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Sehverstehen im Fremdsprachenunterricht

0411
2016
978-3-8233-7876-1
978-3-8233-6876-2
Gunter Narr Verlag 
Christine Michler
Daniel Reimann

Der vorliegende Band widmet sich der Erforschung der bisher wenig beachteten und äußerst komplexen (Teil-) Kompetenz des Sehverstehens im Fremdsprachenun-terricht. Diese gewinnt im Kontext der Erweiterung des Hörverstehens zum Hörsehverstehen z.B. in den Bil-dungsstandards für das Abitur an Bedeutung. Was ist Sehverstehen? Welche Sehstrategien können gezielt geschult werden, um das Hörverstehen in All-tagssituationen und in Aufgaben zum Hörsehverstehen zu stützen? Welche Situationen gibt es, in denen Sehverstehen in-terkulturelle und kommunikative Bedeutung hat? Wie können Testkonstrukte zum Sehverstehen empirisch va-lidiert werden? Diesen und weiteren Fragen wird im vorliegenden Band nachgegangen, wobei insbesondere die romanischen Sprachen, aber auch das Englische und das Deutsche als Fremdsprache in Einzelfalldarstellungen Berücksichtigung finden.

Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung 3 Christine Michler/ Daniel Reimann (Hrsg.) Sehverstehen im Fremdsprachenunterricht Sehverstehen im Fremdsprachenunterricht Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung Herausgegeben von Daniel Reimann (Duisburg-Essen) und Andrea Rössler (Hannover) Band 3 Christine Michler/ Daniel Reimann (Hrsg.) Sehverstehen im Fremdsprachenunterricht Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Ferhat Kayabasi Printed in Germany ISSN 2197-6384 ISBN 978-3-8233-6876-2 Inhaltsverzeichnis Christine Michler/ Daniel Reimann Vorwort .....................................................................................................................9 Theoretische Grundlagen des Sehverstehens Daniel Reimann Was ist Sehverstehen? Vorschlag eines Modells für den kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht .....................................................................................19 Historische Aspekte des Sehverstehens Carola Hecke Von der Grammatikübersetzungsmethode bis ins 21. Jahrhundert Die Bedeutung von visual literacy in der deutschen Fremdsprachendidaktik........................................................................................37 Empirische Befunde zum Sehverstehen Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch Konzeptualisierung des Hörsehverstehens in Lehrplänen und Bildungsstandards und seine Überprüfung im fremdsprachlichen Kontext ............................................................................57 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Schau nicht mehr zurück Musikvideoclips zum Training des Hörverstehens Eine empirische Untersuchung zum Hör-, Hör-Seh- und Hör-Lese-Verstehen ......................................................................................84 Stéfanie Witzigmann Eine besondere Art des Sehverstehens Wenn sich die französische Sprache der Kunst bedient et vice versa ..............................................................................................113 Aufbau von (Hör-)Sehkompetenz ab dem Anfangsunterricht Elena Schäfer Förderung des Hör-Seh-Verstehens am Beispiel von Lernvideos im Französischunterricht........................................................133 Daniel Reimann Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen - am Beispiel des Spanischen ..................................................145 Christine Michler Sehverstehen und Medienkompetenz fördern durch Arbeit mit Infographien ..........................................................................183 Interkulturelle Kompetenz durch Sehverstehen Markus Raith Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? Die Rezeption von Text-Bild-Kommunikaten als spezifische Form des Sehleseverstehens .....................................................203 Alfred Holzbrecher Bildungsmedium Fotografie Schüleraustausch als interkulturelles Projekt im Fremdsprachenunterricht .............................................................................228 Christa Satzinger Mit Karambolage sehen(d) verstehen ...............................................................244 Veit R. J. Husemann Vom Sehverstehen zur Handlungskompetenz und interkulturellem Lernen: virtuelle Reisen im Klassenzimmer mit Google Street View ........................................................263 Katja Zaki Kultur als Bild? - Murales im transkulturell-neokommunikativen Spanischunterricht.........277 Armin Volkmar Wernsing Landeskunde-Test-Filme im Bundeswettbewerb Fremdsprachen ‒ Sehverstehen inklusive ........................................................305 Analytische und interpretatorische Kompetenz durch Sehverstehen Heide Schrader Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden Zum Einsatz von Kunstbildern im Französischunterricht .............................321 Marta García García Filme und interkulturelles Sehverstehen ein Vorschlag für den Spanischunterricht......................................................339 Manfred Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner RapRoMania Förderung des Hör-Sehverstehens am Beispiel von HipHop-Videoclips......................................................................................352 Sehverstehen in anderen Fremdsprachen - exemplarische Studien Jörg Roche/ Ferran Suñer Muñoz Das innere Auge - Zur Rolle der Metaphern im Fremdsprachenunterricht .........................................................379 Maria Eisenmann Kulturelles Sehverstehen am Beispiel der Cartoons in Sherman Alexies The Absolutely True Diary of a Part-time Indian (2007) ......................................396 Inklusiver Fremdsprachenunterricht und Sehverstehen Eva Leitzke-Ungerer Hinsehen statt wegsehen - Sehverstehen als Zugang zum Thema ‚Behinderung’ im Fremdsprachenunterricht - am Beispiel des Films Intouchables ..................................................................413 Renate Fischer Sehverstehen und Gebärdensprachen ..............................................................439 Christine Michler/ Daniel Reimann Vorwort Für das Gelingen der Sektion Didaktik I des XXXIII. Romanistentages in Würzburg trugen zahlreiche Teilnehmer aus dem Universitäts- und Schulbereich mit Vorträgen und Diskussionsbeiträgen bei. Das lebhafte Interesse an der Sektion lag sicherlich unter anderem an dem Thema „Sehverstehen im Unterricht der romanischen Sprachen“, das eine hohe implizite lebensweltliche, sprachdidaktische und kulturelle Relevanz hat, im fachdidaktischen Diskurs aber bislang noch nicht überall die gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat. Während Sehkompetenz häufig als selbstverständlich vorausgesetzt wird, ist doch festzustellen, dass die Fähigkeit zum genauen (Hin-)Sehen gerade bei Jugendlichen aufgrund schneller und oberflächlicher Sehgewohnheiten oft fehlt, so dass die Kompetenz des Sehens bei ihnen sukzessive aufgebaut werden muss. Die Hinführung zum Sehverstehen ist also für den Unterricht im Allgemeinen und den Fremdsprachenunterricht und seine Didaktik im Speziellen eine große Herausforderung. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes dokumentieren die Bedeutung der Fertigkeit ‚Sehverstehen’. Sie beschreiben zum einen den status quo der (fachdidaktischen) Forschung zur Sehkompetenz und präsentieren zum anderen Perspektiven für eine zukünftige fremdsprachenorientierte Didaktik des Sehverstehens, indem einerseits theoretische Konzepte vorgestellt und reflektiert werden, andererseits das didaktische Potenzial der Fertigkeit ‚Sehverstehen’ für den Unterricht der romanischen Sprachen durch konkrete Anregungen zur Umsetzung verdeutlicht wird. Der Band ist in acht große Abschnitte gegliedert. Vorgestellt werden zunächst theoretische Grundlagen, historische Aspekte des Sehverstehens sowie empirische Befunde zur Fertigkeit ‚Sehverstehen’. Ein Teilbereich über Möglichkeiten des Aufbaus von (Hör-)Sehkompetenz ab dem Anfangsunterricht führt zu einem Block mit Vorschlägen für die Entwicklung von interkultureller bzw. analytischer und interpretatorischer Kompetenz. Die darauf folgenden exemplarischen Studien zum Sehverstehen in anderen Fremdsprachen und Überlegungen zur Beziehung von inklusivem Fremdsprachenunterricht und Sehverstehen lassen die Bedeutung der Förderung des Sehverstehens über den Unterricht der romanischen Sprachen hinaus offenkundig werden. 10 Christine Michler/ Daniel Reimann Grundlegend ist der einleitende Beitrag Was ist Sehverstehen? Vorschlag eines Modells für den kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht von Daniel Reimann (Universität Duisburg-Essen). In einem Überblick über den Stand der Forschung belegt er, dass es zwar zahlreiche Studien zum methodischen Einsatz von Bildern im Fremdsprachenunterricht gibt, der Komplex ‚Sehverstehen’ bislang jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielt. Eingehend befasst sich Reimann mit den Ausführungen in Thaler 2007 und dem Modell der Filmbildung von Blell/ Lütge 2008 (bibliographische Angaben im Text), um darauf aufbauend Definitionen und Konzeptualisierung von Sehverstehen vorzustellen sowie ein integratives Modell des (Hör-)Sehverstehens vorzuschlagen, das die verschiedenen Facetten des Sehverstehens im Fremdsprachenunterricht miteinander in Beziehung setzt und den visuellen konversationellen Kontext genauso einbezieht wie künstlerisch modellierte Darstellungen. Schließlich gibt Reimann Beispiele für Operationalisierungsmöglichkeiten in Bezug auf die fremdsprachlichen Kompetenzprofile. Historische Aspekte von visual literacy ab der Grammatik-Übersetzungsmethode bis zur Inklusion skizziert im Folgenden Carola Hecke (St. Ursula- Schule Hannover). Ausgehend von der Übernahme des Konstrukts visual literacy Ende der 1980er Jahre in die deutsche Fremdsprachendidaktik verfolgt sie die Entwicklung der Implementierung von Bildern in den Fremdsprachenunterricht ab ca. 1860, als Bilder fester Bestandteil des Unterrichts werden, bis zum kommunikativen Unterricht. Dazu erläutert sie die Bedeutung von visual literacy in den Bildwissenschaften und im Fremdsprachenunterricht, um dann deren Rolle für die Inklusion und den Nachteilsausgleich herauszustellen. Drei Beiträge befassen sich mit empirischen Befunden zum Sehverstehen. Die Konzeptualisierung des Hörsehverstehens in Lehrplänen (Schwerpunkt: Nordrhein-Westfalen) und Bildungsstandards untersuchen Raphaela Porsch (Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Münster) und Rüdiger Grotjahn (Institut für Sprachlehrforschung, Universität Bochum). Die Autoren beweisen zum einen, dass Hörverstehen und Hörsehverstehen immer gemeinsam aufgeführt werden, und präsentieren zum anderen Forschungsbefunde zur Frage der empirischen Trennbarkeit von Hörverstehen und Hörsehverstehen. Auch Peggy Katelhön und Martina Nied Curcio (Dipartimento di Linguistica, Università Roma III / Dipartimento di Lingue e Letterature Straniere, Università di Torino) erörtern die Frage, ob Hörverstehen und Hörsehverstehen als eine oder zwei Fertigkeiten zu begreifen sind, und konstatieren „Vagheit bzw. Unsicherheit in der Begrifflichkeit“. Die Unterstützung des Hörsehverstehens im Unterricht für italienische Muttersprachler durch das Genre ‚Musikvideoclips’ illustrieren sie anschließend mit dem konkreten Beispiel „Schau nicht mehr zurück“ von XAVAS. Vorwort 11 Anhand eines Berichts über eine Studie zur Integration des Französischen in das Sachfach ‚Kunst’ in einer fünften Klasse einer Realschule in Baden- Württemberg führt Stéfanie Witzigmann (Pädagogische Hochschule Heidelberg) vor Augen, welchen Beitrag Kunst für den Spracherwerb und umgekehrt leisten kann. Sie stellt nachdrücklich die vielfältigen positiven Effekte der Verbindung von Sachfachsprache und Zielsprache als Arbeitssprache heraus, die u.a. im Freiraum für unverbindliche Sprachproduktionen liegen. Der Block „Aufbau von (Hör-)Sehkompetenz ab dem Anfangsunterricht“ beginnt mit Ausführungen von Elena Schäfer (Universität Frankfurt a.M.) zur Förderung des Hör-Seh-Verstehens am Beispiel von Lernvideos im Französischunterricht. Schäfer stellt fest, dass aktuelle Lehrwerke verstärkt Lernvideos in ihre Konzeption aufnehmen, so dass eine systematische Verknüpfung des Mediums mit einem Lehrwerk erleichtert und bereits ab dem ersten Lernjahr eine Annäherung an authentische Kommunikationssituationen im Zielsprachenland ermöglicht wird. Den didaktischen Mehrwert der Nutzung von Lernvideos verortet sie insbesondere in den interkulturellen, rezeptiven und produktiven Kompetenzbereichen. Daniel Reimann (Universität Duisburg-Essen) widmet sich nach dem bereits genannten einführenden Grundlagenbeitrag dem speziellen Thema Nonverbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen am Beispiel des Spanischen. Dort verknüpft er einen Überblick zum Forschungsstand zur non-verbalen Kommunikation als Unterrichtsgegenstand mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen. Essentiell ist seine Festlegung von Aufgaben und Arbeitsfeldern einer Didaktik der non-verbalen Kommunikation, die durch methodische Anregungen untermauert wird. Die Beziehungen zwischen Sehverstehen und Mehrsprachigkeitsdidaktik belegt er durch Beispiele für Gesten des Spanischen, die durch das Französische und Italienische erschlossen bzw. nicht erschlossen werden können. Wegweisend ist der Beitrag durch die Zusammenstellung von Prinzipien einer zweisprachig-kontrastiven Gestendidaktik - eine bis dato noch nicht realisierte Domäne. Untersuchungsgegenstand des Beitrags von Christine Michler (Universität Bamberg) sind die vornehmlich in informierenden und meinungsbildenden Medien präsenten diskontinuierlichen Texte, die im Fremdsprachenunterricht bislang noch selten genutzt werden. Auf Anmerkungen zur Bedeutung von visueller Kompetenz im Fremdsprachenunterricht folgt ein Abriss über die Definitionsbreite des Begriffs „Infographie“. Michler empfiehlt die verstärkte Berücksichtigung dieser Textsorte, indem sie deren didaktisches Potenzial erläutert und unterrichtspraktische Anregungen für den Einsatz im Unterricht der romanischen Sprachen Französisch, Spanisch und Italienisch gibt. 12 Christine Michler/ Daniel Reimann Im Abschnitt „Interkulturelle Kompetenz durch Sehverstehen“ informiert zunächst Markus Raith (Pädagogische Hochschule Freiburg) über Text-Bild-Beziehungen im Fremdsprachenunterricht. Raith geht vom „Vertrauensvorschuss“ aus, der gemeinhin Bildern und Fotografien entgegengebracht wird, erläutert den grundlegenden Unterschied zwischen der Rezeption von Bildern (holistisch) und Texten (linear-sequentiell) und konzentriert sich in seinen Ausführungen dann auf Printformate, in denen Text und Bild zusammenwirken und die „üblicherweise dem Bereich Landeskunde/ Interkulturelles Lernen zugeschrieben werden“. Auf der Basis von Überlegungen zu einer Didaktik des Logovisuellen tritt er für eine systematische Sehleseschulung ein und gibt Impulse für das Sehleseverstehen faktualer Texte. In Bildungsmedium Fotografie - Schüleraustausch als interkulturelles Projekt im Fremdsprachenunterricht plädiert Alfred Holzbrecher (Pädagogische Hochschule Freiburg) für die Fokussierung auf stehende Bilder und deren Interdependenz zur Sprache, um darauf aufbauend transmedial arbeiten zu können. Holzbrecher bespricht die didaktischen Funktionen des Mediums, geht speziell auf die Vor- und Nachbereitung eines Schüleraustauschs ein, durch den Interkulturelles Lernen „auf vielfältige Weise zu einer Querschnittsperspektive der Unterrichts- und Schulentwicklung“ werden kann, erläutert interkulturelle Lernfelder des Mediums ‚Fotografie’, durch das Begegnungs- und Konfliktsituationen beispielsweise beim Erstkontakt im Schüleraustausch in Form von Fotos verdichtet werden können, und zeigt mit dem Konzept der multiliteracies Perspektiven für die Schulentwicklung, v.a. in Bezug auf ein erweitertes Spektrum binnendifferenzierender Aufgaben. Mit Karambolage sehen(d) verstehen wählt Christa Satzinger (Universität Klagenfurt) eine beliebte Fernsehsendung als Untersuchungsgegenstand. Die Sendung wird zwar, so Satzinger, eher im Bereich der Mediendidaktik berücksichtigt, doch ist sie durch ihren (positiv besetzten) Kontext und die Kürze der Beiträge ausnehmend gut für den Einsatz im Französischunterricht geeignet. Für das Sehverstehen hat sie ein evidentes Potential, nicht zuletzt da die Zuschauer bei der abschließenden Devinette aufgefordert werden, genau hinzuschauen, um zu erkennen, ob eine Situation in Frankreich oder Deutschland abgebildet ist. Veit R.J. Husemann (Universität Paderborn) lenkt die Aufmerksamkeit auf virtuelle Reisen im Klassenzimmer mit Google Street View. Er hebt hervor, dass der Web-Dienst eine unmittelbare Sicht auf Länder und Kulturen ermöglicht und die Authentizität sowie nicht zuletzt das medienpädagogische Leistungsvermögen eine neue Dimension in den Unterricht bringen. Allerdings erkennt Husemann auch Nachteile und Grenzen des Mediums, da z.B. Möglichkeiten der Interaktion eingeschränkt sind, verschiedene Elemente aus Datenschutzgründen unkenntlich gemacht werden und die Darstellung rein visuell bleibt. Anschließend behandelt Armin Volkmar Wernsing (Studienseminar Krefeld) das Thema Landeskunde-Test-Filme im Bundeswettbewerb Fremdsprachen ‒ Vorwort 13 Sehverstehen inklusive, indem er verschiedene Filmclips bzw. Ausschnitten aus Filmen, die mehrheitlich von ihm bzw. seinen Schülergruppen gedreht und beim Bundeswettbewerb Fremdsprachen eingereicht wurden, vorstellt. Wernsings kritischer Blick auf Standards, die er als eine Gefahr für die Autonomie der Lehrkräfte und als „Gängelung des Verstehensprozesses“ einschätzt, mündet in ein Plädoyer für „eigensinnige“ Didaktiker, die sich über Vorgaben durch Standards hinwegsetzen. Der Teilbereich zur analytischen und interpretatorischen Kompetenz durch Sehverstehen beginnt mit einem Beitrag von Heide Schrader (Universität Frankfurt am Main). Sie wendet sich dem Phänomen Einsatz von Kunstbildern im Französischunterricht zu, um Bildbetrachtung mit Sprachenlernen (zu) verbinden, und engagiert sich so für die Integration von Kunstbildern in den Fremdsprachenunterricht. Diese erfordern zwar mehr Zeit für Verarbeitung und Interpretation, fördern aber Aufmerksamkeit und stärken die Konzentration. Zudem lassen sie u.a. emotionale Kompetenzen hervortreten und bieten Möglichkeiten zu kreativer Arbeit. Schrader veranschaulicht ihr Konzept u.a. durch Arbeitsaufträge zu Félix Vallottons La visite von 1899. Marta García (Universität Göttingen) gibt Vorschläge für Filme und interkulturelles Sehverstehen im Spanischunterricht. Nach einem theoretischen Teil über die Potentiale von Filmen im Fremdsprachenunterricht, dem Zusammenspiel von Sehverstehen und Filmdidaktik sowie dem interkulturellen Sehverstehen stellt sie am Beispiel des Films El Bola (2000) Aufgaben vor, die eine intensive Auseinandersetzung mit Bildern fokussieren, und empfiehlt, das Sehverstehen vom Hörverstehen abzukoppeln. Außerdem weist sie auf das Problem der richtigen ‚Dosis’ von reinen Sehverstehensaufgaben hin und tritt dafür ein, solche Aufgaben zum Teil einer größeren Sequenz zu machen und sie dem Verständnis und der Interpretation der Handlung unterzuordnen. Manfred F. Prinz, Rafael Cano García, Sebastian Buchczyk und Lars Kettner (Universität Gießen) beschäftigen sich mit RapRoMania - Förderung des Hör-Sehverstehens am Beispiel von HipHop-Videoclips. Da der Beitrag „kollektivkooperativ“ angelegt ist, zeichnen die Autoren gesondert für die Abschnitte des Aufsatzes verantwortlich. Prinz beschreibt die Entstehung des Projekts, dessen besondere Eignung für den Fremdsprachenunterricht er an den „Zwischenkulturen“ der Rap- und Hiphop-Kulturen festmacht. Cano setzt sich konkret mit Hör-Sehverstehen und Fremdsprachendidaktik auseinander. Er betont, dass die Musikvideoclips und das Hiphop-Genre ein „Fenster in die Zielkultur“ öffnen, Videoclips angolanisch-mosambikanischer Raps allerdings einer intensiven Vorbereitung hinsichtlich landeskundlicher Sachverhalte bedürfen. In einem unterrichtsbezogenen Teil stellen Buchczyk und Kettner vierzehn Raps vor, denen konkrete Aufgaben für die Unterrichtspraxis zugeordnet sind. 14 Christine Michler/ Daniel Reimann Es folgen Beiträge zum „Sehverstehen in anderen Fremdsprachen - exemplarische Studien“. Jörg Roche und Ferran Suñer Muñoz (Institut für Deutsch als Fremdsprache, Universität München) stellen Überlegungen Zum „Inneren Auge“ und der Metaphorik im Fremdsprachenunterricht vor. Anknüpfend an die These, dass Sprache das Ergebnis von Konzeptualisierungsprozessen durch das innere Auge sei, skizzieren die Autoren kognitionslinguistische Grundlagen der Bildhaftigkeit und erläutern das Nutzbarmachen des didaktischen Potenzials der Transferdifferenz von bildlichen Elementen der Sprachen für den Spracherwerb und die Sprachvermittlung. Konkretes Beispiel sind die sogenannten grammatischen Metaphern, die den Erwerb konzeptueller Kompetenz unterstützen. Roche und Suñer Muñoz schließen ihre Ausführungen mit dem Wunsch, die Sprachdidaktik möge sich „stärker auf das innere Auge der Sprecher und Lerner einstellen“, um so Sprache transparent und nachhaltig zu vermitteln. Maria Eisenmann (Universität Würzburg) geht von der zunehmenden Visualisierung des Fremdsprachenlernens über zum Phänomen des multimodalen Romans. Konkret erläutert sie, wie Kulturelles Sehverstehen am Beispiel der Cartoons in Sherman Alexies The Absolutely True Diary of a Part-time Indian (2007) entwickelt werden kann. Der Roman eines der bekanntesten Beispiele des multimodalen Jugendromans lässt einen Hypertext entstehen, der eine gezielte Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen von Sprache ermöglicht, gibt Einblicke in verschiedene Lebenswelten und weist als besonderen Faktor die polarisierende Identität der Hauptfigur (Verknüpfung von ‚weißer’ und indigener Welt) auf. Den Band beschließen Ausführungen zum Inklusiven Fremdsprachenunterricht und Sehverstehen. Eva Leitzke-Ungerer (Universität Halle-Wittenberg) bespricht inklusive Inhalte im Französischunterricht am Beispiel des Films Intouchables (2011). Obwohl der angemessene Kontakt zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen schwerpunktmäßig in den Fächern Ethik, Religion und Deutsch diskutiert wird, sieht Leitzke-Ungerer die Integration des Themas in den Fremdsprachenunterricht als überaus sinnvoll an. Ihr Beitrag führt von theoretischen Überlegungen bis zur Erarbeitung einer ausführlichen, für den Französischunterricht an fortgeschrittene Lernende konzipierten, konkreten Unterrichtssequenz, die sich auf die besondere Rolle des filmischen Sehverstehens für die Auseinandersetzung mit dem sensiblen und tabubelasteten Thema konzentriert. Dem Verhältnis von Gebärdensprachen und Sehverstehen widmet sich Renate Fischer (Institut für Deutsche Gebärdensprache, Universität Hamburg). Die Erfahrungen, die durch eine ausschließlich visuogestische Kommunikation gemacht werden können, kommen, wie sie hervorhebt, dem interkulturellen Vorwort 15 Lernen zugute. Fischer schlussfolgert aus ihren Untersuchungen, dass visuogestische Sprachen neue Erfahrungen ermöglichen, sich eine Fremdsprache anzueignen und sie metasprachlich zu begreifen. Zum Schluss sei all jenen, die zum Gelingen des Sammelbandes beigetragen haben, für ihre konstruktive Mitarbeit gedankt. Neben den Verfasserinnen und Verfassern der Beiträge sei folgenden Personen für die Mitwirkung an der Fertigstellung des Bandes gedankt: Barbara Urbanski, M.A., Theresa Eckardt, María Piedad Martín Benito und insbesondere Ferhat Kayabasi, B.A. (alle Institut für Romanische Sprachen und Literaturen, Universität Duisburg- Essen). Für die gewohnt kompetente und immer zuvorkommende Betreuung durch den Verlag Gunter Narr gebührt unser Dank wie immer Frau Kathrin Heyng, M.A. Theoretische Grundlagen des Sehverstehens Daniel Reimann Was ist Sehverstehen? Vorschlag eines Modells für den kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht Bilder im Fremdsprachenunterricht Es liegen mehrere Studien zum Einsatz von Bildern im Fremdsprachenunterricht vor; auch in methodischer Hinsicht wird das Thema immer wieder reflektiert. Allerdings steht bei diesen Untersuchungen und unterrichtspraktischen Anregungen sehr häufig die Rolle des Bildes als Unterrichtsmedium im Vordergrund, weniger die Frage nach dem Sehverstehen als solchem oder dem Sehen als Bestandteil interkultureller und transkultureller kommunikativer Kompetenz. Unter diesen Studien ist zuvorderst die grundlegende Arbeit von Marcus Reinfried zur Geschichte des Bildeinsatzes im Französischunterricht schwerpunktmäßig bis 1945 zu erwähnen (Reinfried 1992). Auch die Rolle von Bildern in Lehrwerken wurde in verschiedenen Einzelbeiträgen untersucht (z.B. Reinfried 2010, Michler 2011). In Anlehnung an Macaire/ Hosch 2002, 71sqq. unterscheidet z.B. Rössler 2005, 5 folgende drei Bildtypen:  Abbildungen  logische Bilder  analoge Bilder. Zur Beschreibung verschiedener didaktischer Bildfunktionen werden in jüngerer Zeit in Anlehnung an Wolfgang Hallet (2008, 215sqq., 2010, bes. 33-41) u.a. folgende Einsatzmöglichkeiten genannt (z.B. Blume 2014, 5):  illustrative Funktion (Bild dient nur zur Illustration)  semantische Funktion (Bild dient zur Sinnvermittlung)  repräsentationale Funktion (Bild vermittelt Zielkultur)  kognitive Funktion (Bild dient der Anregung kognitiver Prozesse)  instruktive Funktion (Bild als [Verdeutlichung einer] Arbeitsanweisung)  bildästhetische Funktion (Bild als Gegenstand ästhetischer Bildung). Hecke 2013, 5 klassifiziert ihrerseits wie folgt:  lexikalisierende Funktion (Bild als Sprechanlass)  motivierende Funktion (Bild als Motivationsstütze) 20 Daniel Reimann  grammatisierende Funktion (Bilder als Anlass von Grammatikübungen oder „Strukturzeichnungen“ (loc.cit.) zur Veranschaulichung grammatikalischer Sachverhalte)  semantisierende Funktion (Bild dient zur Sinnvermittlung)  mnemonische Funktion (Bild als Lerntechnik)  organisierende Funktion (Bild zur Verdeutlichung von Zusammenhängen)  interkulturelle Funktion (Bild als Anlass interkulturellen Verstehens). Punktuell wurde auch das Potential der Photographie (z. B. Reimann 2006, Holzbrecher 2010, 2013), der bildenden Kunst (z.B. Küster 2003, bes. 243-304, Michler 2013 in ihrem Bezug zur Literatur) und des Musicals (z.B. Husemann 2009, Reimann 2013 wiederum im Bezug zur Literatur) untersucht. Die Literatur zum Filmeinsatz im Fremdsprachenunterricht ist inzwischen zu umfangreich, als dass sie an dieser Stelle gebührend gewürdigt werden könnte (einführend z.B. Leitzke-Ungerer 2009 und Henseler/ Möller/ Surkamp 2011). Einen Einblick in den aktuellen Stand der (unterrichts-)methodischen Reflexion zum Bildeinsatz im Fremdsprachenunterricht jenseits der Filmdidaktik und -methodik bieten z.B. die Themenhefte Bilder und Kunst der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch (9, 2005 bzw. 36, 2012), Bilder im Französischunterricht der Zeitschrift Französisch heute (4, 2010), Bilderwelten der Praxis Fremdsprachenunterricht (6, 2013) und Mit Bildern arbeiten von Der fremdsprachliche Unterricht Französisch (127, 2014). Die Zahl der jüngeren Themenhefte einschlägiger Zeitschriften zeigt, dass das Medium „Bild“ in diesen Jahren verstärkt eingesetzt und reflektiert wird. Dabei werden Bilder in den letzten Jahren unter den Vorzeichen einer Aufwertung der mündlichen produktiven Kompetenz immer wieder auch als Sprechanlass thematisiert. Einführend in die Funktionen von Bildern im Fremdsprachenunterricht und in Kriterien für die Auswahl geeigneter Bilder können die Beiträge Rössler 2005 und Blume 2014 gelesen werden. Ein anregendes Panorama verschiedener Möglichkeiten des Einsatzes von Fotos bietet Scholz 2013. Punktuell wird in der unterrichtspraktisch ausgerichteten Literatur auch das interkulturelle Lernen anhand von (Stand-) Bildern betrachtet (z.B. Grau 2006, Grünewald 2012, Eberhardt 2013, 2014a und b), allerdings kein Konzept des interkulturellen Sehverstehens bzw. der transkulturellen Sehkompetenz entwickelt. Ein solches Modell soll im Folgenden in Grundzügen dargestellt und an Beispielen zum Themenfeld „Metropolen im Spanischunterricht“ veranschaulicht werden. Was ist Sehverstehen? 21 Was ist Sehverstehen? 2.1. Aktuelle Konzeptualisierungen: communis opinio In der Folge der Veröffentlichung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001, Abschnitt 4.4.2.3: audiovisuelle Rezeption) und der Bildungsstandards für die erste Fremdsprache, in denen Hör-Sehverstehen als Variante des Hörverstehens geführt wird, sind die Begriffe „Hör - Sehverstehen“ (alias „Hörsehverstehen“) und „Sehverstehen“ zentrale Bestandteile des fremdsprachendidaktischen Diskurses geworden. In den letzten gültigen Fassungen der EPA Französisch, Spanisch und Italienisch aus dem Jahr 2004 wird allerdings lediglich auf eine verständniserleichternde Wirkung der Bilder Bezug genommen, spezifische Aufgaben zum Sehverstehen werden nicht gestellt. Dabei erfolgt - sowohl von den Deskriptoren des Referenzrahmens als auch von den Musteraufgaben für die fremdsprachlichen Abiturprüfungen der KMK (EPA) nahegelegt - häufig eine Verkürzung auf das Verstehen, allenfalls die Analyse und Interpretation audiovisueller Dokumente (Filme, Fernsehsendungen). Die 2012 veröffentlichten Bildungsstandards für das Abitur in der fortgeführten Fremdsprache führen das Sehen allenfalls implizit als eigenständigen kognitiven Vorgang, wenn es heißt: „gehörte und gesehene Informationen aufeinander beziehen und in ihrem kulturellen Zusammenhang verstehen“ (KMK 2012, 15). Des Weiteren wird in den genannten Bildungsstandards Medienkompetenz beschrieben (KMK 2012, 22), welche aber mehr ist als nur Sehverstehen. Mithin wird auch hier das Sehverstehen als eigene (Teil-)Fertigkeit oder gar Kompetenz nicht weiter beschrieben und die Bildungsstandards für die Abiturprüfung bleiben im Wesentlichen auf dem bekannten Stand „Hörsehverstehen als Variante/ Spielart/ Unterkategorie des Hörverstehens“. Auch in den derzeit maßgeblichen Handbüchern zur Fremdsprachendidaktik wird, außer in Decke-Cornill/ Küster 2010, „Hör - Sehverstehen“ meist als auf den Einsatz von Filmen und audiovisuellen Dokumenten ausgerichtete Variante des Hörverstehens eingeführt (z.B. Grünewald/ Küster 2009, Leupold 2010, Fäcke 2010 und 2011). Die erste empirische Pilot-Untersuchung zu der Fragestellung beschränkt sich auf Fragen der Leistungen im Textverstehen (Porsch/ Grotjahn/ Tesch 2010). Mitunter erfolgt auch eine Konzentration auf das Aspekte der ästhetischen Bildung beim Bildeinsatz fokussierende anglophone Konzept der „visual literacy“ qua „visueller Kompetenz“. Das Potential der Bilder gerade auch für den inter- und transkulturellen Fremdsprachenunterricht und für die Entwicklung von Fiktionalitätskompetenz (cf. Rössler 2010) wird mithin nicht ausgeschöpft. Obwohl bereits Thaler 2007 grundlegende Unterschiede des Hör- und des Sehverstehens gegenübergestellt hat, hat eine systematische Vertiefung der Frage, was Sehverstehen für 22 Daniel Reimann den Fremdsprachenunterricht bedeuten kann, bislang noch nicht stattgefunden. (Hör-)Sehverstehen bewegt sich in den aktuellen Beschreibungsmodellen der Handlungsfelder fremdsprachlichen Unterrichts im Spannungsfeld zwischen wenigstens vier Bereichen: erstens dem der sprachlichen Fertigkeiten (Hör-/ Sehverstehen als eigene (Teil-)Fertigkeit), zweitens dem der sprachlichen Mittel (z.B. Gesten als nonverbale Lexeme), drittens dem des inter-/ transkulturellen Lernens und viertens dem der Medienkompetenz (hier insbesondere der „visuellen Kompetenz“/ „visual literacy“ qua „kompetente[r] Bildinterpretation“, Hecke 2010a, 159). Die Erforschung der bisher wenig beachteten (Teil-)Fertigkeit des Sehverstehens ist daher noch immer eine Herausforderung für die gegenwärtige romanistische Fachdidaktik bzw. generell für die Fremdsprachenforschung. Hörsehverstehen wird in der aktuellen fremdsprachendidaktischen Diskussion also meist wie folgt konzeptualisiert:  Hörsehverstehen als Variante des Hörverstehens (EPA 2004, KMK 2003, 2012)  Hörsehverstehen als Synonym für (Spiel-) Filmdidaktik  Hörsehverstehen als „visual literacy“. 2.2. Weitere Konzeptualisierungen 2.2.1. Hör-/ Sehverstehen als „visual literacy“ und interkulturelles Lernen in der DaF-Didaktik seit den späten 1980er Jahren Setzt man „Hör-/ Sehverstehen“ mit „visual literacy“ oder „visueller Kompetenz“ gleich (cf. Hecke 2010b), so beruft man sich auf eine von der Kunstpädagogik definierte Kompetenz, in der sich deklaratives Wissen über die Sinnkonstitution von Bildern (Fiktionalitätskompetenz, cf. Rössler 2010), Metasprache zur Bildbesprechung und Wissen über Kulturspezifika mit prozeduralen Fertigkeiten u.a. der Bildrezeption miteinander verbinden (Hecke 2010b). Fremdsprachendidaktische Implikationen wurden von der DaF-Didaktik bereits Ende der 1980er Jahre formuliert: Schwerdtfeger 1989 und Weidenmann 1989 wiesen darauf hin, dass bildbasierte Aufgaben ein echtes Bildverstehen voraussetzen und unterstrichen die Bedeutung der Kulturgebundenheit der Visualisierungs-, aber auch der Deutungskonventionen - mithin wurde bereits hier das inter- und transkulturelle Potential des Sehverstehens erkannt, das im aktuellen fremdsprachendidaktischen Diskurs kaum herauszulesen ist (s.o.). Allerdings verbleiben Konzeptualisierungen von „visual literacy“ qua Bildverstehen häufig auf der Ebene der Bildanalyse, i.e. der Analyse von sta- Was ist Sehverstehen? 23 tischen Bildern und von Kunstbildern, die im Fremdsprachenunterricht gewiss eine größere Rolle spielen dürfte, als dies aktuell der Fall ist, die aber noch immer nicht alle Aspekte eines komplexen, integrativen Modells des (Hör-)Sehverstehens erfasst. 2.2.2. Das Modell des Hör-Seh-Verstehens von Thaler 2007 Das Modell von Thaler (2007, 13), das als das derzeit differenzierteste Modell des Hör-Seh-Verstehens im Fremdsprachenunterricht gelten darf, bezieht sich in erster Linie auf die Filmdidaktik, kann allerdings durchaus eine gewisse darüber hinaus gehende Gültigkeit für andere Bereiche des Sehverstehens für sich beanspruchen. Thaler stellt zunächst Eigenheiten des Hörverstehens und Eigenheiten des Sehverstehens gegenüber und schließt sodann, dass eine Integration von beidem zu „Hör-Seh-Verstehen“ führt (abgedruckt in Decke-Cornill/ Küster 2010, 183, Abb. 1). Betrachtet man Thalers Konzeptualisierung des Sehverstehens genauer, so kommt man zu dem Ergebnis, dass insbesondere folgende Aspekte für das Filmverstehen bzw. das Sehverstehen im Allgemeinen als distinktiv gelten dürfen: Im Bereich Filmverstehen ist die analytische Ebene des „Verstehen[s] kinematographischer Techniken“ ebenso distinktiv wie - ggf., i.e. bei Zuschaltung - das Leseverstehen von Untertiteln bzw. auch das Leseverstehen von abgebildeten Inschriften, Schildern etc. Der Hinweis auf das Leseverstehen ist insofern besonders verdienstvoll, als häufig übersehen wird, dass Sehverstehen aus neurobiologischer Sicht dem Leseverstehen nähersteht als dem Hörverstehen. Zwischen Filmverstehen (im Fall der konkreten Bezeichnung als „ikonische Elemente“) und allgemeinem Sehverstehen ist das Dekodieren visueller Wahrnehmungen wie „Bilder, Landschaften, Objekte“ angesiedelt, das als über das Hör- (aber auch das Lese-) Verstehen hinausgehende Eigenheit des Sehverstehens bedeutsam ist. Des Weiteren weist Thaler auf Eigenheiten des Sehverstehens in der Interaktion hin, die bei ihm wiederum in filmästhetischem Zusammenhang gemeint sind, aber genauso für jede mündliche Interaktion gelten, namentlich Aspekte der sog. nonverbalen Kommunikation (zum Spanischen cf. Reimann 2008 und Beitrag im vorliegenden Band): Gestik, Mimik, Körperhaltung, Augenkontakt, Körperkontakt, Proxemik). Damit integriert Thaler zumindest zwei wesentliche Aspekte (Sehverstehen des Settings, Sehverstehen in der Interaktion), die in der bisherigen Debatte über Sehverstehen häufig außen vor bleiben. 24 Daniel Reimann Abb. 1: Modell des Hör-Seh-Verstehens nach Thaler 2007 2.2.3. Das Modell der Filmbildung von Blell/ Lütge 2008 Blell und Lütge 2008 stellen ein Modell der Filmbildung vor, das Aspekte des Sehverstehens und des interkulturellen Lernens vereint und daher - allerdings auf die Ebene der (Spiel-)Filmdidaktik beschränkt - das bisher differenzierteste Modell zum Sehverstehen (aber auch auf der eigentlich intendierten Was ist Sehverstehen? 25 Ebene der Filmdidaktik/ Filmbildung) darstellt: Sie gehen von vier Stufen der Filmbildung aus, und zwar dem Filmerleben - auf das sich der Einsatz von Filmen im Unterricht mitunter beschränkt -, dem Sehverstehen, dem Hör- / Sehverstehen und der Filmanalyse bzw. Filmkritik. Sehverstehen wird dabei wie folgt definiert: „Fähigkeit, bewegte (und statische) Bilder (aktiv) wahrzunehmen und differenzierend zu verstehen sowie sprachhandlungsorientiert zu verarbeiten“ (Blell/ Lütge 2008, 128); Hör-/ Sehverstehen indes als: „Fähigkeit, fremdsprachliche Inhalte bildgestützt verstehend zu hören und zu sehen und sie sprachhandlungsorientiert zu verarbeiten“ (loc.cit.). Mithin wird in diesem Modell, das sich als ein Stufenmodell in Pyramidenform präsentiert, ebenfalls eine Unterscheidung zwischen Sehverstehen und Hör-/ Sehverstehen vorgenommen (Abb. 2). Abb. 2: Modell der Filmbildung im Fremdsprachenunterricht (Blell/ Lütge 2008) 26 Daniel Reimann 2.3. Desiderata Die bisher genannten Ansätze und Modelle zur (Teil-)Fertigkeit bzw. Kompetenz „Sehverstehen“ sehen diese im Wesentlichen entweder als Spielart des Hörverstehens oder aber in engem Bezug zur Filmdidaktik. Es fehlt bisher ein integrierendes Modell, das versucht, diese beiden Bereiche zusammenzuführen; zudem wurden in der bisherigen fremdsprachendidaktischen Diskussion einige wesentliche Aspekte des Sehverstehens mehr oder weniger stark vernachlässigt: das betrifft z.B. die sog. nonverbale Kommunikation (hier insbesondere Gestik, Mimik, Proxemik, mit Einschränkungen auch die Haptik, wobei hier der Tastsinn ebenfalls eine zusätzliche Rolle spielt), insbesondere aber auch die visuelle Wahrnehmung und Deutung des öffentlichen Raumes, der Architektur und der Urbanistik, aber auch des Interieurs, das zum Setting einer erlebten oder im Film gesehenen Handlung werden kann (zum Interieur in der deutschen Fremdsprachendidaktik cf. Schrader 2000 und 2007). In Ansätzen untersucht ist die Bedeutung von Kunstbildern im Fremdsprachenunterricht (cf. Schrader im vorliegenden Band, mit Schwerpunkt auf praktischen Aspekten Witzigmann 2011). Gegebenenfalls könnten ferner Deskriptoren zur Leistungsdiagnostik in den Bereichen Hörsehverstehen und Sehverstehen überarbeitet bzw. entwickelt werden. Weitere Forschungsdefizite bestehen im Bezug auf das inter- und transkulturelle Potential von Bildern in Lehrwerken, aber auch im Bereich der Filmdidaktik. Auch historische Aspekte des Sehverstehens, zu denen Reinfried 1992 herausragende Vorarbeiten geleistet hat, könnten weiterhin vertieft untersucht werden. Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, nach einem Blick in Ansätze zum Sehverstehen in benachbarten Fachdidaktiken, erstmals den Vorschlag eines integrativen Modells zum Sehverstehen vorzustellen und in der Folge Unterrichtsbeispiele mit dem Schwerpunkt „Metropolen“ zu liefern, in denen gezielt auf das Sehverstehen hingearbeitet werden kann. 2.4. Vorschlag einer Neukonzeptualisierung: Ein integratives Modell des (Hör-)Sehverstehens Bisherige Ansätze wie etwa der landläufig verwendete Begriff „Hörsehverstehen“ oder „visual literacy“ betrachten das Phänomen des Sehverstehens aus grundlegend verschiedenen Perspektiven (z. B. Filmdidaktik, Kunstpädagogik). Es fehlt ein Modell, das versucht, die verschiedenen Facetten des Sehens im Fremdsprachenunterricht miteinander in Beziehung zu setzen. Ein solches integrierendes Modell soll im Folgenden vorgeschlagen werden. Aktivitäten des Sehens im Fremdsprachenunterricht fokussieren im Allgemeinen einen der beiden folgenden Aspekte, wobei diese im Einzelfall auch Was ist Sehverstehen? 27 miteinander vernetzt sein können: Entweder steht das interkulturelle Verstehen (im Folgenden: „interkulturelles Sehverstehen“) oder aber der analytischinterpretatorische Zugang im Vordergrund (im Folgenden: „analytisches und interpretatorisches Sehverstehen“). Im Bereich des interkulturellen Sehverstehens sind insbesondere die visuelle Ebene der nonverbalen Kommunikation (v.a. Gesten, Mimik, Proxemik), die visuelle Wahrnehmung des konversationellen Kontexts (z.B. Semiotik des Interieurs als Kontext einer Interaktion (Schrader 2000, 2007) oder Semiotik des öffentlichen Raumes wie im Falle der Metropolen) und künstlerisch modellierte Darstellungen relevant. Bezüglich der nonverbalen Kommunikation verdienen insbesondere Gesten (cf. Reimann 2008 und 2016 im vorliegenden Band), Mimik und Proxemik besondere Beachtung. Diese können, abgesehen von eigens erstellten Lehr- / Lernmaterialien (z.B. Gaviño Rodríguez 2010sqq.), gerade auch im Film oder aber an außerschulischen Lernorten (Schüleraustausch) untersucht werden. Die visuelle Wahrnehmung des konversationellen Kontextes (innerer oder äußerer Raum) wurde bisher im Fremdsprachenunterricht häufig vernachlässigt. Dabei spielt sie im Alltag eine bedeutende Rolle, obwohl sie meist unbewusst erfolgt - bei im fremsprachlichem Kontext ausbleibenden Verstehen aber ggf. zu schwerwiegenden Folgen führen kann. Im Film etwa hilft sie, ein Setting besser zu verstehen. Weiterhin bedingt es beispielsweise einen Unterschied im Verhalten (Motorik im Raum: Wohin begebe ich mich? ) und in den angemessenen Sprechakten (Was sage ich? ), ob man eine ‚Lokalität zum Essen’ in Spanien vor dem Betreten als bar (de tapas) oder als restaurante identifiziere. Beim Sehen eines Filmes lässt indes das Erkennen des Settings die entsprechenden (Sprach-)Handlungen eines Akteurs als in Bezug auf das kulturbezogen angemessene Skript entsprechend oder aber aus dem üblichen Rahmen ausbrechend erkennen und somit die Situation besser einschätzen. Mit Blick auf das interkulturelle Sehverstehen sind auch künstlerisch modellierte visuell wahrnehmbare Darstellungen von besonderer Relevanz, insofern sie in ihren Visualisierungs-, ggf. auch in ihren Deutungskonventionen kulturell gebunden sind. Hier geht es insbesondere darum, die kulturelle Gebundenheit des Sichtbaren im Kontrast zu den Darstellungsund/ oder Deutungskonventionen der eigenen Kultur zu erkennen. Sehverstehen in diesem Bereich kann somit einen unmittelbaren Beitrag zur gelingenden transkulturellen Verständigung leisten. Gerade von dem in dritter Instanz genannten Lernbereich (künstlerisch modellierte Darstellungen) sind die Übergänge zum zweiten großen Bereich, dem analytisch-interpretatorischen Sehen, fließend: Werden künstlerische Darstellungen oder auch bewegte Bilder (Filme, Musikvideoclips) nicht in erster Linie auf ihr interkulturelles Potential im Hinblick auf die transkulturelle Verständigung thematisiert, sondern im Hinblick auf die Art und Weise 28 Daniel Reimann ihrer Ausgestaltung untersucht (cf. die oben referierten „visual literacy“-Ansätze), so agiert man im Bereich des analytisch-interpretatorischen Sehverstehens. Zu diesem Zweck sind Grundlagen eines analytischen Instrumentariums, mithin einer entsprechenden Metasprache, wie viele Lehrwerke sie inzwischen bereitstellen, für den Unterricht zumindest in der Oberstufe unabdinglich, um den allgemeinbildenden und wissenschaftspropädeutischen Ansprüchen der Oberstufe gerecht zu werden. Dabei kann man sich zunächst auf etwa sechs Fachtermini zur Einstellungsgröße und Kameraperspektive (el plano general, el plano americano, el primer plano, el (plano) detalle, el plano picado, el plano contrapicado) und ggf. einige Begriffe zum Schnitt beschränken (cf. Reimann 2010). Analysierend und interpretierend muss auch an sog. diskontinuierliche Texte wie etwa Infographiken herangegangen werden, die, originär eher im bilingualen Sachfachunterricht angesiedelt (z.B. Fließgarte/ Leinen/ Stamer 2013), immer häufiger Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts sind. Als Bild-Text-Kombinationen stellen sie freilich einen Sonderfall des Sehverstehens dar, der - in Ergänzung zum Hör-Sehverstehen - auch als Seh-Leseverstehen bezeichnet werden könnte (einführend z.B. Stöckl 2004, Hirner 2008, aus romanistisch-didaktischer Sicht exemplarisch Becker 2006). Im modellhaften Nebeneinander der beiden Sphären „interkulturelles Sehverstehen“ und „analytisch-interpretatorisches Sehverstehen“ können bisher bestehende Ansätze zum Sehverstehen, aber auch bisher häufig vernachlässigte Aspekte wie etwa die (visuell wahrnehmbare) nonverbale Kommunikation und vor allem der konversationelle Kontext in ein übergreifendes Modell des Sehverstehens integriert bzw. zusammengeführt werden, in dem sich die meisten Aktivitäten zum Sehen im Fremdsprachenunterricht (hier exemplifiziert an sechs Unterbereichen) lokalisieren lassen. Was ist Sehverstehen? 29 interkulturelles Sehverstehen analytisches und interpretatorisches Sehverstehen visuelle nonverbale Ebene der Konversation konversationeller Kontext (Semiotik des Raumes, Urbanistik etc.) künstlerisch modellierte visuell wahrnehmbare Darstellungen in der kulturellen Gebundenheit ihrer Visualisierungs- und Deutungskonventionen diskontinuierliche Texte: Graphiken etc. („Seh -/ Leseverstehen“) bewegte Bilder: Film und Musikvideoclips statische Bilder: bildende Kunst und Architektur, Urbanistik Abb. 3: Vorschlag eines integrativen Modells des Sehverstehens 30 Daniel Reimann Im Bezug auf die fremdsprachlichen Kompetenzprofile der Bildungsstandards für den Mittleren Bildungsabschluss und für die Abiturprüfung lässt sich dieses Modell, die dort bestehenden Kategorien aufgreifend und fortschreibend, wie folgt operationalisieren: Funktionale kommunikative Kompetenzen:  Sehverstehen im Bereich der sprachlichen Mittel: Dekodieren visuell wahrnehmbarer Elemente nonverbaler Kommunikation (z.B. Gesten)  Sehverstehen als kommunikative Fertigkeit: Kommunikation in ihrem visuell wahrnehmbaren Setting, sei es realiter oder im bewegten Bild, verstehen; sofern Ton hinzutritt, handelt es sich um Hör-Sehverstehen Interkulturelle kommunikative Kompetenz:  Sehverstehen und soziokulturelles Orientierungswissen: Erkennen des visuell wahrnehmbaren Settings  Verstehen visuell wahrnehmbarer nonverbaler Komponenten der Kommunikation und des Settings im interkulturellen Kontrast (und mit dem Ziel der transkulturellen Verständigung) Text- und Medienkompetenz:  visual literacy qua Analyse und Interpretation statischer (z.B. Kunstbilder, Photographien, Graphiken) und bewegter Bilder (Analyse und Interpretation von Filmen) Sprachlernkompetenz:  Fähigkeit, sich auch im Bereich des Sehverstehens Eigenheiten zielkultureller Kommunikation anzueignen, insbesondere auch im Kontext mehrsprachiger Sprachlernbiographien (z.B. rezeptives Erlernen von Gesten aus dem Kontext oder durch Ableitung aus anderen Sprachen) Sprachbewusstheit:  awareness für die auch visuelle Verfasstheit von Kommunikation. Was ist Sehverstehen? 31 Becker, Norbert. 2006. „Moderne Rhetorik. Die Sprache der Werbung im Unterricht“, in: Franceschini, Rita et al. (ed.): Retorica: Ordnungen und Brüche. Tübingen: Narr, 481-491. Blell, Gabriele / Lütge, Christiane. 2008. „Filmbildung im Fremdsprachenunterricht: neue Lernziele, Begründungen und Methoden, in: Fremdsprachen lehren und lernen, 37, 124-140. Blume, Otto-Michael. 2014. „Sehen als Verstehen. 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Ein Rückblick über die Geschichte des Bildeinsatzes und seine Zwecke schafft den Kontext für die Einführung dieses Konzepts. In der frühen Neuzeit waren Bilder kein essentieller Unterrichtsbestandteil. Der Fremdsprachenunterricht nach der Grammatikübersetzungsmethode sah daher keinen Bildeinsatz vor, schloss jedoch visuelle Hilfen wie die Gebärde zur Semantisierung nicht aus (cf. Lemare 1831, 7). Mit dem Aspekt des Sehverstehens setzte sich wegen der relativen Bedeutungslosigkeit von Bildern noch niemand im fremdsprachendidaktischen Diskurs auseinander. Parallel zur Grammatikübersetzungsmethode entwickelte sich der anschauliche Unterricht, in dem sichtbare Beispiele des Lernstoffs zum Einsatz kommen sollten. Der wohl bekannteste Vertreter dieses Ansatzes im Bereich der Fremdsprachenlehre ist Johann Amos Comenius, der das Konzept des anschaulichen Unterrichts 1658 mit Breitenwirkung in die Praxis umsetzte: Er veröffentlichte ein Lehrbuch, das Orbis sensualium pictus, in dem lateinische Texte konsequent mit semantisierenden, also den Text wiedergebenden Holzschnitten illustriert wurden, denn Comenius war der Ansicht, dass sich Dinge besser einprägten, wenn man sie mit eigenen Augen sähe (cf. 1961, 196, Comenius 1970, 122, 145, 154, 158-159). Comenius glaubte zudem, dass im 1 Ich verwende den Begriff der Bildwissenschaften im Plural, weil sich um die Frage nach der Existenz der einen Bildwissenschaft als eigenständiger Wissenschaft ein Streit entsponnen hat, da in vielen Zweigen anderer, separater Wissenschaften bildwissenschaftliche Forschung betrieben wird. 38 Carola Hecke Sprachunterricht Wörter erst durch Bilder ihre Bedeutung erhielten und forderte daher, „daß Wörter nicht getrennt von den Dingen gelernt werden dürfen, da die Dinge weder gesondert vorhanden noch denkbar sind, sondern je nachdem, wie sie verbunden sind, hier und dort auftreten, dies oder jenes bewirken“ (ibid. 211). Außerdem stellte er fest, dass das darstellende Spiel mit seinen visuellen Reizen den Lernenden Freude am Lernen bescherte und ihre Motivation förderte (cf. 1888, 91). Heute lassen sich diese positiven Bildwirkungen, von denen Comenius seine Kollegen durch seine Publikationen überzeugen wollte, bildwissenschaftlich belegen. In Deutschland setzte sich der anschauliche Fremdsprachenunterricht ab 1860 in der Methode des reformierten Fremdsprachenunterrichts durch. Bilder wurden zum festen Bestandteil des Unterrichts und Lehrbücher erschienen nun verstärkt in illustrierter Form (cf. z.B. Berlitz 1926). Neben dem Erklären, Einprägen und Motivieren sollten die Abbildungen, insbesondere Reproduktionen von Bildkunst, landeskundliches und kulturelles Lernen ermöglichen (cf. Plötner 2001, 220sqq., Reinfried 2003, 419, Schilder 1977, 78-79). Schulwandbilder dienten zudem dazu, im Fremdsprachenunterricht Sprechanlässe zu schaffen (cf. Schilder 1977, 87sqq., Reinfried 1992, 133). Da das Sehverstehen trotz des verstärkten Bildeinsatzes in den didaktischen Abhandlungen der damaligen Zeit keine Erwähnung fand, wurde es offenbar noch nicht als Teilziel des Fremdsprachenunterrichts oder Hürde begriffen, die vor dem Sprechen über Bildinhalte zu überwinden ist. Man mag davon ausgegangen sein, dass die Ähnlichkeit zwischen Abbildung und Abgebildetem für eine Identifikation ausreichte, und dass der Bildzweck in der Identifikation lag. Die Ziele des Fremdsprachenunterrichts verschoben sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Richtung einer kommunikativen Sprachkompetenz; die audiolinguale Methode erschien nach dem Zweiten Weltkrieg als geeigneter Weg dazu. Die Methode sah vor, dass unter anderem Dialoge gespielt wurden und Strukturzeichnungen zum Einsatz kamen (cf. Richards/ Rodgers 1986, 58). Also fand bildgestütztes Lernen statt, wenn auch Bilder weniger stark im Mittelpunkt standen als im reformierten Fremdsprachenunterricht. Interessanterweise wurden diese Praktiken bislang in den Abhandlungen zur Methode und zum Bildeinsatz jener Zeit nicht untersucht. Man darf den Strukturbildern jedoch eine organisierende und konkretisierende Funktion attestieren, die sich in einer grammatisierenden Funktion zusammenfassen lässt. Ein Verständnis dieser in der Fachsprache als logische Bilder bezeichneten Darstellungen setzt ferner eine Vertrautheit mit den Visualisierungscodes voraus, denn was wie ein Baum aussieht, stellt Wortfolgen und Grammatikstrukturen dar, so dass ein Verständnis nicht mehr (nur) über das Wiedererkennen von Ähnlichkeiten gelingen kann. Eine gewisse Schulung oder Erklärung dieser Bildformen wird daher stattgefunden haben, lässt sich aber nicht nachverfolgen. Von der Grammatikübersetzungsmethode bis ins 21. Jahrhundert 39 Aus der audiolingualen entwickelte sich die audiovisuelle Methode, in der Abbildungen wieder eine zentrale Rolle spielten (cf. Kniffka/ Siebert-Ott 2007, 87, Reinfried 2004, 61). Sie sollten vor allem Textinhalte und Kommunikationssituationen semantisieren (cf. Firges 1976, 24, Montani 1974, 38, Novicicov 1974, 17), aber auch zum Sprechen animieren (cf. Schneider 1974, 27-28) sowie Wortschatz, Grammatik und landeskundliche Inhalte veranschaulichen (cf. Ziegesar 1978, 7-8). Hintergrund des verstärkten Bildeinsatzes war die Erkenntnis, dass Kommunikation nicht rein verbal sei, sondern von visuellen Zeichen, „paralinguistischen und extralinguistischen Elementen“ begleitet werde, die im audiovisuellen Unterricht miteinander verbunden erlernt werden konnten (Zimmermann 1976, 65). Hier wurden nun neben Abbildungen und Gegenständen auch Mimik und Gestik einbezogen, für deren Verständnis es ebenfalls eines Codewissens bedarf, das zu erlernen ist. Ob Schülerinnen und Schüler jedoch wirklich in Mimik und Gestik der Zielsprachenkulturen unterrichtet wurden, bleibt wiederum aus Ermangelung schriftlicher Belege unbeantwortet. Bezogen auf den Einsatz von Abbildungen findet sich aber zum ersten Mal der schriftliche Hinweis, dass Bildarbeit einer Instruktion bedarf: Die Bearbeitung einer ‚Picture Lesson‘ im Unterricht muß verbunden werden mit einem ‚Picture Reading‘, worunter eine Schulung des Auges zu verstehen ist, bzw. eine Technik des Betrachtens von Bildern zur Erfassung der wesentlichen und sprachlich relevanten Einzelheiten (Schilder 1977, 259). Was Hanno Schilder unter „Schulung des Auges“ und „Technik des Betrachtens“ verstand, erläuterte er leider nicht. Jack Lonergan bezeichnete wenige Jahre später (1984 auf Englisch, 1987 in der deutschen Übersetzung) das „aktive[ ] Sehen“ als Ziel der Filmarbeit im Fremdsprachenunterricht (1987, 16). Er legt dar, dass Beobachtungsaufgaben „zu allererst Anleitung zum aktiven Sehen“ seien und die Aufmerksamkeit der Lernenden auf wichtige Bildmerkmale lenken sollten (ibid. 21, cf. 23). Was ‚Sehverstehen‘ für ihn bedeutete, erklärt aber auch Lonergan nicht. Zu den Prozessen des Sehverstehens äußerte sich auch sonst keiner der Fremdsprachendidaktiker, was sich als Hinweis auf die weitreichende Annahme interpretieren lässt, dass Lernende alle Voraussetzungen an visuelle Kommunikation automatisch erfüllten. Schilder und Lonergan regten jedoch zu einem Umdenken an und sind damit die Ausgangspunkte des didaktischen Diskurses in Deutschland um die Ausbildung visueller Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht, weil die Autoren dafür 40 Carola Hecke plädierten, die reine Bildinstrumentalisierung um bildfokussierte Lernziele zu ergänzen. 2 Ende der 1980er Jahre erschienen in der Phase des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts unabhängig von einander zwei bahnbrechende Publikationen zum Bildeinsatz im Fremdsprachenunterricht. Sie bezeichneten das Sehverstehen und visual literacy nicht nur als Voraussetzungen und Ziele eines bildgestützten Fremdsprachenunterrichts, sondern versuchten zudem, Sehverstehen und visual literacy für die deutsche Fremdsprachendidaktik zu konkretisieren und Aufgaben zu entwickeln, mit denen die visuellen Lernziele erreichbar wurden. Es handelt sich dabei um Inge-Christine Schwerdtfegers Monografie Sehen und Verstehen: Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache (1989) und Bernd Weidenmanns Aufsatz „Das Bild im Sprachunterricht: Lehrhilfe oder Lerngegenstand? Anregungen am Beispiel ‚Wirtschaftskommunikation’“ (1989). Die beiden Publikationen fielen in die Phase, in der die sogenannte Bilderflut die Schulen erreichte. Nicht nur wurden Unterrichtsmaterialien durch Fotos und Zeichnungen bildreicher - Werbefotos, Reproduktionen von Bildkunst und Zeitungsbilder sowie Wimmelbilder, Karikaturen und Bildergeschichten fanden Verbreitung (cf. Brandi et al. 1988, Charpentier et al. 1988, Dauvillier/ Köchling 1988, Hofmann 1973, Klippel 1989, 1992b, Laveau et al. 1988) -, sondern es wuchs auch das Medienspektrum: Filme und Computer kamen immer häufiger zum Einsatz (cf. Lademann 1993, 148). Der Grund lag darin, dass sich Bilder auch in der wissenschaftlichen Überprüfung als geeignet erwiesen hatten, die kommunikativen Ziele der Methode zu unterstützen, vor allem um Sprechanlässe zu schaffen und eigenständiges Sprachhandeln zu initiieren (cf. Lademann 1993, 148, Richards/ Rogers 1986, 79). Sie wurden also zum Zwecke der Übung von verbaler Kommunikation instrumentalisiert, worauf der Begriff „Lehrhilfe“ in Weidenmanns Aufsatztitel anspielt. Die DaF-Didaktikerin Schwerdtfeger und der Bildwissenschaftler und DaF-Didaktiker Weidenmann setzten sich in ihren Publikationen mit den der Bildarbeit zugrundeliegenden Sehprozessen auseinander und wiesen darauf hin, dass Sehverstehen und visual literacy Kompetenzen seien, die im Fremdsprachenunterricht ausgebildet werden müssten, weil sie nicht automatisch vorlägen, aber im bildbasierten Unterricht das Sehverstehen zur Voraussetzung für die gelungene Sprachperformanz geworden sei: „Ausgehend von den in diesem Kapitel bisher dargestellten Forschungsergebnissen bzw. -zusammenhängen muß Seh-Verstehen als eine Fertigkeit gefordert werden, aus der sich Sprachproduktion für den Fremdsprachenunterricht ableitet“ 2 Den Begriff der Bildinstrumentalisierung habe ich von Günther Storchs „Instrumentalfunktion“ abgeleitet (1999: 276). Die Bildinstrumentalisierung bezeichnet das Vorgehen, bei dem Bilder lediglich als Hilfsmittel des Fremdsprachenunterrichts, etwa zur Semantisierung, Grammatisierung oder Motivation, eingesetzt werden, ohne auf die Ausbildung visueller Kompetenzen abzuzielen (cf. Hecke 2012). Von der Grammatikübersetzungsmethode bis ins 21. Jahrhundert 41 (Schwerdtfeger 1989, 24, cf. Weidenmann 1989, 132-133). Weidenmann wies zudem auf die Tatsache hin, dass visuelle Kommunikationskonventionen keine universelle Geltung haben, sondern kulturspezifisch sind und daher für die Zielsprachenkulturen erlernt werden müssen (cf. ibid. 134, 137, 145). Er kritisierte offen, dass das Bilderlesen nicht unterrichtet wird, obwohl fremdkulturelle Bilder im Unterricht zum Einsatz kommen: Unser institutionalisiertes Bildungssystem hält lediglich eine systematische Schulung im Umgang mit dem verbalen und numerischen Symbolsystem für erforderlich. Bilder ‚lesen‘ und Bilder im Alltag als Medium für Mitteilungen verwenden zu können, wird nicht vermittelt (ibid. 132-133). Während Schwerdtfeger vom „Seh - Verstehen“ spricht, argumentiert Weidenmann für die Ausbildung von visual literacy, was insofern über das reine Sehverstehen hinausgeht, als es sowohl eine rezeptive als auch eine produktive Komponente besitzt (cf. Weidenmann 1989, 132-133, 146, 147). Damit begründet er mit seinem Aufsatz aus dem DaF-Bereich den Diskurs um visual literacy in der deutschen Fremdsprachenlehre. Seit 1989 lässt sich visual literacy im Bilddiskurs der deutschen Fremdsprachendidaktik nachweisen, doch hat sich zwischen 1989 und 2010 kein weiterer Fremdsprachendidaktiker und keine Fremdsprachendidaktikerin an einer Definition dieses Lernziels für den Fremdsprachenunterricht versucht, die über einen Ausschnitt oder den groben Umriss hinausging (cf. Hecke 2012). Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass es sich bei dem Begriff der visual literacy um eine Entlehnung aus den Bildwissenschaften handelt, und vermutlich angenommen wurde, mit dem Begriff auch dessen Definition zu übernehmen. Allerdings gibt es auch in den Bildwissenschaften nicht die eine gültige Definition. Wieso das so ist und wofür der Begriff der visual literacy überhaupt steht, erhellt das folgende Unterkapitel. Die Bedeutung von visual literacy in den Bildwissenschaften Bis ins 20. Jahrhundert bezeichnete visual literacy im englischsprachigen Raum gemeinhin die Fähigkeit, berühmte Gemälde wiederzuerkennen (cf. Elkins 2008, 1). In dieser Form war sie rein rezeptiv ohne jedoch ein wirkliches Sehverstehen zu implizieren. Mit den Entwicklungen in der Medienwelt, insbesondere dem Vormarsch des Fernsehens, durchlief der Begriff einen Wandel, und visual literacy wurde Ende der 1960er Jahre von John Debes als Summe der Kompetenzen definiert, die es einem Menschen ermöglichten, Kunst zu verstehen und zu genießen: „Through the appreciative use of these competencies, he is able to comprehend and enjoy the masterworks of visual communication“ (Debes 1969, 27, cf. Avgerinou/ Ericson 1997, 287). 42 Carola Hecke Neue Bildpraktiken ließen das Konzept weiterwachsen. Heute subsumiert der Begriff ein komplexes Bündel von visuellen Kompetenzen, derer es bedarf, um visuelle Kommunikation jeglicher Art zu verstehen und daran teilzuhaben. Es geht nicht mehr nur um das Sehen und Verstehen von Bildkunst, sondern um das Verstehen von sichtbaren Reizen aller Art sowie um das Herstellen und Aussenden solcher Reize. Dabei mag es sich um Filme, Röntgenbilder, Diagramme oder Karikaturen handeln. Abhängig von der Reizform sind unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten nötig. Da sich nicht nur die Geisteswissenschaften sondern auch Naturwissenschaften mit der Erforschung von visual literacy befassen und da deren Forschungsgegenstände nicht deckungsgleich sind, gibt es unterschiedliche Definitionen des Begriffs. 3 Grundlegend geht es um das Verständnis von visueller Kommunikation (cf. Dallow 2008, 92). Dies impliziert die Fähigkeit visuelle Signale und ihren Kontext zu analysieren und die Logik und (emotionale) Bedeutung des Reizes zu erkennen (cf. Barry 1997, 6, Curtiss 1987, 3, Doelker 2002, 146). Der Kontext ist ein wichtiger Aspekt, da visuelle Kommunikation stets vor einem sozialen Hintergrund erfolgt und soziales Handeln ist, wie Gunther Kress und Theo van Leeuwen anmerken: „Seeing is an interactive, social process between at least two instances, a person and another or an object, and the interpretation of any sign is based on cultural values“ (2006, 6). Sehen ist einerseits kulturelle Routine und anderseits ein Faktor, der Einfluss auf kulturelle Praktiken nehmen kann, denn Bilder müssen nicht immer die Realität abbilden und können über die Deutung die Betrachtenden beeinflussen. So sind visuelle Praktiken kulturelle Praktiken und formen das Umfeld der Sehenden (cf. Billmayer 2008, 77). Visual literacy impliziert über das Verstehen hinaus die Fähigkeit und Bereitschaft visuelle Botschaften zu hinterfragen und zu bewerten (cf. Bamford 2003, 1, Doelker 2002, 151). Dies beruht auf einer kritischen Einstellung im Bereich von visueller Interaktion, die sich aus der Erfahrung entwickelt, „a quality of mind developed to the point of critical perceptual awareness in visual communication“ (Barry 1997, 6, cf. Considine 1995, o. S.). Ein weiteres zentrales Merkmal von visual literacy ist ihre produktive oder interaktive Seite. Wer über diese Kompetenz verfügt, kann sich auch visuell ausdrücken und angemessen auf visuelle Signale reagieren (cf. Pettersson/ Abb 1988, 302). Dazu gehört, über Bilder sprechen zu können, wie sich bei Anne Bamford nachlesen lässt: „The teaching implications of visual literacy include the need to […] enhance verbal and written literacy skills and vo- 3 „Visual literacy has emerged from a number of disciplines including: Visual arts, Art History, Aesthetics, Linguistics, Literacy, Philosophy, Psychology, Perceptual psychology, Sociology, Cultural studies, Media studies, Instructional design, Semiotics, Communications studies, Educational technology“ (Bamford 2003: 2). Von der Grammatikübersetzungsmethode bis ins 21. Jahrhundert 43 cabulary to be able to talk and write about images“ (2003, 5). Um visuelle Zeichen aussenden zu können, muss eine Person mit den Konventionen der Bildform vertraut sein. Diese sind kulturspezifisch (cf. Bamford 2003, 4, Kress/ van Leeuwen 2006, 4, Stokes 2002, 12 - 13). 4 Es handelt sich bei visual literacy um ein Bündel von Kompetenzen, die sich entwickeln. Entgegen weitreichender Annahmen macht der Kontakt mit Bildern Menschen nicht automatisch visuell kompetent, so wie der bloße Kontakt mit Buchstaben einem Kind nicht das Lesen beibringt. Der Mensch wird nur mit der genetischen Disposition zum Sehen geboren, alles Weitere muss er lernen: „[H]uman visi on is not simply a given biological disposition determined solely by genetics and evolution. On the contrary, vision as a meaningful activity in the context of cultural and social interaction must be regarded as a product of learning and habit“ (Schneck 20 05, 3). Lerngegenstände im Bereich von visual literacy sind deklaratives und prozedurales Bildwissen. So müssen etwa Methoden der Bilddeutung, Konventionen der visuellen Kommunikation, Strukturen und Effekte sowie die Techniken der Bildproduktion (Zeichnen, Filmen, der Gebrauch eines Computerprogramms usw.) bekannt sein, um erfolgreich an visueller Kommunikation teilzunehmen (cf. Avgerinou/ Ericson 1997, 286, Bering 2002, 91 - 92, Ennemoser/ Kuhl 2008, 18, Schwan 2005, 130, Wileman 1993, 114). Aufgrund der vielen unterschiedlichen Formen, die visuelle Kommunikation annehmen kann, ist die komplette Aufschlüsselung dieses Bereichs an dieser Stelle nicht möglich. Sie wäre nicht zielführend, da die Inhalte der Fremdsprachendidaktik nicht deckungsgleich mit den Inhalten aller Bildwissenschaften sind. Von Interesse ist vielmehr die Frage nach dem Zweck der visual literacy im Fremdsprachenunterricht, handelt es sich doch um ein fachfremdes Konstrukt bzw. eigentlich um einen am Ende der 1960er Jahre in den USA etablierten, inzwischen internationalen und interdisziplinären Forschungsbereich, der die Produktion und Rezeption von Bildern aus verschiedenen Perspektiven erforscht (cf. Avgerinou o. J., Lewalter 1997, 44). Visual literacy in der Fremdsprachendidaktik Die deutsche Fremdsprachendidaktik greift auf visual literacy zurück, um den bildbezogenen Lernzielen oder Kompetenzen der fremdsprachigen Bildarbeit einen Namen zu geben. Sehverstehen allein genügt als Bezeichnung nicht, weil es dem interaktiven Charakter von visueller Kommunikation zu wenig gerecht wird und ihre produktive Seite ausklammert. Visual literacy steht 4 Es gibt jedoch auch Symbole, die über Kulturgrenzen hinweg die gleiche Bedeutung haben (cf. Stokes 2002: 12 - 13). 44 Carola Hecke durch den Begriff ‚literacy’ per se für die Teilnahme an einem sozialen Diskurs (cf. Hallet 2010, 68). Dies impliziert Interaktion und unterstreicht die kommunikative Funktion von visueller Sprache besser, als dies ein Begriff wie visuelle Kompetenz könnte. Gleichsam lässt sich jedoch argumentieren, dass die Wahl des Begriffs der visual literacy verwirrend ist, weil die Fremdsprachendidaktik als Zielprojektion für ihre Zwecke nicht den Gesamtkomplex von visuellen Kompetenzen verwendet, die der Begriff vereint, sondern nur eine reduzierte Variante, da die Forschungsfelder der Bildwissenschaft breiter angelegt sind als das Spektrum der Bildphänomene, mit denen sich die Fremdsprachendidaktik befasst. Dies spricht wiederum dafür, von visueller Kompetenz oder ähnlichem zu sprechen, zumal der Kompetenzbegriff das Lernziel in die Bereiche Können, Wissen und Wollen aufschlüsselt, denen sich die oben erwähnten Komponenten von visual literacy zuordnen lassen. 5 W. J. T. Mitchell räumt jedoch im englischsprachigen Diskurs ein, dass visuelle Kompetenz als grundlegende Fertigkeit missverstanden werden könnte, als „the condition for the more advanced and specialized skills“, und damit dem Schwierigkeitsgrad der visuellen Praxis nicht gerecht wird; er schlägt stattdessen literary visualcy als Bezeichnung vor (2008, 14). Weitere Empfehlungen zur Benennung der visuellen Kompetenzen sind visual practices, visual skills, visual languages (Elkins 2008, 1-2) und image competence (Simons 2008, 87-89). Auf eine Erläuterung der Vorschläge verzichte ich, weil ich nur zeigen möchte, dass visual literacy nicht der einzige mögliche Oberbergriff der visuellen Lernziele ist, obwohl er sich weitgehend durchgesetzt hat, und kehre stattdessen zum Fremdsprachenunterricht und der Frage nach der Bedeutung von visuellen Lernzielen zurück. Der Fremdsprachenunterricht benötigt durch die stärker bildorientierte Spracharbeit eine bildbezogene Zielprojektion und die Ausbildung der darin erfassten Kompetenzen. Schwerdtfeger und Weidenmann nannten 1989 die entscheidenden Gründe (cf. oben): Wenn Bildarbeit Teil des Unterrichtsgeschehens im Fremdsprachenunterricht ist und Einfluss auf die Quantität und inhaltliche Qualität der Sprachleistung nimmt, dann müssen Bildpraktiken trainiert werden. Und wenn Bildpraktiken kulturspezifisch sind, dann müssen zielkulturelle Visualisierungsmuster und -bedeutungen im Fremdsprachenunterricht thematisiert werden. Dieser zweite Punkt ist für die Quellenarbeit an Bildern von erheblicher Bedeutung, die vermehrt stattfindet, seit in den 1990er Jahren kulturelle Aspekte stärker in den Fokus der Fremdsprachendidaktik gerückt sind. Kulturspezifische Bildpraktiken spielen aber auch bei der einfachen Bilddeutung eine Rolle, etwa wenn Gegenstände und Requisiten interpretiert werden müssen. So passierte es mir im Filmunterricht, dass eine Lerngruppe die Kostümwahl für einen Hauptcharakter missverstand und dessen Garderobe für modisch hielt, obwohl sie völlig unmodern 5 Ich beziehe mich hier auf Franz Weinerts Kompetenzdefinition (cf. 2001: 27). Von der Grammatikübersetzungsmethode bis ins 21. Jahrhundert 45 war und die wirtschaftlich problematische Lage der Familie unterstreichen sollte. Dies erkannte die Gruppe nicht, weil ihr das visuelle Kontextwissen fehlte, und kam konsequenterweise zu einer anderen Deutung. Um solche Missverständnisse zu vermeiden, muss im Fremdsprachenunterricht kulturspezifisches Bildwissen vermittelt und das Bewusstsein gefördert werden, dass Bilder von anderswo nicht mit den eigenen Maßstäben interpretiert werden können. Es muss die kulturelle Komponente von visueller Kommunikation Berücksichtigung finden. Vor dem Hintergrund des Hauptziels des Fremdsprachenunterrichts, der interkulturellen kommunikativen Kommunikation, ist die zielkulturelle visuelle Kompetenz als Zielprojektion des Fremdsprachenunterrichts unumgänglich, denn sie befähigt im Sinne des literacy-Begriffs zur Teilhabe am sozialen Geschehen: „Pictures exist all around us. They surround us. The economy relies heavily on visual representation and a sense of design, style and ‚feel‘. Understanding pictures is a vital life enriching necessity“ (Bamford 2003, 2). Der Kunstpädagoge Franz Billmayer nennt Bildwissen sogar eine „Schlüsselkompetenz“ (2008, 72). Wer also über kommunikative Kompetenz in der Fremdsprache verfügen und am sozialen Leben der Zielkulturen teilhaben soll - zentrale Ziele des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland (cf. Kultusministerkonferenz 2003, 9) -, muss auch visuelle Kompetenzen besitzen (cf. Badstübner-Kizik 2006, 48, Skorge 2006, 45, Weidenmann 1989, 144-145). Sicherlich lässt sich einwenden, dass heutige Schülerinnen und Schüler über eine große Bandbreite an visuellen Vorerfahrungen verfügen, doch sind diese eher intraals interkulturell und ermöglichen nicht zwangsläufig das Verständnis fremdkultureller Bilder. Auch fehlt den Lernenden überraschend oft eine kritische Haltung. Dies belegt eine kürzlich durchgeführte Studie der Landesanstalt für Medien NRW und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit 633 Kindern, die zeigte, dass nur 18% der Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren in der Lage sind, Werbung zu identifizieren und ihren Zweck zu erkennen. Die übrigen halten Werbung für eine Informationsquelle (cf. Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen 2014, o. S.). Wozu unkritische Medienrezeption führen kann, zeigt ein Artikel von 2011, in dem berichtet wird, dass nach dem Erscheinen des Ballettspielfilms Black Swan mit Natalie Portman in der Hauptrolle viele Menschen beim Londoner Ballett anriefen, um zu fragen, wann die Schauspielerin dort Schwanensee tanze (cf. Nikkhah 2011). Diese Menschen hinterfragten den Eindruck der rezipierten Bilder nicht. Schülerinnen und Schüler müssen zudem aufgrund der zunehmenden Bedeutung von Bildern in der Lage sein, über das Phänomen ‚Bild‘ in der Fremdsprache zu sprechen. Wer z.B. einen Vortrag hält, kommt kaum umhin, diese visuell zu begleiten und die Bilder im Vortrag zu thematisieren. Um dies leis- 46 Carola Hecke ten zu können, muss der Sprecher mit der fremdsprachlichen Bildterminologie vertraut sein. Diese zu vermitteln ist Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts. Weitere Gründe oder Begründungen für visuelle Zielsetzungen im Fremdsprachenunterricht sind die schon lange bestehende Forderung nach der Ausbildung einer Medienkompetenz, zu der auch visuelle Kompetenzen zählen (cf. Baacke 1997, 97, Grünewald/ Küster 2009, 56, Thoma 1997, 96-97, Weskamp 2001, 158-159) sowie das Üben von interkulturellen Begegnungssituationen, denn wenn Lernende Bildkunst betrachten, ergeben sich Parallelen zur menschlichen Interaktion, da fremde Signale nach neuen Mustern gedeutet werden müssen und in der Fremdsprache reagiert werden soll (cf. Badstübner-Kizik 2006, 285). Zu den Hürden der Ausbildung von visuellen Kompetenzen im deutschen Fremdsprachenunterricht zählt das Fehlen einer klaren Lernzieldefinition, da visual literacy ein sehr breit angelegtes Konzept ist und bis 2010 kein Versuch unternommen wurde, es für den Fremdsprachenunterricht zu reduzieren oder eindeutig und differenziert zu definieren (cf. Hecke 2012). Daher ist es schwierig, Methoden zu entwickeln, mit denen visuelle Kompetenzen ausgebildet werden. Die Mehrheit der Publikationen zur Ausbildung von visual literacy im (Fremdsprachen-)Unterricht erscheint daher im englischsprachigen Ausland (cf. Frey/ Fisher 2008, Moline 2011, Stafford 2011). Dort wird gezeigt, dass der visuellen Kommunikation als „life skill“ größere Bedeutung beizumessen ist (Moline 2011, 13). Denn wir leben in einer zunehmend bildfokussierten Welt (cf. Dallow 2008, 92). Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Verbreitung der irrtümlichen Annahme, dass der bloße Bildkontakt ausreiche, die oben genannten Bildkompetenzen auszubilden, denn die Bildinstrumentalisierung führt nicht zur Ausbildung von visual literacy, so lange Bildpraktiken unbehandelt bleiben (cf. zur Problematik Badstübner-Kizik 2006, 78). Durch manche empfohlenen Aufgabenstellungen wird die Entwicklung von visueller Kompetenz sogar unterwandert, etwa wenn diese dazu auffordern, lediglich subjektive Erfahrungen in Bilder hinein zu projizieren. Solche Aufgabenstellungen sind sicherlich als Einstiege in die Bildarbeit akzeptabel, denn sie ermöglichen es den Lernenden, über individuelle Assoziationen Zugang zu einem Bild zu finden, doch zum Zweck der Quellenarbeit sind sie unbrauchbar. Nicht zuletzt ist auch die Lehrerausbildung eine Hürde, wenn sich Seminare, Vorlesungen und Übungen auf sprachliche Texte und Sprachlehre konzentrieren und Bilder als zweitrangig betrachten (cf. Baacke 1997, 98, Badstübner-Kizik 2006, 77, 278, Knieper 2005, 38, Mendez 2003, 35). Das scheinbare Desinteresse an visual literacy überrascht angesichts der Forschungsergebnisse aus den Bildwissenschaften, die belegen, dass Bilder den Lernfortschritt im Fremdsprachenunterricht unterstützen können - sofern die Lernenden in der Lage sind, sie zu verstehen, also ein notwendiges Von der Grammatikübersetzungsmethode bis ins 21. Jahrhundert 47 Maß an visual literacy vorliegt (cf. Carney/ Levin 2002, 10-17, Hecke 2012, 175, Hellwig 1990, 357-359): Realize that even professionally designed pictures and illustrations in textbooks are not necessarily perfect, nor easy for students to comprehend or remember (e.g., Benson 1995; see also Guri 1985). Thus, even though a particular textbook illustration may be designed to be cognitively useful, it may turn out to be functionally useless unless the learner perceives the illustrated content or process in the intended manner (Carney/ Levin 2002, 22). Bilder an sich sind nicht zwangsläufig hilfreich, sondern nur dann, wenn sie von den Lernenden erschlossen werden können. Außerdem müssen sie den Lerngegenstand darstellen. Meine eigene Lehrerfahrung hat gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler die komplexen Inhalte einer fremdsprachigen graphic novel zwar mit wenig Schwierigkeiten erfassen, dass sich diese semantisierende Wirkung aber nur dann zeigt, wenn die Bilder die Textinhalte abbilden und somit in visueller Form wiederholen. Unterhalten sich Figuren über Dinge, die die Bilder nicht zeigen, vereinfachen die Illustrationen das Verständnis nicht (cf. Hecke 2013, 123 - 126). Sind Bilder verständlich, können sie neben dem Leseverstehen auch die Grammatisierung unterstützen, denn sie bieten Übungsmöglichkeiten und demonstrieren die Sprachfunktion. So schlägt Joachim Balser vor, die spanischen Vergangenheitszeiten anhand einer Bildergeschichte zu üben, in der die Ereignisse im pretérito indefinido und die darum liegende Umgebung, das Aussehen der Figuren und die Gewohnheiten im pretérito imperfecto zu beschreiben sind (cf. 2008, 31). Wenn Schülerinnen und Schüler das Prinzip der Bilder verstanden haben, helfen ihnen die Zeichnungen tatsächlich, die Unterschiede zu verstehen, so meine Beobachtung. Außerdem können Strukturbilder Sprachstrukturen konkretisieren (cf. Scherling/ Schuckall 1992, 106 - 107). Weitere Bildfunktionen sind die oben erwähnte Erinnerungsfunktion oder mnemonische Funktion, die Motivationsfunktion, die interkulturelle Bildfunktion und die Lexikalisierungsfunktion, also das Auslösen von Sprachhandlungen (cf. Hecke 2012, 34sqq.). Ausblick: interkulturelle kommunikative Kompetenz, Bild-Text-Kombinationen und Inklusion Visual literacy ist nicht nur eine interkulturelle kommunikative Kompetenz, sondern auch die Basis der positiven Bildwirkungen im Fremdsprachenunterricht. Diese Bildwirkungen sollten gezielter im Fremdsprachenunterricht genutzt werden, um die Sprach- und Leseperformanz von deutschen Schüle- 48 Carola Hecke rinnen und Schülern zu verbessern. Außerdem muss visual literacy als Grundlage für die Bildinstrumentalisierung sowie als interkulturelle kommunikative Kompetenz ausgebildet werden. Constanze Niederhaus fordert zu einer integrativen verbalen und visuellen literacy-Förderung auf. Sie verweist auf die zunehmende Bedeutung von Bild-Textkombinationen, deren Rezeption anspruchsvoller sei als die Lektüre konventioneller Texte (cf. 2011, 2). Dies tut sie vor dem Hintergrund der mittelmäßigen Leseleistung, die die PISA-Studie den Schülerinnen und Schülern in Deutschland attestiert und der Tatsache einer Benachteiligung von Migrantenkindern. Niederhaus konstatiert, dass besonders Lernende der zweiten Einwandergeneration von solch einer Ausbildung profitieren würden, weil PISA gezeigt hat, dass deren Leseperformanz deutlich hinter den Ergebnissen von Schülerinnen und Schülern zurückliegt, deren Eltern in Deutschland geboren sind (cf. ibid.). Dieser Denkanstoß zeigt einen sinnvollen Weg der visual literacy-Förderung im Fremdsprachenunterricht auf, da er verhindert, dass wir vom Extrem der Bildinstrumentalisierung in das andere Extrem der völligen Bildfokussierung fallen, in dem der Fremdsprachenerwerb zur Nebensache wird. Ein weiteres Argument für die kombinierte Förderung von verbal and visual literacy besteht darin, dass es einen Zusammenhang zwischen sprachlichem und visuellem Wissen gibt. Es gibt Hinweise, dass das mentale Lexikon der visuellen Wahrnehmung Grenzen setzt, und dass das explizite verbale Wissen die eigene Wahrnehmung steuert, so dass man nur sieht, was man kennt (cf. Cycowicz et al. 1997, 171, Johnson/ Pascual-Leone 1989, 1, Kowalski/ Zimiles 2006, Mittlmeier 2006, 61). Diese Feststellung stützt nicht nur Niederhaus’ Forderung, sondern ist auch von Bedeutung für das interkulturelle Lernen im Fremdsprachenunterricht (cf. Niederhaus 2011). Auch zur Inklusion und zum Nachteilsausgleich können Bilder und visual literacy einen Beitrag leisten: Studien belegen, dass sich mit verständlichen Bildern der benachteiligende Mangel an Vorwissen ausgleichen lässt, der das Leseverstehen erschweren kann. Ihnen wird ein ausgleichender Effekt attestiert, „an equalizing effect, bridging the advantage due to prior knowledge“ (Dean/ Enemoh 1983, 26). Paula Kluth stellt fest, dass Lernende mit speziellen Bedürfnissen besonders von visuellem Material profitieren. Sie schlussfolgert aus ihrer Forschung, dass taube, im Hören beeinträchtigte, autistische und lernbehinderte Schülerinnen und Schüler Unterrichtsinhalte besser verstehen und erinnern, wenn sie mit bildlichen Repräsentationen arbeiten, „including handouts, movies, diagrams, charts, and graphic organizers, illustrated books, learning-related objects (e.g., globe, manipulatives), PowerPoint presentations or overhead transparencies, pictures, and checklists“ (2008, 170). Kluth erklärt, dass für diese Lernenden die visuelle Wahrnehmung der wichtigste Kanal sei und dass Wörter weniger bedeutsam seien und nur ihre „second language“ darstellen (ibid.). Der Einsatz visueller Medien und die Von der Grammatikübersetzungsmethode bis ins 21. Jahrhundert 49 Förderung der visuellen Kompetenzen von benachteiligten Schülerinnen und Schülern sind sicherlich Schritte in die Richtung eines erfolgreichen inklusiven Fremdsprachenunterrichts, zu dem noch keine Forschungsergebnisse aus der Fremdsprachendidaktik vorliegen. Ich fasse zusammen, dass sich mit visuellen Medien im Fremdsprachenunterricht wichtige Ziele erreichen lassen, unter anderem im Bereich der Inklusion, und dass die Förderung visueller Kompetenzen keine Zeitverschwendung ist, sondern dazu beiträgt, dass sich diese Lernerfolge auch bei weniger erfolgreichen Lernenden häufiger und nicht zufällig einstellen. Außerdem sind visuelle Kompetenzen als Teil der interkulturellen kommunikativen Kompetenz im Fremdsprachenunterricht auszubilden. Sicherlich besteht in vielen Bereichen noch Klärungsbedarf, etwa welche visuellen Kompetenzen wie zu fördern sind, doch widmet sich gerade die Romanistik seit einigen Jahren verstärkt dem Thema der Bildarbeit und trägt mit ihrem Bilddiskurs dazu bei, diese Fragen zu klären (cf. z.B. Balser 2012, Lüning 2014, Pou 2012). Auf der Basis empirischer Untersuchungen sollte es in den kommenden Jahren auch Ergebnisse zu inklusiven Bildfunktionen im Fremdsprachenunterricht geben. Avgerinou, Maria. Ohne Jahr. „What is visual literacy? “ International Visual Literacy Association (http: / / www.ivla.org/ org_what_vis_lit.htm, 14.04.2008) Avgerinou, Maria / Ericson, John. 1997. „A Review of the Concept of Visual Literacy“, in: British Journal of Educational Technology Heft 4, 28, 280-291. Baacke, Dieter. 1997. Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer. Badstübner-Kizik, Camilla. 2006. Fremde Sprachen - fremde Künste? Bild- und Musikkunst im interkulturellen Fremdsprachenunterricht. 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In allen genannten Dokumenten finden sich Hinweise zum Hörsehverstehen (i.F. HSV). 2 Diese stellen nicht nur die Grundlage für die Gestaltung des Unterrichts, sondern auch für die Überprüfung von Leistungen dar. Bevor Test- oder Lernaufgaben (zur Unterscheidung cf. Caspari/ Grotjahn/ Kleppin 2010, von Heynitz 2012) zur Ausbildung einer Kompetenz ausgewählt oder entwickelt und anschließend eingesetzt werden können, muss Klarheit darüber bestehen, was unter der jeweiligen Kompetenz zu verstehen ist. Hörsehverstehen bzw. Sehverstehen stellt in dieser Hinsicht eine besondere Herausforderung dar, da es bisher keinen Konsens zur Definition gibt. Laut Reimann 2016 (in diesem Band) wird HSV in der aktuellen fremdsprachendidaktischen Diskussion zumeist folgendermaßen konzeptualisiert: (1) als Variante des Hörverstehens, (2) als Synonym für (Spiel-) Filmdidaktik und (3) als „visual literacy“. Die Eigenständigkeit des Konstrukts HSV betont u.a. Thaler (2007, 2012): Das Hör-Seh-Verstehen wird in offiziellen Dokumenten wie den Bildungsstandards meist als Variante des Hörverstehens eingeordnet (vgl. KMK 2003, 2004, 2012). Es stellt jedoch eine eigenständige Kompetenz dar, die deutlich 1 Es existieren noch weitere Bezeichnungen wie Kernlehrpläne (Nordrhein-Westfalen), Kerncurricula (Niedersachsen) oder Bildungspläne (Hamburg). 2 Wir verwenden in diesem Beitrag die Schreibweise „Hörsehverstehen“ (auch in Wortzusammensetzungen). Schreibweisen wie Hör-Sehverstehen oder Hör-Seh-Verstehen aus anderen Publikationen werden in Zitaten beibehalten. 58 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch vielschichtiger ist als das Hörverstehen, empfangen Lernende doch gleichzeitig einen auditiven und einen visuellen Input. Der Prozess des Hörverstehens muss mit dem Sehverstehens synchronisiert werden, d.h. gesprochene Texte müssen verstanden, Bilder gedeutet, außersprachliche Merkmale erschlossen und kinematografische Techniken (z.B. Bildmontage) analysiert und zueinander in eine sinnvolle Beziehung gesetzt werden. Wenn schließlich noch textuelle Elemente (z.B. Untertitel oder im Bild zu sehende Schriftzüge) hinzukommen, dehnt sich das Hör-Seh-Verstehen zu einem Hör-Seh-Lese-Verstehen aus (Thaler 2012, 169). Im Hinblick auf die Messung der entsprechenden Kompetenzen weisen u.a. Ockey (2007) und Wagner (2010, 2013, 2014) darauf hin, dass zusätzlicher visueller Input bei der Testung des Hörverstehens zu einer deutlichen Veränderung des jeweils gemessenen Konstrukts führen kann. Auch diese Autoren gehen damit von einer zumindest partiellen Eigenständigkeit des Konstrukts HSV aus. Dabei betont vor allem Wagner, dass eine Überprüfung audio-visueller Kompetenzen in vielen Testkontexten zu einer besseren Passung zwischen Test und zielsprachlichem Verwendungskontext führt. Dies kann weiterführend auch dahingehend interpretiert werden, dass durch die Verwendung von Bildmaterial eine bessere Konstruktrepräsentation und auch höhere kognitive Validität erreicht werden kann (cf. auch Gruba 2014, 1000 sowie Field 2013 zur kognitiven Validität). Diese Position steht im klaren Gegensatz z.B. zu Taylor/ Geranpayeh (2011), die im Hinblick auf die Operationalisierung des Konstrukts Hörverstehen (i.F. HV) im akademischen Kontext feststellen: „The use of video in listening tests is controversial, however, as it risks introducing construct-irrelevant aspects“ (ibid., 97). Fremdsprachenlehrkräfte sind dazu angehalten, sich an den Vorgaben in den Lehrplänen und Bildungsstandards zu orientieren. Daher sollen in diesem Beitrag Lehrpläne von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II und die Bildungsstandards bis zum Abitur im Hinblick auf die Frage der Konzeptualisierung des Hörsehverstehens analysiert werden. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Analyse von Vorgaben und Hinweisen zur Leistungsfeststellung (Abschnitt 2). Anschließend sollen Forschungsbefunde und Möglichkeiten der empirischen Überprüfung zur Trennbarkeit der Konstrukte HV und HSV vorgestellt werden. Abschließend wird der Prozess der Auswahl oder Entwicklung von Aufgaben zum HSV auf Grundlage der Vorgaben in den Lehrplänen und Bildungsstandards skizziert und ergänzt um Kriterien und Leitfragen, die sich auf Vorgehensweisen standardisierter Leistungstests stützen (Abschnitt 4). Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 59 Hörsehverstehen in den Lehrplänen und den Bildungsstandards - Konzeptualisierung und Hinweise zur Leistungsfeststellung Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über den Stellenwert des Hörsehverstehens in den Lehrplänen mit Beginn der Grundschule bis zum Abitur (exemplarisch am Beispiel von Nordrhein-Westfalen) sowie in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache und die fortgeführte Fremdsprache gegeben werden. Ein spezieller Fokus wird auf der Frage liegen, welche Hinweise diese Dokumente in Bezug auf das HSV im Kontext der schulischen Leistungsrückmeldung geben. Die folgenden Leitfragen sollen die Analyse der ausgewählten Lehrpläne und Bildungsstandards strukturieren: Welche Konzeptualisierung des Hörsehverstehens wird aus den Beschreibungen und Deskriptoren zum HSV und gegebenenfalls zu weiteren Kompetenzen deutlich? Welche Bedeutung wird dem HSV für die Ausbildung interkultureller Kompetenzen beigemessen? Welche Vorgaben zur Leistungsfeststellung finden sich zum HSV in den Dokumenten? 2.1. Lehrplan für die Grundschulen - Englisch (NRW) 3 Für den Fremdsprachenunterricht in der Grundschule liegt aus Nordrhein- Westfalen ein Lehrplan für das Fach Englisch vor (MSW NRW 2008). Dort wird unter dem Bereich „Kommunikation - sprachliches Handeln“ der Schwerpunkt „Hörverstehen/ Hör - Sehverstehen“ aufgeführt und festgestellt: Ein entscheidender Schritt beim Aufbau einer Sprachkompetenz ist das Verstehen. Neue sprachliche Formen und Strukturen müssen zunächst in situativen Kontexten auditiv und visuell wahrgenommen, intern mit dem Bekannten abgeglichen und innerlich organisiert werden, ehe sie den Schülerinnen und Schülern für die Sprachproduktion zur Verfügung stehen. Dafür brauchen Schülerinnen und Schüler ein intensives Sprachangebot (Sprachbad) und vielfältige Verstehenshilfen (ausdrucksstarke Mimik, Gestik und Intonation, Realia, Abbildungen). Auf diese Weise erleben die Kinder, dass sie dem Unterrichtsgeschehen folgen können und englischen Geschichten, Hörtexten und Hörsehtexten (Videos) - auch unter Einbezug ihres Weltwissens - wesentliche Informationen entnehmen können (ibid., 73). Die Kompetenzanforderungen für die Kinder am Ende der Schuleingangsphase 4 besagen: 3 Online-Fassungen der besprochenen Lehrpläne sind unter folgendem Link zu finden: http: / / www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/ lehrplaene/ . 4 Der Englischunterricht beginnt in NRW in der 1. Klasse im zweiten Halbjahr. 60 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch Die Schülerinnen und Schüler entnehmen Äußerungen und Hörtexten bzw. Hörsehtexten, die auf vertrautem Wortschatz basieren, mit Unterstützung relevante Informationen, wenn die Gesprächspartner langsam und deutlich sprechen und bereit sind zu helfen (ibid., 77). Am Ende der Klasse 4 „verstehen [sie] Äußerungen und Hörtexte bzw. Hörsehtexte mit vertrautem Wortschatz und entnehmen ihnen auch Detailinformationen.“ Deutlich wird aus den Auszügen, dass das HSV als eine Form des Hörverstehens mit visueller Unterstützung betrachtet wird. Es wird auf Videos als Medium verwiesen und auf die Notwendigkeit, das Verstehen bzw. Sprachenlernen durch Visualisierung im Zusammenhang mit Gehörtem zu unterstützen. Das Verstehen bezieht sich auf relevante Informationen bzw. Detailinformationen, wobei der Wortschatz vertraut und die Sprechweise langsam und deutlich sein sollten. Lesend Informationen den bewegten Bildern entnehmen (z.B. den Namen eines Gebäudes identifizieren) und das Verstehen künstlerischer Darstellungen spielt in den Anforderungen für die Grundschule keine Rolle. Im Hinblick auf die Bedeutung des interkulturellen Lernens betont der Lehrplan für die Grundschule die Authentizität „als wesentliche Voraussetzung für das Verständnis fremder Kulturen und Lebensweisen“ (ibid., 74). „An diesem Anspruch müssen sich Themen, Situationen und vor allem Materialien messen lassen. In Frage kommen unterschiedliche Medien z.B. Kinderlieder, Kinderbücher und multimediale Materialien“ (ibid.). Hieraus kann abgeleitet werden, dass Hörsehversehen auch interkulturellem Lernen dienen soll und die Materialien entsprechend auszuwählen sind. Die Leistungsbewertung „bezieht sich auf alle Bereiche des Faches, wobei die Schwerpunkte Hörverstehen/ Hör-Sehverstehen, Leseverstehen und Sprechen vorrangig berücksichtigt werden.“ (ibid., 84). Sie stützt sich im Wesentlichen „auf die kriteriengeleitete Beobachtung“ im Unterricht. In der Klasse 3 und 4 werden in Klassenarbeiten „komplexe Leistungen des Faches überprüft“ (ibid.). Zudem können kurze schriftliche Arbeiten (max. 15 Minuten) eingesetzt werden, „z.B. in Form von Zuordnungs-, multiple choice-Aufgaben“ (ibid.). Außerdem wird betont, dass eine „umfassende Leistungsbewertung, die Ergebnisse und Prozesse gleichermaßen mit einbezieht (…). Dazu können Lerndokumentationen der Kinder wie Fachhefte, Lerntagebücher und Portfolios herangezogen werden“ (ibid.). Insgesamt lässt sich festhalten, dass im Lehrplan für die Englischlehrkräfte in der Grundschule keine spezifischen Hinweise zur Bewertung des Hörsehverstehens gegeben werden. Gegen eine Erfassung des Hörsehverstehens primär mit Hilfe einer kriteriengeleiteten Beobachtung durch den Lehrenden im Zuge des Unterrichts lässt sich zudem einwenden, dass weder die beim HSV ablaufenden Prozesse noch das jeweilige Produkt einer unmittelbaren Beobachtung zugänglich sind. Außerdem können bei einer unterrichtsintegrierten Beobachtung stets Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 61 nur wenige Lerner fokussiert werden. Nicht umsonst wird im Lehrplan auch auf den Einsatz geschlossener Aufgabenformate in Form kurzer schriftlicher Arbeiten verwiesen. 2.2. Kernlehrplan für die Hauptschule Englisch (NRW) In der Sekundarstufe I liegen in NRW für die erste Fremdsprache Lehrpläne für die folgenden Schulformen und Sprachen vor: Hauptschule (Englisch), Gesamtschule (Englisch), Realschule (Englisch) und Gymnasium (Englisch, Französisch) vor. Nachfolgend werden exemplarisch die Lehrpläne für Englisch für die Hauptschule und das Gymnasium analysiert. Im Lehrplan Englisch der Hauptschule (MSW NRW 2011) wird das HSV gemeinsam mit dem HV als eine der kommunikativen Kompetenzen genannt. Eine separate Beschreibung dieser Kompetenzen liegt nicht vor. Die Kompetenzerwartungen am Ende der Klasse 6 werden wie folgt beschrieben: „Die Schülerinnen und Schüler können altersgemäßen Äußerungen und Texten wichtige Informationen entnehmen, wenn diese sich auf Inhalte beziehen, die ihnen vertraut und in einfacher Standardsprache dargestellt sind, und wenn deutlich gesprochen wird“ (ibid., 16). Dies heißt u.a., dass sie „einfachen (auch authentischen) erzählenden Darstellungen, u.a. Hörszenen, Spielszenen, Filmszenen, kurzen Geschichten und altersgemäßen Sachtexten wesentliche Informationen entnehmen“ (ibid.) können. Am Ende der Klasse 8 können die „Schülerinnen und Schüler (…) Äußerungen und im Unterricht vorbereiteten Texten wichtige Informationen entnehmen, wenn deutlich gesprochen wird. Die Texte sind jugendgemäß und problemorientiert und vermitteln erste Einblicke in Berufswelten“ (ibid., 21). Im Einzelnen können sie u.a. „Hörtexten des Lehrwerks und weiteren authentischen Hörtexten und Filmszenen wichtige Informationen entnehmen (z.B. Werbespots, Videoclips mit reduzierten Hilfen), die Kernaussagen von einfachen, klaren Durchsagen und Mitteilungen verstehen (z.B. im Bahnhof)“ (ibid.). Am Ende der Klasse 10 werden folgende kommunikative Kompetenzen im Bereich HV und HSV erwartet: „Die Schülerinnen und Schüler können Äußerungen und Texten [sic! ] über Themen ihres Interessen- und Erfahrungsbereichs sowie Themen von gesellschaftlicher und beruflicher Bedeutung verstehen und dabei die Hauptaussagen und Einzelinformationen entnehmen, wenn deutlich gesprochen wird“ (ibid., 27). Sie sollen z.B. deutlich gesprochenen Hör- und Filmsequenzen wesentliche Informationen, u.a. Darstellung der Personen, Beziehungsstrukturen, Handlungsstränge entnehmen, medial vermittelten deutlich gesprochenen authentischen oder adaptierten Sachtexten wesentliche Informationen entnehmen, authentischen Alltagssituationen zentrale Informationen, ggf. auf Nachfrage, entnehmen (z.B. 62 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch Telefonaten, Gesprächen, Anleitungen), Beschreibungen von Arbeitsabläufen und -zusammenhängen im beruflichen Umfeld verstehen (ibid.). Der Umgang mit Texten und Medien stellt eine der methodischen Kompetenzen dar. Die Anforderungen berücksichtigen auch Prozesse des Hörsehverstehens. Dazu gehört u.a., dass die Schülerinnen und Schüler „einfache kurze Texte (…) mit Hilfe elementarer Erschließungstechniken dekodieren, u.a. durch Einbeziehen von Abbildungen oder Layout-Elementen, aus dem Internet bzw. Radio oder Fernsehen zusammenstellen und Bild- und Textinformationen in Beziehung setzen“ (ibid., 20). Einige Skalen aus dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR; Europarat 2001) finden sich im Anhang des Lehrplans, wobei Skalen zum HSV wie die Skala „Fernsehsendungen und Filme verstehen“ (ibid., 77) nicht aufgeführt werden. Lesend Informationen den bewegten Bildern entnehmen und das Verstehen der künstlerischen Darstellungen wird in den Anforderungen für die Hauptschule ebenfalls nicht explizit benannt. Allein die Aussage, dass die Schülerinnen und Schüler „wesentliche Informationen, u.a. Darstellung der Personen, Beziehungsstrukturen, Handlungsstränge entnehmen“ (ibid., 27) sollen, lässt Rückschlüsse auf die besondere Bedeutung zu, die der Visualisierung bzw. Kontextualisierung bei der Rezeption audio-visueller Texte zugeschrieben wird. Zu den interkulturellen Kompetenzen heißt es: „Die Schülerinnen und Schüler können den Alltag englischsprachiger Umgebungen erkunden und die gewonnenen Erkenntnisse mit der eigenen Lebenswelt vergleichen. Sie können im Umgang mit Texten und Medien zu den folgenden inhaltlichen Schwerpunkten Orientierungswissen aufbauen und nutzen (…)“ (ibid., 18). In welcher Weise audio-visuelle Texte einen Beitrag zur Realisierung dieser Ziele leisten können, wird nicht gesondert aufgeführt. Im Abschnitt „Lernerfolgsüberprüfung und Leistungsbewertung“ wird das HSV ebenfalls nicht einzeln aufgeführt, aber „im Sinne der Orientierung an Standards sind grundsätzlich alle in Kapitel 2 des Lehrplans ausgewiesenen Kompetenzbereiche (Kommunikative Kompetenzen, Interkulturelle Kompetenzen, Kompetenzen der Verfügbarkeit von sprachlichen Mitteln und Sprachbewusstheit, Methodische Kompetenzen) bei der Leistungsbewertung angemessen zu berücksichtigen. Dabei hat die produktive mündliche Sprachverwendung einen besonderen Stellenwert“ (ibid., 37). Im Hinblick auf die Wahl schriftlicher Aufgaben heißt es (ibid., 38): Rezeptive und produktive Leistungen sollen integrativ mit mehreren Teilaufgaben überprüft werden, die in einem thematisch-inhaltlichen Zusammenhang stehen. Bei der Leistungsüberprüfung können grundsätzlich geschlossene, halboffene und offene Aufgaben eingesetzt werden. Halboffene und ge- Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 63 schlossene Aufgaben eignen sich insbesondere zur Überprüfung der rezeptiven Kompetenzen. Sie sollten aber im Sinne der integrativen Überprüfung jeweils in Kombination mit offenen Aufgaben eingesetzt werden. HSV und HV werden als kommunikative rezeptive Kompetenzen verstanden (ibid., 11) und sollen mit halboffenen und geschlossenen, jedoch immer gemeinsam mit offenen Aufgabenformaten zur Überprüfung produktiver Kompetenzen (Sprechen, Schreiben) überprüft werden. Dies bedeutet, dass ein audio-visueller Text eher als Input oder Stimulus für eine weiterführende produktive Aufgabe gesehen wird und nur sehr eingeschränkt als eigenständiges Objekt unterrichtlicher Leistungsfeststellung. 2.3. Kernlehrplan für das Gymnasium Englisch (NRW) Im Lehrplan für das Fach Englisch am Gymnasium wird an den Lehrplan für die Grundschule angeknüpft; entsprechend wird das HSV gemeinsam mit dem HV als eine der kommunikativen Kompetenzen aufgeführt. Für das Ende der Jahrgangsstufe 6, wo das Niveau A2 des GeR erreicht werden soll, heißt es: „Die Schülerinnen und Schüler können einfach Äußerungen und Hörtexte bzw. Hör-Sehtexte verstehen, die sich auf Inhalte beziehen, die ihnen vertraut und die in einfacher Standardsprache dargestellt sind (MSW NRW 2007, 23). Ergänzt wird: „Sie können (…) adaptierten und einfachen authentischen Hörtexten und Filmausschnitten (u.a. Werbespots) wesentliche praktische Informationen entnehmen, einfache Geschichten und Spielszenen bezogen auf wesentliche Merkmale von Figuren und Handlungsablauf verfolgen“ (ibid.). Wie der Lehrplan für die Hauptschule wird der „Umgang mit Texten und Medien“ als eine der methodischen Kompetenzen eingeführt, der das Verstehen von Texten und deren Wirkung sowie das Produzieren eigener Texte umfasst. Am Ende der Klasse 8 ist das GeR-Niveau A2 mit Anteilen an B1 zu erreichen. Es wird im Hinblick auf Aussprache und Themen differenziert, und die Schülerinnen und Schüler können nun „Äußerungen und Hörtexten - auch mit einfach erkennbaren Aussprachevarianten - wichtige Informationen entnehmen, wenn deutlich gesprochen wird. Die Texte sind jugendgemäß und problemorientiert“ (ibid., 29). Im Bereich „Umgang mit Texten und Medien“ übersteigen die Erwartungen nur geringfügig die der Klasse 6 und werden um das Durchführen von Internetrecherchen und die Aufbereitung von Ergebnissen mit Textverarbeitungsprogrammen erweitert. Am Ende der Jahrgangsstufe 9 ist das GeR-Niveau B1 zu erreichen. Im Bereich HV und HSV können die Schülerinnen und Schüler „selbstständig und aufgabenbezogen die Hauptaussagen und Einzelinformationen entnehmen, wenn deutlich gesprochen wird. Die Texte sind jugendgemäß, problemorien- 64 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch tiert und behandeln auch Themen in komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen“ (ibid., 36). Sachtexte können authentisch oder adaptiert sein, und es kann sich z.B. um Fernsehnachrichten, Interviews und Diskussionen handeln. Im Bereich „Werte, Haltungen und Einstellungen“ findet sich zudem folgende Kompetenzerwartung, die auch für die Beschreibung des Hörsehverstehens von Bedeutung ist: „Die Schülerinnen und Schüler können (…) Sach- und Gebrauchstexte bezogen auf kulturspezifische Merkmale erläutern (u.a. Verwendung von Stereotypen)“ (ibid., 39). Die Beschreibung verlangt, dass die Lernerinnen und Lerner nicht nur Informationen entnehmen bzw. verstehen, sondern kulturspezifisches Wissen berücksichtigen. Unter den „Methodischen Kompetenzen“ wird nochmals das HV aufgeführt, allerdings nicht in Verbindung mit dem HSV sondern dem Leseverstehen. Im Umgang mit Texten und Medien können die Schülerinnen und Schüler u.a. „grundlegende Texterschließungsverfahren einsetzen, um die Wirkung von authentischen Texten zu erkunden“ sowie „den Einsatz besonderer inhaltlicher Muster und sprachlicher Mittel als absichtsvoll beschreiben“ (ibid., 42). Nicht eindeutig ist jedoch, ob sich diese Ausführungen auch auf audio-visuelle Texte beziehen - wie bereits bei den Beschreibungen für das Ende der Klasse 6 und 8. Eine Ausnahme ist folgende Aussage im Bereich Medienkompetenz: „Sie können (…) das Zusammenspiel von Sprache, Bild und Ton in einfachen Filmausschnitten beschreiben“ (ibid.). Dieser Deskriptor bezieht sich eindeutig auf die Besonderheiten audio-visueller Texte und erweitert die bisherigen Beschreibungen, die sich vorrangig auf das Entnehmen und Verstehen von Informationen aus Audiotexten beziehen. Im Abschnitt „Aufgabentypen“ finden sich Hinweise für eine „regelmäßige methodisch abgesicherte Überprüfung, ob und in welchem Umfang Schülerinnen und Schüler tatsächlich über die fachlichen Kompetenzen verfügen, die mit Bildungsstandards bzw. Kernlehrplänen vorgegeben sind“ (ibid., 44). Die Ergebnisse sollen Grundlage „zur gezielten Förderung von Schülerinnen und Schülern, zur Weiterentwicklung der Unterrichtsqualität und zur Beratung und Unterstützung von Schulen“ sein (ibid.). In Bezug auf das HV bzw. HSV werden die folgenden Aufgabentypten als geeignet angesehen (ibid., 45): Multiple-Choice-Aufgaben, Richtig-Falsch-Aufgaben - ggf. mit Begründung, Zuordnungsaufgaben, Schlüsselwörter und Thema identifizieren, Notizen anfertigen (mithilfe eines Rasters). Im letzten Abschnitt „Leistungsbewertung“ heißt es, dass „alle in Kapitel 3 des Lehrplans ausgewiesenen Bereiche (…) bei der Leistungsbewertung angemessen zu berücksichtigen“ sind (ibid., 46). Zu diesen zählt als eine der kommunikativen Kompetenzen auch das HSV. Wie im Lehrplan für die Hauptschulen sollen in Klassenarbeiten „rezeptive und produktive Leistungen mit mehreren Teilaufgaben überprüft werden, die in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen“ (ibid., 47). Zudem werden für die rezeptiven Kom- Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 65 petenzen halboffene und geschlossene Aufgaben als besonders geeignet betrachtet, wobei diese mit offenen Aufgaben kombiniert werden. „Der Anteil offener Aufgaben steigt im Laufe der Lernzeit, er überwiegt in den Jahrgangsstufen 8 und 9“ (ibid.). Insgesamt lässt sich aus den Ausführungen ableiten, dass das HSV vor allem mit schriftlichen Aufgaben überprüft werden soll. Dazu sollen geschlossene, halboffene und in der Mehrheit offene Aufgaben angeboten werden, die sich auf möglichst ein Thema beziehen. Unter „Sonstige Leistungen im Unterricht“ wird neben der kontinuierlichen unterrichtlichen Beobachtung und punktuellen Überprüfung einzelner Kompetenzen im Lehrplan für die Gymnasien - wie auch für die Grund- und Hauptschule - auf die Arbeit mit dem Europäischen Portfolio der Sprachen hingewiesen. Schließlich werden im Anhang einzelne Skalen aus dem GeR aufgeführt, wobei Skalen zum HSV wie im Lehrplan für die Hauptschulen fehlen. 2.4. Kernlehrplan für die Sekundarstufe II - Gymnasium/ Gesamtschule Englisch (NRW) Der Lehrplan für die Sekundarstufe II für das Fach Englisch in Nordrhein- Westfalen (MSW NRW 2013) klassifiziert HSV in Anlehnung an den GeR gemeinsam mit HV als eine funktionale kommunikative Kompetenz. Am Ende der Einführungsphase sollen sich die Schülerinnen und Schüler auf dem GeR- Niveau B1 mit Anteilen am Niveau B2 befinden, und sie können „Äußerungen und authentische Hörbzw. Hörsehtexte zu vertrauten Themen verstehen, sofern deutlich artikulierte repräsentative Varietäten der Zielsprache verwendet werden“ (ibid., 18). Im Unterschied zur Sekundarstufe I wird betont, dass die Schülerinnen und Schüler „zum Aufbau eines Textverständnisses textinterne Informationen und textexternes (Vor-)Wissen verknüpfen, wesentliche Einstellungen der Sprechenden erfassen, einen für ihr Verstehensinteresse geeigneten Zugang und Verarbeitungsstil (globales, detailliertes und selektives Hörbzw. Hörsehverstehen auswählen“ können (ibid.). Am Ende der Qualifikationsphase im Grundkurs wird erwartet, dass sich die Lerner auf dem Niveau B2 mit Anteilen von C1 befinden und komplexere Äußerungen und auch Stimmungen und Einstellungen der Sprechenden erfasst werden können (ibid., 28). Im Leistungskurs, in dem ebenfalls das Niveau B2 mit Anteilen von C1 erreicht werden soll, sollen neben den Stimmungen und Einstellungen auch die Beziehungen der Sprechenden erschlossen werden. Zudem sollen Hörbzw. Hörsehtexte auch dann verstanden werden, wenn „Hintergrundgeräusche oder die Art der Wiedergabe das Verstehen beeinträchtigen“ (ibid., 38). Im Abschnitt zur Text- und Medienkompetenz finden sich weitere Anforderungen für das Ende der Qualifikationsphase im Leistungskurs wie „Texte vor dem Hintergrund ihres spezifischen kommunikativen und kulturellen 66 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch Kontextes - vor allem Verfasserin/ Verfasser, Sprecherin/ Sprecher, Adressatin/ Adressat, Ort, Zeit, Anlass und Textsorte - differenziert verstehen“ (ibid., 44). Die Schülerinnen und Schüler sollen „Texte in Bezug auf Aussageabsicht, Darstellungsform und Wirkung, auch in ihrer kulturellen und historischen Bedingtheit, differenziert deuten und vergleichen; dazu berücksichtigen sie die Textsortenmerkmale sowie die Wechselbeziehungen und das Zusammenspiel von Inhalt und strukturellen, sprachlichen, graphischen, akustischen und filmischen Mitteln“ (ibid., 45). Schließlich sollen sie „Gehalt und Wirkungen von Texten vertiefend erschließend, indem sie eigene kreative Texte entwickeln und dabei gezielt ausgewählte Inhalts- oder Gestaltungselemente verändern oder die Darstellung ergänzen“(ibid.). Darunter kann das Verstehen und Anwenden der künstlerischen Gestaltung bzw. ästhetischen Wirkung audio-visueller Texte gefasst werden. Als audio-visuelle Textsorten werden Spielfilm, documentary/ feature und news genannt (ibid., 46). Die Beschreibungen zur interkulturellen kommunikativen Kompetenz enthalten keine expliziten Aussagen zu Texten bzw. zum HSV. Für die Überprüfung der Leistungen im Bereich HV bzw. HSV finden sich dagegen konkrete Ausführungen (ibid., 52-53). Es besteht die Wahl zwischen einer integrierten und einer isolierten Überprüfung. Ersteres meint die thematische und sprachliche Einbettung in eine komplexe Schreibaufgabe, wobei der „präsentierte Ausschnitt (…) in geeigneter Weise sprachlich (vor-) entlastet werden“ kann (ibid., 52). Für die isolierte Überprüfung soll auf halboffene oder geschlossene Aufgabenformate mit mehreren Teilaufgaben zurückgegriffen werden. Antworten müssen auf Englisch erfolgen. Für die Aufgaben werden folgende Textsorten aufgeführt: Radio-/ Fernseh-/ Internet-Mitschnitte aus Nachrichtensendungen, Interviews, Reden, Gesprächen, Diskussionen oder Hintergrundberichten sowie Ausschnitte z.B. aus Theaterproduktionen, Dokumentar- und Spielfilmen, Fernsehserien. Das Sprechtempo entspricht dem muttersprachlichen Niveau. Die Länge der Texte sowie die Darbietungshäufigkeit variieren und hängen „vom Schwierigkeitsgrad der Vorlage und der zu bearbeitenden Aufgabe ab“ (ibid., 53). 2.5. Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss und den Mittleren Abschluss Die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (KMK 2003, 2004) benennen HV und HSV in der Einleitung und in allen Deskriptoren gemeinsam. In den Beschreibungen (KMK 2003, 11-12) werden folgende Formate benannt: Gespräche, Vorträge, Interviews, Ankündigungen und Mitteilungen, Filme, Nachrichtensendungen, Radionachrichten und Tonaufnahmen sowie Fernsehsendungen. Einige werden in Bezug auf die Länge (z.B. „längere Gesprä- Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 67 che“, „kurze Vorträge“; KMK 2003, 11) - eher ungenau - spezifiziert. Das Verstehen bezieht sich auf „unkomplizierte Sachinformationen über gewöhnliche alltags- oder berufsbezogene Themen“ oder „konkrete Themen“. Französischlerner sollen auf dem Niveau B1/ B1+ in der Fremdsprache Aufnahmen zu „vertrauten Themen“, Englischlerner zu „Themen von persönlichem Interesse“ verstehen können. Verstehensleistungen, die sich auf ästhetische oder gestalterische Elemente bzw. interkulturelle Kompetenzen verlangen, werden nicht explizit benannt. Die Anforderungen zu den interkulturellen Kompetenzen enthalten explizit keinen Bezug zum HSV oder den Umgang mit Medien. Im Anhang der Bildungsstandards für die Erste Fremdsprache wird die Skala „Fernsehsendungen und Filme verstehen“ aus dem GeR (Europarat 2001, 77) aufgeführt, die Beschreibungen ab dem Niveau A2 enthält. Dort finden sich zwei Aussagen über das Verhältnis vom Bild zum Text. Die Hauptinformation kann verstanden werden, „wenn der Kommentar durch das Bild unterstützt wird“ (Niveau A2) und der Rezipient „kann vielen Filmen folgen, deren Handlung im Wesentlichen durch Bild und Aktion getragen wird“ (Niveau B1). Schließlich gibt es „als Grundlage für die Feststellung des Lernstandes“ (KMK 2003, 18) Aufgabenbeispiele zu allen kommunikativen Fertigkeiten. Für das HV bzw. HSV wird im Englischen ein Beispiel mit drei Teilaufgaben mit jeweils geschlossenen Formaten (Multiple-Choice, Lückentext für Kurzantworten, Ja-Nein-Entscheidungsfragen) aus dem Cambridge Preliminary English Test präsentiert. Der Input für alle drei Teilaufgaben ist allerdings ein Hörtext. Es handelt sich somit bei dem Beispiel um eine reine Hörverstehensaufgabe. Ähnliches gilt in Bezug auf das Französische. Dort wird das HSV bei den Aufgabenbeispielen allerdings nicht einmal erwähnt. 2.6. Bildungsstandards für das Abitur Auch die „Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife“ (KMK 2012) benennen HV und HSV als funktionale kommunikative Kompetenzen gemeinsam. Auf dem sogenannten „grundlegenden Niveau“ sollen die Schülerinnen und Schüler (ibid., 15) einem Hörbzw. Hörsehtext die Hauptaussagen oder Einzelinformationen entsprechend der Hörbzw. Hörseh-Absicht entnehmen, textinterne Informationen und textexternes Wissen kombinieren, in Abhängigkeit von der jeweiligen Hör-/ Hörseh-Absicht Rezeptionsstrategien anwenden, angemessene Strategien zur Lösung von Verständnisproblemen einsetzen, Stimmungen und Einstellungen der Sprechenden erfassen, gehörte und gesehene Informationen aufeinander beziehen und in ihrem kulturellen Zusammenhang verstehen. 68 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch Für das erhöhte Niveau werden zusätzlich das Verstehen impliziter Informationen sowie impliziter Einstellungen und Beziehungen zwischen Sprechenden verlangt. Zudem sollen im Englischen die Schülerinnen und Schüler Hauptaussagen oder Einzelinformationen auch bei Hintergrundgeräuschen oder beeinflusst durch die Art der Wiedergabe verstehen. Text- und Medienkompetenz wird nun als ein eigener Bereich ausgewiesen und als komplexe und integrative Kompetenz beschrieben (ibid., 12 bzw. 22), die „über die in den zugrunde liegenden funktionalen kommunikativen definierten Anforderungen hinaus[geht] (insbesondere im Vergleich zum Lese- und Hör-/ Hörsehverstehen)“ (ibid., 22). Sie wird wie folgt definiert (ibid., 23): Text- und Medienkompetenz ermöglicht das Verstehen und Deuten von kontinuierlichen und diskontinuierlichen - auch audio- und audiovisuellen - Texten in ihren Bezügen und Voraussetzungen. Sie umfasst das Erkennen konventionalisierter, kulturspezifisch geprägter Charakteristika von Texten und Medien, die Verwendung dieser Charakteristika bei der Produktion eigener Texte sowie die Reflektion des individuellen Rezeptions- und Produktionsprozesses. Die Bildungsstandards für das Abitur betonen ausdrücklich, dass alle Kompetenzbereiche - die funktionale kommunikative Kompetenz, interkulturelle kommunikative Kompetenz, Text- und Medienkompetenz, Sprachbewusstheit, Sprachlernkompetenz - in einem Zusammenhang stehen. Es wird an die Konzeption der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss angeschlossen. „Übernommen wird die funktionale kommunikative Kompetenz einschließlich dem Verfügen über sprachliche Mittel und erweitert um kommunikative Strategien. Die interkulturelle Kompetenz ist als interkulturelle kommunikative Kompetenz neu gefasst und positioniert“ (ibid., 12). In diesem Sinne stehen auch die interkulturelle kommunikative Kompetenz, das HSV als eine funktionale kommunikative Kompetenz sowie die Text- und Medienkompetenz in einem Zusammenhang. Die Anforderungen im Bereich interkultureller kommunikativer Kompetenz gelten zudem allgemein, d.h. es wird nicht nach grundlegendem und erhöhtem Niveau differenziert. Im Einzelnen heißt es für diese Kompetenz (ibid., 21): Die Schülerinnen und Schüler können in direkten und in medial vermittelten interkulturellen Situationen kommunikativ handeln. Dies bezieht sich auf personale Begegnungen sowie das Verstehen, Deuten und Produzieren fremdsprachiger Texte. Die Schülerinnen und Schüler greifen dazu auf ihr interkulturelles kommunikatives Wissen zurück und beachten kulturell geprägte Konventionen. Dabei sind sie in der Lage, eigene Vorstellungen und Erwartungen im Wechselspiel mit den an sie herangetragenen zu reflektieren und die eigene Position zum Ausdruck zu bringen. Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 69 Ein Deskriptor in diesem Bereich benennt konkret die Rezeption von Texten. Es wird von den Lernern erwartet, dass sie „fremdsprachige Texte und Diskurse in ihrer fremdkulturellen Dimension erfassen, deuten und bewerten“ (ibid., 22). Für die schriftliche Abiturprüfung kann im verpflichtenden Prüfungsteil „Schreiben“ ein audio-visueller Text Vorlage bzw. Input für eine Schreibaufgabe sein. Im weiteren Prüfungsteil kann auch eine Aufgabe speziell zur Überprüfung des Hör-Sehverstehens angeboten werden. Geeignet sind „z.B. Ausschnitte in der Zielsprache aus aufgezeichneten Theaterproduktionen, aus Dokumentar- und Spielfilmen, Fernsehserien, Mitschnitte aus Nachrichtensendungen, Talkshows, Diskussionen, Trailer, Reden, Interviews“ (ibid., 33). Die Länge sollte fünf Minuten nicht überschreiten, die Anzahl der Präsentationen kann variieren, muss jedoch angegeben werden. Es sollte eine thematische Einbettung vorgenommen werden und es kann „sprachlich (vor- )entlastet werden“ (ibid.). Aufgabenformate werden im Abschnitt zum HV, nicht jedoch speziell im Hinblick auf das HSV benannt. Im Weiteren finden sich Prüfungs- und Lernaufgaben. Keine der illustrierenden Prüfungsaufgaben verwendet einen audio-visuellen Text. Eine Lernaufgabe für das Fach Französisch setzt als optionale Teilaufgabe einen Werbefilm ein, der mindestens zweimal gesehen werden soll. Die Schülerinnen und Schüler sollen (zunächst) für jede Szene aufschreiben, was passiert, wobei jeweils zur Erinnerung bzw. für die Zuordnung eine Abbildung präsentiert wird. Anschließend sollen sie detailliert einen Aspekt des Videos schriftlich analysieren (ibid., 351ff.). Der Werbespot fungiert damit in erster Linie als Anlass für eine Schreibaufgabe. 2.7. Zwischenfazit Für Lehrkräfte, die Englisch oder Französisch an allgemeinbildenden Schulen unterrichten, stellen die Lehrpläne und Bildungsstandards die rechtliche Grundlage für die Vermittlung und Überprüfung der jeweils angezielten Kompetenzen dar. In allen Dokumenten wird das HSV gemeinsam mit dem HV genannt und nicht als eine eigenständige Kompetenz betrachtet. Die Anforderungen beziehen sich in der Grundschule und in der Sekundarstufe I vor allem auf das Verstehen von gehörten Informationen, der visuelle Input dient als Unterstützung. Für das Ende der Klasse 10 in der Hauptschule enthalten die Beschreibungen erstmals Anforderungen, die auch das Bild einbeziehen wie die Darstellung oder Beziehung der Personen. Eingeführt wird zudem in den Lehrplänen der Sekundarstufe I als methodische Kompetenz der „Umgang mit Texten und Medien“. In den Bildungsstandards für die Erste Fremdsprache wird dagegen der „Umgang mit Texten und Medien“ nicht explizit 70 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch als Teilkompetenz genannt. Allerdings finden sich unter „Methodische Kompetenzen“ Hinweise zur Textproduktion und Textrezeption. Im Lehrplan für die Sekundarstufe II wird die „Text- und Medienkompetenz“ als eigenständige Kompetenz definiert und beinhaltet neben dem Verstehen auch die Produktion von Texten. In diesem Anforderungsbereich werden auch das Verstehen der Gestaltung und Wirkung von Medien benannt. In den Bildungsstandards für das Abitur wird diese Kompetenz ebenfalls beschrieben und betont, dass die erforderlichen Leistungen über die des Hörsehverstehens und anderer funktionaler kommunikativen Kompetenzen hinausgehen. Anforderungen an Text- und Medienkompetenz - und damit auch die explizite Erwähnung des Verstehens visueller Gestaltungsmittel - werden erstmals im Lehrplan für die Hauptschülerinnen und -schüler ab Klasse 9 formuliert. Hier stellt sich die Frage, ob es im Sinne einer Progression gedacht ist, dass bis dahin audio-visuelle Texte vorrangig wie Hörtexte mit Bildunterstützung behandelt werden sollen. Im Lehrplan für die Sekundarstufe II wird zudem das erste Mal explizit betont, dass externes bzw. kulturspezifisches Wissen zum Verstehen von Texten herangezogen werden muss. Für Lernende in allen Schulstufen wird die Bedeutung der Ausbildung interkultureller Kompetenzen benannt, jedoch wird auf den Zusammenhang mit dem Hör-Sehverstehen bzw. dem Umgang mit Texten nicht oder selten explizit verwiesen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die betrachteten Lehrpläne und Bildungsstandards das HSV durchgängig gemeinsam mit dem HV beschreiben. Dies bedeutet allerdings nicht, dass HSV allein als „Variante“ des HV betrachtet wird. Die in den Lehrplänen ab Klasse 9 genannten Anforderungen zur Text- und Medienkompetenz berücksichtigen auch die Analyse und Interpretation statischer und bewegter Bilder im Sinne der Filmdidaktik (cf. Thaler 2007; 2012, Kap. 2). Interkulturelle Kompetenzen werden in allen betrachteten Curricula und Standards als relevant für das Erlernen von Fremdsprachen gesehen, und es wird der Zusammenhang zwischen interkulturellen und funktionalen kommunikativen Kompetenzen betont. Allerdings bleibt aufgrund der wenigen konkreten Bezüge zum HSV offen, welche Bedeutung die interkulturellen Kompetenzen für das Verstehen audio-visueller Texte haben. Die Beschreibungen erlauben zudem keine eindeutige Zuordnung zum Konzept „visual literacy“, welches die Kulturgebundenheit von Bildern - und in der Folge die Notwendigkeit der Kenntnis von Visualisierungs- und Deutungskonventionen eines Landes bzw. einer Kultur - betont (cf. Hecke 2010). Im Hinblick auf eine gezielte Überprüfung audio-visueller Kompetenzen anhand nicht-integrativer Aufgabenstellungen sind eigenständige Beschreibungen bzw. Anforderungsbereiche zum „Hörsehverstehen“ und „Hörverstehen“ gerechtfertigt. In den Lehrplänen von NRW und den Bildungsstandards der KMK soll HSV in Bezug auf die Leistungsfeststellung analog zum HV behandelt werden. Konkrete Hinweise für Aufgaben zum HSV fehlen allerdings. Das Gleiche gilt in Bezug auf spezifische Komponenten der Text- Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 71 und Medienkompetenz, die zusätzlich zum HV bzw. HSV sowie Leseverstehen als weitere Kompetenz vermittelt werden soll. Ebenso fehlen Aufgaben, die ausschließlich das Sehverstehen überprüfen sollen, z.B. in Form des Lesens von Einblendungen bei Nachrichten, von Untertiteln oder von Beschriftungen im Bild oder auch des Erfassens des visuell wahrnehmbaren Settings oder des Deutens von nonverbalen Kommunikationselementen in Bildern. Aus den aktuell vorliegenden Deskriptoren - insbesondere zur Text- und Medienkompetenz - ließe sich höchstens implizit ableiten, dass entsprechende Aufgaben als Lern- und Testaufgaben im Unterricht eingesetzt werden können. Aufgaben, in denen es um Spezifika der Gestaltung von bewegten Bildern geht, müssen dagegen ab Klassenstufe 9 aufgrund der Beschreibungen in den Standards und Lehrplänen im Unterricht eingesetzt werden. Als Beispiel für Aufgabenformate zur Überprüfung von HV bzw. HSV werden in den Lehrplänen insbesondere geschlossene und halboffene Formate genannt. In der Sekundarstufe I sollen diese immer in Verbindung mit offenen produktiven Aufgaben zur Leistungsbewertung herangezogen werden. Die Lehrpläne für das Gymnasium bzw. die Gesamtschule und die Bildungsstandards für das Abitur unterscheiden dagegen zwei Varianten: ein audio-visueller Text stellt den Input einer Schreibaufgabe dar (integrierte Aufgabenstellung und Überprüfung) oder das Verstehen selbst wird mit Hilfe halboffener und geschlossener Teilaufgaben überprüft (isolierte Überprüfung). Als maximale Länge wird für eine Abituraufgabe fünf Minuten vorgegeben. Beispiele für Lernoder Testaufgaben zum Konstrukt HSV sind kaum vorhanden, so dass entweder auf die Beispielaufgaben zum HV zurückgegriffen werden muss, die allerdings die Komponente des Sehverstehens unzureichend illustrieren, oder auf Veröffentlichungen der Schulbuchverlage, Hinweise aus der Fachdidaktik oder andere Tests zur Überprüfung fremdsprachlicher Leistungen. Forschungsbefunde zur Frage der empirischen Trennbarkeit des Hörverstehens und Hörsehverstehens Selbst in den Bildungsstandards für das Abitur wird die gemeinsame Darstellung des Hörverstehens und des Hörsehverstehens ergänzt durch Beschreibungen relevanter Aspekte audio-visueller Kompetenzen in den Bereichen Text- und Medienkompetenz sowie interkulturelle kommunikative Kompetenz. Im Hinblick auf die Unterrichtspraxis wäre jedoch für Lehrerinnen und Lehrer eine getrennte, tiefer gehende Darstellung von HV und HSV wünschenswert. Diese Forderung kann auch durch zahlreiche weitere Konzeptu- 72 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch alisierungen des Hörsehverstehens (cf. Reimann 2016 in diesem Band) begründet werden. Insbesondere die visuellen Verstehensleistungen konstituieren danach das Konstrukt HSV in Abgrenzung zum reinen HV. Neben praktischen und theoretischen Überlegungen können auch empirische Untersuchungen eine Begründung für die Trennung von HV und HSV in zwei verschiedene Konstrukte liefern. Wenn z.B. L2-Lernern Aufgaben zur Prüfung beider Kompetenzen vorgelegt werden, sollte es im Fall psychologisch unterschiedlicher Konstrukte statistisch nur einen relativ geringen Zusammenhang zwischen den Werten aus dem HV-Test und dem HSV-Test geben. Kein feststellbarer Zusammenhang ist nicht anzunehmen, da beide Konstrukte u.a. auditive Rezeptionsleistungen verlangen. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu berücksichtigen, dass metrische Mehrdimensionalität zwar eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für die qualitative Unterschiedlichkeit der bei der Lösung einer Aufgabe involvierten Kompetenzen ist. Konkret bedeutet dies, dass auch im Fall hoch korrelierter Leistungsdaten aus HV- und HSV-Tests die jeweils zugrundeliegenden kognitiven Kompetenzen durchaus unterschiedlich sein können (cf. Porsch/ Grotjahn/ Tesch 2012, 51f., Schnotz et al. 2010, 144, Schroeders/ Wilhelm/ Bucholtz 2010, 563). Es gibt eine Reihe von empirischen Untersuchungen zur Trennbarkeit der Konstrukte HV und HSV im L2-Kontext (cf. für einen Überblick u.a. Porsch/ Grotjahn/ Tesch 2010, Wagner 2010). Zur Untersuchung der Frage können u.a. folgende Designs verwendet werden: (1a) Ein-Gruppen-Design mit unterschiedlichen Aufgaben. 5 Hier bekommen dieselben Personen unterschiedliche HV- und HSV-Aufgaben und die Testergebnisse werden anschließend miteinander verglichen. Die Reihenfolge der Aufgabendarbietung erfolgt zufällig und ist ggf. systematisch kontrolliert (z.B. um Reihenfolgeeffekte zu verringern). D.h. bei einer Paper-Pencil-Testung werden verschiedene Testheftversionen zur Verfügung gestellt oder der Computer bzw. eine Software wählt zufällig die Aufgaben aus dem gesamten Aufgabenpool aus. Die Zufallszuordnung von Aufgaben kann allerdings nur erfolgen, wenn dazu die technischen Möglichkeiten vorliegen (z.B. individuelles Abspielen der Audiotexte bzw. audio-visuellen Texte in einem Computerlab oder in verschiedenen Räumen). Da es sich um unterschiedliche Aufgaben handelt, kann allerdings bei Anwendung dieses Designs nicht eindeutig geklärt werden, worauf die (ggf. unterschiedlichen) Ergebnisse zurückzuführen sind. Zudem ist eine relativ lange Testzeit notwendig, um mit einer ausreichenden Anzahl an Aufgaben zu reliablen Ergebnissen in den Teilbereichen zu gelangen. (1b) Ein- 5 „Unterschiedlich“ meint, dass sich HV- und HSV-Aufgaben über die interessierenden Modalitätsdifferenzen hinaus auch in Bezug auf die verwendeten Input-Materialien und Items unterscheiden. „Gleich“ heißt, dass lediglich Modalitätsdifferenzen vorliegen. Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 73 Gruppen-Design mit gleichen Aufgaben. Die gleichen Personen bekommen gleiche bzw. adaptierte HV- und HSV-Aufgaben (z.B. in einem zeitlichen Abstand), anschließend werden die Testergebnisse verglichen. Auch hier kann eine zufällige (jedoch systematische) Verteilung von Aufgaben zu Probanden oder Probandengruppen erfolgen. Problematisch ist, dass es sich um die gleichen Aufgaben handelt, so dass die Testpersonen sich möglicherweise Antworten merken. (2a) Mehrgruppen-Design mit unterschiedlichen Aufgaben. Personen oder Personengruppen bekommen unterschiedliche HVbzw. HSV- Aufgaben und die Ergebnisse werden verglichen. Die Zuordnung der Testpersonen zu den zwei Modalitäten bzw. Testteilen erfolgt zufällig. Die Vergleichbarkeit wird hergestellt über eine Zufallszuweisung der Personen zu den Bedingungen oder über die Berücksichtigung relevanter Merkmale bei den statistischen Analysen (z.B. in Form von Kovarianzanalysen). Innerhalb jeder Gruppe kann die Reihenfolge der Aufgaben variieren, um Reihenfolgeeffekte zu verringern, d.h., es können für jede „Modalität“ zwei oder mehr Testheftversionen vorliegen, die sich durch die Reihenfolge der Aufgaben unterscheiden. Wichtig ist, dass sich die Testpersonen nicht in relevanten Merkmalen unterscheiden bzw. dass eventuelle Unterschiede in der Auswertung berücksichtigt werden. Wie im Fall von Design 1a gibt es wegen der unterschiedlichen Aufgaben Interpretationsprobleme bei den Ergebnissen. 6 (2b) Mehrgruppen-Design mit gleichen Aufgaben. Personen oder Personengruppen bekommen zufällig HVbzw. HSV-Aufgaben, die den gleichen auditiven bzw. visuellen Input besitzen, und die Ergebnisse werden verglichen. Die Testpersonen dürfen sich nicht in relevanten (anderen) Merkmalen unterscheiden. Innerhalb jeder Gruppe kann die Reihenfolge der Aufgaben variiert werden. Eine besondere Herausforderung liegt in der Aufgabenkonstruktion bzw. -adaption. Denkbar sind drei Gruppen mit folgenden Aufgabenvarianten: Eine Gruppe hört lediglich den auditiven Input, eine Gruppe rezipiert den audio-visuellen Input und eine weitere Gruppe sieht lediglich die Bilder. In einer Studie der Autoren dieses Beitrags zur empirischen Trennbarkeit des Hörverstehens und des Hörsehverstehens (cf. Porsch/ Grotjahn/ Tesch 2010) wurde das letztgenannte Design gewählt: 156 Französischlerner der Klassenstufe 9 wurden per Zufall den Untersuchungsbedingungen HV und HSV zugewiesen. Aus schulorganisatorischen Gründen konnte allerdings keine Zuweisung einzelnen Schüler, sondern lediglich von Schulklassen erfolgen (ibid., 164). In der Gruppe HSV wurden den Probanden audio-visuelle Dokumente mit bewegten Bildern (Videos), in der Gruppe HV die gleichen 6 Einer Variationsmöglichkeit des Mehrgruppendesigns (2a) bzw. einer Variante des Ein- Gruppen-Designs (1a) bedienten sich Schroeders et al. (2010). Allen Probanden wurden Aufgaben zu allen getesteten Modalitäten präsentiert. Die zwei Gruppen unterscheiden sich lediglich durch die Reihenfolge der Aufgabenblöcke (HV, danach HSV bzw. vice versa (sog. within-subject-design). 74 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch Dokumente ohne Bild präsentiert. Beide Gruppen erhielten identische Hörverstehensitems zu den Inputmaterialien. Die Vergleichbarkeit der beiden Gruppen in Bezug auf die relevante Variable „Hörverstehenskompetenz“ wurde anhand eines Prätests mit normierten Hörverstehensitems nachgewiesen. Die statistischen Analysen zeigten, dass die HSV-Gruppe insgesamt signifikant und bedeutsam besser abschnitt als die HV-Gruppe. Eine Schlussfolgerung ist, dass die Mehrzahl der Bilder den Rezipienten geholfen hat, die Items richtig zu lösen. Da der Verstehensprozess der Rezipienten u.a. durch eine Interaktion von Item- und Dokumentmerkmalen bestimmt wird, wurden die Videos unter Berücksichtigung der kognitiven Anforderungen der Items dahingehend analysiert, ob die Bildinformationen eine Hilfe für das Lösen der Items darstellen oder nicht, z.B. weil das Bild explizite Informationen liefert, die Kontextualisierung das Verstehen erleichtert oder vom Hörtext ablenkt. Die Hypothesen konnten weitestgehend bestätigt werden (cf. die ausführliche Besprechung in Porsch/ Grotjahn/ Tesch 2010). Ein Fazit aus dieser Untersuchung und auch aus anderen empirischen Studien ist, dass Bildmaterial nicht grundsätzlich Fremdsprachenlernern eine Unterstützung bietet, sondern im Gegenteil sogar ablenkend oder auch redundant sein kann. Für die Konzeption von Aufgaben zu audio-visuellen Texten stellt sich die wichtige Frage, wann und warum audio-visueller Input zu einem besseren Verstehen als der auditive Input ohne das Bild führen kann. Wagner (2010, 508) hat in seiner Untersuchung die Items in Kombination mit dem Input analysiert und kommt zu folgendem Ergebnis: … of the 12 items on which the video group scored at least 10% higher, four can be interpreted as having been easier for the video group to answer because of the utilization of gestures in the video text, and two can be interpreted as having been easier to answer because of the utilization of photographs in the video text. For the remaining six items, no substantive reason can be offered as to why the test-takers in the video group might have been better able to answer these specific items. Wagner (2010, 509) betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit nonverbaler Kommunikationsmittel für das Verstehen in einer Vielzahl von Kontexten und betrachtet die entsprechende Fähigkeit als Bestandteil pragmatischer Kompetenz im Sinne von Bachman/ Palmer (1996). Verschiedene Studien haben gezeigt, dass es im Fall einer unzureichenden Passung von Ton und Bild leicht zu einer validitätsmindernden Informationsüberlastung auf Seiten des Rezipienten kommen kann. Andere Studien fanden dagegen statistisch signifikante Unterschiede zugunsten der L2-Lerner, die Items zu Hörsehverstehens-Stimuli zu beantworten hatten. Insgesamt divergieren somit die Befunde im L2-Kontext in Bezug auf die Frage, ob (zusätzlicher) visueller Input in Form von statischen oder bewegten Bildern zu höheren Testleistungen oder einem höheren Lernzuwachs führt (cf. für einen Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 75 Überblick über entsprechende Untersuchungen seit den 1980-er Jahren Cubilo/ Winke 2013, Jing 2010, Porsch/ Grotjahn/ Tesch 2010, Suvorov 2011, 2013, Wagner 2010, 2013). Ursache für die Divergenzen sind u.a. Unterschiede in den experimentellen Bedingungen (z.B. Art des Bildmaterials), in der Wahl der Probanden und in den Auswertungsmethoden. Feststellung von Hörsehverstehensleistungen im Fremdsprachenunterricht Leistungsfeststellung im Fremdsprachenunterricht kann unterschiedliche Funktionen haben. Unterschieden werden kann u.a. die diagnostische Funktion, die Rückmeldefunktion, die Berechtigungsfunktion, die erzieherische Funktion sowie die Fundierung und Überprüfung bildungspolitischer Entscheidungen (cf. Grotjahn 2008, Grotjahn/ Kleppin im Druck). In diesem Zusammenhang findet sich z.B. im Kernlehrplan Englisch für die Sekundarstufe I (Gymnasium, G8) in NRW die folgende Aussage: Zu den Prinzipien eines modernen Schulsystems, das Schulen mehr Verantwortung für die Gestaltung von Unterricht einräumt, gehört die regelmäßige methodisch abgesicherte Überprüfung, ob und in welchem Umfang Schülerinnen und Schüler tatsächlich über die fachlichen Kompetenzen verfügen, die mit Bildungsstandards bzw. Kernlehrplänen vorgegeben sind. Die Ergebnisse dieser Überprüfungen sind Grundlagen für Maßnahmen zur gezielten Förderung von Schülerinnen und Schülern, zur Weiterentwicklung der Unterrichtsqualität, zur Beratung und Unterstützung von Schulen, die Schwierigkeiten haben, die vorgegebenen fachlichen Standards zu erfüllen (MSW NRW 2007, 44). In den Lehrplänen wird in den Kapiteln zur Leistungsbewertung vor allem auf die Berechtigungs- und die Rückmeldefunktion Bezug genommen, wobei die beiden Funktionen als komplementär gesehen werden. So heißt es z.B. im genannten K ernlehrplan: „Die Beurteilung von Leistungen soll mit der Diagnose des erreichten Lernstandes und individuellen Hinweisen für das Weiterlernen verbunden werden“ (ibid., 46). Die Informationen aus den Überprüfungen sollen den Lehrerinnen und Lehrern ein Anl ass sein, „die Zielsetzungen und die Methoden ihres Unterrichts zu überprüfen und ggf. zu modifizieren. Für die Schülerinnen und Schüler sollen sie eine Hilfe für weiteres Lernen darstellen“ (ibid.). Benannt werden für die Grundschule und Sekundarstufe I zum HV bzw. HSV primär halboffene und geschlossene Aufgabenformate, wobei der Anteil der offenen Aufgabenformate kontinuierlich steigen soll. Zudem wird nach der Grundschule in allen Lehrplänen sowie in den Standards für das Abitur die Unterscheidung getroffen, ob ein audio-visueller Text Stimulus für eine 76 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch Schreibaufgabe ist oder die Grundlage für eine isolierte Überprüfung von Verstehenskompetenzen darstellt. Schließlich werden im Lehrplan für die Grundschule und Sekundarstufe I neben der formalisierten Überprüfung der Leistungen auch weitere Arten der Leistungsfeststellung benannt, wie z.B. die kriteriengeleitete Beobachtung mündlicher Leistungen im Unterricht, oder auch Verfahren, die Lerner stärker in den Mittelpunkt rücken wie z.B. das Führen eines Portfolios oder eines Lerntagebuches. Im Folgenden soll der Fokus auf der an standardisierten Verfahren orientierten schriftlichen Leistungsfeststellung des Hörsehverstehens im fremdsprachlichen Kontext liegen. Dabei orientieren wir uns am chronologischen Ablauf von der Definition des Testkonstrukts bis zur Rückmeldung der Leistungen an die Lerner. 7 Für alle kommunikativen (rezeptiven) Kompetenzen gilt, dass das erfolgreiche Verstehen von Informationen in einer Fremdsprache nicht allein von der Kodierungsform der Information abhängt, sondern vom Sprachstand und anderen Merkmalen der Rezipienten sowie von der Art der geforderten kognitiven Leistung (z.B. Detail- oder Globalverstehen). Vor dem Messen einer Leistung (aber auch vor der Vermittlung einer Kompetenz) bedarf es einer möglichst genauen Konstruktdefinition (Was möchte ich mit dem Test genau messen? ). Hierzu sei auf das Kapitel 2 bzw. die Lehrpläne und Bildungspläne verwiesen, die Beschreibungen und Anforderungen für verschiedene Niveaubzw. Klassenstufen formulieren. Im Anschluss an die Konstruktdefinition erfolgt die Operationalisierung des Konstrukts bzw. der Kompetenz, d.h. es muss festgelegt werden, welche Art von Aufgaben zur Messung eingesetzt werden sollen. In den Lehrplänen werden alle gängigen Formate - offene, halboffene und geschlossene - benannt. Schließlich erfolgt die Aufgabenentwicklung oder -auswahl. Als Stimuli eignen sich Videos (z.B. aus dem Internet) bzw. Ausschnitte aus Filmen oder Fernsehsendungen. Die Dokumente sollten eher kurz sein, um eine kognitive Überlastung bzw. Überforderung des Arbeitsgedächtnisses zu vermeiden. Insbesondere wenn Aufgaben nicht selbst entwickelt werden, sondern aus bereits vorhandenen Tests bzw. Materialien ausgewählt werden, ist zu prüfen, ob die Aufgaben mit den Inhalten und Methoden des Unterrichts übereinstimmen (Stichwort Washback-Effekt, cf. Porsch 2014, 88). Die Herausforderung besteht schließlich in der Itementwicklung bzw. Formulierung von Fragen oder Aussagen zu den Inhalten des Hörseh-Dokuments. Die kognitiven Anforderungen der Items sind dabei stets auch im Hinblick auf die Charakteristika des eingesetzten Bildmaterials zu beurteilen - so 7 Für eine allgemeine Einführung in Tests und deren Entwicklung bzw. Auswahl im schulischen Kontext sei z.B. auf Grotjahn (2008) oder Porsch (2014) verwiesen. Die zur Testentwicklung im schulischen Kontext notwendigen Kompetenzen werden in Grabowski/ Dakin (2014) beschrieben. Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 77 z.B. bezüglich der Salienz (perzeptuellen Auffälligkeit) bestimmter Bildinformationen (cf. Diekmannshenke/ Klemm/ Stöckl 2011, Domínguez Romero/ Maíz Arévalo 2010, Große 2011). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen sogenannten situationsbezogenen Visualisierungen (context visuals) und inhaltsbezogenen Visualisierungen (content visuals). Situationsbezogene Visualisierungen von Interaktionen liefern z.B. Informationen zu den Sprechern und erleichtern damit die Zuordnung der Stimmen zu den jeweiligen Personen. Inhaltsbezogene Visualisierungen können unterschiedliche Funktionen haben: Sie können z.B. das Audiomaterial (weitgehend) replizieren, illustrieren, strukturieren oder auch ergänzen (cf. Suvorov 2011, 3). Weiterhin ist im Hinblick auf den jeweiligen Effekt der Visualisierung wichtig, ob einzelne Standbilder, eine Folge von Standbildern oder Videos eingesetzt werden, wobei Wechselwirkungen u.a. mit der Textsorte (z.B. mündliche Interaktion zwischen mehreren Sprechern vs. Vorlesung), der Itemposition (vor oder nach dem Hörsehdokument) und der Möglichkeit der Anfertigung von Notizen (note-taking) festgestellt wurden (cf. die Hinweise in Cross 2011, Cubilo/ Winke 2013, Suvorov 2011, 2013, Wagner 2010, 2013). Eine Forderung aus dem Lehrplan für die Hauptschule Englisch verweist jedoch auf Unterschiede zwischen der Leistungsmessung im unterrichtlichen Kontext und Anforderungen, die üblicherweise an standardisierte Leistungstests im außerunterrichtlichen Kontext gestellt werden. Dort heißt es: „Rezeptive und produktive Leistungen sollen integrativ mit mehreren Teilaufgaben überprüft werden, die in einem thematisch-inhaltlichen Zusammenhang stehen“ (MSW NRW 2011, 38). Aus der Sicht von Entwicklern standardisierter Schulleistungstests stellt sich die Frage, ob eine solche schriftliche Arbeit, in der die Aufgaben sich auf einen sehr begrenzten Themenkomplex beziehen und zudem nicht unabhängig voneinander sind, hinreichend reliabel und valide misst und zudem hinreichend fair für die Schülerinnen und Schüler ist. Eine Herausforderung für die Lerner kann auch der Wechsel der Aufgabenformate darstellen. Schließlich benennt der Lehrplan, dass zunehmend auch offene Aufgaben eingesetzt werden sollen. In diesem Fall überprüft man jedoch zugleich die Schreibkompetenzen der Lerner, so dass für die Schülerinnen und Schüler, aber vor allem für die Lehrkräfte nicht eindeutig ist, auf welche spezifischen Kompetenzdefizite fehlende oder unzureichende Antworten zurückzuführen sind. Technisch gesprochen führt damit ein solches, integriertes Aufgabenformat, wie es z.B. auch im relativ neuen TOEFL iBT verwendet wird, zum Problem einer sogenannten konfundierten Messung. Wie bereits im Zusammenhang mit der Konstruktdefinition angedeutet, muss für jedes Item vorher festgelegt werden, was genau verstanden werden soll (z.B. Global- oder Detailverstehen). Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei das Verhältnis von Text und Bild erhalten. Fragen wie „Kann das Item auch ohne das Bild verstanden werden? “ oder „Unterstützt bzw. ermöglicht 78 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch das Bild die Lösung des Items oder lenkt es eher von einer adäquaten Lösung ab? “ können helfen, um geeignete Items zu verfassen oder auszuwählen. Häufig zeigt eine Analyse von verfügbaren Aufgaben zu audio-visuellen Texten, dass Items, die sich ausschließlich auf visuelle Aspekte beziehen (z.B. dem Verstehen von Einblendungen oder nonverbalen Kommunikationsmitteln) weitgehend oder sogar völlig fehlen. Das Verstehen von auditiven Texten trotz redundanter Informationen oder Ablenkungen kann auf einem höheren Sprachniveau erwartet werden, allerdings ist zu bedenken, dass erst auf dem Niveau B2 bzw. C1 solch eine Leistung verlangt wird. So heißt es im Lehrplan für das Gymnasium, dass „Hintergrundgeräusche oder die Art der Wiedergabe das Verstehen beeinträchtigen“ können (MSW NRW 2013, 38). Im GeR wird zum Hörverstehen erst für das Niveau B2 der Hinweis gegeben, dass „nur extreme Hintergrundgeräusche, unangemessene Diskursstrukturen oder starke Idiomatik (…) das Verständnis [beeinträchtigen]“ (Europarat 2001, 71). Da sich alle Aufgabenbeispiele lediglich auf die auditive Modalität beziehen, bleibt offen, ob auch für audio-visuelle Texte diese Anforderungen gestellt werden können. Weiterhin ist in Bezug auf die Formulierung von Items und Auswahl der audio-visuellen Texte zur Messung des Konstrukt HSV die wichtige Frage zu klären, welchen Stellenwert interkulturelle und ästhetische Kompetenzen haben: Sollen die Lerner Deutungen hinsichtlich der künstlerischen Ausgestaltung vornehmen? Ist die Darstellung spezifisch auf die Fremdsprache bzw. den interkulturellen Kontext bezogen? In diesem Zusammenhang ist auch zu diskutieren, wie viel Weltwissen bzw. kulturspezifisches Wissen die Ersteller eines Tests voraussetzen sollten und inwieweit dieses Wissen zum Testkonstrukt gehört. Schließlich muss entschieden werden, wie häufig den Lernern das Text- Bildmaterial im Rahmen einer Testung dargeboten wird. Aspekte wie Authentizität, Testgütekriterien und Lernerniveau sollten bei der Entscheidung berücksichtigt werden. Viele Argumente sprechen für die in zahlreichen Sprachtests zum Hörverstehen übliche zweimalige Darbietung (cf. Grotjahn 2012, 80-81, Grotjahn/ Tesch 2010, Wagner 2014, 59), wobei allerdings die Lehrpläne und Bildungsstandards für das Abitur die Darbietungshäufigkeit von der Schwierigkeit bzw. Art der Aufgabe abhängig machen. In diesem Zusammenhang wird häufig die Authentizität einer mehrmaligen Rezeption diskutiert bzw. als Argument angeführt (z.B. einmalige Darbietung für Bahnhofsdurchsagen). Zugunsten einer durchgängig zweimaligen Darbietung spricht dagegen u.a. die besondere Bearbeitungssituation im Rahmen eines Tests. Nach der Testdurchführung stellt sich die Frage, in welcher Form die Lerner eine Rückmeldung erhalten. Die Sprachlehrer haben zudem die Aufgabe, die Ergebnisse didaktisch zu evaluieren und ggf. Konsequenzen für die Un- Konzeptualisierung des Hörsehverstehens 79 terrichtsplanung zu ziehen. Bei der erstmaligen Verwendung eines entwickelten Tests könnte den Lernern die Möglichkeit der Rückmeldung zum Test gegeben werden. Eine solche Befragung, z.B. zu Schwierigkeiten beim Verstehen einzelner Aufgaben, kann wiederum ein Lernanlass darstellen, indem über Strategien der Verarbeitung gesprochen wird. Die aufgeführte Beschreibung zur Messung des Hörsehverstehens von der Konstruktdefinition über die Auswahl an geeigneten Materialien und Items bis zur Rückmeldung an die Lerner zeigt die hohen Anforderungen, die an Fremdsprachenlehrkräfte oder Aufgabenentwickler (z.B. für Schulbuchverlage) - insbesondere zur Auswahl oder Entwicklung von Aufgaben zur Leistungsfeststellung im Bereich des HSV - gestellt werden. Ziel dieser Einführung war es zu zeigen, dass eine hinreichende Kongruenz von Konstrukt und Test angestrebt werden sollte. Die Konstruktvorstellungen bestimmen die Testspezifikationen und diese wiederum die Aufgabenkonstruktion. In dieser Hinsicht bieten weder die Bildungsstandards noch die Lehrpläne (in NRW) ausreichend Beispiele und Beschreibungen zu Aufgaben. Fazit Lehrkräfte, die Englisch oder Französisch an allgemeinbildenden Schulen unterrichten, sollen auf Grundlage der geltenden Lehrpläne und Bildungsstandards fremdsprachliche Kompetenzen vermitteln. Zu diesen zählt das HSV, das allgemein als das Verstehen des auditiven und visuellen Inputs sowie dessen Zusammenspiel im Kontext der Zielkultur verstanden werden kann. Dieser Beitrag hat exemplarisch Lehrpläne eines Bundeslandes sowie die Bildungsstandards für die Erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) und für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife herangezogen, um die Frage zu klären, welche Konzeptualisierungen des Konstrukts sich aufgrund der Beschreibungen und Anforderungen in den Dokumenten identifizieren lassen und welche Vorgaben bzw. Hinweise zur schulischen Leistungsfeststellung diese liefern. Es hat sich gezeigt, dass in allen Dokumenten HV und HSV stets gemeinsam aufgeführt werden, wobei jedoch vielfach weitere Beschreibungen - insbesondere zur Text- und Medienkompetenz - die Darstellung erweitern. Anschließend wurden - in Ergänzung theoretischer und praktischer Überlegungen - Ergebnisse der L2-Forschung zur Frage präsentiert, ob sich HV und HSV empirisch trennen lassen. Vor diesem Gesamthintergrund wurden schließlich die Erstellung bzw. Auswahl von schriftlichen Aufgaben zur Leistungsfeststellung im Bereich HSV skizziert und für diese Kompetenz bedeutsame Aspekte, die es (im unterrichtlichen Kontext) zu berücksichtigen gilt, benannt. 80 Rüdiger Grotjahn/ Raphaela Porsch Abschließend noch eine kurze Bemerkung zur Verwendung des Begriffs „Hörsehverstehen“: Bezogen auf den schulischen Kontext verstehen wir unter HSV die lernerseitige Verarbeitung von Informationen, die aus der Kombination von (bewegten) Bildern und auditivem Input resultieren. Dabei ist es im Sinne der Authentizität von Texten nicht erforderlich, dass allen Bildern ein Hörtext zugeordnet ist oder jede auditive Information auch visuell unterstützt wird. Da aus unserer Sicht die Ausbildung der Kommunikationsfähigkeit im Fremdsprachenunterricht vorrangig ist und diese selbstverständlich auch das Verstehen von Medien bzw. ihrer Gestaltung im jeweiligen kulturellen Kontext sowie auch das Verstehen nonverbaler Kommunikationsmittel beinhaltet, ziehen wir es vor, HSV als Teilkomponente multimodaler kommunikativer Kompetenz im Sinne von Royce (2007) zu konzeptualisieren. Sofern man (zusätzlich) Begrifflichkeiten wie Text- und Medienkompetenz verwendet, sollten diese soweit konkretisiert werden, dass die Entwicklung und Auswahl von Aufgaben zu Überprüfung der entsprechenden Kompetenzen ermöglicht wird. Bachman, Lyle / Palmer, Adrian. 1996. Language testing in practice. Oxford: Oxford University Press. Caspari, Daniela / Grotjahn, Rüdiger / Kleppin, Karin. 2010. „Testaufgaben und Lernaufgaben“, in: Porsch, Raphaela / Tesch, Bernd / Köller, Olaf (ed.): Standardbasierte Testentwicklung und Leistungsmessung: Französisch in der Sekundarstufe I. 