeutende» Wort hinter sich zu lassen und den rhythmischen Implikationen der Sprache mehr Rechnung zu tragen als den Wortinhalten. Dabei steht die Aufhebung des Dualismus von Form und Inhalt im Dienst einer Störung der dramatischen Kontinuität. Dass diese Störung in Feydeaus La Dame de chez Maxim durch eine auf die Spitze getriebene Logik des Handlungsaufbaus erreicht wird, gehört zu den brillanten Schachzügen eines Autors, der Kunst mitunter auch als «savoir-faire», als virtuos zu beherrschendes Handwerk betrachtete. Was Jelinek anbelangt, so scheint sie von dieser Virtuosität, von diesem «savoir-faire» angezogen zu sein. Ihre Übertragungen des französischen Vaudeville zeichnen sich durch das Nachempfinden der dem Original eingeschriebenen semantischen Performativität aus. Indem sie den Rhythmus berücksichtigt, vermag sie - ganz im Sinne Meschonnics - die dem Genre eigene Art und Weise des indirekten Sprechens nachzuempfinden und in die Zielsprache zu übertragen. Offenbar ist die Schriftstellerin im Zuge ihrer Übersetzungstätigkeit zu der Überzeugung gelangt, dass Unbestimmtheit aus dem Theater Feydeaus nicht wegzudenken ist und dass dieser Fülle von indirekten Sprechakten nur durch eine Theatersprache beizukommen ist, die alle Abstufungen theatralen Sprechens - von konzeptioneller Mündlichkeit bis zu konzeptioneller Schriftlichkeit - umfasst. Im letzten Themenkomplex wurde gezeigt, dass Jelineks intensive Beschäftigung mit dem Vaudeville deutliche Spuren in ihrem eigenen dramatischen Werk hinterlassen hat. So stellt ihr erstes Theaterstück Nora eine Art Choreographie dar, in der die Figuren ein befremdendes Spiel mit der Sprache treiben, die mit zunehmendem Gesprächsverlauf immer eigenständigere Züge annimmt. Ähnlich wie in La Dame de chez Maxim führen die Protagonisten die Abgründigkeit eines Sprechens vor, das nicht auf bestimmte Inhalte, sondern auf das Eigentliche des Sprechens verweist. Auch das 1994 erschienene Stück Raststätte lässt sich vom galant-leichten Duktus der Figuren inspirieren, um die Zuschauer vor diesem Hintergrund mit einer Unmenge an «belasteten» Assoziaten zu konfrontieren, die - im Zeichen der Aufdeckung stehend - über das «Zungenspiel» der Herrschaftsdiskurse Auskunft geben sollen. Zum Schluss noch ein Wort zur Vorgehensweise der Arbeit: Um der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes «Literarische Übersetzung» gerecht zu werden, habe ich unterschiedliche methodische Impulse aus der französischen (Meschonnic, Genette, Bergson) und deutschen (Lösener, Reiß, Freud) Grundlagenforschung herangezogen. Dabei wurde festgestellt, 230 <?page no="231"?> dass die Ansätze zwar nicht als zusammenschauende «Einheit der Gegensätze» betrachtet werden können, aber dennoch einen in sich schlüssigen Bezugsrahmen bilden. Die Rhythmustheorie Meschonnics und die strukturale Übersetzungstheorie von Katharina Reiß schließen sich - aller Polemik zum Trotz - nicht gegenseitig aus. Man kann sich als Übersetzer durchaus auf die Spannbreite der mit dem Rhythmus gegebenen Ausdrucksmöglichkeiten einlassen, ohne sein Wissen um die «Thesen» der vergleichenden Stilistik negieren zu müssen. Auch die Theaterwissenschaft könnte sich - auf ihrem Weg zu einer endgültigen Überwindung der Aufführungssemiotik - aus der Rhythmustheorie Meschonnics einige Impulse für eine neue Herangehensweise an das System «Aufführung» holen. 231 <?page no="232"?> VIII Literaturverzeichnis 1. Primärliteratur Aesop/ Spriggs, Ruth: Die Fabeln des Aesop. 142 Erzählungen. Ausgewählt und nacherzählt von Ruth Spriggs. Nürnberg: Tessloff 1980. Barbier, Jules/ Carré, Michel: Livret de l ’ Opéra «Faust» de Charles Gounod d ’ après la pièce «Faust et Marguerite» de Carré, elle-même tirée du «Premier Faust» de Goethe. [1867]. In: Opernführer. 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Aussi, les résultats des études féministes et des recherches sur le genre, pourtant foisonnantes pendant les 30 dernières années, restent-ils toujours en marge de l’enseignement universitaire, des manuels scolaires et du savoir canonisé. Ce recueil qui réunit des études sur les littératures française, italienne et espagnole, veut initier un dialogue entre l’historiographie littéraire et les recherches sur le genre. Les contributions analysent le pourquoi de cette situation, évaluent et proposent des approches nouvelles. <?page no="247"?> JETZT BES TELLEN! Anja Hagemann Les interactions entre le texte et l’image dans le « Livre de dialogue » allemand et français de 1980 à 2004 edition lendemains 34 2013, VI, 261 Seiten, 52 farbige Abb. €[D] 68,00/ SFr 87,60 ISBN 978-3-8233-6808-3 Cet ouvrage porte sur les interactions entre le texte et l’image dans le « Livre de dialogue », créé en commun par un poète et un peintre, en France et Allemagne de 1980 à 2004. Il ne s’agit pas ici de s’intéresser au « Livre illustré » qui sous-entend une image uniquement au service d’un texte, mais d’introduire la notion nouvelle de « Livre de dialogue » dans laquelle deux modes d’expression sont mis en présence, en un rapport d’égalité. Les œuvres analysées couvrent un large spectre de la poésie et de l’art contemporains, entre autres Mayröcker, Benn, Du Bouchet et Rühmkorf, van Velde, Weiler ou Watschk. <?page no="248"?> Über Jahrhunderte hat man sich in Deutschland mit den Formen des Lachtheaters schwer getan, galt doch die Tragödie als anspruchsvollste literarische Gattung. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zum besseren Verständnis des Vaudeville, eines Genres, das im deutschsprachigen Raum als oberflächliche Unterhaltungsliteratur gilt. Dass Elfriede Jelinek sich in der Frühphase ihres Schaffens mit den Werken der beiden Vaudevillevertreter Eugène Labiche und Georges Feydeau auseinandergesetzt hat, mag auf den ersten Blick befremden. Ein zweiter Blick macht aber deutlich, dass die österreichische Gegenwartsautorin von einem Theater fasziniert ist, das den Zuschauer zur Koproduktion animiert. Als Richtschnur für die eigene Übersetzungstätigkeit gilt ihr der Rhythmus, den sie - in ähnlicher Weise wie der französische Denker Henri Meschonnic - als sinnkonstituierende und nicht als gleichmäßige Bewegung auffasst. Anders als so genannte Berufsübersetzer, die eine möglichst optimale Umsetzung der intendierten Botschaft anstreben, lässt sie sich beim Übersetzen ganz auf die im Text enthaltene Sprechbewegung ein. Dabei nimmt sie bewusst in Kauf, dass die von ihr übersetzten Vaudevillestücke nicht immer den Erwartungen des Zielpublikums entsprechen.