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Dabei geht es heute - im Gegensatz zur audiovisuellen Methode in den 1950er/ 1960er Jahren - insbesondere um die Unterstützung von Hörtexten durch Filme bzw. Filmsequenzen. Bei Hör-Seh-Texten gibt es parallel zum Hören einen visuellen Reiz, am häufigsten kommen im Unterricht spezielle Lehrwerk-DVDs zum Einsatz, auch Fernsehsendungen und Videos lassen sich sinnvoll einsetzen. Der visuelle Input bringt den großen Vorteil, dass die Rezeption nicht nur sprachlich, sondern auch über das Gesehene (z.B. Situation, Gestik und Mimik) erfolgt. Lässt man eine DVD ohne Ton laufen, wird deutlich, wie viele Informationen man bereits rein visuell versteht. Durch die visuelle Unterstützung wird der Einsatz komplexerer Hör-Seh-Texte schon im Anfängerunterricht ermöglicht (Brinitzer et al. 2013, 26). Dieses Zitat soll exemplarisch aufzeigen, welche positive Bewertung der Einsatz von Filmen, Videos, Filmserien und Fernsehsehsendungen in der Fremdsprachendidaktik erfährt. Man ist überzeugt, dass der visuelle Input für ein besseres Verständnis der Kommunikationssituation und des überbrachten Kommunikationsinhaltes sorgt. Viele Informationen, die für das (Hör-)Verstehen von Bedeutung sind, werden gleichzeitig und unterstützend übertragen, so dass das (Hör-)Verstehen erleichtert wird. Das Autorenkolleg um Brinitzer ist sogar überzeugt, dass durch diese positive Unterstützung auch 1 Wir verwenden nach Thaler (2007, 13) die Schreibweise „Hör -Seh- Verstehen“, da die „gleichrangige Bedeutung bei der Kanäle und die Wechselwirkung am sichtbarsten zum Ausdruck“ kommt. Zur orthografisch en und inhaltlichen Diskussion cf. § 2. Schau nicht mehr zurück 85 komplexere Hör-Seh-Texte bereits im Anfängerunterricht zum Einsatz kommen können. Dieser derart sinnvolle und gewinnbringende Einsatz von Filmen und Videos wird zunehmend auch auf den Einsatz von Musikvideoclips übertragen. Die Lehrpersonen können heute spontan, direkt und schnell ein Stück reale Lebenswelt und -kultur - und dazu gehören auch Musikvideoclips in der entsprechenden Fremdsprache - ins Klassenzimmer holen. Auf konkrete Wünsche von Seiten der Lernenden kann jederzeit eingegangen werden. Bei der Entscheidung, ob der Musikvideoclip ein bestimmtes didaktisches Ziel verfolgen soll und wenn ja, welches, ist die Lehrperson völlig frei. Aus unseren Beobachtungen im Bereich des DaF-Unterrichts in Italien geht hervor, dass Musikvideoclips zunehmend die „reinen“ Hörtexte bzw. Lieder ersetzen, bzw. dass die Fertigkeit des Hörverstehens durch die des Hör-Seh-Verstehens ersetzt wird. Dies geschieht - unseren Beobachtungen nach - meist in der Annahme, dass die Bilder - ähnlich wie in Filmen - die außersprachlichen Faktoren der Situation darstellen, und dass dadurch das Hörverstehen unterstützt und positiv beeinflusst werden kann. Zudem wird davon ausgegangen, dass gleichzeitig das Hör-Seh-Verstehen trainiert wird. Ist die Gleichsetzung bzw. der Austausch von Hörverstehen und Hör-Seh-Verstehen im Bereich von Liedern bzw. Musikvideoclips möglich? Werden die gleichen Fertigkeiten trainiert? Welche Gefahr besteht durch einen unreflektierten Ersatz von auditiven durch audiovisuelle Medien? Wie ist die Beziehung von Bild und Ton in Musikvideoclips? Ähnlich wie in Filmen, so dass der Verstehensprozess durch außersprachliche Faktoren unterstützt wird? Dass es sich bei Musikvideoclips um ein visuell eigenständiges Medium, eine eigenständige Kunstform, handelt, und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht genauestens analysiert werden muss, da nicht zwangsläufig eine positive und lernfördernde Wirkung erzielt wird, und die Lernenden in ihrem Verstehensprozess auch auf „eine falsche Fährte geführt“ werden können, all dies soll im Folgenden erörtert und anhand einer Fallstudie diskutiert werden. Hörverstehen und Hör-Sehverstehen - eine oder zwei Fertigkeiten? Im Zuge des interkulturellen Ansatzes wurde von Schwerdtfeger die Anerkennung des Sehverstehens - neben Hörverstehen, Sprechen, Leseverstehen und Schreiben - als weitere Fertigkeit bereits zu Ende der 1980er Jahren gefordert (cf. Schwerdtfeger 1989). Jedoch scheint es, als hätte sich diese nicht als eigenständige Fertigkeit durchsetzen können und hätte sich nur in der Kombination mit dem Hörverstehen als Hör-Sehverstehen etabliert (Schwerdtfeger 2003). Auch die variierende Orthografie in den Begriffen ist u.E. ein Indikator für die unterschiedlichen Sichtweisen, so finden sich in der 86 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Literatur u.a. die folgenden Graphien: Hörsehverstehen, Hör(seh)verstehen, Hör/ Sehverstehen, Hör-Sehverstehen (cf. Thaler 2007, 13). In vielen Bildungsstandards werden die Kannbeschreibungen für das Hörverstehen und das Hör-Sehverstehen nicht differenziert, bzw. sogar gemeinsam ausformuliert. Man könnte daraus schließen, es handele sich um ein- und dieselbe Fertigkeit bzw. die beiden seien austauschbar. Abb. 1: Hörbzw. Hör-Seh-Verstehen auf dem Fortbildungsserver der Kultusministerkonferenz (kmk-format.de) 2 Im Kapitel 2.2.1 dieser Webseite (man beachte die Überschrift, in der sich ebenfalls nur der Begriff „Hörverstehen“ befindet) in Bezug auf die Standards und den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen kann man weiterlesen: Hör- und Hör-/ Sehverstehen Die Schülerinnen und Schüler können unkomplizierte Sachinformationen über gewöhnliche alltags- oder berufsbezogene Themen verstehen und dabei die Hauptaussagen und Einzelinformationen erkennen, wenn in deutlich artikulierter Standardsprache gesprochen wird (B1+). In Anlehnung an den GeR (Europarat 2001, 71-72) geht es jedoch v.a. um die auditive Rezeption, auch wenn die audiovisuelle Rezeption als gleichzeitige Rezeption auditiven und visuellen Inputs definiert wird. 2 Unter: http: / / www.kmk-format.de/ material/ Fremdsprachen/ 2-2-0_Hoeren-Bezug_ zum_GeR.pdf (08.02.2015). Schau nicht mehr zurück 87 Auf der Internetseite der Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung an Schulen des Landes Baden-Württemberg 3 scheint es sich beim Hör-/ Hör-Sehverstehen im Fach Englisch an Gymnasien um eine kompetenzorientierte Fertigkeit mit authentischen Materialien zu handeln, wie es sie beim bisherigen Einsatz von Hörtexten und Filmen nicht gegeben habe. Im Gegensatz dazu wird in Bezug auf den Einsatz von Hörtexten eher von einem „Fertigkeitsdrill“ gesprochen. 4 Auch hier werden die Begriffe Hör-/ Sehverstehen sowie Hör-/ Hörsehverstehen - im selben Kontext und ohne begriffliche Differenzierung - verwendet. Audiovisuelle Medien können - so weiter - auch in der Abiturprüfung mit Hörtexten alternativ verwendet werden. Den Prüflingen könne sowohl eine audio-visuelle Produktion als auch ein Hörtext zur Bearbeitung vorgelegt werden. Geeignet seien z.B. Ausschnitte aus Dokumentar- oder Spielfilmen sowie aus aufgezeichneten Theaterstücken; außerdem - mit oder ohne visuelle Stützung - Passagen aus Diskussionen oder Talkshows, Werbesendungen, Reden, Interviews, Vorträgen oder Kommentaren. 5 Auf der Internetseite des Niedersächsischen Bildungsservers findet sich eine thematische pdf-Datei, in deren Textüberschrift Hör-/ Hör-Sehverstehen erscheint, jedoch wird im Text selbst bei den einzelnen Fertigkeiten und deren Kannbeschreibungen nur noch der Begriff Hörverstehen benutzt. 6 Diese Liste an Beispielen könnte beliebig fortgesetzt werden, die Vagheit bzw. Unsicherheit in der Begrifflichkeit bleibt jedoch bestehen. Es scheint bis heute so zu sein, dass die Termini Hörverstehen und Hör-Sehverstehen alternativ oder als Einheit, ohne klare Definition und Unterscheidung, oder als Oberbzw. Unterbegriff verwendet werden. Die Beschreibung von Zielen, Aufgaben und Übungen in der jeweiligen Fertigkeit müssen demzufolge ebenso unklar bleiben. Thaler (2007, 13) plädiert dafür, das Hör-Seh-Verstehen endlich als eigene Kompetenz zu betrachten und dementsprechend die Didaktik und Methodik darauf auszurichten: Hör-Seh-Verstehen ist keine Untervariante des Hörverstehens, sondern eine eigenständige kommunikative Kompetenz - oder Fertigkeit […] (Thaler 2007, 13). 3 Unter: http: / / lehrerfortbildung-bw.de/ faecher/ englisch/ gym/ fb1/ hoer_seh/ (08.02.2015). 4 Diese Position wird wahrscheinlich in Zusammenhang mit der audio-lingualen und audio-visuellen Methode der 1950er Jahre verwendet, in der durch Reihenübungen bestimmte sprachliche Strukturen und Chunks eingeübt werden sollten. Vgl. http: / / lehrerfortbildung-bw.de/ faecher/ englisch/ gym/ fb1/ hoer_seh/ 1_basis/ 3_ theorie / fertigkeiten.html (08.02.2015). 5 Unter: http: / / lehrerfortbildung-bw.de/ faecher/ englisch/ gym/ fb1/ hoer_seh/ 1_basis / 1_epa/ (08.02.2015). 6 Unter: http: / / nibis.ni.schule.de/ nibis3/ uploads/ 1gohrgs/ files/ A1_Lehrer.pdf (08.02.2015). 88 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Das gleichzeitige oder sukzessive Empfangen von auditiven und visuellen Inputs lässt das Hör-Seh- Verstehen zu einem „vielschichtigen Prozess“ werden (cf . Thaler 2007, 13), der durch textuelle Elemente auch noch zu einem „Hör - Seh-Lese- Verstehen“ ausgedehnt werden könnte (cf. § 4). Thaler geht davon aus, dass sich der „Bild -Hörtext- Rezeptionsprozess“ (ibid.) in einer permanenten Wechselbeziehung vollzieht, an dem folgende Faktoren beteiligt sind: Wahrnehmung, Speicherung, Verarbeitung von Ton und Bild  Temporale Beziehung: simultan oder sukzessiv  Inhaltliche Beziehung: Kongruenz/ Komplementarität oder Diskrepanz  Repräsentation: dual oder amodal oder integriert  Prozesse: bottom up und top down: Interaktion Der Musikvideoclip - ein audiovisuelles Medium für die Fremdsprachendidaktik? Ein weiteres interessantes terminologisches Phänomen ist der Begriff der audiovisuellen Medien (cf. Ehnert 2000, Roche 2010). Bekannt wurde der Begriff audiovisuell (AV) - wie bereits kurz erwähnt - im Zuge der audiovisuellen Sprachlernmethode, und auch heute noch wird er mit automatisierten Übungen, den sog. pattern drills, in Verbindung gebracht. Roche (2010, 1244) bedauert, dass auch in neuen Lehrverfahren, Lehrmaterialien und digitalen Lernprogrammen […] sich gehäuft AV -Komponenten und behavioristische Verfahren [finden], allerding in „unsystematischer und meist unreflektierter Form“. Storch (1999, 273 -275) unterscheidet in seinem Beitrag zu den audiovisuellen Medien zwischen auditiven Medien, zu denen in der Regel Hörtexte „zur gezielte[n] Förderung des Hörverstehens“ gehören, und visuelle Medien, bei denen es sich sowohl um Bilder, Tafelzeichnungen, Dias, Plakate, u.ä. handelt, deren Einsatz „nicht unbedingt an das Vorhandensein technischer Geräte gebunden“ ist (Storch 1999: 276), was bedeutet, dass der Begriff „audiovisuell“ in zwei Begriffe zerfällt und nicht als Einheit definiert wird. Roche versteht unter audiovisuellen Medien: […] nur die Medien […], die sowohl Ton als auch Bild transportieren, also Fernsehen, CD ROMS, DVDs, VideoDiscs und ähnliches (Roche 2010, 1244) Im österreichischen Online-Musiklexikon 7 kann man unter dem Artikel „audiovisuelle Medien“ lesen: „Auf Hören und Sehen zugleich gerichtete Informationsträger“. Auch hier wird auf die Simultaneität von Bild und Ton verwiesen. 7 http: / / www.musiklexikon.ac.at/ ml/ musik_A/ Audiovisuelle_Medien.xml (08.02.2015). Schau nicht mehr zurück 89 Im Zuge der technologischen Entwicklung kamen die Termini Neue Medien (Grießhaber 2002, Rösler 1998, Marx/ Langner 2010) und später auch Digitale Medien (cf. Reimann, 2010) auf, elektronische Medien, die digital arbeiten und es deshalb ermöglichen, Filme, Nachrichten, Fernsehsendungen und selbstverständlich auch Musikvideoclips aus dem Internet im Klassenzimmer einzusetzen. Das spezifische audiovisuelle Medium, das im Zentrum unseres Interesses steht, ist das Musikvideo bzw. der Musikvideoclip, der folgendermaßen definiert werden kann: Musikvideos (auch Videoclips, Video-Clips oder Clips) sind Kurzfilme, die ein Musikstück filmisch umsetzen. Sie werden zumeist von einer Plattenfirma zur Verkaufsförderung für dieses Stück in Auftrag gegeben, von einer auf Musikvideos spezialisierten Filmproduktionsgesellschaft konzipiert und hergestellt und sollen im Musikfernsehen oder im Internet zu sehen sein. Meist dauern sie genau so lang wie das Stück und nutzen es als einzige Tonquelle. Ein Bestandteil der meisten Musikvideos ist die Inszenierung des Künstlers, zumeist bei der Darbietung des Stücks. Gibt es im Lied keinen Gesang, treten die Künstler dennoch oft persönlich in Erscheinung. Dies verweist auf das Interesse der Auftrag gebenden Plattenfirma an einer Steigerung des Bekanntheitsgrades für ihren Künstler. Filmhistorisch betrachtet verbindet es die Musikvideos mit der Tradition des Opern-, Theater- und Konzertfilms und der Konzertaufzeichnung. Zum Teil werden Musikvideos als Gesamtkunstwerke geschaffen, bei denen die Bilder ein vollwertiger Teil des Werkes sind, ähnlich wie bei den traditionellen Kunstformen Oper, Operette oder Musical, bei denen Musik und Darstellung gleichwertig zusammengehören. 8 Bild und Ton sind i.d.R. gleichwertig zu betrachten, was sich auch daran zeigt, dass die Länge des Filmes der Länge des Musikstücks entspricht. Eine genauere Definition und Charakterisierung ist jedoch äußerst komplex, da sich das Genre selbst ständig wandelt und eine Analyse aufgrund seiner Vielschichtigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven betrieben werden kann (Film-, Medien-, Musik-, (Musik-)Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Theaterwissenschaft). 9 Seit den 1990er Jahren wurden verschiedene Modelle entwickelt, mit denen die in einem Musikvideoclip unterschiedlich vorhandenen Darstellungsebenen beschrieben werden können. Grundsätzlich differenziert man zwischen Performance- und narrativem Musikvideo, die jeweils in Subtypen unterteilt werden können. 10 Da auch Mischformen auftreten können, ist es wichtig, primär den Grundtyp zu bestimmen und ihn entsprechend zu differen- 8 Hervorhebung i. O.; unter: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Musikvideo, 17.02.2015). 9 Unter: http: / / www.rossleben2001.werner-knoben.de/ doku/ kurs76web/ node5.html (18.02. 2015). 10 Cf. Thaler (1999), Altrogge (2001), Blell (2002), Pape und Thomson (2008), Reimann (2010). 90 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio zieren. Im Performance-Video treten die Künstler selbst auf, entweder im Konzert oder im Studio. Im narrativen Musikvideo geht man davon aus, dass die Geschichte des Liedtextes im Film erzählt wird, d.h. die Geschichte parallel zum Lied verläuft. Die Mischform von Performance- und narrativem Musikvideo wird als seminarratives Musikvideo bezeichnet. Das Konzept-Musikvideo, das man als weitere Mischform bezeichnen könnte, enthält eher unzusammenhängende Bilder, die die Musik begleiten, z.T. auch parallel laufen können (aber nicht müssen), jedoch nicht wirklich die Geschichte des Liedes erzählen. Die unterschiedlichen und vielzähligen Nuancen der Mischformen machen es jedoch extrem schwierig, ein bestimmtes Musikvideo einem bestimmten Typ zuzuordnen und ihn zu definieren. In Wirklichkeit existieren unzählige Variationen und durch die fortschreitende Technologie werden die Nuancierungen immer feiner. Eine weitere Form ist das Art-Musikvideo, das mit abstrakten Bildern, Zeichentrick oder Computeranimation arbeitet. Der Musikvideoclips zur Unterstützung des Hör-Seh-Verstehens im Fremdsprachenunterricht? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Hörtexte und Hörsehtexte im Fremdsprachenunterricht nicht einfach beliebig austauschbar sind. Nach einer kurzen Zusammenfassung bisheriger Untersuchungen zum Thema werden wir eine empirische Studie zum Hör-, Hör-Lese- und Hör-Seh-Verstehen im DaF- Unterricht vorstellen. 4.1. Bisherige empirische Untersuchungen In Zusammenhang mit dem Hör-Seh-Verstehen geht es in der unterrichtlichen Ausrichtung - in Anlehnung an den GeR - jedoch bei den audiovisuellen Medien fast ausschließlich um Fernsehsendungen, Filme (Spielfilme, Kurzfilme, Filmausschnitte, Filmszenen) und Videos. 11 Musik-videoclips werden meist nicht berücksichtigt, und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht wird noch selten diskutiert. Im Zentrum des Interesses bisheriger Überlegungen standen bspw. die Möglichkeiten der Präsentation (Thaler 1999), der Bezug 11 Cf . Fremdsprache Deutsch. Themenheft Nr. 36 „Sehen(d) lernen“ von 2007, Schwerdtfeger 1989 und 1998, Thaler 2007 und 2010, oder auch die Internetseiten von Lehrwerkverlagen und Lernblogs, z.B. http: / / www.diesterweg.de/ reihe/ Audio-Video-Sampler- Materialien-zum-Hoer-Seh-Verstehen-fuer-Englisch/ AUDIOVIDEO; http: / / deutschlerner.blog.de/ 2010/ 11/ 15/ uebung-hoer-seh-verstehen-ab-sprachniveau-a1-patrickfaehrt-kart-9977900/ (04.02.2015). Schau nicht mehr zurück 91 zur Authentizität (Reimann 2010), die Unterstützung von rezeptiven und produktiven Fertigkeiten 12 , die Verbildlichung von grammatischen Phänomenen, der Erwerb interkultureller Kompetenzen 13 , die Schulung von Medienund/ oder Sozialkompetenz 14 und die Förderung der sog. visual literacy 15 . In Bezug auf das Hörverstehen bzw. Hör-Seh-Verstehen wurden Musikvideoclips u.W. noch nicht untersucht. Obwohl in einem Musikvideoclip die Musik und die Bilder/ der Film technisch gleichberechtigt auftreten, wissen wir aus der kognitiven Theorie des multimedialen Lernens, dass die Erarbeitung von sprachlichen und bildlichen Informationen in zwei verschiedenen Subsystemen des semantischen Gedächtnisses verarbeitet werden (Roche 2010: 1246-1247). Balboni (2007: 57) erklärt, dass das Visuelle dem Sprachlichen vorrangig ist („siamo prima visti e poi ascoltati“) und dass bildliche Informationen in jedem Falle schneller elaboriert werden als sprachliche. Für Fremdsprachenlerner bedeutet die mehrkanalige Aufnahme eine Erleichterung und eine Erschwernis des Verstehens zugleich. […] Hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeit für das gesprochene Wort durch visuelle Reize oft überlagert wird (Decke-Cornill/ Küster 2010, 257). Das Visuelle kann sich für die Sprachvermittlung sowohl als Vorteil als auch als Nachteil erweisen, d.h. es kann das Verständnis fördern, aber auch erschweren. Auch Porsch/ Grotjahn/ Tesch (2010) machten in ihrem Vortrag auf dem Bremer Symposium zum Fremdsprachenlehren und -lehren 16 nicht nur auf die Vagheit in der inhaltlichen Ausrichtung (s. oben) aufmerksam, sondern auch darauf, dass - je nach Verhältnis von Text- und Bildkombination - das Lernen erleichtert oder erschwert werden kann. In Bezug auf die Kannbeschreibungen zum Hör-Seh-Verstehen bemängeln sie u.a., dass spezifische Einflüsse kombinierter Text- und Bildinformationen auf den Verstehensprozess nicht thematisiert werden, die Beschreibung auf den Niveaustufen nicht empirisch validiert ist, Textlänge und Sprachstil nicht konkretisiert werden. Porsch/ Grotjahn/ Tesch weisen zudem auf einige Studien aus der L2- und der 12 Unter: http: / / www.lehrer-online.de/ musikvideoclips-im-spanischunterricht.php (08.02.2015). 13 http: / / www.muc.kobis.de/ fileadmin/ user_upload/ 2012_5_FERTIG_november_pop_ songs_and_music_videos_teil_1_ueberblick.pdf (20.02.2015). 14 Cf. Reinfried 2010, Würffel 2010; http: / / www.medienkindheit.de/ medienpaedagogisches/ musikvideoclips-im-unterricht-nutzen-songs-von-youtube-zumthema-krieg/ (04.02.2015). 15 Bei der visual literacy geht es um die visuelle Lesefähigkeit, d.h. um die bewusste Auseinandersetzung mit Bildern und der Fähigkeit, visuelle Botschaften entsprechend zu dekodieren und enkodieren. 16 https: / / www.fremdsprachenzentrum-bremen.de/ fileadmin/ autor/ dateien/ Symposion_2011/ ppt/ ag1/ Porsch.pdf (04.02.2015). 92 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Medienforschung hin, die zeigten, „dass das gleichzeitige Sehen bewegter Bilder sich vom Hörverstehen unterscheidet“ 17 und dass sich eine „validitätsmindernde Informationsüberlastung“ beim Lernenden zeige, wenn sich Bild und Ton nicht hinreichend ergänzten. Aus diesem Grund fordern sie, dass Hörverstehen und Hör-Seh-Verstehen als zwei unterschiedliche Kompetenzen betrachtet werden sollen. Auch Thaler forderte schon 2007, dass die Fertigkeit des Hör-Seh- Verstehens „einer systematischen, gezi elten, kontrollierten Schulung durch eine steuernde Lehrkraft“ bedürfe (2007, 14). Im Unterschied zum verstehenden Hören ist Bechiele (2010, 22) davon überzeugt, dass die Sichtbarkeit des/ der Sprecher und der Sprechsituation beim Hör-Seh-Verstehen eine Orientierung im Verstehensprozess bedeute und dass das Verstehen des Wesentlichen unterstützt werde. Das Wiedererkennen und Verstehen von Wörtern und Wendungen gelänge schneller und leichter, Zusammenhänge zwischen paraverbalen und nonverbalen Äußerungsformen würden sichtbar gemacht und das Bild bewirke globale Vorentlastung und Reduktion der Anstrengung. Auch Sherman (2003) weist - in Bezug auf Filme - darauf hin, dass Fremdsprachenlernende sich oft an der Handlung orientieren, um das Geschehen zu verstehen. Inwieweit diese positiven Einschätzungen auch für Musikvideoclips gelten können, oder ob Bilder eher das Verständnis behindern und den Lernenden auf eine falsche Fährte locken, war Ausgangspunkt unserer Studie, die im nächsten Kapitel beschrieben wird. Der Musikvideoclip zur Verbesserung des Hör-Seh-Verstehens? - eine Studie In diesem Paragraphen stellen wir unsere Studie vor und analysieren die quantitativen Ergebnisse, um dann einige Tendenzen der Verstehungsleistung der Lernenden in Abhängigkeit des Präsentationsmediums des Hörtextes aufzuzeigen. 5.1. Der Musikvideoclip „ Schau nicht mehr zurück “ Für unsere Studie haben wir den Musikvideoclip Schau nicht mehr zurück von XAVAS (Xavier Naidoo & Cool Savas) aus dem Album Gespaltene Persönlichkeit (2012) ausgewählt. Es ist ein Lied, das abwechselnd im Pop- (Naidoo) und 17 Siehe Folie 16. Sie verweisen auf Gruba 1999, Coniam 2001, Ginther 2002, Thaler 2007 sowie Mayer 2001, Schnotz 2005. Schau nicht mehr zurück 93 Rap-Stil (Savas) gesungen wird. Die Rap-Stellen sind aufgrund ihres schnellen Rhythmus sprachlich schwierig, während der Refrain mit dem Satz Schau nicht mehr zurück und eine weitere Strophe im Pop-Stil gesungen werden und leichter zu verstehen sind. Der Liedtext 18 : Xavier Naidoo: Und ich schau nicht mehr zurück,/ / aber wenn ich zurück schau, seh‘ ich nur mein Glück. / / Alles andere hab ich gerne zugeschüttet, und mit schönen Erinnerungen einfach überbrückt./ / Glaub mir Bruder, ich schau nicht mehr zurück. Cool Xavas: Heute ist ein neuer Beginn, / / ein neuer Anfang, ein neuer Start,/ / ein neues Kapitel, ein neuer Schritt in ne neue Richtung, ein neuer Tag. / / Und ich lass den Balast von gestern hinter mir, / / öffne die Augen, versuche meine Ziele zu fokussiern,/ / sie halten mich nicht auf, kriegen mich nicht weg,/ / versuchen mich zu hassen, aber lieben diese Tracks./ / Ich pack mein Herzblut in das hier, zünd eine Kerze an, vergiss die Schmerzen für einen Moment und du denkst du könntest fliegen, wenn ich rap. / / Ich ging durch Tiefen und durch Höhen, aber immer weiter./ / Ich blick zurück, es war nicht immer einfach, doch jetzt kann ich nimmer scheitern./ / Rap is my Life und jeder Vers ein Satz im Tagebuch,/ / jede dieser Melodien Heilung pur, du sparst dir ‚nen Arztbesuch./ / Tod gewordener Wagemut,/ / Tonnen von Bars, bis jeder sagt: "wir haben genug! ". / / Silben, Worte, lass sie flowen, wie Nasenblut./ / Ich mach mein Ding auch wenn sie glauben ich werd‘ verrückt. / / King Essah, Futurama ... Xavier Naidoo: Und ich schau nicht mehr zurück, / / aber wenn ich zurück schau, seh ich nur mein Glück. / / Alles andere hab ich gerne zugeschüttet,/ / und mit schönen Erinnerungen einfach überbrückt. / / Glaub mir Bruder, ich schau nicht mehr zurück. / / Niemand kann seine Schritte teilen,/ / und sie einem andern geben. / / Man muss nicht überall bleiben, / / man muss nicht immer gehn. / Man kann nicht vor sich selber flüchten, / / man kann nur für sich selber stehn./ / Man sollte sich vor gar nichts fürchten, / / es gibt keinen Grund nicht nach vorne zu sehn. Kool Savas: Ich dreh mich nochmal um, mein letzter Blick ist vorbei, / / salutier der Vergangenheit, lass nicht zu, dass mich der Zweifel noch geißelt. / / Meine Entscheidung frei sein oder mich fallen lassen,/ / hör nicht mehr hin, wenn sie meinen, du musst dir vom Schicksal alles gefallen lassen. / / Niemals, erhebe Veto, lieber mühsam als leblos, auch wenn es wehtut, / / bezwing jede noch so reißende Strömung./ / Ich seh‘ hoch, gleich was sie sagen, wer‘s lenkt, leitet und drückt./ / Mein Leben, meine Bestimmung... 18 http: / / www.songtexte.com/ songtext/ xavas/ schau-nicht-mehr-zuruck-13bbc97d.html (10.03.2014). 94 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Xavier Naidoo: Und ich schau nicht mehr zurück,/ / aber wenn ich zurück schau, seh ich nur mein Glück./ / Alles andere hab ich gerne zugeschüttet,/ / und mit schönen Erinnerungen einfach überbrückt./ / Glaub mir Bruder, ich schau’ nicht mehr zurück… Im Video sind abwechselnd die beiden Sänger (im fahrenden Auto, auf einem Berg bzw. an einem Stausee in den Alpen) und ein junger Wanderer mit Rucksack zu sehen. Dieser geht z.T. zu Fuß, fährt per Anhalter auf der Ladefläche eines Jeeps mit, durchquert einen Bach, sitzt am Lagerfeuer, klettert einen Felsen hoch und gelangt schließlich an einen hoch gelegenen Bergsee. Abb. 2: Sequenz von Stills aus dem Video „Schau nicht mehr zurück“ 19 Die Schwierigkeit dieses Videos ist seine Klassifikation. Man könnte das Musikvideo als semi-narratives Video (s. oben) definieren, in dem Performance- Teile mit den beiden Sängern (getrennt und gemeinsam) und die Erzählung 19 https: / / www.youtube.com/ watch? v=2hyibXdOp5w (20.02.2015). Schau nicht mehr zurück 95 einer Geschichte kombiniert werden. Neben den Einstellungen mit den Interpreten Naidoo und Savas sieht man einen jungen Mann, der in den Bergen wandert. Erzählen die Bilder mit dem Wanderer die Geschichte des Liedes? Das Thema des Liedes - nämlich im Leben voranzugehen, weiterzumachen, positiv in die Zukunft zu blicken und nicht den negativen Erlebnissen in der Vergangenheit nachzuhängen, mit der Vergangenheit abzuschließen wird an manchen Stellen durch konkrete Aktivitäten (des Wanderers) im Film verbildlicht, d.h. die figurative Bedeutung einiger Wörter, Ausdrücke und Wendungen werden in den Bildern der Geschichte personifiziert und somit in ihrer konkreten Bedeutung dargestellt. Beispielsweise schaut der Wanderer während des Refrains „I ch schau nicht mehr zurück. Aber wenn ich z urückschau‘, seh‘ ich nur mein Glück“ zurück und entscheidet, ein Auto anzuhalten. Das Auto hält und er nimmt auf der Ladefläche des Jeeps Platz (Bsp. 1). Weitere Beispiele finden sich in den anschließenden Abbildungen. Liedtext Still aus dem Musikvideoclip Bsp. 1: Aber wenn ich zurückschau‘/ / Seh‘ ich nur mein Glück (er schaut zurück und wird mitgenommen) 96 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Bsp: 2: Und du denkst, du könntest fliegen/ / (der Rucksack fliegt durch die Luft) Bsp: 3: Man muss nicht überall bleiben (nach einer Rast mit Lagerfeuer erlischt das Feuer) Bsp. 4: Man kann nicht vor sich selber flüchten (der Wanderer rennt/ flüchtet) Abb. 3: Verbildlichung einiger Stellen im Lied „Schau nicht mehr zurück“ In diesem Videoclip begleiten die Bilder den Liedtext nur punktuell und verbildlichen bzw. erzählen nicht durchgehend den Inhalt des Liedes. Man könnte es deshalb auch als Konzept-Musikvideo definieren. Diese Mischform macht einen didaktischen Einsatz mit einer konkreten Zielsetzung extrem schwierig. Die filmische Darstellung unterstützt u.E. nicht unbedingt das Verstehen des Liedtextes und die z.T. sehr eindrucksvollen Bilder scheinen vom eigentlichen Text abzulenken und den Lernenden zu einem falschen Verständnis zu bewegen. Schau nicht mehr zurück 97 Um aufzeigen, dass der unreflektierte Austausch von (Audio-)Liedern durch Musikvideoclips für das Training des Hörverstehens nicht unproblematisch sein kann, und was beim Einsatz von Musikvideoclips zur Verbesserung des Hörverstehens oder/ und des Hör-Seh-Verstehens beachtet werden muss, haben wir im März 2014 an den italienischen Universitäten Turin und Roma Tre eine Studie mit insgesamt 65 Deutschstudierenden (25 Studierende aus Turin und 40 Studierende aus Rom) durchgeführt. 5.1.1. Design der Studie Alle Studierenden waren italienische Muttersprachler und lernten Deutsch als Fremdsprache seit ca. 2 Jahren (ca. 180-200 Unterrichtsstunden). Sie befanden sich zum Zeitpunkt der Studie auf dem Niveau A2+/ B1. 20 In Anlehnung an den möglichen didaktischen Einsatz von Thaler (1999; 2007, 14) 21 haben wir die Studierenden in drei Gruppen eingeteilt, und das Lied unterschiedlich präsentiert.  Gruppe 1: Hörverstehen (HV): 15 Probanden. Die Studierenden hörten das Lied von einer CD 3x, wie bei einer traditionellen Hörverstehensübung (ähnlich dem Sound-first-approach).  Gruppe 2: Hör-Lese-Verstehen (HLV): 25 Probanden. Die Studierenden hörten das Lied 3x und lasen den Liedtext (lyrics) auf dem Monitor mit. Der Original-Musikvideoclip wurde dieser Gruppe nicht präsentiert (cf. Lyrics-first-approach).  Gruppe 3: Hör-Seh-Verstehen (HSV): 25 Probanden. Die Studierenden schauten zuerst 1x den Original-Musikvideoclip ohne Ton und danach 2x mit Ton (Vision-first-approach). Jeder Studierende erhielt einen Fragebogen, der während der verschiedenen Durchgänge des Hörens/ Sehens/ Lesens ausgefüllt werden sollte. Die Fragen zielten auf das Globalverstehen (1-2, 7), das selektive Verstehen (3-6, 8A-H), und das Detailverstehen (während des 2. und 3. Durchgangs auszufüllen, 9.1- 9.14) 22 ab. Die Fragen bezogen sich explizit sowohl auf die verbale als auch 20 Das Sprachniveau der Probanden wurde durch einen vorgeschalteten C-Test ermittelt. 21 In Bezug auf den Einsatz von Filmen unterscheidet Thaler zwischen globalem (kommunikative Situation, Thema), grobem (wesentliche Aspekte), selektivem (einzelne ausgewählte Aspekte), Detail- (Vollverstehen aller Einzelheiten) und transzendierendes Hör- Seh-Verstehen (Inferieren, Elaborieren, Abstrahieren, Generalisieren, Konstruieren, Antizipieren, Evaluieren). 22 Zu den einzelnen Hörstrategien cf. u.a. Dahlhaus 1994, in der neueren Terminologie auch kursorisches, selegierendes und intensives Hören, cf. Braun 2008; zu Test- und Aufgabenformaten im DaF Albers / Bolten 1995. 98 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio auf die visuelle Kommunikation, die nicht in jedem Fall deckungsgleich waren. Es handelte sich immer um geschlossene Fragen (Richtig oder Falsch, Multiple Choice). Nach den drei Durchgängen folgten offene und semi-offene Fragen in der Muttersprache zur (Selbst-)Evaluation der Aufgabenbewältigung, des Schwierigkeitsgrades, des Präsentations-modus‘ und der eigenen Motivation (1-8). Ziel war es, explizit in den drei Gruppen das Hörverstehen, das Hör-Lese-Verstehen und das Hör-Seh-Verstehen zu überprüfen. 5.1.2. Vorstellung der Ergebnisse Im Folgenden werden wir eine detaillierte, quantitative Analyse 23 der Antworten der Studierenden vornehmen. Neben den konkreten Antworten wurde auch erfasst, wenn ein Proband sich für keine der Antwortmöglichkeiten entschieden hat. In den Multiple-Choice-Fragen mit drei Antwortmöglichkeiten haben wir also eine vierte Option (d), die Nicht-Antwort, erfasst. Auch bei den Richtig-Falsch-Antworten wurde dieser zusätzliche, dritte Indikator (c) erfasst. Außerdem wurden, wo möglich, die Selbstkorrekturen beim 2. und 3. Durchgang erfasst. Die korrekte Antwort stellen wir hier im Kasten dar. Die Abkürzungen HV, HLV und HSV stehen für die drei Gruppen der Studie: Hör-Verstehen, Hör-Lese-Verstehen und Hör-Seh-Verstehen. Frage 1: Das Lied handelt: a) vom Wandern; b) von einer Liebesgeschichte; c) von Hoffnung A B C D HV 0 27 61,5 11,5 HLV 0 8,3 83,4 8,3 HSV 4 16 76 4 Tab. 1: Antworten Frage 1 24 In den Gruppen HV, HLV hat keiner der Studierenden die Antwortmöglichkeit A gewählt. In allen drei Gruppen wählte die überwiegende Mehrheit die korrekte Antwort C. In der Gruppe HLV gab es den höchsten Prozentsatz an korrekten Antworten. Auffällig sind die 4% der Studierenden in der Gruppe HSV, die die Antwortmöglichkeit A gewählt hat, die eine Bildaussage aus dem Video beinhaltete. Zudem gab es in der Gruppe HSV 20% nachträglicher Korrekturen. 23 Aufgrund der geringen Anzahl der Probanden sind die Ergebnisse nicht statistisch signifikant, lassen jedoch bereits Tendenzen erkennen, die in Untersuchungen größeren Umfangs verifiziert werden müssten. 24 Alle Angaben sind in Prozentzahlen, da die Anzahl der Probanden in der ersten Gruppe geringer war. Schau nicht mehr zurück 99 Frage 2: Das Lied möchte: a) vor Extremsport warnen; b) Mut machen; c) für Urlaub in der Natur werben. A B C D HV 0 92,2 3,9 3,9 HLV 0 83,4 8,3 8,3 HSV 0 96 4 0 Tab. 2: Antworten Frage 2 In allen drei Gruppen wird mit überwältigender Mehrheit die korrekte Antwort gewählt. In HSV gibt es kaum nachträgliche Korrekturen. Bei dieser Frage schien die Gruppe HLV im Nachteil. Frage 3: Der Sänger hatte bis jetzt kein leichtes Leben: Richtig/ Falsch. A B C HV 80,8 11,5 7,7 HLV 66,7 25 8,3 HSV 84 16 0 Tab. 3: Antworten Frage 3 Bei dieser Frage ist der erhöhte Prozentsatz falscher Antworten in der Gruppe HLV zu bemerken. Es gab keine nachträglichen Korrekturen. Frage 4: Der Sänger hat Probleme mit den Augen: Richtig/ Falsch A B C HV 7,7 80,8 11,5 HLV 16,6 83,4 0 HSV 12 88 0 Tab. 4: Antworten Frage 4 In (4) fielen die Antworten ähnlich aus, es gab einen leicht erhöhten Prozentsatz falscher Antworten in den Gruppen HLV und HSV. Frage 5: Der Sänger trägt einen schweren Rucksack: Richtig/ Falsch A B C HV 34,6 38,4 27 HLV 25 58,4 16,6 HSV 24 72 4 Tab. 5: Antworten Frage 5 In (5) wurde die richtige Antwort durch das Sehverstehen begünstigt, in der Gruppe HSV gab es den höchsten Prozentsatz an richtigen Antworten und den geringsten Anteil an Enthaltungen. 100 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Frage 6: Er möchte so nicht mehr weiterleben: Richtig/ Falsch A B C HV 42,5 50 7,7 HLV 91,7 8,3 0 HSV 72 28 0 Tab. 6: Antworten Frage 6 In (6) konnte nur die Gruppe HLV einen fast hundertprozentigen Anteil an korrekten Antworten erreichen. In der Gruppe HSV gab es 16% an nachträglichen Korrekturen. Frage 7: Welche der drei Titel passt am besten? a) Schau nicht mehr zurück! ; b) Das Glück in den Bergen ; c) Ich will dich zurück. A B C D HV 84,6 3,9 0 11,5 HLV 100 0 0 0 HSV 96 0 0 4 Tab. 7: Antworten Frage 7 Auch in (7) war die Gruppe HLV wieder im Vorteil, interessant sind die Abweichungen in der Gruppe HV. Nachträgliche Korrekturen gab es keine. Frage 8A: Der Sänger schaut oft zurück: Richtig/ Falsch A B C HV 23,1 69,2 7,7 HLV 33,3 58,4 8,3 HSV 32 68 0 Tab. 8: Antworten Frage 8A In 8A sind die Prozentzahlen recht homogen verteilt, wiederum scheint der Schwierigkeitsgrad bei der Gruppe HV am größten gewesen zu sein. Die Gruppe HLV wurde wahrscheinlich von den Textzeilen wenn ich zurückschau beeinflusst, denkbar ist ein Einfluss der kontrastiven Differenz in der semantischen Interpretation von wenn, das im Italienischen sowohl quando (temporal) als auch se (konditional) entsprechen kann. Frage 8B: Er möchte mitgenommen werden: Richtig/ Falsch A B C HV 36,4 30,8 36,4 HLV 16,6 58,4 25 HSV 24 72 4 Tab. 9: Antworten Frage 8B Schau nicht mehr zurück 101 In dieser Frage wird erneut der Einfluss der Bilder deutlich. Die größte Unsicherheit ist in der Gruppe HV abzulesen, aber auch die Gruppe HLV konnte in dieser Frage das Leseverstehen nicht ausschließlich positiv nutzen. Auch wenn in der Gruppe HSV die höchste Prozentzahl an korrekten Antworten gegeben wurde, ließ sich fast ein Viertel der Probanden von den Videobildern beeinflussen. Frage 8C: Er hatte nie Glück im Leben: Richtig/ Falsch A B C HV 27 65,4 7,7 HLV 50 50 0 HSV 60 40 0 Tab. 10: Antworten Frage 8C In 8C finden wir eine diametral verschobene Anordnung der Ergebnisse. Die Gruppe HSV gab zu 60% die korrekte Antwort, in der Gruppe HLV waren es nur 50%, und beim reinen Hörverstehen konnte nur ein Viertel der Studierenden die korrekte Antwort geben. In Gruppe HSV änderten 8% der Probanden nachträglich ihre Antwort. Frage 8D: Er möchte sich nur noch an die guten Dinge erinnern: Richtig/ Falsch. A B C HV 57,7 23,1 19,2 HLV 91,7 0 8,3 HSV 68 32 0 Tab. 11: Antworten Frage 8D In 8D zeigt sich, dass nur die Studierenden aus Gruppe HLV komplett die richtige Antwort geben konnten. Der hohe Prozentsatz falscher Antworten der Gruppe HSV lässt vermuten, dass die Videobilder die Antwort eventuell beeinflusst haben. Frage 8E: Rapmusik ist wie Medizin für ihn: Richtig/ Falsch. A B C HV 53,8 38,4 7,7 HLV 83,4 8,3 8,3 HSV 88 8 4 Tab. 12: Antworten Frage 8E Die Gruppen HLV und HSV konnten einen signifikant höheren Anteil an richtigen Antworten geben. 102 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Frage 8F: Leider hatte er bisher keine guten Erfahrungen gemacht: Richtig/ Falsch. A B C HV 23,1 65,4 11,5 HLV 33,3 58,4 8,3 HSV 60 40 0 Tab. 13: Antworten Frage 8E In dieser Frage konnte nur die Gruppe HSV zur großen Mehrheit die richtige Antwort geben. 4% der Probanden aus dieser Gruppe hat zudem die Antwort nachträglich korrigiert. Frage 8G: Man muss sich heute vor vielen Dingen fürchten: Richtig/ Falsch. A B C HV 34,6 53,8 11,5 HLV 16,6 83,4 0 HSV 20 80 0 Tab. 14: Antworten Frage 8G Bei dieser Frage stimmen die Prozentverhältnisse in den Gruppen HLV und HSV relativ überein, schwieriger fiel die Antwort den Probanden aus der Gruppe HV. 4% der Studierenden aus Gruppe HSV hat nachträglich die Antwort korrigiert. Frage 8H: Jeder sollte seinen eigenen Weg gehen: Richtig/ Falsch. A B C HV 76,9 7,7 15,4 HLV 83,4 8,3 8,3 HSV 92 8 0 Tab. 15: Antworten Frage 8H In allen drei Gruppen gibt die große Mehrheit die richtige Antwort, allerdings erhöht sich der Anteil in Abhängigkeit des Präsentationsmodus, die beste Gruppe ist hier HSV, in der auch keiner der Teilnehmer nachträglich seine Antwort korrigiert. Die Frage 9 Was wird im Lied tatsächlich gesagt? Entscheiden Sie sich für eine der drei Varianten! , in 14 Unterfragen unterteilt, sollte das Detailverstehen bzw. das intensive Hören überprüfen. Es handelte sich um Multiple-Choice- Fragen mit drei Antwortmöglichkeiten. Schau nicht mehr zurück 103 Frage 9.1: Ich schau’…a)…zurück.; b)…in mein Glück.; c)…nicht mehr zurück. A B C D HV 3,9 0 92,3 3,9 HLV 0 8,3 91,7 0 HSV 0 0 100 0 Tab. 16: Antworten Frage 9.1 In 9.1 geben alle Gruppen in einer großen Mehrheit die richtige Antwort. Interessant sind die 8,3% der Studierenden aus der Gruppe HLV, die offensichtlich durch den vorliegenden, geschriebenen Text in eine falsche Richtung gelenkt wurden. Übrigens die gleichen Studierenden, die in der Frage 7 zum Globalverstehen zu 100% die richtige Antwort mit Schau nicht mehr zurück gegeben hatten. Frage 9.2: Wenn ich zurückschau’…a)…seh’ ich nur mein Glück…; b)…seh’ ich kein Glück.; c)…werd’ ich verrückt. A B C D HV 96,1 0 0 3,9 HLV 91,7 8,3 0 0 HSV 92 8 0 0 Tab. 17: Antworten Frage 9.2 In 9.2 fallen die Antworten in allen drei Gruppen sehr homogen aus, fast alle Studierenden wählten die richtige Antwort. Frage 9.3: Alles Andere habe ich gern…a)…zurückgestellt.; b)…zugeschnürt.; c)…zugeschüttet. A B C D HV 0 3,9 92,3 3.9 HLV 0 0 91,7 8,3 HSV 4 12 84 0 Tab. 18: Antworten Frage 9.3 Am besten schnitt hier die Gruppe HLV ab, die den Text mitlesen konnte, da in dieser Gruppe keine abweichenden Antworten gegeben wurden. 104 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Frage 9.4: und mit schönen Erinnerungen…a)…einfach überspielt.; b)…einfach überbrückt.; c)…einfach übersetzt. A B C D HV 0 92,3 3,9 3,9 HLV 0 100 0 0 HSV 4 92 0 4 Tab. 19: Antworten Frage 9.4 In 9.4 war wiederum die Gruppe HLV im Vorteil. Frage 9.5: Heute ist…a)…eine neue Woche.; b)…ein neuer Anfang. ; …endlich Urlaub. A B C D HV 0 92,3 0 7,7 HLV 0 100 0 0 HSV 20 76 0 4 Tab. 20: Antworten Frage 9.5 Auch in 9.5 war die Gruppe HLV im Vorteil. Auffällig ist der erhöhte Prozentsatz von Antworten a) in der Gruppe HSV. Frage 9.6: Vergiss die Schmerzen für einen Moment, du denkst…a)…du könntest sterben…; b)…, du könntest tanzen…; c)…du könntest fliegen…. A B C D HV 3,9 0 88,5 7,7 HLV 0 0 83,4 16,6 HSV 8 0 80 12 Tab. 21: Antworten Frage 9.6 In 9.6 sind die korrekten Antworten recht homogen. Die Gruppen ohne den geschriebenen Text repräsentieren in niedrigen Prozentzahlen auch die falsche Antwortmöglichkeit a). Frage 9.7: Niemand kann…a)…seine Schnitten teilen.; b)…seine Schriften teilen.; c)…seine Schritte teilen. A B C D HV 30,8 15,4 50 3,9 HLV 8,3 8,3 75 8,3 HSV 32 16 44 18 Tab. 22: Antworten Frage 9.7 Schau nicht mehr zurück 105 Die Situation verändert sich bei dieser Frage. Die Gruppe HSV weist hier den geringsten Anteil an korrekten Antworten auf, was darauf schließen lässt, dass die Videobilder das Hörverstehen negativ beeinflussten. Frage 9.8: Man kann nicht…a)…in die Berge fliehen.; b)…vor sich selber flüchten.; c)…im Gebirge fliegen. A B C D HV 3,9 92,3 0 3,9 HLV 0 91,7 4 0 HSV 0 96 4 0 Tab. 23: Antworten Frage 9.8 In 9.8 geben alle drei Gruppen relativ homogen die richtige Antwort. Frage 9.9: Man sollte sich…a)…vor allem fürchten.; b)…vor gar nichts fürchten.; c)…ins Grüne flüchten. A B C D HV 3,9 84,6 7,7 3,9 HLV 8,3 58,4 25 8,3 HSV 4 88 4 4 Tab. 24: Antworten Frage 9.9 Interessanterweise gibt hier die Gruppe HSV mit dem höchsten Prozent-satz die richtige Antwort. Die Gruppe HLV weist die größten Abweichungen auf. Frage 9.10: Ich dreh’….a)… mich nie wieder um.; b)…mich noch mal um.; c)…den Rucksack herum. A B C D HV 30,8 30,8 19,2 19,2 HLV 0 83,4 0 16,6 HSV 24 24 8 44 Tab. 25: Antworten Frage 9.10 Schwierigkeiten im Verständnis hatten die Gruppen HV und HSV, in HLV gab es den größten Anteil an korrekten Antworten. Frage 9.11: Ich…die Vergangenheit. a)…salutier’…; b)…vermiss’…; c)…hass’…. A B C D HV 50 15,4 15,4 19,2 HLV 75 0 0 25 HSV 28 28 8 36 Tab. 26: Antworten Frage 9.11 106 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Nur die Gruppe HLV konnte zum überwiegenden Teil die richtige Antwort wählen, die Gruppen HV und HSV weisen variable Antworten auf. Frage 9.12. Du musst... a)…dir alles gefallen lassen., b)…nun alles fallen lassen., c)…dir nicht alles gefallen lassen. A B C D HV 69,2 7,7 3,9 19,2 HLV 16,6 16,6 33,4 33,4 HSV 32 4 28 36 Tab. 27: Antworten Frage 9.12 In dieser Frage schneidet die Gruppe HV am besten ab. HLV und HSV weisen variable Antwortverteilungen auf. Frage 9.13: Lieber a)…mühsam als leblos. ; b)…ohne Sorgen als mit Problemen.; c)…im Gebirge als in der Stadt. A B C D HV 61,5 11,5 7,7 19.2 HLV 33,4 8,3 0 58,4 HSV 36 12 0 52 Tab. 28: Antworten Frage 9.13 In 9.13 wählt nur die Gruppe HV die Antwortmöglichkeit C, die auf das Video bezogen war. Alle drei Gruppen haben Verständnisschwierigkeiten, die hohe Prozentzahl der Enthaltungen in HLV und HSV ist auffällig. Frage 9.14: Auch wenn es wehtut, bezwing…a)…den höchsten Gipfel.; b)…den Sonnenuntergang.; c)…jede noch so reißende Strömung. A B C D HV 7,7 15,4 23,1 53.8 HLV 8,3 0 8,3 83,4 HSV 0 12 20 68 Tab. 29: Antworten Frage 9.14 Bei dieser Frage ist der hohe Prozentsatz der Enthaltungen in allen Gruppen zu beobachten. Nur die Gruppen HV und HLV, die das Video nicht gesehen haben, ziehen Antwort A in Betracht. Antwortmöglichkeit B wird in den Gruppen HV und HSV gewählt, die nicht den Text hatten. Die richtige Antwort wird zur Mehrheit nur in den Gruppen HV und HSV gewählt. Die folgenden Fragen E1-8 in der Muttersprache der Studierenden dienten der Selbsteinschätzung, einer nachträglichen Bewertung des Experiments Schau nicht mehr zurück 107 durch die Probanden und als Feedback für die Durchführenden der Experimente. Antwortmöglichkeiten waren jeweils a) Sì (ja), b) No (nein) und c) Non lo so (Weiß ich nicht), mit d) wurden die Enthaltungen erfasst. Frage E1: Ti è piaciuta la canzone? (Hat dir das Lied gefallen? ) A B C D HV 80,8 3,9 3,9 11,5 HLV 100 0 0 0 HSV 74 12 4 4 Tab. 30: Antworten Frage E1 Die Ergebnisse könnten so interpretiert werden, dass nur die Gruppe, die den Text vorliegen hatte und das Lied besser verstanden hat, es auch emotional positiver bewertete. Frage E2: Vorresti ascoltare altre canzoni di questo genere/ di questo gruppo? (Möchtest du gern weitere Lieder dieser Art/ dieser Gruppe hören? ) A B C D HV 61,5 15,4 11,5 11,5 HLV 100 0 0 0 HSV 74 12 4 4 Tab. 31: Antworten Frage E2 Diese Ergebnisse spiegeln die Antworten aus E1 wider. Frage E3: Secondo te il testo è difficile? (War der Text deiner Meinung nach schwierig? ) A B C D HV 76,9 11,5 11,5 0 HLV 50 33,4 16,6 0 HSV 88 8 0 4 Tab. 32: Antworten Frage E3 In der Tabelle nicht erfasst sind 12% der Studierenden, die die Antwort präzisiert haben und handschriftlich ergänzt haben: Sì, RAP (Ja, der Rap). Die Studierenden der Gruppe HLV hatten weniger Probleme mit dem Text als die anderen beiden Gruppen, der höchste Schwierigkeitsgrad wurde von der Gruppe HSV empfunden. 108 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio Frage E4: Hai l’impressione di aver capito bene? (Denkst du, dass du das Lied gut verstanden hast? ) A B C D HV 65,4 11,5 11,5 11,5 HLV 33,4 8,3 50 8,3 HSV 16 32 48 4 Tab. 33: Antworten Frage E4 Den höchsten Prozentsatz positiver Antworten erreichte hier die Gruppe HV, die sich nur auf das Hörverständnis konzentriert hat und nicht durch andere Reize abgelenkt wurde. Widersprüchlich zu den vorherigen Antworten sind die (nur) 30% positiver Antworten in Gruppe HLV im Vergleich zu den 50% Weiß ich nicht. In HSV sagen nur 16% der Probanden von sich selbst, dass sie den Text gut verstanden hätten, 32% glauben, ihn nicht gut verstanden zu haben, und 52% können sich nicht festlegen. Frage 5: Avere il testo scritto ti ha / ti avrebbe facilitato la comprensione? (Hat/ Hätte dir der Text geholfen, das Lied besser zu verstehen? ) A B C D HV 80,8 0 7,7 11,5 HLV 100 0 0 0 HSV 96 0 0 4 Tab. 34: Antworten Frage E5 Auf diese Frage waren die Antworten einheitlich positiv, mit einem absoluten Wert in der Gruppe HLV. Frage 6: Il video originale è stato / poteva essere altrettanto utile alla comprensione? (War/ wäre das Originalvideo ebenso hilfreich für das Verständnis (gewesen)? A B C D HV 42,3 19,2 23,1 15,4 HLV 50 25 25 0 HSV 60 28 8 4 Tab. 35: Antworten Frage E6 Bemerkenswert sind die 20-30 Prozent negativer Antworten in den Gruppen HV und HLV, die das Video nicht gesehen hatten. Ein mehrheitlich positiver Wert wurde nur in der Gruppe HSV erreicht (im Widerspruch zur Antwort in der Frage E4). Schau nicht mehr zurück 109 Frage 7: Questo tipo di lezione è stato di supporto all’apprendimento? (Wirkt sich deiner Meinung nach diese Art von Unterricht positiv auf den Spracherwerb aus? ) A B C D HV 61,5 19,2 7,7 11,5 HLV 100 0 0 0 HSV 80 8 4 4 Tab. 36: Antworten Frage E7 Diese Werte zeigen, dass die Studierenden mehrheitlich der Meinung waren, dass sie etwas Neues gelernt hätten, ein absoluter Wert wurde in der Gruppe HLV erreicht. Frage E8: Questo tipo di esercizio ti ha motivato ulteriormente per lo studio della lingua tedesca? (Hat dich dieser Aufgabentyp für das Studium der deutschen Sprache verstärkt motiviert? ) A B C D HV 73 7,7 7,7 11,5 HLV 100 0 0 0 HSV 76 12 4 4 Tab. 37: Antworten Frage E8 Mehrheitlich waren die Antworten in allen Gruppen positiv, nur in HLV wurde wiederum ein absoluter Wert erreicht. Auswertung, didaktische Konsequenzen und Ausblick Die vorgestellte Untersuchung ging der Fragestellung nach, ob Hör-Verstehen und Hör-Seh-Verstehen im Fremdsprachenunterricht austauschbar sind und welche Aspekte beim Einsatz von Musikvideoclips im Fremdsprachenunterricht relevant sein könnten. Zusätzlich erweiterten wir die Untersuchung um das Hör-Lese-Verstehen. Auch wenn unsere Untersuchung aufgrund der geringen Anzahl von Probanden nicht repräsentativ ist und auch externe Faktoren, die wir nicht in ausreichendem Maße berücksichtigen konnten, das Verständnis beeinträchtigen können, zeigen sich u.E. einige Tendenzen. Beantworten wir zunächst die erste Frage: Nein, Hör-Verstehen und Hör- Seh-Verstehen im Bereich von Musik und Musikvideoclips sind nicht ohne weiteres durcheinander zu ersetzen. Betrachten wir die Ergebnisse im Detail: Vor allem die Fragen zum Global- und selektiven Verstehen zeigen relevante Unterschiede im Verständnis. Weniger anfällig waren dagegen die Fragen zum Detailverstehen 9.1-14. Insbesondere die Fragen 1-2-5-7-8A-8B-8F-8H, 110 Peggy Katelhön/ Martina Nied Curcio die die visuellen Mitteilungen des Videos fokussierten, wiesen erhebliche Unterschiede in den Antworten auf. In Frage 1 trat nur eine geringe Anzahl von falschen Antworten auf, auffällig war jedoch die Anzahl der Selbstkorrekturen von Studierenden, die erst das Video gesehen und dann das Lied gehört hatten. Auch in der Frage 5 wurde ein Viertel der Probanden von der visuellen Mitteilung des Videos abgelenkt, von denen sich 5% noch nachträglich korrigierte. 20% der Probanden ließen sich in 8A von den Bildern des Videos (der Sänger dreht sich um) verleiten, die Antwortmöglichkeit a) anzukreuzen, auch in 8D, 8F und 8H scheint das Video das Verstehen negativ beeinflusst zu haben. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass fast in der Hälfte aller Fragen die Videobilder das Antwortverhalten der Probanden beeinflusst hat. Die Annahme, Musikvideoclips würden das Hör-Seh-Verstehens unterstützen und den Fremdsprachenerwerb positiv beeinflussen, muss revidiert werden. Wie in allen anderen didaktischen Phasen auch, müssen sich die Lehrenden vorher genau überlegen, welche didaktischen Ziele sie mit dem Einsatz des Videoclips im Unterricht erreichen wollen. Sicherlich sind sie für die Lernenden sehr motivierend und als authentisches, kommunikatives Genre zur Vermittlung der fremden Lebenswelt und interkultureller Inhalte sehr nützlich. Soll jedoch überwiegend das Hör-Verstehen trainiert werden, müsste man eher auf weitere Reize verzichten bzw. die relevanten Aspekte des Seh-Verstehens mitberücksichtigen. Um das Hör-Seh-Verstehen als Fertigkeit im Fremdsprachenunterricht weiter zu erforschen, wären sicher umfangreichere Studien zu verschiedenen Fremdsprachen und unter stärkerer Berücksichtigung externer Faktoren sehr wünschenswert. Zudem sollten weitere mediale Gattungen zum Hör-Seh- Verstehen empirisch untersucht werden. 25 Albers, Hans-Georg / Bolton Sybille. 1995. Testen und Prüfen in der Grundstufe. Einstufungstests und Sprachstandsprüfungen. Berlin / München: Langenscheidt. Altrogge, Michael. 2001. Tönende Bilder. Interdisziplinäre Studie zu Musik und Bildern in Videoclips und ihrer Bedeutung für Jugendliche. Bd. 1-3: Berlin: Vitas. Balboni, Paolo E. 2007. La comunicazione interculturale. Venezia: Marsilio Editore. Biechele, Barbara. 2010. „Verstehen braucht Sehen: Entdeckendes Lernen mit Spielfilm im Unterricht Deutsch als Fremdsprache“, In: Tina Welke / Renate Faistauer, Renate (ed.). Lust auf Film heißt Lust auf Lernen. Der Einsatz des Mediums Film im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Wien: Praesens, 13-32. Blell, Gabriele / Lütge, Christiane. 2012. „Musical Visions: Filmmusik im Rahmen der Entwicklung von HörSeh-Verstehen im Fremdsprachenunterricht“, in: Laurenz 25 Wenngleich die Autorinnen in jeder Phase der Erarbeitung, Durchführung und Auswertung der Studie und der Verfassung des vorliegenden Artikels eng zusammengearbeitet haben, zeichnet Martina Nied Curcio für die § 1, 2, 3 und Peggy Katelhön für die § 4 und 5 verantwortlich. Schau nicht mehr zurück 111 Volkmann / Marcus Reinfried (ed.). 2012. Medien im Neokommunikativen Fremdsprachenunterricht. Einsatzformen, Inhalte, Lernerkompetenzen. Frankfurt a.M.: Peter Lang (im Druck); online: http: / / www.musik-im-fremdsprachenunterricht.de/ lacrash/ downloads/ GBlell_CLuetge-Musical Visions .pdf (20.02.2015). 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Wird zudem als Sachfach ein anschauliches und genuin handlungsorientiertes Fach wie beispielsweise Kunst gewählt, ergeben sich sowohl für die Fremdsprache als auch für das Sachfach neue Dimensionen des Lernens. In der Fachliteratur für die Handhabung einer Zielsprache 2 als Arbeitssprache im Sachfachunterricht finden sich mehrere Autoren, die das Fach Kunst als Einstiegsfach postulieren (cf. Uzerli/ Isberner 2002, Rymarczyk 2003, Duverger 2005, Geiger-Jaillet et al. 2011, Witzigmann 2011). Bislang existieren jedoch kaum wissenschaftliche Untersuchungen bezüglich des Einsatzes des Fachs Kunst im zielsprachlichen Sachfachunterricht 3 (cf. Rymarczyk 2003, Witzigmann 2011, Pittman in Vorbereitung). In jüngster Zeit widmen sich zunehmend wissenschaftliche Hausarbeiten und Masterarbeiten der Kombination von Fremdsprache und dem Sachfach Kunst (cf. Freuer/ Wittel 2012, Hermenau 2012). Dabei handelt es sich meist um Untersuchungen mit der Zielsprache Englisch. Die Kombination des Fachs Kunst mit einer romanischen Sprache bleibt bis auf eine Studie mit der Zielsprache Französisch (Witzigmann 2011) - bislang unerforscht. Dies ist insofern verwunderlich, als in allen Studien und Arbeiten über die positiven Effekte des Kunstunterrichts 1 Cf. u.a. Reinfried, M. (2001), Meißner, F.-J. (2005). 2 Mit der Terminologie Zielsprache ist im folgenden Beitrag die zu erlernende Fremdsprache gemeint. Beispielsweise wird im zielsprachlichen Kunstunterricht der Unterricht unter der Anwendung der zu erlernenden Fremdsprache (hier Französisch) durchgeführt. 3 Unter zielsprachlichen Sachfachunterricht wird eine Form bilinguales Lehren und Lernen verstanden, welcher das Sachfach mit der zu erlernenden Fremdsprache integriert. Beispielsweise wird im zielsprachlichen Kunstunterricht der Unterricht unter der Anwendung der zu erlernenden Fremdsprache durchgeführt. 114 Stéfanie Witzigmann für das Erlernen der Fremdsprache (ob Englisch oder Französisch) berichtet wird. Zudem verfügt das Fach aus Schülerperspektive über eine hohe Attraktivität (cf. Schlemminger/ Buchmann 2013, 214), was sich unter anderem auf den Handlungsbezug des Fachs zurückführen lässt. Dies wirkt sich motivierend auf den Zielsprachengebrauch der Schülerinnen und Schülern aus (cf. Rymarczyk 2003, Witzigmann 2011). Ausgehend von den Ergebnissen einer unterrichtsbegleitenden Studie, die die Zielsprache Französisch im Kunstunterricht als Arbeitssprache untersucht und in einer 5. Klasse einer baden-württembergischen Realschule durchgeführt wurde, wird im folgenden Beitrag die besondere Stellung des Fachs unter dem Blickwinkel des Sehverstehens aufgezeigt. Zunächst werde ich das Konzept des Sehverstehens definieren. Anschließend soll die Untersuchung sowie die Zielgruppe der Studie vorgestellt werden. Zuletzt wird anhand von konkreten empirischen Daten die Förderung des Sehverstehens in diesem besonderen Kontext erörtert. Sehverstehen Die Kompetenz des Sehverstehens bzw. des Hörsehverstehens ist in den Bildungsstandards und - lehrplänen der Bundesländer sowie in den Leitlinien des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprache (GeR) (Europarat 2001) als Begrifflichkeit zunehmend präsent. Doch was bedeutet genau Sehverstehen für den Fremdsprachenunterricht? In den Bildungsplänen und in den Deskriptoren des GeR reduziert sich die Bedeutung meist auf eine „verstän dniserl eichternde Wirkung“ (cf. Reimann 2016 in vorliegendem Band) von Bildelementen und/ oder Filmsequenzen. Doch Sehverstehen ist durchaus mehr als nur das Verstehen bzw. die Analyse und Interpretation von (audio-)visuellen Dokumenten. Schon alleine die Sehdaten können sehr unterschiedlich sein. Raabe (1997) unterscheidet zwischen Realvisuellem und Medialvisuellem. Realien aber auch der menschliche Körper werden dem Realvisuellen zugeordnet und Bilder, Bilderfolgen, Fernsehen oder Filme dem Medialvisuellen (cf. Raabe 1997, 159). Im Fremdsprachenunterricht tritt das Visuelle meistens in Verbindung mit Texten oder Ton auf. So entstehen spezifische Bild-Text-Relationen und audiovisuelle Wahrnehmungselemente. Diese vielfältigen Sehdaten wirken entsprechend unterschiedlich auf die Lernenden und stehen im Zusammenhang mit deren kognitiven, ästhetischen und emotional-affektiven Fähigkeiten und Fertigkeiten (cf. Weidenmann 1988, 14sqq., Sturm 1991, 5). In der heutigen fremdsprachenunterrichtlichen Konzeption (cf. Reimann 2016 in vorliegendem Band) ist das (Hör-)Sehverstehen eine eigene (Teil-)Fer- Eine besondere Art des Sehverstehens 115 tigkeit im Bereich der sprachlichen Fertigkeiten. Zudem ordnet sich Sehverstehen in Form von unterrichtlicher situativer Bewegung des menschlichen Körpers (in Gestik, Mimik, Körperhaltung, Proxemik) dem Bereich der sprachlichen Mittel zu. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass das Dekodieren von Körpersprache aber auch des visuell wahrnehmbaren Kontexts (z.B. Semiotik des Raumes, des Interieurs; cf. Schrader 2007) in einer kommunikativen Situation zwischen Sprechern des eigenen Kulturkreises und Sprechern unterschiedlicher Kulturen erlernt werden will. Die Kulturgebundenheit der Bilder (Bild, Foto, Film bis hin zum Kunstwerk) verlangt eine visuelle Kompetenz seitens der Lernenden. Hier bewegt man sich im Bereich des inter- / transkulturellen Lernens aber auch der Medienkompetenz (visual literacy cf. Hecke 2010): Indeed, they (the pictures) and wath they represent are centrally bound up with the nature of communication itself. Wath we see affects how we interpret what we hear and vice versa (Wright 1989, 137). Empirische Studie Die empirische Studie zur Integration der Zielsprache Französisch im Sachfachunterricht Kunst wurde an einer Realschule in Baden-Württemberg realisiert. Der Untersuchungszeitraum verlief über ein ganzes Schuljahr hinweg. Die Studie wurde in einer fünften Klasse durchgeführt mit Schülerinnen und Schülern, die Französisch als erste Fremdsprache zu Beginn ihrer Realschulzeit gewählt hatten. Diese Klasse setzte sich deshalb aus zwei Parallelklassen zusammen. Vor dem Eintritt in die Realschule besuchten die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Grundschulen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war der Fremdsprachenunterricht ab der ersten Grundschulklasse noch nicht verpflichtend. Der Großteil der Schülerinnen und Schüler erhielt jedoch im Rahmen des Programms ‚ L erne die Sprache des Nachbarn‘ in den dritten und vierten Grundschulklassen eine Grundeinführung in die französische Sprache. Fünf Schülerinnen und Schüler hatten bis zum Beginn ihrer Realschullaufzeit keinen institutionalisierten Kontakt mit der französischen Sprache und erlernten sie somit komplett neu. Parallel zum normalen fünfstündigen Fremdsprachenunterricht wurde im Erhebungszeitraum der Kunstunterricht im Rahmen der regulären zweistündigen Unterrichtszeit in der Zielsprache Französisch angeboten. Die Untersuchungsgruppe erhielt somit keinen verstärkten Fremdsprachenunterricht. Zu Beginn der Studie bestand die Untersuchungsgruppe aus 27 Schülerinnen und Schüler, achtzehn Mädchen und neun Jungen. Zwei Jungen verließen vor dem Halbjahr (Umzug, Schulwechsel) die Klasse. So umfasste die empirische Erhebung - über den größten Zeitraum hinweg - also 25 Schülerinnen 116 Stéfanie Witzigmann und Schüler, achtzehn Mädchen und sieben Jungen. Das Alter der Schülerinnen und Schüler betrug überwiegend zehn Jahre. Es handelte sich um eine heterogene Untersuchungsgruppe. 19 Schülerinnen und Schüler sind in Deutschland geboren und haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Allerdings sprechen 15 Lernende zu Hause ausschließlich oder zusätzlich zum Deutschen eine weitere Sprache mit einem bzw. beiden Elternteilen. Zu den Sprachen die überwiegend in den Elternhäusern der Schülerinnen und Schüler gesprochen werden zählen Türkisch, Polnisch, Bosnisch, Russisch (2x) und Arabisch. Die Sprachen die zusätzlich zur deutschen Sprache mit einem oder beiden Elternteilen gesprochen werden sind Russisch (2x), Türkisch (2x), Arabisch, Griechisch, Italienisch, Filipino und Tschechisch. Da es sich bei diesem Untersuchungsgegenstand um ein bislang unerforschtes Gebiet handelte, war das Ziel dieser explorativen Studie, den Einsatz des Sachfachs Kunst mit der Zielsprache Französisch in einer fünften Realschulklasse zu untersuchen und die Eignung dieses Sachfachs vor allem in der Phase des Einstiegs ins bilinguale Lehren und Lernen zu validieren. Inhaltlich ging es insbesondere darum, qualitativ zu überprüfen, ob das Fach Kunst bilinguales Lehren und Lernen auf Französisch methodisch und didaktisch zulässt und welche Einstellungen Schülerinnen und Schüler zum Kunstunterricht auf Französisch haben. Der Fokus lag primär auf der Sachfachdidaktik. So ging es darum die Sachfachkompetenz des Fachs Kunst den Schülerinnen und Schülern in ihrer entsprechenden Klassenstufe und Schulart, Klasse 5 der Realschule, zu vermitteln. Die Zielsprache Französisch fungierte als Arbeitssprache und diente der Konsolidierung sachfachlichen Lernens. Dank der besonderen Charakteristika des Sachfachs wie Anschaulichkeit, Handlungsorientierung bzw. Ganzheitlichkeit konnte der Kunstunterricht fast ausschließlich auf Französisch durchgeführt werden 4 . Der Kunstunterricht wurde von Lehrkräften 5 unterrichtet, die jeweils die Fakulta für das Sachfach und die Sprache besaßen. Bei dieser empirischen Studie handelt es sich um eine explorativ-interpretativ angelegte Untersuchung (cf. Caspari et al. 2003, 499 und Prengel et al. 2010, 27sq.). Die Datenerhebung selbst erfolgte im Sinne der Methoden-Triangulation (cf. Lamnek 2005, 278 und Flick 2007, 519) mehrperspektivisch durch unterschiedliche Erhebungsinstrumente, die auf Grund ihrer Vielschichtigkeit zur ‚Indikation‘ (cf. Steinke 1999, 215sqq.) beitragen. Neben der Aufzeichnung der Unterrichtsstunden auf Video wurden zusätzlich drei Fragebögen eingesetzt, Lerntagebücher angefertigt, eine Gruppendiskussion durchgeführt sowie Einzelinterviews videographiert. 4 Terminologische Fachbegriffe (beispielsweise auf Arbeitsblättern) wurden zusätzlich in der Schulsprache Deutsch ergänzt. 5 Ich selbst sowie zwei studentische Lehrkräfte im Rahmen eines angeleiteten viermonatigen Fachpraktikums. Eine besondere Art des Sehverstehens 117 Der Datenauswertungsprozess folgt dem induktiv-explorativen Vorgehen und orientiert sich an Miles/ Huberman (1994) und Wolcott (1994, 2001). Miles/ Huberman befürworten ein Vorgehen, das zusammengesetzt wird aus einer Datenreduktion, einer Datendarstellung und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen (cf. Miles/ Huberman 1994, 10). Wolcott (1994) plädiert bei der Auswertung qualitativer Datensätze für drei Vorgänge: Beschreibung - Analyse - Interpretation. Mehrere Datensätze konnten durch die Kombination unterschiedlicher Methoden generiert werden und somit unterschiedliche Aspekte der Untersuchung erfassen. Diese Datensätze sollen nun unter dem Aspekt des Sehverstehens exploriert werden. Die unterrichtspraktischen Sequenzen und Interviewausschnitte in den folgenden Abschnitten verstehen sich exemplarisch und zeigen auf, dass bereits im Anfangsunterricht der Realschule funktional-kommunikative Kompetenzen, Persönlichkeits-, Medien- und Fiktionalitätskompetenzen im Rahmen eines schulischen zielsprachlichen Sachfachunterrichtes gefördert werden können. Sehverstehen im zielsprachlichen Kunstunterricht Das Fach Kunst repräsentiert unter den Fächern das Bild schlecht hin und gilt als sehr anschauliches Sachfach. Gerade in Bezug auf das Erlernen einer Fremdsprache stellt das Visuelle einen zentralen didaktischen Schlüsselbegriff dar. Fremdsprachenlehrer wissen, dass Bilder bzw. visuelle Anreize bei der Sprachproduktion und - rezeption helfen können (cf. u.a. Blell/ Küpetz 1996, Raabe 1997, Rymarczyk 2003, Hecke 2010, Reinfried 2010, Witzigmann 2011, Michler 2011). Insbesondere wenn die fremdsprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten noch nicht voll entwickelt sind, wie dies zu Beginn des Fremdsprachunterrichts meistens der Fall ist, können visuelle Medien als Kommunikationsmittel dienen. Wird nun, wie in der vorliegenden Untersuchung, das Sachfach Kunst in der Zielsprache Französisch unterrichtet und sind die sprachlichen Kompetenzen der Lernenden entsprechend geringfügig, wird das Erlernen der Zielsprache durch die hohe Anschaulichkeit des Fachs in besonderem Maße begünstigt. Eine gestalterische Aufgabe bestand darin, ins Wasser fallende Steine bildnerisch darzustellen. Die Herausforderung bei der bildnerischen Umsetzung lag in der Darstellung der durch den Einschlag des fallenden Steins verursachten Wellen an der Wasseroberfläche, die unabhängig von den Steinformen, immer kreisförmig sind. Methodologisch stellt solch eine Thematik in der Fremdsprache eine kleine Herausforderung dar, denn die Einführung kann aufgrund der geringen zielsprachlichen Kompetenzen nicht ausschließ- 118 Stéfanie Witzigmann lich verbal erfolgen. Auch Abbildungen würden nur mühsam zum Verständnis dieses Phänomens verhelfen. So wurde anhand eines Experiments eine Anschauungshilfe generiert. Unterschiedliche Steine (rund, oval und spitz) wurden in eine mit Wasser gefüllte Schüssel geworfen. Die Schülerinnen und Schüler sollten dies beobachten. Spontan drückten sie (meist noch in der Schulsprache Deutsch) folgende Beobachtungen sprachlich aus, ohne dass die Lehrkraft spezifisch darauf hinweisen musste: Agathe: „da war’ne schicht und es hat (: : ) der stein hat die schicht kaputt gemacht“ (U_7; T_33); Viktoria: „da sind so kreise außen rum“ (U7; T_38); Nadja: „das sind so kreise die gehen immer weiter […] und werden immer größer“ (U_7; T_57/ 59). Nachdem die Lehrkraft die Äußerungen der Schülerinnen und Schüler bestätigt hat, fährt sie auf Französisch fort und fragt nach den Formen der Steine (rond, ovale ou carré). Diese werden von einer Schülerin auf Französisch als rund und oval benannt. Die Lehrkraft ergänzt die Bezeichnung pointu für die spitzigen Steine und hebt ein entsprechendes Exemplar hoch. Die Steine weisen also unterschiedliche Formen auf. Die Lehrkraft will weiterwissen, was mit den Wasserkreisen geschieht. Eine Schülerin beschreibt diese als „wellenförmig“. So wird schnell klar, dass die Steine zwar unterschiedliche Formen aufweisen, doch die Wasserkreise immer rund bleiben. Dieses visuelle Experiment hilft den Schülerinnen und Schülern, die entsprechende Handlung zu dekodieren und die Autarkie der Steinform gegenüber der Wellenform zu verstehen. Im Bereich des interkulturellen Sehverstehens sind gerade zu Beginn des Fremdsprachenunterrichts künstlerisch modellierte Darstellungen und Gesten bzw. Mimik besonders wichtig. In der vorliegenden Untersuchung fungiert die muttersprachliche Lehrkraft als visuell wahrnehmbares Setting, welches von den Schülerinnen und Schülern in ihrer Interaktion verstanden werden muss. In der nachfolgenden Interaktion wiederholt die Lehrkraft zu Beginn der Stunde die auszuführende Thematik (Ameisenstrasse) bzw. weist auf die gestalterischen Problematiken hin (realistische Ausführung - Perspektive, Merkmale des Insekts Ameise - sowie die 'Streuung und Ballung') auch anhand einiger gestalterischer Arbeiten von Schülerinnen und Schüler. T Lehrkraft SuS 39 alors est-ce que vous devez dessiner une fourmi° BgG (hebt Daumen hoch) 40 K: ? ? ? 41 seulement une fourmi° zaS 42 Deborah: non 43 combien de fourmis° (zeigt gerade drei mit den Fingern) Eine besondere Art des Sehverstehens 119 44 Deborah: trois 45 <erstaunt> trois fourmis° […] 48 Frank (ruft dazwischen): mille quatre-vingt dix-neuf 49 Florentin (ruft dazwischen): unendlich (: : ) mille […] 52 trois fourmis° 53 Deborah (lacht): mehr! 54 ah (: : ) alors combien de fourmis NLuca° 55 Luca: äh (: : ) vingt 56 <zögernd> oui zaS 57 Nadja <sehr leise>: cent 58 oui 59 Janette (ruft dazwischen): million 60 ouh (lacht) d’accord un million c’est un peu beaucoup! (: : ) mais cent fourmis c’est ok (: : ) […] 62 regardez l’image numéro 4 [… ] 67 Ocka <lächelt>: die (: : ) les fourmis sind ein bißchen zu äh dick (: : ) fett 68 les fourmis sont° 69 Deborah: trop grands 70 grosses BgG (bläst ihre Backen auf und mimt einen dicken Umfang) 71 Deborah (lacht): grosses 72 grosses 73 Florentin: grosses […] 147 et combien de pattes ont les fourmis° combien° (: : ) trois (BgG zeigt drei Finger) quatre BgG cinq BgG 148 Ocka: six! 149 voilà KN six pattes comme ici (zeigt auf ein entsprechendes Bild) très bien (: : ) et là zaB non KS quatre pattes KS 150 Alima (spricht vor sich hin): quatre pattes Tab. 1: Colonie de fourmis 2 - T_39-73 ; T_147-150/ 28.03.07 (U_12) 6 6 Abkürzungsverzeichnis / Transkriptionsregeln T = Turn; U = Unterrichtsaufnahme; SuS = Schülerinnen und Schüler; ° = steigende Intonation; 120 Stéfanie Witzigmann Die Lehrkraft fragt (Minute 2), ob die Schülerinnen und Schüler eine Ameise zeichnen sollen. Diese zielsprachliche Äußerung wird von der Klasse nicht verstanden (T_40). Die Lehrkraft wiederholt ihre Frage mit der Ergänzung des Adverbs „seulement une fourmi? “ (T_41). Deborah antwortet daraufhin sofort mit „non“. Dann stellt die Lehrkraft die Frage, wie viele Ameisen denn gezeichnet werden sollen (T_43). Deborah sieht die Lehrkraft, die mit der Hand gerade drei Finger zeigt, und nennt in der Zielsprache drei. Erstaunt wiederholt die Lehrkraft, ob nur drei Ameisen gezeichnet werden sollen. Frank ruft in der Zielsprache die Ziffer '1099' (T_48). Auch Florentin ruft „unendlich“ und anschließend „mille“ auf Französisch (T_49). Die Lehrkraft wiederholt ihre Frage. Deborah lacht, weil sie gemerkt hat, dass drei Ameisen bei weitem nicht ausreichen und ruft „mehr“ (T_53). Erneut stellt die Lehrkraft die Frage, wie viele Ameisen gezeichnet werden sollen. Luca nennt auf Französisch zwanzig (T_55). Die Lehrkraft bejaht etwas zögerlich. Nadja nennt „cent“ (T_57). Janette ruft auf Französisch dazwischen „million“ (T_58). Die Lehrkraft lacht, da für sie diese Zahl etwas zu hoch ist, sie stimmt jedoch der Zahl „cent“ zu. Etwas später stehen die Schülerinnen und Schüler vor einigen ihrer gestalterischen Arbeiten und beurteilen diese. Ocka kritisert, dass bei der Schülerarbeit Nummer 4 die Ameisen zu dick sind (T_67). Die Lehrkraft wiederholt den Satzansatz auf Französisch. Deborah vervollständigt in der Zielsprache mit „zu groß“ (T_69). Die Lehrkraft ergänzt mit dem richtigen Adjektiv für dick und mimt es entsprechend (T_70). Deborah und Florentin wiederholen das neue Vokabular. Anschließend fragt die Lehrkraft, wie viele Beine Ameisen besitzen (T_147). Ocka nennt auf Französisch sechs. Mit einem Kopfnicken stimmt die Lehrkraft der Antwort von Ocka zu und zeigt auf eine entsprechende Schülerarbeit. Gleichzeitig zeigt sie auf ein Gegenbeispiel, BgG = begleitende Geste; (xyz) = Beschreibung der Tätigkeit; K = Klasse; ? ? ? = Ratlosigkeit und Unverständnis; LK = Lehrkraft; zaS = LK zeigt auf eine Schülerin oder ein Schüler; (: : ) = kurze Pause oder Abbruch von Wörtern; <…> = Beschreibung der Sprechweise (laut, leise, usw.); ! = Nachdruck; NName = LK spricht Schülerinnen oder Schüler mit Namen an; zaB = LK zeigt etwas auf einem Bild; KN = Kopfnicken; KS = Kopfschütteln; ES = einige Schülerinnen und Schüler; [xyz] = starke Betonung; (: ) = vokalische bzw. konsonantische Dehnungen bei Wörtern. Eine besondere Art des Sehverstehens 121 schüttelt den Kopf und verweist darauf, dass bei dieser Arbeit nur vier Beine gezeichnet wurden. In Bezug auf das Sehverstehen ist diese Unterrichtsinteraktion besonders interessant. Sind die zielsprachlichen Kompetenzen der Lernenden noch gering, so versuchen sie meistens alle wahrnehmbaren nonverbalen kommunikativen Elemente (z.B. Gesten, Körpereinsatz) seitens der Lehrkraft zu dekodieren. Korrespondieren diese mit den Schlüsselbegriffen des Erzählten können sie für die Schülerinnen und Schüler sehr hilfreich sein (cf. Tellier 2005, Witzigmann 2011). In der vorliegenden Interaktion hebt allerdings die Lehrkraft unbewusst 7 gerade drei ihrer Finger hoch (T_44). Diese Geste nimmt Deborah als nonverbale Kommunikation wahr und baut darauf ihre Antwort auf. Da die Lehrkraft die Reichweite ihrer unbewussten Geste nicht absehen konnte, ist sie über die Antwort der Schülerin doch recht erstaunt. Die Zwischenrufe von Frank und Florentin lassen allerdings darauf schließen, dass sie sich, im Gegensatz zu Deborah, nicht auf die Geste der Lehrkraft fokussieren. Es wird deutlich, wie wichtig Gesten und Mimik als unterstützender Teil der verbalen Kommunikation, gerade im fremdsprachlichen Anfangsunterricht, sein können. Ganz anders verhält es sich in dieser Unterrichtssequenz mit den visuell wahrnehmbaren Schülerarbeiten während der Reflexionsphase. Hier sind die praktischen Arbeiten der Schülerinnen und Schüler eine Anschauungsgrundlage, die aufgrund ihrer Kontextgebundenheit eine gemeinsame kommunikative Basis darstellt. Die Bilder erleichtern den Zugang zur Fremdsprache und unterstützen die Schülerinnen und Schüler im Rahmen ihrer sprachlichen Fähigkeiten dabei, konstruktive Kritik in der Zielsprache zu wagen. So verwenden die Lernenden ihnen bekannte zielsprachliche Begriffe wie fourmis (T_67), trop grands (T_69) oder verschiedene Zahlen (six, cent, million, mille…), um ihre Beurteilungen auszudrücken. Die Schülerinnen und Schüler entdecken und beschreiben angsteinflößende Spinnen, zu dicke Ameisen oder gar welche mit nur vier Beinen. Die erzeugte Anschauungsgrundlage der gestalterischen Schülerarbeiten wird zudem haptisch begleitbar, indem beispielsweise die Lehrkraft mit einer Handbewegung auf die entsprechenden Arbeiten verweisen kann (T_149). Gleichzeitig schult die Reflexionsphase anhand der visuell wahrnehmbaren gestalterischen Schülerarbeiten die Persönlichkeitskompetenz der Schülerinnen und Schüler. Die Reflexion der eigenen Arbeiten ermöglicht es ihnen Distanz zu sich selbst zu gewinnen und neue Perspektiven zu entwickeln. Persönlichkeitskompetenz wird zudem durch das gegenseitige Zuhören und die Schulung der Urteilsfähigkeit ausgebildet. 7 Das Zeigen der drei Finger war der Lehrkraft in dieser schulischen Interaktion nicht bewusst und wurde erst viel später, anhand der Videographien während der Transkriptionsarbeit, entdeckt. 122 Stéfanie Witzigmann Unbestritten bleibt die Tatsache, dass die hohe Anschaulichkeit des zielsprachlichen Kunstunterrichts einen wichtigen Beitrag zur Schulung der Medienkompetenz leistet. Im Vergleich zu einer zielsprachlichen Erzählung oder einem schriftlichen Text ist die Lesbarkeit von visuellen Medien für die Schülerinnen und Schüler einfacher zu realisieren. So gestaltete sich die Bearbeitung des St. Martinsmarkt von Pontoise von Pissaro 8 für die Fünftklässler über die Betrachtung und Beschreibung desselbigen viel einfacher als über eine Originalerzählung einer Marktszene im 19. Jahrhundert. So äußerte eine Schülerin spontan: „ähm da ist (: : ) ist 1886 (: : ) und da (: : ) und da ähm (: : ) verkauft da (: : ) man so schweine oder wenn’s mal nichts zu essen gibt“ (U_11, T_64, Witzigmann 2011). Auch die Stilrichtung des Pointillismus kann dank des visuellen Impuls von den Schülerinnen und Schüler leicht erschlossen werden: „wenn’s mehrere punkte sind ist es dunkel (: : ) und wenn’s weniger sind dann ist hell“ (U_13, T_61, op.cit.). So werden die Schülerinnen und Schüler zum Schuljahresende immer kompetenter in der Analyse und Interpretation von Sehdaten. In nachfolgendem Unterrichtsausschnitt wird anhand von Fotographien die Entstehung des Puppentheaters präsentiert. T Lehrkraft 2 SuS 32 <laut>: ah j’aime! Lyon (auf der Folie ist folgendes zu sehen: der Satz Lyon, c’est une ville de France! und rechts von dem Satz eine Landkarte, worauf Lyon mit einem roten Punkt gekennzeichnet ist) 33 Janette (ruft dazwischen) <laut>: Lyon ist eine stadt in frankreich! 34 Lyon c’est ma ville (: : ) préférée! (schaut gespannt auf die Schüler) Lyon c’est une ville de france! 35 (deckt die Folie weiter ab und drei Fotos von Lyon sind zu sehen) ah (: : ) c’est une belle ville! (: : ) j’aime! Lyon (: : ) parce que c’est beau 36 Ocka: je n’aim[e] pas^ 37 Lyon (: : ) alors Lyon (: : ) c’est une ville de France^ (Armbewegung zu Mark) qu’est-ce qu’il y a° 38 Mark: haben sie auch das stadion von Lyon° (: : ) das fußballstadion° 39 ah le stade de foot° 40 Mark: oui 8 Camille Pissaro: St. Martinsmarkt von Pontoise, 1886, Federzeichnung, Musée du Louvre, Paris. Eine besondere Art des Sehverstehens 123 […] 52 d’accord^ (: : ) bon et à Lyon (: : ) il y a (: : ) des parcs (macht eine große Handbewegung von links nach rechts) 53 et dans les parcs il y a(: ) (deckt das selbst gebastelte Puppentheater auf, welches auf dem Lehrerpult steht) […] 58 qu’est-ce que c’est° (zeigt auf das Puppentheater) 59 ES: theater Serena: puppentheater 60 aha (: : ) ein puppentheater (: : ) et en francais° 61 Mark: le poup théâtre Lena: le theater 62 (deckt eine weitere Folie ab und der Titel le théâtre de Guignol erscheint) en français 63 <langsam und deutlich> c’est le théâtre de guignol! (: : ) […] 71 (deckt die Folie weiter ab) et (: : ) guignol 72 ES: ah! 73 ça c’est guignol (zeigt auf die Abbildung von der Handpuppe Guignol) 74 (deckt weiter die Folie ab und der Satz Lyon c’est la ville de Guignol sowie das Bild eines Puppentheaters erscheinen) et à Lyon (: : ) dans les parcs (: : ) il y a (: : ) des théâtres de guignol 75 (zu Ocka) oui 76 Ocka: im park von Lyon steht dieses hmm le théâtre de guignol 77 oh! il y en a beaucoup beaucoup 78 Ocka: überall! 79 oui […] 87 (deckt eine weitere Folie mit der Überschrift L’inventeur. Dort ist die Abbildung von Laurent Mourguet sowie sein Geburts- und Todesjahr abgebildet) 88 Frida: hmm der hat die puppen erfunden 89 oui (: : ) il a inventé le guignol […] 101 aha! oui (: : ) c’est Laurent 102 Frank ( ruft dazwischen): tu as quel 124 Stéfanie Witzigmann âge° (zeigt mit dem Zeigefinger auf die Fotografie von Laurent Mourguet) 103 (geht nicht auf Franks Bemerkung ein) Mourguet 104 Frank (ruft dazwischen): er ist 75 geworden (: : ) er hat’s zu mir gesagt^ 105 il a inventé (: : ) les poupées Tab. 2: Théâtre de Guignol - T_32-105 / 23.05.07 (U_16) Die Lehrkraft betont vorweg, dass sie die Stadt Lyon möge (T_32). Janette äußert Lyon sei eine Stadt in Frankreich, woraufhin die Lehrkraft dies in der Zielsprache wiederholt. Sie deckt drei Fotografien der Stadt Lyon auf und betont nochmals, dass Lyon eine schöne Stadt sei und dass sie sie möge (T_35). Ocka entgegnet daraufhin auf Französisch, dass sie die Stadt nicht möge „je n’aime pas“ (T_36). Die Lehrkraft wiederholt, dass Lyon eine Stadt in Frankreich sei. Mark fragt nach, ob sie das Fußballstadion von Lyon ebenfalls als Abbildung mitgebracht habe. Die Lehrkraft vergewissert sich, ob er „le stade de foot“ meine (T_39). Mark bejaht in der Zielsprache (T_40). Die Lehrkraft lenkt den Blick der Schülerinnen und Schüler auf die unzähligen Parks der Stadt (T_52). Sie enthüllt anschließend ein selbst gebasteltes Puppentheater, das auf dem Lehrerpult steht (T_53). Sie fragt nach was es sei. Einige Schülerinnen und Schüler identifizieren es als Theater und Serena als Puppentheater. Die Lehrkraft fordert die Schülerinnen und Schüler auf es auf Französisch zu benennen (T_60). Die Lernenden versuchen sich in unterschiedlichen codeswitching (T_61). Sie deckt die französische Überschrift auf und benennt es gleichzeitig verbal. Anschließend zeigt sie eine Abbildung der ursprünglichen Figur Guignol sowie eines im Park von Lyon stehenden Puppentheaters (T_71-74). Ocka verbalisiert in der Schulsprache, dass dieses Theater im Park von Lyon steht. Die Lehrkraft ergänzt, dass es viele davon gibt (T_77). Letztlich zeigt sie eine Zeichnung des französischen Erfinders Laurent Mourguet, welche mit seinem Geburts- und Todesjahr (1769-1844) ergänzt wurde. Frida vermutet sofort, dass es sich dabei um den Erfinder der Handpuppen handle (T_88). Die Aussage wird von der Lehrkraft auf Französisch wiederholt. Sie personalisiert zusätzlich ihre Aussage, indem sie explizit den Vornamen des Erfinders betont (T_101). Frank ruft dazwischen und fragt auf Französisch wie alt Laurent Mourguet sei (T_102). Er ergänzt anschließend, dass Mourguet zu ihm gesagt hätte, dass er 75 Jahre alt geworden wäre (T_104). Die Lehrkraft vervollständigt, dass Mourguet der Erfinder der Handpuppen sei. Das Aufdecken einer Fotografie und ggfs. eine französische Überschrift genügen, damit die Schülerinnen und Schüler ihre Text- und Medienkompetenz unter Beweis stellen. So analysieren sie souverän landeskundliche Fotografien bzw. Abbildungen und äußern meistens ihr Verstehen, indem sie es in der Schulsprache ausdrücken: „Lyon ist eine Stadt in Frankreich“, im Park Eine besondere Art des Sehverstehens 125 von Lyon steht „ le théâtre de guignol “ oder „er [Laurent Mourguet] hat die Puppen erfunden“. Diese authentischen visuellen Medien sprechen die Schülerinnen und Schüler zusätzlich affektiv an: so drückt Ocka in der Zielsprache ihr Missfallen gegenüber der Stadt Lyon aus „ j e n’aime pas“ (T_36). Auch bei Mark werden Assoziationen hervorgerufen. So verbindet er mit der Stadt Lyon seine Leidenschaft für Fußball. Womöglich ist ihm die Stadt Lyon von der Fußballmannschaft Olympique Lyonais her bekannt. Frank ist von dem Abbild von Laurent Mourguet so unmittelbar betroffen, dass er Mourguet quasi persönlich anspricht bzw. in einen imaginären Dialog mit ihm eintritt, den er in der Zielsprache führt „ tu as quel âge? “. Hier ist der Übergang zur Fiktionalitätskompetenz fließend. Nicht nur dass sich Frank auf das Abbild einlässt, er nimmt die Abbildung auch für einen begrenzten Zeitraum als faktuale Welt wahr, indem er emotional in einen Dialog involviert ist (cf. Rössler 2010, 171). Durch seine Bemerkung, Laurent Mourguet sei 75 Jahre alt geworden, tritt er aus dieser fiktionalen Welt wieder heraus und setzt diese in Bezug zur eigenen Wirklichkeit. Auch wenn die Fiktionalitätskompetenz im zielsprachlichen Kunstunterricht nicht spezifisch geschult wurde, wurde sie durch den Einsatz von visuell wahrnehmbaren Medien, wie Bilder und Comics, indirekt gefördert. Immer wieder wurde von Schülerinnen und Schülern bei der Betrachtung von Kunstwerken, Fotografien, Modellen oder Comics verlangt, in faktuale wie fiktionale Welten einzutauchen um schließlich eine Beobachterperspektive (hier jedoch meistens auf die gestalterische Arbeit bezogen) einzunehmen. Auf den Untersuchungszeitraum übertragen wurden die Schülerinnen und Schüler beispielsweise mit historischen und kulturell bedeutsamen Masken konfrontiert, durften Comicameisen mit realen Ameisenfotografien vergleichen oder einen Comic Panel für Panel durch eine Powerpoint-Präsentation entdecken. Die „emotionale Involviertheit“ (Rössler 2010, 171) drückte sich in Bemerkungen wie „die masken machen mir angst“, „mich juckt es schon überall“ (bei der Thematik der Ameisen) oder „Beeile dich! “ bzw. „Vorsicht“ als Ratschlag für die Hauptfiguren eines Comics während dessen Visualisierung, aus. Zusammenfassung und Ausblick Wird eine Fremdsprache wie in der vorliegenden Untersuchung in das Sachfach Kunst integriert entsteht sowohl für die Zielsprache als auch für das Sachfach ein sogenannter Mehrwert. Die Schülerinnen und Schüler sind der Zielsprache als Arbeitssprache länger exponiert und können dadurch ihre fremdsprachlichen Kompetenzen verbessern. Außerdem bieten die stark produktiv orientierten Phasen des gestalterischen Arbeitens genügend Freiraum für unverbindliche Sprachproduktionen. Auf der anderen Seite erhält das 126 Stéfanie Witzigmann Sachfach einen neuen methodologischen Zugang, der sich noch mehr als der traditionelle Kunstunterricht der visuellen Welt bedient. Die Schulung des (Hör-)Sehverstehens bekommt in diesem Kontext eine noch zentralere Bedeutung. Sehverstehen findet im zielsprachlichen Kunstunterricht auch ohne Hörverstehen statt. Um die Wirksamkeit von Bildern oder Kunstreproduktionen auf den Betrachter selbst entstehen zu lassen, bedarf es zunächst nicht vieler erklärender Wörter. Zu Recht weisen Bering et al. darauf hin, dass „das Überlagern und unnötige Beeinflussen des Bildes durch die Sprache vermieden werden“ (Bering et al. 2006, 120) soll. So entdecken die Schülerinnen und Schüler vorerst eigene subjektive Zugänge zur visuellen Welt bevor sie auf bestimmte Elemente hingewiesen werden. Dabei wird die Fähigkeit der genauen Beobachtung geschult. In den Einführungs- und Reflexionsphasen kommt es selbstverständlich zu Verbalisierungen. Durch die Verwendung der Sprache als Arbeitssprache im Kunstunterricht wird zwar ein schulisches jedoch visuell wahrnehmbares Setting kreiert, in dem die Schülerinnen und Schüler die Kommunikation (der Lehrkraft und der visuellen Medien) zu verstehen versuchen. Gerade bei geringen zielsprachlichen Kompetenzen seitens der Lernenden wird die Lehrkraft mehr denn je versuchen, die zielsprachlichen Sachfachinhalte durch Gesten, Mimik oder gar körperlichen Einsatz zu unterstützen. Hier wird Sehverstehen im Bereich der sprachlichen Mittel geschult, in dem die Schülerinnen und Schüler die nonverbale Kommunikation zu dekodieren versuchen: „sie helfen uns immer mit Zeichensprache […] mit Bildern […] und an die Tafel malen“ (U_17a, T_29/ 31/ 35, Witzigmann 2011). Dabei ist zu Beginn auf eine Korrelation zwischen Erzähltem und nonverbaler Begleitung zu achten. Bei der Fülle an visuellen Medien wie Kunstbilder, Fotografien, Grafiken, realen Objekten etc. wird im zielsprachlichen Kunstunterricht wie in keinem anderen Fach die Medienkompetenz gefördert. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit visuellen Medien im zielsprachlichen Kunstunterricht führt die Schülerinnen und Schüler zur Erweiterung ihres Erfahrungshorizonts, zur Entwicklung eines ästhetischen Bewusstseins und zur Förderung ihrer zielsprachlichen Kompetenzen. Dort werden ihre Sinne in ihrer Ganzheit angesprochen und visuelle sowie haptische Handlungen mit einem fremdsprachlichen Kontext verbunden. Die eigenen künstlerischen Schülerarbeiten sind Teil des ästhetischen Wahrnehmungsprozesses, der es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, Kritikfähigkeit und Urteilsfähigkeit (zunehmend in der Zielsprache) zu entwickeln und Distanz zu sich selbst zu gewinnen. Ihre Persönlichkeitskompetenzen werden gestärkt. Zuletzt schult der zielsprachliche Kunstunterricht mit dem Einsatz von fiktiven Bildern oder Geschichten (wie beispielsweise Comics) die Fiktionalitätskompetenz der Schülerinnen und Schüler. Zu Beginn der Sekundarstufe I Eine besondere Art des Sehverstehens 127 wurde ausschließlich mit eindeutig zuordenbaren realistischen und fiktionalen Bildern gearbeitet (cf. Rössler 2010, 176). So zum Beispiel bei einem explodierenden Vulkanausbruch aus dem Comic von Tim und Struppi und einer realen Fotografie eines explodierenden Vulkans: „ist es ein echter vulkan da°“ / „oh (: : ) geil! “ (U 21, T_73/ 75, Witzigmann 2011). Einige Aspekte des Sehverstehens werden bereits allein durch die Integration des Französischen im Kunstunterricht gefördert. Damit weist dieses Sachfach verkoppelt mit einer Fremdsprache ein großes Potenzial auf, das es zu nutzen gilt (cf. Rymarczyk 2003, Witzigmann 2011, Schlemminger/ Witzigmann 2013, Keßler/ Pittman 2013). Die hier dargelegten Erkenntnisse lassen sich auch auf den Fremdsprachenunterricht übertragen. Für die Förderung des Sehverstehens innerhalb des Fremdsprachenunterrichts sollte zu aller erst die Lehrkraft als visuell wahrnehmbares Setting eine vorbildliche Funktion im Sprachunterricht übernehmen, indem sie nicht nur über hervorragende kulturelle Kenntnisse des jeweiligen Zielsprachenlands verfügt, sondern auch ihre muttersprachähnlichen Sprachkenntnisse weitgehend im Unterricht verwendet. Doch auch der Einsatz von Experimenten, von gezielten Aufgabestellungen zu unterschiedlichen visuellen Medien (Bilder, Comics, Filme…) sollten systematisch im Fremdsprachenunterricht mehr Beachtung finden. Bering, Kunibert / Heimann, Ulrich / Littke, Joachim / Niehoff, Rolf / Rooch, Alarich. 2006. Kunstdidaktik. Oberhausen: Athena Verlag. Blell, Gabriele / Hellwig, Karlheinz (ed.). 1996. Bildende Kunst und Musik im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt am Main: Lang. 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Folglich überrascht es kaum, dass sich die Neuen Medien zu einem festen Bestandteil des modernen Unterrichts etabliert haben. Begünstigt durch die fremdsprachendidaktische Diskussion der letzten Jahre hat die Schulung des Hör-Seh-Verstehens eine zunehmende Aufwertung erfahren und genießt gegenwärtig einen vergleichsweise hohen Stellenwert. Ähnlich wie bei anderen Fertigkeiten bedarf es daher auch bei dem Hör- Seh- Verstehen „einer systematischen, gezielten,  und  kontrollierten Schulung durch eine steuernde Lehrkraft“ (Thaler 2007, 14). Um diesem Anliegen gerecht zu werden, versuchen gegenwärtige Lehrwerksüberarbeitungen, fremdsprachliche Lernvideos systematisch in das Schulbuch bzw. dazugehörige Arbeitshefte zu integrieren. Ziel soll sein, fremdsprachliches Hör-Seh-Verstehen bereits ab dem ersten Lernjahr zu schulen, sodass eine schrittweise Annäherung an authentische Kommunikationssituationen im Zielsprachenland ermöglicht wird. Neben der curricularen Verortung des Hör-Seh-Verstehens soll im folgenden Beitrag unter besonderer Berücksichtigung des Sehverstehens dessen Rolle und Präsenz im Kontext aktueller Lernvideos im Französischunterricht hervorgehoben werden. Am Beispiel der Lehrwerke von À plus! (seit 2012) soll deutlich werden, welchen funktional-kommunikativen Kompetenzen die Lernvideos der ersten beiden Lernjahre entsprechen und inwiefern erste visuelle Erfahrungen zur Entwicklung eines kritischen Medienbewusstseins beitragen können. 134 Elena Schäfer Curriculare Verortung des Hör-Seh-Verstehens Der fremdsprachliche Unterricht Französisch basiert auf diversen curricularen Richtlinien von Bund und Ländern. Dabei handelt es sich auf internationaler Ebene um den europaweit gültigen Gemeinsamen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) sowie um die landesspezifischen Bildungsstandards und Lehrpläne (cf. Abb. 1). Abb. 1: Curriculare Verortung des Hör-Seh-Verstehens (E.S.) Obwohl die Schulung des Hör-Seh-Verstehens ein vergleichsweise junges Kind der Didaktik ist, findet diese inzwischen auch curriculare Berücksichtigung. Dennoch ist die Frage nach dem Vorhandensein einschlägiger und praxisnaher Vorgaben sowie deren Interpretationsspielraum innerhalb der genannten Rahmenrichtlinien weitestgehend unbeleuchtet. Dementsprechend sollen im Folgenden ausgehend von der Kompetenzorientierung des GeR etwaige Lücken und Interpretationsmöglichkeiten aufgedeckt werden, sodass Rückschlüsse auf die schulische Praxis des Französischunterrichts gezogen werden können. Was den GeR betrifft, so beschreibt dieser Hör-Seh-Verstehen als eine rezeptive Aktivität, bei der der Sprachlernende „einen auditiven und einen visuellen Input zugleich“ erhält (Europarat 2001, 77). Als exemplarisch gelten das Mitlesen eines vorgelesenen Textes, die Betrachtung von Fernsehsendungen, Videoaufnahmen oder Filmen mit Untertiteln sowie die Verwendung neuer Technologien in Form von Multimedia und CD-ROM (cf. ibid.). Laut Referenzrahmen wird das Hör-Seh-Verstehen dem Hörverstehen als eine Variante zugeordnet. Nichtsdestotrotz werden wenige Absätze zuvor rezeptive Aktivitäten lediglich als „Hören und Lesen“ zusammengefasst, wobei die Fähigkeit des Sehens, die ja gerade bei der audiovisuellen Rezeption eine GeR Lehrplan Bildungsstandards Förderung des Hör-Seh-Verstehens 135 entscheidende Rolle spielt und eine Erweiterung zum Hörverstehen darstellt, keinerlei Berücksichtigung findet (cf. Europarat 2001, 71sqq.). Folglich scheint der Stellenwert des Hör-Seh-Verstehens auf den ersten Blick reduziert und eingeschränkt. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Deskriptoren der in der Rubrik Fernsehsendungen und Filme verstehen aufgeführten Beispielskala, so zeichnet sich eine äußerst vage und lückenhafte Kompetenzbeschreibung ab: Während für den fortgeschrittenen Fremdsprachenlerner einige wenige Anhaltspunkte zum Hör-Seh-Erwerb formuliert sind, fallen die Richtlinien insbesondere für den Anfangsunterricht spärlich aus. Im Gegensatz zu der ersten Niveaustufe (A1), für die derzeit keine Deskriptoren vorhanden sind, sollen Lernende der nächsthöheren Kompetenzstufe (A2) in der Lage sein, Themenwechsel zu erkennen und mit Hilfe visueller Unterstützung die Hauptinformation aus Fernsehberichten zu verstehen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach Gründen für das Fehlen einer Kompetenzbeschreibung für A1 (cf. Abb. 2). Die eventuelle Annahme, dass Sprachenlerner erst ab der Niveaustufe A2 im Stande seien, Fernsehnachrichten unter Rückgriff auf die zu Grunde liegende Bildspur zu entschlüsseln, kann wohl kaum eine befriedigende Erklärung sein. Denn nur zu gut wissen wir aus eigener Erfahrung, dass es selbst ohne Fremdsprachenkenntnisse gelingt, dem Wetterbericht zu folgen oder zumindest oberflächlich über die Themen eines Fernsehprogramms im Bilde zu sein. Wirft man nun einen Blick auf die Bildungsstandards, lässt sich feststellen, dass diese die Kompetenz des Hör-Seh-Verstehens neben der des Hörverstehens als einen eigenständigen Teilbereich kommunikativer Kompetenz deklarieren. Dennoch werden sie in Bezug auf die lernzeitbezogenen Kompetenzerwartungen und Inhaltsfelder unter dem Begriff Hör-/ Hör-Sehverstehen zusammengefasst. Zwar richten sich die Kompetenzbeschreibungen weitestgehend nach denen des GeR, jedoch scheinen erstere gerade in Bezug auf den Anfangsunterricht Französisch etwas präziser definiert. So wurden im Hinblick auf das Hör-/ Hör-Sehverstehen für die erste Fremdsprache am Ende der Jahrgangsstufe 6 folgende Kann-Beschreibungen formuliert: Die Lernenden können sprachlich einfache Äußerungen aus ihrem persönlichen Erlebnisumfeld verstehen und einzelne Informationen entnehmen, wenn langsam, sorgfältig und mit hohem Anteil an bekanntem Wortschatz gesprochen wird und Pausen zum Sinnerfassen eingeräumt werden. Sie können Aufforderungen, Anweisungen, Bitten, Ankündigungen, Mitteilungen, Beschreibungen, Informationen und Unterrichtsgespräche verstehen, didaktisierten sowie kurzen authentischen audio-visuellen Materialien wichtige Informationen entnehmen, wenn das Gesprochene durch Bildmaterial unterstützt wird (Hessisches Kultusministerium 2011, 30). 136 Elena Schäfer Fernsehsendungen und Filme verstehen C2 wie C1 C1 Kann Spielfilme verstehen, auch wenn viel saloppe Umgangssprache oder Gruppensprache und viel idiomatischer Sprachgebrauch darin vorkommt. B2 Kann im Fernsehen die meisten Nachruchtensendungen und Reportagen verstehen. Kann Fernsehreportagen, Live? Interviews, Talk-Shows, Fernsehspiele sowie die meisten Filme verstehen, sofern Standardsprache gesprochen wird. B1 Kann in vielen Fernsehsendungen zu Themen von persönlichem Interesse einen großen Teil verstehen, z. B. in Interviews, kurzen Vorträgen oder Nachrichtensendungen, wenn relativ langsam und deutlich gesprochen wird. Kann vielen Filmen folgen, deren Handlung im Wesentlichen durch Bild und Aktion getragen wird und deren Sprache klar und unkompliziert ist. Kann das Wesentliche von Fernsehprogrammen zu vertrauten Themen verstehen, sofern darin relativ langsam und deutlich gesprochen wird. A2 Kann die Hauptinformation von Fersehmeldungen über Ereignisse, Unglücksfälle usw. erfassen, wenn der Kommentar durch das Bild unterstützt wird. Kann dem Themenwechsel bei TV-Nachrichten folgen und sich eine Vorstellung vom Hauptinhalt machen. A1 Keine Deskriptoren vorhanden. Abb. 2: Beispielskala des GeR zur Kategorie ‚Fernsehsendungen und Filme verstehen’ (Europarat 2011, 77) Hierbei ist interessant, dass die Bildungsstandards im Gegensatz zu den Deskriptoren des GeR zwischen authentischen und didaktisierten audiovisuellen Materialien differenzieren. Neben der Kategorie des Filmmaterials findet zudem ein Hinweis auf dessen Länge statt. Darüber hinaus machen sowohl der GeR als auch die Bildungsstandards auf die Wichtigkeit geeigneter Bildmaterialien aufmerksam, welche eine Unterstützung des Hörverstehens ermöglichen (cf. Thaler 2007, 13). In diesem Kontext hebt der hessische Lehrplan für das Fach Französisch zunächst die Bedeutung des schulischen Umgangs und der Nutzung audiovisueller Medien im Rahmen der Medienerziehung hervor, wenngleich die Kompetenz des Hör-Seh-Verstehens nicht gesondert erwähnt wird. Die Befürwortung eines mediengestützten Unterrichts ergibt sich zum einen durch das innewohnende kulturelle und sprachliche Potential. Zum anderen wird dem Einsatz audiovisueller Medien eine motivationsfördernde Wirkung zugewiesen, die gewinnbringend genutzt werden kann (cf. Hessisches Kultusministerium 2010, 4sqq.). Förderung des Hör-Seh-Verstehens 137 Entgegen dieser Erkenntnis zeigt sich der Lehrplan Französisch ausgesprochen zurückhaltend hinsichtlich der Nennung konkreter Medienressourcen. Direkte Verweise und Vorschläge sind erst in den Unterrichtsinhalten der Oberstufe zu finden, wonach im Grund- und Leistungskurs Französisch ein bis zwei Dramen bzw. Filmszenarien verbindlich behandelt werden sollen. Als exemplarische Medienbeispiele finden lediglich La vie est un long fleuve tranquille, Le fabuleux destin d’Amélie Poulain sowie die Filme des Cinéfête Erwähnung (cf. ibid. 59, 81sqq.). Für niedrigere Lernstufen werden keine einschlägigen Ressourcen genannt. Explizite Hinweise und Medienbeispiele sind künftig jedoch für alle Jahrgangsstufen unabdinglich, wenn es darum geht, Hör-Seh-Verstehen frühzeitig und ganzheitlich zu schulen. Gestaltungsoffenheit von Hör-Seh-Aufgaben Schulbuchverlage und Lehrkräfte sind aktuell mit der Konzeption und Realisierung von Hör-Seh-Aufgaben gemäß den zuvor geschilderten curricularen Richtlinien konfrontiert. Bei der konkreten Umsetzung stellt sich jedoch das Problem, dass diese in Bezug auf den Erwerb des Hör-Seh-Verstehens äußerst vage ausfallen, indem sie zwar dessen Relevanz anerkennen, aber kaum Anhaltspunkte über die Umsetzung in die schulische Praxis geben. So steht lediglich fest, dass Hör-Seh-Verstehen als fester Bestandteil des Oberstufenunterrichts fungiert und idealerweise ab dem Anfangsunterricht geschult werden sollte. Angesichts der fehlenden Transparenz sind Akteure des Bildungssektors weitestgehend auf sich alleine gestellt, welche Relevanz sie dem Einsatz audiovisueller Medien, der Konzeption adäquater Aufgaben und damit gleichbedeutend der Schulung des Hör-Seh-Verstehens einräumen. Wie Schulbuchverlage gegenwärtig mit den zu Grunde liegenden Interpretationsmöglichkeiten umgehen, ist Gegenstand des nachfolgenden Abschnitts. Das Lernvideo als Verbundmedium Lehrwerke sind einzigartig in ihrer Funktion als Leitmedium: Sie gliedern den Unterricht und bilden insbesondere im Anfangsunterricht das Grundgerüst für den fremdsprachlichen Wissensaufbau (cf. Leupold 2007, 49). Um bildungspolitischen Forderungen auch künftig gerecht zu werden, haben sich Schulbuchverlage spürbar zur Aufgabe gemacht, die Kompetenz des Hör- Seh-Verstehens fortan stärker zu berücksichtigen. Im Mittelpunkt steht dabei 138 Elena Schäfer die systematische Erweiterung des Medienkompendiums aktueller Französischlehrwerke um Lernvideos. Derzeit gibt es eine Bandbreite an Lernvideos für den fremdsprachlichen Französischunterricht. Das Angebot führender Schulbuchverlage reicht von Lernvideos für den Anfangsunterricht bis hin zu Materialien für die Oberstufe und umfasst sowohl den Gymnasialals auch den Realschulzweig. Die Besonderheit von Lernvideos gegenüber herkömmlichen Videoformaten liegt darin begründet, dass sie unter Berücksichtigung der curricularen Vorgaben speziell für Lernende konzipiert wurden und auf deren Bedürfnisse, Alter und Lernstand abgestimmt sind. Zwar unterscheiden sich die Umsetzungen hinsichtlich Angebot, Konzeption und Integration zugehöriger Hör-Seh-Aufgaben teilweise grundlegend voneinander. Nichtsdestotrotz wird eine systematische und ganzheitliche Schulung des Hör-Seh-Verstehens insofern begünstigt, dass Lehrwerk und Lernvideo zunehmend miteinander verzahnt sind (cf. Abb. 3). Abb. 3.: Integration des Hör-Seh-Verstehens in aktuellen Lehrwerken (E.S.) Lernvideo Lehrwerk Videobezogene Aufgabentypen & Curriculare Vorgaben Förderung des Hör-Seh-Verstehens 139 Erwerb erster Hör-Seh-Strategien mit À plus! Inmitten der Vielfalt an Lernvideos des Französischunterrichts nehmen die seit 2012 erschienenen Lehrwerke von À plus! (Cornelsen) eine Sonderstellung ein. Die Besonderheit dieser erst kürzlich publizierten Lehrwerke liegt darin begründet, dass jeder Lektion mindestens ein Lernvideo zugeordnet ist und Schülern wie auch Lehrern zur Verfügung steht. Entgegen den Vorgaben des GeR kann Hör-Seh-Verstehen bereits zu Beginn des Fremdsprachenerwerbs gelehrt werden. Im Bemühen um eine frühzeitige Schulung des Hör-Seh-Verstehens thematisiert das für die ersten Unterrichtsstunden geeignete Lernvideo der Lehrwerksreihe À plus! 1 zunächst Begrüßungs- und Verabschiedungsformen unter Freunden und Erwachsenen in Frankreich. Neben der sprachlichen Annäherung an adressaten- und kontextbezogene Ausdrücke wie Salut, Bonjour, Ça va? und Au revoir madame/ monsieur bietet sich den Schülern am Beispiel der landestypischen bises die Gelegenheit, Teile der französischen Kultur hörsehend kennenzulernen. Entscheidend ist dabei die Bildspur, die Lernenden ermöglicht, das Gehörte in einen Kontext einzuordnen und dazu einlädt, unbekannte Aspekte des Ziellandes zu entdecken. So erlernen die Schüler die Differenzierung adressatenbezogener Begrüßungen nicht (nur) anhand einer Erklärung der Lehrkraft, sondern können sich diese anhand des Settings und der Interaktion eigenständig erschließen (cf. Abb. 4). Was das Sehverstehen als Teilfertigkeit betrifft, so ist vor allem das Miterleben der bises für deutsche Schüler von besonderer Bedeutung, da es in Kontrast zu ihnen bekannten Begrüßungsformen gleichaltriger Jugendlicher steht und einen ersten Beitrag zum interkulturellen Verständnis leistet. Diese ersten Hör-Seh-Erfahrungen wirken sich in vielerlei Hinsicht positiv auf den weiteren Lernprozess aus: Schüler schärfen ihre Wahrnehmung, indem sie lernen, unbekannte Strukturen mit bekannten visuellen Impulsen zu verknüpfen. Durch die gemeinsame Reflektion und explizite Thematisierung entsteht ein Bewusstsein für Sehbzw. Lernstrategien, welches auch bei komplexeren Hör-Seh-Texten herangezogen werden kann (cf. Rössler 2007, 20). 140 Elena Schäfer Abb. 4: Erste Hör-Seh-Erfahrungen mit À plus! 1 (Cousin et al. 2012, S.3) Lernvideos - Weit mehr als Hör-Seh-Verstehen Prinzipiell steht nicht allein die Schulung des Hör-Seh-Verstehens im Mittelpunkt der Lernvideos. Ein näherer Blick auf die videobezogenen Aufgaben macht deutlich, dass Lernvideos neben dem anhand der bises aufgezeigten interkulturellen Potential ebenso Ausgangspunkt für den Erwerb diverser produktiver und rezeptiver Grundfertigkeiten sein können. So erfordert die Lösung anknüpfender Aufgaben im Hinblick auf den rezeptiven Kompetenzerwerb vor allem ein kombiniertes Hör-Seh-Verstehen. Hintergrund ist der, dass das fremdsprachliche Hörverstehen in Lernvideos tendenziell durch die Bildspur unterstützt wird. Auf diese Weise werden dargestellte Informationen leicht nachvollziehbar und eventuelle Verständnisschwierigkeiten können durch nonverbale Komponenten ausgeglichen werden. Dieses Ergänzungsprinzip ist jedoch nicht immer selbstverständlich, da die Simultaneität visueller und akustischer Zeichen in Einzelfällen durchaus zu einer Überlastung führen kann (cf. Hu/ Leupold 2008, 58). Ebenso ist die gesonderte Berücksichtigung beider Teilfertigkeiten (Hören/ Sehen) nicht immer möglich bzw. sinnvoll ist und tritt daher nur vereinzelt auf. Die audiovisuelle Rezeption steht oftmals in direkter Verbindung zum fremdsprachlichen Leseverstehen. Dies betrifft nicht nur die Verwendung © 2012 Cornelsen Verlag Förderung des Hör-Seh-Verstehens 141 von Untertiteln. Auch Schriftzüge von Schildern, Karten, Postern o.ä. können eine große Bedeutung für das Verstehen des Gesehenen oder die Einordung des Kontexts haben. Dass es viel zu entdecken gibt, zeigt beispielweise auch eines der Lernvideos von À plus! 1, welches mit Hilfe zweisprachiger Straßenschilder auf die für den Lehrwerksschauplatz Straßburg charakteristische Diglossie verweist (cf. Schäfer 2014, 98f.). Der durch Lernvideos ermöglichte Einblick in das Zielsprachenland stimuliert Schüler sowohl zum Austausch ihrer Hör-Seh-Erfahrungen als auch zum inhaltsgebundenen Sprechen und Schreiben in der Zielsprache. Vorschläge für Kommunikationsanlässe bieten in der Regel die zugehörigen Lehrmaterialien (z.B. bises als Begrüßungsform) oder können wie im Fall der Diglossie auch eigenständig thematisiert und aufgegriffen werden. Des Weiteren eignen sich die Lernvideos hervorragend zur Ausspracheschulung. Sie haben eine behaltensfördernde Wirkung und führen Schüler mit Hilfe realitätsnaher Sprachvorbilder frühzeitig an muttersprachliches Sprechtempo und Intonationsmuster heran. Auf diese Weise kann Schülern die Angst vor der gesprochenen Sprache bestenfalls genommen und Hemmungen im Kontakt mit französischsprachigen Muttersprachlern abgebaut werden. Sehverstehen als Basis kritischen Medienbewusstseins Lernvideos verfügen über ein hohes Potential für die Entwicklung und Einübung fremdsprachlicher Kompetenzen und leisten bereits mit Beginn des ersten Lernjahres einen Beitrag zum interkulturellen Hör-Seh-Verstehen. Demzufolge machen Lernende zunächst auf der Grundlage didaktischer Spielszenen erste Erfahrungen mit alltagsbezogenen Kommunikationssituationen im Zielsprachenland: Sie erleben adressatenbezogene Begrüßungsformen, lauschen Gesprächen unter Freunden, lernen eine französische Schule kennen und gewinnen einen ersten Eindruck über die Hobbys und das Familienleben gleichaltriger Jugendlicher in Frankreich. Neben landschaftlichen und urbanen Eindrücken (z.B. Stadtviertel, Geschäfte, Freizeitmöglichkeiten) erleben die Lernenden „typische Sprechhaltungen [und visuelle Signale der Zielkultur], die Gefühls- und Handlungsdispositionen signalisieren“ (Meißner 2002, 361). Entsprechend der Forderung nach zunehmend komplexer werdenden und möglichst authentischen Hör-Seh-Texten (cf. Grünewald/ Küster 2009, 169) ändern sich mit steigendem Sprachniveau nicht nur die Anforderungen an Französischlernende sondern ebenso die Materialien. Vor diesem Hinter- 142 Elena Schäfer grund ist das am Ende des zweiten Lernjahres enthaltene (authentische) Lernvideo der Schüler-DVD von À plus! von besonderem Interesse. Es hat die Gefahren der unreflektierten Internetnutzung zum Gegenstand. Grundlage ist die Kampagne „N’oublie pas... Une fois affiché, c’est permanente! “ der französischen Gesundheitsorganisation Ado-Parlons-Santé (Ados@nté.org). Diese richtet sich an französischsprachige Jugendliche, um mit Hilfe eines Fallbeispiels vor den Tücken des Internets und der diesbezüglichen Datenspeicherung zu warnen. Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, welches ein Foto von sich mit einem Luftkuss online stellt. Auch Dritte haben Zugriff auf das Bild. Als sie es jedoch entfernen möchte, weil es ihr nicht mehr gefällt, muss sie feststellen, dass alle Versuche vergebens sind: Ihr Foto bleibt weiterhin im Internet gespeichert und ist für alle einsehbar (cf. Abb. 5). Abb. 5: Kritisches Medienbewusstsein durch die Kampagne „N’oublie pas... Une fois affiché, c’est permanente! “ der Gesundheitsorganisation Ado-Parlons-Santé (Réseau de santé Vitalité 2010) Diese Kampagne ist für den schulischen Fremdsprachenunterricht insofern relevant, da das Video vor allem von seiner Bildsprache lebt. Um diese entschlüsseln zu können, sind analytische und interpretatorische Kenntnisse sowie das ansatzweise Verstehen kinematographischer Techniken erforderlich. Denn abgesehen von den Schlussworten „Quand tu affiches ces photos en ligne, tu ne peux pas revenir en arrière. C’est permanent. Tout le monde peut les voir. Réfléchis avant de cliquer.“ eines unsichtbaren Sprechers sind keine weiteren Wortlaute enthalten. Folglich liegt das Augenmerk zunächst auf Mimik und Gestik der Protagonistin sowie der Hintergrundmusik, die einen Rückschluss auf die sich zuspitzende Atmosphäre erlaubt. Förderung des Hör-Seh-Verstehens 143 Angesicht der inhaltlichen Brisanz und des direkten Bezugs zur Lebenswelt der Schüler ist die Kampagne insgesamt nur ein Beispiel dafür, wie Jugendliche mit Hilfe von Lernvideos zu einer kritischen Reflektion im Umgang mit Medien herangeführt werden können. Die hierfür benötigten Hör-Seh- Strategien gehen dabei weit „ über reine Verständnisübungen hinaus  und erfordern  eine systema tische Analyse der Bildebene“ ( Reimann 2014). Jene Erschließung visueller Impulse will allerdings gelernt sein. Umso wichtiger ist es, dass Schüler frühzeitig Erfahrungen im Umgang mit Hör-Seh-Texten und diesbezüglichen Strategien sammeln, auf die sie im Rahmen inhaltlicher Erarbeitungen und anschließender Diskussionen zurückgreifen können. Zusammenfassung Die vorausgehenden Ausführungen haben gezeigt, dass aktuelle Lehrwerksüberarbeitungen durch die verstärkte Aufnahme von Lernvideos einen wesentlichen Beitrag zur nunmehr curricular geforderten Schulung des Hör-Seh- Verstehens leisten. Dies wird insbesondere durch die systematische Verknüpfung von Lehrwerk und Lernvideo mit entsprechenden Aufgabenvorschlägen möglich. Diese Konzeption kann als wegweisend erachtet werden, zumal ein Blick auf die aktuellen curricularen Richtlinien verrät, dass weder präzise noch vollständige Angaben zur schulischen Umsetzung vorliegen. Konkret konnte der erfolgreiche Einsatz von Lernvideos ab dem ersten Lernjahr anhand der 2012 publizierten Lehrwerksreihe À plus! veranschaulicht werden. Deren Mehrwert zeigt sich unter anderem im Rahmen interkultureller, rezeptiver sowie produktiver Kompetenzbereiche. Dass Lernvideos zudem über ein weitaus höheres Potential verfügen, wurde durch das Heranziehen eines abschließenden Fallbeispiels des zweiten Lernjahres verdeutlicht. Die Erschließung des letztgenannten Lernvideos setzt nicht nur die Kenntnis erster Hör-Seh-Strategien voraus, sondern leistet ebenso einen Beitrag zur Medienerziehung. In Anbetracht dieser Überlegungen wäre es sinnvoll, die bestehenden curricularen Vorgaben um Lernvideos zu ergänzen und auf deren Vorzüge hinzuweisen. 144 Elena Schäfer Europarat (ed.). 2011. Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lehren, lehren, beurteilen. Langenscheidt. Grünewald, Andreas/ Küster, Lutz. (edd.). 2009. Fachdidaktik Spanisch. Tradition, Innovation, Praxis. Stuttgart: Kallmeyer/ Klett. Hessisches Kultusministerium (ed.). 2010. Lehrplan Französisch: Gymnasialer Bildungsgang Jahrgangsstufen 5G bis 9G und gymnasiale Oberstufe. (http: / / www.kultusministerium.hessen.de/ irj/ HKM_Internet? cid=ac9f301df54d1fbfab83dd3a6449af60, 13.8.2013 Hessisches Kultusministerium (ed.). 2011. Bildungsstandards und Inhaltsfelder. Das neue Kerncurriculum für Hessen. Sekundarstufe I - Gymnasium: Moderne Fremdsprachen. (http: / / verwaltung.hessen.de/ irj/ servlet/ prt/ portal/ prtroot/ slimp. CMReader/ HKM_15/ HKM_Internet/ med/ 4c2/ 4c22d584-b546-821f-012f- 31e2389e4818,22222222-2222-2222-2222-222222222222, 9.4.2014 Hu, Adelheid / Eynar Leupold. 2008. „Kompetenzorientierung und Französischunterricht“, in: Olaf Köller / Eynar Leupold / Bernd Tesch (edd.): Bildungsstandards Französisch: konkret. Sekundarstufe I: Grundlagen, Aufgabenbeispiele und Unterrichtsanregungen. Berlin: Cornelsen, 51-84. Leupold, Eynar. 2007. Französischunterricht planen, durchführen, beurteilen. Seelze-Velber: Kallmeyer/ Klett. Meißner, Franz-Joseph. 2002. „Arbeiten mit Videos - einige einleitende Bemerkungen zum Hörsehverstehen“, in: Französisch heute, 33, 360-364. Reimann, Daniel. 2014. Transkulturelle kommunikative Kompetenz in den romanischen Sprachen. Theorie und Praxis eines neokommunikativen und kulturell bildenden Französisch-, Spanisch-, Italienisch- und Portugiesischunterrichts. Stuttgart: ibidem. Réseau de santé Vitalité. 2010. Ados Parlons Santé. N’oublie pas... une fois affiché, c’est permanent! (http: / / www.youtube.com/ watch? v=rHTj-sIp5sg, 16.4.2014) Rössler, Lydia. 2007. „Viel weniger an Filmen ist mehr! “, in: Fremdsprache Deutsch, 36, 17-20. Schäfer, Elena. 2014. „Phänomene des français parlé in Lernvideos des Französischunterrichts“, in: Zeitschrift für Romanische Sprachen und ihre Didaktik (ZRomSD), 8,1, 79- 99. Thaler, Engelbert. 2007. „Schulung des Hör-Seh-Verstehens“, in: Praxis Fremdsprachenunterricht, 4, 12-17. Lehrwerkkorpus und Lernvideos (o.A.). 2012-2013. Lehr-DVD À plus! 1-2. Nouvelle édition. Berlin: Cornelsen. Cousin, Vanessa et al. 2012. À plus! 1-2. Nouvelle édition. Carnet d’activités mit Förderheften und den Lehrbuchtexten im MP3-Format. Berlin: Cornelsen. Daniel Reimann Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen - am Beispiel des Spanischen Einleitung Der Beitrag versucht, den romanistisch-didaktischen Forschungsstand zur non-verbalen Kommunikation als Unterrichtsgegenstand und den Ansatz der Mehrsprachigkeitsdidaktik miteinander zu verknüpfen. Dabei geht er von folgender Forschungsfrage aus: Inwieweit kann beim Erlernen sprach- und kulturraumspezifischer Elemente non-verbaler Kommunikation im Fach Spanisch als 3. oder spätbeginnende Fremdsprache auf Kenntnisse im Französischen und/ oder Kenntnisse im Italienischen rekurriert werden? Non-verbale Kommunikation 2.1. Non-verbale Kommunikation in der alltäglichen Wahrnehmung Eigenheiten der non-verbalen Kommunikation werden gerade in der Fremdwahrnehmung immer wieder thematisiert. So ist das des „wild gestikulierenden“ Italieners ein landläufig und international verbreitetes Stereotyp. Den Franzosen sagt man im Allgemeinen nach, dass sie sich beim Sprechen mehr bewegen als z.B. die Deutschen. Reflexe dieser Beobachtungen finden sich schon in frühen metasprachlichen Quellen. So heißt es in Castigliones Cortegiano „[…] La pronta vivacità la qual nella nazion franzese quasi in ogni movimento si conosce“, in Henry Estiennes Deux dialogues de nouveau langage françois italianizé… ist die Rede davon, dass „[…] les Frances ne sont pas gesticulateurs de nature et n’aiment pas les gesticulations“. Natürlich sind solche Aussagen, wie jegliches Stereopty, Beitrag zur Ausbildung von Gruppenidentitäten; sie verweisen dennoch darauf, dass bereits früh ein Bewusstsein für Divergenzen im Gebrauch nonverbaler Mittel bestand. Eine detaillierte Untersuchung zu dieser Fragestellung bietet Peter Burke in seinem Buch Eleganz und Haltung. Heute finden sich Reflexe in zahlreichen Sprach-Reiseführern, in Karikaturen oder auch im Kabarett. Exemplarisch kann der Band La France et l’Italie vues par les dessinateurs de presse genannt werden. Auf der Ebene des 146 Daniel Reimann Kabaretts bzw. der Stand-up-Comedy kann ein Sketch der spanischen Comedy-Truppe Esplunge erwähnt werden („gestos“), der einzelne, mit einer spezifischen Bedeutung versehene Gesten in den Blick nimmt; für Frankreich der Sketch von Gad Elmaleh, der besagte Bewegungen beim Reden ins Zentrum stellt. Allen voran fallen international jedoch die Italiener wegen der Vielzahl der von ihnen benutzten Gesten auf. So war die bekannte Geste des „Handkorbs“ sogar Thema in der Kindersendung „Frag doch mal die Maus“ im Jahr 2009. 2.2. Was ist non-verbale Kommunikation - was sind Gesten? Man geht heute davon aus, dass Kommunikation ein hochkomplexes Gefüge von Mitteilungen in verschiedenen Kanälen ist, wozu zahlreiche Modelle vorliegen. Für die weitere fremdsprachendidaktische Beschäftigung sei das Modell von Ricci-Bitti 1987 als ein integratives Modell zur Multimodalität der Kommunikation zu Grunde gelegt (Ricci-Bitti 1987, 14): Abb. 1: Integratives Modell zur Multimodalität von Kommunikation (nach Ricci-Bitti 1987, 14) verbales System segmentale Ebene non-verbales System non-verbale Ebene der sprachl. Äußerung → Prosodie Mimik Mikrokinesik Blicke kinematische Elemente Bewegungen des ganzen Körpers (Haltung, Distanz) Makrokinesik Bewegungen einzelner Körperteile (Gesten, auch Kopfbewegungen) Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 147 Grundlegend wird hier zwischen einem verbalen und einem non-verbalen System unterschieden. Das verbale System entspricht der segmentalen Ebene der Sprache. Das hier zu betrachtende non-verbale System ist hochkomplex. Auf der einen Seite steht die non-verbale Ebene der sprachlichen Äusserung, mithin die Prosodie. Auf der anderen Seite befinden sich kinematische Elemente, die wiederum in Mikrokinesik (Mimik, Blicke) und in Makrokinesik unterteilt werden können. Unter Makrokinesik werden im vorliegenden Modell Bewegungen des ganzen Körpers (Haltungen, Distanz) sowie Bewegungen einzelner Körperteile (Gesten, auch Kopfbewegungen) verstanden. Der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, die Gesten, sind also im Bereich der Makrokinetik verortet. Das Wort „Geste“ stammt vom lateinischen (se gerere). Dieses wird von Cicero und Quintilian in ihren rhetorischen Schriften vor allem auf eine Bewegung der Gliedmassen bezogen (Wandruszka 1954, 31). Ab dem 15. Jahrhundert ist im Französischen „la geste“ (bis ins 16. Jahrhundert Femininum) in der heutigen Bedeutung belegt (Wespi 1949, 1). Im Deutschen tritt das Wort etwas zeitgleich zunächst als Lehnwort in der Theatersprache auf, später dann in der heutigen Bedeutung in Konkurrenz zum Wort „Gebärde“. Im heutigen Englischen ist die Rede von gesture, im Französischen von le geste, im Spanischen von le gesto und im Italienischen von il gesto die Rede. Als Arbeitsdefinition kann festgehalten werden, dass eine Geste jede Körperbewegung ist, die 1. von den Gesprächspartnern als direkt zum bewusst vollzogenen kommunikativen Akt gehörig ausgelegt werden kann (Ricci-Bitti 1987, 27) 2. innerhalb einer Sprechergemeinschaft dekodierbar ist (Kendon 1980). Zu beachten ist, dass der Empfänger auch körpersprachliche Signale (z.B. Adaptoren s.u.) interpretiert, die nicht in kommunikativer Absicht ausgesandt werden (z.B. Kendon 1983). Als Grundlage für die fremdsprachendidaktische Beschäftigung mit Gesten ist nach wie vor die Klassifikation von Ekman und Friesen aus dem Jahr 1969 hilfreich: Kategorie Definition Beispiele Embleme konventionalisierte Körperbewegungen, die eine verbale Äußerung ersetzen können Vogel zeigen, „Daumen hoch“, Kopfschütteln Illustratoren Körperbewegungen, die eine sprachliche Äußerung begleiten und verdeutlichen, nur während des Sprechens sprachbegleitende Zählgesten, rhythmisches „Taktschlagen“ 148 Daniel Reimann Regulatoren Körperbewegungen, die die Interkation zwischen Gesprächspartnern regeln, z.B. Sprecherwechsel Kopfnicken, Zeigen, Berührungen, Blickkontakt Affektdarstellungen Körperbewegungen zum teils spontanen, teils konventionalisierten Ausdruck von Gefühlen Faust ballen, Lachen, Naserümpfen Adaptoren/ Manipulatoren psychologisch begründete, meist unbewusste Verhaltensweisen nervöses Zucken, Auf- und Abgehen, Selbstberührungen Abb. 2: Kategorien von Gesten, Definitionen und Beispiele nach Ekman/ Friesen 1969, 49-98. Als Inhalt für die Beschäftigung im Fremdsprachenunterricht sind insbesondere die sogenannten Embleme relevant, die in Anlehnung an Efron 1941 als sprach- und kulturraumspezifisch konventionalisierte Gesten verstanden werden können. Diese können in der Kommunikation grundsätzlich drei verschiedene Funktionen ausüben: Sie können eine verbale Aussage ergänzen, ersetzen oder fortsetzen. Als Ergänzung nuancieren sie im Regelfall die verbale Aussage, als Fortsetzung einer verbalen Äußerung betonen sie die nunmehr non-verbal dargebotene Aussage, als Ersatz werden sie v.a. verwendet, wenn die verbale Kommunikation z.B. wegen Geräuschen nicht möglich oder gestört ist. Dies sei an drei Beispielen aus dem Spanischen illustriert: Funktion von Emblemen  Embleme als Ergänzung: Nuancieren der Aussage, z.B. zu „A mí no me gusta“: Faust auf Tisch vs. einschränkendes Heben der Hände  Embleme als Ersatz: z.B. am Zugfenster statt „te llamaré“, in Diskothek statt „yo me voy“  Embleme als Fortsetzung: Betonen der entsprechenden Aussage, z.B. „Ahora“ + abweisende Geste 2.3. Non-verbale Kommunikation in der Forschung Es können bisher vier Phasen der Forschung zur non-verbalen Kommunikation ausgemacht werden: Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 149 1. eine altertumswissenschaflich-mediävistisch-volkskundliche Phase im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert 2. eine populärwissenschaftliche Phase (1960ger Jahre, v.a. in den USA) 3. der Beginn systematischer Erforschung non-verbaler Kommunikation in den 1970ger und 1980ger Jahren 4. eine Phase der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Verfahren zur Analyse und Interpretation non-verbaler Interpretation, besonders im Hinblick auf die Multimodalität der Kommunikation etwa seit den 1980ger/ 1990ger Jahren. Wesentliche Ergebnisse dieser Forschungen, die als Grundlage der fremdsprachen-didaktischen Auseinandersetzungen mit non-verbaler Kommunikation gelten dürfen, sollen in den folgenden Abschnitten zusammengefasst werden. 2.3.1. Psycholinguistische Grundlagen 2.3.1.1. Entwicklungspsychologische Aspekte Verbindungen zwischen Körperbewegungen und Aktivität des Sprechapparats sind von den ersten Kommunikationsversuchen des Kindes an festzustellen. Früh erlernte Embleme in germanophonen und romanophonen Gebieten sind Kopfnicken und -schütteln. Ein Rückgang der sprachbegleitenden motorischen Aktivität ist ab dem 5./ 6. Lebensjahr zu verzeichnen. Eine verstärkte Entwicklung mimisch-gestischer Ausdrucksformen durch Übernahme konventionalisierter Gesten und Mimeme der Erwachsenen findet ab der Pubertät statt. Vor diesem Hintergrund darf davon ausgegangen werden, dass die Thematisierung non-verbaler Kommunikation im Fremdsprachenunterricht etwa ab Jahrgangsstufe 8 einsetzen kann. Dies hat sich in nicht repräsentativen Experimenten bestätigt. Eine im Hinblick auf die Bewertung bestimmter Sprach- und Kulturräume als gestenreich interessante Studie liefern Iverson et al. (2008). Je drei italienische und drei US-amerikanische Babys wurden zwischen ihrem 11. und 25. Lebensmonat je 30 Minuten pro Monat videographiert. Auf der Grundlage dieser Daten wurde die Zahl der verwendeten repräsentationalen Gesten und die Zahl der Lebensmonate, bevor Zwei-Wort-Sätze produziert wurden, in Relation gesetzt. Es konnte ein Zusammenhang zwischen kontextbedingter Verwendung repräsentationaler Gesten und der Verwendung von Wörtern bereits in einer frühen Periode des Spracherwerbs festgestellt werden. Die Zahl der verwendeten repräsentationalen Gesten von Monat 5 bis 0 vor Einsetzen der Zwei-Wort-Sätze ist bei den italienischen Kleinstkindern durchweg deutlich höher als bei den amerikanischen. Zugleich steigt die Zahl der verschiedenen verwendeten Wörter bei den italienischen Kindern langsamer 150 Daniel Reimann an als bei den US-amerikanischen. Die Daten lassen zum einen darauf schließen, dass Gesten Wörter zumindest teilweise ersetzen können, zum anderen darauf, dass in einer offensichtlich gestenreichen Umgebung tendenziell mehr und früher Gesten als Wörter erlernt werden. Abb. 3: Anzahl der repräsentationalen Gesten (Iverson et al. 2008) Abb. 4: Anzahl unterschiedlich ausgesprochener Wörter (Iverson et al. 2008) Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 151 2.3.1.2. Zusammenhang zwischen verbaler und non-verbaler Sprachproduktion. Verbale und non-verbale Sprachproduktion sind aufs Engste miteinander verbunden. Diesen Sachverhalt versucht man mit dem Syntagma „Multimodalität der Kommunikation“ zu bezeichnen. Für die Analyse von Sprachdaten hat man, je nach Untersuchungsziel, eine „Partiturschreibweise“ entwickelt, die untereinander z.B. verschiedene phonetische und prosodische Parameter und auch die non-verbale Aktivität untereinander transkribiert und somit zur Analyse und Interpretation aufbereitet. Abb. 5: Partiturschreibweise nach Magno Caldognetto/ Poggi 1997: 145. Entsprechend wurde am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen auch das einfache Sprachproduktionsmodell nach Levelt (Levelt 1989) erweitert um die Instanzen  „gestuary“, die auf der Ebene des Konzeptspeichers angesiedelt ist,  „gesture planner“, die auf der Ebene des Formulators angesetzt wird, 152 Daniel Reimann  und „motor control“, welche das Pendant zum Artikulator darstellt und zu einem „overt movement“ führt (de Ruiter 1998). In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, dass Gesten den semantisch entsprechenden verbalen Äußerungen vorausgehen, mindestens jedoch gleichzeitig realisiert werden (de Ruiter 1998). Je ausgefallener ein verbales Bild ist, desto früher erfolgt die Geste. Je konventionalisierter das Bild ist, desto später kann sie erfolgen. Dies ist im Spanischen, z.B. bei der Geste für „basta ya“ der Fall. Auch wurde festgestellt, dass die gestische Aktivität offenbar den Zugang zu im Gedächtnis gespeicherten Inhalten erleichert: temporary speech failure is recognized in the conceptualizer […] This recognized speech failure could then be compensated for by the transmission of a larger part of the communicative intention to the gesture modality (de Ruiter 1998: 21). Auch konnten Entsprechungen im Zusammenhang zwischen verbaler und non-verbaler Sprachproduktion festgestellt werden:  vor längeren Sprecheinheiten findet öfter eine Veränderung der Körperposition statt (Sitzhaltung)  vor kürzeren Syntagmen und einzelnen Wörtern werden tendenziell eher Gesten eingesetzt. Diese können weiterhin als ein Übergang zwischen mentalen Prozessen und verbalen Äußerungen angesehen werden: Ein Konzept oder die „Idee“ zur verbalen Äußerung führt zu einer (oft vorausgehenden) Geste. Diese ist häufig individuell (außer im Fall der Embleme). Auch verfügt sie nicht über eine Syntax, d.h. mehrere Gesten können allenfalls unverbunden aneinandergereiht werden. Hierauf folgt die segmentale („verbale“) Äußerung, die stärker konventionalisiert ist und auf eine Syntax zurückgreifen kann. Abb. 6: Gesten zwischen mentalen Prozessen und verbalen Äußerungen „Idee“ mentale Prozesse (oft vorausgehende) Geste oft individuell (außer Embleme) ohne Syntax segmentale („verbale“) Äußerung stärker konventionalisiert mit Syntax mit Syntax Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 153 2.3.1.3. Komplementarität von Mimik und Gestik Mimik und Gestik können als komplementär angesehen werden. Sie interagieren miteinander, wobei sie tendenziell verschiedene Referenten haben. Während die Gestik vor allem referenziell, performativ und diskursiv ist, drückt das Gesicht über die Mimik v.a. Emotionen aus. Abb. 7: Komplementarität von Gestik und Mimik 2.3.1.4. Zur semantischen Bestimmtheit von Gesten So wie sie sich keiner Syntax bedienen können, enthalten Gesten auch keine differenzierten semantischen Informationen, wie z.B. das eine, auch internationale, {rauchen}-Emblem im Spanischen, das entweder „me gustaría fumar“ oder aber „es un fumador incorregible“ bedeuten kann. Semantische Nuancen können allerdings durch morphologische Varianten bzw. Varianten in der Ausführung zum Ausdruck gebracht werden: Hier spielen +/ - Wiederholung, +/ - Symmetrie und +/ - Geschwindigkeit der Ausführung eine Rolle. Auch ist eine semantische Nuancierung durch Mimik möglich: so ist es ein Unterschied, ob zu einem {Schulterzucken} ein {echtes} oder {geheucheltes} Lächeln erfolgt, und es ist ein Unterschied, ob ein {Heranwinken} von einem {Lächeln} oder einem {Stirnrunzeln} begleitet wird. Viele Gesten sind nur in ihrem Verlauf („in der Bewegung“) identifizierbar (z.B. Cosnier 1996, 44: etwa 60 % der französischen Embleme). Gesten sollten bei der „Semantisierung“ für die Schülerinnen und Schüler also im Verlauf und in ihrer räumlichen Dimension erkennbar sein. 2.3.2. Fremdensprachendidaktische Implikationen 2.3.2.1. Aufgaben einer Didaktik der non-verbalen Kommunikation Eine grundlegende, dem allgemeinen Erziehungsauftrag der Schule Rechnung tragende Funktion einer Didaktik und Methodik der non-verbalen Gestik ↓ v.a. Hände und Arme ↓ v.a. referentiell, performativ, diskursiv Mimik ↓ v.a. Gesicht ↓ v.a. Emotionen interagieren 154 Daniel Reimann Kommunikation ist eine allgemeine Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler für körpersprachliche Phänomene. Diese kommt sowohl in der Alltagskommunikation als auch in offiziellen Situationen (Referat, Bewerbungsgespräch) zum Tragen. Eine diesbezügliche Bewusstmachung ist daher sinnvoll. Weiterhin hat die Auseinandersetzung mit non-verbaler Kommunikation eine inter- und transkulturelle Bedeutung im Hinblick auf die Kommunikation und das Sehverstehen. In diesem Bereich gilt es, für Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Deutschland, Spanien und den hispano-amerikanischen Regionen zu sensibilisieren. 2.3.2.2. Arbeitsfelder einer Didaktik der non-verbalen Kommunikation Die Auseinandersetzung mit non-verbaler Kommunikation im Fremdsprachenunterricht wird besonders ab der Mittelstufe einsetzen. Privilegierte Einführungsfelder sind der Literaturunterricht, die Filmanalyse, aber auch - im Hinblick auf eine zumindest in Ansätzen produktive Umsetzung - das fremdsprachliche Theater bzw. Schulspiel oder einfache Elemente des szenischen Spiels im Fremdsprachenunterricht. Zwischen rezeptiver Bewusstmachung und produktiver Umsetzung sind Aktivitäten anzusiedeln, die der Vorbereitung von Schüleraustausch oder sonstigen Auslandsaufenthalten dienen. Desweiteren sind selbstverständlich eigene Unterrichtseinheiten zur non-verbalen Kommunikation möglich (s.o.). 2.3.2.3. Methodische Anregungen zur Entwicklung einer Didaktik der nonverbalen Kommunikation Im Vorgriff auf zum Abschluss dieses Beitrags vorzustellende Beispiele für die Praxis der Auseinandersetzung mit non-verbaler Kommunikation sollen hier überblicksartig einige methodische Anregungen zur Entwicklung einer Didaktik der non-verbalen Kommunikation gegeben werden. Geeignet sind zunächst einmal Standbilder, an denen zentrale Ausführungselemente der jeweiligen Geste nachvollziehbar werden. Dabei ist an Bilder aus Zeitschriften, Werbeanzeigen usw. zu denken. Um non-verbale Kommunikation in ihrer Dynamik sichtbar werden zu lassen, bieten sich weiterhin bewegte Bilder, insbesondere Spielfilme an. Um auf das Sehverstehen und auf die Wahrnehmung der Gesten zu fokussieren, bietet sich an, zumindest punktuell, kurze Sequenzen ohne Ton zu präsentieren. Abstrakter, aber dennoch denkbar, ist die Analyse non-verbaler Kommunikation in narrativer Literatur. Hier kommen insbesondere realistische Texte mit ihren detaillierten Beschreibungssequenzen in Frage. Wiewohl die Produktion nicht als vorrangiges Ziel einer Auseinandersetzung mit non-verbaler Kommunikation im Fremdsprachen- Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 155 unterricht gelten darf - hier gelten dieselben Bedenken wie gegen die produktive Anwendung umgangssprachlicher Elemente, die in lernersprachlicher Produktion auf Muttersprachlerinnen und Muttersprachler mitunter befremdlich wirken können -, bietet es sich an, zumindest spielerisch punktuell einzelne Gesten ausführen zu lassen, um ein nachhaltiges Lernen im Hinblick auf eine möglichst gute rezeptive Sehkompetenz zu erzielen. Dazu bieten sich Elemente des szenischen Spiels wie das Rollenspiel etc. an. Während eines Auslandsaufenthaltes kann mit Beobachtungs- und Fragebögen die Sensibilisierung für non-verbale Kommunikation abgerundet werden. Nicht zuletzt bietet sich auch die Arbeit im Internet an; hierzu folgen Praxisbeispiele in Abschnitt 4. Was sind mehrsprachige Lernprozesse? 3.1. Neurolinguistische Grundlagen der Mehrsprachigkeitsdidaktik Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze zielen darauf ab, Lernerleichterungen durch Vernetzung von Sprachen im Sinne verstärkter, da öfter aktivierter neuronaler Verknüpfungen, zu begünstigen. Zentrale Begriffe, die im Grunde auf die frühe Fremdsprachenforschung im Kontext der Kontrastivhypothese von Lado zurückgehen, sind Transfer und Interferenz. Gelangt man etwa beim Spanischlernen von vorgelerntem Französisch entrer zu dem spanischen Lexem entrar, kann also erfolgreich Vorwissen von einer Sprache auf eine andere übertragen werden, so spricht man von Transfer. Gelangt man indes von Französisch prendre zu Spanisch prender anstatt zu tomar, ist also eine Übertragung nicht erfolgreich (prender wird im Spanischen in anderen Kontexten als alltagssprachliches tomar verwendet, das mithin als äquivalent von Französisch prendre gelten darf), so spricht man von Interferenz. Letztlich handelt es sich hierbei um eine Modellvorstellung, wie etwa auch bei dem Modell des mentalen Lexikons. Bislang liegen nur wenige empirische Erkenntnisse zum Mehrsprachenlernen vor, in Deutschland sind Forschungsdefizite v.a. im Bereich der neurolinguistischen Grundlagen erlernter Mehrsprachigkeit sowie im Bereich korpuslinguistisch basierter Studien zu romanischen Lernersprachen in mehrsprachigen Kontexten festzustellen. Klassische neurolinguistische Studien zur natürlichen Mehrsprachigkeit (z.B. Kim et al 1997), aber auch jüngere Studien zum Fremdsprachenlernen legen nahe, dass mit steigendem Sprachkönnen offensichtlich von einer Annäherung der Verarbeitungsmuster an die muttersprachlichen Mechanismen ausgegangen werden kann (Tatsuno/ Sakai 2005, für das Sprachenpaar Japanisch und Englisch, Osterhout 2006, für das Sprachenpaar Englisch und Französisch, Kotz 2009). Auch Vi- 156 Daniel Reimann desott 2011 gelangt bezüglich der natürlichen Mehrsprachigkeit zu einer vergleichbaren Erkenntnis: „[es] kann mit weitgehender Sicherheit behauptet werden, dass verschiedene Sprachen […] ein gemeinsames neuronales Netzwerk benutzen“ (Videsott 2011, 199). 3.2. Grundbegriffe und Phasen der Mehrsprachigkeitsdidaktik Im Folgenden sollen wichtige Konzepte der Mehrsprachigkeitsdidaktik und die Phasen der bisherigen mehrsprachigkeitsdidaktischen Forschung vorgestellt werden. „Echte“ Mehrsprachigkeit wird von Karl-Richard Bausch dann anerkannt, wenn ein Individuum über drei moderne Sprachen bzw. über zwei Fremdsprachen verfügt. Mithin geht er mit dem Mehrsprachigkeitskonzept der Europäischen Union konform, wie es z.B. im Gemeinsamen Referenzrahmen formuliert wird. Die Definition ist insofern bedeutsam, als Latein (und Altgriechisch) hier nicht mitgerechnet werden, also Schülerinnen und Schüler, die das Abitur mit den beiden Fremdsprachen Latein und Englisch erwerben, nicht als mehrsprachig gelten können. Bausch unterscheidet sodann im Hinblick auf unterrichtliche Verfahren zwischen additiver und integrativer Mehrsprachigkeit. Additive Mehrsprachigkeit bezeichnet dabei das traditionelle Vorgehen, bei dem mehrere Sprachen nacheinander gelehrt werden, ohne dass das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler bewusst aktiviert wurde. Integrative Mehrsprachigkeit bezeichnet indes Unterrichtsszenarien, in denen die Vernetzung von Sprachen anvisiert wird. In den 1990ger Jahren wurde sodann das Konzept einer „Didaktik der romanischen Mehrsprachigkeit“ von Franz-Joseph Meißner entwickelt. Der Ansatz war romanistisch-didaktisch geprägt und hatte zunächst v.a. auch die produktive Mehrsprachigkeit im Fokus. Auch wurde in demselben Zusammenhang mitunter von einer Didaktik der Mehrkulturalität gesprochen (v.a. Herbert Christ), wobei interbzw. transkulturelles Lernen durch Vernetzung kultureller Kompetenzen angestrebt wurde. Seit etwa 2000 wurde eine Interkomprehensionsdidaktik populär, die vertiefte rezeptive Kenntnisse (v.a. Leseverstehen) als Grundlage einer eventuellen späteren produktiven Mehrsprachigkeit zu fördern versuchte. Es handelte sich um ein ursprünglich hochschuldidaktisches Projekt, das in der romanistischen Sprachwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main (Horst G. Klein) entwickelt wurde. Trotz einzelner Pilotprojekte für den allgemeinbildenden Bereich scheint der Ansatz für den schulischen Fremdsprachenunterricht nicht tragbar. Zu nennen sind hier u.a. die reine Fertigkeitsorientierung, die fehlende kulturelle Komponente, mithin der fehlende Beitrag zum Bildungsauftrag der allgemeinbildenden Schulen, sowie nicht zuletzt die Tatsache, dass bei der Vermittlung ausschließlich schriftlicher rezeptiver Kompetenzen das Ausdrucksbedürfnis und der Ausdruckswille der Schülerinnen und Schüler unberücksichtigt bleiben. In jüngerer Zeit Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 157 mehren sich die Veröffentlichungen, die Kritik an der Interkomprehensionsdidaktik üben (z.B. Caspari/ Rössler 2008, Reimann 2009 b, c), sich auf die integrative Mehrsprachigkeitsdidaktik sowie auf die ursprünglich immer implizierte inter- und transkulturelle Komponente im Sinne einer Didaktik der Mehrkulturalität zurückbesinnen (Christ 2011). Vermehrt sind nunmehr wieder Publikationen zu einer integrativen, d.h. auch die produktive Mehrsprachigkeit anvisierenden, auch das Englische einbeziehenden, Fremdsprachendidaktik festzustellen (Leitzke-Ungerer 2005, 2008, 2011 a, b, Michler 2005, Reimann 2009 b) sowie eine Öffnung der Perspektive auf eine empirisch erfasste Schüler- und Lehrersicht (Reimann 2009 c, Neveling 2012). Es lassen sich mithin in den vergangenen etwa 25 Jahren mehrsprachigkeitsdidaktischer Forschung bislang folgende drei Phasen ausmachen:  Eine Entstehungsphase in den 1990er Jahren, in der eine Didaktik der romanischen Mehrsprachigkeit im Vordergrund stand, die auch produktive Fertigkeiten und Kompetenzen sowie die Mehrkulturalität einbezog,  eine Phase der Verengung auf die ausschließlich rezeptiven Fertigkeiten, und hier v.a. die das Leseverstehen berücksichtigende Interkomprehensionsdidaktik (etwa in den Jahren zwischen 2000 und 2010),  und seit 2010 eine sich neuerlich öffnende und erweiternde allgemeine Didaktik der Mehrsprachigkeit, die auch produktive Fertigkeiten und die Mehrkulturalität wieder einbezieht, zudem auch das Englische wie auch Herkunftssprachen verstärkt berücksichtigt und daher von mir an anderer Stelle als „aufgeklärte Mehrsprachigkeit“ bezeichnet wurde. Die Phasen der Forschung können wie folgt veranschaulicht werden: 1990er: Didaktik der romanischen Mehrsprachigkeit (auch produktiv) und Mehrkulturalität 2000er: Interkomprehension 2010er: Didaktik der Mehrsprachigkeit (auch prooduktiv) und Mehrkulturalität Abb. 8: Phasen der jüngeren mehrsprachigkeitsdidaktischen Forschung 158 Daniel Reimann 3.3. Zentrale Begriffe aus der mehrsprachigen Wortschatzdidaktik Zentrale Begriffe der mehrsprachigen Wortschatzdidaktik, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind, sind die Konzepte „Profilwörter“ und „transparenter“ versus „nicht-transparenter“ Wortschatz. Beide Konzepte bezeichnen im Grunde vergleichbare Sachverhalte, nehmen dabei aber verschiedene Perspektiven in den Fokus. Der Begriff „Profilwort“ (Klein/ Stegmann 1999, 146) stammt aus dem Frankfurter Interkomprehensionsprojekt Euro- Com und bezieht sich auf die sprachsystematische Perspektive: Er bezeichnet solche Begriffe, die sich in einer romanischen Sprache von allen anderen romanischen Sprachen bzw. von den anderen im EuroCom-Projekt berücksichtigten romanischen Sprachen unterscheidet. Ein Beispiel für ein spanisches Lexem, das als Profilwort gelten darf, ist alcanzar (erreichen). Dieses Wort lässt sich aus keiner eventuell vorgelernten romanischen Sprache ableiten und muss daher beim Spanischlernen neu und ggf. mit erhöhtem Aufwand erlernt werden. Unmittelbar auf die Lernerperspektive bezieht sich das Begriffspaar „transparenter“ und „nicht-transparenter“ Wortschatz, das auch mit den Begrifflichkeiten „durchsichtiger“ versus „nicht-durchsichtiger“ oder „opaker“ bzw. „nicht-opaker“ Wortschatz bezeichnet werden kann. Das Konzept wurde von Hausmann 2005 und Darlau 2005 entwickelt. „Transparenter“ Wortschatz bezeichnet mithin solche Lexeme einer neu zu erlernenden Fremdsprache, die aus der Fremdsprache selbst, einer Herkunftssprache oder einer vorgelernten Sprache problemlos abgeleitet werden können (z.B. Spanisch internacional), „nicht-transparenter“ Wortschatz dagegen solche Lexeme, die nicht einfach aus anderen Sprachen abgeleitet werden können und somit mit erhöhtem Lernaufwand erworben werden müssen (z.B. Spanisch aguantar - aushalten). Ich schlage vor, in Analogie zu diesen Begriffen für eine Didaktik der nonverbalen Kommunikation (cf. Reimann 2000) die Begriffe „Profilgesten“ und, aus fremdsprachendidaktischer Perspektive nützlicher, „transparente“ versus „nicht-transparente“ Gesten zu prägen. Ein Beispiel für eine transparente Geste des Spanischen wäre das Emblem zum Ausdruck der Perfektion, ein Beispiel für eine nicht-transparente Geste das Emblem für „clavar los codos“ (intensiv lernen, „büffeln“) (Abb. 8). Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 159 Abb. 8: Transparente (links) vs. nicht-transparente Gesten (Profilgesten) (rechts) Für die vorliegende Untersuchung wurde weiterhin folgende vereinfachte Transparenztypologie sprach- und kulturraumspezifischer Gesten für das Sprachenpaar Deutsch und Spanisch entwickelt: * L1 = D L1 = D * L1 = D L1 = D L2 = Sp L3 = F L2 = Sp L3 = F L4 = Sp L4 = Sp transparent < F (Transfer) nicht-transparent < F (Interferenz) Abb. 10: Vereinfachte Transparenztypologie sprach- und kulturraumspezifischer Gesten (am Beispiel des Sprachenpaares Deutsch-Spanisch) Eine spanische Geste, die einem deutschsprachigen Lernenden begegnet, kann in der oben festgelegten Terminologie entweder transparent, d.h. unmittelbar verständlich, oder nicht-transparent, mithin unverständlich, sein. Transparenz und Nicht-Transparenz können dabei zum einen aus dem unmittelbaren Kontrast zwischen der L1 Deutsch und der L2 Spanisch entste- Geste transparent nicht-transparent 160 Daniel Reimann hen, in mehrsprachigen Sprachlernbiographien aber auch aus Entsprechungen oder Divergenzen mit weiteren vorgelernten Sprachen, wie hier angenommen z.B. Französisch, resultieren. Eine primär für den deutschen Muttersprachler nicht-transparente Geste des Spanischen, die aber im Französischen und im Spanischen übereinstimmt und dem Lernenden bereits aus dem Französischen bekannt ist, kann somit durch Transfer im Spanischen transparent werden. Ebenso kann eine spanische Geste, die eigentlich aufgrund einer Entsprechung zwischen dem Deutschen und Spanischen transparent ist, durch Interferenz aus dem Französischen nicht-transparent werden. Der vorliegenden Untersuchung liegt folgendes Korpus spanischer, französischer und italienischer Gesten zugrunde, welches aus je drei Gestenkorpora pro untersuchter Sprache besteht:  Spanisch: Gaviño Rodríguez 2010sqq., Gelabert/ Martinell Gifre 1990, Cestero Mancera 1999  Französisch: Calbris/ Montredon 1986, Meißner et al. 1992, www.bodylanguage.fr.st 2004  Italienisch: Caon 2010, Diadori 1999, Eurocosm.com 1998sqq. Gaviño Rodríguez 2010sqq. enthält 107 spanische Gesten, die nach „morphologischen“ Kriterien geordnet sind, d.h. nach den beteiligten Körperteilen (una mano/ dos manos/ manos y corpo/ corpo y cara, Stand: 31.10.2011). Davon dürften für den deutschen Muttersprachler 75 Gesten als transparent gelten. Die für deutsche Muttersprachler nicht-transparenten Gesten, d.h. Profilgesten des Spanischen, sind 32 (29,9 %). In den anderen beiden untersuchten spanischen Gestenkorpora ergibt sich ein ähnliches Bild: Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 161 Abb. 11: Anzahl transparenter und nicht-transparenter Gesten in spanischen Gestenkorpora Insgesamt sind also nur etwa ein Fünftel der spanischen Gesten für deutsche Muttersprachlerinnen und Muttersprachler mit erhöhtem Aufwand zu erlernen. Für das Französische ergibt sich ein ähnliches Bild: Betrachtet man die drei untersuchten Korpora, so kann man feststellen, dass etwa 23 % der dort erfassten französischen Gesten für deutsche Muttersprachlerinnen und Muttersprachler nicht transparent wären. Anders verhält es sich im Falle des Italienischen, da es als „gestenreiche“ Sprache gilt: Hier können in den drei untersuchten Korpora 32 % der Gesten, mithin ein Drittel, als nicht-transparent gelten. 3.4. Nicht-transparente Gesten des Spanischen in der Transparenztypologie sprach- und kulturraumspezifischer Gesten 1. Beispiele für nicht-transparente Gesten des Spanischen ohne lernökonomischen Einfluss des Französischen und/ oder Italienischen (Profilgesten des Spanischen): 0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 Gavino Rodriguez Gelabert/ Martinell Gifre Cestero Mancera Σ transparent nicht-transparent ~ 162 Daniel Reimann comer de la mano de alguien jemandem aus der Hand (fr)essen Abb. 12: Emblem für „comer de la mano de alguien” qué cara dura unverschämt Abb. 13: Emblem für „qué cara dura“ 2. Beispiele für nicht-transparente Gesten des Spanischen, die durch Kenntnis entsprechender französischer Gesten erleichtert erlernt werden können: cruzar los dedos die Daumen drücken Abb. 14: Emblem für „cruzar los dedos“ Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 163 después, luego nachher, später Abb. 15: Emblem für „después, luego“ 3. Beispiele für nicht-transparente Gesten des Spanischen, bei denen durch Kenntnis entsprechender französischer Gesten ein Interferenzrisiko besteht: delgado, delgada dünn (frz. mon petit doigt me l’a dit - ich habe etwas läuten hören) Abb. 16: Emblem für „delgado, delgada“ mucho viel Abb. 17: Emblem für „mucho“ (Gavi ñ o Rodríguez 2010sqq.) 4. Beispiele für nicht-transparente Gesten des Spanischen, die durch Kenntnis entsprechender italienischer Gesten erlernt werden können: 164 Daniel Reimann largarse weggehen Abb. 18: Emblem für „largarse“ estar juntos zusammen sein Abb. 19: Emblem für „estar juntos“ 5. Beispiele für nicht-transparente Gesten des Spanischen, bei denen durch Kenntnis entsprechender italienischer Gesten ein Interferenzrisiko besteht: mariquita homosexuell (it. „lecker“) Abb 20: Emblem für „mariquita” Bei einer systematischen Auswertung der neun Gestenkorpora mit ihren insgesamt 909 Gesten im Hinblick auf die für das Erlernen des Spanischen als weiterer romanischer Sprache nach Französisch oder Italienisch einschlägigen Typen 2. bis 4. gelangt man zu folgendem Ergebnis: Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 165 Nonverbales Transferpotential vom Französischen zum Spanischen besteht für Lernende mit der L1 Deutsch in sieben der 32 im Korpus Gaviño Rodríguez 2010ff. als nicht transparent eruierten Gesten (21,9 %). Darunter befinden sich u.a. die Embleme für:  lagarto - croiser les doigts (incrociare le dita)  después - après (auch Sinn: explica - explique)  pensar - réfléchir  robar - voler (rubare)  chitón - motus et bouche cousue (silenzio)  ojo - mon œil (occhio)  irse - s’en aller (andarsene): Morphologie Dies kann graphisch wie folgt veranschaulicht werden: * L1 = D L1 = D L2 = Sp L3 = F transparent < F (Transfer) L4 = Sp → 7/ 32 nt Sp (21,9 %) Abb. 21: Nonverbales Transferpotenzial Französisch → Spanisch ( L1 Deutsch) Interferenzgefahr bei vorgelerntem Französisch besteht indes nur bei drei von 32 nicht-transparenten Gesten des Spanischen (9,4 %). Dies sind u.a. die folgenden Gesten:  mucho vs. peur  come de mi mano vs. un poil dans la main  delgado vs. mon petit doigt me l’a dit  (a dos velas vs. les doigts dans le nez [Wylie 1977]) Geste transparent nicht-transparent 166 Daniel Reimann * L1 = D L1 = D L2 = Sp L3 = F L4 = Sp verstärkte Nicht-Transparenz durch Interferenz → 3/ 32 nt Sp (9,4 %) Abb. 22: Nonverbales Intereferenzpotenzial Französisch → Spanisch (L1 Deutsch) Ist Italienisch vorgelernte Sprache, z. B. in einer Sprachlernbiographie, in der Italienisch als 3. Fremdsprache, Spanisch als spät beginnende Fremdsprache gelernt wird, so besteht Transferpotenzial vom Italienischen zum Spanischen z.B. in folgenden Fällen:  acércate - vieni  girar/ dar un voltio - fare un giro  mucho - molto (aber a. multipler Handkorb)  después - dopo  nosotros - noi  corta el rollo - taglia  pensar - pensare  irse - andarsene  lagarto - incrociare le dita  están juntos - stanno insieme  ojo - mon œil (occhio)  chitón - motus et bouche cousue (silenzio)  te lo prometo/ por estas - te lo giuro  robar rubare Geste transparent nicht-transparent Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 167 Insgesamt besteht bei 14 von 32 nicht-transparenten Gesten des Spanischen ein Transferpotenzial aus dem Italienischen; das sind 43,8 %. Dieses Transferpotenzial gilt natürlich auch in die andere Richtung, d.h., wenn Italienisch nach vorgelerntem Spanisch gelernt wird. * L1 = D L1 = D L2 = Sp L3 = F L4 = Sp/ It transparent < It (Transfer) L5 = It/ Sp → 14/ 32 nt Sp (43,8 %) Abb. 23: Nonverbales Transferpotential Italienisch → Spanisch/ Spanisch → Italienisch (L1 Deutsch) Natürlich bestehen auch zwischen Italienisch und Spanisch bzw. Spanisch und Italienisch Interferenzgefahren. Allerdings fallen diese im untersuchten Korpus wesentlich geringer aus als die Transfermöglichkeiten: In nur drei von 32 Fällen (9,4 %) könnte das Italienische zu einem falschen Verständnis einer spanischen Geste führen oder umgekehrt z.B.:  mucho vs. multipler Handkorb It (molti / che vuoi / stringi / paura)  aguantarse vs. andarsene (aber a. Sp irse)  marica vs. buono Geste transparent nicht-transparent 168 Daniel Reimann * L1 = D L1 = D L2 = Sp L3 = F L4 = Sp L5 = It verstärkte Nicht-Transparenz durch Interferenz → 3/ 32 nt Sp (9,4 %) Abb. 24: Nonverbales Intereferenzpotenzial Italienisch → Spanisch/ Spanisch → Italienisch (L1 Deutsch) Fasst man das Transfer- und Interferenzpotential bezogen auf nicht-transparente Gesten des Spanischen nach Sprachenpaaren zusammen, so gelangt man zu folgendem Ergebnis: F → Sp Transfer: 7/ 32 (21,9 %) Interferenz: 3/ 32 (9,4 %) Sp → It/ Transfer: 14/ 32 (43,8 %) It → Sp Interferenz: 3/ 32 (9,4 %) Abb. 25: Zusammenfassung der Transfer- und Interferenzpotenziale nach Sprachenpaaren (bezogen auf nicht-transparente Gesten des Spanischen) Vom Französischen zum Spanischen besteht also in 21,9 % der nicht-transparenten Gesten des Spanischen ein Transferpotenzial. D.h., bei jeder fünften nicht-transparenten Geste des Spanischen stellt vorgelerntes Französisch eine Hilfe dar. Dem steht Interferenzpotenzial in nur drei von 32 Fällen (9,4 %) gegenüber. Im Falle des Sprachenpaares Italienisch und Spanisch ist das Überwiegen des Transferpotenzials vor der Interferenzgefahr noch deutlicher ausgeprägt: In 14 von 32 Fällen (43,8 %) stützt die jeweils vorgelernte die neu Geste transparent nicht-transparent Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 169 zu erlernende romanische Sprache, wiederum nur in drei Fällen (9,4 %) besteht die Gefahr von Interferenzen. Es zeigt sich also, dass auch im Bereich der nonverbalen Kommunikation (Embleme) das mehrsprachigkeitsdidaktische Grundanliegen einer Lernerleichterung durch vernetztes Sprachenlernen erzielt werden kann, wenn man die entsprechenden Ressourcen in den vorgelernten Sprachen anlegt und später ausnutzt. Für eine multimodale integrative Mehrsprachigkeitsdidaktik in Theorie und Praxis Es ist also naheliegend, auch im Bereich der nonverbalen Kommunikation gezielt die Prinzipien einer integrativen Mehrsprachigkeitsdidaktik umzusetzen. Dies soll im Folgenden anhand eines ausgewählten Beispiels verdeutlicht werden. Dazu werden zunächst Prinzipien einer zweisprachig-kontrastiven Gestendidaktik rekapituliert (cf. Reimann 2000, 2006, 2008), bevor ein Szenario mehrsprachig-kontrastiver Gestendidaktik vorgestellt werden soll. 4.1. Prinzipien zweisprachig-konstrastiver Gestendidaktik - Beispiel Spanisch: 1 Eine Einführung in die nonverbale Kommunikation des Spanischen kann über kognitivierende Übungen erfolgen, in denen für die Existenz semantisch bestimmter Embleme sensibilisiert wird. Dazu eignen sich Zuordnungsübungen, in denen verbale Aussagen Abbildungen von Emblemen zugeordnet werden sollen. Für die Hinführung eignen sich Übungsreihen, in denen zahlreiche bekannte, da international verbreitete Gesten enthalten sind, um grundsätzlich an das Phänomen heranzuführen und um motivierende Erlebnisse zu schaffen. Umso mehr wird das Bewusstsein für die wenigen in einer solchen Übung enthaltenen sprach- und kulturraumspezifischen Gesten des Spanischen geweckt (cf. z.B. Reimann 2008, Hoja de trabajo 1). In einer weiteren Aktivität sollten nicht-transparente Gesten des Spanischen oder solche, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit bei gleichzeitig vorliegender semantischer Differenz für Interferenzgefahr sorgen, thematisiert werden. Hierzu eignet sich eine Übung vom Typ: Aquí veis algunos gestos que o ne se utilizan en Alemania o se asemejan a otro gesto español y por eso pueden causar equívocos. Combinad gestos e imágines - atención: algunos gestos pueden representar dos frases distintas. Abb. 26: Aufgabenstellung zu gestos „difíciles“ (vgl. Reima nn 2008, Hoja de trabajo 5) 170 Daniel Reimann Eine umfassende Unterrichtsreihe zur zweisprachig-kontrastiven Gestendidaktik am Beispiel des Französischen habe ich in Reimann 2006 vorgestellt. Ausgehend von dem Intenetpool bodylanguage.fr.st 2004 sollen sich die Schülerinnen und Schüler weitgehend eigenständig mit französischen Emblemen auseinandersetzen, bevor die Ergebnisse im Plenum zusammengetragen und gesichert werden können. In einem ersten Schritt sollen sie versuchen, die Bedeutung einzelner Embleme auf einem Arbeitsblatt zu dokumentieren. In weiteren Schritten soll über die Bedeutung und Verwendung der Gesten in kognitivierender Intention reflektiert werden. In einem taxonomisch gestuften dreischrittigen Verfahren soll von der Kenntnis der französischen Gesten über die Verständnissicherung zum Vergleich und abschließend zur Reflektion über die Gesten und Divergenzen in der nonverbalen Kommunikation zwischen Deutschland und Frankreich hingeführt werden.  Connaître les gestes français  Comprendre les gestes  Comparer les gestes  Réfléchir sur les gestes en France et Allemagne In Aktivität 2.1 „Comprendre les gestes“ sollen sich die Schülerinnen und Schüler in einem ersten Schritt bewusst machen, welche Gesten sie sofort verstanden haben und welche sie nicht verstehen konnten, ohne die im Internet auf der fraglichen Seite ebenfalls gegebene Lösung zu konsultieren. Diese Aufzeichnungen dienen als Grundlage für das spätere Unterrichtsgespräch im Plenum. Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 171 Les gestes et les mots ... 1.1 Connaître les gestes français Regardez les images : quels gestes est-ce que vous comprenez ? Notez au crayon à papier le sens de ces gestes (dans la colonne « les mots »). le geste les mots en allemand (si nécessaire) 1 2 Abb. 27: Aufgabenstellung zum Kennenlernen französischer Gesten (Reimann 2006, Ausschnitt) Im zweiten Schritt, „Comparer les gestes“ sollen die Schülerinnen und Schüler die Gesten wie folgt klassifizieren:  Welche Gesten existieren im Deutschen nicht?  Welche Gesten existieren im Deutschen mit derselben Bedeutung wie im Französischen?  Welche Gesten existieren im Deutschen mit einer anderen Bedeutung als im Französischen?  Für welche französischen Gesten gibt es eine andere Geste als im Deutschen? 172 Daniel Reimann 2.1 Comprendre les gestes 2.1.1 Quels gestes avez-vous compris tout de suite (sans lire ni écouter les mots qui accompagnent le geste)? Les gestes numéro: ______________________________________. 2.1.2 Quels gestes n´avez-vous pas compris sans lire ni écouter les mots? Les gestes numéro: ______________________________________. 2.2 Comparer les gestes 2.2.1 Quels gestes n´existent pas du tout en allemand? Les gestes numéro: ______________________________________. 2.2.2 Quels gestes existent aussi en allemand (avec le même sens qu´en français)? Les gestes numéro: ______________________________________. 2.2.3 Quels gestes ont un sens différent en allemand ? Les gestes numéro: ______________________________________. 2.2.4 Pour quels gestes français/ quels mots français y a-t-il un autre geste en allemand? Pour les gestes numéro: __________________________________. Abb. 28: Arbeitsaufträge zum Verstehen und Vergleichen von Gesten Im Bereich „Réfléchir sur les gestes en France et Allemagne“ sollen die Schülerinnen und Schüler, z.B. als Hausaufgabe, ihr Wissen über französische Gesten reflektierend anwenden, indem sie eine E-Mail schreiben sollen, in der sie einen deutschsprachigen Freund/ einer deutschsprachigen Freundin, der / die ein Schuljahr in Frankreich verbringen wird, oder einen französischen Austauschpartner/ einer französischen Austauschpartnerin, der/ die nach Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 173 Deutschland kommen wird, Ratschläge im Hinblick auf die nonverbale Kommunikation geben. 2.3 Réfléchir sur les gestes en France et en Allemagne Réfléchissez sur vos résultats et écrivez un e-mail: Donnez des conseils à un ami/ une amie allemand/ e qui doit aller passer une année scolaire en France [thème no. 1] ou à un ami/ une amie français/ e qui doit venir passer une année scolaire en Allemagne [thème no. 2]? (des mots qui peuvent vous aider: le geste - certain(s) - quelque(s) - d´autre(s) - pareil/ pareille - des pays voisins en Europe centrale - différent/ e - avoir un autre sens - facile / difficile à comprendre - parfois - faire attention (à qc.)…; utilisez aussi des connecteurs comme: mais, pourtant, donc …). Thème choisi: [ no. ____ ] Abb. 29: Reflexionsaufgabe zu den Gesten in Frankreich und Deutschland Als fakultative Aufgabenstellung kann auch die Integration von zwei bis drei Gesten in ein Rollenspiel eingefordert werden; wobei deutlich sein muss, dass die aktive Anwendung nur der Sicherung der rezeptiven Kompetenz ggf. auf spielerische Art und Weise dienen soll, und nicht zwingend eine aktive nonverbale Kompetenz angestrebt werden kann. Im Hinblick auf eine solche gelten dieselben Vorbehalte wie z.B. auf die aktive Verwendung sprachlicher Register oder auf Varietäten. Weitere Möglichkeiten der zweisprachig-kontrastiven Gestendidaktik bestehen im Umgang mit Filmen, z.B. für das Französische am Beispiel des Filmes Bienvenue chez les Ch‘tis oder auch anhand eines Videoclips der Arte-Sendereihe Karambolage, die für die Variation im Gebrauch der bise sensibilisiert. 4.2. Prinzipien mehrsprachig-kontrastiver Gestendidaktik Es bietet sich an, Prinzipien der zweisprachig kontrastiven Gestendidaktik auch auf die Didaktik der nonverbalen Kommunikation in mehrsprachiger Perspektive zu übertragen. Dabei wären z.B., im Falle von vorgelerntem Französisch, die Erleichterungen oder Erschwernisse, die aus der Kenntnis französischer Embleme resultieren, zu berücksichtigen. Dies würde u.a. in Aufgabenstellungen wie die folgende münden: ¿Cuáles son los gestos que vos parecen fáciles porque ya los conocéis en francés? 174 Daniel Reimann Es bietet sich an, nach demselben dreibis vierstufigen bzw. -schrittigen Verfahren vorzugehen, wie es gerade für das Französische vorgestellt wurde, wobei - im Sinne der von mir anderweitig postulierten „erweiterten K ontrastivhypothese“ (Reimann 2015 ) - immer auch Übereinstimmungen und Kontraste zu anderen vorgelernten romanischen Sprachen, hier besonders Französisch oder Italienisch, berücksichtigt werden sollten. Es wird also der Schritt von der ersten Begegnung mit den Gesten über das Verständnis zum Vergleich und zur Reflexion, ggf. auch bis zur (spielerischen) Anwendung gespannt (Arbeitsmaterial, siehe Anhang):  Conocer los gestos españoles  Comprender los gestos  Comparar los gestos  Reflexionar sobre los gestos en España, Francia/ Italia y Alemania. Nach der ersten Aktivität zum Verständnis der Gesten, in der unterschieden werden soll, welche Gesten spontan verständlich waren und welche nicht, sollen Embleme in den verschiedenen Sprachen verglichen werden. In einer mehrsprachigen Didaktik der nonverbalen Kommunikation wird dabei nicht mehr nur untersucht, welche Gesten im Deutschen auch bzw. nicht existieren, sondern auch, welche auch im Französischen oder Italienischen mit derselben und ggf. einer anderen Bedeutung verwendet werden. In der sich anschließenden Reflexion soll darüber nachgedacht und im Plenum diskutiert werden, welche Gesten den Schülerinnen und Schülern leicht bzw. schwierig erscheinen, da sie ihnen, ggf. in einer anderen Bedeutung, bereits aus dem Französischen bzw. Italienischen bekannt sind. Wie auch im Falle des Französischen, ist es denkbar, eine spielerische Umsetzung der erworbenen Kenntnisse im Hinblick auf eine Festigung der reflektiven nonverbalen Kompetenzen anschließen zu lassen. Für eine multimodale integrative Mehrsprachigkeitsdidaktik in Theorie und Praxis Im vorliegenden Beitrag wurden die beiden Forschungsdiskussionen um eine Didaktik der nonverbalen Kommunikation einerseits und um die Mehrsprachigkeitsdidaktik andererseits vor dem Hintergrund der Fragestellung zusammengeführt, inwiefern beim Erlernen sprach- und kulturraumspezifischer Elemente nonverbaler Kommunikation im Fach Spanisch als 3. oder spätbeginnende Fremdsprache im Hinblick auf die Entwicklung des Sehverstehens auf Kenntnisse im Französischen und/ oder Italienischen rekurriert werden kann. Dazu wurden in einem ersten Schritt Theorie und Forschungsstand zur Didaktik der nonverbalen Kommunikation, sodann Theorie und Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 175 Forschungsstand zur Mehrsprachigkeitsdidaktik rekapituliert, bevor ein Korpus von insgesamt 909 romanophonen Emblemen (Embleme des Spanischen, Französischen und Italienischen) kontrastierend und im Vergleich zum Deutschen untersucht wurde. Auf der Grundlage der in diesem Zusammenhang entwickelten Transparenztypologie sprach- und kulturraumspezifischer Gesten wurden anschließend Anregungen für die Unterrichtspraxis abgeleitet und im abschließenden Teil des Beitrags vorgestellt. Abschließend kann ein Plädoyer für eine multimodale integrative Mehrsprachigkeitsdidaktik in Theorie und Praxis erfolgen, die vor allem auf eine rezeptive nonverbale Kompetenz mit dem Ziel des Sehverstehens zielt z.B. in der Rezeption audiovisueller Dokumente (z.B. Spielfilme), aber gerade auch in der face-to-face-Interaktion. 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Wylie, Laurence. 1977. Beaux gestes. A Guide to French Body Talk. Cambridge, Mass./ New York: The Undergraduate Press/ Dutton. 178 Daniel Reimann Anhang Arbeitsblatt: Los gestos y las palabras 1.1 Conocer los gestos españoles ¿Qué significan los siguientes gestos? Adivina y anota (en lápiz) el significado de los siguientes gestos. el gesto las palabras en alemán (si necesario) 1 2 3 Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 179 4 5 6 7 180 Daniel Reimann 8 9 10 Non-verbale Kommunikation in mehrsprachigen Lernprozessen 181 1.2 Ahora, ve a la página http: / / coloquial.es/ es/ diccionario-de-gestos-espanoles/ y comprueba tus respuestas. Corrígelas si es necesario. 1.3 Anota también el significado de los otros gestos. 2.1 Comprender los gestos 2.1.1 ¿Qué gestos has comprendido inmediatamente (sin leer ni escuchar las palabras que los acompañan)? Los gestos con el número: _____________________________________. 2.1.2 ¿Qué gestos no has comprendido sin leer ni escuchar las palabras? Los gestos con el número: _____________________________________. 2.2 Comparar los gestos 2.2.1 ¿Qué gestos no existen en alemán? Los gestos con el número: ______________________________________. 2.2.2 ¿Qué gestos existen también en alemán? Los gestos con el número: ______________________________________. 2.2.3 ¿Qué gestos existen también en francés o italiano (con el mismo significado que en español)? Los gestos con el número: ______________________________________. 2.2.4 ¿Qué gestos tienen un significado distinto en francés o italiano? Los gestos con el número: ______________________________________. 182 Daniel Reimann 2.3 Reflexionar sobre los gestos en España, Francia/ Italia y Alemania ¿Cuáles son los gestos que os parecen fáciles o difíciles porque ya los conocéis en otras lenguas? 3. Juego de roles En grupos de cuatro, elegid tres gestos españoles que os gusten especialmente e inventad una pequeña historia utilizándolos para acompañar o sustituir una palabra o una expresión. Christine Michler Sehverstehen und Medienkompetenz fördern durch Arbeit mit Infographien Was heißt es, ein Bild, eine Zeichnung zu verstehen? Auch da gibt es Verstehen und Nichtverstehen. (Wittgenstein 1960, 451) Einbettung des Themas in den Rahmen der Sektion Seit geraumer Zeit betonen einschlägige Publikationen die verständnisunterstützende Wirkung von Bildern 1 für das Fremdsprachenlernen, zeigen, wie Visualisierungen die Entwicklung der sprachlichen Fertigkeiten fördern können (cf. Reinfried 1992, 247; et al.) 2 und untersuchen die Bedeutung von Bildern für das inter- und transkulturelle Lernen (zum Begriff cf. Reimann 2014, 9-95) sowie für intermediale Ansätze im Fremdsprachenunterricht (cf. Michler 2013). In bildungspolitisch relevanten Richtlinien und Verordnungen wie dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001), den Bildungsstandards für die erste bzw. fortgeführte Fremdsprache (KMK 2004; KMK 2012) und Lehrplänen ist das Sehverstehen als zentrale Komponente implementiert, allerdings in der Regel im Verbund mit dem Hörverstehen. Diese Koppelung wird nunmehr in der fachdidaktischen Lite- 1 Der i.F. in einem weiten Sinn verwendete Begriff ‚Bild’ schließt neben traditionellen Bildern (Photographien, Zeichnungen, Gemälde) Illustrationen, Cartoons und andere Mischformen ein. 2 Illustrationen, die multifunktional verwendbar sind, nehmen im Unterricht und in Lehrwerken vornehmlich als Sprechanlässe, Hilfe für die Semantisierung, Verdeutlichung landeskundlich-kultureller Inhalte und mnemotechnische Unterstützung für lexikalische und grammatische Inhalte viel Platz ein (cf. beispielsweise Michler 2010, 2011). 184 Christine Michler ratur verstärkt aufgebrochen, indem das Sehverstehen (auch visuelle Kompetenz, visual literacy oder Betrachterkompetenz genannt) 3 immer öfter als eigenständige Fähigkeit thematisiert und die bewusste, reflektierte Auseinandersetzung mit visuellen Texten in den Mittelpunkt gerückt wird (cf. Michler 2011; 2012). Ausgehend von der Klassifikation des Sehverstehens als selbständige Fertigkeit nehmen d ie folgenden Ausführungen auf die Bildgattung „Infographie“ Bezug, die im Fremdsprachenunterricht und in der entsprechenden didaktischen Literatur bislang noch nicht sehr häufig als Ansatzpunkt für die Fertigkeitsschulung herangezogen wird. Diese Lücke will der folgende Beitrag mit Vorschlägen zumindest ansatzweise füllen. Auf grundsätzliche Aussagen zur Bedeutung von visueller Kompetenz im Fremdsprachenunterricht folgt eine Definition des Begriffs „Infographie“, i.F. synonym mit „Infographiken“ und „diskontinuierlichen Texten“ gebraucht. Dies führt zur Frage, inwieweit diese Sonderform bildlicher Darstellungen von verbreiteten Lehrwerken für den Unterricht der drei romanischen (Schul-)Sprachen Französisch, Spanisch und Italienisch aufgegriffen wird und dadurch im Unterricht vertreten ist. Da Infographien vornehmlich in den verschiedenen informierenden und meinungsbildenden Medien präsent sind, wird die Bestimmung des didaktischen Mehrwerts der Infographiken für die visuelle Kompetenz mit der Erläuterung der Leistungen von diskontinuierlichen Texten für den Aufbau von Medienkompetenz verbunden und schließlich durch einige Beispiele konkretisiert. Visuelle Kompetenz im Unterricht der romanischen (Schul-)Sprachen Visuelle Kompetenz gilt inzwischen, wie die Artikel in diesem Sammelband unter Beweis stellen, nicht nur als grundlegende Kulturtechnik, sondern auch als relevantes, mit vielfältigen inhaltlichen und methodischen Möglichkeiten verbundenes Lern- und Kompetenzziel im Unterricht der romanischen Sprachen. Der Begriff der visuellen Kompetenz bezieht sich gleichzeitig auf rezeptive und produktive mentale Vorgänge, denn er subsumiert die Fähigkeiten, „visuelle Informationen zu extrahieren und zu verstehen, aber auch selbst visuelle Informationen erstellen und mit anderen kommunizieren zu können“ (Lewalter 1997, 44). 3 Terminologische Differenzierungen und deren inhaltliche Implikationen werden wegen der Schwerpunktsetzung dieses Beitrags nicht berücksichtigt. Sehverstehen und Medienkompetenz fördern 185 Indem die fachdidaktische Forschung das Sehverstehen aus der im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GeR), in den Bildungsstandards 4 und vielen Lehrplänen der Bundesländer üblichen Verbindung mit dem Hörverstehen löst, 5 geht sie nicht nur über die Vorgaben solcher Richtlinien hinaus, 6 sondern trägt dem hohen lebensweltlichen Bezug der Sehkompetenz für Jugendliche Rechnung, deren Kommunikation in der gegenwärtigen bildmedialen Gesellschaft zu einem großen Teil visuell bestimmt ist. Da im Fremdsprachenunterricht fremdkulturelle Realitäten eine zentrale Rolle spielen, die wiederum implizit oder explizit in bildlichen Darstellungen nachdrücklich augenfällig gemacht werden, kann für einen schülerorientierten Fremdsprachenunterricht der Aufbau von Sehverstehen als essentielles eigenständiges Kompetenzziel angesehen werden, das zweifelsfrei einen gleichberechtigten Platz neben dem Hörverstehen verdient. Das „visuel l kompetente Betrachten“ (Hecke/ Surkamp 2010b, 15) anzubahnen, das über das einfache Wahrnehmen hinausgeht und dazu befähigt, „visuelle Reize kritisch“ zu begutachten und sie „bewusst unter Bezugnahme auf Gestaltungsweise und Kontext des Bildes“ (Hecke/ Surkamp 2010b, 15) zu deuten, ist also nicht nur ein Anliegen des Kunstunterrichts, sondern betrifft auch den Fremdsprachenunterricht. Der Begriff ‚Infographie’ Fremde Realitäten werden primär sicher durch Photographien, Zeichnungen usw. veranschaulicht, aber auch durch Text-Bild-Kombinationen, die als diskontinuierliche, nicht fortlaufende Texte wie Infographiken vor allem in (Print-)Presse, Fernsehsendungen und auf Internetseiten als Informationsträger unter anderem zu gesellschaftlichen Fakten und Tendenzen sowie zu wirtschaftlichen oder geographischen Gegebenheiten präsent sind. 4 Hör-/ Sehverstehen wird sowohl im GeR als auch in den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss hauptsächlich an Filme gebunden. Zielvorgabe ist beispielsweise mit Bezug auf den Französischunterricht: Die Schülerinnen und Schüler können „ vielen Filmen folgen, deren Handlung im Wesentlichen durch Bild und Aktion getragen wird (B1) “ (http: / / www.kmk-format.de/ material/ Fremdsprachen/ 2-2-0_Hoeren- Bezug_zum_GeR.pdf; 25.05.2014; KMK 2004, 11). 5 Diese Verbindung wird beispielsweise im Fachprofil Moderne Fremdsprachen (ISB Bayern) deutlich. Der Lehrplan Rheinland-Pfalz (Französisch als 2. Fremdsprache) fordert dagegen das Erkennen und Verstehen „visuelle[r] Informationen und deren Kontexte“ (Lehrplan Rheinland-Pfalz, 14) ohne direkte Bindung an das Hörverstehen. 6 Auf eine detaillierte Aufarbeitung der bislang vorhandenen Forschungsliteratur wird verzichtet, da diese passim immer wieder in den Beiträgen des Sammelbandes zur Sprache kommt. 186 Christine Michler Vielfältige, unterschiedlich aussagekräftige Definitionen versuchen, den Begriff zu klären und zu deuten. So wird einerseits die Infographie recht allgemein als „visuelle[r] Text“ (Hallet 2010, 32), als „integrated text“ (Blell 2010, 95), als Procédé de création d’images assistée par ordinateur; image ainsi créée (Rey- Debove/ Rey 2007, 1328) oder als un nouveau langage de presse (Castellani 2000, 21) bewertet, andererseits wird das Wesen von Infographiken über Beschreibungen ihrer Bestandteile bestimmt. Diese umfassen meist im Verbund mit geschriebenem Text - Diagramme, Tabellen, Mind-Maps, Schaubilder, schematische Darstellungen u.a., deren Funktion es ist, „Informationen prägnant und übersichtlich darzustellen“ (Schulministerium NRW). Für Scherling/ Schuckall setzt sich eine Infographie, dort auch ‚Logisches Bild’ genannt, aus graphischen und schriftlichen Komponenten zusammen, die „mit Balken, Säulen, Kreisen, Pfeilen usw. als bildlichen Elementen ... z.B. ein Zahlen- oder Mengenverhältnis darstellen“ (Scherling/ Schuckall 1992, 29) und so abstrakte oder komplexe Zusammenhänge visualisieren. Auch das Diccionario del español actual gibt mit „conjunto de fotografías, ilustraciones u otros elementos gráficos que acompañan a un texto“ (Andrés et al. 2011, 2594) wesentliche Elemente der Bildgattung ‚Infographik’ an, auf die sich die Beschreibung als une sorte d’objet scripto-visuel (Castellani 2000, 22) ebenfalls beruft, und Vignaud leitet ihre Auslegung von ‚Infographie’ direkt vom Wort ab: «L’infographie, comme son nom l’indique, est un ensemble d’informations sous forme de graphiques ou une représentation graphique porteuse d’informations.» (Vignaud 2000, 24). Wie Scherling/ Schuckall (ibid.) bezieht Nieweler den Zweck von Infographien in seine Erläuterung des Begriffs mit ein. Sie wollen mit einer „kompakte[n] Mischung von textuellen und grafisch aufbereiteten Informationen“, d.h. Diagrammen, Statistiken oder Karten, die komprimierte, anschauliche, durch die Darstellungsform strukturierte und vereinfachte Informationsvermittlung gewährleisten (cf. Nieweler 2006, 219). Bestimmend für die einem erweiterten Bildbegriff verpflichtete Textsorte ist, so kann abschließend resümiert werden, dass sie größtenteils durch ein Nebeneinander von geschriebenem Text, Bildelementen und statistischem Material Zusammenhänge unmittelbar transparent macht und eine Kernaussage einsichtig und knapp visualisiert (cf. Jansen/ Scharfe 1999, 12), die in einem linearen Fließtext meist nur wortreich und ausführlich wiedergegeben werden kann. Ausschlaggebend ist außerdem, dass im Unterschied zu kontinuierlichen Texten keine bestimmte Leserichtung vorgegeben ist, so dass jeder Leser selbst entscheiden kann, wo er zu lesen beginnt. Sehverstehen und Medienkompetenz fördern 187 Infographien und Arbeitsaufträge in Lehrwerken Das letztgenannte Charakteristikum verlangt von den Lernern, die an die im Fremdsprachenunterricht über weite Strecken verwendeten linearen Texte gewöhnt sind, das Relativieren der im westlichen Kulturkreis ausschließlich üblichen Leserichtung von links nach rechts, die den Blick des Lesers auf den Text steuert und seine Wahrnehmung beeinflusst. Der diskontinuierliche Text bietet Wahlfreiheit in Bezug auf die Reihenfolge, in der die der Infographie immanenten Informationen erkannt, gesichtet und gelesen werden. Nicht nur wegen ihrer Inhalte, auch wegen dieser Besonderheit verdienen diskontinuierliche Texte also eine methodisch-didaktische Aufmerksamkeit. Inwieweit den Infographiken und ihren immanenten Besonderheiten in der Praxis des Französisch-, Spanisch- und Italienischunterricht in Deutschland Interesse zugestanden wird und welche Rolle sie dort spielen, verdeutlicht ein Blick auf Lehrwerke, die meist mehrere Jahre Basis des Fremdsprachenunterrichts sind und, um für den Unterricht an öffentlichen Schulen zugelassen zu werden, die bildungspolitisch vorgegebenen Kompetenzbereiche, d.h. auch das Hör-Sehverstehen, berücksichtigen müssen. In den häufig im Unterricht verwendeten Lehrwerken sind neben Photographien oder Zeichnungen durchaus Säulen-, Balken- oder Torten-Diagramme und Statistiken zu finden. Nur wenige dieser Darstellungen enthalten aber mehr als ein typisches Element der Infographie und entsprechen damit nicht dem Begriff im engeren Sinn. 7 Überdies kann in Bezug auf den Aufgaben- und Übungsapparat mehrheitlich kein Unterschied zu anderen Illustrationen und Texten festgestellt werden. Genauso fehlt weitgehend eine gezielte Vorbereitung der Schüler 8 auf das Lesen von statistischem Material mit seinen scheinbar objektiven Inhalten und auf die Wahrnehmung der Besonderheiten von diskontinuierlichen Texten. Systematisch aufeinander aufbauende spezifische Erschließungsstrategien, 9 die vom Erkennen zum Beschreiben bis zum Erklären und Bewerten voranschreiten, sind meist genauso wenig vorhanden wie - z.B. auch als Wie- 7 Als Infographien können beispielsweise klassifiziert werden: Pendant les vacances in A toi! 2 (Gregor et al. 2013, 116); Les jeunes et leur temps libre in A plus! 2 nouvelle édition (Blume et al. 2013, 42); Clandestini : l’Europa e le sue frontiere in Appunto 3 (Jäger / Mörl 2008, 60); El tiempo in ¡vale vale! 1 neu (Duncker / Hammer 2010, 136); El camino en bici - una aventura virtual in Línea verde 3 (Feist et al. 2008, 19). 8 Die Begriffe ‚Schüler‘ und ‚Lehrer‘ verstehen sich als generisches Maskulinum und schließen selbstverständlich Schülerinnen und Lehrerinnen ein. 9 Das Lehrwerk Nuevos enfoques weist mit einem Überblick über Strategien für die Arbeit mit verschiedenen Textsorten, auch mit Información estadística, den richtigen Weg, v.a. weil auf die No twendigkeit hingewiesen wird, „ que sepas leer e interpretar esta información “ (Alcalde Mato 2010, 304 ). 188 Christine Michler derholungssequenz denkbare - Zusammenstellungen von signifikantem Vokabular zur Verbalisierung von Vergleichen, Ursachen, Konsequenzen usw. Dies wäre notwendig, denn die Arbeit mit visuellen Texten im Allgemeinen und mit dis kontinuierlichen Texten im Besonderen muss „Stück für Stück“ (Hecke 2012, 82) erlernt werden, da „sich Bildinhalte“ eben nicht „ ‚von selbst‘ vermitteln und ... Lernende[n] diese intuitiv ‚richtig‘ ... dekodieren“ (Hallet 2010, 39), die Schüler also Hilfestellung benötigen. Leistungen von Infographiken für den Kompetenzaufbau im Unterricht der romanischen (Schul-)Sprachen Das Potential der Textsorte „Infographie“, so kann als Zwischenbilanz festgehalten werden, wurde bislang weder von der fremdsprachendidaktischen Literatur umfassend aufgearbeitet, noch nehmen Infographiken im lehrwerkbasierten Unterricht der romanischen Sprachen viel Raum ein, sofern nicht die Lehrkraft Eigeninitiative entwickelt und über das Lehrwerk hinaus entsprechende Materialien zu inhaltlichen Schwerpunkten anbietet, die das jeweilige Unterrichtsthema ergänzen können. Ergiebige Fundorte für Infographiken, die in ihrer Komplexität jeweils zu den verschiedenen Lernniveaus passen, sind sowohl Printmedien als auch das Internet. Solche Infographiken zu suchen und didaktisch aufzubereiten, ist nicht nur sinnvoll, weil sie aufgrund der Verknüpfung von verschiedenen Textpräsentationsformen in den für den Fremdsprachenunterricht gültigen weiten Textbegriff eingebettet werden können und damit dort einen berechtigten Platz einnehmen. Mit der Textarbeit unmittelbar verbunden ist ein fremdsprachendidaktischer Gewinn, der zunächst die vielfältigen Möglichkeiten der Schulung typischer fremdsprachlicher Kompetenzen (funktionale kommunikative Kompetenzen, mündliche und schriftliche Ausdrucksfähigkeit, Leseverstehen etc.) betrifft. Lohnend sind Infographiken außerdem für den Aufbau der an landeskundliche Informationen gebundenen interbzw. transkulturellen (kommunikativen) Kompetenz, da beispielsweise soziale Gegebenheiten und deren Entwicklung in einer prägnanten Darstellung thematisiert werden und zur Versprachlichung auffordern. Die Textsorte impliziert überdies ein großes Potential zur Entfaltung von Medien- und Methodenkompetenz, denn die Schüler müssen sich mit „Darstellungsformen und Symbolisierungen ... zuvorderst natürlich Bilder[n] und visuelle[n] Darstellungen aller Art, aber z.B. auch andere[n] grafische[n] Elemente[n] oder Farben und Typografien“ auseinandersetzen, die „heute in der Textverarbeitungs- Software standardmäßig integriert sind“ (Hallet 2010, 29). Sehverstehen und Medienkompetenz fördern 189 Da sie nicht nur Grundformen von Infographien und deren Bestandteile einzuschätzen lernen, sondern durch die Kontrolle von Quellenangaben und Statistiken auch angeleitet werden, die Seriosität der Infographie zu überprüfen und den Einfluss von Präsentationsformen auf den Betrachter/ Leser bei der Beurteilung von Informationen zu erkennen, erwerben sie medienkritische Analysekompetenz. Nicht zuletzt kann durch Arbeitsaufträge zu Infographien das Sehverstehen, die Betrachterkompetenz, entwickelt werden, wenn solche Anleitungen systematisch auf die Schulung der Genauigkeit visueller Wahrnehmung abzielen und das Erkennen formaler Aspekte mit dem Interpretieren und Beurteilen von Inhalten verbinden. Bezugspunkte solcher Fragen und Aufgaben können u.a. sein:  Kernaussagen erfassen und markieren,  ein Bild in Segmente zerlegen und in ihnen eine Ordnung erkennen (cf. Posner 2003, 20),  Verweise innerhalb der Einzelteile einer Infographie wahrnehmen,  den Umfang der Visualisierungen mit dem Anteil an Schriftlichkeit vergleichen,  die Verbindung von scripto-textuellen und visuellen Elementen erkennen und beschreiben,  entdecken, ob und inwieweit die Bildelemente den schriftlichen Text ergänzen,  das Verhältnis von Schrift zu Bildern bestimmen,  gezielt Aufmerksamkeit auf den geschriebenen und verbildlichten Text lenken,  Verlinkung der Elemente erkennen,  den vertikalen und horizontalen Aufbau der Infographik analysieren,  Strukturen entschlüsseln,  verschiedene Leserichtungen bei diskontinuierlichen Texten erproben,  Headline, Beschriftungen, Legenden, farblichen Markierungen finden,  wahrnehmen, ob und wie sich Informationen ergänzen bzw. wiederholen,  Farbgebung und Formen der Bildelemente erfassen und bewerten,  „konzeptionell wichtige Elemente identifizieren“ (Seufert 2003, 119),  erkennen, „welche graphischen Versatzstücke ... Träger des zentralen Themas“ und der zentralen Information sind (Liebig 1999, 35),  zwischen informationstragenden, informationsunterstützenden und schmückenden (cf. Liebig 1999, 104) bzw. redundanten Elementen unterscheiden,  informative Inhalte, die in einer Mischung aus Text, Tabelle und Graphik geboten werden, erfassen und interpretieren,  den Zweck des im Bild Mitgeteilten verstehen, 190 Christine Michler  erkennen, ob, und wenn ja welche, Effekte beim Betrachter/ Leser erzeugt werden sollen.  die Aussagekraft bzw. Rolle der Bildelemente bestimmen,  die Kernaussagen verbalisieren,  Bezüge zwischen geschriebener und visualisierter Information herstellen und erläutern,  Multifunktionalität, Aussage und Zielsetzung verstehen und versprachlichen,  zur Verknüpfung von Sachverhalten, zur Gestaltung des Nebeneinanders von Text, Zeichnungen und Graphiken Stellung nehmen, d.h. sich auch entsprechendes Vokabular aneignen  die inhaltliche und ästhetische Qualität der Infographien bewerten,  die bildlichen Teile auf ihre Aussage und ihre Funktionalität hin beurteilen,  verschiedene Arten der statistischen Darstellung (z.B. Balken-, Torten, Kurven-, Kreisdiagramm) unterscheiden,  sich mit den verwendeten Techniken auseinandersetzen. Tabellarische Aufstellung von möglichen Arbeitsaufträgen nach verschiedenen Kategorien I. Ermittlung formaler Aspekte (Farben, Formen, Grüßen…) Interpretation Einblicke in die technische Vorgehensweise gewinnen Ästhetische Qualität diskutieren Headline, Beschriftungen, Legenden, farbliche Markierungen finden Effekte, Aussage und Zielsetzung verstehen und bewerten Vertikale und horizontale Elemente feststellen Aussagekraft der Bildelemente bewerten Segmente und deren Anordnung erkennen Umfang der verschiedenen Elemente vergleichen Farbgebung und Formen der Bildelemente erfassen Zentrale Elemente erfassen Verhältnis von Schrift und Bildern bestimmen Arten der statistischen Darstellung unterscheiden Sehverstehen und Medienkompetenz fördern 191 II. Bildgestaltung: (Zentrum, Peripherie, Gliederung…) Interpretation Platzierung der Elemente analysieren Einfluss der Platzierung auf die Leserichtung einschätzen Verbindung von scripto-textuellen und visuellen Elementen erfassen Bildgestaltung interpretieren Strukturen und Schichten entschlüsseln Bildliche Teile auf Aussage und Funktionalität hin beurteilen Verweise innerhalb der einzelnen Elemente ermitteln Zum Nebeneinander von Text, Zeichnungen und Graphik Stellung nehmen Aufmerksamkeit auf Verlinkung von geschriebenem und verbildlichtem Text lenken III. Inhalt: Ermittlung inhaltlicher Aspekte Interpretation Thema bestimmen Zweck des im Bild Mitgeteilten diskutieren Kernaussagen erfassen und markieren Inhaltliche Qualität diskutieren Informationstragende und redundante Elemente differenzieren Verweise ermitteln wahrnehmen, ob und wie sich Informationen ergänzen bzw. wiederholen Benutzte Quellen identifizieren IV. Rezeptionsleistung: Interaktion von Bild und Text Interpretation Verbindung von scripto-textuellen und visuellen Elementen erfassen Funktionalität bewerten Verlinkung innerhalb der einzelnen Elemente ermitteln Verlinkung einschätzen entdecken, ob und inwieweit die Bildelemente den schriftlichen Text ergänzen Zusammenhang zwischen Rezeptionslenkung und Aussage diskutieren Lesetechniken für diskontinuierliche Texte erproben Informative Inhalte, die in einer Mischung aus Text, Tabelle und Graphik geboten werden, interpretieren 192 Christine Michler Die Textsorte, die in ihrer Kombination von visuellen und linearen verschriftlichten Textteilen durch die relativ leicht rezipierbare Darbietung der Inhalte ein hohes Maß an Einprägsamkeit garantiert, impliziert also für allgemeine fremdsprachenunterrichtliche Kompetenzziele und für den Aufbau von Betrachterkompetenz vielfältige Leistungen, so dass ein vermehrter Zugriff auf diskontinuierliche Texte wünschenswert ist. Beispiele für die Arbeit mit Infographien mit Schwerpunkt auf der Entwicklung des Sehvermögens Infographien werden im Unterricht sicher selten ‚im Block’ behandelt, sondern über das Schuljahr verstreut im Rahmen eines übergeordneten Themas zur Vertiefung eingesetzt. Im handlungs- und schülerorientierten Unterricht ist es nach der Auswahl von Texten, die dem Lernniveau der Zielgruppe entsprechen, der Festlegung des didaktischen Orts für thematisch passende Infographien und der Bestimmung der primären Lernziele durch die Lehrkraft Aufgabe der Schüler, sich in Partner- oder Gruppenarbeit nach den Schritten „Überblick verschaffen“, „Wahrnehmung und Beschreibung“, „Deutung und Bewertung“ mit der Infographie auseinanderzusetzen (v.s.), um so ihre visuelle Beobachtungsgabe zu entwickeln, sich ihrer Erkenntnisse bewusst zu werden und diese in der Lerngruppe vorzustellen und zu erörtern. Dem Prinzip des handlungsorientierten Unterrichts werden besonders Aufgaben gerecht, die abschließend die Schüler beispielsweise dazu auffordern, das Schema der Infographik nachzuzeichnen und/ oder in Kooperation selbständig eine Infographik etwa über die Lerngruppe oder die Schule zu erstellen, so dass die erworbenen Einsichten in visuelle Strategien produktiv umgesetzt werden. Konkrete Anregungen für Arbeitsaufträge zur Förderung der Sehkompetenz werden anhand eines Beispiels jeweils zum Spanischen, Französischen und Italienischen im Anhang (1- 3) skizziert. Als eine Art ‚Metainfographie’ eignet sich infografías (Anhang 1) zur Einführung in das Wesen von Infografiken. 10 Die verschiedenen Elemente, aus denen sich die Infographie zusammensetzt, können beispielsweise isoliert und in ihrer Wertigkeit für die zentrale Aussage bestimmt und beurteilt werden. Le championnat de football en France (Anhang 2) unterstützt im besonderen Maß die Jungenförderung im Französischunterricht, der häufig unter Ablehnung seitens der männlichen Schüler zu leiden hat (cf. beispielsweise Küster 2007; Bonin 2009). Die Schüler 10 Die auf der Basis dieser Infographie ebenfalls mögliche mehrsprachigkeitsdidaktisch ausgerichtete Arbeit im Unterricht, die den Transfer aus dem Deutschen oder anderen Fremdsprachen in den Mittelpunkt stellt, kann hier nicht aufgearbeitet werden. Sehverstehen und Medienkompetenz fördern 193 können zur Analyse der Struktur, zur Bewertung der Farbgebung und zur Beschreibung der Aussagekraft der Bildelemente angeregt werden. Eine interessante Aufgabe ist, in der Lerngruppe die jeweilige individuelle Leserichtung begründen zu lassen. Der Auftrag, eine aktuelle Infographik zur Situation französischer Fußballvereine zu erstellen, regt zum Umsetzen des erarbeiteten Wissens an. Percorso per la cittadinanza italiana (Anhang 3) greift ein Thema auf, das im Fortgeschrittenenunterricht für das soziokulturelle Orientierungswissen und die angestrebte interbzw. transkulturelle Kompetenz der Schüler eine Rolle spielt. Die Bestimmung der zentralen Aussage und der Elemente, die diese stützen, kann zur Beschreibung des der Infographie zugrundeliegenden Schemas führen. Im Sinn der Förderung des Sehverstehen ist es sinnvoll, Bezüge zwischen dem linearen Text und den Zeichnungen herzustellen und den Gesamteindruck, den das Bild auf den einzelnen Lerner macht, genauso analysieren und schildern zu lassen wie die manipulative Lenkung hin zu einer bestimmten Meinung. Fazit und Ausblick Die Absicht, das Ansehen von diskontinuierlichen Texten im Unterricht der romanischen Sprachen aufzuwerten, ist, so konnte verdeutlicht werden, in mehrfacher Hinsicht ein lohnendes Projekt. Die spezifische Kompetenz, mit Infographien und den dort integrierten Textbausteinen, Bildelementen, Quellenangaben, dem statistischen Material usw. bewusst und kritisch umzugehen, hat wegen der hohen Präsenz der Textsorte hauptsächlich in politischen, wirtschaftlichen und soziologischen Print-Publikationen sowie in Presse, Fernsehen oder Internet eine nicht unerhebliche Bedeutung für die gegenwärtige Lebenswelt und das spätere (Berufs-)Leben der Jugendlichen, die zur Arbeit mit diskontinuierlichen Texten motivieren kann. Da im Fremdsprachenunterricht Infographien noch relativ selten Verwendung finden, erfährt der Unterricht durch sie eine inhaltliche und methodische Bereicherung, denn sie durchbrechen die Gleichförmigkeit der hochfrequenten Beschäftigung mit kontinuierlichen Lese- und Hörtexten, so dass die Chance besteht, die Aufmerksamkeit der Schüler zu binden bzw. zu steigern. Über die motivationalen Aspekte hinaus trägt die Beschäftigung mit Infographien ein erhebliches Potential für den Fremdsprachenunterricht in sich. So entspricht die Textsorte nicht nur dem im Fremdsprachenunterricht gültigen weiten Textbegriff. Als authentische Dokumente haben Infographiken außerdem einen den traditionellen Fließtexten gleichberechtigten Stellenwert. Die durch diskontinuierliche Texte fassbar gemachten Inhalte stützen grundsätzlich den Aufbau von und die Festigung der funktionalen kommunikativen Kompetenzen, die im Fremdsprachenunterricht vorrangig vermittelt 194 Christine Michler werden sollen: Mündlichkeit durch den Gedankenaustausch über die zu aktuellen Themen dargebotenen Inhalte, Schriftlichkeit z.B. durch Fixierung der verarbeiteten Gesichtspunkte und Interpretation der vorhandenen Daten, Leseverstehen, das zu einem textadäquaten Zugriff auf diskontinuierliche Texte befähigt und Sehverstehen einschließt. Nicht zuletzt vervollständigen Infographien (fremd-)kulturelles Wissen. Die Rezeption der in Infographien enthaltenen Daten hilft soziokulturelles Orientierungswissen aufzubauen und leistet durch Analyse, vergleichende Beurteilung und Interpretation der dargebotenen Fakten dem inter- und transkulturellen Lernen und der Kommunikation Vorschub, da die Inhalte, deren Versprachlichung und mentale Verarbeitung im Unterricht vorbereitet werden, durchaus Gesprächsgrundlage bei interkulturellen Gesprächssituationen sein können. Wesentliches Anliegen dieses Beitrags war es zu zeigen, wie Infographien die Förderung der Medien- und Sehkompetenz unterstützen können. Medienkompetenz wird durch die Auseinandersetzung mit der Präsentationsform, durch Recherchen zu den in der Infographie genannten Aspekten und durch die reflektierte Nutzung einer in unserer medienorientierten Welt häufigen Textsorte, die Informationen komprimiert unterbreitet, angebahnt. Sehkompetenz wird vornehmlich durch Rezeption und Interpretation der verschiedenen Bestandteile von Infographien sowie durch Schulung der Beobachtung und der Wahrnehmung von Informationen auf verschiedenen textuellen Ebenen begünstigt. Trotz des offenkundigen didaktischen Mehrwerts sind in Lehrwerken komplexe authentische Infographien nur vereinzelt vorhanden. Die Entwicklung von Unterrichtsmodellen für das Sehverstehen auf der Basis von diskontinuierlichen Texten ist also eine aktuelle Herausforderung für die Fremdsprachendidaktik. Da die bekannten Methoden der Textanalyse in ihrer Einsatzfähigkeit für die Arbeit mit Infographien zumindest ergänzt werden müssen, ist in diesem Zusammenhang zum einen zunächst die lehrerseitige Vorbereitung auf die Nutzung der Verbindung ‚Sehverstehen - Infographien‘ notwendig, sei es auf universitärem Niveau für Lehramtsstudierende, sei es in der Lehrerbildung sowohl im Vorbereitungsdienst als auch in Fortbildungen. Unerlässlich ist zum anderen die Entwicklung von konkreten, über die Beschreibungen des GeR hinausgehenden Deskriptoren zum Sehverstehen, die die Operationalisierung der Kompetenzrichtlinien erleichtern und messbar machen und auch auf diskontinuierliche Texte angewendet werden können. Werden entsprechende Defizite in bildungspolitischen und unterrichtsbezogenen Vorgaben kompensiert, eröffnen sich weitere Chancen für den inhaltlichen und qualitativen Fortschritt des Unterrichts in den romanischen (Schul-)Sprachen, da mögliche Bedenken von Lehrkräften, die vielleicht aufgrund der fehlenden Anleitungen zur Leistungsmessung zurückhaltend sind, entfallen. Sehverstehen und Medienkompetenz fördern 195 Alcalde Mato, Nuria et al. (edd.). 2010. Nuevos enfoques. Spanisches Lesebuch für die Oberstufe. Schülerband. Bamberg: C.C. Buchners Verlag. Andrés, Olimpia / Ramos, Gabino / Seco, Manuel. 2011. Diccionario del español actual. Volumen II. 2. a edición actualizada. Madrid: Aguilar Lexicografía. 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Est-ce que certaines informations se complètent et / ou se répètent? Sehverstehen und Medienkompetenz fördern 199 Anhang 3 (Quelle: http: / / www.unicef.it/ iocometu/ immagini/ infografica-unicef-iocometu-low.jpg; 14.2.2014). 200 Christine Michler Domande: 1. Quali sono gli elementi che esprimono il messaggio principale dell’infografia? 2. Qual è la funzione delle illustrazioni? 3. Cercate di abbozzare lo schema della linfografia. 4. Qual è il rapporto fra gli elementi illustrativi e quelli scritti? 5. Perché questa infografia è un „percorso“? Interkulturelle Kompetenz durch Sehverstehen Markus Raith Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? Die Rezeption von Text-Bild-Kommunikaten als spezifische Form des Sehleseverstehens Text und Bild Dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte, weiß nicht nur der Volksmund. Die Wendung taucht auch im didaktisch-pädagogischen Diskurs auf, wird allerdings von Bild- und Medienwissenschaftlern gerade wegen ihrer Apodiktik bezweifelt (cf. Spinner 2002). Im Prinzip drückt sie den ontologischen Vertrauensvorschuss aus, den wir Bildern und vor allem Fotografien entgegenbringen, und verweist auf deren vermeintlich universale Verstehbarkeit. Ob ein Bild mehr sagt als tausend Worte, darf aber zurecht bezweifelt werden, zumal unklar ist, ob und wie ein Bild etwas sagen kann. „Sagen“ ist hier genauso im übertragenen Sinne zu verstehen wie in der höchst umstrittenen Feststellung, dass Bilder gelesen werden können - eine Analogie zur Rezeption von Schrift, die oft überstrapaziert wird. Wie auch immer man dazu stehen mag, die Redewendung verweist immerhin auf einen fundamentalen Unterschied in der kommunikativen Wirkung von Texten und Bildern: Bilder werden holistisch, Texte linear-sequentiell rezipiert; Bilder zeigen und Texte explizieren - zumindest tendenziell. Zwar sind sowohl Bild wie auch Schrift visuelle Zeichensysteme, sie funktionieren in kommunikativer Hinsicht aber unterschiedlich. Daher ist auf der Rezeptionsebene in beiden Fällen von Sehverstehen im weitesten Sinn auszugehen, aber nur die Schrift erfordert ein konkretes Leseverstehen dahingehend, dass Symbole decodiert und in einem komplexen Verstehensprozess verarbeitet werden müssen, der von der Buchstabenüber die Wortebene bis hin zu Sätzen und dem ganzen Text reicht. Gerade wegen dieser fundamentalen Unterschiede sind aber jene Fälle von Interesse, in denen Bild und Text 204 Markus Raith zusammenwirken und in ihrem Zusammenspiel ein Kommunikat 1 konstituieren. Dieses Zusammenspiel von Texten und Bildern gibt es historisch in den verschiedensten Formen schon lange, aber erst mit dem Aufkommen der neuen Medien und vor allem des Internet haben sich die Möglichkeiten der Produktion, Distribution und Rezeption erheblich erweitert. Es werden neue Formate und Darstellungsmodi generiert, die auch neue Formen der Rezeption mit sich bringen. Zwei der Schlagworte, unter denen diese Veränderungen verhandelt werden, lauten Diskontinuität und Multimodalität. Diskontinuität meint, dass Text-Bild-Kommunikate anders rezipiert werden als kontinuierliche Texte, die von links nach rechts und von oben nach unten, Zeile für Zeile, sukzessiv gelesen werden. Diskontinuierliche Texte werden hingegen holistisch rezipiert, entlang von Blickachsen, die nicht unbedingt der herkömmlichen Leserichtung entsprechen müssen. Multimodalität meint, dass verschiedene Sinnesmodi angesprochen werden, in neuen Medien also zumeist Hören (gesprochene Sprache, Musik, Sound etc.) und Sehen, wobei Sehen sowohl das Lesen als auch die Rezeption von bewegten und statischen Bildern umfasst. 2 Es geht also in beiden Fällen um Fragen des Sehlese- oder Sehhörverstehens und folglich um Fragen, mit denen sich vor allem - aber nicht nur, man denke an Kunst und Geschichte oder Politik - die Sprachendidaktiken befassen. Die Deutschdidaktik (im Sinne einer Erstsprachdidaktik) beschäftigt sich seit einiger Zeit intensiv mit diesen Fragen im Rahmen eines erweiterten Begriffs von Leseverstehen, der auch für andere mediale Formate als das traditionelle Buch heranzuziehen ist. Dies kann im allgemeineren Kontext von Überlegungen zur Medienkompetenz geschehen, aber auch in einem engeren Sinne, wenn es um Konzepte multimodaler Kompetenz (cf. Müller 2012 und Siever 2014), um visual literacy (oft in der Variante der document literacy) oder 1 Zu Text-Bild-Kombinationen gibt es mittlerweile verschiedene Forschungsrichtungen, deren Terminologie allerdings nicht einheitlich ist. Parallel werden neben „Text-Bild- Kombination“ die Begriffe „Text-Bild-Gefüge“, „Text-Bild-Kommunikat“ und „Sehfläche“ gebraucht. Letzterer, vor allem von Ulrich Schmitz geprägter Begriff (cf. Schmitz 2005), verweist auf die besonderen Rezeptionsbedingungen und -anforderungen, akzentuiert er doch das Sehen und nicht das Lesen. In einem weiteren Sinn lassen sich diese Formate auch unter den Begriff „diskontinuierliche Texte“ subsumieren. Gemeint ist in allen Fällen das Zusammenspiel von statischen Bildern v.a. Fotos, Grafiken - und Schrift. In diesem Kontext hat sich als Teildisziplin der Sprachwissenschaft die Bildlinguistik formiert, die sich dezidiert für das Zusammenspiel von Sprache und Bildern interessiert (cf. Diekmannshenke / Klemm / Stöckl 2011 und Große 2011). 2 Cf. Siewer 2014 zur Heterogenität in der Terminologie. Multimodalität umfasst in einem engeren Sinne die Sinnesmodi, in einem weiteren Sinne aber auch die Codalitäten, also in semiotischer Hinsicht die verschiedenen Zeichensysteme. Abgesehen davon sind die meisten Medien, vor allem das Internet, nicht multimodal (im engeren Sinne), weil im Prinzip nur Hören und Sehen von Belang sind, nicht aber Riechen, Fühlen, Schmecken. Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 205 um Symbolverstehen (cf. Frederking 2004 und Lischeid 2012) geht. Gemeinsam ist all diesen Ansätzen, dass sie sich Rezeptions- und Verstehensprozessen zuwenden, die diskontinuierliche Texte zum Gegenstand haben. Auch in den Fremdsprachendidaktiken nehmen Überlegungen zum Einsatz neuer Medien im Unterricht mittlerweile breiten Raum ein. Darüber hinaus hat man sich in diesem Bereich schon seit langem - freilich nicht systematisch mit diskontinuierlichen Texten beschäftigt: mit Bildern und Bildgeschichten, mit Cartoons und politischen Karikaturen, mit Diagrammen und neuerdings auch mit Infografiken. Neben der Visualisierung als wichtigem Prinzip im Fremdsprachenunterricht boten und bieten diese Formate natürlich auch den Vorteil überschaubarer Textanteile. Im Folgenden soll es vor diesem pluridisziplinären Hintergrund um eine spezifische Form des Sehleseverstehens gehen: um die Kombination von (schriftsprachlichem) Text und (statischem) Bild und ihre Rezeption mit Schwerpunkt auf den neuen Medien, aber ausgehend von Printformaten. Es geht also nicht um das Lernen mit neuen Medien (Interaktive Programme, email-Austausch, Netzrecherche etc.), sondern um deren adäquate Rezeption, die in fremdsprachendidaktischer Hinsicht auf Diskursfähigkeit (cf. Hallet 2012) abzielt und mit G. Blell im Hinblick auf Kompetenzentwicklung so formuliert werden kann: Die Zielstellung der Entwicklung intermedialer und (inter-)kultureller Lese- und Sehkompetenzen wird folglich begriffen als die Fähigkeit, (kombinierte) Bild- und Schrifttexte […] als kulturelle Artefakte intermedial und medial zu lesen und sie im Wechselspiel eigen- und fremdkultureller Bezugskulturen zu interpretieren (Blell 2014, 104). Im Vordergrund unserer Betrachtung stehen werden daher massenmediale, nicht-fiktionale Kommunikate, die üblicherweise dem Bereich Landeskunde/ Interkulturelles Lernen zugesprochen werden; Kommunikate also, mit denen eine Kultur sich über sich selbst und über ihre Beziehungen zur Welt verständigt. Zur Medialität und Kulturalität von Text-Bild-Kommunikaten Zwei Aspekte sind für das Verständnis von faktualen Text-Bild-Kommunikaten in neuen Medien fundamental. Einerseits ihre spezifische Medialität, die auf einem Zusammenspiel von sozioökonomischen, technischen, ästhetischen und anderen Faktoren gründet und im Wesentlichen zumindest in Westeuropa - Rahmenbedingungen schafft, die weithin kulturübergreifend sind. Andererseits die starke kulturspezifische Gebundenheit der Produkti- 206 Markus Raith ons-, Darstellungs- und Rezeptionskonventionen, der präsupponierten Deutungs- und Orientierungsmuster, die im Rezeptionsprozess aktiviert werden. Zunächst zur Medialität. Öffentliche Kommunikation reagiert „auf den immer stärker werdenden Komplexitäts- und Zeitdruck mit Wahrnehmungsdesigns und Deutungsmustern […], die durch Personalisierung, Moralisierung und Emotionalisierung gekennzeichnet sind“ (vgl. Rossen-Stadtfeld 2014, 305). Nimmt man die Ökonomie der Aufmerksamkeit hinzu, lassen sich diese Tendenzen unter dem Schlagwort infotainment zusammenfassen, wobei der verstärkte Einsatz von Texten und Bildern eine zentrale Rolle spielt. Zieht man in der gebotenen Kürze die gängigen Definitionen dieses umstrittenen Begriffes heran, zeigt sich seine Relevanz für Text-Bild-Kommunikate in neuen Medien. Zwar wird infotainment häufig in Bezug aufs Fernsehen thematisiert, es spielt aber auch im Internet eine wichtige Rolle. Zentrale Charakteristika sind: Personalisierung; Visualisierung und bildliche Darstellung von Emotionen; Human-Touch-Themen; Simplifizierungen und Stereotypisierungen; einfache Bewertungsschemata und monokausale Argumentationsstrukturen (cf. Klöppel 2008, 10 - 23). In einem allgemeinen Sinne verschwimmen beim infotainment in hohem Maße die Grenzen zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Formaten, Aufmachung und Gestaltung ähneln sich: „Nicht-fiktive Geschichten werden mit den gleichen Elementen und Gestaltungsmitteln erzählt, die auch in Filmen, Serien und Shows Spannung und Neugier wecken“ (Klöppel 2008, 29). Definiert man infotainment mit Witten als Ensemble aller „Möglichkeiten zur unterhaltenden Aufbereitung von Informationen, geschehe dies durch die thematische Auswahl, deren optische oder sprachliche Realisierung“ (Witten 1995, 24), lässt sich infotainment als allgemeine massenmediale Tendenz beschreiben, die sich im Internet in einer ganz spezifischen Form zeigt, vor allem dann, wenn man die quantitativen und qualitativen Unterschiede zur Printpresse berücksichtigt: Ubiquität, Aktualität, Verfügbarkeit und Hypertextualität, also die Vernetzung von Dokumenten durch Verlinkung: Das bisherige Mediensystem, in dem audiovisuelle Medien und Printmedien deutlich voneinander geschieden waren, legte strikte Grenzziehungen zwischen den Zeichensorten nahe. Das multimediale Zeichengeflecht des World Wide Web hebt diese Trennungen auf und definiert die Relationen neu (Sandbothe 1997, 70). Hinzu kommt, dass Text-Bild-Kommunikate die für infotainment typischen Geschichten nicht wie lineare Texte erzählen, sondern sie eher andeuten, was vor allem für die Bildelemente gilt, welche lediglich narrationsindizierend (cf. Renner 2013) sind. Denn Text-Bild-Kommunikate haben zwar eine narrative Dimension, sie besteht aber nicht im Ausfabulieren, sondern ist auf Metaphorik, Kollektivsymbolik, Verdichtung, Personalisierung, Emotionalisierung und Suggestion von Analogien hin ausgerichtet. Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 207 Dazu zwei knappe Beispiele. In einem Text-Bild-Aufmacher der Webseite web.de zur Krise in der Ukraine ist ein Foto zu sehen, welches ein Bild des russischen Präsidenten, in bläulichem Licht, auf verschiedenen Fernsehbildschirmen zeigt. Titel und Untertitel lauten: „Der russische Krieg der Worte. Hetze und Gerüchte: Wie Putins Propaganda-Maschine funktioniert“. Sowohl auf Bildals auch auf Textebene wird mit Suggestionen, Analogien und Personalisierungen gearbeitet. „Krieg der Worte“ erinnert sowohl an die medialen Aspekte militärischer Auseinandersetzungen als auch an science fiction, etwa an „Krieg der Sterne“ oder „Krieg der Welten“. Auch auf der visuellen Ebene lassen die vervielfältigten bläulichen Putins an science fiction denken (etwa an Orwells Roman 1984). Personalisierung geht dabei mit starker Emotionalisierung einher. Hinzu kommt die Visualisierung und somit Konkretisierung von Sprachbildern, wenn die schriftsprachlich genannte „Propaganda-Maschine“ auf dem Foto in der technischen Form des Fernsehbildschirmes wiederauftaucht. In einem zweiten Aufmacher - ebenfalls auf web.de - ist vom Konklave nach dem Rücktritt des Papstes Benedikt die Rede. Über einem Foto von zwei Kardinälen, die sich offenbar beraten, ist die Überschrift „Kirche sucht den Super-Papst“ zu lesen. Hier wird ganz deutlich, wie massenmediale Analogien funktionieren. Das Bild wird durch Sprache dergestalt kontextualisiert, dass Ähnlichkeitsverhältnisse zwischen Casting-Show und Papstwahl aufscheinen, dass also einfache, bekannte Bewertungs- und Einordnungsschemata für die Wahrnehmung komplexer, unvertrauter und womöglich befremdlicher Vorgänge aufgerufen werden (cf. Raith 2014). In diesem Zusammenhang kommt der Medialität und Materialität von Schrift eine besondere Rolle zu. Sie wird Teil eines visuellen Ensembles, das aus Text, Bild und Grafik besteht. Sie ist nicht oder nicht mehr in erster Linie der sequentiellen Linearität eines kontinuierlichen Textes verpflichtet, sondern dem Layout des Kommunikates. Dass dies kein exklusives Merkmal des Internet ist, zeigt etwa die BILD-Zeitung seit vielen Jahren - nicht umsonst hat Hans Magnus Enzensberger ihren avantgardistischen Charakter hervorgehoben. Aber auch die Titelseiten von Zeitschriften, die Werbung oder Wahlkampfplakate machen sich Schriftbildlichkeit seit langem zu eigen. Zu diesen tendenziell kulturübergreifenden Medienspezifika kommt die kulturelle Gebundenheit der Produktion, Distribution und Rezeption von Inhalten, was an drei Beispielen aus dem Englischen, dem Französischen und dem Deutschen verdeutlicht werden soll. Diese Beispiele sind zwar nicht den neuen Medien entnommen, sie vermögen aber die kulturspezifischen Besonderheiten von Text-Bild-Kommunikaten - auch für das Internet exemplarisch zu zeigen. Das erste Beispiel ist ein Magnettäfelchen, ein Alltagsobjekt also, das einerseits eine spezifisch technische Funktion hat - etwa Einkaufszettel an die 208 Markus Raith Kühlschranktür zu heften -, andererseits aber auch eine soziopolitische Botschaft enthält. Vor einem leuchtend gelben Hintergrund ist eine stilisierte Dame mit einem Tablett voller Gebäck zu sehen, das sie den Betrachtern lächelnd entgegenhält. Daneben ist in roter Handschrift zu lesen: „OH SHIT, I TURNEND INTO MY MOTHER“. Ersichtlich stellt diese Text-Bild-Kombination erhöhte Anforderungen an das Sehleseverstehen der Rezipienten. Mit rein sprachlichen Kompetenzen ist diesem Magnettäfelchen nicht beizukommen, obwohl Vokabular und Syntax nicht allzu kompliziert, ja eher einfach sind. Erforderlich ist es nicht nur, Bezüge zwischen Text und Bild herzustellen, sondern auch kulturelles Wissen zu aktivieren. Zunächst spielt die Materialität der Schrift eine wichtige Rolle. Die (natürlich inszenierte) Handschrift verweist einerseits auf das individuelle, persönliche Anliegen eines offenbar weiblichen Ich 3 im Hinblick auf die Beziehung zur Mutter und allgemeiner im Hinblick auf ein geschlechterspezifisches Generationenverhältnis. Dass es dabei um das klassische weibliche Rollenstereotyp der Hausfrau (und Mutter) geht, macht das Bild deutlich, das im typischen Schwarz-Weiß-Stil der fünfziger und sechziger Jahre eine Dame mit Kuchentablett zeigt. Dabei findet sich das Schriftelement nicht zufällig links und rot markiert: Wir sollen es zuerst lesen, als ein statement, welches durch das Bild erklärt wird. Hier findet also eine Umkehrung der konventionellen kommunikativen Funktionen statt. Der Text zeigt (nämlich einen Zustand) und das Bild erklärt (warum die Tatsache, dass man wie die Mutter geworden ist, mit einem „oh shit“ bewertet wird). Ganz deutlich erweist sich dabei der narrationsindizierende Charakter nicht nur von Bildern, sondern auch von Text-Bild-Kombinationen. Die stilisierte Darstellung der Mutter deutet eine Fülle von im kollektiven Gedächtnis verankerten Geschichten an, die um Frauen kreisen, welche die Rolle der amerikanischen Dame des Hauses spielen, welche den Haushalt besorgen und sich adrett kleiden, welche lächeln und für ein angenehmes Ambiente sorgen. Im Zusammenspiel mit dem Textelement werden allerdings auch andere Erzählungen präsupponiert: Geschichten von Kindern, die nicht werden wollen wie ihre Mütter, von Rebellion und Auflehnung gegen überkommene Rollenmodelle. Aber dies ist nur die eine Seite. Eine andere Seite der Kombination von Schrift und Bild verweist gerade in ihrer Materialität (Form, Farbe, Stilisierung etc.) auf die Ästhetik der Pop Art, auf die Bilder von Lichtenstein und Warhol. Und nur so ist die Abgründigkeit des Satzes zu verstehen, der in diesem Kontext eine Drehung ins Postmodern-Ironische erhält. In einem Akt der 3 Natürlich stellt der Bezug zu einem weiblichen Ich eine naheliegende Inferenz im Rezeptionsprozess dar, es wären aber auch andere Möglichkeiten denkbar. Aufschlussreich ist es auch die verschiedenen koexistierenden Varianten des Textelementes zu betrachten, also „I turned“, „I’ve turned“, „I’m turning“. Hier ließen sich vor dem Hintergrund der verschiedenen Tempusformen interessante Lesarten generieren, die noch stärker an die Ästhetik Lichtensteins erinnern. Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 209 Selbsterkenntnis wird dem Ich klar, dass es wie seine Mutter geworden ist. Dies wird aber nicht nur reflektiert, sondern auch lapidar und gleichsam achselzuckend kommentiert, als postmodernes, zitathaftes Spiel mit Geschlechteridentitäten und sozialen Rollen. Sehr deutlich erweist sich, wie Bild und Text dabei zusammenwirken und welch eminenten Platz Schriftbildlichkeit einnimmt. Sie gewährleistet, dass die zahlreichen kulturellen Deutungsmuster bei der Rezeption überhaupt aktiviert werden können. Mithin geht es hier um ein veritables Sehverstehen, bei dem Leseverstehen im herkömmlichen Sinn - als lineare Decodierung eines rein schriftsprachlichen Textes - nur eine untergeordnete Rolle spielt. Bei unserem zweiten Beispiel handelt es sich um eine Werbung für das französische Unternehmen Moneo. Auf einem extrem querformatigen Foto sehen wir die Windschutzscheibe eines Autos. Unter dem Scheibenwischer klemmt ein aus einem Spiralblock herausgerissener Zettel mit den handschriftlichen Zeilen „Votre horodateur a refusé mon chèque“ und mit einer ebenfalls handschriftlich stilisierten Blume. In diesem Fall haben wir es mit einer ganz spezifischen Form der Text- Bild-Kombination zu tun. Es handelt sich nicht um ein Bild, das mit einem externen Textelement in Bezug gesetzt wird, sondern um ein Foto, auf dem Schrift innerhalb des Dargestellten zu sehen ist, nämlich auf dem Zettel hinter dem Scheibenwischer. Dabei geben Scheibe, Wischer und Zettel den situativen Rahmen vor, der es den Rezipienten erlaubt, die schriftliche Mitteilung einzuordnen. Es geht offensichtlich um die Begründung für Parken ohne Parkschein. Auch hier ist das Textelement sprachlich nicht allzu kompliziert, das Wort „horodateur“ könnte man nachschlagen. Dennoch wird der Sinn des Ensembles nur klar, wenn man sowohl die Bildelemente als auch die Materialität der Schrift hinzuzieht. Ganz deutlich erweist sich ein Gegensatz zwischen der Person, welche den Zettel angebracht hat, und der staatlichen Obrigkeit in Person einer (impliziten) Politesse suggeriert, deren Perspektive - den Blick auf die Scheibe - in dieser raffinierten Inszenierung die Betrachter einnehmen. Semantisch manifestiert sich dieser Gegensatz durch „votre“ und „mon“, eventuell auch durch „chèque“ und „horodateur“ (der eben Münzgeld verlangt). Auf der Ebene der Materialität von Schrift manifestiert sich der Gegensatz durch das offizielle, maschinengedruckte Parkticket und den improvisierten, herausgerissenen Zettel, auf dem in (übrigens typisch französischer) Schreibschrift eine Rechtfertigung steht, die überdies auf pragmatischer Ebene durch die skizzierte Blume markiert wird. Dieser manifeste Gegensatz verweist auf eine latente Opposition, welche mit kollektiver Symbolik spielt: mit der Vorstellung vom rebellischen Charakter der Franzosen, die sich mehr als andere Nationen ihren revolutionären Geist bewahrt haben. In diesem Fall sind es freilich keine Lastwagenfahrer oder Landwirte, welche die Nation mit ihren Fahrzeugen zumindest logistisch lahmlegen, es handelt sich eher um 210 Markus Raith einen charmanten Akt des zivilen Ungehorsams im Alltagsleben. Aber natürlich wird dies nur verständlich, wenn man weiß, dass in Frankreich lange Zeit und teilweise noch bis heute fast alles mit Scheck bezahlt wird. Nur so kann man die präsupponierte Geschichte von einer kleinen Alltagsrebellion imaginativ vervollständigen. Unser drittes Beispiel stammt aus Deutschland, es geht um eine Werbekampagne der BILD-Zeitung, die in verschiedenen anderen Medien veröffentlicht wurde. Uns interessieren hier nur Bild und Bildunterschrift: „Ein einziger Reporter kann den Herzschlag eines ganzen Volkes ausdrücken“ ist am unteren Rand eines großformatigen Fotos zu lesen, das jubelnde Fußballfans mit Deutschland-Fahnen und Trikots der Nationalmannschaft zeigt, das also auf eine WM schließen lässt. Bemerkenswert an diesem Beispiel sind sowohl seine kulturspezifische Grundierung als auch die semiotische Selbstreflexion von Text und Bild in ihrem Zusammenspiel. Im Prinzip lässt sich der Werbe-Satz als Antwort auf eine implizite Frage lesen: Kann man den Herzschlag eines ganzen Volkes (überhaupt) ausdrücken? Und kann das ein einziger Reporter? Raffiniert ist nun die „Arbeitsteilung“ der Zeichensysteme, um diese Frage zu beantworten. Im Text wird postuliert, dass dies möglich sei („kann […] ausdrücken“); mit dem Foto wird gezeigt, wie dies möglich ist, nämlich visuell. Damit wird auf das kommunikative Potential von Bildern rekurriert und deren Möglichkeit, symbolisch zu verdichten, eindringlich zu zeigen (und nicht zu erklären), Emotionalität freizusetzen. Innerhalb des Text-Bild-Kommunikates zeigt also das Bild, was der Text behauptet. Hinzu kommt die kulturspezifische Grundierung dieser Botschaft. Dass der Herzschlag eines ganzen Volkes - hier des deutschen - in Form eines Fotos von jubelnden Fußballfans ausgedrückt wird, ist natürlich kein Zufall. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass diese Art der Begeisterung insbesondere nach der Fußball-WM 2006, dem „Sommermärchen“, hierzulande eine der wenigen öffentlich akzeptierten Formen von nationalem Enthusiasmus darstellt. Dies unterstreicht das Foto auch dadurch, dass nicht etwa grölende, martialische Fans dargestellt sind, sondern sympathische junge Menschen, in deren Mitte sich auffälligerweise ein hübsches, blondes Mädchen findet, das aus der Menge herausragt, weil es auf den Schultern eines Fans sitzt und zudem Hasenohren in schwarz-rot-gold trägt. Eine gänzlich unkriegerische, eher karnevaleske oder besser boulevardeske Germania also, die mit der Wacht am Rhein nichts zu tun hat und wohl auch nicht zu tun haben will. Das Foto trägt auf diese Weise ganz entscheidend zu einer freiheitlich-demokratischen Kontextualisierung und damit potentiellen Akzeptanz des Begriffes „Herzschlag eines ganzen Volkes“ bei, indem es diesem seine historische Schärfe nimmt. Denn bekanntlich wurden gerade in der Zeit von 1933 bis 1945 solche und ähnliche biologisierende Metaphern dazu missbraucht, ein soziales Kollektiv als naturwüchsigen Organismus erscheinen zu lassen, mit all Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 211 den todbringenden Konsequenzen, welche diese Konzepte in der Realität hatten, nicht nur während des Nationalsozialismus, sondern auch schon im 18. und 19. Jahrhundert. Sprächen heute Politikerinnen und Politiker oder eben auch die Presse vom „Herzschlag eines Volkes“, womöglich des deutschen Volkes, würde das wahrscheinlich ein eher negatives Echo auslösen. Nur im Zusammenhang mit dem Bild und im Kontext der Interaktion der beiden Zeichensysteme ist dies offenbar problemlos möglich. Überlegungen zu einer Didaktik des Logovisuellen Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Befunden für die Sprachendidaktiken ziehen? Zunächst die grundlegende Annahme, dass die Rezeption von vermeintlich einfachen und offenbar banalen Formaten - im Gegensatz zu „tiefgründigen“, rein sprachlich verfassten Texten etwa - sehr komplexe Anforderungen an das Leseverstehen stellt, das in diesen Fällen zu einem veritablen Sehleseverstehen wird, bei dem Text- und Bildelemente in einem vielschichtigen, rekursiven Verstehensprozess (cf. Bucher/ Schumacher 2012) aufeinander bezogen werden müssen. In der Textverstehensforschung und im Bereich der Lesedidaktik hat man auf diese Einsichten mit der Entwicklung von Prozessmodellen reagiert. In zumeist vier- oder fünfphasigen Stufenmodellen geht es darum, dass die Rezipienten von einem ersten Eindruck und der Identifizierung einzelner Textbzw. Bildelemente zu einem vertieften, auch kritischen und mit Hintergrundwissen angereicherten Verständnis des Ensembles kommen. Zu nennen sind dabei zunächst die Arbeiten zum Verstehen von Bildern und das Fünf-Phasen-Modell des Bildverstehens (cf. Weidenmann 1988); sodann die Studien - auch im Gefolge der PISA-Erhebungen - zu Rezeptionsprozessen im Kontext eines erweiterten Textbegriffes (cf. Kress 2003, didaktisch aufgegriffen von Blell 2012), lesepsychologische Ansätze (etwa Groeben 2002 und Schnotz 2004) und schließlich Überlegungen zum Symbolverstehen (cf. Lischeid 2012) und zur Rezeption multimodaler Dokumente (cf. Bucher 2012). Gemeinsam ist diesen Modellen, dass sie mehrschrittig versuchen, die semiotische Komplexität und die zu ihrer Decodierung erforderlichen Verstehensleistungen zu beschreiben, welche das Zusammenspiel von Text und Bild (und in manchen Fällen auch Ton) generiert. Sie alle basieren, wie auch das dreistufige PISA-Modell, auf der Annahme, dass Lesen ein interaktiver Konstruktionsprozess ist. Externe Informationen aus dem Text werden mit internen Wissensbeständen der Leser zu einem kohärenten mentalen Gebilde verknüpft. Dies gilt nicht nur für schriftsprachliche Texte, sondern in modifizierter Form auch für multimodale Dokumente, 212 Markus Raith die Bild und Sprache kombinieren. Grundsätzlich ist dabei zu berücksichtigen: Ein multimodales Angebot zu verstehen heißt [...] immer auch zu erkennen, wie ein simultan präsentiertes Kommunikationsangebot aus mehreren kommunikativen Elementen räumlich strukturiert ist: Welche Elemente gehören enger zusammen? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen ihnen? Wie sind sie hierarchisiert? (Bucher 2012, 68). In dieser Hinsicht lassen sich zwei Strukturebenen des multimodalen Verstehens erkennen: die Identifizierung und Gruppierung bedeutungstragender Elemente (Selektionsproblem) und die Ebene der Kohärenz bzw. der Erschließungspfade im Kommunikationsraum. Dies bedeutet, dass multimodale Kommunikate in einem fortlaufenden Deutungsprozess erschlossen werden, der reziprok und rekursiv verläuft (cf. Bucher 2012, 70f). In Bezug auf diese Modelle möchte ich hier einen Aspekt in den Vordergrund rücken, der m.E. bisher im Bereich des Sehleseverstehens nicht genügend berücksichtigt worden ist, der aber eine zentrale Rolle sowohl für die Erstsprachals auch für die Fremdsprachendidaktiken spielen und erst in gemeinsamen Ansätzen, auch curricularer Art, wirklich sinnvoll entwickelt werden könnte. Ich meine den ästhetisch-rhetorischen Charakter faktualer Texte, der vor allem im Internet aufgrund neuer Darstellungsmöglichkeiten, aber auch aufgrund veränderter sozioökonomischer Bedingungen enorme Bedeutung erlangt hat, der aber häufig unterschätzt, ja übersehen wird. Dies liegt wohl auch daran, dass sowohl in den Fachwissenschaften als auch in den Fachdidaktiken immer noch relativ stark zwischen Literatur und Sprache bzw. zwischen Literaturdidaktik und Sprachdidaktik unterschieden wird. So finden sich Bezeichnungen wie „Sachtexte“ oder „pragmatische Texte“, die suggerieren, dass es hier in erster Linie um Informationsentnahme gehe. Ihre ästhetische Dimension spielt zumeist eine untergeordnete Rolle oder wird ganz ausgeblendet, weil man sich auf die vermeintlichen Sachinformationen konzentriert, die eben nur entnommen werden müssen, so wie eine Flasche dem Getränkeautomaten. Gerade für das Verständnis von Text-Bild-Kommunikaten aber, das haben die wenigen Beispiele gezeigt, ist die ästhetische Dimension von immenser Bedeutung, nicht nur wegen der Bilder und des Layouts, sondern auch aufgrund der Materialität von Schrift und ihrer graphischen Kontextualisierung. Hier geht es ganz gewichtig auch um die Komponente „Sehen“ innerhalb des Sehleseverstehens, weshalb etwa Blell von einem „ganzheitliche[n], ,schauende[n]‘ Lesen“ (Blell 2014, 98) spricht. Dieses Sehen aber müsste systematisch geschult werden, so wie dies in der Kunstdidaktik vorgemacht wird. Für die Sprachendidaktiken hieße das, dass man die ästhetische Dimension faktualer Texte so ernst nimmt wie bei fiktionalen Texten und daher verstärkt literarisches Lernen mit medialem Lernen Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 213 und mit Leseverstehen überhaupt verknüpft. Kaspar Spinner hat im Bereich der Deutschdidaktik in seinen bekannten Thesen zum literarischen Lernen bereits vor einiger Zeit postuliert „Transfereffekte“ zu nutzen und literarisches bzw. medienästhetisches Lernen auch im Hinblick auf Sachtexte zu praktizieren: „Deshalb ist es sehr einseitig, wenn im Unterricht bei der Beschäftigung mit Sachtexten fast ausschließlich auf Informationsermittlung und gegebenenfalls auf kritisches Lesen abgehoben wird.“ (Spinner 2006, 14- 15) Die Inszenierung - hier in einem nicht theaterspezifischen Sinn - und Ästhetisierung von massenmedialer Kommunikation erfordert neue Formen des ästhetisch fundierten, kulturellen deep reading, das verstärkt Impulse aus der Literaturdidaktik und aus der Kunstdidaktik aufzunehmen hätte. Dass dies punktuell geschieht, zeigt etwa ein gemeinsam von Deutschdidaktikern und Kunstdidaktikern herausgegebenes Themenheft zu Text und Bild (Praxis Deutsch 3/ 2012: Text und Bild), das verstärkte Interesse für Kunst, aber auch für multimodale Formate im Fremdsprachenunterricht und generell die Zunahme an Publikationen zum Lernen mit Bildern, zu Bildern im Fremdsprachenunterricht oder zur visual literacy. Ich möchte hier einen Vorschlag unterbreiten, der sowohl die Erstsprachdidaktik - in unserem Fall das Fach Deutsch - als auch die Fremdsprachendidaktiken betrifft. Bemerkenswert ist, dass man sich in diesen Didaktiken mit ähnlichen Fragen beschäftigt, sich wechselseitig aber nur bedingt wahrnimmt. Eine intensivere Kooperation zwischen den Sprachendidaktiken würde es erlauben, im Bereich des Sehleseverstehens die oben erläuterten Aspekte von Medialität, Kulturalität und Ästhetik stärker aufeinander zu beziehen, wobei eine ästhetisch fundierte, medienorientierte Kultursemiotik als Grundlage dienen könnte. Die Deutschdidaktik würde sich dabei, so wie bisher, in besonders intensiver Weise mit Fragen der Medialität beschäftigen, während die Fremdsprachendidaktiken ihre besondere Expertise im Bereich der Kulturalität einbringen sollten. Wie könnte ein solcher Ansatz grundsätzlich aussehen? Auf die besondere Stellung des Ästhetischen in der zeitgenössischen Kultur hat bereits vor einiger Zeit der Philosoph Wolfgang Welsch hingewiesen. Seine Überlegungen zum Ästhetischen Denken stammen aus den 80er und 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und wurden in der Didaktik - vor allem im Fach Deutsch auch punktuell rezipiert. Sie verdienen es meines Erachtens aber vor allem im Hinblick auf neue Medien noch einmal in Erinnerung gerufen zu werden, zumal auch Welsch ein Vierphasenmodell ästhetischen Denkens entwirft, das in vielerlei Hinsicht an die Phasenmodelle aus der Textverstehensforschung erinnert. Für ästhetisches Denken ist laut Welsch eine „gesteigerte Aufmerksamkeit auf ästhetische Implikationen von Argumentationstypen und Denkstilen cha- 214 Markus Raith rakteristisch (…). Die Beachtung dieser scheinbaren Sekundär- oder Tertiärqualitäten, die in Wahrheit Grundqualitäten sind - drückt sich doch in ihnen die leitende Sicht und Welthaltung aus, in deren Kontext die einzelnen Aussagen erst einen Sinn ergeben -, ist für dieses neuere Denken charakteristisch“ (Welsch 1990, 47). Weiter führt Welsch aus: Für ästhetisches Denken sind gerade Wahrnehmungen ausschlaggebend, die nicht bloße Sinneswahrnehmungen sind. ›Wahrnehmung‹ ist hier vielmehr in dem zugleich fundamentaleren und weiterreichenden Sinn von ›Gewahrwerden‹ zu verstehen. Dieser bezieht sich auf ein Erfassen von Sachverhalten, das zugleich mit Wahrheitsansprüchen verbunden ist. Derlei Wahrnehmung ist wörtlich als ›Wahr-nehmung‹ aufzufassen, hat den Charakter von Einsicht (Welsch 1990, 48). Dass mit dieser Art ästhetischen Denkens Text-Bild-Kommunikate wie die oben erörterten wesentlich adäquater zu erfassen sind als mit dem Prinzip der Informationsentnahme, leuchtet unmittelbar ein. Wie aber gelangt man von der Sinneswahrnehmung zur Sinnwahrnehmung (cf. Welsch 1990, 48), eine Frage, die Welsch so beantwortet: „Insgesamt kann man vier Schritte unterscheiden. Stets stellt eine schlichte Beobachtung den Ausgangspunkt dar. Von ihr aus bildet sich dann zweitens - imaginativ - eine generalisierte, wahrnehmungshafte Sinnvermutung. Diese wird anschließend reflexiv ausgelotet und geprüft. Daraus resultiert schließlich eine Gesamtsicht des betreffenden Phänomenbereichs, die durch ästhetische Grundierung mit reflexivem Durchschuss gekennzeichnet ist.“ (Welsch 1990, 49). Um aber in schulischen Kontexten überhaupt von der Sinneswahrnehmung - also von der schlichten Beobachtung nach Welsch wegzukommen und zur Sinnwahrnehmung hinzugelangen, bedarf es einer systematischen Sehschulung, die Sprache und Bild gleichermaßen betrifft. Sie wird, soweit ich sehe, bisher nicht angemessen geleistet, obwohl in allen Schulfächern beständig mit Text-Bild-Kombinationen gearbeitet wird 4 . 4 Auch Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien werden bild- und layoutlastiger und imitieren teilweise die graphische Struktur von Webseiten, was sich in manchen Deutschlehrwerken bereits am Titel zeigt (Deutsch vernetzt, Doppelklick). In der fachdidaktischen Forschung mangelt es aber sowohl an konzeptuellen Überlegungen zur Theorie von Visualisierungen als auch an empirischen Untersuchungen zur Wirkung entsprechender Text-Bild-Grafik-Kombinationen bei den Lernenden. Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 215 Systematische Sehleseschulung Wie könnte nun eine systematische Schulung des Sehleseverstehens im Hinblick auf Texte und Bilder aussehen? Zunächst müssten klassische Bild- und Textanalysen (oder auch Beschreibungen), wie sie vor allem im Deutschunterricht und im Kunstunterricht praktiziert werden, zugunsten der kommunikativen Leistungen von Bild und Text zurückgestellt werden. Gerade die Fremdsprachendidaktiken haben hier den Vorteil, dass sie in der Regel ohnehin weniger auf Vollständigkeit und Tiefenschärfe der Analyse hin ausgerichtet sind, als vielmehr auf Rede- und Schreibanlässe, subjektive Aspekte oder interkulturelle Sichtweisen. Die kommunikativen Potentiale von Text und Bild lassen sich systematisch durch einfache Übungen sowohl im Deutschals auch im Fremdsprachenunterricht erarbeiten, wobei dem Deutschunterricht auch aufgrund seiner Zeitkontingentierung hier eine Leitfunktion zukommen könnte. Dabei bietet sich ein kontrastiver Zugang an: Was können Bilder, was können Texte besonders gut? Und: Wo liegen ihre „Schwächen“? Gerade in didaktischen Kontexten wird automatisch und natürlicherweise mit den kommunikativen Stärken des jeweiligen Zeichensystems gearbeitet, im Fremdsprachenunterricht etwa mit der Visualisierung von Begriffen, welche einsprachige Erklärungen ermöglichen und die Behaltensleistungen unterstützen. Interessant wäre nun in einer systematisch angelegten Schulung zu erarbeiten, was das jeweilige Zeichensystem im produktions- und rezeptionsökonomischen Sinne weniger „gut“ zu leisten vermag. Dazu einige Beispiele (cf. ausführlich Weidenmann 1988). Bilder zeigen zunächst ganz simpel und lapidar: Sichtbares. Dies unterscheidet sie wesentlich von Sprache, die über ganz andere Möglichkeiten verfügt, Verborgenes, Nicht-Sichtbares darzustellen. Deswegen ist es auch eine große Stärke der Literatur, Subjektivität vorzuführen, durch innere Monologe, erlebte Rede o.ä.. Einen inneren Monolog zu visualisieren ist keine leichte Aufgabe und selbst, wenn sie mehr oder minder gelingt, gehen zahlreiche Nuancen verloren. Stellen sollte man diese Aufgabe aber in Lehr- und Lernkontexten dennoch, um die scheinbar selbstverständlichen Potentiale von Sprache ins Bewusstsein zu bringen. Aufschlussreich ist in dieser Perspektive auch der Film, der andere Möglichkeiten als statische Bilder hat, hier z.B., Innerlichkeit darzustellen, etwa eine Stimme aus dem off, visuell markierte Gedankenspiele etc. Auch der Comic behilft sich mit einem graphischen Code, um Gedanken zu thematisieren. Gedankenblasen werden visuell anders markiert als Sprechblasen, ohne Sprache kommen sie aber meist nicht aus - sieht man von Grundemotionen ab, die symbolisch durch Blitze, Blumen, Sonne o.ä. symbolisiert werden können. Ein anderes Beispiel aus dem Bereich der massenmedialen Nachrichten sind die zahlreichen Fotos von der Atomkatastrophe im japanischen 216 Markus Raith Fukushima. Auf einem Großteil der Bilder ist die eigentliche Katastrophe - die Atomstrahlung - gerade nicht zu sehen, erst der begleitende Text informiert uns über die unsichtbare Bedrohung. Hätten wir nur das Bild, würden wir lediglich eine industrielle Anlage am Meer sehen. Daher fokussieren Nachrichtenbilder normalerweise auf die architektonischen Schäden, auf fliehende Menschen o.ä., um wenigstens einige Aspekte der unsichtbaren Bedrohung zeigen zu können. Mit dem Zeigen des Sichtbaren einher geht das weitgehende Fehlen von visuellen Verneinungsmöglichkeiten. Bilder und Fotos zeigen, was ist und nicht, was nicht ist. Zwar gibt es Darstellungskonventionen, die eine visuelle Negation erlauben - man denke an Verkehrsschilder, Verbotssymbole, Streichungen -, aber dies sind Spezialfälle, die zudem darauf beruhen, dass die Bedeutung der visuellen Darstellungskonvention sprachlich erlernt wurde. Zu den Negationsmöglichkeiten von Sprache gibt es visuell keine Äquivalenz. Eine einfache Übung kann dies auch im schulischen Kontext demonstrieren. Der Satz „Obwohl es gestern schön war, habe ich keinen Ausflug gemacht“ wäre nur mühsam zu visualisieren und der Aufwand (und wahrscheinlich auch das Ergebnis) stünden in keinem Verhältnis zur sprachlichen Darstellungsökonomie und -effektivität. Weshalb, nebenbei gesagt, die ansonsten im Fremdsprachenunterricht so sinnvollen Visualisierungen schnell an ihre Grenzen stoßen. Der Beispielsatz zeigt zugleich, dass nicht nur Negationen, sondern auch syntaktische Verknüpfungen („obwohl“), Zeitlichkeit („war“) und Personenangaben („ich“) im Sinne der Personalpronomen auf Bildern so nicht ausgedrückt werden können. Ein kurioser Versuch, sich dennoch an die Visualisierung eines durchaus komplexen Textes zu wagen, stellt Juli Gudehus Variante der biblischen Genesis als Abfolge von Piktogrammen dar, über die man im Rahmen einer semiotischen Sensibilisierung mit Schülerinnen und Schülern trefflich diskutieren könnte. Und schließlich vermögen Bilder nicht im selben Maße wie Texte Gattungsbegriffe und Abstrakta darzustellen, weshalb etwa Wissenschaft und Unterricht nach wie vor auf Sprache basieren - und weshalb wir uns üblicherweise über Bilder schriftsprachlich und nur selten bildlich austauschen. Auch zu diesem Punkt gibt es ein interessantes Beispiel, das diskutiert werden könnte: die Informationen über die Spezies Mensch, welche die Raumsonde Voyager mit sich führt und die im Falle einer Begegnung mit außerirdischen Lebewesen Aufschluss über das Leben auf der Erde geben sollen. Da diese Informationen so leicht und vor allem so universell wie möglich zu verstehen sein sollten, sind sie überwiegend graphisch-bildlicher Natur, weil sie dergestalt auf das Analogieverhältnis von Original und Abbildung rekurrieren können. Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 217 Auf diesem Analogieverhältnis beruht denn auch das kommunikative Potential von Bildern. Sie können präzise zeigen, sie sind - mit Einschränkungen 5 wenn nicht universell, so doch weithin verständlich; sie können schnell rezipiert werden, vermögen eine hohe emotionale Wirkung zu erzielen und sind in hohem Maß in der Lage zu verdichten, zu symbolisieren und Komplexität zu reduzieren, weshalb in letzter Zeit zunehmend auf Visualisierungen im Bereich der Wissensvermittlung rekurriert wird: etwa in Form von Wissenscomics, in Form von Infografiken oder Schaubildern. Auch diese Funktionen lassen sich durch einfache Übungen im Unterricht erarbeiten. Bereits das sekundenweise Zeigen eines Bildes beziehungsweise eines Textes macht deutlich, dass wir das Bild sofort erfassen können (interessant ist dabei, wer welche Elemente erinnert), vom Text aber nichts verstehen, außer vielleicht die Überschrift, so sie fett und auffällig genug gedruckt ist - was uns wieder zur Frage nach der Schriftbildlichkeit zurückführt. Denn wir machen uns, vor allem in der Sekundarstufe, zu selten klar, welch komplexen Rezeptionsprozess das Lesen von Schrift darstellt. Eine weitere Übung - zum Emotionsgehalt von Bildern wären arbeitsteilige Schreibaufträge zu Fotos mit hohem Symbolgehalt, etwa zu den brennenden Twin Towers. Einerseits könnte eine bloße, möglichst nüchterne Beschreibung des Sichtbaren angeregt, andererseits das Ausdrücken der eigenen Emotionen vorgeschlagen werden, um beide Schreibaufträge dann zu vergleichen. Schließlich hätten in einer Text und Bild vergleichenden Sehschulung all jene Ansätze ihren Platz, welche die Kunstdidaktik entwickelt hat, beispielsweise das Markieren auffälliger, auch irritierender Stellen, die dann mit einem Kommentar oder mit Fragen versehen werden (mapping oder auch reminding). Im Sinne Welschs würde man so von der Sinneswahrnehmung durch gemeinsame Aushandlungs- und Deutungsprozesse zur Sinnwahrnehmung kommen, ähnlich dem literarischen Gespräch. Erst in einem letzten Schritt würde dann das Zusammenspiel von Text und Bild in den Vordergrund rücken, so wie es in den drei oben erläuterten Beispielen aus dem englischen, französischen und deutschen Sprachraum skizziert wurde. Dabei ließe sich grundsätzlich mit den verschiedenen Möglichkeiten der wechselseitigen Kontextualisierung beider Zeichensysteme arbeiten: Komplementarität, Spannung, Gegensatz, Illustration etc. (Punkt) (cf. Reichelt 2014). Für die Deutschdidaktik hat etwa Ulrich Schmitz eine Reihe von Vorschlägen zu diesem Thema vorgelegt, die sich unter anderem auf die von Stöckl entworfenen Typologien von Text und Bild in massenmedialen Texten beziehen (cf. Schmitz 2004a und 2004b). 5 „Weithin verständlich“ bezieht sich hier auf die Analogiebeziehungen zwischen Bild und Abgebildetem, welche offenbar wahrnehmungserleichternd wirken. Aber natürlich sind Bilder gerade nicht universell verständlich, diesem Irrtum sind die Kultur- und Bildwissenschaften gerade in jüngerer Zeit entschieden entgegengetreten. 218 Markus Raith Für den Französischunterricht lassen sich entsprechende Dokumente im Internet auf Nachrichtenportalen von Zeitungen oder auch auf den Startseiten von Internetdiensten wie yahoo finden und didaktisieren. Dazu zwei Beispiele. Auf der Internetseite von Le Point Leertaste findet sich am 12.6.2013 die Nachricht vom Tode des Verlegers Robert Gallimard. Der Titel lautet: „Robert Gallimard s’est éteint“. Auf lexikalischer Ebene interessant ist, dass im Untertitel ein anderes Verb, nämlich „[…] l’éditeur Robert Gallimard est mort le samedi 8 juin […]“ verwendet wird. Am Unterschied von être mort bzw. mourir und s’éteindre - hinzuzunehmen wären noch andere Verben wie décéder, aber auch Begriffe aus dem argot - ließe sich im Unterricht zunächst klären, wann welche Begriffe des französischen Sprachregisters verwendet werden und warum. Im Kontext von Todesanzeigen funktioniert dies in anderen Schulsprachen und auch im Deutschen ganz ähnlich. Gerade im Deutschunterricht taucht dieses Beispiel im Arbeitsbereich Sprachbetrachtung auf, vor allem dann, wenn es um Denotat und Konnotat geht. Sehr deutlich erweist sich hier die kommunikative Funktionalität von Sprachregistern, die ja in einem kommunikationsorientierten Sprachunterricht anvisiert wird, einmal davon abgesehen, dass Todesanzeigen zu den diskontinuierlichen Texten zählen. In unserem Beispiel geht es allerdings nicht um eine Todesanzeige, sondern um eine Nachricht im Text-Bild-Format. Bemerkenswert ist nun, dass auf der Bildebene von der Person Gallimard nichts zu sehen ist, es wird weder ein farbiges Foto aus seinem Leben gezeigt noch das obligatorische Portrait im schwarz-weißen Trauerflor. Vielmehr erblicken wir einen der vielen Buchläden, eine librairie Gallimard. Die Text-Bild-Kombination vermag auf diese Weise zwei Aspekte dieses Ereignisses gleichzeitig zu zeigen: Der Verleger ist tot, aber sein Werk, seine Buchläden, sein Verlag existieren weiterhin. Man könnte sich hier aber durchaus fragen, wieso die Person des Toten vollständig ausgeblendet wird. Anlass hierzu wäre die simple Aufgabe, wahlweise eine Illustration für die Überschrift oder einen Titel für das Bild zu finden. Ein zweites Beispiel bezieht sich auf die im französischen kulturellen Gedächtnis tief verankerte Vorstellung vom großen und bisweilen übermächtigen Nachbarn Deutschland. Ebenfalls auf Le Point (Leertaste) am 12.6.2013 ist ein Foto von einer großen Menschenmasse mit schwarz-rot-goldnen Fahnen zu sehen, augenfällig in einem Fußballstadion. Auch hier werden also - ähnlich wie in der Eigenwerbung der BILD-Zeitung - Fußball und Nationalsymbolik verknüpft. Allerdings lautet die französische Bildüberschrift „l’Allemagne se dépeuple“, welche zu einem entsprechenden Bericht über die demographische Entwicklung und den Bevölkerungsrückgang in Deutschland gehört. Zu fragen wäre hier, wieso Bild und Überschrift sich geradezu widersprechen, wieso man also die sprachliche Botschaft von der „Entvölkerung“ Deutschlands mit einem Bild kontextualisiert, das Bevölkerungsreichtum zu suggerieren scheint. Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 219 Im Unterricht wäre dabei zunächst grammatikalisch die besondere Form des reflexiven Verbs zu erörtern. In morphologischer Hinsicht könnten Verwandtschaft und Bildung von peuple, peupler und dépeupler thematisiert werden. In einem zweiten Schritt müssten dann Text und Bild aufeinander bezogen werden. Auch in diesem Fall würde die Aufgabe, zum Titel ein Bild zu suchen, und das hieße möglicherweise zu googeln, wertvolle Impulse liefern. Im Normalfall würde man eine Graphik erwarten, welche vielleicht eine Bevölkerungspyramide oder entsprechende Schrumpfungskurven zeigt, nicht aber das im Original verwendete Foto. Von hier ist es nur ein weiterer Schritt zum Genre der Infografik, welche bereits seit einigen Jahren viel medienöffentliches und mittlerweile auch didaktisches Terrain erobert und auch für den Fremdsprachenunterricht relevant ist. Am Beispiel der Infografik lässt sich die Spezifik des Sehleseverstehens diskontinuierlicher Texte besonders eindringlich ablesen, da die Infografik in der Regel drei verschiedene Zeichensysteme kombiniert, nämlich Schrift, Bild und Zahl. Sie hat üblicherweise einen Titel und eine Legende, sie zeigt Statistiken und zumeist ist das Ensemble mit einem - vielfach suggestiven - Bild unterlegt. Ganz deutlich wird bei diesen authentischen landeskundlichen Dokumenten, dass zu ihrer Erschließung eine spezifische Form von Rezeptionskompetenz notwendig ist. Zum Lesen als literalisierte schriftsprachliche Praxis muss ein „erweitertes Leseverständnis in dem Sinne, ganze Seiten (inklusive Bilder etc.) als „integrated texts“ zu lesen bzw. zu betrachten“ (Blell 2010, 95) hinzukommen. Dazu ist es vonnöten, diese „integrated texts“ zunächst zu desintegrieren, also Text und Bild (und gegebenenfalls Zahl) zu isolieren und die jeweiligen Zeichensysteme gesondert zu betrachten, um sie dann in einem zweiten Schritt aufeinander zu beziehen. Genau dies propagieren auch die oben vorgestellten Phasenmodelle des Leseverstehens diskontinuierlicher Texte. Zentrales didaktisches Prinzip sollte dabei die ebenso simple wie immer wieder verblüffend wirkungsvolle Trennung von Wort und Bild sein, und zwar in analytischer wie in handlungs- und produktionsorientierter Hinsicht. Die Aufgabe, zu einem Text Bilder zu finden und umgekehrt gestattet es eine Fülle von Arbeitsfeldern des Sprachunterrichts zu bedienen und die entsprechenden Kompetenzen zu fördern: sprachliche, kommunikative und (inter-)kulturelle. Die Spannbreite der Betätigungsmöglichkeiten reicht von der Wortschatz- und Grammatikarbeit über Sprachbetrachtung bis hin zu kulturellen, ästhetischen und literarischen Aspekten, die entsprechender Aushandlungs- und Deutungsprozesse in der Lerngruppe bedürfen, in schriftlicher oder mündlicher Form. 220 Markus Raith Literaturdidaktische Impulse für das Sehleseverstehen faktualer Texte Kommen wir noch einmal auf die Rolle der Literaturdidaktik im Hinblick auf das Sehleseverstehen faktualer Texte zurück. Neben der systematischen Text- Bild-Sehschulung müssten, so wir dem Vorschlag Spinners folgen, literaturdidaktische Überlegungen verstärkt für medienästhetisches Lernen herangezogen werden. Denn einige der literaturdidaktischen Thesen Spinners 6 dürfen auch Geltung für nicht-fiktionale Texte beanspruchen. Was Spinner allgemein formuliert, könnte ausdifferenziert werden im Hinblick auf literarische Gattungen und ihre Bezüge zu kommunikativen Spezifika massenmedialer Text-Bild-Kommunikate 7 . Lyrik und generell kleinere Formen vermögen vor allem für Verdichtung, für den Einsatz von Stilmitteln, für Symbolik und für Sprachbilder zu sensibilisieren. Nicht umsonst hat man in Fachwissenschaft und Didaktik immer wieder die Nähe von Lyrik und Werbung herausgearbeitet und dabei sowohl auf Kulturspezifika (cf. Reichelt 2014) als auch auf die poetogenen Strukturen von Werbung hingewiesen. Zudem vermögen bestimmte Formen von Lyrik die Materialität von Schrift, ihre Schriftbildlichkeit, in besonderer Weise zu verdeutlichen. Dies reicht vom barocken Emblem bis zur visuellen Poesie der Avantgarde, die sich auf diese älteren Formen bezieht. Dazu zwei Beispiele aus dem Werk von Guillaume Apollinaire, der sowohl barocke Text-Bild-Formate als auch Formen visueller Poesie im Zeichen der ästhetischen Moderne wiederaufnimmt. In Le bestiaire ou cortège d’Orphée haben wir es mit einer Sammlung von Text- Bild-Kombinationen zu tun, bei der die Texte die Bilder gleichsam kommentieren. Zur visuellen Darstellung von Orpheus ist etwa in der ersten Zeile zu les en: „Admirez le pouvoir insigne / Et la noblesse de la ligne“. Was Apollinaire hier vorführt, ist - didaktisch betrachtet - im Prinzip ein Bild-Mapping avant la lettre. Mit den schriftsprachlichen Kommentaren wird die Aufmerksamkeit auf bestimmte Bildelemente gelenkt und mithin eine Steuerung der Sinneswahrnehmung vorgenommen, sodass in einem zweiten Schritt die 6 Etwa „Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen“, „Narrative und dramaturgische Handlungslogik vers tehen“, „Metaphorische und symbolische Ausdrucksweise verstehen“ und vor allem „Literarisches und medienästhetisches Lernen verknüpfen“ (Spinner 2006, 8-15). 7 Wir beschränken uns hier auf Lyrik und Epik, da vor allem diesen beiden Gattungen für (statische) Text-Bild-Kommunikate relevant sind. Selbstverständlich bieten auch das Theater und die Dramendidaktik wertvolle Impulse, aber eher für bewegte Bilder mit Ton, etwa Fernsehen und Film, was somit tendenziell den Bereich des Sehhörverstehens betrifft und nur in eingeschränktem Maße das Sehleseverstehen (etwa bei eingeblendeten Texttickern o.ä.). Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 221 Sinnwahrnehmung (nach Welsch) möglich wird: „Elle est la voix que la lumière fit entendre“. Ganz ähnlich verfährt Apollinaire mit einem weiteren Bild („Regardez cette troupe infecte“), es werden aber auch Feststellungen getroffen und Fragen zu den Bildern aufgeworfen: „Saché-je d’où provient, Sirènes, votre ennui / Quand vous vous lamentez, au large, dans la nuit? “. Ähnlich wie in Welschs Beispiel von der Darstellung des Stierkampfes, die von der alten Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse grundiert wird, geht es auch hier um Fragen, welche von der bloßen Sinneswahrnehmung wegführen und hinleiten zur Wahrnehmung von Sinn. Und nichts Anderes visieren die didaktischen Verfahren des mapping an, welche auf diese Weise zu Einsichten verhelfen wollen, die über bloß individuelle Subjektivität hinausgehen, aber ohne den wenig originellen Arbeitsauftrag „Analysiere das Bild“ auskommen. Als zweites Beispiel lassen sich die visuellen Arbeiten Apollinaires im Rahmen seiner Poèmes à Lou (oder der Calligrammes) anführen, welche nicht nur handschriftlich abgedruckt sind, sondern auch schriftbildlich Blumen, Gesichter oder ein Herz formen. Von hier ist es nicht mehr weit zu Schrift in der bildenden und performativen Kunst oder zu Formen von Schriftbildlichkeit in der Populärkultur, etwa Graffiti und Firmenlogos. Dies soll hier nicht weiter ausgeführt und nur noch um den Verweis ergänzt werden, dass Schriftbildlichkeit und Text-Bild-Kommunikate im Bereich von Bilderbüchern bzw. Kinder- und Jugendliteratur und allgemeiner in der Grundschuldidaktik seit jeher einen zentralen Platz einnehmen, aber auch hier nicht systematisch auf ihre kommunikativen Funktionen hin reflektiert werden. In Bezug auf neue Medien lässt sich die Sehleseschulung mithilfe lyrikdidaktischer Verfahren weiter spezifizieren. Viele Webseiten-Aufmacher bestehen etwa aus Text-Bild-Gefügen, welche einen Titel, einen Untertitel oder eine kurze Erklärung und ein Bild - zumeist ein Foto - kombinieren. Sowohl mit den Textwie auch mit den Bildelementen lässt sich in analytischer und produktionsorientierter Hinsicht umgehen: mit Reimen und Klangfiguren, mit Kollektivsymbolik und Personalisierungen, aber vor allem mit Sprachbildern (cf. ausführlich zur Didaktik der Metapher Katthage 2004). Denn die Bilder, die beim Lesen von Lyrik im Kopf entstehen, werden in Text-Bild-Kommunikaten oft visualisiert: der Dax-Absturz durch einen roten Pfeil, der abwärts zeigt; der Untergang Europas durch eine skizzierte Titanic; die Redewendung von der Vorfahrt (für bestimmte politische Themen) auf Wahlkampfplakaten durch eine grüne Ampel etc., wobei die Visualisierung von Sprachbildern auch in einem Spannungsverhältnis zum Text stehen kann, ein didaktisch besonders interessanter Fall. In handlungs- und produktionsorientierter Hinsicht bietet sich ein sehr simples, aber nach meiner Erfahrung mit Schülern und auf Lehrerfortbildungen sehr wirkungsvolles Verfahren an, das so nur mit den spezifischen Potentialen des Internet möglich ist: Zu einem von einer Gruppe definierten 222 Markus Raith Sprachbild müssen andere Gruppen via Suchmaschine konkrete Bilder, also Visualisierungen, suchen und sich für eine entscheiden, die ihrer Meinung nach das Sprachbild am besten darstellt (und dies hernach im Plenum begründen). Dabei kann eine Fülle an Bedeutungsnuancen erschlossen werden, die so nur über den Wechsel des Zeichensystems möglich ist. Nimmt man außerdem die Analogiebasis von Metaphern in den Blick, ließe sich daran ein intensives Analogietraining anschließen, was sicherlich auch ein didaktisches Desiderat im Bereich des Sehleseverstehens darstellt: Welche Analogien werden zwischen welchen Bereichen suggeriert? Wie interagieren dabei Text und Bild? Solche und ähnliche Übungen - etwa zum Layout einer Webseite oder zu verschiedenen Schriftarten im Kontext von Bildern ließen sich in Unterrichtseinheiten zur Sprachaufmerksamkeit bzw. zur Sprachreflexion einfügen oder auch im Kontext des language awareness-Ansatzes realisieren. Neben der Lyrik spielt natürlich das Erzählen eine zentrale Rolle im Hinblick auf den ästhetischen Charakter massenmedialer Texte. Insbesondere die Erzählmaschine Internet erfordert eine Adaption klassischer narratologischer Ansätze an die Spezifika dieses neuen Mediums. Thesenhaft lassen sich diese Spezifika so zusammenfassen: Die Beschäftigung mit fiktionalem Erzählen ist äußerst aufschlussreich für faktuales Erzählen, sie wird aber gerade in schulischen Kontexten nur selten anvisiert, weil Literatur noch immer einen eigenen Bereich darstellt, der von den anderen Bereichen, vor allem im Deutschunterricht, in hohem Maße isoliert ist (für die Fremdsprachen gilt das so nicht). Erzählstrategien, Handlungsmuster, Figurenkonstellationen usw. lassen sich aber beim faktualen Erzählen genauso wie beim fiktionalen Erzählen bestimmen und zumindest begrenzt lassen sich diese Ansätze übertragen. Für Text-Bild-Kombinationen insbesondere im Internet gelten darüber hinaus ganz besondere Regeln, welche auch den didaktischen Reiz neuer Medien ausmachen. Kurz gesagt, haben wir es in Massenmedien und in besonderer Ausprägung im Internet mit Mikroerzählungen zu tun, die erst in ihrer seriellen Gesamtheit eine Makroerzählung konstituieren. Valéry Robert weist auf diese für den narrativen Journalismus so bedeutsame Unterscheidung hin - auch vor dem Hintergrund kulturspezifischer Narrative. Viele Einzeltexte finden sich zu einer Erzählung zusammen, die einer narrativen Struktur folgt (cf. Robert 2013, 54). Diese Makroerzählung heißt im Französischen nicht zufällig feuilleton - in Anlehnung an den Fortsetzungsroman - oder récit à épisodes (Robert 2013, 54). Sie zeichnet sich durch einen gleichsam kollektiven Erzähler, eine spezifische Temporalität und ihren unvollendeten, fragmentierten, seriellen Charakter aus. Durch Rekurrenzen, Konnexionen oder intertextuelle Bezüge entwickelt sich eine „Folge von unabhängigen Nachrichten zu narrativen Konkretionen“ (Robert 2013, 57). Makroerzählungen folgen bestimmten Plotmustern, die man auch aus literarischen Texten kennt: Aufstieg und Fall, Sünde und Strafe, Aufbruch und Heimkehr. Oft wird aber auch das spezifisch Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 223 journalistische Muster des Skandals bemüht. Robert untersucht dies kulturvergleichend am Beispiel der Erzählung von Aufstieg und Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Wulff. Sobald aus einem Vorgang dergestalt eine serielle Erzählung entsteht, werden „Phasen und Veränderungen ausgemacht, sodass die Erzählung dynamisch bleibt“ (Robert 2013, 58). Auf diese Weise entsteht eine segmentierte Erzählung mit Anfang und Schluss, mit Umschwüngen, Höhepunkten usw. Typisch für die mediale Erzählung ist ihr oft spiralförmiger Abschluss: An eine Erzählung schließt sich eine neue Erzählung an, deren Figuren manchmal aus der vorigen bekannt sind. Sie bekommen nun gleichsam eine eigene Serie, z.B. Joachim Gauck als Nachfolger Christian Wulffs. Bezeichnend für diese Erzählungen ist, dass die einzelnen Episoden in der Regel aus Text-Bild-Kommunikaten bestehen, dass also auch das narrative Potential von Bildern im Zusammenhang meist kürzerer Textelemente erschlossen wird. Im Prinzip bewegen wir uns hier zwischen Comic und Bildgeschichte, mit dem bedeutenden Unterschied, dass wir es nicht mit einem geschlossenen Werk zu tun haben, sondern mit einer Vielzahl von massenmedialen Episoden, die sich erst in ihrer Gesamtheit zu einer Makroerzählung zusammenfügen. Insbesondere aus kultursemiotischer Perspektive stellen diese Mikro- und Makroerzählungen eine besondere Herausforderung an das Sehleseverstehen dar. Da wäre etwa die spezifisch französische Makroerzählung vom großen Nachbarn Deutschland, die im Foto des stattlichen Helmut Kohl an der Seite des eher klein gewachsenen Mitterand - Hand in Hand vor den Gräbern von Verdun ihre stärkste symbolische Verdichtung fand und sich heute vermehrt auf wirtschaftliche „Episoden“ konzentriert, aber nach der Fußballweltmeisterschaft 2014 auch im Bereich des Sports „Erzählstoff“ findet. Auch diese faktualen Mikro- und Makroerzählungen ließen sich mit literaturdidaktischen Verfahren erschließen, so wie sie für fiktionale Texte, etwa Romane, ganz selbstverständlich sind: mit Fragen zur Figurenkonstellation, zur Entfaltung der Handlung, zu Haupt- und Nebensträngen der Erzählung bzw. zu Haupt- und Nebenfiguren, zu typischen plots, zu Spannungsbogen etc. Dabei wären im Sinne V. Roberts gerade im Fremdsprachenunterricht kulturspezifische Narrative zu beobachten und in Beziehung zu eigenkulturellen Standards zu setzen. Dass dabei auch die narrative Dimension von Bildern und von Bild-Text-Kommunikaten miteinbezogen werden muss, wurde bereits hinreichend deutlich. Nur so wäre eine kultur- und mediensensible, ästhetisch fundierte Narrationskompetenz anzuvisieren, welche gerade nicht auf die allseits bekannten literarischen Texte, sondern auf das in medialer Vielfalt als faktual Präsentierte abzielt. 224 Markus Raith Ausblick Fassen wir zusammen: Folgt man den mediendidaktischen Befunden wie dem Gabriele Blells oder in der Deutschdidaktik - dem Klaus Maiwalds (vgl. Maiwald 2005), dass wir uns in einer zunehmend bilddominanten Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt und mithin in einem „Lese - und Sehu mfeld“ (Blell 2010, 95) befinden, ergibt sich die Notwendigkeit einer nachhaltigen Schulung des Sehleseverstehens als Teilbereich des Sehverstehens. Ziel wäre die „Entwicklung einer spezifisch intermedialen Lesekompetenz in der Mutterwie in der Fremdsprache mit einer Unterfütterung durch die Bildwissenschaft“ (Blell 2010, 95), sodass in Schule und Hochschule „kritisch -kompetente Leser und Schauer aller Arten von visuellen Texten ausgebildet würden“ (Blell 2010, 95). Dass dies eine Querschnittsaufgabe ist, welche die Erst- und die Fremdsprachendidaktiken (und andere Disziplinen) betrifft und welche nur in einem größeren, auch curricularen Zusammenhang gemeistert werden kann, zeigt die Komplexität des Themas. Die Medialität und Kulturalität der Gegenstände erfordert eine Definition von Teilkompetenzen, welche den oft unscharfen und zu vielerlei Zwecken vereinnahmten Begriff der Medienkompetenz zu spezifizieren vermögen. Dazu aber muss der Verstehensprozess im wechselseitigen Bezug von Fachwissenschaft und Fachdidaktik, in einer doppelten Perspektive also, erhellt werden: „Die Frage, wie Rezipienten die non linearen und fragmentierten multimodalen Kommunikationsangebote zu einem kohärenten Verständnis integrieren, kann nicht unabhängig von einer Theorie des entsprechenden Gegenstandsbereichs geklär t werden.“ (Bucher 2012, 59) Im Bereich des Sehverstehens wäre mithin weniger von einer unspezifischen Medienkompetenz als vielmehr von einer Didaktik des Logovisuellen auszugehen, welche die Medien- und Zeichenspezifik ebenso berücksichtigt wie die Kulturgebundenheit des Dargestellten und der Darstellungsbzw. Rezeptionskonventionen. Ein Schwerpunkt dieser Didaktik wäre also unbedingt auf solche Inferenzen im Rezeptionsprozess zu legen, welche in hohem Maße an kulturelle Deutungs- und Orientierungsmuster und an entsprechendes präsupponiertes Wissen gekoppelt sind. Vor allem aber gilt es, den sich verstärkenden Tendenzen der Ästhetisierung und Inszenierung von Information gerecht zu werden. Deswegen wären Formen ästhetischer Bildung aufzugreifen, welche die bereits bestehenden Forschungsansätze zusammenführen, also auf der einen Seite Konzepte von visueller Kompetenz, visual literacy, multimodaler Kompetenz o.ä. und auf der anderen Seite Überlegungen zu inter- oder transkulturellem Lernen. Denn, das haben die vorgestellten Beispiele verdeutlicht, Text-Bild-Kommunikaten ist nur beizukommen, wenn ihre ästhetische, mediale, semiotische und kulturelle Dimension einbezogen wird. Dies kann meines Erachtens dann gelingen, wenn im Bereich des Sagt ein Bild mehr als tausend Worte? 225 Sehleseverstehens auch Aspekte literarischen und ästhetischen Lernens für den Umgang mit faktualen Texten herangezogen werden. Selbst oder eher: gerade Dokumente wie Infografiken, Aufmacher von Nachrichtenportalen, aber auch Visualisierungen von Fachwissen sind niemals neutrale Informationsvermittler, sondern werden in oft subtiler Weise ästhetisiert und können im Gewand der Objektivität oder auch Banalität extrem suggestiv daherkommen. Hier hat eine systematische Sehschulung anzusetzen, welche nicht nur das Sehleseverstehen als Teilbereich, sondern Sehverstehen insgesamt fächer- und disziplinenübergreifend fördern will. Blell, Gabriele. 2010. „Der Leser als ,Grenzgänger‘: Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen“, in: Carola Hecke / Carola Surkamp (2010): Bilder im Fremdsprachenunterricht. Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden. Tübingen: Gunter Narr, 94 - 109. Belgrad, Jürgen / Niesyto, Horst (ed.). 2001. Symbol. Verstehen und Produktion in pädagogischen Kontexten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 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Mit ihrer Hilfe mache ich alles um mich herum sinnvoll (André Kertész) Einleitung Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Das geflügelte Wort unterstellt, dass Fotos authentischer und realitätsgerechter seien und ihnen daher ein höherer Wahrheitsgehalt zukomme. Unterschwellig schwingt auch die Vorstellung mit, ein Bild könne von jedem, d.h. auch kulturübergreifend, verstanden werden. Was auf den ersten Blick plausibel erscheint, entpuppt sich auf den zweiten als unterkomplex. Denn zum einen kommen in einem Foto Einstellungen des Fotografen (Fotografiermotive, Gestaltungsabsicht, antizipierter Verwendungszweck etc.) zum Ausdruck. Zum anderen aktualisiert auch der Rezipient beim „Lesen“ eines Fotos verinnerlichte W ahrnehmungsmuster, seine situativ bedingte Aufmerksamkeit und nicht zuletzt seine visuelle Kompetenz. Visual literacy müsste in einer von Bilderfluten durchtränkten Gesellschaft als Schlüsselkompetenz anerkannt werden. Oder anders formuliert: Es gilt darüber nachzudenken, in welcher Weise Literalität als Basiskompetenz für ein Verstehen (welt-)gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse und für eine aktive bürgerschaftliche Teilhabe über rein sprachliche Kompetenz hinaus verstanden werden kann. Im Kontext des Multiliteracy-Projekts (cf. www.multiliteracies.ca) wird angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen die Notwendigkeit betont, die fünf semiotischen Systeme (linguistisches, visuelles, gestisches, räumliches und auditives System) sowohl in ihrer Eigenwertigkeit als auch in ihrer wechselseitigen Verschränkung zu sehen und zu lehren. Der Horizont des Multiliteracy-Projekts lässt erkennen, dass schulisches Lernen nicht nur mit Blick auf die Inhalte, sondern auch auf seine Form neu überdacht werden muss. Als ein wesentlicher Teil des Globalisierungsprozesses ist die weltweite Kommunikation via Internet zu betrachten, das nicht nur dazu führt, fernste Ereignisse ins Wohnzimmer zu bringen, sondern vor allem eine hoch verdichtete Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, kulturelle Bruchlinien oder eine Bildungsmedium Fotografie 229 Beschleunigung der Wahrnehmung. Für die Pädagogik stellt sich die Frage, in welcher Weise sie den veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten der Schüler/ innen entgegenkommt oder/ und inwiefern es zum Bildungsauftrag gehört, die Wahrnehmung zu entschleunigen und Kontrapunkte zu den medial geprägten und gewohnten Mustern zu setzen: Wenn zu den Aufgaben der Lehrperson gehört, „Türöffner zu neuen Sinnwelten“ zu sein und Horizonte zu öffnen (cf. Ziehe 2005), mit welcher Didaktik, welchen Methoden und Medien mag das gelingen? 1.1. Lern- und erkenntnistheoretische Begründung der Arbeit mit Fotos Nach konstruktivistischem Verständnis ist Lernen keine Funktion von Belehrung, sondern ein aktiver Prozess des lernenden Subjekts, und es ist immer mit der emotionalen Einfärbung der wahrgenommenen (Lern)Situation verknüpft. Nicht aus dem Auge verloren werden darf auch die Erkenntnis, dass die Lehrperson das wichtigste, d.h. am nachhaltigsten wirksame Medium ist. Die Form des Lernens qualifiziert den Inhalt, die (biografische) Nachhaltigkeit seiner Verarbeitung ist stark vom subjektiven Empfinden von Selbstwirksamkeit in der Lernsituation abhängig. Vor diesem (hier sehr holzschnittartig dargestellten) gesellschaftspolitischen und lernpsychologischen Hintergrund erscheint es plausibel, die Notwendigkeit eines Bildungskonzepts zu betonen, das immer auch die Subjektentwicklung der Lernenden mitdenkt: Diese ist stärker denn je geprägt durch Suchbewegungen, durch spielerisches Sich-Bewegen in Möglichkeitsräumen, eigentlich der Kern eines interkulturellen Lernens, bei dem die Reflexion und kreative Gestaltung von „ZwischenRäumen“ zu den didaktischen Kernaufgaben gehört. Kulturelle Bildung im Allgemeinen und Medienbildung im Besonderen haben - so meine These - in diesem Zusammenhang ein großes Potenzial, die für die Entwicklung eines starken Selbstwertgefühls notwendigen Selbstwirksamkeitserfahrungen zu vermitteln, - Voraussetzung dafür, sich in „fremden“, unübersichtlichen und uneindeutigen Lebenswelten nicht als passives Opfer der Verhältnisse wahrzunehmen, sondern als wirkmächtiges, handlungsfähiges Subjekt. Die große didaktische Kunst dürfte darin bestehen, multimodale Lernwege aufzuzeigen, zugleich aber exemplarisch und vertiefend zu arbeiten. Im Sinne einer Verlangsamung und Intensivierung der Wahrnehmung - Stichwort Entschleunigung - plädiere ich für eine verstärkte Arbeit mit Fotos, d.h. für eine Fokussierung auf stehende Bilder und die Interdependenz von Foto und Sprache (cf. Holzbrecher u.a. 2006), um darauf aufbauend transmediale Erkundungen vornehmen zu können. Eine Fokussierung auf Fotos lässt sich auch erkenntnistheoretisch begründen. Bilder der Welt, des Fremden oder auch der eigenen, vertrauten 230 Alfred Holzbrecher Sphäre, sind als „innere“ oder Vorstellungsbilder primär ikonisch kodiert, und zentrales Kennzeichen etwa von Fotos ist - im Gegensatz zum Text - die Nicht-Linearität, die emotional-sinnliche Qualität und die Simultaneität der Wahrnehmung. Vermutlich konstruieren wir unser (je individuelles wie auch) kollektives historisches Gedächtnis entlang den markanten Fotos, den Ikonen der Geschichte, an die sich wie in einem Kristallisationsprozess sprachlich vermittelte Informationen anlagern. Wenn die (inneren) Bilder unsere Wahrnehmung strukturieren, beinhaltet visuelle Alphabetisierung die Fähigkeit, die Bilder-Welt durch Reflexion zu erschließen, oder aus psychoanalytischer Sicht betrachtet: das Vor- und Unbewusste dem Ich zugänglich zu machen. So plausibel dies aus theoretischer Sicht erscheint, als subjektiver Lern- und Erfahrungsprozess scheint dies vor allem („nur“ (? )) über den Umweg der Gestaltung und des kommunikativen Austauschs zu funktionieren: Ausdruck / Gestaltung (1) (2) „innere Bilder“ / sinnliche & Reflexion / auf den ikonische Wahrnehmung (3) Begriff bringen, strukturieren… D.h. um sich die Bilderwelt erschließen und reflexiv bearbeiten zu können, bedarf es des Zwischenschritts des (kreativen) Ausdrucks, der „Gestalt-Werdung“ und des kommunikativen Austauschs. Mit Blick auf den Fremdsprachenunterricht könnte dieses erkenntnistheoretisch orientierte Modell (cf. Holzbrecher 2011, 213sqq.) so übersetzt und konkretisiert werden: Es bedarf möglichst vielfältiger, kreativer und multimodaler Aufgaben, um es den Lernenden zu ermöglichen, an ihren Vorstellungsbildern, an Welt- und Selbst- Bildern zu arbeiten, ihnen eine Struktur zu geben und durch Sprache Bedeutungen zu erschließen. Das diesem Beitrag vorangestellte Zitat von André Kertész ließe sich dann folgendermaßen interpretieren: Wer sich aktiv fotografierend in einen Suchprozess begibt, etwa beim Schüleraustausch in einer fremden Umgebung, versucht diese Wahrnehmung zunächst ästhetisch zu umspielen und auszudrücken (1), um sie dann kommunikativ bearbeiten und reflexiv „auf den Begriff“ bringen zu können (2). Ermöglicht wird damit (3) nicht nur eine Bearbeitung der Vorstellungsbilder, sondern auch nachhaltig wirksames, weil persönlich bedeutsames Lernen. Bildungsmedium Fotografie 231 1.2. Didaktische Funktionen Die meisten fotopädagogischen Konzepte - insbesondere in der außerschulischen Jugendarbeit - nutzen seit den 1970-er Jahren das Medium zum Selbst- Ausdruck: Jugendliche präsentieren sich und ihre Sicht auf die (Lebens)Welt. Sie drücken in den Fotos ein bestimmtes Lebensgefühl aus, ein Vorstellungsbild, in dem Wünsche oder auch Ängste gebunden sind. Im Sinne einer „Imagination“ handelt es sich also um ein aktives Nach-außen-Tragen, ein kreatives Zum-Ausdruck-Bringen einer zunächst noch vorbewussten Emotion oder subjektiven Herangehensweise an ein Thema. Eine zweite Funktion liegt darin, das Medium als Instrument zu nutzen, um etwas zu dokumentieren und sich Sachinformationen anzueignen. Fotos machen Dinge anschaulich: Sprache und Bilder werden vom menschlichen Gehirn in unterschiedlicher Weise wahrgenommen und verarbeitet: Die Verknüpfung von benennenden und klassifizierenden Texten mit Fotos, die eher symbolhaft-assoziativ wahrgenommen werden, führt dazu, dass Informationen leichter angeeignet und nachhaltig im Gehirn vernetzt werden können. Die Informationsfunktion von Fotografie kommt in besonderer Weise darin zum Ausdruck, dass das Medium zumeist genutzt wird, um Dinge oder Situationen zu dokumentieren, egal, ob es sich dabei um den eigenen Urlaub, ein Familienfest oder ein Ereignis der Zeitgeschichte handelt. Nur wenige fotografische Gattungen erheben nicht den Anspruch, etwas fotografisch dokumentieren zu wollen. Anderen etwas zu präsentieren, was man selbst erarbeitet hat, ist eine weitere didaktische Funktion von Fotografie. Mit dem Gestus des Zeigens, des Hinweisens auf etwas ist die Erwartung verbunden, in Kommunikation mit anderen zu treten, Sichtweisen auszutauschen und ein Feedback - sicher auch Anerkennung - für das Präsentierte zu bekommen. Jan Schmolling vom Deutschen Jugendfotopreis schreibt mit Blick auf die dort eingesandten Fotos: „Fotografien haben die Funktion von Lebenszeichen. Das Absenden der Fotos, das Einstecken des Umschlags in den Briefkasten, könnte an das Gefühl beim Verschicken einer Flaschenpost erinnern: ‚Wer bekommt die Nachricht letztendlich zu sehen und was wird sie in ihm bewirken? ’“ Er unterscheidet „’Selbstbezogene Lebenszeichen’ (Die Bilder zeigen die eigene Lebenswelt, oftmals auch Selbstportraits, persönlich relevante Details, Strandgut des eigenen Gefühls-Ozeans)“ und „Gesellschaftsbezogene Lebenszeichen“ (Diese Fotos bringen die eigene Verortung in der Welt zum Ausdruck, sie zeigen Außenwelten und reflektieren gesellschaftliche Probleme)’“ (Schmolling 2006, 67). Das Internet bietet in besonderer Weise die Möglichkeit, nicht nur in Textform, sondern auch mit Bildern zu kommunizieren. Der Fotocommunity stehen mehrere Portale zur Verfügung, über die die eigenen Fotos Interessierten gezeigt und kommentiert werden können. 232 Alfred Holzbrecher Eng damit verbunden ist eine vierte didaktische Funktion, die der Herstellung von Öffentlichkeit, der Appell, das Sich-Einmischen in gesellschaftliche Problemlagen. Dies ist der Ort etwa für die „Sozialdokumentarische Fotografie“, für engagierten Bildjournalismus im Interesse einer kritischen Aufdeckung politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Öffentlichkeit herstellen kann mit Ausstellungen geschehen, mit Initiativen einer Bürgerinitiative in der Lokalpresse oder mit Straßenaktionen. Fotos sollen dabei aufrütteln, auf wenig Bekanntes, Vergessenes oder Verdrängtes hinweisen sowie zu bestimmten Handlungen, etwa Solidaritätsaktionen, auffordern. Worin liegen nun die besonderen didaktischen Potenziale des Mediums Fotografie, etwa im Vergleich zum Film?  Fotografie ist das Massenmedium par excellence, es ist verbreitet wie kein anderes. Die Kamerahersteller kommen den Ansprüchen von Handy-Knipsern ebenso entgegen wie ambitionierten Fotografen: Es ist nicht nur für Einsteiger möglich, schnell zu Bildern zu kommen, darüber hinaus bietet das Medium dem Amateur unbegrenzte Perspektiven einer Weiterentwicklung gestalterischer Ausdrucksmöglichkeiten.  Gerade die Digitalfotografie ermöglicht, gewählte Perspektiven, Standpunkte und Bildaussagen direkt am Display kontrollieren zu können, ggf. das Bild noch einmal zu machen bzw. eine Serie von Fotos aufzunehmen, aus der dann die besten ausgewählt wird. Die Preisentwicklung auf dem Kameramarkt ermöglicht darüber hinaus die leichte Anschaffung von Einsteigermodellen bzw. das Fotografieren mit Handys und zugleich eine nach oben offene Professionalisierung durch die Arbeit mit technisch anspruchsvolleren Kameras.  In der fotopädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat sich gezeigt, dass Fotos beim Erlernen einer Fremdsprache wie auch beim Spracherwerb eine sehr gute Brücke zur Sprache darstellen. Für Kinder und Jugendliche, die (noch) nicht so gut wie andere über sprachliche Kompetenzen verfügen, stellt Fotografie ein ausgezeichnetes Medium dar, um „zur Sprache zu kommen“.  Bilder sagen Anderes als Worte - und auf eine andere Weise, vor allem sind sie im Gegensatz zur Sprache fast nie eindeutig. Aus didaktischer Sicht ist das ein Potenzial, denn wenn etwas mehrdeutig ist, können mehrere Sichtweisen zugelassen, mit unterschiedlichen Deutungen spielerisch und kommunikativ umgegangen werden. Probeweise entworfene Perspektiven auf die Bilder des Selbst und die des Anderen können skizziert und auch wieder leicht modifiziert werden, wenn „Recht haben“ keine Rolle spielt. Bildungsmedium Fotografie 233  Fotos sind einfach - aber auch in anspruchsvoller Weise - zu verknüpfen mit anderen Medien, z.B. mit Sprache in geschriebener oder gesprochener Form, aber auch mit Musik oder etwa szenischen Darstellungen: So lässt sich etwa ein Musikstück in Form eines Fotos symbolisieren, oder man kann zu einem Foto ein passendes Musikstück suchen; ein Foto kann zum Sprechanlass werden, umgekehrt kann etwa ein literarischer Text dazu motivieren, eine Stimmung fotografisch umzusetzen (cf. Holzbrecher/ Schmolling 2012, 22). Nach diesen allgemeinen Ausführungen zu den didaktischen Potenzialen der Fotografie sollen im Folgenden die fachdidaktischen, d.h. auf den Fremdsprachenunterricht bezogenen - insbesondere interkulturellen - Perspektiven im Mittelpunkt stehen. Schüleraustausch im Kontext von Unterricht und Schule Interkulturelles Lernen kann auf vielfältige Weise zu einer Querschnittsperspektive der Unterrichts- und Schulentwicklung werden. Ausgezeichnete Möglichkeiten dazu bieten Jugendbegegnungen und Schüleraustauschprogramme, wenn sie nicht (mehr) als Inselaktion und jährlicher Farbtupfer im Schulleben, sondern als integraler Bestandteil der Schulentwicklung verstanden werden. Neue Wege öffnen sich etwa über Kooperationen mit Organisationen der außerschulischen Kultur-, Medien- und Jugendarbeit, wenn es dabei gelingt, stabile Formen einer Integration der Austauscherfahrungen in den Unterrichts- und Schulalltag zu entwickeln (cf. Kurz 2015, Köhler/ Nebelung 2015, Nagel 2015). An dieser Stelle soll nicht einer „Feiertagsdidaktik“ das Wort geredet werden. Schüleraustausch als Projekt wird vielmehr so konzipiert, dass er durch eine fachlich fundierte Vor- und Nachbereitung gerahmt ist, um die Aneignung von interkulturellen Kompetenzen zu ermöglichen. Gerade der Fremdsprachenunterricht bietet curriculare Anknüpfungspunkte für ein breites Spektrum von Themen interkulturellen und globalen Lernens, die sowohl im regulären Fachunterricht bei der Vor- und Nachbereitung eines Schüleraustauschs, im fächerübergreifenden Projektunterricht oder auch als Projekt mit den Schüler/ innen der Partnerschule bearbeitet werden können:  Sprache als Medium der persönlichen und kollektiven Identitätskonstruktion (Dialekt/ Familiensprache... vs. Hochsprache) als Ausdruck („Code“) spezifischer kulturelle r bzw. lebensweltlicher Erfahrungen;  Migration von Wörtern in der Sprachgeschichte;  Fremde/ s in der Geschichte der eigenen Familie, Stadt, Region; 234 Alfred Holzbrecher  Nonverbale Aspekte interkultureller Kommunikation: Kulturbedingtheit von Gesten, Körpersprache/ parasprachlichen Zeichen bzw. von Kommunikationsritualen;  Bekleidung (cf. auch Kopftuchproblematik) als Zeichen für Identitätskonstruktion und Arbeit am Habitus;  Erkenntnis der historischen, kulturellen bzw. soziokulturellen Bedingtheit von Sprache sowie ihrer Transformationsprozesse (cf. das „kulturelle Gepäck“ von Begriffen in der Fremdsprache...);  Erkenntnis der Genese und Wirkmächtigkeit unserer Vorstellungsbilder vom „Fremden“, bezogen auf die Kultur -/ Literaturgeschichte wie auch auf aktuelle Situationen;  Erkenntnis kulturell (bzw. „habituell“) bedingter Störungen und Konflikte im interkulturellen Feld;  Wahrnehmung von/ Umgang mit Minderheiten in der europäischen Geschichte (als Prüfstein für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft);  Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Literatur, in Comics;  Historische und aktuelle Reiseliteratur als Modi einer „Wahrnehmung von Fremdheit“;  (Fremd)Wahrnehmung von „außen“: Wie wir aus der Perspektive „fremder Kulturen“ (Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika) wahrgenommen werden;  Kulturelle Konditionierungen unserer Sinneswahrnehmung/ Körper- Bilder und Sinnesqualitäten: Ausdruck von Körperkonzepten im (historischen und zeitgenössischen) Tanz, auch kulturvergleichend; Nähe- Distanz-Qualitäten in Begrüßungsritualen;  Weltkulturerbe;  Medienberichterstattung über „fremde Kulturen“;  Kulturelle Alltagspraxen (Feiern, Spielen, Wohnen, Arbeiten...);  Kulturgeschichte der Alltagsprodukte („Die Welt im Kochtopf“): Bananen, Gewürze, Kakao, Kaffee, Tee...(cf. Holzbrecher 2004, 2011, Leupold/ Krämer 2010). Bildungsmedium Fotografie: Didaktische Aspekte in interkulturellen Lernfeldern 3.1. Foto als Sprech- und Schreibanlass Die wohl häufigste Verwendung von Fotos im Unterricht ist ihre Nutzung als Stimuli für eine verbale Artikulation (cf. Küster 2003, 256sqq.; Piontek 2006, 145sqq.). Die Nutzung vorhandener Fotografien ist in der Bildungsarbeit Bildungsmedium Fotografie 235 recht verbreitet, sie dienen in allen Unterrichtsfächern v.a. der Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge oder als Brücke zur Sprache. Gerade in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die (noch) nicht so gut wie andere über sprachliche Kompetenzen verfügen, stellt die rezeptive Arbeit mit Fotos ein ausgezeichnetes Medium dar. Diese Erfahrung haben unsere Studierenden gemacht in der Arbeit mit Sonderschülern, mit Kindern im Vorschulalter oder auch im Fremdsprachenunterricht bzw. bei interkulturellen Begegnungen, d.h. wenn die sprachlichen Kompetenzen (noch) nicht so weit entwickelt sind. Fotos machen neugierig, verleiten dazu, Dinge zu benennen, mit eigenen Erfahrungen zu vergleichen und spielerisch Deutungen auszuhandeln. Mit Fotos scheint auch ein recht unmittelbarer Zugang zu „inneren Bildern“ mit all ihren Gefühlsqualitäten zu gelingen, so dass diese Bilder gerade für sprachlich weniger geschulte Kinder und Jugendliche eine Hilfe darstellen, um etwas „auf den Begriff zu bringen“ oder sich ihm durch eine Erzählung anzunähern: Ein (historisches) Familienfoto oder eines aus der Arbeitswelt motiviert dazu, die fotografisch eingefrorene Situation ‘aufzutauen’, sich die reale Situation vorher und nachher vorzustellen und in eine Beziehungsgeschichte aufzulösen. Eine fotografische Szene animiert dazu, Geschichten zu (er)finden und dabei das Kontextwissen (etwa über eine historische Epoche) in eine entsprechende Handlung umzusetzen, - und dabei möglicherweise mit den unterschiedlichen Perspektiven der abgebildeten Personen zu spielen. Ausgangspunkt der Publikation „Foto + Text“ (Holzbrecher u.a. 2006) war eine produktive Kooperation meines Fotoseminars mit einem Literaturseminar meiner Kollegin Ingelore Oomen-Welke: Die Studierenden stellten sich gegenseitig die Aufgabe, Texte zu Fotos zu schreiben und Fotos zu (literarischen) Texten zu machen (Oomen-Welke/ Studierende 2006). Die überaus kreativen Ergebnisse zeigten nicht nur ein hohes Maß an ästhetischer Qualität, der Brückenschlag vom Foto zum Text als auch umgekehrt macht deutlich, in welcher Weise die Verknüpfung des Mediums Bild mit dem des Textes aussageunterstützend, -verstärkend, ironisierend, veranschaulichend oder auch kontrastierend gestaltet werden kann. Eine Erkenntnis, die auch etwa mit der Aufgabe, zu einem Foto unterschiedliche Bildunterschriften zu finden, gewonnen werden kann, um eine bestimmte Lesart des (prinzipiell mehrdeutigen) Fotos zu steuern (cf. Holzbrecher 2010). 3.2. Foto als Ausgangspunkt für eine „Übersetzung“ in andere ästhetische Ausdrucksformen In der schulischen Bildungsarbeit dominiert häufig ein rationaler und analytischer Zugang zu den Lerngegenständen. Dabei bietet gerade eine Symbolisierung bzw. Transformation in eine andere ästhetische Ausdrucksform ein 236 Alfred Holzbrecher tieferes Verstehen und Einbeziehen von zumeist symbolisch verschlüsselten Vorstellungsbildern. Kindern und Jugendlichen macht es Spaß, die Stimmung in einem bestimmten Foto etwa durch die Auswahl eines dazu passenden Musikstücks zu erfassen, eine Bildercollage zu erstellen, mittels Körpersprache szenisch-pantomimisch bzw. dramatisierend zum Ausdruck zu bringen oder Metaphern zu dem Foto zu sammeln, mit denen - als sprachliche Symbolisierung und Verdichtung - ein Gedicht geschrieben wird. 3.3. Erlebtes festhalten - Bedeutsames bewahren Momente, die subjektiv als intensiv wahrgenommen werden, möchte man festhalten, so eines der Hauptmotive der alltäglichen Fotografierpraxis. Im schulischen Kontext sind Berichte von Projekten, Exkursionen und etwa auch vom Schüleraustausch meist ausschließlich in sprachlicher Form verfasst, Fotos kommt im besten Fall die Funktion einer auflockernden Bebilderung zu. Verschiebt man die Text-Bild-Relation zugunsten des Fotos, entsteht die Notwendigkeit, intensive Wahrnehmungen in „starken Bildern“ zu fassen, das Augenmerk auf (mit Blick auf die späteren Rezipienten) wirkungsvolle Bildgestaltungsmittel zu richten. Bei der Gestaltung des Textes wäre dann zu überlegen, ob beschreibende Sachtexte ergänzt werden (können) durch Textbausteine in einer literarisierten Sprache (Gedichte, Romanauszüge etc.): Eine Collage von selbst gemachten Fotos sowie eigenen und fremden Texten könnte ein komplexes Bild des Erlebten entstehen lassen. Ein visuelles Tagebuch - etwa im Schüleraustausch - motiviert dazu, kreativ mit unterschiedlichen Darstellungsformen zu experimentieren, als „irritierend“ Wahrgenommenes in einer symbolisierenden Weise zum Ausdruck zu bringen. Eine Projektaufgabe könnte auch lauten, „typische“ Gesten und Körperhaltungen im fremden Land zunächst fotografisch (dokumentarisch) festzuhalten, subjektiv Auffälliges nachzuspielen, ebenfalls fotografisch zu dokumentieren, um in einem weiteren Schritt über nonverbale Aspekte der interkulturellen Kommunikation ins Gespräch zu kommen, z.B. über Begrüßungsrituale, Gestik, Mimik, Körperabstand, Körperhaltung, Machtgefälle zwischen den Interaktionspartnern etc. Die These sei gewagt, dass damit ein tieferes Verständnis der „Fremde“ ermöglicht wird als mittels einer ausschließlich sprachlich-rationalisierenden Weise. 3.4. Bewegungsabläufe entschleunigt wahrnehmen Lange Zeit erschien das Medium Fotografie im Wortsinn anachronistisch, d.h. gegen einen Zeitgeist, der durch immer schnellere Bewegung - z.B. immer kürzere Filmschnitte - gekennzeichnet ist. Das didaktische Potential der Fo- Bildungsmedium Fotografie 237 tografie liegt gerade in der Konzentration auf das stehende Bild und die Möglichkeit einer tiefer gehenden Analyse eines Einzelfotos. Gute Filmemacher sind auch gute Fotografen. Vom gut gestalteten, Eindruck hinterlassenden Einzelfoto ausgehend bekommen Bilderfolgen bzw. Filmsequenzen eine bessere Qualität. Vor dem Hintergrund des Multiliteracies-Konzepts mit der Forderung nach einem kompetenten Umgang mit den unterschiedlichen semiotischen Systemen (s.o.) kommt der Fotografie eine bedeutsame Funktion als didaktisches („Basis“-)Medium zu, von dem aus mit einfachen, didaktisch flexibel zu handhabenden Mitteln Brücken zur Sprache, zu einer szenischen Umsetzung (Theater, Film) oder zur Musik geschlagen werden können. Begegnungs- und Konfliktsituationen etwa beim Erstkontakt im Schüleraustausch oder auch „kulturtypische“ Alltagssituationen sind zunächst zeitlich definierte Prozessverläufe. Eine Lernaufgabe könnte sein, eine solche „Film“-Situation zu verdichten in Form von etwa drei (oder mehr) Fotos und sich dabei auf das zu konzentrieren, was als das Wesentliche wahrgenommen wird. Als Varianten dazu können Sprechblasen, Bildunterschriften oder kurze Kommentare - wie im Comic - verfasst werden. Eine weitere Aufgabe könnte die (kulturell bedingte) Zeit-Wahrnehmung fokussieren: Ein motivierender Einstieg bietet die Aufgabe, aus einer schnellen Bilderfolge ein Daumenkino herzustellen, das vorwärts und rückwärts und in unterschiedlicher Geschwindigkeit durchgeblättert werden kann. Gerade die Wahrnehmung von Zeit, von Langsamkeit und Schnelligkeit, gehört zum großen Bereich des Nicht-Bewussten und Vertrauten: Bei langsamen Filmszenen mit wenigen Schnitten werden Schüler zumeist nervös, weil (und wenn) ihre Wahrnehmung auf Action-Filme und schnelle Schnitte konditioniert sind. Zu einer interkulturellen Erfahrung wird dann etwa die Lernaufgabe, Arbeitsabläufe eines vorindustriellen Handwerks so fotografisch zu dokumentieren, dass der (i.d.R.) langsamere Rhythmus zum Ausdruck kommt. In ähnlicher Weise könnte das (langsamere? schnellere? ) Leben in einer fremden Stadt so dargestellt werden, dass ein Bewusstsein für die Unterschiedlichkeit der Zeitwahrnehmung entwickelt werden kann, - Voraussetzung dafür, Selbstverständlichkeiten der eigenen Wahrnehmung aufzubrechen und deren kulturelle Bedingtheit zu erkennen. 3.5. Selbst inszenieren Selfies gehören weltweit zu den Standard-Fotomotiven, die wechselnden Bildhintergründe dienen offenbar der Vergewisserung, dort gewesen zu sein. Die Geschichte der Jugendfotografie bestätigt (cf. Pschichholz/ Vorsteher-Seiler 2011), dass das jugendliche Bedürfnis nach Selbstinszenierung zu den stärksten Fotografiermotiven gehört. Kinder und Jugendliche, die das Stadium der 238 Alfred Holzbrecher Knipser hinter sich lassen und sich auf anspruchsvollere Weise mit dem Medium Fotografie beschäftigen, zeigen die vielfältigen Formen der adoleszenten Suche nach Geschlechterrollen, Rollenbildern, Körper-Bildern, Beziehungsformen und möglichen, neuen Blick-Perspektiven: Wie sehen mich die Anderen? Welche Bilder haben sie von mir? Wie sehe ich mich selbst? Die Auseinandersetzung mit solchen Entwicklungsaufgaben (cf. Trautmann 2004) könnte zu einer Grundlage der (auch: interkulturellen) Didaktik werden. In einem (Foto-)Projekt beim Schüleraustausch könnten sich die Schüler/ innen beider Partnerschulen fotografisch vor der Kamera inszenieren, mit unterschiedlichen Charakteren, Rollen und fotografischen Perspektiven spielen, Wunsch- und auch Horrorvisionen der Selbst-Darstellungen körpersprachlich auszuprobieren, um sich dann darüber auszutauschen. Bei einer anschließenden Reflexion könnte erarbeitet werden, inwiefern die zum Ausdruck gekommenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf (1) individuelle, (2) situative oder (3) kulturelle Faktoren zurückzuführen sind. Da viele - auch Lehrer/ innen - zu „kulturalisierenden“ Wahrnehmungsmustern neigen, gilt es demgegenüber gerade die subjektbezogene Perspektive stark zu machen, ebenso die Einflüsse des situativen Kontextes. 3.6. Beziehungen herstellen - Geschichten erzählen Viele Knipserfotos erzählen keine Geschichte und wirken langweilig, weil die dargestellten Personen beziehungslos erscheinen. Wenn es dagegen gelingt, deren Blickbeziehungen (cf. Pilarczyk 2003) einzufangen, bekommt das Foto eine Tiefendimension und bindet die Aufmerksamkeit. Beziehungsgeflechte sichtbar machen, wird damit zu einer interessanten Lernaufgabe: Wie nah sind sich die dargestellten Personen? Oder auch: Wie kann deren Beziehungslosigkeit durch eine entsprechende Farb- und Bildgestaltung verstärkt werden? Über die Blickbeziehungen der abgebildeten Personen hinaus stellt jedes Foto eine Komposition von Objekten dar, die im Rezeptionsprozess in Beziehung zueinander gesetzt werden. Bildanalyse - visuelle Kompetenz - beinhaltet also die Fähigkeit, die Bedeutung eines Fotos aus der Anordnung von Objekten und Personen, der Gestaltung von Schärfentiefe, Farbe etc. erschließen zu können. Wer fotografiert, möchte solche Geschichten erzählen - oder etwa wie surrealistische Maler und Fotografen Irritationen erzeugen durch eine auf den ersten Blick nicht erkennbare (An)Ordnung der Dinge. Beziehungen herstellen lässt sich also zum einen auf die Blickbeziehungen der dargestellten Personen beziehen, zum zweiten auf die Raumanordnung der abgebildeten Objekte und drittens auf die vom Fotografen antizipierte Beziehung zum Rezipienten bzw. die beabsichtigte Wirkung, die mit dem Foto ausgelöst werden soll. Bildungsmedium Fotografie 239 Im Fremdsprachenunterricht eröffnet sich damit ein großer didaktischer Gestaltungsspielraum, sowohl bei der Arbeit mit vorliegenden Fotos als auch beim aktiven Fotografieren. Die in Fotos „eingefrorene“ Situation kann in eine Geschichte aufgelöst werden, entweder die, die bis zur im Foto dargestellten Situation geführt hat, oder eine mögliche Fortsetzung der Geschichte. Eine solche Lernaufgabe kann als freier Text oder auch als Szene gestaltet werden. Gut vorstellbar wäre dies auch als gemeinsames Projekt beim Schüleraustausch. 3.7. Spuren suchen im Alltag Fester Bestandteil der interkulturellen Didaktik ist es, im Alltag Spuren von Globalisierung und Migration ausfindig zu machen, um zu erkennen, dass diese sich wie ein roter Faden durch die europäische Geschichte ziehen: Migration und Vermischungen von Menschen, Ideen, zivilisatorischen Errungenschaften, Alltagsgegenständen etc. sind nichts Außergewöhnliches, sondern Zentralperspektive kultureller Entwicklung. „Kulturelle Homogenität“ ist eine Fiktion und Konstruktion derer, denen diese Übergangsdynamik bedrohlich erscheint. Interkulturelles Lernen sollte in zentraler Weise diese Erfahrung ermöglichen. „Typisch Französisches/ Englisches/ Deutsches“ im Alltag aufzuspüren und etwa fotografisch zu dokumentieren, führt sehr schnell zur Erkenntnis, dass eine solche Essentialisierung von Kultur der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Gerade kreative (Medien)Arbeit ermöglicht ein Spielen mit solchen Klischees - und damit eine Suche nach realitätsangemesseneren Begriffen und Deutungen. Die Spurensuche kann sich auf nahezu alle Alltagsbereiche beziehen: Die Ess-Kochkultur, Wohnformen, Veränderungen eines Stadtviertels, Formen der menschlichen Kommunikation und des sozialen Lebens, Jugendkulturen - in all diesen kulturell, gesellschaftlich und biografisch imprägnierten Ausdrucksformen lassen sich Vermischungs- und Übergangsphänomene, Gemeinsamkeiten und auch Unterschiede identifizieren. Hier gilt es, die unterschiedlichen Einflüsse und Perspektiven voneinander zu unterscheiden, etwa personbezogene, soziokulturelle bzw. milieubedingte, regionale oder auch kulturelle: Was könnte interkulturelles Lernen Anderes sein! Alltägliches, Vertrautes neu zu entdecken, eine Aufmerksamkeitshaltung für Details erkennen, für ZwischenRäume, für die Dynamik von Übergängen ist eine bedeutsame Aufgabe der Kulturellen Bildung im Allgemeinen und der Fotografie im Besonderen. Kaum ein anderes (leicht handhabbares) Medium ermöglicht, in dieser Weise den Blick zu schärfen und aus der alltäglichen „Blindheit“ herauszutreten. Die Fotos von Henri Cartier-Bresson fokussieren den „richtigen Augenblick“. Mit der Kamera in der Hand entwickelt 240 Alfred Holzbrecher man ein Gespür für eben diese Augenblicke, indem man sich in Situationen und Menschen hineinversetzt und ein Gespür für fotogene Momente entwickelt. 3.8. In Kontakt treten - fremde Welten erschließen Fremdes fasziniert und macht Angst. Eine fremde Umgebung, eine erste Begegnung mit ungewohnten Menschen und Verhaltensweisen irritiert, man schwankt zwischen Neugier und Abwehr. Aufgabe interkultureller Pädagogik ist es, eine Haltung entwickeln zu helfen, die zum Abbau von Ängsten beiträgt, um Offenheit in der Begegnung mit dem Fremden zu ermöglichen. In Kontakt treten beim Fotografieren beinhaltet ganz konkret, mit den Menschen in einer fremden Welt in Beziehung zu treten, wenn auch manchmal nur über einen Blick, um ihr Einverständnis zu bekommen. Wen oder was fotografiere ich? Wie nah möchte und kann ich herangehen? Solche Fragen kennzeichnen den Kontaktprozess, der damit zugleich eine Selbstvergewisserung ermöglicht: Wer bin ich, dass ich die fremde Situation in dieser Form wahrnehme? Zu den zentralen Forderungen der interkulturellen Pädagogik gehört, sich der eigenen, kulturell und gesellschaftlich geprägten Wahrnehmungsmuster bewusster zu werden, d.h. zu erkennen, dass und in welcher Weise die eigenen Selbst- und Weltbilder Konstrukte sind. Erst der - oft spannungsreiche - Kontakt mit dem Fremden lässt dies erfahrbar werden. Im Habitus der Annäherung findet Selbstreflexion statt. Welches andere Medium als die Fotografie eignet sich besser dafür, das Produzieren der Bilder und das Sprechen darüber zu einem Kontaktprozess werden zu lassen? Es wird Kontakt zum Anderen, Fremden ebenso aufgenommen wie zu den eigenen, als veränderbar erfahrenen Vorstellungsbildern. Multiliteracy - Perspektiven für die Schulentwicklung Erziehung zur Mehrsprachigkeit gilt als anerkannte Forderung für die Unterrichts- und Schulentwicklung. Damit ist die Vermittlung möglichst vieler Weltsprachen im schulischen Fächerspektrum gemeint, insbesondere aber die Anerkennung der Herkunftssprachen der Schüler/ innen mit Zuwanderungsgeschichte, etwa in Form eines integrierten Schulcurriculums, in dem die Grammatikinhalte der Fremdsprachen aufeinander abgestimmt sind oder unter Einbeziehung der Migranten-Herkunftssprachen sprachvergleichend gearbeitet wird (cf. Oomen-Welke 2015 a.b). Wissen über Sprachen der Welt und deren Bedeutung für die soziale Identität der Sprecher gehört im Horizont des multiliteracies project sicherlich zu den Grundlagen einer zukunftsfähigen Bildungsmedium Fotografie 241 Bildung. D.h. die curriculare Dimension von multiliteracy beinhaltet die Wertschätzung der Sprachenvielfalt der Lernenden ebenso wie eine didaktische Differenzierung im Unterricht, die es ermöglicht, alle Schüler/ innen so weit wie möglich durch komplexe Aufgaben herauszufordern und zu fördern. Das Konzept der multiliteracies erscheint vor allem interessant unter dem didaktischen Aspekt eines erweiterten Spektrums binnendifferenzierender Aufgaben  bei einer Verknüpfung der modalen Ebenen Bild, Text und Ton, und zwar sowohl in der rezeptiven (vgl. Bildanalyse) als auch in der produktiven Arbeit;  bei der Frage, in welcher Weise die Diversität der Lernenden (vgl. sozio-/ kulturelle Herkunft, Religion, Gender, Alter, Leistungsniveau, Begabung/ Behinderung etc.) Berücksichtigung bei der Gestaltung von Lernumgebungen finden soll und kann;  bei der didaktischen Verknüpfung von Fragestellungen der Lebenswelt der Lernenden im Kontext ihrer Entwicklungsaufgaben mit globalen Problemstellungen. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zur Arbeit mit Medien, hier der Fotografie, denn sie ermöglicht in besonderer Weise eine binnendifferenzierende Gestaltung des Unterrichts. Die vielfältigen Möglichkeiten, zwischen Bild und Sprache Brücken zu schlagen, bieten sowohl Sprachanfängern als auch Fortgeschrittenen Erfolgserlebnisse. Mit einer Verknüpfung von Sprache, Bild und Ton bekommt eine Kompetenzaufgabe eine leicht „dosierbare“ Komplexität und Problemtiefe, so dass daraus auch eine offene, selbstdifferenzierende Aufgabe wird und Schüler/ innen unterschiedlicher Sprachkompetenz bzw. Leistungsniveaus bis zu einem Mindeststandard kommen können, jedoch auch in kreativer Weise weit darüber hinaus aktiv werden können. Wer bereichert durch eine Austauscherfahrung wieder in den Schulalltag kommt, möchte sich mitteilen und mit anderen austauschen. Das Medium Fotografie bzw. ganz konkret die von den Schüler/ innen erstellten visuellen Tagebücher oder Fotos mit dokumentarischem Charakter rufen geradezu nach Öffentlichkeit - etwa in Form von Ausstellungen und Foto-Performances, etwa einer Beamer-Projektion der Fotos an einer hellen Wand des Schulgebäudes oder einer großen Außenwand im Stadtviertel. Die Schüler/ innen können sich an der Entwicklung multimodaler Präsentationsformen erproben. Ausgehend von der Fotografie bietet es sich an, die (an eine Leinwand zu projizierenden) Bilder mit Texten zu verknüpfen, sei es mit selbst verfassten oder/ und mit thematisch passenden literarischen Textabschnitten. Während die Fotos gezeigt und die Texte vorgelesen werden, kann nun noch gezielt mit geeigneter Musik/ Klängen gearbeitet werden, live gespielt oder von der CD, um eine Stimmung zu verstärken. Das Ausgangsmedium Fotografie 242 Alfred Holzbrecher ermöglicht dabei auf technisch einfache und flexibel zu handhabende Weise ein Experimentieren mit „Brückenschlägen“ zu den Medien Sprache und Musik. Eine solcherart konzipierte multimediale Collage wird zu einem Kunstwerk, dessen Qualität sich auch nach dem Kriterium der Öffentlichkeitswirksamkeit richtet. D.h. die Schüler/ innen lernen auch, Fotos, Texte und Musik mit Blick auf seine emotionale Wirkung in einem bestimmten kommunikativen Kontext zu einem Ganzen zu komponieren. Auch wenn solche Ansätze einer Kulturellen Bildung im Fremdsprachenunterricht noch nicht allzu verbreitet sind, gerade in interkulturellen Lernfeldern kommt ihnen eine große Bedeutung zu. Eine Verlangsamung der Wahrnehmung, ein kreatives Umgehen mit Fotos (und Vorstellungsbildern), ein spielerisches Handeln in Möglichkeitsräumen und eine über ästhetische Produkte vermittelte Kommunikation dürften wesentlich zu einem die Bildungsbiografie prägenden, interkulturellen Lernen beitragen. Holzbrecher, Alfred. 2004. Interkulturelle Pädagogik, Berlin: Cornelsen Scriptor. Holzbrecher, Alfred. 2004a. „Den Bildern auf der Spur. Fotoprojektdidaktik als kommunikativer Prozess“, in: Holzbrecher, Alfred / Schmolling, Jan (ed.): Imaging. Digitale Fotografie in Schule und Jugendarbeit. Wiesbaden: VS-Verlag, 11-32. Holzbrecher, Alfred / Oomen-Welke, Ingelore / Schmolling, Jan (ed.). 2006. Foto + Text. Handbuch für die Bildungsarbeit. Wiesbaden: VS-Verlag. Holzbrecher, Alfred. 2007. „Die Bedeutung des Mediums Fotografie für die Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen“, in: Schmolling, Jan / Kinder- und Jugendfilmzentrum in Deutschland (ed.): ZOOM: Junge Medienwelten. Die besten Bilder und Filme der Wettbewerbe Deutscher Jugendfotopreis und Deutscher Jugendvideopreis. München: kopaed, 16-20. Holzbrecher, Alfred. 2010. „Fotografie im interkulturell orientierten Französischunterricht“, in: Caspari, Daniela / Küster, Lutz (ed.): Wege zu interkultureller Kompetenz. Fremdsprachendidaktische Aspekte der Text- und Medienarbeit. Frankfurt a.M.: P.Lang, 29-38. Holzbrecher, Alfred (ed.). 2011. Interkulturelle Schule. Eine Entwicklungsaufgabe. Schwalbach: Wochenschau. Holzbrecher, Alfred. 2013. „Fotos und Fotografieren im Unterricht“, in: Praxis Fremdsprachenunterricht 6, Bilderwelten (Basisheft), 9-12. Holzbrecher, Alfred / Over, Ulf (ed.). 2015. Handbuch interkulturelle Schule. Weinheim und Basel: Beltz. Holzbrecher, Alfred / Schmolling, Jan. 2012. „Kinder fotografieren“, in: Die Grundschulzeitschrift 260 (Dez.) Themenheft Kinder fotografieren. Bildungsarbeit mit Fotos, 20-25. Leupold, Eynar / Krämer, Ulrich (ed.). 2010. Französischunterricht als Ort interkulturellen Lernens, Seelze: Klett Kallmeyer. Kurz, Tom. 2015. „Experiment e.V.: Kooperationen als win-win-Situationen“, in: Holzbrecher / Over 2015, 255-260. Bildungsmedium Fotografie 243 Köhler, Meike / Nebelung, Astrid. 2015. „Über den Tellerrand. Bildungsstätten als Partner im Schüleraustausch“, in: Holzbrecher / Over 2015, 272-280. Küster, Lutz. 2003. Plurale Bildung im Fremdsprachenunterricht. Interkulturelle und ästhetisch-literarische Aspekte von Bildung an Beispielen romanistischer Fachdidaktik. Frankfurt: P.Lang. Nagel, Holger. 2015. „An Grenzen wachsen. Interkulturelles Lernen im deutsch-indischen Schüleraustausch“, in: Holzbrecher / Over 2015, 281-295. Oomen-Welke, Ingelore / Studierende. 2006. „Kleine Projekte Studierender: Texte zu Fotos, Fotos zu Texten“, in: Holzbrecher / Oomen-Welke / Schmolling 2006, 327- 431. Oomen-Welke, Ingelore. 2015a. „Sprachen vergleichen, reflektieren, wertschätzen“, in: Holzbrecher / Over 2015, 138-146. Oomen-Welke, Ingelore. 2015b. „Wissen über Sprachen der Welt im Deutschunterricht“, in: Holzbrecher / Over 2015, 339-348. Pilarczyk, Ulrike. 2003. „Blick-Beziehungen. Generationenverhältnisse in Fotografien“, in: Ehrenspeck, Yvonne / Schäffer, Burkhard (ed.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske+Budrich, 309-324. Piontek, Oliver. 2006. „Foto und Text - Nutzungsmöglichkeiten für den handlungs- und kommunikationsorientierten Englischunterricht“, in: Holzbrecher / Oomen- Welke / Schmolling 2006, 143-156. Pschichholz, Christin / Vorsteher-Seiler, Dieter (ed.). 2011. Für immer jung. 50 Jahre Deutscher Jugendfotopreis (im Auftrag der Stiftung Deutsches Historisches Museum und des Kinder- und Jugendfilmzentrums in Deutschland). Berlin: dhm. Schmolling, Jan. 2006. „Fotografie als Lebenszeichen - Der Deutsche Jugendfotopreis als Forum für authentische Sichtweisen“, in: Holzbrecher / Oomen-Welke / Schmolling 2006, 59-72. Trautmann, Matthias (ed.). 2004. Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang. Wiesbaden: VS Verlag. Ziehe, Thomas. 2005. „Schulische Lernkultur und zeittypische Mentalitätsrisiken“, in: Hafeneger, Benno (ed.): Subjektdiagnosen. Subjekt - Modernisierung - Bildung. Schwalbach: Wochenschau, 193-222. Christa Satzinger Mit Karambolage sehen(d) verstehen „Teachers try to change the human brain every day. The more they know how it learns, the more successful we can be .” (Sousa 2006, 5) Einleitung Seit den 1970er Jahren spricht man von brain und nicht mehr mind. Brain-based education wurde zu einem völlig neuen Forschungsfeld. Es umfasst alles, was wir über das Gehirn und seinen Einfluss auf Erziehung und Bildung lernen können (Jensen 2008, 3). Empirische Studien haben ergeben, dass „students better learn from words and pictures than from words alone“. Lernende, denen sowohl Wörter als auch Bilder präsentiert werden, haben die Möglichkeit, mentale und verbale Modelle aufzubauen und Verbindungen zwischen den beiden herzustellen. Wird der Lernende aber nur mit Wörtern konfrontiert, hat er zwar die Möglichkeit, ein verbal mental model aufzubauen, es ist aber eher unwahrscheinlich, dass er ein pictorial mental model entwickelt und Verbindungen zwischen den beiden herstellt (Mayer 2001, 63). Um die 80 Prozent der Informationen, die wir über unsere Umwelt aufnehmen, sind visuell. An der Verarbeitung dieses Inputs ist gut ein Viertel unseres Gehirns beteiligt. Unsere Augen können bis zu 36.000 visuelle Nachrichten pro Stunde registrieren (cf. http: / / dasgehirn.info/ wahrnehmen/ sehen). Die Retina umfasst 40 Prozent aller Nervenfasern, die mit dem Gehirn verbunden sind. Vor allem Bewegung, Kontraste und Farbwechsel regen unser Gehirn an, aus dem einfachen Grund, dass alle diese Elemente das Potential in sich bergen, Gefahren anzuzeigen (Jensen 2008, 55). Deshalb sollte man für einen motivierenden Unterricht nicht nur einen häufigen Methodenwechsel, sondern auch einen Farbwechsel einplanen, sowie konkrete lebendige Bilder verwenden. Hirnforscher begründen dies damit, that the brain has an attentional bias for high contrast and novelty, …and the brain has an immediate and primitive response to symbols, icons, and other simple images (ibid.). Mit Karambolage sehen(d) verstehen 245 Die Aufgabe des Unterrichtenden liegt also nun darin, nicht nur das richtige Material zu liefern, sondern die kognitiven Fähigkeiten der Lernenden dahingehend zu steuern, dass sie Bild - und Textvorlagen effizient erfassen und verstehen, sowie auch Verbindungen zwischen den beiden aufbauen können. Wie hinlänglich bekannt, verarbeiten unsere beiden Gehirnhemisphären Informationen verschieden, während die linke für die Sprache zuständig ist, sammelt die rechte Informationen eher durch Bilder. Obgleich beide spezifische Funktionen haben, arbeiten sie im Lernprozess zusammen und wir lernen dann am besten, wenn beide in den Lernprozess involviert sind. David A. Sousa nennt hier das sehr simple, aber anschauliche Beispiel, dass wir Bälle ja auch besser mit beiden Händen fangen, also können wir auch mehr Informationen aufnehmen und verarbeiten, wenn wir beide Hemisphären aktivieren. Und berücksichtigt man dann auch noch, dass Lernende verschiedene Sinnespräferenzen haben ein visual learner wird mehr von Bildmaterial profitieren, ein auditory learner von Hörmaterial und für einen kinesthetic learner wird die Haptik oder auch soziometrisches Lernen von Bedeutung sein - dann erklärt es sich nicht nur aus neurodidaktischer Sicht fast von selbst, dass nur die Kombination aus visuellen und verbalen Konzepten einen effizienten und lernerzentrierten Unterricht nach sich ziehen kann (cf. Sousa 2006, 57sqq. 1 ). Wenn wir also die Lernenden gezielt darauf vorbereiten, ihre visuelle Verstehensleistung zu stärken, d.h. sie so weit bringen, dass sie das, was sie sehen, auch bewusst verstehen, 2 dann wird Sehverstehen (sehend verstehen) auch das Hörverstehen (hörend verstehen) stärken und somit generell den Lernprozess und auch die Motivation dafür fördern. Die Frage, die sich natürlich sofort stellt, ist, wie gehe ich methodisch vor, um die Sehkompetenz bewusst zu schärfen, bzw. wie und wo setze ich im Unterricht an? Die fünfte „übersehene“ Fertigkei t Nun wurde ja in den letzten Jahren immer wieder über die fünfte - wie Schwerdtfeger sie nennt „übersehene Fertigkeit“ ( Schwerdtfeger in: Sass 2007, 7) geschrieben, doch wurde sie meistens im Verweis auf Verwendung von Film- und Bildmaterial als Variante des Hör-, bzw. wie im GeR erwähnten Hör-Sehverstehens behandelt. Reimann verweist hier sehr anschaulich 1 Siehe auch David A. Sousas Unterrichtstipps für die Kombination von verbalen und visuellen Konzepten, bzw. Strategien, die beide Hemisphären einschließen, S. 194-197. 2 Wertvolle Unterrichtstipps hierfür liefert der Kit pédagogique von TV 5. 246 Christa Satzinger auf verschiedene Konzeptualisierungen, von visual literacy und interkulturellem Lernen in der DAF-Didaktik über Thalers Hör-Seh-Verstehmodell bis zu Modellen der Filmbildung von Blell und Lütge und kommt zu dem Schluss, dass die bisherigen Ansätze und Modelle die Kompetenz „Sehverstehen“ entweder als „Spielart des Hörverstehens sehen oder aber in engem Bezug zur Filmdidaktik“, bzw. wesentliche Aspekte der nonverbalen Kommunikation vernachlässigt wurden (cf. Reimann 2016). Dies zeigt auch ein Blick auf gängige Unterrichtsmaterialien. Es gibt zwar immer häufiger interessantes Sehmaterial in Form von Bildern, Karikaturen, Comics, Filmbeiträgen etc. als Begleitmaterial zu den gebräuchlichen Lehrwerken, es fehlt jedoch nach wie vor an gezielten Beobachtungsaufgaben und spezifischen Arbeitsaufträgen. Dabei hat das Bild ja schon eine sehr lange Geschichte im Fremdsprachenunterricht (cf. Reinfried 1992). Der holländische Humanist Desiderius Erasmus befürwortete bereits im Jahre 1529 die Verwendung von Bildern im Latein- und Griechischunterricht und Johann Amos Comenius brachte 1658 das erste Bilderkompendium heraus. Seiner Meinung nach sollte „zuerst die Fähigkeit, die Dinge zu erkennen, gebildet werden, dann das Gedächtnis und erst dann die Sprache“ (Zitat von Johann Amos Comenius, siehe Internetadresse). Sein Ansatz spiegelt sich auch in der neurobiologischen Forschung wieder. Denn wir wissen, dass, wenngleich dieselbe Vorlage in Worten beschrieben und in Bildern dargestellt werden kann, die Endresultate in ihrem Informationsgehalt differieren. Text- und Bildrepräsentation können einander natürlich nicht vollständig ersetzen, aber sie können sich komplementieren und dies wiederum verstärkt ihre Kommunikationskraft, noch dazu wo Bilder „holistic, nonlinear representations of information“ (Mayer 2001, 68) erlauben. Somit obliegt es dem Lehrenden nicht nur, die richtige Auswahl an Lehrmaterialien zu treffen, sondern auch die Rezeptionsfähigkeiten des Lernenden zu stärken. „Carefully designed multimedia messages can foster these processes in learning“ (cf. Mayer 2001, ibid.), da die multimediale Präsentation es dem Sprachenlernenden erleichtert, ein verbales und ein piktoriales Gedankenmodell aufzubauen und Verbindungen zwischen den beiden herzustellen, sowie beide gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis zu behalten. Somit erhöhen sich auch die Chancen, dass der Sprachenlernende das neue Wissen mit dem bereits erworbenen im Langzeitgedächtnis verknüpfen kann. Laut kognitiver Theorie des multimedialen Lernens ist die Verknüpfung von verbalen und piktorialen mentalen Modellen ein wichtiger Schritt zum konzeptuellen Verständnis (cf. ibid., 68sqq.). Interessante empirische Befunde finden Mit Karambolage sehen(d) verstehen 247 sich auch bei Porsch et al. (2011) 3 auf die Frage, ob Fremdsprachenlerner in einem standardisierten Leistungstest höhere Leistungen erbringen, wenn sie begleitend zum Hörtext Bildmaterial präsentiert bekommen. So zeigten Testergebnisse u.a., dass Französischlerner insgesamt höhere Testleistungen mit Bild aufweisen als ohne, wobei es für einzelne Items aber natürlich davon abhängt, ob das Bild eine Hilfe ist oder nicht. Es lässt sich also schlussfolgern, dass das Medium Bild in seiner vielfachen Form, also die visuelle Rezeption, sowohl für die Textrezeption als auch für die auditive Rezeption gewinnbringend ist und somit nachhaltig dazu beitragen kann, die fremdsprachlichen Kompetenzen zu fördern, wenngleich man einräumen muss, dass den „positiven Effe kten der Bilder kein Automatismus zugrunde liegt“ (Hecke 2010b, 158). Bilder müssen motivieren, denn die besten Lernerfolge entstehen durch intrinsische Motivation, und neugierig machen, also aufmerken lassen, denn erst mit dem „Aufmerken beginnt das Merken“ (Assmann in: Sass 2007, 6). „Einfach fernsehen“ war gestern Unser Medienumfeld hat sich in den letzten Jahren laufend und grundlegend weiterentwickelt. Internet und Digitalisierung verändern kontinuierlich die Produktion von „Bewegtbildmedien“ (cf. Gräßer 2013), sodass auch deren Rezeption einer ständig neuen Herausforderung unterliegt. Somit muss auch der Fremdsprachenunterricht kontinuierlich dem technischen Fortschritt angepasst werden, denn die „zunehmende Visualisierung des gesamten Fremdsprachenl ernens ist unübersehbar“ (Hallet 2010, 26). Bildmedien gehören neben Musik- und Geräuschmedien, sowie Verbundmedien (Bildergeschichten mit Sprechelementen, Collagen, Liedern etc.) zur Gruppe der „Medien prozessorientierter Sprachbegegnung“. Mit diesen Medi en kommen Unterrichtsgegenstände in den Fremdsprachenunterricht, die Fragen und „Suchbewegungen“ initiieren können. Sie sind natürlich vielschichtig und offen, ermöglichen kreative Bearbeitung und Verarbeitung und lassen individuelle Reflexion und Interpretation zu. Und die Chance dieser künstlerischen Medien liegt genau in diesem „Mehrwert“, der über „die reine und problemlose Abbildung der Realität hinausgeht, in einem ‚Mehrwert‘, an dem man sich verstehend reiben und damit letztlich bilden kann“ (Badstüb ner-Kizik 2007, 9- 10). Für Badstübner-Kizik kann man einige Bereiche davon als „Bild - und Musikkunst“ (ibid.) gelten lassen und genau diese Kunststücke gilt es, in den Unterricht zu transportieren, um den Lernenden die Augen zu öffnen, sie sehen 3 Siehe Forschungsergebnisse von Porsch, Grotjahn und Tesch zum fremdsprachlichen Hör-Sehverstehen im Rahmen des 3. Bremer Symposiums zum Fremdsprachenlehren und -lernen an Hochschulen. 248 Christa Satzinger zu lernen, um verstehen zu lernen. Diese Arbeit bedeutet natürlich auch „Innehalten und Entschleunigen“ (Sass 2007,6), auf das kleinste Detail aufmerksam machen und werden. Denn Bilder in jeglicher Form haben verschiedenste Funktionen, die man auch bedienen muss, ihre Entschlüsselung (Decodierung) kann nur dann gewinnbringend stattfinden, wenn die symbolische Verschlüsselung (Encodierung) bewusst gesehen wird, denn Bilder sind nicht von vornherein anschaulich, sie werden es nur umso mehr, je mehr „ihre grafische Gestaltung mit den Fähigkeiten des Betrachters korrespondiert, Bilder zu dechiffrieren“ (Schno or 1992, 27). Und dies gelingt - vor allem im Fremdsprachenunterricht - am einfachsten mit dem Einsatz von minimalistischer, ja fast selbstredender Bildkunst, die einen bereits sehen(d) verstehen lässt. Aus diesem Sehen von Bildern entstehen neue soziale und kulturelle Sichtweisen sowie differenzierte interbzw. transkulturelle Wahrnehmungen, die wiederum zur Selbstreflexion des Lernenden führen. Ein „erfahrungsgeleit etes, kulturelles Sehen und Verstehen von Bildern reflektiert und distanziert also zugleich eine kulturelle Praxis des Sehens“ (Hallet 2010, 33sqq.). Karambolage, die Kultsendung auf ARTE, kann als Teil dieser Bildkunst betrachtet werden und stellt u.a. aufgrund ihrer technischen und thematischen Vielschichtigkeit, der mehrkanaligen Verstehensleistung, sowie der inter- und transkulturellen Sichtweisen ein sehr interessantes Lernmedium für die Schulung des Sehverstehens und seine positive Auswirkung auf andere Fertigkeiten wie Hörverstehen, Lese- und Textverstehen, aber auch Gestik und Mimik, sowie natürlich Fremdverstehen und interkulturelle Kompetenzen dar. Anhand von einigen konkreten Beispielen soll dies in den folgenden Kapiteln erörtert werden. Karambolage Die Sendung Karambolage feierte im Jänner 2014 ihren 10. Jahrestag. Jeden Sonntag auf ARTE ausgestrahlt, ist sie für viele Franzosen und Deutsche zur Kultsendung geworden, die liebevoll und ironisch augenzwinkernd über die feinen Unterschiede der beiden Kulturen berichtet. Und dies in knappen 12 Minuten und mit minutiöser Genauigkeit. Für das Konzept der Sendung wurde die Gründerin Claire Doutriaux 2008 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Die Begründung der Jury dafür lautete u.a. wie folgt: Gera de weil sich die deutsche ‚Gemütlichkeit‘ und das französische ‚Savoir vivre‘ hier nicht zu einem europäischen Lebensgefüh l zusammenraufen müssen, wirkt ‚Karambolage‘ im Sinne des ARTE -Sendungsbewusstseins so integrativ… Und doch ist ‚Karambolage‘ mit sein er journalistischen Genauigkeit, der ambitionierten Ästhetik und dem Alltag als Hauptgegenstand so nur im Verbundmedium Fernsehen denkbar. Und darin wiederum nur dort, wo das Mit Karambolage sehen(d) verstehen 249 Fernsehen programmatisch keine Grenzen kennt - im Kulturkanal ARTE (cf. http: / / www.grimme-institut.de/ html/ index.php? id=289). Karambolage ist vor allem bei den Jugendlichen sehr beliebt und wird aus diesem Grund auch immer wieder an Schulen verwendet. Sehr häufig, wie aus BLOG-Beiträgen ersichtlich, aber eher im Bereich der Mediendidaktik. Claire Doutriaux weist zudem auch sehr bestimmt darauf hin, dass das Redaktionsteam nie die Absicht hatte, eine pädagogische Sendung zu gestalten, sondern lediglich versucht, eigene Fragen zu beantworten, diesen „ständigen, inneren Dialog“, den jeder in irgendeiner Form führt, der mit zwei Sprachen und zwei Kulturen lebt, nach „außen zu tragen“ 4 (Doutriaux 2008). Deshalb hat sie auch ganz bewusst nach Mitarbeitern gesucht, die denselben kulturellen Hintergrund haben, zweisprachig und „bikulturell“ sind und deshalb nie Beiträge „über etwas“, sondern „erlebt von jemandem“ schreiben, und genau das macht auch sicherlich den Witz und die Selbstironie der Sendung aus, aber auch ihre besondere Glaubwürdigkeit. Dieses „erlebt von“ löst im Rezipienten eine Assoziation von „Wiedererkennen“ von bereits Erlebtem und Gesehenem aus und erlaubt einen gedanklichen Zusammenhang mit alltäglich Vertrautem. Um nicht in Klischees und Stereotypen zu verfallen, erschien es der Redaktion wichtig, sich an konkrete, greifbare Dinge zu halten. Die Liste der Rubriken ist lang und umfasst u.a. Gegenstände, Worte, Kleidungsstücke, Bräuche, Symbole, Büros verschiedener Ministerien, Lautmalereien, Gesetze, ja auch Gesten und Mimik werden verglichen und runden somit das Bild der „fremden“ Kultur ab. 5 Das Fremdsein wird uns somit vertraut gemacht und in all seinen Facetten vertrauenserweckend vor Augen geführt, noch dazu von Menschen, die es selbst erlebt haben. Wichtig dabei sind die Arbeitsschritte: „das Detail genau beobachten, es beschreiben und dann erst vielleicht eine Interpretation wagen“. Am Bild wird sehr genau gearbeitet, mit verschiedensten technischen Trickfilmverfahren, Grafiken, Collagen, Blue- Box-Verfahren. Die Gestaltung ist somit sehr bewegt, mannigfaltig und motivierend, ganz im Sinne der Neurodidaktiker, die, wie bereits in der Einleitung erwähnt, ja für einen abwechslungsreichen, bunten Unterricht, v.a. mit konkreten, lebendigen Bildern plädieren. Bilder spielen in Karambolage natürlich eine große Rolle, vor allem aber das Sehen als eigene Fertigkeit. Und das Rätsel, die Devinette, am Ende der Sendung, welches wöchentlich ein Fixpunkt ist, während sich die anderen Rubriken abwechseln, bringt laut Claire Doutriaux „die Sendung auf den Punkt, denn es geht letztlich doch immer darum, das Genau Hinschauen zu lernen“. Ein weiterer Vorteil bei der Arbeit mit Karambolage liegt in der Zweikanaligkeit der Sendung, das heißt also auch, dass keine der beiden Sprachen Deutsch und/ oder Französisch vorrangig ist, denn 4 Alle Zitate in diesem Kapitel von Claire Doutriaux stammen aus dem Interview mit der Redakteurin vom 24.10.2008, abrufbar auf ARTE. 5 Siehe dazu auch Kathrin Uhdes (2006) interkulturelle Fernsehanalyse zu Karambolage. 250 Christa Satzinger eine weitere Besonderheit der Sendung besteht u.a. darin, dass „beide Fassungen parallel hergestellt werden“. Karambolage ist also glücklicherweise kein progressorientierter Fremdsprach- oder Sprachlehrfilm, sondern knüpft an Erlebtes, Alltägliches, Vertrautes, Authentisches an. Und genau das macht die Sendung so spannend. Bilder haben hier also nicht primär eine illustrative, sondern eine sehr wohl überlegte, bedeutungstragende Funktion. Zudem finden sich fast zu jedem Beitrag Standbilder von Schlüsselszenen auf der Homepage von Karambolage, die als vorbereitende Beobachtungs- oder festigende Nachbereitungsübung verwendet werden können. Somit werden „authentische Ausschnitte aus der Kultur der Fremdsprache ortsunabhängig fassbar und erlebbar“ (Badstübner-Kizik 2007, 19). Die Beiträge überzeugen zudem durch ihre „geschlossene Kürze, bei gleichzeitiger Offenheit“ (Koch 2013, 127), sie dauern zwischen drei und vier Minuten, wodurch Wiederholungen im Unterricht jederzeit machbar sind. 6 Auch Bedenken, die Lehrende oft vom Einsatz von Spielfilmen abhalten, wie z.B. Filmlänge, passive Rezeptionshaltung der Zuseher, sprachliche Hürden, Beeinträchtigung des restlichen Lernstoffes etc. (cf. Michler 2010, 27) kann man mit Karambolage widerlegen. Die Beiträge sind kurz, die Sprache ist authentisch, wird nicht didaktisch vereinfacht, da die Beiträge ja nicht für den Sprachenunterricht vorgesehen sind, Sprach- und Hörverstehen werden aber durch Sehverstehen veranschaulicht und aufgrund der assoziationsfördernden, vertrauten Themen wird die Rezeptionshaltung aktiviert. Der Lernstoff wird auch nicht beeinträchtigt, sondern bereichert und je nach Einsatz der Beiträge vorbereitet oder nachhaltig gestärkt. Wesentlich für den Erfolg der Sendung sind natürlich auch der Witz und Humor und die entsprechende Prise Selbstironie. Denn Humor stellt ja schon alleine für sich eine „kulturübergreifende Universalie“ dar (Thaler 2012, 6). Die Texte der Sendung, welche alle auf der Homepage mit Verweis auf die entsprechenden Autoren nachzulesen sind, der Blog der Redaktion und auch die Facebook-Seite laden zusätzlich zur aktiven Partizipation und Interaktion ein. Teilweise finden sich die Beiträge auch als Webvideos, eine sehr ansprechende Auswahl der Beiträge gibt es in Form von DVDs zu kaufen und eine ansprechende Auswahl an Beiträgen gibt es auch in Buchform. 7 Filmdidaktik im Computerzeitalter heißt, dass den Lernenden die Möglichkeit gegeben werden muss, mit dem Film aktiv zu arbeiten, ihn individuell anzuschauen, anzuhalten, zurück zu spulen, um „Rezeptionseindrücke - wie beim erneuten Lesen einer Buchpassage - zu überprüfen, zu modifizieren und analytisch zu vertiefen“ (Frederking 2010, 292). Und genau das 6 Cf. auch Thalers Selektionskriterien für Hör-Seh-Texte und Übungs-Dimensionen beim Hör-Seh-Verstehen (Thaler 2007, 12sqq.). 7 Alle Informationen finden sich auf der Internetseite von ARTE. Mit Karambolage sehen(d) verstehen 251 ist mit Karambolage gut umsetzbar. Inwiefern kann also die Arbeit mit „Karambolage“ als gewinnbringend f ür die Schulung des Sehverstehens gesehen werden? Aufmerken lassen In unserer schnelllebigen Welt, in der wir alle laufend mit Bildern konfrontiert sind, ist es umso wichtiger, die Lernenden durch gezielte Bilder „aufmerken“ zu lassen - innehalten zu lassen und bewusst Inhalte wahrnehmen, sprich sehen zu lassen. Ballstaedt unterscheidet zwischen unwillkürlicher und willkürlicher Aufmerksamkeit. Erstere ist die „automatische Zuwendung zu unerwarteten Reizen, also das, was uns im Alltag ständig widerfährt“. D ie willkürliche Aufmerksamkeit hingegen ist „die intentionale Zuwendung zu bestimmten Inhalten, sie ist das ausführende Organ der Interessen (…) jeder pickt sich aus dem Angebot heraus, was ihn speziell interessiert“ ( Ballstaedt in: Sass 2007, 6). Und genau diese willkürliche Aufmerksamkeit gilt es zu steuern, um die Lernenden bewusst sehen zu machen. Karambolage bietet den großen Vorteil, sich aus den verschiedenen Rubriken, genau das „herauspicken“ zu können, was für die jeweilige Lerneinheit als Motivati onszusatz verwendet werden kann. Es ist ja kein pädagogisches oder didaktisiertes Medienprodukt an sich und versteht sich auch überhaupt nicht als solches, bietet sich aber als motivierendes Einstiegs- oder Zusatzmedium für bestimmte Themen im Französisch- oder Deutschunterricht an. Küster differenziert zu Recht zwischen „didaktisierten“ und „authentischen“ Materialien, da im Unterricht natürlich leicht erkennbar ist, für welchen Verwendungszweck ein Medium hergestellt wurde und kommt zu dem Schluss, dass s ich „Materialien, die in nicht-didaktischer Absicht erstellt wurden, nach wie vor in aller Regel als motivierender“ (Küster 2003, 119) herausstellen. Er führt auch an, dass Zusatzaktivitäten und Begleitmaterialien zum Lehrbuch immer einen Charakter als „Lernhilfe, bzw. Lernanlass“ haben, authentisches Material hingegen zu „Sprach - und Sinnbildungsprozessen“ (ibid., 120) an regen kann. Nun kann natürlich auch Karambolage als „Lernanlass“, bzw. als Motivationsanlass für zu Erlernendes eingesetzt werden, entführt aber durch die Authentizität seiner Beiträge in eine reale Welt. Medienwissenschaftler sprechen in Anlehnung an die Theorie von John Fiske von „vertikaler Intertextualität“, die Bezüge zur realen Welt herstellt, Rezipienten erkennen Bekanntes und verbinden das Gesehene mit ihren eigenen Lebenserfahrungen (Schröter 2009, 12). Damit die Lernenden die Bilder, die sie sehen, auch richtig verstehen und dekodieren können, die Bildproduktion selbst also erfolgreich ist, müssen 252 Christa Satzinger diese Bilder so gestaltet sein, dass die „intendierte Botschaft für die Empfangenden erkennbar“ (Hecke 2010a, 173) ist. Das heißt also, die Bilder müssen mit entsprechenden, geeigneten Mitteln dargestellt sein, sie dürfen weder zu komplex, noch zu schwierig, schon gar nicht zu veraltet sein. Der positive Effekt der Bilder liegt natürlich nicht einfach automatisch vor. „Der bloße Bildeinsatz bewirkt nicht zwangsläufig, dass Schüler sprachliche, interkulturelle und methodische Fähigkeiten entwickeln“ (Hecke 2010b, 158). Für eine gewinnbringende Wahrnehmungsleistung müssen die Rezipienten geschult werden. Karambolage bedient sich hier verschiedenster Medientechniken, die Inhalte und Aussagen klar strukturieren und verbildlichen. Die Bilder sind so angelegt, dass ihre intendierte Bedeutung, also die beabsichtigte Grundaussage der Bilder, leicht und schnell feststellbar und deutlich ist. Sie enthalten eine klare, instruktive Botschaft. Woraus resultiert, dass das Sehverstehen eine wertvolle Stütze für das Hörverstehen, bzw. auch das Textverstehen darstellt. Durch die bewusst eingesetzte Technik entsteht eine gewisse Kurzweiligkeit und Fröhlichkeit, ganz im Sinne von Claire Doutriaux, was aber keineswegs Oberflächlichkeit heißt, ganz im Gegenteil. Für die Redakteurin sollte die Sendung „ein gewisses Tempo haben und frisch sein“. Sie wollte sie auch nicht „naturalistisch, also dokumentarisch“ 8 haben, somit war klar, dass Grafikern eine ganz besondere Rolle zukommen würde. Ein weiteres Charakteristikum von Karambolage ist die Vielschichtigkeit der Techniken, was sich sicherlich auch dadurch begründen lässt, dass an die 50 Grafiker für die Sendung arbeiten, die für eine Rubrik von drei Minuten einen Arbeitsaufwand von ca. zwei Monaten oder mehr benötigen. Interessant ist auch, dass es der Redaktion wesentlich leichter fällt, Grafiker in Frankreich zu finden, die mit dem Stil von Karambolage übereinstimmen als in Deutschland, was vielleicht auf die längere Comic-Tradition in Frankreich zurückzuführen ist, die wiederum stärker „die Animations-, Computer- und Collagegraphik miteinbezieht“ (ibid.). Außerdem wird auch öfters auf Studierende von Kunsthochschulen zurückgegriffen, sodass es nach dem stetigen einfachen Grund-Design eine wahre Fülle an unterschiedlichsten Animationsformen gibt: „Zeichenfilm/ Realfilm-Mix wechselt sich ab mit Graffiti-Animation, Stop-Motion-Basteleien interagieren mit Terry-Gilliam-artigen Archivcollagen“, sodass hier im Prinzip ein „eigenes Infotainment-Kurzfilmgenre geschaffen“ 9 wurde, welches sehr kurzweilig und äußerst unterhaltsam ist. Karambolage bedient sich also einer Symbolik, die unseren Lernenden m.E. wahrscheinlich weit besser als uns Lehrenden aus anderen Medien bekannt ist und knüpft somit in gewisser Weise an das kulturelle Vor-Medien-Wissen der Zuseher an, was wiederum aus neurodidaktischer Sicht einen positiven Transfer be- 8 Claire Doutriaux im Interview mit Daniel Bickermann (a). 9 Siehe Bickermann (b): Rezension zu den DVD-Veröffentlichungen von Karambolage. Mit Karambolage sehen(d) verstehen 253 deutet, denn „past learning always influences the acquisition of new learning“ (Sousa 2006, 138). Den Bildern sind also bestimmte Effekte inne, die wiederum bewirken, dass die Lernenden eigene mentale Modelle aufbauen können. Weidenmann unterscheidet zwischen vier Effekten:  dem Aktivierungseffekt: Bilder rufen bestimmte bereits bestehende mentale Modelle der Lerner ab  dem Akzentuierungs- und Korrektureffekt: bestimmte Elemente von bereits bestehenden me ntalen Modellen werden durch Bilder „fokussiert, bzw. modifiziert“  dem Konstruktionseffekt: Bilder können unterstützend für die Bildung von mentalen Modellen sein, bzw. Maßnahmen dazu anzeigen  dem Ersatzeffekt: Bilder können mentale Modelle vollständig repräsentieren (Weidenmann 1988, 161). Hier sei noch angemerkt, dass angesichts der Tatsache, dass, wie Studien belegen, die Fähigkeit der Lernenden, bereits Erlerntes auf neue Situationen anzuwenden, limitiert ist und im aktuellen Unterricht viel zu wenig unternommen wird, um die Transferleistung zu stärken (cf. Sousa, ibid.) bildgestützter, multifunktionaler Unterricht nur von Vorteil sein kann. Von der Coutume zur Gestik Eine kurze empirische Studie mit verschiedenen Niveaugruppen von Studierenden zum Thema La galette des rois sollte aufzeigen, inwieweit Studierende die Grundthematik des Beitrags nur aufgrund der Bewegtbildervorführung verstehen, also Sehverstehen das Hörverstehen und auch Textverstehen erleichtern kann. Als Einstiegsübung und erstes Vertrautwerden mit der Thematik wurde die Technik des Photo-Déclic angewendet und die Studierenden mussten anhand der Fragen „où, qui, quoi, comment“ folgendes Standbild 10 beschreiben. Somit erfolgte durch Verbalisierung dieses Bildwissens eine kurze Einführung in die Thematik. 10 Standbilder, Text und auch das Video zur Sendung La galette des rois vom 4.1.2004 finden sich auf der Homepage von ARTE: http: / / www.arte.tv/ fr/ la-coutume-la-galette-desrois/ 369162,CmC=369170.html. 254 Christa Satzinger Abb. 1: Standbild „galette des rois“ Dann erfolgte „le visionnage sans le son“, also eine Trennung der Rezeptionskanäle, wofür entsprechende Arbeitsaufträge erteilt wurden. Die Studierenden sollten gezielt auf Details rund um die galette schauen, humoristische Aspekte ausarbeiten und sich Assoziationen zu bereits Bekanntem aufschreiben. Nach der Besprechung der Resultate (die durchaus auch auf Deutsch sein durfte) wurde mit der Niveaugruppe A1 der Beitrag auf Deutsch angesehen, mit den höheren Niveaugruppen wurde anhand von Assoziations- und Wortschatzübungen noch weiteres Vokabular eingeführt und dann der Beitrag auf Französisch mit Ton gezeigt. Nun mussten die Studierenden festhalten, welche der dargestellten Szenen sie vielleicht missinterpretiert hatten. Die einfachen Bilder, wie die im Teig eingebackene Figur (fève), die Geschichte der hl. drei Könige, die festliche Stimmung, wenn der Kuchen gegessen wird, dass ganz Frankreich den Kuchen isst, dargestellt durch die galette in Form des Hexagone, sowie Bilder, die teilweise auch noch durch Lautmalerei (wie z.B. aïe/ aua wenn die deutsche Studentin auf die fève beißt) verstärkt werden, waren von allen Niveaugruppen sofort richtig interpretiert worden, kleinere Missverständnisse gab es - für alle Niveaugruppen gleich - bei Bildern, die etwas komplexer dargestellt waren, wie z.B. einem der Schlussbilder, in dem darauf aufmerksam gemacht wird, darauf zu achten, dass die galette nicht zu einem étouffe-chrétien (sehr sättigende, schwer verdauliche Speise) wird und man besser eine galette mit guten Zutaten kaufen sollte. Dieses Bild wurde aufgrund der Darstellung so interpretiert, dass man aufpassen sollte, nicht zu viel an Gewicht zuzulegen, was ja eine gar nicht so abwegige Interpretation ist. Aus den Resultaten lässt sich aber schlussfolgern, dass die Studierenden mit den einfachen, für sich selbst redenden Bilder recht gut sehen(d) verstehen konnten. Die anschließende Arbeit mit dem filmischen Beitrag lässt eine Vielzahl an Übungen je nach Niveaugruppen zu, mit oder ohne Transkript, sowie einfach in Form von non-verbalen Reaktionen (z.B. Aufzeigen, wenn bestimmtes Vokabular verstanden wird, Kärtchen mit bestimmten Begriffen in chronologi- Mit Karambolage sehen(d) verstehen 255 sche Reihung bringen, etc.). Es handelt sich hier ja um „gegenständliche“ Bilder, die direkt Assoziationen wecken und deshalb eher „affektive“ Reaktionen auslösen als rein „logische“ Bilder (Hecke 2010c, 11). Durch nochmaliges, auch mehrmaliges und eigenständiges Visualisieren des Beitrages, der Standbilder und auch Miteinbeziehen der Texte können anschließend die Erlebnisse „dingfest“ gemacht werden, „nicht als ästhetischer Selbstzweck, sondern als Austausch und Ansatzpunkt für anregende Gespräche“ (Schröter 2009, 12), wie in diesem Fall über Brauchtum im eigenen Land, dessen Bedeutung und Wertigkeit etc. Für Mediendidaktiker „thematisieren Filme das Sehen selbst“ und Selektion während der Filmwahrnehmung ist somit eine „gelenkte Selektion“, d.h. der Blick des Zuschauers kann z.B. durch verschiedene Einstellungsgrößen auf einen winzigen Gegenstand, einen Körperteil, Landschaftsteil gelenkt werden (cf. ibid.) Das Grafikteam von Karambolage bedient sich teilweise dieser gelenkten Selektion und erzeugt z. B. durch Einsatz von bestimmten Größenverhältnissen ganz bewusste formale Bildmerkmale, wie im Beispiel des Beitrages der CPE, der conseillère principale de l’éducation: 11 Abb. 2: Standbild „CPE“ Die CPE wird überdimensional groß dargestellt, um somit ihre Strenge und Autorität zu unterstreichen, mit großer, spitzer Nase, Brille, großem Stift, mit dem sie in ihr Buch schreibt, sie lacht nicht, hat strenge, feine Lippen. Neben der Situationskomik ist dieses Bild aber auch gleichzeitig „handlungsleitend“ - insbesondere durch die gespeicherten „inneren Bilder“, denn „soziale Situationen und Szenerien werden ja in Form innerer Bilder gelernt und im Medium des Bildes erinnert“ (Bohnsack/ Krüger 2014). Ein Anknüpfen an diese Erinnerungen ermöglicht uns also, die ganze Bandbreite der Situationskomik zu verstehen und uns in entsprechender Weise zu orientieren. Auch die übrigen Bilder in diesem Beitrag bestechen durch präzise Darstellung, so schickt eine französische Mutter, die in Deutschland lebt, ihren Sohn mit dem Cousin 11 Text und Standbilder finden sich unter: http: / / www.arte.tv/ de/ die-schule-der-conseiller-principal-d-education/ 7686756,CmC=7686758.html. 256 Christa Satzinger in Frankreich zur Schule. Allein die Bilder auf dem Weg in die Schule lassen aufmerken: der Briefkasten, der Abfalleimer, der in Frankreich nur aus einem Plastikbeutel besteht, das Straßenschild, alle Details wurden akribisch genau, sehr minimalistisch, ohne Redundanz, festgehalten und schärfen somit den Blick für das Wesentliche, das Andere, das einem aber rasch vertraut wird. Und letztendlich stehen die beiden, weil sie zu spät gekommen sind, vor der verschlossenen Schultür, die von einem pion geöffnet wird - und hier setzt gleich wieder die Situationskomik ein, indem in einer Sprachblase eine Spielfigur, ein pion, eingeblendet wird - denn der in Deutschland lebende Junge assoziiert mit dem Wort pion sofort ein Brettspiel, aber keine Aufsichtsperson. Dieses simple visuelle Einblenden und bewusste Sehen der Spielfigur hilft beim Verstehen und bleibt in Erinnerung, nur um eines von vielen Beispielen zu nennen. Collagen, Cut-out-Animationen und Bluebox-Verfahren werden wie bereits erwähnt häufig eingesetzt und dies in sehr klarer, strukturierter, einfacher Form. Nehmen wir den Beitrag Mademoiselle vom 11. September 2005. Hier wird am Beispiel von Bettina Wohlfahrt aufgezeigt, wie die Bezeichnungen Mademoiselle/ Madame und Fräulein/ Frau in Frankreich und Deutschland verwendet werden und mit welchen Unterschieden sich Bettina Wohlfahrt in Frankreich konfrontiert sah. Ein Beitrag, der bereits mit der Niveaugruppe A1 verwendet werden kann. Zur Veranschaulichung gibt es gleich vorweg ein Schwarzweißfoto von Fräulein Wohlfahrt bei ihrer Ankunft in Frankreich und zum Vergleich ein Foto 15 Jahre später. Diese Fotos werden im Beitrag immer wieder situationsbedingt verwendet, vor einfarbigem Hintergrund, mit klaren Zeichnungen, bzw. Bildern. Fast jeder Satz wird sehr klar strukturiert durch ein Bild untermalt. So schiebt sich bei der Szene „un petit café pour Mademoiselle“ von links eine schlichte hellblaue Kaffeetasse vor grünem Hintergrund ins Bild, in der Tasse erscheint die Schrift „Mademoiselle“ und von rechts kommt der Umriss eines hellgrünen Mannes, der sich verneigt. Aus einer blass-orangen Sprechblase erscheint ebenfalls die Schrift „Mademoiselle“ - um zu illustrieren, dass Bettina Wohlfahrt in Frankreich nach wie vor mit „Mademoiselle“ angesprochen wurde, während sie in Deutschland schon längst seit dem Gymnasium Frau Wohlfahrt war. Nun ist in der Zwischenzeit auch in Frankreich die offizielle Bezeichnung „Mademoiselle“ abgeschafft worden, aber Claire Doutriaux erzählt, dass sie trotzdem nach wie vor von ihrem Gemüsehändler mit „ma chère Mademoiselle“ angesprochen wird, für sie wird der Begriff „im Alltag einfach als witzige Anmache benutzt“ 12 und dies wird wahrscheinlich auch noch länger so bleiben. Durch kraftvolle Farben und Bilder wird also eine große Wirkung erzeugt, die gleichzeitig durch das Einfließen von verbalsprachlichen Äußerungen, bzw. mots-clés verstärkt wird. Dieses „spielerische Inszenierungsmuster“ 12 Interview mit Marte Kräher vom 02.04.2012. Mit Karambolage sehen(d) verstehen 257 trägt natürlich dazu bei, wie bereits Lutz Küster anmerkte, dass die einzelnen Beiträge „zwar vorwiegend intellektuell -kognitiv, nicht zuletzt aber auch ästhetisch ansprechen“ (Küster 2010, 44). Natürlich ist es immer wieder der Humor, der in Karambolage eine große Rolle spielt, und um „diesen Ton zu finden“, hat die Redaktion eine „lebendige, fröhliche, bunte Form“ gesucht (Doutriaux, 2008). Karikaturen haben in Frankreich ja eine sehr lange Tradition, bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts war es Mode, dass sich wohlhabende Kreise in dieser Form abbilden ließen (cf. Berauer 2010, 165). Karikaturen „fordern zudem heraus“, „machen neugierig“ (Philipp 2 014, 38) und aktivieren zudem die für den Lernprozess nötigen affektiven Assoziationen. Und wird der fremdsprachliche Humor einmal ‚geknackt’, stellt er eine „lang anhaltende Gedächtnishilfe“ dar (Raaf in: Backhaus 2005, 37). Mimik und Gestik Sprachliche Kommunikation basiert natürlich nicht allein auf Rezeption von visuellen und akustischen Signalen, sondern wird begleitet von einer Fülle von paralinguistischen Signalen, zu denen u.a. Gestik und Mimik gehören. Beim natürlichen Großwerden in der Muttersprache werden diese komplexen Signale allmählich und automatische in bekannte und vertraute Signale umgewandelt. In der Schule wiederum wird dem Rezipienten die fremdsprachliche Welt „strukturiert und dosiert“ (Ankerstein 1972, 14) angeboten und konfrontiert mit der fremdsprachlichen Alltagswelt sind die Lernenden oft völlig überfordert. Nun bietet die Sendung Karambolage auch für diese Fertigkeiten einige Beiträge für eine „gelebte“ Sprache (ibid, 22). Rubriken wie l’expression , le geste, la mimique oder l’on omatopée bringen konkrete Beispiele, die den Lernenden eine humorvolle und weitgehend effiziente Integration in die fremdsprachliche Welt ermöglichen, ja im weitesten Sinne den Umsetzungsprozess vom fremden Sprachkodex in einen vertrauten fördern. So wird z.B. in einem 42-Sekunden-Beitrag anhand von je sieben gefilmten Beispielen mit Menschen dargestellt, wie sich Franzosen und Deutsche Glück wünschen und gleichzeitig werden in roter Schrift neben den Aufnahmen die entsprechenden Wendungen „je croise les doigts“ und „ich drück’ Dir die Daumen“ in Printform gezeigt, d.h. dass hier sowohl Hörverstehen, Textverstehen, Sehverstehen, aber auch Gestik und Mimik angesprochen sind. Es findet also nach sieben Beiträgen aus dem Französischen ein Perspektivenwechsel in die uns vertraute Sprache und Kultur statt, der uns schmunzeln und reagieren lässt. Aus der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Sprache ist bekanntlich bis heute die große Bedeutung der „nonverbalen, insbesondere körpersprachlichen Kommunikation“ gebl ieben und sie überwiegt auch im Verhält- 258 Christa Satzinger nis von zwei Dritteln zu einem Drittel gegenüber der verbalsprachlichen Verständigung. Ein Grund mehr, warum Pantomimen so gut verstanden werden, obwohl wir sie nur sehen und nicht hören können. (cf. Blume 2010, 2sq.). Die Beispiele aus Karambolage können jederzeit im Unterricht nachgespielt werden, sie sind kurz, anschaulich, lustig und vermitteln gleichzeitig einen Einblick in die kulturellen Eigenheiten des Ziellandes, sowie im „aktiven Umgang mit der Sprache Verstä ndnis für die eigene Lebenswelt“ (Ankerstein 1972, 22). Interkulturelle Kompetenzen Krumm hat bereits 1995 darauf hingewiesen, dass Fremdsprachenunterricht tatsächlich auf interkulturelles Handeln in einer (veränderten) mehrsprachigen Welt vorbereiten kann. Dazu gehören systematisches Wahrnehmenstraining, das kulturgebundene Deutungsmuster in der Mutter-und Fremdsprache aufsucht und Prozesse des Selbst-und Fremdverstehens in den Mittelpunkt rückt (Krumm in: Badstübner-Kizik 2007, 18). Mit bewusst ausgewählten Beiträgen von Karambolage lassen sich diese Forderungen sehr gut abdecken. Gleichzeitig können sie auch eine wertvolle Stütze für Lehrkräfte selbst sein, denn wie Christine Wesselhöft treffend hervorhebt, sind nicht alle Lehrkräfte immer mit den interkulturellen Lerninhalten vertraut und eine tiefgreifende interkulturell ausgerichtete Fremdsprachendidaktik steht ebenfalls nach wie vor im Bereich der universitären und unterrichtspraktischen Ausbildung von Französischlehrer/ innen nicht wirklich im Mittelpunkt, auch in Österreich nicht. Auslandsaufenthalte für angehende Französischlehrer/ innen in Frankreich sind nach wie vor kein allgemeines Pflichtprogramm, wenn auch sehr viele aus Liebe zum Land und zur Sprache und natürlich, um ihr Wissen zu vertiefen, freiwillig ein Auslandssemester machen. In den Lehrwerken selbst gibt es punktuell gute Ansätze, die jedoch weitreichend ausgebaut werden könnten (cf. Wesselhöft 2010, 73sq.). Wesentlich für interkulturelles Lernen ist im Fall Karambolage das „Kulturverständnis beider Länder, das sich in unterschiedlichen, historisch gewachsenen Kulturbegriffen widerspiegelt: civilisation und Kultur (cf. Brunzel 2002, 33). Damit nun das Fremde richtig verstanden wird, es zu einem positiven „Fremdverstehen“ kommt, ist ein We chsel dieser Perspektive, bzw. sogar eine „zeitweilige Perspektivenübernahme“ (Caspari 2001, 170) nötig. Kognitives Hineindenken und affektives Hineinfühlen in die andere Kultur, ihre Traditionen und ihre Sprache sind dafür unabdingbar. Denn kulturelle Identitäten sind „dynamische Selbstverortungen, indem ‚Eigenes’, ‚Fremdes’ und ‚Gemeinsames’ situationsspezifisch jeweils neu definiert werden (Küster 2010, Mit Karambolage sehen(d) verstehen 259 41)“. Die Redaktion von Karambolage ist bemüht, beim Ausarbeiten dieser kulturellen Identitätsmerkmale und - unterschiede nicht in Stereotypen oder Klischees zu verfallen, geht deshalb nicht von Verhaltensweisen aus und lässt in Filmbeiträgen den Deutschen und den Franzosen von ein - und derselben Person spielen. „Herr Karambolage“ ist u.a. auch kein Schau spieler, sondern ein Redaktionsmitglied (cf. Doutriaux 2008). Lutz Küster erwähnt im Hinblick auf die Relevanz interkulturellen Lernens im Fremdsprachenunterricht am Beispiel von Karambolage auch das fächerübergreifende Ziel der Friedenserziehung (cf. Küster 2010, 44sqq.), was sicherlich in gewisser Weise nicht von der Hand zu weisen ist. Claire Doutriaux und ihr Team berichten etwas ironisch zu diesem Thema in der 100. Sendung, dass der größte Erfolg, den Karambolage zur Völkerverständigung geleistet hätt e, „die neuen Blumen auf der Place de Berlin in Paris seien“. Sie räumt aber ein, dass es bewegend sei zu sehen, dass die Sendung als „ernsthafter Versuch wahrgenommen wird, die Deutschen und Franzosen näherzubringen, obwohl das nie unsere konkrete Absicht war.“ Für sie ist die Sendung eine europäische geworden, „weil sie von echten Europäern gemacht wird, die das Aufeinanderprallen der Kulturen persönlich erleben“ (Doutriaux 2008). Und dieses „Europaformat“ lässt uns den Anderen in seiner Andersheit sehen und verstehen und gleichzeitig über uns selbst reflektieren. Und natürlich ist dabei auch das „sprachliche Lernen Teil des Bildungsprozesses, indem wir lernen, unsere Weltsicht zu relativieren, um uns mit anderen zu verständigen (Bredella/ Delanoy 1999, 17). Gerade in der heutigen multikulturellen Gesellschaft benötigen wir diese Fähigkeit ja mehr denn je. Karambolage hat seit September 2008 eine „neue Baustelle“, ein oder zweimal pro Monat werden Beiträge über Immigranten in Deutschland oder Frankreich gesendet, wobei hier u.a. vor allem die Beiträge le couscous oder l’épicerie arabe besonders hervorzuheben sind. Fazit Viele Gründe sprechen dafür, vereinzelt Beiträge von Karambolage im Französischunterricht - oder auch Deutschunterricht in Frankreich - zu verwenden und damit das Sehverstehen der Lernenden zu schulen. Dies sind, um nur einige zu nennen: die Kürze der Beiträge, die authentische Sprache, die kompakte und minutiöse Prägnanz der Medientechnik, die Vielseitigkeit der Beiträge, die alle Fertigkeiten abdecken können, der nicht pädagogische oder didaktische, schon gar nicht sprachdidaktische Hintergrund, der Humor, die Multimedialität und somit auch die Möglichkeit zur aktiven Rezeption durch die Lernenden. 260 Christa Satzinger Die moderne Gedächtnisforschung zeigt auf, dass auch der Kontext für den Lernerfolg maßgeblich ist, da dieser gemeinsam mit dem Wissensinhalt abgespeichert wird (cf. Roth 2009, 67). Karambolage stellt einen sehr positiv besetzten Kontext für den Lerner dar, da die Beiträge motivierend, humorvoll, situativ und realitätsbezogen sind. Außerdem wirken sie durch ihre offene, minimalistische Ausdrucksform, die eine Bilddeutung auch ohne fundierte Methodenkenntnis möglich macht. Die vom Redaktionsteam selbst geschriebenen Texte sind zudem in jeder Hinsicht „subjektiv belangvoll“ (Decke-Cornill/ Küster 2010, 254). Und die Gefahr, dass durch die Arbeit mit kulturellen Unterschieden Stereotype nicht beseitigt, sondern eher sogar verfestigt und vielleicht überhaupt erst ins Leben gerufen werden, lässt sich durch die Tatsache widerlegen, dass sie ja, wenn positiv besetzt, ganz normale mentale Muster sind, denen wiederum eine „identitätsstiftende Wirkung“zukommt (cf. Caspari 2012, 15). Und damit wäre in einem modernen Fremdsprachenunterricht schon viel erreicht. Ankerstein, Hilmar S. 1972. „Das visuelle Element im Fremdsprachenunterricht“, in: Ankerstein, Hilmar S. (ed.): Das visuelle Element im Fremdsprachenunterricht. Stuttgart: Klett, 7-25. Backhaus, Natascha. 2005. Humor und Fremdsprachen lehren und lernen. Bochum: Europäischer Universitätsverlag. 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Die Verknüpfung von digitalen, computerbasierten Medien in Beruf und Alltag hat im Zeitalter von Web 2.0 ein neues Selbstverständnis von Mediennutzung generiert: Für viele Menschen ist der Zugriff auf visuelle Darstellungen mittels elektronischer Medien nicht mehr wegzudenken. Technologische Weiterentwicklungen, die einen immer schnelleren Zugriff auf immer größere Datenmengen ermöglichen, führen zu einer Fülle von medialen Angeboten, die in ihrer Bandbreite nahezu unüberschaubar werden. Das Besondere: interaktive und synchrone, also zeitgleiche Kommunikationsmuster führen z.B. dazu, dass Internetnutzer häufig neben der Rezeption von Informationen und Daten zugleich eine (handlungs-)aktive, gar produktionsorientierte Rolle einnehmen. Dazu gehören das Beantworten einer E-Mail, das Bloggen von eigenen Kommentaren, das Erstellen, Bearbeiten und Verbreiten von Fotos und Videos etc. Im schulischen Kontext nimmt die Bedeutung von neuen Medienangeboten stetig zu, denn digitale Anwendungen und Werkzeuge werden insbesondere von Schülern zum gegenseitigen Austausch im Bereich der sozialen Netzwerke gerne genutzt. Weiter gibt es Unternehmen, die ihr Portfolio im Bildungssegment erweitern, um einen neuen und lukrativen Absatzmarkt für innovative und passgenaue Lösungen zu erschließen. Um den Bildungsauftrag der Vermittlung von Medienkompetenz zu erfüllen und um gleichzeitig die eigene Darstellung nach außen auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen, wird an deutschen Schulen seit einigen Jahren sehr viel in die technische Infrastruktur investiert. Neben dem Anschluss an ein schnelles Breitbandinternet bedeutet dieses oftmals auch die Anschaffung neuer Hardware, z.B. für 264 Veit R. J. Husemann den eigenen Server, für Computer- oder Laptopklassen, für Beamer, interaktive Whiteboards etc. Auf diese Weise sind Schüler und Lehrer heutzutage bereits an vielen Schulen im Unterrichtsalltag von der ständigen Möglichkeit eines direkten Zugriffs auf digitale und damit auch aktuelle visuelle Medien umgeben. In unserer digitalisierten, global vernetzten Welt, die mit der kontinuierlichen Bedeutungszunahme der ‚elektronischen Helfer’ einhergeht, ist es daher wichtig, mediale und technische Entwicklungen sowie Fortschritte im Hinblick auf Unterrichtstauglichkeit, fachdidaktischen Nutzen und Lerneffizienz zu überprüfen. Die Anschaffung neuer technischer Umgebungen bzw. die Investition insbesondere in Hardware und Infrastruktur allein bedeuten nicht von vornherein ein besseres Lehren und Lernen. Jedes einzelne Angebot muss im Hinblick auf die Lehr- und Lernökonomie, d.h. auf eine sinnvolle Kosten- Nutzen-Analyse, hin kritisch begutachtet werden. Eine zentrale Rolle bei der Nutzung von webbasierten Medien spielt der Weltkonzern Google, der mit seinen vielfältigen und funktionalen Angeboten von der Internetsuchmaschine, über Landkarten bis zur Translation eine besonders starke Präsenz und Vormachtstellung im Internet aufzeigt. Dieses zeigt sich insbesondere am deutlichen Zuspruch der Internetnutzer, berücksichtigt man allein die Tatsache, dass 85,2% aller Suchanfragen im deutschen Internet über die Plattform www.google.de erfolgen (bei 40800 Suchanfragen, cf. Webhits). Im Jahr 2012 führte Google das Suchmaschinen-Ranking bereits mit 81% vor allen anderen Mitbewerbern an (cf. Husemann 2013). Das Vertrauen der Nutzer in das Onlinemedium des US-Konzerns erfährt somit einen weiteren Zuwachs. Und mehr noch: aus dem Vertrauen ist bereits eine Vertrautheit bzw. Selbstverständlichkeit geworden, da eine Internetrecherche seit längerer Zeit auch gerne mit dem Ausdruck ‚etwas googeln’ verbunden wird, der so gängig ist, dass er bereits im Duden eingetragen wurde (cf. Husemann 2013). Durch die Popularität seiner Suchmaschine sind auch viele weitere Angebote und Features des US-Unternehmens durch Eigenwerbung bekannt und erfolgreich geworden, so z.B. auch der Einstieg des Konzerns in den Smartphonebereich. Während das Nutzen von Suchmaschinen ein Standardverfahren auch im fremdsprachlichen Unterricht bei Recherchearbeiten darstellt, so sind im Zusammenhang mit der Kompetenz des Sehverstehens jüngere Angebote des Marktführers wie Google Earth und Google Maps mit der Funktion Google Street View noch weitgehend Neuland im Klassenzimmer. In diesem Zusammenhang muss zunächst überprüft werden, wie groß das didaktische Potenzial dieser Anwendungen für den Fremdsprachenunterricht ist. Inwiefern kann Sehverstehen damit überhaupt geschult werden? Diese Frage soll im weiteren Verlauf geklärt werden. Vom Sehverstehen zur Handlungskompetenz 265 Traditionelle Bedeutung und neue Dimension der Wahrnehmung Historisch betrachtet nehmen Visualisierungen zur Erleichterung von Verstehens- und Lernprozessen bereits seit mehreren Jahrhunderten eine zentrale Bedeutung ein. Reinfried weist darauf hin, dass im Europa des 15. Jahrhunderts bereits erste Bilder im Fremdsprachenunterricht in Form von einfachen Federzeichnungen zur Veranschaulichung von bestimmten Begriffen genutzt wurden (Reinfried 1992, 25). Seither sind Visualisierungen, ob als Zeichnung, Skizze, Kupferstich, Gemälde, Foto etc. nicht mehr aus dem Fremdsprachenunterricht wegzudenken, auch wenn man dem Bildeinsatz im Unterricht, je nach Epoche und entsprechender didaktischer Methode, eine durchaus unterschiedliche Gewichtung verlieh (cf. Reinfried 1992 und 2010). Legt man den Fokus nicht auf das Unterrichtsmedium Bild, sondern auf die im Unterricht zu erzielenden Kompetenzen im Sinne der durch den Paradigmenwechsel eingeleiteten Kompetenzorientierung, lässt sich feststellen, dass Sehverstehen häufig gekoppelt mit Hörverstehen, als sogenanntes Hörsehverstehen, insbesondere in Zusammenhang mit filmdidaktischen Überlegungen einhergeht (cf. Reimann 2016 im vorliegenden Band). Der Einsatz von audiovisuellen Medien, wie Dokumentar- und Spielfilmen, wird auch in Zukunft nicht an Bedeutung für den fremdsprachlichen Unterricht verlieren, schließlich werden mit Spielfilmen kulturelle Inhalte und Aspekte vermittelt. Dennoch reicht der filmdidaktische Ansatz nicht alleine aus, will man das Sehverstehen ohne Hören aus fachdidaktischer Sicht ganzheitlich verfolgen und neue Wahrnehmungsmöglichkeiten einschließen. Die Kompetenzorientierung zeigt nach Ansicht von Blume z udem auf, „dass Bildkompetenz weder von den zentralen kommunikativen noch von den interkulturellen Kompetenzen zu trennen ist“ (cf. Blume 2014, 4). Um festzustellen, inwiefern man von einer neuen Dimension der Wahrnehmung in Verbindung mit Google Street View sprechen kann, ist es erforderlich, die Beschaffenheit dieses Medienangebots mit klassischen Medien für den Unterricht, wie z.B. Foto oder Film, zu vergleichen. Merkmale der Medienangebote Google Earth und Google Maps mit der Funktion Street View Die von Google entwickelten Programme Google Maps und Google Earth zeichnen sich zunächst durch die umfangreiche Darstellung von Geodaten in Form von Landbzw. Stadtkarten aus, die den Internetnutzern kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Während Google Maps vorrangig das interaktive Erkunden von Land- und Straßenkarten fokussiert, besteht mit Google Earth, einem virtuellen Globus, darüber hinaus die Möglichkeit, mehr über unsere 266 Veit R. J. Husemann Erde und unser Planetensystem zu erfahren. Dass der amerikanische Konzern mit beiden Angeboten gleichwohl eigene wirtschaftliche Interessen verfolgt, soll im späteren Verlauf noch gesondert aufgezeigt werden. In beiden Programmvarianten kann der Anwender durch einen Zoom den gewählten Kartenbereich vergrößern oder verkleinern, um so gezielt eine detaillierte Ansicht im Micro- oder einen möglichst großen Überblick und Gesamteindruck im Macrobereich zu erhalten. Neben der für Straßen- und Landkarten klassischen, schematischen Codierungsform besteht gleichzeitig die Möglichkeit, als Ansicht Satellitenbilder, also eine realgetreue Codierung, zu nutzen. Das Besondere an beiden Programmen ist eine zusätzliche Funktion, die einerseits eine neue Dimension der Wahrnehmung ermöglicht, andererseits bereits in der Phase der Entwicklung für kritische Stimmen, Protest und Aufsehen im Zusammenhang mit datenschutzrechtlichen Fragen sorgte: Google Street View. Wie der Name der Funktion bereits erahnen lässt, geht es hierbei um eine weitere, dritte Ansichtsmöglichkeit neben der Karten- und Satellitenbilddarstellung in Form von authentischen Bildaufnahmen ganzer Straßenzüge aus Passantensicht. Zur Realisierung dieser Zusatzperspektive hat Google weltweit mobile Kameras im Einsatz, die z.B. während einer Autofahrt in regelmäßigen Distanzen 360° Rundumaufnahmen anfertigen, sodass sich im Anschluss aneinandergereiht eine nahtlose Komplettstraßenansicht ergibt. Mit dem Computer, dem Tablet-PC oder auch dem Smartphone ist es dann möglich, ganze Straßenzüge oder Stadtteile zu ‚durchlaufen’. Die Nutzer können somit in eine virtuelle und zugleich realgetreue Stadt- und Straßenansicht eintauchen. Um die Darstellung noch authentischer wirken zu lassen, wurden von Google weitere Features wie eine 3D-Ansicht und eine 45°- Perspektive entwickelt, die einen nahtlosen Übergang beim Zoomen vom Satellitenbild zur Straßenansicht erlauben (cf. Husemann 2013). Um Medien generell hinsichtlich ihrer spezifischen Merkmale zu analysieren, bietet es sich an, mögliche mediale Darstellungsformen nach Sinnesmodalitäten und Codierungsarten zu unterscheiden (cf. Tulodziecki 1997, 39). Nach Weidenmann (2011) ist eine solche Unterscheidung sogar erforderlich, weil der Oberbegriff ‚Multimedia’ in seinem häufigen Gebrauch zu undifferenziert erscheint. Besser sei die Differenzierung von bzw. nach „Multimodalität“ und „Multicodierung“ (ebd., 74sq.). Die Unterscheidung von Sinnesmodalitäten bezieht sich auf die Sinnesorgane bzw. Wahrnehmungskanäle, die durch das Medium angesprochen werden. Beim Sehverstehen muss entsprechend primär ein visueller Reiz vorhanden sein, der statisch oder dynamisch sein kann und ggf. in Kombination mit weiteren Reizen, die andere Sinnesorgane ansprechen, einhergeht. Mit Codierungsarten lassen sich diverse abbildhafte und symbolische Darstellungsmöglichkeiten unterscheiden. So können z.B. mit dem Begriff ‚Bild’ sowohl ein abbildhaftes, realgetreues Foto von Personen als auch ein schematisches oder abstraktes Gemälde gemeint sein. Symbolische Codierungsarten beim Sehverstehen können verbal (z.B. schriftlich) Vom Sehverstehen zur Handlungskompetenz 267 oder non-verbal durch optische Symbole zum Ausdruck gebracht werden (cf. Tulodziecki 1997, 39). Neuere visuelle Wahrnehmungsmöglichkeiten wie Google Maps und Google Earth sind sowohl abbildhaft schematisch codiert (Kartenansicht) als auch abbildhaft realgetreu (Satelliten- und Straßenansicht). Google Street View lässt sich allerdings nicht eindeutig der von Tulodziecki aufgezeigten Einstufung von Sinnesmodalitäten in visuell statisch oder visuell dynamisch zuordnen. Die visuell statische Sinnesmodalität kann zwar auch mit dem Gebrauch von Google Street View in Verbindung stehen, allerdings nur, wenn eine Straßenansicht als Einzelbild betrachtet wird. Diese Einstufung kann allerdings insofern als wenig angemessen erachtet werden, als der Nutzer von Google Maps und Street View in der Regel von Beginn an nicht nur eine rezeptive, sondern auch interaktive Rolle einnimmt und sich durch die visuelle Darstellung virtuell bewegt: anders als bei der Ansicht eines Fotos in einem Lehrbuchtext, das ein Straßenbild zeigt, erfordert die Suche nach einem entsprechenden Bild oder Bildausschnitt mit Google Street View eine Annäherung durch mehrfaches Klicken und damit ein sich virtuelles Bewegen in der Karten- und Straßenperspektive. Eine Zuordnung zur visuell dynamischen Sinnesmodalität, zu der beispielsweise Filme gehören, wird dem digitalen Kartenprogramm jedoch ebenso wenig gerecht. Zwar besteht die Möglichkeit, eine nahezu visuelle Dynamik durch das interaktive Fortbewegen in der Straßenansicht zu erzeugen, doch dieses kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Ansicht stets um Einzelaufnahmen handelt, die nur durch das eigenständige Aktivieren per Klick eine vermeintliche Bewegung erzeugen. Das gilt ebenso für die Möglichkeit eines 360° Rundumblicks auf Basis von teilweise hochauflösenden Aufnahmen, die eine beeindruckende Panoramawirkung entfalten. Die bei Google Street View zugrundeliegende Darstellungsform beinhaltet aus diesem Grunde eine Sinnesmodalität zwischen statisch und dynamisch, die sich daher am besten als hybrid bezeichnen lässt. Im Gegensatz zu herkömmlichen statischen oder dynamischen Visualisierungsformen zeichnet sich die hybride Codierungsart zusätzlich durch ihren rezeptiv-interaktiven Charakter aus, da die Wahrnehmung vom Betrachter selbst bewusst gesteuert wird. Aufbauend auf der von Tulodziecki angegebenen möglichen medialen Darstellungsformen erfolgt in Abb.1 eine entsprechende eigene Erweiterung um die beschriebenen neuen digitalen Angebote, die eine hybride Sinnesmodalität aufweisen. 268 Veit R. J. Husemann Vorteile und Chancen von Google Street View Abb.1: Visuelle Darstellungsformen, unterschieden nach Sinnesmodalitäten und Codierungsformen (eigene Erweiterung in Anlehnung an Tulodziecki 1997) Weidenmann weist darauf hin, „dass multimediale, multicodale und multimodale Lernangebote zwar als angenehm und interessant erlebt, aber unter Umständen weniger intensiv verarbeitet werden“ (2011, 81). Studien zeigen allerdings, dass dieses auf ein oft fehlendes Angebot zur Interaktivität zurückzuführen ist (ebd.). Durch die Interaktivität, die in den vorgestellten Kartenprogrammen von Google gegeben ist, besteht die Gefahr einer rein passiven Rezeption nicht. Stattdessen kann insbesondere die Funktion Google Street View für sich als Vorteil verbuchen, dass sie nicht nur in ihrer multimedialen Eigenschaft die Aufmerksamkeit und das Interesse von Lernenden weckt, sondern mit ihrem rezeptiv-interaktiven Charakter auch ein motivierendes Lernangebot darstellen kann, das rein rezeptiven Medien überlegen ist. „Interaktive multicodale und multimodale Lernangebote eröffnen den Lernenden eine Vielfalt von Aktivitäten. Dies erweitert das Spektrum ihrer Lernstrategien und Lernerfahrungen“ (ebd., 85). Voraussetzung dafür bleibt selbstverständlich eine sinnvolle methodische Einbettung im Unterricht mittels einer schüler- und kompetenzorientierten (Lern-)Aufgabe. Das Sehverstehen bei der Verwendung von Google Street View ähnelt durch die realgetreue interaktive Darstellungsform dem Schema der alltäglichen Wahrnehmung. Die Bilddarstellung zeigt das authentische Alltagsleben und wirkt dadurch sehr realistisch. Entsprechend der individuell ausgeprägten Verhaltens- und Rezeptionsmuster zur Decodierung von visuellen Informationen in realen Umgebungen kann jeder Schüler mit Hilfe dieses digitalen Codierungsart abbildhaft symbolisch realgetreu schematisch bzw. typisierend verbal nicht verbal Sinnesmodalität statisch Bild Skizze, Grafik schriftlicher Text nichtsprachliche optische Symbole hybrid (rezeptiv-interaktiv) Google Street View Digitale Kartenprogramme dynamisch Film Zeichentrick, Animation Laufschrift bewegte optische Symbole Vom Sehverstehen zur Handlungskompetenz 269 Programms eine ihm unbekannte Stadt oder Gegend nahezu auf die ihm vertraute natürliche Wahrnehmungsweise erkunden. Nach Weidenmann (1988, 44sq.) kann hierbei von einem „ökologischem Bildverstehen“ gesprochen werden, da anders als beim „indikatorischen Bildverstehen“, die Bilder nicht durch eine weitere Bedeutung oder Intention, wie beim Bild eines Fotografen oder eines Malers, aufgeladen sind. Bei der Arbeit mit der virtuellen Straßenansicht kann es jederzeit unverhofft auch zu Bild-Text-Kombinationen kommen, die sich für das Lernen als günstig erweisen. So können ikonisch genaue Darstellungen mit symbolischen und verbalen Informationen einhergehen, z.B. wenn eine Apotheke in einer Straße zu sehen ist und sich gleichzeitig darüber ein Schild mit dem Wort ‚Farmacía’ befindet. Die meist unvorhersehbare Konfrontation mit solchen Bild-Text-Kombinationen begünstigt nicht nur den Wortschatzerwerb, sondern stärkt auch die Ambiguitätstoleranz und interkulturelle Kompetenz, da auch soziokulturelles Orientierungswissen teils bewusst, teils unbewusst wahrgenommen wird. Das kann ein unterschiedliches Aussehen von Gegenständen und Symbolen betreffen, wie beispielsweise Fahrbahnmarkierungen, Straßenschilder oder Symbole wie ein grünes Kreuz für Apotheken anstelle eines roten (cf. Husemann 2013). Zugleich können Metropolen und Orte von Ländern der Zielsprache näher und interaktiv erkundet werden, die im Rahmen von Unterricht, z.B. in Texten, behandelt werden. Neuere Entwicklungen von Google sind eine Zeitleiste, die im Globalprogramm Google Earth ein Switchen zwischen aktuellen und älteren Satellitenaufnahmen sowie historischen Luftbildern ermöglicht (cf. Husemann 2013). Diese Funktion wurde auch in Google Street View implementiert, so dass alte Straßenaufnahmen bei der Aktualisierung von Stadtbildern nicht mehr nur durch neue Fotos ersetzt werden, sondern durch die Zeitleistenhilfe wieder passgenau aufgerufen werden können. Dadurch werden architektonische Veränderungen und ganze Stadtentwicklungen sichtbar (cf. Abbildungen 2 und 3). Im Fremdsprachenunterricht ist insbesondere im Anfangsunterricht das Lehrwerk nach wie vor eines der meist verwendeten Medien. Dabei ist eine deutliche Zunahme von visuellen Darstellungen und damit eine höhere Informationsdichte in Lehrwerken im Laufe der letzten Jahrzehnte festzustellen (cf. Reinfried 2010, 150). Dieses lässt sich teilweise auf neue Printtechnologien und auf eine gesellschaftliche Veränderung des Medienkonsums zurückführen, darüber hinaus lässt sich daran aber auch eine Bedeutungszunahme von Abbildungen im Zusammenhang mit Lernen feststellen. Michler weist darauf hin, dass Illustrationen in Lehrwerken mehrere unterschiedliche Aufgaben erfüllen, sei es als Rede- oder Schreibimpuls, zur Veranschaulichung bei Semantisierungen, als Erinnerungshilfe oder zur Vermittlung von landeskundlich-interkulturellem Wissen (cf. Michler 2010, 251). Neben Zeichnungen sind, 270 Veit R. J. Husemann laut Michler, insbesondere Fotografien, die die Wirklichkeit realgetreu wiedergeben, besonders gut geeignet, da sie glaubwürdig wirken (cf. Michler 2011, 145). Auf der anderen Seite konnte Michler im Rahmen einer Studie auch Grenzen und Schwachstellen von visuellen Darstellungen in Lehrwerken feststellen: „Der Wert der Bilder, die im Allgemeinen von guter technischer Qualität sind, wird jedoch durch das oftmals zu kleine Format beeinträchtigt“ (Michler 2010, 258). Dieses ist vor dem Hintergrund des begrenzten Platzangebots in Printmedien wie Lehrbüchern, Arbeits- und Grammatikheften sehr gut nachzuvollziehen. Zudem ist bei Fotos, so wie bei allen visuellen Darstellungen in Lehrwerken, eine bewusste redaktionelle Auswahl erforderlich, so dass es sich häufig um indikatorische Darstellungen handelt. Reinfried stellt zudem fest, dass bei der Bildauswahl in neuen (Französisch-)Lehrwerken eine visuelle Unterstützung von landeskundlichen Informationen mit Sprach- oder Alltagsbezug nur in geringem Maße erfolgt (cf. Reinfried 2010, 153): „Im Gegensatz zur behaltensfördernden Bildfunktion, der in den letzten Jahren von den Französisch-Lehrwerkgestaltern ein größeres Gewicht beigemessen wird, hat es bei der landeskundlichen Bildfunktion in den vergangenen Jahrzehnten leider nicht allzu große Fortschritte gegeben. Insgesamt ermöglicht die Bildauswahl und -gestaltung noch zu wenig interkulturelles Lernen; die alltagsbezogene Landeskunde bleibt allzu sehr an der Oberfläche“ (ebd., 154). Die Begrenztheit der visuellen Darstellung in Lehrwerken legt vor diesem Hintergrund eine Erweiterung der Lehrwerksarbeit mit weiteren realgetreuen Abbildungen nahe. So bietet sich zur Kompensation und Vertiefung der alltagsbezogenen Landeskunde die Hinzunahme von Google Street View häufig an, z.B. um einen Lektionsschauplatz in der tatsächlichen Umgebung näher kennenzulernen (cf. Husemann 2010). Die virtuelle Straßenansicht auf dem Bildschirm, dem großformatigen Whiteboard oder der Beamerprojektion darf insofern keinesfalls als ‚nette Spielerei’ degradiert werden, da das Sehverstehen durch die virtuelle Exkursion ein Höchstmaß an Informationsdichte und Exaktheit erfährt, was, abgesehen von einer realen Begegnung mit dem Schauplatz, derzeit durch kein anderes Medium im Fremdsprachenunterricht erreicht werden kann. Das reale Kennenlernen von Orten in einem Land der Zielsprache ist, in Abhängigkeit von Zielsprache und Distanz, im schulischen Kontext in der Regel nur eingeschränkt möglich. Je nach Fremdsprache und Entfernung ist die Möglichkeit der Teilnahme an einem Schüleraustausch oder an einer Klassenfahrt ins Ausland für Lehrer und Schüler sehr begrenzt. Mithilfe digitaler Anwendungen wie Google Street View können entsprechend auch entlegenste Lernorte visualisiert werden, die sonst im Schulalltag unerreichbar bleiben würden (cf. Grau/ Legutke 2013, 5). Vom Sehverstehen zur Handlungskompetenz 271 Nachteile und Grenzen von Google Street View Nach wie vor sind nicht alle Länder und Orte erfasst. Dies liegt z.T. an öffentlich bekannt gewordenen rechtlichen Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund von Protesten und Einsprüchen gegen die (visuelle) Datenerfassung durch Google (s.u.). Daneben erfolgt die Auswahl der erfassten Länder und Orte teilweise durch konzerninterne, nicht öffentlich bekannt gegebene Entscheidungen. Auffällig ist, dass bislang insbesondere industrielle Staaten mit einer ähnlich guten (Straßen-)Infrastruktur bereits erfasst sind, während vor allem Entwicklungsländer, so wie fast der gesamte afrikanische Kontinent und der überwiegende Teil Asiens, wie weiße Flecken auf der Weltkarte erscheinen. Gleichzeitig stellt Google werbewirksame Panoramaaufnahmen an den z.T. entlegensten Orten der Erde bereit, zu denen die Antarktis oder der Mount Everest gehören. Die angesprochene Interaktion in Google Street View ist begrenzt, da, technisch gesehen, lediglich eine Fortbewegung nur von Bild zu Bild möglich ist. Ein ganzheitliches authentisches und vollkommen freies Bewegen, z.B. in einzelne Häuser ist meistens nicht möglich. Ebenso bleibt die Wahrnehmung zeitlich asynchron, da es sich nicht um Livebilder handelt. So kann es passieren, dass einzelne Bilder bereits veraltet sind, andere dagegen aktuell wirken. Gleichzeitig können dadurch bedingt Kuriositäten entdeckt werden, wie z.B. Straßenabschnitte mit Schnee, die im Winter und andere, die in der warmen Jahreszeit fotografiert wurden. In der Regel sind alle Fotos tagsüber entstanden. Informationen über Aktualisierungsmaßnahmen durch Google gibt es kaum. In der Straßenansicht sind auch Passanten zu sehen, die meistens ebenso wie Nummernschilder von Fahrzeugen aus Datenschutzgründen unkenntlich gemacht worden sind. Auch hierbei wird die ausschließliche plastische und im Einzelbild statische Darstellung deutlich, eine Kontaktaufnahme ist nicht möglich. Ebenso ist auf die rein visuelle Darstellung hinzuweisen, eine Tonspur mit authentischen Neben- und Störgeräuschen sucht man derzeit noch vergeblich. Ein schneller Internetanschluss ist oberste Voraussetzung für eine nutzerfreundliche und lernökonomische Anwendung der vorgestellten Programme. Eine entsprechende Infrastruktur muss daher in den Schulen gegeben sein, will man die Anwendungen im Unterricht gezielt nutzen. Medienkompetenz und kritisch-sachgerechte Mediennutzung Mit Beginn der ersten Bildaufnahmen für Google Street View entbrannte in vielen Ländern, darunter auch in Deutschland eine Datenschutzdebatte. Viele 272 Veit R. J. Husemann kritische Stimmen meldeten sich zu Wort, die sich gegen die Vorgehensweise von Google auflehnten, da sie bei den Fotoaufnahmen, auf denen auch Personen, Privathäuser und - fahrzeuge zu sehen sind, ihre persönlichen Rechte verletzt sahen. Darüber hinaus wurde bekannt, dass mit den Fotoaufnahmen gleichzeitig auch WLAN-Daten erfasst worden waren. Die Kritik an Google geht über die Street View Anwendung weit hinaus, da der Konzern im Rahmen seiner Programme wie der Internetsuchmaschine permanent Daten sammelt, um z.B. jeden Anwender entsprechend seines Internetnutzungsprofils mit passgenauer Werbung zu konfrontieren. Vor diesem Hintergrund bietet es sich geradezu an, bei der Nutzung der Onlineprogramme des US-Konzerns im Klassenraum ebenso das Thema Datenschutz im Unterricht aufzugreifen. Dieses könnte im Rahmen einer ausführlichen Informationsrecherche und einer anschließenden Diskussion oder Debatte in der Fremdsprache erfolgen, um die Medienkompetenz der Schüler zu stärken und sie für einen kritischsachgerechten Mediengebrauch, auch von Anwendungen im Bereich sozialer Netzwerke, zu sensibilisieren (cf. Husemann 2010 und 2013). Funktionsweise von Google Street View Über den Link www.google.de/ maps bzw. www.google.de/ earth gelangt man zu den beschriebenen Hauptanwendungen, wobei letztere neben dem Internet zunächst einen Programmdownload erfordert. Beide Medienangebote sind kostenfrei und zunächst ohne eine persönliche Anmeldung nutzbar. Dieses ändert sich, wenn man zusätzliche praktische Werkzeuge und interessante Funktionen freigeschaltet bekommen möchte. Um diese zu nutzen, verlangt Google im Gegenzug personenbezogene Daten vom Nutzer. Google Street View funktioniert von beiden Hauptanwendungen aus. Die Straßenansicht wird durch das Bewegen von Pegman, einer orangefarbenen Figur am seitlichen Bildrand, auf eine Straße in der Karten- oder Satellitenansicht aktiviert. Ob die gewünschte Straße bereits fotografisch erfasst ist, wird beim Ziehen von Pegman auf die Karte durch die blaue Einfärbung von Straßen und Plätzen angezeigt. Sobald man die Figur loslässt, wechselt das Bild von der Kartenbzw. Satellitenansicht zur Straßenperspektive. Das Fortbewegen ist entlang einer Straße durch Anklicken mühelos möglich. Google erweitert und aktualisiert das Angebot im Bereich der Kartenansichten stetig. So ruft der Konzern Nutzer auch dazu auf, eigene Bilder von Orten oder Sehenswürdigkeiten einzureichen, so dass eine noch umfassendere und aktuellere Darstellung möglich ist. Vom Sehverstehen zur Handlungskompetenz 273 Anwendungsbeispiele für den Unterricht In Bezug auf die zuvor bereits beschriebenen Merkmale der Kartenfunktionen von Google, bieten sich aus fachdidaktischer und medienpädagogischer Sicht mit diesen Programmen offene, lernerzentrierte und -aktivierende Unterrichtsformen an, in denen die Stärkung der interkulturellen Kompetenz eine besondere Berücksichtigung erfährt. Erste Ideen für einen didaktisch sinn- und wertvollen Einsatz dieser Onlineprogramme zur Stärkung des Sehverstehens wurden bereits aufgezeigt: z.B. das Wiedererkennen und - auffinden von Lehrwerksschauplätzen und das Üben von Wegbeschreibungen (cf. Husemann 2010). Wie bereits beschrieben, ermöglichen weitere Programmentwicklungen interessante Ansichtswechsel zwischen aktuellen und historischen Satellitenbzw. Luftaufnahmen, die zudem Analysen über Stadtentwicklungen und städtebauliche Veränderungen zulassen (cf. Husemann 2013). Google Street View kann darüber hinaus auch als zentrales Medium bei der Erarbeitung von komplexen Lernaufgaben zum Einsatz kommen. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang das Erstellen eines digitalen Reiseführers mit einer interaktiven Stadtführung, was ein situatives und vernetztes Lernen ermöglicht. Die gewünschte Route kann über Zusatzfunktionen gespeichert werden. Das gilt auch für Informationen, z.B. zu Sehenswürdigkeiten, die ebenso in die Kartenansicht eingearbeitet werden können. Das dabei entstandene Produkt kann dann u.U. bei einer Klassenfahrt oder einem Schüleraustausch gezielt genutzt werden. Motivierend dürfte für Schüler vor allem sein, dass sie mit Hilfe dieser Anwendungen neue, ihnen völlig unbekannte Orte und Ansichten erschließen können und einen realgetreuen Blick auf die Wirklichkeit erhalten, z.B. auf Orte an der mexikanisch-amerikanischen Grenze (cf. Abbildung 4). Auch kann Google Street View Schülern kulturelle Diversität in Bezug auf Mehrsprachigkeit bzw. Sprachenvielfalt vermitteln, z.B. wenn sie auf Plakate in Barcelona in katalanischer oder in Miami auf spanischer Sprache stoßen (cf. Abbildung 5). Fazit Die vorgestellten interaktiven Kartenprogramme von Google bieten vor allem aufgrund der neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten innerhalb der Funktion Street View aus fachdidaktischer Sicht großes Potenzial für einen motivierenden und handlungsorientierten Fremdsprachenunterricht. In Zusammenhang mit der Kompetenz des Sehverstehens kann die neue, sehr unmittelbare Sichtweise auf Länder und Kulturen, die ein hohes Maß an Authentizität be- 274 Veit R. J. Husemann weist, in mehrfacher Hinsicht den Unterricht bereichern. Demgegenüber dürfen bei der Nutzung im Unterricht die Interessen von Google nicht ausgeblendet werden. Aus medienpädagogischer Sicht ist ein bewusster Umgang mit dem Thema Datenschutz eine wertvolle und wichtige Ergänzung im Unterricht. Abb. 2: Google Street View eine Pariser Straße im Jahr 2008 (30.04.2014) Abb. 3: Google Street View - dieselbe Pariser Straße im Jahr 2012 (30.04.2014) Vom Sehverstehen zur Handlungskompetenz 275 Abb. 4: Google Street View - Grenzübergang Mexiko-USA bei Juarez (30.04.2014) Abb. 5: Google Street View - Das Katalanische im Straßenbild Barcelonas (21.03.2013) 276 Veit R. J. Husemann Blume, Otto-Michael. 2014. „Sehen als Verstehen. Kompetenzen im Französischunterricht mit Bildern fördern“, in: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch, 127, 4. Grau, Maike / Legutke, Michael K.. 2013. „Vernetzte Lernorte. Englisch im Klassenzimmer und in der Lebenswelt lernen“, in: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch, 123, 2-7. Husemann, Veit R. J.. 2013. „Heute schon gegoogelt? Google als Multifunktions-Lerninstrument“, in: Praxis Fremdsprachenunterricht, 1, 11-12. Husemann, Veit R. J.. 2010. „Mit Google Street View mitten in Frankreich. 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Bern; Stuttgart; Toronto: Huber. www.google.de/ earth (30.04.14) www.google.de/ maps (30.04.14) Katja Zaki Kultur als Bild? - Murales im transkulturell-neokommunikativen Spanischunterricht Der Wert des Visuellen: Kultur als Bild? In einem kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht, der den Wert des Kommunikativen nicht selten um das Primat der Mündlichkeit zentriert und operationalisierbare Grundfertigkeiten in den Vordergrund rückt (Breidenbach 2010, 55sq.), scheint dem Einsatz von Bildern ohne begleitende Tonspur oft nur eine illustrierende Funktion zuzukommen. Der Wert visueller Quellen über instrumentelle Veranschaulichungen hinaus, als eigenständige Zeugnisse fremdkultureller Symbolsysteme und deren Deutungsbezüge, gerät dabei häufig in den Hintergund (Hallet 2010, 28 sq.). Somit bleibt beispielsweise auch das Potential zeitgenössicher Kunstwerke für das transkulturelle Lernen und das in Lehrplänen zwar verankerte, aber in der Praxis oft nachrangig behandelte Desiderat einer ästhetischen Sensibilisierung leicht unerschöpft. Die nachgeordnete Rolle einer „visuellen Kompetenz“ 1 , die das Lesen schriftsprachlicher Texte im fremdsprachlichen Unterricht intermedial transzendiert, wird bereits bei einem Blick auf die Rahmendaten des kompetenzorientierten Spanischunterrichts deutlich: Weder der pragmatische Zugriff des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens von 2001 noch die seit 2004 von der KMK formulierten Bildungsstandards weisen dem Sehen eine eigenständige Rolle im Rahmen der funktional-kommunikativen Kompetenzen zu (Breidenbach 2010, 55sq.); auch erfahren Bilder im Rahmen methodisch-strategischer Kompetenzziele nicht annähernd die Berücksichtigung von (schriftsprachlich-linearen) Texten. Die Orientierung an möglichst standardisierten und operationalisierbaren Outputs scheint darüber hinaus oft schwer vereinbar mit einer individuellen Wahrnehmungsschulung und Persönlichkeitsbildung als Teil eines übergeordneten Bildungsanspruchs. Diesem Eindruck kann auch der im Zuge der Digitalisierung vermeintlich zugenommene Einsatz von visuellen Quellen im Fremdsprachenunterricht kaum entgegenwirken - zumindest nicht, wenn wir den Rahmen der Bestandsaufnahme weniger quantitativ als qualitativ setzen, nicht nur nach Umfang und Arten, sondern vor allem nach der Intentionalität und kontextuellen 1 Hier mit Hecke (2010, 325 ) verstanden als „[t]he ability t o read, interpret, and understand information presented in pictorial or graphic images “ . 278 Katja Zaki Funktion der verwendeten Quellen fragen (cf. Hecke/ Surkamp 2010, 9). Einerseits unterhalten uns aktuelle Lehrwerke zweifellos mit einer beispiellosen Bilderflut und visuellen Begleitmaterialien doch welchen Sinn erfüllen die verschiedenen Bilder, Graphiken und Fotografien dabei in ihrem jeweiligen diskursiven Kontext? Welcher didaktisch-methodische Mehrwert wird dadurch erreicht? - Als Richtschnur kann uns hier die Typologie von Hallet dienen, der die Funktion des Bildeinsatzes nach instruktiven (das Bild als Lernhinweis), illustrativen (das Bild entlastet die Lernsituation, ohne selbst thematisiert zu werden), semantischen (das Bild dient als „Auslöser“ zu Verbalisierungen, z.B. bei der Wortschatzarbeit), repräsentationalen (das Bild als Repräsentant einer Zielkultur), kognitiven (das Bild als gedankliche Stütze - primär im Hinblick auf sprachliche Strukturen) und bildästhetischen (der Eigenwert des Bildes steht im Zentrum der Aufmerksamkeit) Funktionen unterscheidet (Hallet 2013, 214sq.). In Anlehnung an Reinfried (2013, 199sq.) lässt sich vor diesem Hintergrund eine qualitative Stagnation, wenn nicht sogar ein Rückschritt in der intentionalen Verwendung von Bildquellen konstatieren - insbesondere hinsichtlich repräsentationaler und bildästethischer Funktionen, die im Zuge einer zunehmend standardisierten Output-Orientierung weitgehend in den Hintergrund gerieten, nachdem sie während der direkten Methode einen ersten Aufschwung und in den 1990er-Jahren des 20. Jahrhunderts ihren bisherigen Höhepunkt erlebt hatten. 2 Bilder bieten heute oft den Einstieg in neue Thematiken, wirken motivationsfördernd und/ oder illustrierend, als Auslöser produktiver Schreib- und Sprechanlässe, meist aber ohne selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder vom puren Medium zum Gegenstand der Reflexion und des - kommunikativen, kulturellen und ästhetischen - Lernens zu werden. Darüber hinaus scheint zum Teil auch der methodisch-didaktische Rahmen zu fehlen, der sowohl Lernenden als auch Lehrenden bei einem gleichsam inhaltsorientierten wie kommunikativ-funktionalen Einsatz von Bildern intertextuelle, intermediale und transkulturelle Bezüge aufzeigen und Orientierungshilfen bieten würde (Schoppe 2013, 31sq.). Dabei könnte gerade auch eine reflektierte Arbeit mit authentischer Kunst der oft beklagten Inhaltsarmut des kompetzenorientierten Unterrichts entgegenwirken und einen gleichsam affektiven wie kulturell sensibilisierenden Zugang zur Zielkultur, eine „individuelle Annäherung an geschichtliche und gesellschaftliche Phänomene des spanischen Kulturraums“ (Balser 2012, 4), und an deren multimodale Diskurse ermöglichen (Hallet 2013, 221). Mit welchen Zielen, Prämissen und methodischen Möglichkeiten Bildquellen im Allgemeinen und Kunstwerke im Besonderen zum Gegenstand von kommunikativen, aber auch kulturell bildenden Lehr-Lern-Prozessen 2 Zur Geschichte des Bildeinsatzes im fremdsprachlichen Unterricht cf. Reinfried 1992 und Hecke/ Surkamp 2010, 19-22. Kultur als Bild? 279 bzw. ganzheitlichen Lernaufgaben werden können, soll vor diesem Hintergrund am exemplarischen Einsatz von murales 3 im Spanischunterricht dargestellt werden. Auf Grund des in Europa nicht weit rezipierten Muralismus in seiner transkulturellen und translokalen Dimension soll eingangs zunächst die Geschichte der murales zwischen Mexiko und Kalifornien skizziert, ihre Bedeutung für die mexikanische bzw. mexikanisch-amerikanische Kultur herausgearbeitet sowie, darauf aufbauend, auf ihren textanalogen Charakter als Zeichensystem und ihr didaktisch-methodisches Potential in einem transkulturell-kommunikativen Spanischunterricht (Reimann 2014, 65sq.) verwiesen werden. 4 Kultur und Sprache im Muralismus Als José Vasconcelos den öffentlichen Raum zwischen Chiapas und Baja California nach der mexikanischen Revolution mit „visuellen Narrativen“ der mexikanischen Geschichte überziehen ließ (Ybarra-Frausto 2009, 76), verfolgte er ein hochgestecktes Ziel: Ein Mexiko zu malen, um ein Mexiko zu bilden - die post-revolutionäre Gesellschaft zu öffnen, um alle ethnischen Minderheiten und sozialen Schichten in die neu zu re-konstruierende narration of the nation (Bhabha 1990) zu integrieren. Durch eine Geschichtsschreibung in Bildern beteiligten die Tres Grandes des mexikanischen Muralismus (Diego Rivera, José Clemente Orozco und David Siqueiros) damals auch die analphabetische Bevölkerung am Dialog und veränderten so nicht nur die kollektive Wahrnehmung von Gesellschaft, Geschichte und Kultur, sondern 3 Murales von span. el muro ‘die Mauer‘ - bezeichnen Malereien, die direkt auf die Oberfläche von Wänden oder Decken appliziert weren, sodass sie fest mit dem unterliegenden Mauerwerk verbunden sind. In der Form früher Höhlenmalereien zählen sie zu den ältesten Artefakten der Menschheit. Eine besondere Bedeutung und Bekanntheit erlangte im 20. Jahrhundert der Muralismus des post-revolutionären Mexikos, der bald auch die - nicht selten politisch motivierte - öffentliche Kunst in anderen Teilen der Welt motivierte (insbesondere in Lateinamerika und den USA, aber auch in Süd- und Osteuropa). Die Abgrenzung von murales von dem in Europa bekannteren Graffiti ist dabei eine graduelle, die Frage der Über-/ Unterordnung abhängig von der gewählten Perspektive. Als ein zentraler Unterschied zwischen graffitis und murales (in der hier behandelten Form mexikanischer bzw. kalifornischer Prägung) wird nicht häufig die gesellschaftliche Akzeptanz bzw. Sanktionierung genannt: Während Graffitis meist illegal und unter einem Pseundonym gefertigt werden, entstanden und entstehen murales traditionell als öffentliche oder private Auftragswerke bzw. werden zumindest gebilligt. Weniger aussagekräftig ist eine Unterscheidung nach den verwendeten Materialien und Stilen, da zeitgenössiche murales immer häufiger Übergänge oder Verbindungen von traditionellen Fresko-Techniken, spray can art und digital art zeigen. 4 Für eine ausfühliche Darstellung siehe auch Jackson 2009, Ybarra-Frausto 1990, Zaki 2015. 280 Katja Zaki den gesamten öffentlichen Raum - bald auch jenseits des Río Grande, in den kalifornischen borderlands, wo murales in den 1960er-Jahren mit ihren kulturellen Diskursen und alternativen Geschichtsschreibungen zum Sprachrohr des Chicano Movement wurden. Die besondere Relevanz von murales für das kulturelle Gedächtnis der Mexikaner und Chicanos auf beiden Seiten der Grenze - sowie deren visuelle Repräsentation im amerikanischen Raum - erklärt sich dabei nicht ohne einen Blick zurück auf ihre historische Verankerung, spezifische Ikonizität und ideologische Funktion. 2.1. Geschichte und Migration des Muralismus 2.1.1. Der mexikanische Muralismus: Los Tres Grandes Die kulturgeschichtlich prägende Rolle und ethnosymbolische Funktion mexikanischer murales wurzelt im post-revolutionären Mexiko der 1920er-Jahre: in den großflächigen Wandgemälden und Bilddiskursen der Tres Grandes, angestoßen von der Kulturpolitik des ausscheidenden Bildungsministers José Vasconcelos: The murals commissioned by Vasconcelos in 1921 were perhaps the principal component of the unique process of national cultural renewal that took place in Mexico in the early part of the twentieth century. The revolution had been catalyst for this renewal, but the reassertation of the rich traditions of Mexican culture after 400 years of colonial subjugation preceded it (Rochfort 1993, 16). Die Renaissance einer politisch motivierten und sozial aktivistischen öffentlichen Wandmalerei mag mit einem Blick auf die dominanten künstlerischen Strömungen der Zeit zunächst überraschen - steht sie doch in krassem Gegensatz zu den damaligen l'art pour l'art-Tendenzen in Europa und den USA: Nicht die Kunst um der Kunst willen, nicht die Avantgarde der Stile und individuellen Ausdrucksformen, sondern eine im Volk verwurzelte und dem Volk verschriebene öffentlich „bildende“ nationale Kunst sollte das Mexiko des 20. Jahrhunderts damals bleibend prägen. Diego Rivera, José Clemente Orozco und David Alfaro Siqueiros teilten dabei ungeachtet ihrer individuellen Visionen und Stile einen nationalen Auftrag: „that it have Mexican content and that it be good painting” (Folgarait 1998, 16). Alle drei aufgewachsen während des Porfiriato, zeigten sie - trotz teilweise divergierender politischer Überzeugungen und Einflüssen verschiedener künstlerischer Vorbilder - den gemeinsamen Willen, an der diskursiven Konstruktion einer neuen und integrativen mexikanischen Identität mitzuwirken, wobei die Geschichte und die Suche nach gemeinsamen kulturellen Mythen immer mehr Raum einnahm. Kultur als Bild? 281 Konzentrierte man sich in den 1920-er Jahren mit populärkulturellen Darstellungen noch auf die konkrete Gegenwart des post-revolutionären Mexikos, so suchte man mit Beginn der 1930er Jahre verstärkt nach der Wurzel einer neuen und nach vorne gerichteten mexikanischen Identität - die man wiederum im Blick zurück zu finden glaubte, d.h. in der Geschichte und in myths of common origin (Smith 2009, 47). Das große Potential der Kunst lag dabei nicht zuletzt in der Natur ihrer Gestaltungsfläche - in der Simultanität und Kontinuität ihrer Darstellungen, die es ermöglichten, neue Interpretationen von Geschichte erfahrbar (cf. zum Beispiel Riveras monumentales mural „México en la Historia“, Abb. 1) zu machen sowie räumliche, historische und soziale Alteritäten zu überwinden, zu verbinden und aufzulösen. Abb. 1: Rivera, D. (1929- 45): „Mexico en la Historia“, Palaci o Nacional, D.F. 5 So konnte das post-revolutionäre Mexiko im Imaginären alsbald zu einer ethnoscape im Sinne von Smith (2009, 94) werden, zu einem territorial verankerten Kollektiv mit Geschichte, Gegenwart und Zukunft - zunächst auf den Mauern zwischen Cuernavaca und Mexiko-Stadt, alsbald aber auch in den Augen ihrer Betrachter sowie, in gesteigertem Maße, im kollektiven Gedächtnis der mexikanischen Kultur. Von entscheidender Bedeutung war in diesem Zusammenhang vor allem die Integration aller gesellschaftlicher Gruppen in den visuellen Diskurs sowie die Frage nach essentiellen Leitmotiven und - themen als Basis einer neuen, mexikanischen Kollektivität - für die insbesondere die ideologische Handschrift von José Vasconcelos und seiner Vision der raza cósmica prägend werden sollte: 5 Quelle: www.flickr.com (27.10.2015). 282 Katja Zaki In 1925, after stepping down as Minister of Education, Vasconcelos pulished a book entitled La Raza Cósmica (The Cosmic Race). In it, he argued that the mestizo represented the true essence of Mexican nationality. He went on to argue that because of their fusion of pre-Columbian and European ancestry, the mestizos would become the chosen race of the future, the fifth great race of humanity, a final synthesis distilled from all the great races that had gone before them (Rochfort 1993, 89). Die Würdigung der mestizaje als Basis einer raza cósmica 6 , welche die Verbindung von präkolumbinischem und europäischem Erbe als Kern des genuin Mexikanischen feiert und verschiedene Phasen der mexikanischen Geschichte mit Blick auf die Gegenwart versöhnt, sollte zum Grundkonsens eines neuen Zukunftsentwurfs werden - der allerdings vor allem mit Beginn der 1930er- Jahre immer unterschiedlicher interpretiert und künstlerisch realisiert wurde: Stile verzweigten sich, Themen variierten, die Kunst verlor nach und nach an ihrer einigenden Wirkung und sozialen Funktion. 2.1.2. Der Chicano-Muralismus: Murales und Chicano Movement Einen besonderen Aufschwung auf neuem Boden erlebte der Muralismus in den 1960er-Jahren im Zuge des Chicano Movement. Zwischen San Diego und San Francisco setzten junge aktivitische Künstler die Tradition der Tres Grandes jenseits der mexikanisch-amerikanischen Grenze fort 7 allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Anders als ihre mexikanischen Vorbilder entstanden Chicano murals keineswegs als von staatlicher Stelle geförderte Auftragswerke, sondern erwuchsen aus der causa des Movimiento, mit sozialer Funk- 6 Der Rassebegriff mag an dieser Stelle befremdlich wirken; in Vasconcelos Ideologie führt er in Abgrenzung zu C. Darwin aber gerade nicht zu einer Abgrenzung, nicht zu Über- und Unterlegenheit in einem imperialistischen Überlebenskampf der fittest, sondern zu einer Auflösung aller Gegensätze durch deren Akzeptanz als Teil des Eigenen und die damit verbundene Würdigung ethnischer und kultureller Hybridität: Die raza cósmica auf der Basis einer ethnokulturellen mestizaje sollte zum neuen und integrativen myth of origin werden - gemäß der Vision von José Vasconcelos nicht nur als Kern der neuen nationalen Identität Mexikos, sondern als Modell für ganz Lateinamerika, als Impuls zum Nachdenken über das eigene kulturelle Selbst. 7 Ergänzend ist hierzu anzumerken, dass vorab auch bereits die Tres Grandes durch Franklin Delano Roosevelts New Deal-Maßnahmen in die USA gekommen waren, um den Muralismus u.a. nach New York und Kalifornien zu bringen. Nachdem die Great Depression private Investitionen in den Kunstmarkt schrumpfen ließ, wendeten sich viele Künstler mit der Bitte um Unterstützung an staatliche Stellen, die öffentliche Kunst im Rahmen der Fine Arts Section, der Work Progress Administration (WPA) und des Federal Fine Art Project förderten - nicht nur als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, sondern auch mit dem Ziel, eine kulturelle Demokratie, eine „cultural democracy“ zu fördern (cf. Rochfort 1993, 90sq.). Kultur als Bild? 283 tion und aktivistischer Botschaft. So betont Judith Baca, eine der ersten kalifornischen muralistas: „I recall our desire to develop a new visual language which spoke from our own cultural precedents in pre-Columbian art and our experience of contemporary popular Chicano culture” (Baca 1990, 1). Das Movimiento verkörperte dabei nicht allein eine Bürgerrechtsbewegung gegen die US-Politik, sondern auch für das entstehende kulturelle Bewusstsein der Chicanos: The identity of Mexican American emerged during this period amongst student and community activists who sought to gain full representation in society without having to deny who they were (ebd., 11). So war man sich sehr wohl bewusst, dass Identität, Loyalität und Zugehörigkeit keine naturgegebenen oder gar statischen Größen, sondern soziokulturelle Konstrukte waren, die es nicht nur durch einen gemeinsamen „Gegner“, sondern auch durch eine gemeinsame Kultur und geteilte Symbole, Mythen und Traditionen zu festigen galt - um so mehr in einer Sprachgemeinschaft, in der bald nicht mehr alle Spanisch, aber auch noch nicht alle Englisch sprachen. Abb. 2/ 3: Chicano Park im Barrio Logan, San Diego (Eigene Aufnahmen). 8 Bei der ersten National Chicano Youth Liberation Conference wurden Künstler 1969 folglich durch das Manifest des Plan Espiritual de Aztlán dazu motiviert, sich der causa zu verschreiben und aktivistische Kunst für die Menschen und mit den Menschen in den Vordergrund ihrer Arbeit zu stellen. Deutlich zu Tage trat dies beispielsweise Anfang der 1970er-Jahre bei der Grundsteinlegung des Chicano Parks im Barrio Logan von San Diego (Abb. 2/ 3): Aus Protest gegen den Bau einer Autobahnbrücke in ihrem Viertel versammelte sich 8 Die Aufnahmen zeigen das Mural “Varrio sí, yonkes no” von Jacquez, Ronald (1977) sowie das ebenfalls in den 1970er-Jahren in einem kollektiven Projekt entstandene mural “Raza sí, migra no”. 284 Katja Zaki die mexikanisch-amerikanische Bevölkerung damals regelmäßig, um das Gebiet unter dem Highway durch Konzerte, Lesungen, und eine Vielzahl von murales als das ihre zu markieren. 9 In diesem Sinne gaben murales als visuelles Symbolsystem der Peripherie nicht nur eine Stimme, sondern dieser Stimme auch Raum - „to transform public spaces to reflect the people who used them” (Baca 1990, 2). Künstlerisch taten sie dies auf unterschiedlichste Weise, mit mehr oder weniger ausgeprägten quasi-narrativen Strukturen und einer mehr oder wenig ausgeprägten Fülle an kultureller Kollektivsymbolik. Wie schon die Werke der Tres Grandes versuchten dabei alsbald auch viele Chicano Murals, den Mythos der mestizaje - nun im Hinblick auf die neu entstehende ethnisch wie kulturell hybride Kultur der Chicanos bzw. Mexican- Americans - als Kern einer neuen Kollektivität durch kulturnationalistische Bilddiskurse zu feiern und öffentlich zu propagieren. Anders als im Mexiko der 1920er-Jahre ging die Initiative aber wie gesehen nicht vom Staat, sondern von den Graswurzeln des Movimiento aus: Kaum Gelder, keine von oben zugeteilten Wände nationaler Relevanz, sondern Spenden und die Mauern der barrios prägten die Infrastruktur dieser öffentlichen Kunst und ihrer sozialen Funktion. Während die murales im Mexiko der 1920er-Jahre also Teil der gesamtgesellschaftlichen narration of the nation des Zentrums, der narrativen bzw. visuell-narrativen Konstruktion einer neuen nationalen Identität nach der mexikanischen Revolution darstellten, schrieben Chicano Murals die Geschichte der Ränder, als Alternative zur nationalen Historiographie der USA, in der sie oft kein Gehör fanden. Abb. 4/ 5: The Great Wall of Los Angeles, Los Angeles (Eigene Aufnahmen) 10 9 Die murales, die sich noch heute über eine Vielzahl von Brückenpfeilern und barrio-Mauern erstrecken, wurden damals nicht alle auf einmal gemalt, sondern in verschiedenen Etappen: zunächst vor allem von Chicano Art-Kollektiven wie „Los Toltecas en Aztlán”, später von individuellen muralistas aus ganz Kalifornien und schließlich auch im Rahmen von sogenannten collective mural marathons. Die Symbole und Motive zeigen dabei deutlich die aufgeladenen Spannungen der Zeit: Aztlán, Chicano Power oder Viva la Raza! sind sich wiederholende Parolen und Motive. 10 Baca, Judith et al. (1970er Jahre): Collective Mural Project „The Great Wall of Los Angeles”. Kultur als Bild? 285 Als ein eindrucksvolles Beispiel für eine alternative - und partizipatorische - Geschichtsschreibung in Bildern kann an dieser Stelle Judith Bacas Projekt der „Great Wall of Los Angeles“ gelten (Abb. 4/ 5): Jugendliche aus sozialen Brennpunktvierteln bemalten die Wände des trockengelegten Flussbetts des Los Angeles River mit ihrem Bild der kalifornischen Geschichte - wobei sich ihre Eindrücke unter anderem aus Interviews mit Zeitzeugen aus der mexikanisch-amerikanischen Gemeinde und anderen ethnischen Minderheiten speisten, um so auch dem oft unsichtbaren bzw. ungehörten Amerika ein Gesicht und eine Stimme zu verleihen: From 1976 through 1983, Baca led more than four hundred fourteen to twentyone-year-old youths and seven hundred volunteers in the creation of the Great Wall of Los Angeles: The Great Wall, consisting of almost three thousand feet of murals, represents and rewrites California history […], incorporating parts of American history often left out of mainstream accounts (Jackson 2009, 83). Vor dem Hintergrund der kollektiven Intentionalität und kulturellen Funktion von murales für die Chicano-Gemeinde ist in diesem Zusammenhang auch ihr bereits früh sichtbares interaktives Potential zu betonen: So sieht sich der Muralismus im kalifornischen Kontext nicht mehr allein als „bildende Kunst“ für das Volk, sondern durch das Volk und aus dem Volk. Ein besonderes Merkmal vieler Künstlerkollektive und Initiativen ist ihr kollektiver und kollaborativer Ansatz: Another distinctive element of Chicano muralism was that the mural was most often not an exhibition of an individual’s artistic expression, but rather a collaboration among multiple artists and community members. Chicano murals were almost always created in outdoor public spaces, and their collaborative creation was a way of giving the entire community ownership of the mural (Baca 1990, 75). Die ethnosymbolische Dimension und das kunstpädagogische Potential kollektiver Muralismus-Projekte wurde in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten von verschiedenen Künstlerkollektiven wieder verstärkt entdeckt und nutzbar gemacht - auch, um gerade jungen kalifornischen barrio-Bewohnern ein Verständnis für ihre sprachkulturellen Wurzeln zu vermitteln. In unterschiedlichen Muralismus-Zentren und talleres zwischen San Diego und San Francisco finden junge Chicanos - und mittlerweile auch verstärkt Angehörige anderer Minderheiten - erste Zugänge zur Herkunftssprache und Kultur ihrer Eltern und Großeltern, reflektieren über soziale Wirklichkeiten bzw. ihre eigenen Wahrnehmungen und kanalisieren durch die Kunst in kreativ-produktiver Weise nicht selten auch ihre barrio-inhärenten Probleme und Emotionen. Im Straßenbild vieler barrios mischen sich ältere murales der 1960er- und 70er-Jahre mit aktivistischen und semi-professionalen Arbeiten von Künstlerkollektiven sowie Schul- und Sozialprojekten, nicht selten kommentiert durch 286 Katja Zaki einzelne tags, Übermalungen und Collagen. Die Bilder an den Wänden zeigen dabei nicht nur spezifische Ausschnitte der kalifornischen, mexikanischen oder gesamt-amerikanischen Geschichte, sondern erzählen und kommentieren auch das alltägliche Leben der barrio-Bewohner. Abb. 6/ 7/ 8: Utility Boxes, Mission, San Francisco (Eigene Aufnahmen) Darüber hinaus führte die starke Ausweitung und partizipatorische Rolle vieler Muralismus-Projekte zwischenzeitlich auch zu einer verstärkten gesamtgesellschaftlichen Aufmerksamkeit und Akzeptanz. So zeigt sich in gewisser Weise ein Zurück zu den Anfängen, von den Grasswurzelbewegungen hin zu größeren privaten und öffentlichen Auftragswerken, durch die murales nicht allein die Wände mexikanisch-amerikanischer barrios prägen (cf. Abb. 6/ 7/ 8), sondern auch verstärkt den öffentlichen Raum. 11 Möchte man den Blick nun wiederum zurück nach Mexiko werfen, wo der Muralismus in der hier dargestellten Form vor knapp hundert Jahren seinen Anfang nahm, so sieht man ihn dort mittlerweile gleichermaßen durch die neuere Entwicklung der Muralismus- und Graffiti-Kultur in Nordamerika und Europa beeinflusst. Junger Künstlerkollektive wie Streetart Chilango versuchen in zahlreichen öffentlichen und privaten Initiativen, das Erbe der Tres Grandes mit neueren künstlerischen Einflüssen, Ideen und kollektiven Projektansätzen zu verbinden. Gerade in der Offenheit des Muralismus und seines künstlerischen Kommunikationsmodells, in dem jeder Betrachter bzw. Rezipient auch selbst zum Künstler bzw. Sender werden kann und soll, liegen schließlich auch vielfätige Potentiale für eine ganzheitliche Sprach-, Kultur- und Identitätsarbeit. Die 11 Als ein Beispiel hierfür kann das mural „Nuestra Tierra“ gelten, welches im von der frühen Chicano-Aktivistin Judith Baca geführten SPARC in Los Angeles geplant wurde und mittlerweile den öffentlichen Flughafen von Denver ziert. Kultur als Bild? 287 symbolische Kommunikation der causa, die visuelle reconquista des kalifornischen Raumes, die sozialpsychologische Integration der gesellschaftlichen Peripherie, das kreative Aushandeln individueller wie kollektiver Zugehörigkeiten durch Kunst - all dies sind schließlich Meilensteine des frühen kalifornischen Muralismus, die bis heute fortwirken und auch bereits auf das Potential von murales in einem transkulturell-neokommunikativ ausgerichteten Fremdsprachenunterricht verweisen. 2.2. Der Muralismus zwischen Sprache, Symbolik und Ikonizität Vor einer Annäherung an das konkrete didaktisch-methodische Potential von murales soll an dieser Stelle zunächst auf die ihnen eigene „Sprache“ sowie die Analogie zu anderen Symbolsystemen eingegangen werden, um ihre vielfältige Rolle im multimodalen Diskurs der mexikanischen bzw. mexikanischamerikanischen Kultur zu skizzieren. Nachdem die Behandlung des Muralismus immer auch den Umgang mit spezifischen sprachlichen, bildlichen und kollktivsymbolischen Elementen bedingt, verspricht ein Blick auf die Wirkungsweisen der einzelnen Codes - sowie ihrer Kombinationen zu textuellen Strukturen - auch interessante Einblicke in kulturhistorischen Bezüge, soziokulturelle Funktionen und individuelle Interpretationsspielräume. Um sowohl die Sprache des Muralismus als auch den „textuellen“ Charakter einzelner murales zu fassen und zu systematisieren, soll der Muralismus in der Folge sowohl als kulturelles Symbolsystem, als Summe von Texten, als kollektive negotiations of meaning und performative Sprech- und Identitätsakte konzeptualisiert werden, wobei auch kurz auf die besondere Mehrfachcodierung durch unterschiedliche Bild- und Textelemente einzugehen sein wird. 2.2.1. Murales als Sprache und Sprache in murales Judith Baca definierte den Muralismus als „visual language“ (Baca 1990, 1), Ybarra-Frausto als „visual narratives“, als „signs from the heart“ (Ybarra- Frausto 1990, 67). - Die metaphorische Bezeichnung des Muralismus als „Sprache“ mag zunächst überraschen, erweist sich konzeptuell allerdings durchaus als fruchtbar, um den Muralismus gleichsam als Zeichensystem wie auch als Prozess und Summe seiner Produkte zu sehen. Murales sind als mehrfach codierte Texte zu lesen, die Deutungsangebote produzieren, wobei das einzelne Bild, das einzelne mural, einem übergeordneten Symbolsystem zugeordnet werden kann. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Ikonizität von murales maßgeblich von der anderer Kunstwerke unterscheidet, indem sie durch eine Vielzahl sprachlicher Textelemente als auch durch konventionalisierte 288 Katja Zaki und kulturell decodierbare Kollektivsymbole eingeschränkt sein kann. Den Kollektivsymbolen gemein ist dabei ihre innere Struktur aus Charakter und Inskription, pictura und subscriptio, wobei ein Symbol dabei einen erweiterten Bedeutungszusammenhang versinnbildlichen kann, der sich aus einzelnen Elementen zusammensetzt (Link 1978, 19). Ein Kollektivsymbol (A) kann sich demnach aus verschiedenen Bildelementen ergeben (pictura), denen wiederum verschiedene sprachliche subscriptios entsprechen (p 1 ,s 1 ; p 2 , s 2 …) - wobei die Zuordnung ebenso arbiträr, konventionell und dynamisch ist wie die Relation aus signifiant und signifié in sprachlichen Zeichen. Die Konventionalität der Symbolik sichert damit eine gewisse Kollektivität der Deutungen (und Deutenden). 12 Im Bereich des Chicano-Muralismus ist dabei von einer Dominanz visuellsprachlicher Kollektivsymbole auszugehen (cf. Abb. 9), wobei durch Bild-im- Text-Elemente auf medialer Ebene verschiedene Bezüge - und durch die Kreativität des einzelnen muralista freilich auch offene und hermetische Individual-Symbole - zu erwarten sind. Abb. 9: Kollektivsymbolik im Chicano Park, San Diego (Eigene Aufnahme). 12 Je nachdem, ob nur subscriptio oder auch pictura sprachlich realisiert sind, können nach Link verschiedene Symboltypen unterschieden und gemäß ihrer Position und Funktion im sozialen Kontext näher bestimmt werden. So ist zunächst zwischen literarischen (subscriptio und pictura sprachlich), visuell-literarischen bzw. visuell-sprachlichen (subscriptio sprachlich, pictura visuell), mimisch-literarischen (subscriptio sprachlich, pictura durch Gestik oder Mimik des menschlichen Körpers realisiert) oder pragmatisch-literarischen (subscriptio sprachlich, pictura pragmatisch, durch symbolische Handlungen realisiert) Symboltypen zu unterscheiden. Ist die subscriptio dabei schwer decodierbar konstruiert und für Außenstehende kaum zugänglich, so handelt es sich um „hermetische Individual-Symbole“ - im Gegensatz zu „offenen Individual-Symbolen“, die zwar auch aus der originären Feder bzw. auch dem Pinsel eines einzelnen Menschen stammen, dabei aber auch für größere Gruppen interpretierbar und sinnstiftend sind (Link 1978, 20). Kultur als Bild? 289 Indem sich der Chicano-Muralismus auf ein kollektiv geteiltes Symbolsystem stützt, das sich sowohl aus präkolumbinischen und mexikanischen als auch spezifisch mexikanisch-amerikanischen Motiven speist (cf. Abb. 10), stabilisiert er die gemeinsame Erfahrungs- und Deutungswelt der Chicano-Gemeinde und gewährleistet - trotz mancher sprachlicher Barrieren - sowohl ihre Integrität nach innen als auch ihre symbolischen Grenzen nach außen. (Kollektiv-)Symbolik im Chicano-Muralismus Präkolumbinische Symbole Moctezuma, Quetzacoatl, aztekische Kalender, Aztlán, Indigene Bevölkerung, Krieger, Sonne, Mond, Gold, […] Symbole aus der Natur Popocatepl, Ixtaccihuatl, Wüste, Mais, maguey, nopal, Pferde, Federn, […] Christliche bzw. synkretistische Symbole Virgen de Guadalupe; calaveras, Kreuze, Altare, […] Symbole und Legenden der mexikanischen Geschichte Hernán Cortés, Malinche, La Llorona, La Adelita, Porfirio Díaz, Emiliano Zapata, Pancho Villa, Ruben Salazar, Diego Rivera, Frida Kahlo, […] Symbole der Bürgerrechtsbewegung/ des Chicano Movement Cesar Chavez, Dolores Huerta, Luis Valdez, David Siqueiros, Alurista, UFW-Banner, mexikanischer Adler, UFW-Adler, U.S. Adler, U.S. Flagge, mexikanische Flagge, Zoot Suits, […] Symbole aus dem Barrio-Alltag Migra, Landarbeiter, barrioscape, Polizei, Autobahnbrücken, Familie, Feste, Mariachis, Gewalt, Alkohol, […] Slogans Viva la Raza, Sí se puede, C/ S (con safos), Barrio sí, Migra no, ¡Huelga! , End barrio warfare, Orale Raza, […] Koventionalisierte Stile (Subcode) Pulquería Art, Rasquache, Camp, [...] Abb. 10 : Kollektivsymbolik im Chicano-Muralismus (Eigene Darstellung) 13 Betrachtet man die „visual language“ der murales (Baca 1990, 1) genauer, so springen gerade an Kaliforniens Wänden also vielfache Interaktionen aus Bild und Text ins Auge, aus Sprache und anderen ikonischen und symbolischen Zeichen, bei denen die dadurch mehrfach codierte Botschaft einzelner murales weit über das rein bildlich oder sprachlich Erfassbare hinausgeht. Von besonderem Interesse für den fremdsprachlichen Unterricht dürften hier natürlich auch die sprachlichen Elemente bzw. insbesondere die Dynamik sprachlicher Mischungen (aus den Repertoires des Englischen, Spanischen sowie der relevanten Varietäten) sein. Dabei ist zudem interessant, inwiefern Codes gemischt bzw. gewechselt werden, inwiefern sich die Sprachwahl in ausgewählten murales mit den verwendeten Bildern deckt, mit der durchscheinenden 13 Eigene Darstellung auf der Basis eigener Quellen und Ybarra-Frausto 1990, 67sq. 290 Katja Zaki Kollektivsymbolik, mit der kulturellen Zugehörigkeit bzw. einzelnen Zuschreibungen des ikonographischen Zeichenkontexts. 14 Abb. 11/ 12/ 13: Sprache in Murales (Eigene Aufnahmen) Erkennt man in murales beispielsweise Exzerpte aus geschichtlichen Zeugnissen oder literarischen Texten, kulturhistorische Verweise oder politische Parolen, so können uns diese „linguistischen Nachrichten“ bei der Decodierung des Bedeutungsgeflechts lenken, indem sie Bildelemente verorten und verbinden, untermauern, ergänzen oder auch ideologisch begrenzen. 2.2.2. Murales als Texte und performative Identitätsakte Murales verbinden wie gesehen nicht nur Bild- und Textelemente, sondern sind in gewisser Weise selbst Texte, die als kulturelle Formen vielschichtige Wirklichkeiten repräsentieren bzw. denotieren. 15 „Liest“ man einzelne murales dabei als Produkte eines komplexen Symbolsystems, so besticht unter anderem die ihnen eigene Semantik durch die ungewohnte syntaktische Dichte 14 Rein sprachlich ist dabei zwischen spanischen, englischen und gemischten Passagen zu unterscheiden, die wiederum als Teil eines längeren Kontinuums verschiedener (regionaler und sozialer) Varietäten zu verstehen sind; darüber hinaus werden durch die Überlagerung von Bild und Text zusätzliche Code-Wechsel bzw. -Mischungen möglich, wie beispielsweise die Verknüpfung mexikanischer Kollektivsymbolik mit englischem Text (Abb. 3). So untermauern „linguistische Nachrichten“ murales nicht nur, sondern de- und recodieren sie durch verschiedene Kombinationen von Sprach- und Bildwahl mehrfach. 15 Das Kriterium der Ähnlichkeit verweist dabei auf einen Unterschied zwischen Bild und Text, stellt an sich aber weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Bezugnahme dar (Goodman 1997, 17), da murales weder mehr noch weniger „repräsentieren“ als Texte, lediglich anders, unter Rückgriff auf ein analoges anstelle des digitalen Notationssystems. Kultur als Bild? 291 (Goodman 1997, 144sq.): Bereits die Identifikation einer „Syntax“ im herkömmlichen Sinn mag durch die Gegenwärtigkeit der Fläche natürlich befremdlich erscheinen - ist sie doch, im Gegensatz zum normalsprachlichen Text, nicht durch lineare Kombination, sondern metonymische Simultanität gekennzeichnet, die andere Verfahren des „Lesens“ bzw. Wahrnehmens fordert und fördert. Viele murales sind darüber hinaus sowohl sprachlich wie stilistisch mehrfach codiert, wodurch wir von einer mehrdimensionalen Rhetorik des Bildes ausgehen können, in der neben Text-Bild-Kombinationen auch verschiedene Stilelemente und -kombinationen einen zusätzlichen Code bilden. Bezüglich Ihrer kulturellen Funktion und Struktur bezeichnet Thomas Ybarra-Fausto (1990, 54) murales nicht zufällig als „visual narratives“ bzw. in Anlehnung an Homi Bhabas Nation and Narration als narrative Konstruktionen, welche die kulturelle Identität der Chicano community hinterfragen, verhandeln und festigen helfen (cf. Bhabha 1990, 1; Anderson 1983, 19sq.). Murales komplettieren die traditionalle Historiographie und Literatur der Chicanos dabei im Sinne eines demokratisierenden „multimodalen Diskurses“ (vgl. Hallet 2013, 221), indem sie ihre Sichtweisen auf Kultur und Gemeinschaft für die gesamte Nation und ihre Ränder zugänglich verbildlichen. Sie geben Chicanos aller Schichten einen Platz in der eigenen Geschichte, die sie gleichsam zu einem Teil der gesamt-amerikanischen machen. Durch die Verwurzelung in der Vergangenheit erhält der Einzelne Orientierung in der Gegenwart und eine Perspektive für die Zukunft - die Grundvoraussetzung einer stabilen Identität (cf. Loza, 2009, 6sq.). Murales sind somit Teil eines - ursprünglich antagonistisch definierten und zwischenzeitlich heterotopischen - Alternativdiskurses zu US-amerikanischen master narratives, der Chicanos eine authentische Stimme verleiht. Betrachtet man einzelne „visual narratives“ genauer, sieht man außerdem die von Smith betonte Kontinuität im Wandel ethno-symbolischer Systeme: Man erkennt ikonisch-räumliche Texte mit historisch gewachsenen und stabilen Kollektivsymbolen, aber auch den Wandel in ihrer Verknüpfung und individuellen Deutung in alternativen Diskursen. Stabilität verleihen dabei soeben zitierte Themen, Symbole und Motive wie Aztlán, das präkolumbinische Mexiko der Azteken und Mayas, Kolonialismus und Imperialismus, Grenzen und Grenzübergänge, Immigration und Hoffnung, Arbeit und Ausbeutung, Armut und Gewalt, Chicanismo und Chicano Power, Religion und Familie, Machismo und (Anti-)Feminismus. 16 Tendenzen eines kulturellen bzw. auch diskursivenWandels hingegen werden in der Deautomatisierung der Motive sowie in deren unerwarteten Neukombination (also durch den Bruch kollektiver durch individuell-offene 16 Cf. Jackson 2009, 87sq. sowie Goldman 1990, 23sq. 292 Katja Zaki oder individuell-hermetische Symbole) deutlich. Erfolgte die Identitätskonstruktion im frühen Muralismus der 1960er-Jahre beispielsweise zunächst nach stark binär-essentialistischen Mechanismen, so wurde sie im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre zunehmend offen bis dezentriert. Während zentrale Symbole, Themen und Motive ähnlich geblieben sind, haben sich die Schwerpunkte und Positionen stetig verändert: Von den kulturnationalistischen murales und antagonistisch definierten Diskursen der frühen Phase über eine Annäherung und Positionierung im amerikanischen Raum hin zu einer Abkehr von jeglichen bipolaren Konstruktionen und einer Betonung von rhizomartigen Vorstellungen von Gemeinschaft mit multiplen und performativen Identitäten (des Einzelnen und seiner Kollektive). Die besondere Relevanz von murales für die zeitgenössische Chicano Community liegt schließlich nicht zuletzt in der Öffentlichkeit ihrer Produktions- und Rezeptionsbzw. allgemein Kommunikationssituation begründet, die sie vom mexikanischen Muralismus in seiner traditionellen, post-revolutionären Ausprägung unterscheidet. Nicht allein die fertige „Mitteilung“, der Text des „visuellen Narrativs“, sondern bereits die Entstehung an sich und deren fortwährendes Potential der Veränderung ist öffentlich und unterstreicht die integrative bzw. auch interaktive Dimension. Gerade dieser dialogische Charakter und kollaborativer Ansatz des kollektiven Muralismus - das performative Aushandeln der Bedeutungen, die gemeinsame Auswahl der verwendeten Symbole und Motive 17 lassen ihn auch im Hinblick auf einen subjekt- und handlungsorientierten transkulturellen Fremdsprachenunterricht relevant und interessant erscheinen. Murales im transkulturellen Spanischunterricht In der soeben skizzierten Verbindung von Geschichte, Kultur, Sprache und kollektiver Identität gründet sich auch die Motivation für den Einsatz von murales in einem transkulturell-neokommunikativen Spanischunterricht - wobei sowohl die globale Behandlung des Muralismus als Teil der mexikanischen bzw. mexikanisch-amerikanischen Kunst- und Kulturgeschichte 18 als auch die genauere Begegnung mit ausgewählten Wandbildern (als kulturelle 17 Der performative Aspekt der murales-Produktion vermag in Anlehnung an die Sprechakttheorie von Austin/ Searle an sprachliche Acts of Identity erinnern, also an Sprechakte, die im Moment ihrer Äußerung Handlungen vollziehen, Identitäten konstruieren, diskutieren, markieren. 18 Als übergeordnete Themen eignen sich hier beispielsweise die Tres Grandes im postrevolutionären Mexiko, das Chicano Movement im Chicano Park/ San Diego, das kollektive Muralismus-Projekt der Great Wall of Los Angeles oder das CAMP-Projekt in San Francisco. Kultur als Bild? 293 „Texte“) und die eigene kreativ-produktive Auseinandersetzung mit dieser Kunst in den Fokus treten kann. Beachtet man die Gewährleistung eines gewissen - kulturellen wie methodischen - Vorwissens, jeweils in Abhängigkeit von Jahrgangsstufe, Lernjahr, individuellen Lernervariablen und -kontexten, können murales grundsätzlich zur Förderung aller Kompetenzbereiche eingesetzt werden, wie in der Folge unter besonderer Berücksichtigung inter- und transkultureller Bildungsziele zu zeigen sein wird. 3.1. Murales und die transkulturelle Kompetenz Der transkulturell-neokommunikative Spanischunterricht (Reimann 2014, 65sq.) erweitert Byrams Konzept des interkulturell-kommunikativen Unterrichts (Byram 1997, 70sq.) in mehrfacher Weise: So propagiert er ein neues und weiteres Spektrum kulturellen Lernens, das die Betonung der Differenz und des Fremden durch einen transkulturellen und kulturverbindenden Zugang zu überwinden bzw. weiterentwickeln sucht. Er ersetzt herkömmliche Konzepte des landeskundlichen und interkulturellen Lernens dabei nicht, sondern geht darüber hinaus, indem er sie gleichsam integriert und transzendiert. Die von Byram skizzierten Dimensionen (des savoir, savoir être, savoir comprendre, savoir apprendre, savoir s'engager) bleiben als Richtschnur erhalten, wobei in letzter Instanz das Gemeinsame und Verbindende, weniger das Fremde und Differenzierende in den Fokus rückt (Reimann 2014, 67sq.). Im Hinblick auf primäre transkulturelle Bildungsziele - als auch hinsichtlich komplementärer funktional-kommunikativer und methodisch-strategischer Kompetenzbereiche - kann sich der Einsatz von Bildquellen im Allgemeinen und murales im Besonderen hier als sehr fruchtbar erweisen - vor allem, wenn diese nicht allein als Illustrationen, sondern, gemäß Hallet (2013, 221), in ihrer repräsentationalen und auch bildästhetischen Funktion eingesetzt werden, um Lernende für elementare Strukturen und Prozesse menschlicher Kultur und Kommunikation zu sensibilisieren und transkulturell-kommunikative Kompetenz in ihren verschiedenen Dimensionen und Kompetenzbereichen (cf. Rössler 2010, 15sq.) zu fördern. Nachdem eine rezeptionsästhetische Annäherung an den Einsatz von Kunst stets individuelle Zugänge in den Fokus nimmt, die oft auf die ein oder andere Weise versprachlicht werden, um in einen intersubjektiven Austausch zu münden, werden durch die Auseinandersetzung mit künstlerischen Produkten und kulturellen Texten stets auch funktional-kommunikative Kompetenzen gefördert - ohne dabei zwangsweise im Mittelpunkt zu stehen. Sowohl die individuellen Erstbegegnungen als auch kreativ-produktive Anschlussaktivitäten und Projekte schaffen hier schließlich - oft inzidentell - zahlreiche Sprech- und Schreibanlässe sowie die Auseinandersetzung mit alternativen Formen des (intermedialen) „Lesens“ und Verstehens. 294 Katja Zaki Die repräsentationale Funktion von Kunst als Medium, das subjektive Begegnungen mit fremdkulturellen Deutungssystemen initiieren kann, erklärt des Weiteren auch das große Potential von murales hinsichtlich inter- und transkultureller Bildungsziele: Als authentische kulturelle Zeugnisse, deren künstlerische Arbitrarität häufig durch die eingangs skizzierte Mischung aus Bildlichkeit, Text und Kollektivsymbolik eingeschränkt wird, eröffnen sie Schülerinnen und Schülern gleichsam erste Zugänge zu grundlegenden Konstituenten und Bezügen der Zielkultur sowie auch weiterführende Einblicke in historische Zäsuren, prägende master narratives und diskursive Kontextualisierungen. Nehmen wir beispielsweise Diego Riveras „México en la Historia“ (Abb. 1) oder auch das Teil-Mural „Zoot Suits Riots“ der „Great Wall of Los Angeles“ (Abb. 4) als Beispiel, so sehen wir, wie murales als visuelle Narrative Geschichte „erzählen“ können - und vor allem auch neue Perspektiven auf sie werfen, indem sie ungewohnte Blickwinkel aufzeigen oder Vergangenes und Gegenwärtiges neu arrangieren. Sie unterstützen somit grundlegende Dispositionen des inter- und kulturellen Verstehens (cf. Bredella 2012, 74sq.), ohne dass die Erstbegegnung bereits ein fortgeschrittenes Sprachniveau in der Zielsprache erfordern würde (welches gerade im Bereich des Spanischen als Tertiärsprache bekanntlich oft erst spät erreicht wird). Durch eine Mischung aus bildlicher Offenheit und diversen textuellen und auch kollektivsymbolischen Verweisen können murales schließlich vielfältige Hypothesenbildungen und Kontextualisierungen anstoßen und so affektive, einstellungs- und handlungsbezogenen Dimensionen des kulturellen Lernens anregen. Die künstlerisch erzeugte Simultantität verschiedener Epochen, Persönlichkeiten und Diskurse beispielsweise (cf. Abb. 3 und 9) - sowie der Versuch, diese mit eigenen Vorstellungen in Einklang zu bringen - fordert und fördert nicht zuletzt die von Rössler betonte Ambiguitätstoleranz, Wahrnehmungssensibilisierung und Verhaltensflexibilität als Kern einer inter- und transkulturellen Kompetenz (cf. Rössler 2010, 15sq.). Während der meist erst spät einsetzende Unterricht des Spanischen einen verstärkten Einsatz visueller Quellen mitbegründen kann, vereinfacht er ihn aus methodisch-strategischer Sicht gleichsam, da die Lernenden aus dem vorangegangenen mutter- und fremdsprachlichen Unterricht bereits grundlegende Methodenkompetenzen mitbringen, die sukzessive weiterentwickelt werden können. In diesem Zusammenhang dürfte gerade die Andersartigkeit von murales - sowie ihre Vergleichbzw. Nichtvergleichbarkeit mit schriftsprachlichen Texten und anderen Bildquellen - bei Schülerinnen und Schülern nicht nur zu neuen Strategien des Lesens und De-Codierens von Bildern bzw. Bildtexten anregen, sondern auch zu einem Nachdenken über verschiedene Medien und deren kultuelle Prägung an sich führen. Neben einer mediumexternen Verwendung von murales bietet sich in diesem Zusammenhang auch deren mediuminterne Behandlung als Teil eines größeren kulturellen Diskurses an (Hecke/ Surkamp 2010, 12), um sowohl Kultur als Bild? 295 eine allgemeine Intermedialitätskompetenz zu fördern (Hallet 2010, 28sq.) als auch ein Verständnis für die kulturspezfischen Grundlagen menschlicher Kommunikation und kultureller Produktion zu legen. Durch die so aufgezeigte Polyphonie kultureller und medialer Perspektiven kann so auch ein Nachdenken über kulturelle Bedeutungskonstruktionen angeregt werden, welches nicht nur die kulturelle Bedingtheit von Bildern, sondern auch die des Wechselspiels zwischen Bildern ihrer subjektiv gefärbten Wahrnehmung in den Fokus nehmen kann. Indem die „Kultur des Sehens“ (Hallet 2010, 51) selbst als konventionalisierter Prozess sichtbar und hinterfragbar wird, vermag neben der repräsentationalen Funktion auch der bildbzw. rezeptionsästhetische Wert der behandelten murales stärker ins Bewusstsein zu treten. Zum Wissen über bestimmte Medienbzw. Bildsorten und deren kulturelle Funktionalität kommt das Wissen um die kulturelle Prägung des eigenen Sehens und Verstehens hinzu, was in eine visuelle Kompetenz im weitesten Sinn münden kann, die nicht auf den fremdsprachlichen Unterricht beschränkt bleibt. 3.2. Murales und das Paradigma des neokommunikativen Unterrichts Verortetet man das didaktisch-methodische Potential von murales im Paradigma des neo-kommunikativen Unterrichts (Reinfried 2001, 1sq.), so lenkt dies den Blick von den primären Zielen auf die grundegenden Prämissen und Prinzipien der Umsetzung: Im Rahmen eines auf Ganzheitlichkeit, Lerner- und Handlungsorientierung ausgerichteten Fremdsprachenunterrichts sollten Lerner durch die Arbeit mit murales über subjektive Zugänge und kollaborative Verfahren für kulturelle Bezüge und Deutungssysteme sensibilisiert werden, durch die Begegnung mit der Fremdkultur auch über die eigene reflektieren und darüber hinaus stets auch das verbindende - transkulturelle - Element menschlicher Kollektive und ihrer kommunikativ-kulturellen Grundlagen erkennen. Der Muralismus bietet uns hierfür nun nicht nur vielfältige Quellen, sondern durch seine eigene Genese und kulturelle Funktion auch Impulse und Ideen für eine didaktisch-methodische Umsetzung. Während des 20. und 21. Jahrhunderts haben sich murales verstärkt von einer demokratisierenden zu einer partizipativen Kunst gewandelt, die nicht nur breit rezipiert, sondern auch kollektiv und kollaborativ produziert wird. Gerade in der Graswurzelarbeit vieler kalifornischer und mexikanischer Künstlerkollektive lassen sich in diesem Zusammenhang zahlreiche Ansätze beobachten, die auch für einen dem neokommunikativen Paradigma verpflichteten Fremdsprachenunterricht nutzbar gemacht werden können. 296 Katja Zaki Abb. 14/ 15/ 16: Murales und Bildung in Mexiko und Kalifornien Ein tragendes Prinzip vieler Muralismus-Zentren ist ihr ganzheitlicher Ansatz - der sich auch im Hinblick auf den schulischen Spanischunterricht adaptieren und übertragen lässt: Durch die genuine Verbindung von Geschichte, Kultur und Kunst, von sprachlichen und bildlichen Bezugnahmen, von individuellen Ideen und kollektiven Verfahren, eignet sich die Arbeit mit murales und an murales schließlich in besonderem Maße für gleichsam affektive wie auch inhaltsorientierte authentische Lernerfahrungen (cf. Reinfried 2001, 10sq.), die nicht nur Raum für subjektive Zugänge zu fremdkulturellen Wissenbeständen schaffen, sondern auch kreative Reflexionsprozesse über die eigenen bzw. die im Klassenverband präsenten Sprachen, Kulturen und Zugehörigkeiten zulassen. Zentren wie Precita Eyes oder Street Art Chilango beispielsweise versuchen, ihre murales zunächst auf multisensorische und mehrkanalige Art und Weise erlebbar zu machen: Über Mural Walks, Vorträge, Farbexperimente und vielfältige talleres fördern sie dabei das Wissen über die Kunst, das Interesse für die Kunst und geben in kollektiven Projekten Tipps für eigene künstlerische Experimente. Subjektive Erstbegegnungen und kognitive Zugänge münden hier also fast immer in handlungsbzw. projektorientierte Verfahren, denen in einem ganzheitlichen Fremdsprachenunterricht im schulischen Kontext vielfältige - auch fächerübergreifende bzw. - verbindende - Projekte gegenüberstehen können. Ein elementarer Aspekt sind in diesem Zusammenhang schließlich auch die mehrsprachigen und mehrkulturellen Züge vieler murales - und Muralismus-Projekte: Das Nebeneinander verschiedenster Kulturen und Sprachen - im Fall des Chicano-Muralismus insbesondere des Nahuatl, des Spanischen, des Englischen und diverser Varietäten (caló) - sowie vielfältige Elemente einer bild- und textsprachlichen Kollektivsymbolik sollten auch für den fremdsprachlichen Unterricht genutzt werden, um das von Reinfried (2001, 10sq.) betonte „kontrastive Sprach - und Kulturbewusstsein“ über kognitive, kommunikative und kreative Verfahren zu sensibilisieren. Kultur als Bild? 297 Abb. 17: „Children’s Mural“, San Diego (Eigene Aufnahme) 3.3. Methodische Zugänge zum Einsatz von Murales Bereichert um kreativ-produktive Ansätze aus den talleres zwischen San Francisco und San Diego lassen sich durch einen reflektierten Einsatz von murales im Spanischunterricht über assoziativ-affektive Erstbegegnungen, kognitivanalytische Zugänge und handlungsorientierte Verfahren sowohl interbzw. transkulturelle als auch ästhetische Kompetenzen fördern und weiterentwickeln, die weit über die Initiierung produktiver Sprachverwendung hinausgehen. Die Art des gewählten mural - ob eine Fotografie eines kulturnationalistischen murals des frühen Chicano Movements oder ein digital mural eines aktuellen SPARC-Projekts als auch dessen Funktion im Rahmen einer bestimmten Unterrichtssequenz kann immer nur in Abhängigkeit vom individuellen Lehr-Lern-Kontext und dem primär fokussierten Unterrichtsgegenstand bzw. Kompetenzziel gewählt werden. Ungeachtet aller Variablen können ausgewählte Verfahren aber zumindest ein grobes Raster für den Umgang mit murales bilden, das Lehrenden und Lernenden als Orientierung dienen kann. 19 Als möglicher Ausgangspunkt für den murales-Einsatz im transkulturellen Spanischunterricht kann beispielsweise eine adaptierte Version des Dreiphasenmodells des Kunsthistorikers und -pädagogen Erwin Panofsky (1955, 19 Um durch die Arbeit mit verschiedenen murales bzw. Bildquellen eine allgemeine visuelle Kompetenz zu fördern, bietet es sich zudem an, den methodischen Zugang in Grundzügen zu standardisieren (z.B. über Methodenposter an der Wand oder als Arbeitsblatt, cf. Schoppe 2013, 41sq.) und in einen gleichsam reflektierten wie kontinuierlichen Lernprozess einzubetten. Als nützlich könnten sich hier fachspezifische oder auch fächerverbindende Bild-Portfolios erweisen, in denen Schülerinnen und Schüler sowohl die theoretischen Grundlagen der Bildanalyse als auch einen Korpus an Bildern mit entsprechenden Zusatzmaterialien, eigenen Reflexionen und produktiven Anschlussaufgaben systematisieren. 298 Katja Zaki 36sqq.) fungieren - erweitert um individuelle Zugänge und kollektive Bedeutungsverhandlungen bzw. in größere Lernaufgaben eingebettet (Abb. 18). Gerade in der ersten und letzten Phase des überblicksartigen Modells hat das jeweils betrachtete mural dabei immer auch die üblichen instrumentellen Funktionen vieler visueller Quellen: nämlich Sprech- und Schreibanlässe zu schaffen und die Lerner ausgehend von Bildern zu kommunikativen Handlungen zu führen. Dies bietet der eigentlichen Bildarbeit allerdings nur den Rahmen, da murales die Kommunikation hier nicht nur initiieren, sondern selbst Teil und Fokus davon werden: Indem die Lernenden sie in der Folge sowohl als kulturellen Text lesen als auch in ihrer Eigenschaft als Bildmedium wahrnehmen, indem sie vielleicht auch darüber nachdenken, wie Bilder kommunizieren bzw. selbst Teil einer multimodalen kulturellen Kommunikation sind (cf. Hallet 2010, 28), die wiederum durch die Sozialisation unserer eigenen Wahrnehmung entscheidend mit bedingt wird. In situativ wählbaren Kombinationen aus Eigen-, Partner-, Gruppen- und Plenumsarbeit (z.B. think - pair - share) sollen die Lernenden individuelle Zugänge zum jeweiligen Bild finden, um es in der Folge weiter zu beschreiben, seine Wirkung zu hinterfragen, es in seinem Entstehungskontext zu verorten sowie den intentionalen Charakter zu deuten und es in größeren kulturhistorischen und gesellschaftlichen Dimensionen zu kontextualisieren: Methodische Zugänge zu murales 1. Individuelle Erstreaktion - Subjektive Zugänge (affektiv, assoziativ) → Affektiv-assoziative Erstreaktion in Abhängigkeit von individuellen Lernervariablen (Interessen, Vorwissen u.ä.) 2. Kollektive Erarbeitung bzw. Aushandlung der Deutungsangebote → Kognitiv-analytische Zugänge (analytisch, reflexiv) a) „Vorikonographisch“ b) „Ikonographisch“ c) „Ikonologisch“ (cf. Panofsky 1955, 35) 3. Individuelle Reflektion bzw. kreativ-produktive Verarbeitung → Individuelle oder kollaborative (Sprach-)Produktionen, ggf. im Hinblick auf eine übergeordnete Lernaufgabe 4. Ggf. kollektives Klassen-/ Gruppenprojekt Abb. 18: Methodische Zugänge zu murales 20 20 Eigene Darstellung auf der Basis von Panofsky 1955, 35sq., Pou 2012, 10sq. und Schoppe 2013, 41sq. Kultur als Bild? 299 Zu Beginn stehen wie gesehen subjektive Reaktionen auf das Bild im Vordergrund (1.) - sei es durch eine assoziative lluvia de ideas, Bildergänzungen, Gedankenketten, „Elfchen“ oder automatisches Schreiben (cf. Schoppe 2013, 48 sq.). Ziel dieser Erstbegegnung ist es, einen noch ungesteuerten, affektiven Zugang zum Bild und dessen Wirkung zu erhalten und diesen im Anschluss im Austausch mit anderen Lernerinnen und Lernern zu systematisieren und zu teilen. In der Phase der kognitiv-analytischen Erfassung des Bildes (2.) geht es in der Folge darum, das Bild zunächst in seiner Eigenschaft als Bild bzw. die konkrete Gestaltung der Fläche zu beschreiben (2.a) - welche Farbgebung, welche Formen, welche Text-Bildbezüge prägen die Fläche? -, bevor die einzelnen Elemente im Sinne einer ikonographischen Herangehensweise (2. b) hinsichtlich ihrer Bezüge und Deutungsmuster (im übertragenen Sinn die syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen des Bildes) erschlossen werden sollen: „Entramos en contacto con los contenidos temáticos - narrativos o alegóricos - de la obra de arte, para cuya identificación necesitamos, ahora sí, echar mano de otras disciplinas como la historia, la literatura o la ciencia“ (Pou 2012, 10). In vielen murales kann an dieser Stelle bereits die interpretatorische Verknüpfung verschiedener Kollektivsymbole das oben skizzierte interbzw. transkulturelle Lernen in seinen verschiedenen Dimensionen fördern: Indem Lernende in Chicano murals beispielsweise mit dem Nebeneinander verschiedener Kulturen und Weltdeutungen, mit Quetzacoatl und Pancho Villa, mit mojados und der Migra konfrontiert werden, finden Prozesse des Perspektivenwechselns und Relativierens quasi spielerisch statt und werden durch die kulturelle Kontextualisierung des eigenen Blick- und Erkenntniswinkels ergänzt; darüber hinaus motiviert die (relative) Offenheit der Kunstwerke zur kreativen Auseinandersetzung und Hypothesenbildung, wodurch die Individualität der Interpretationen wieder zu vielfältigen negotiations of meaning (Bhabha 1990) führen und dadurch auch das Interesse für größere kulturelle Zusammenhänge und Bezüge wecken kann. Die Symbolik ist - wie die deutsche, spanische oder englische Sprache - schließlich kulturell geprägt und konventionalisiert, wodurch linguistisches, soziokulturelles, pragmatisches und kulturelles Wissen zur Voraussetzung für ein vertieftes Verständnis wird. In einem dritten - „ikonologischen“ - Schritt (2.c) soll das jeweilige mural vor diesem Hintergrund - je nach Vorwissen und Unterrichtseinheit - im soziohistorischen und kulturellen Kontext seiner Entstehung verortet und aus der Kulturgeschichte heraus verstanden werden, was wiederum sowohl durch ergänzende Texte, Bilddialoge, eigene Recherchen (WebQuests) oder Inputs von Seiten des Lehrenden oder durch einzelne Expertengruppen ergänzt werden kann. Auch an dieser Stelle kann die De-Codierung der kulturellen Symbolik von entscheidender Bedeutung sein, um die Verbindung von Ver- 300 Katja Zaki gangenem und Gegenwärtigem sowie den Konstruktcharakter kultureller Bezüge zu erfassen: Neben einem vertieften Verständnis der Funktion des Muralismus im post-revolutionären Mexiko der 1920er Jahre bzw. im Kalifornien des Chicano Movement können so auch transkulturelle Einsichten in das Zusammenwirken von Geschichte, Kultur und symbolischen Kommunikationsformen im Fokus stehen, um das Sprach- und Kulturbewusstsein der Lernenden ganzheitlich anzusprechen. Abschließend bzw. anknüpfend sollte die Beschäftigung mit murales in eine übergeordnete kreativ-produktive Anschlussaktivität münden, um nicht nur über, sondern auch „‘mit der Kunst zu sprechen‘, also kreative und doch auch sprachliche Zugänge zur Kunst zu eröffnen“ (Balser 2012, 32). Das fokussierte Produkt bzw. Projekt kann an dieser Stelle entweder von mehreren Lernenden gemeinsam (kollaborativ) oder arbeitsteilig (kooperativ) angefertigt werden und sowohl sprachlicher (z.B. Verfassen eines Briefs an den/ die Maler bzw. einer weiterführenden Geschichte zu einem Symbol, beispielsweise aus der Perspektive eines Protagonisten), szenischer (z.B. Nachstellung einer Szene aus dem mural) oder auch bildlicher Natur sein (z.B. Erstellen eines eigenen murals, in dem jeder Schüler ein Quadrat zur Verfügung bekommt, das er mit den Symbolen und individuellen Assoziationen zu seiner Heimat bzw. zu seinen Zugehörigkeiten füllen und mit „linguistischen Botschaften“ ergänzen kann). „Voces y caras de nuestro curso“ Abb. 19: Taller der muralismo: Murales als Klassenprojekt Am Ende steht schließlich, wie bereits zu Beginn, die subjektive Wirkung - nun nicht mehr als affektiv-assoziative Erstreaktion, sondern als kreativ-produktiver Prozess, der die eigene Rezeption gleichsam verarbeitet und in ein eigenes Projekt weiterführt. Im Falle eines Klassen-murals beispielsweise kann die Kombination aus individuell gestalteten Feldern gleichsam die sprachkulturelle Vielfalt des Klassenverbands darstellen, wobei die einzelnen Elemente ohne Wertungen nebeneinanderstehen und das gemeinsame Ganze ergeben. Gerade in multikulturellen Klassenzimmern, in denen sich Schülerinnen und Kultur als Bild? 301 Schüler mit unterschiedlichen Herkunftssprachen und - kulturen befinden, kann so der Bogen zu einem transkulturellen Lernen im weitesten Sinn geschlagen und gleichsam an die konkrete lebensweltliche Situation der Schülerinnen und Schüler rückgebunden werden. Ausgehend von einem projektgeleiteten Ansatz sind auch vielfältige fächerübergreifende und fächerverbindende Ansätze denkbar (ggf. auch durch Teambzw. Tandem-Teaching): u.a. mit dem Fach Kunst ( in rezeptiver wie produktiver Sicht: was beispielsweise die kunstgeschichtlichen Grundlagen der Wandmalerei bzw. Fresko-Technik, die Verfahren der Bildanalyse und die Vielfältigkeit der Stile, aber auch Möglichkeiten und Techniken einer eigenen produktiven Bildgestaltung betrifft), Geschichte (hinsichtlich des Präsentismus der gegenwärtigen Wirklichkeitswahrnehmung bzw. der historischen Alterität älterer Quellen oder auch mit Bezug auf Geschichtsschreibung, kollektivem Gedächtnis und Erinnerungskulturen) sowie auch mit anderen Schulfremdsprachen (im Hinblick auf die Chicano-Thematik insbesondere mit dem Fach Englisch, hinsichtlich der soziopolitischen und ethnokulturellen Rolle öffentlicher Kunst aber auch mit den Fächern Französisch, Italienisch oder DaF/ DaZ). Schlussbemerkungen Der Einsatz von Bildquellen im Fremdsprachenunterricht erfreut sich einer langen Tradition, wobei die Intention und Funktion ihrer Verwendung oft hinter dem methodisch-didaktischen Potential visueller Quellen zurückbleibt, wenn instrumentelle Motive in den Vordergrund treten und die Möglichkeiten transkultureller und ästhetischer Lernarrangements unerschöpft in den Hintergrund treten. Am Beispiel des mexikanisch-kalifornischen Muralismus sollte demonstiert werden, wie die Arbeit mit öffentlicher Kunst für das transkulturelle und auch ästhetische Lernen nutzbar gemacht werden kann, indem durch die Auseinandersetzung mit einem konkreten mural vielfältige Einsichten in die Wirkung von Bildern, verschiedene Text-Bild-Relationen sowie auch in die Strukturen und Konventionen kultureller Kommunikation im Allgemeinen reflektiert und diskutiert werden können. Auch, aber nicht allein konkrete Wissensbestände und Einstellungen zu bestimmten Zielkulturen sowie deren geohistorischen und soziokulturellen Bezügen können dabei in den Fokus rücken, sondern auch die Ausbildung eines Orientierungs- und Deutungswissen zur Interdependenz von Kultur, Sprache und Identität im Allgemeinen, was in eine transkulturelle Kompetenz im verbindenden Sinn des Wortes münden kann. 302 Katja Zaki Über eine Verbindung von subjektiven Zugängen und kooperativen Lernformen reflektieren Lernende in der Auseinandersetzung mit mehrfach codierten murales zudem nicht allein über die kulturelle Bedingtheit von Bildern, sondern auch über die oft als so natürlich wahrgenommene „Kultur des Sehens“ (Hallet 2010, 51) sowie die Bedingungssfaktoren ihrer eigenen Bildbzw. Textrezeption. Dies bahnt nicht zuletzt auch den Weg für eine im schulischen Unterricht nicht selten zu kurz kommende Wahrnehmungsschulung und ästhetische Sensibilisierung im weitesten Sinn, deren Wert als Querschnittskompetenz sowohl das Potential als auch den allgemeinen Bildungsanspruch eines inhaltsorientierten, ganzheitlichen und auch fächerübergreifenden Fremdsprachenunterrichts unterstreicht. Acacio López, Nuria. 2012. „Aprendiendo a leer cuadros con Frida Kahlo. Una propuesta de trabajo cooperativo“, in: Der Fremdsprachliche Unterricht Spanisch 10/ 36, 28- 31. Anderson, Benedict. 1983. Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. London: Verso. Baca, Judith. 1990. „Introduction“, in: Sperling Cockcroft, Eva / Barnet-Sánchez, Holly: Signs from the Heart: California Chicano Murals. Venice/ Albuquerque: SPARC/ University of New Mexico Press, 1-4. 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Armin Volkmar Wernsing Landeskunde-Test-Filme im Bundeswettbewerb Fremdsprachen ‒ Sehverstehen inklusive Die Verbreitung des Satelliten-Fernsehens und die Internet-Zugänglichkeit von Videos unterschiedlicher Kulturen haben der Schule die Aufgabe gestellt, das Sehverstehen zu fördern. 1 In diesem Beitrag geht es um Filme, die für den Landeskunde-Test des Sprachenturniers hergestellt wurden und von den Teilnehmern dieser Veranstaltung nicht nur landeskundliche Kenntnisse, sondern auch Sehwie Hörverstehen verlangen. Es mag ein wenig erstaunen, dass der Verfasser dieses Beitrags, der die Filme hergestellt hat, dem Seh- oder Hör-Sehverstehen, sofern es als Kompetenz, die getestet werden soll, propagiert wird, mit einiger Skepsis gegenübersteht. Man spricht im Gefolge der Hattie-Studie heute viel vom „visible learning“ ‒ was mit dem Sehverstehen nichts zu tun hat ‒ und meint damit eine fortwährende Überprüfung des Lernfortschritts. Wenn diese Überprüfung in Gestalt von häufigen Tests durchgeführt wird, steht zu befürchten, dass Schule und Hochschule dies zu ihrem Kerngeschäft machen und dadurch bestenfalls zu Ausbildungsanstalten werden. Mit Bildung haben sie dann nichts mehr zu schaffen. 2 Zwei Wörter im Titel seien vorweg, aber möglichst kurz erläutert: „Bundeswettbewerb“ und „Landeskunde“. Der Bundeswettbewerb Fremdsprachen führt in jedem Jahr Sprachentests für etwa 10.000 Schüler in Deutschland durch. Er ist Teil der Initative „Bildung und Begabung“ und hat für Auszubildende und Schüler von Klasse 5 bis zum Abitur ein differenziertes Angebot von Wettbewerbsaufgaben, die unter anderem Hörverstehensaufgaben enthielten, als dies in der Schule noch 1 Aus diesem, an der Unterrichtspraxis orientierten Grund verzichtet der Beitrag weitgehend auf eine allgemeine Untersuchung der Spezifika und kulturellen Implikationen des Sehens und beschränkt sich auf die Darstellung der Verwendung von Filmen bei der Überprüfung landeskundlicher Kenntnisse, insistiert jedoch auf der Bedeutung von Wissen bei der Entschlüsselung von Bildern. Es handelt sich um die nur wenig veränderte Fassung eines durch Filmbeispiele ergänzten Vortrags; diese wurden hier durch kurze Erläuterungen ersetzt. 2 Auch die Hattie-Studie, deren Kernaussage man mit ein paar Einschränkungen zustimmen kann, dass nämlich der Lehrer der entscheidende Faktor für den Lernerfolg ist, muss man kritisch lesen. „Die enge Sichtweise auf nur eine Dimension schulischen Lernens untersucht und interpretiert Lernerfolg als nichts anderes als messbare Lernergebnisse im kognitiven Bereich.“ http: / / visible-learning.org/ de/ kritik-an-der-hattiestudie-visible-learning/ 306 Armin Volkmar Wernsing gänzlich ungebräuchlich war, aber auch Themen für das kreative Schreiben, während nicht wenige Lehrer zu wissen glaubten, dass ihre Schüler nicht kreativ seien. Zum Sprachenturnier werden Schüler der Klasse 9 bis 11 eingeladen, vorausgesetzt, sie haben vorher beim Einzelwettbewerb mit hohen Punktzahlen bestanden. Die sechzig bis achtzig Schüler, auf demTurnier stellen daher eine Art positive Auslese dar. Das Turnier findet einmal im Jahr in jeweils einem anderen Bundesland statt. Dabei haben die teilnehmenden Schüler während der vier Tage der Veranstaltung viele Aufgaben zu bewältigen:  einen Bericht oder einen Brief schreiben  einen Vortrag zu Informationen halten, die sie während des Turniers bekommen haben (z.B. durch eine Stadtbesichtigung)  eine neue Fremdsprache lernen, zum Beispiel Saterfriesisch, Letzeburgisch, Afrikaans oder Gebärdensprache  in ihrer zweiten Schulfremdsprache mit den Juroren über ein Buch diskutieren, das sie vorher gelesen haben  in einer Gruppe von etwa fünf Teilnehmern ein mehrsprachiges Stück schreiben, inszenieren und aufführen  einen Landeskundetest machen, der im Französischen die Gestalt eines einstündigen Films hat; genauer: hatte, denn es ist ungewiss, ob man an dieser aufwendigen Form festhalten wird. Die Wahl des Mediums Film hatte zunächst nur den Grund, dass landeskundliche Inhalte auf diese Art sehr viel realitätsnäher dargestellt werden können, als dies mit einem Fragebogen der Fall wäre. Außerdem ist es bei solchen Teilnehmern durchaus angemessen, dass sie nicht nur Kenntnisse nachweisen sollen, sondern auch Hör- und Sehverstehen zur Beantwortung der Fragen erforderlich ist, eine Methode, welche die Test-Autoren des IQB schon deshalb ablehnen müssten, weil so ein Verfahren Probleme der eindeutigen Messung aufwirft. Landeskunde ist die Inhaltsseite des Erlernens einer Fremdsprache. Nur wenige Menschen reden, um zu reden; die meisten wollen etwas mitteilen oder etwas bewirken. Rede hat daher einen Inhalt. Wer diesen Inhalt, auch in Prüfungssituationen, aus welchem Grunde auch immer, eskamotiert, beraubt die Lerner jeglicher Motivation. Die hier als Inhalt genannte Landeskunde ist nicht unbedingt die abstrakte der cultural studies. Eine Kultur definieren zu wollen etwa durch fünf durchaus gewichtige, aber willkürlich ausgewählte Indizes, wie zum Beispiel Geert Hofstede es tut, ist vielleicht wissenschaftlich diskutabel, deren Quantifizierung kann man jedoch nicht ohne Humor zur Kenntnis nehmen. Man lese Stupeur et tremblements von Amélie Nothomb, wenn man etwas ‒ gewiss Subjektives ‒ über das moderne Japan erfah- Landeskunde-Test-Filme 307 ren will; oder betrachte das Bildchen, auf dem zwei Schilder den Autofahrer in Verwirrung stürzen, weil sie ihn für „Toutes Directions“ nach links und zugleich nach rechts schicken; ein Beispiel für die hochkomplizierte französische Administration, auf die man vernünftigerweise so reagiert, wie dies ein unbekannter Protestierer mit dem Spruch „Démerdez-vous“ getan hat. Den Verfasser erinnern diese Schilder an seine erste Erfahrung mit der französischen Verwaltung. Als er sich an der Universität Grenoble einschreiben wollte, sagte man ihm, dass er für die Einschreibung eine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen müsse; auf der Präfektur erfuhr er, dass er zur Erlangung der Aufenthaltsgenehmigung an der Universität eingeschrieben sein müsse. Das ist Landeskunde, Landeskunde in Aktion; und darum kann man Landeskunde als handlungsleitendes Wissen auch gut als eine Kompetenz formulieren, aber als eine echte, also eine Kompetenz, die sich auf Inhalte, auf Kenntnisse stützt, nicht als Pseudokompetenz, die vorgibt, der Inhalte entraten zu können. Mit großer Vorsicht zu betrachten ist eine neuere Definition, die ein Wort hinzufügt: „interkulturelle kommunikative Kompetenz“. Man findet diese Wortschöpfung nicht nur im neuen Kernlehrplan NRW, sondern auch bei der Firma ELC, die selbige Kompetenz vermarktet. 3 Natürlich geht es darum, sich im Kontakt mit Menschen anderer Kulturen zurechtzufinden. Wenn dies aber nur in der Form von leicht lehrbarem small talk geschieht, wie es schon die jungen Adeligen des 17. Jahrhunderts vor ihrer Europa-Tour praktizierten, ist dies Teil einer sich verbreitenden Oberflächlichkeit, die im Grunde jeden Kontakt vermeidet. 4 Als Beispiel für die Verbalisierung einer solchen „positive relationship“ kann man etwa zum Dictionnaire des idées reçues von Flaubert greifen. Um echte Inhalte, eingebettet in lebendige Kontexte, geht es daher in den Filmen, die auf dem Sprachenturnier gezeigt werden. Diese Landeskunde- Tests haben ein Thema, das im Film entwickelt wird; sie sind kein Tohuwabohu aller möglicher Gegenstände, die den Schüler in Verwirrung stürzen, 3 Die englische Firma ELC, die eine solche Kompetenz im Schüler herzustellen verspricht, nämlich vermittels eines Kurses für den Lehrer, der dafür 650 Euro zu zahlen hat, weist z.B. in einer E-Mail darauf hin, dass man dazu nur „some basic knowledge of cultural standards“ benötige und keinerlei theoretische Werke dazu lesen müsse. 4 Auch der „political correctness“ anstrebende Kulturbegriff, der dem Programm zugrundeliegt, ist fragwürdig: „Dieser Kulturbegriff, den man vielleicht verstehen kann als „jeweiliges wertbesetztes Regelsystem fürs zwischenmenschliche Verhalten“, hebt generelle Wertungen auf und führt so zu einem Relativismus, der im Künstlerischen ans Anything goes erinnert und im Politischen einer Korrektheit Raum lässt, die sich nicht traut, die Werte der Aufklärung zu vertreten, die doch das Einzige sind, was unterschiedlichen religiösen Traditionen Rahmen und Grenze bieten kann.“ Wolf Wucherpfennig, Kulturbegegnungsstudien. http: / / ruc-dk.academia.edu/ WolfWucherpfennig/ Posts 308 Armin Volkmar Wernsing bloß, weil man vorgibt, ausschließlich sein Hörverstehen oder sonst irgendeine Fertigkeit zu testen. Das hängt natürlich damit zusammen, dass Verstehen nicht auf Einzelheiten zielt, sondern auf Zusammenhänge und Zusammenhänge benötigt, was man durchaus bei den frühen Kognitionspsychologen hätte nachlesen können. Der zuerst gezeigte Clip aus dem Film Être jeune en France von 2012 demonstriert das Zusammenwirken von Hör- und Sehverstehen. Die Frage, welche der interviewten Personen nicht so ganz gewiss ist, dass die Frau an den Herd gehört und Kinder haben soll, lässt sich in der Tat nur beantworten, wenn man die Gesichter anschaut: Alle sagen dasselbe; der einzige, der etwas verlegen grinst, ist der junge Mann. Für die Interpretation von Gesichtsausdrücken und Gestik ist der Mensch recht gut ausgestattet, und es gehört zur Überlebenskunst, dass man sich dabei nicht ständig irrt. 5 Bei einem reinen Hörtext wäre bei dieser Aufgabe herausgekommen, dass die Franzosen der sechziger Jahre samt und sonders konservativ gewesen wären, was zumindest nicht ganz stimmt. Als Hersteller eines solchen Films denkt man über solche Fragen selbstverständlich nach. Auch über eine Reihe von anderen Fragen, zum Beispiel über das Verhältnis von visueller und auditiver Information. Ein überaus simples Beispiel zeigt, dass eine mündliche Wegbeschreibung bei dazu nicht passenden Bildern (aus Google Streetview) unverständlich, bei passenden jedoch ganz einfach ist. Was man sieht und was man hört, muss keineswegs zusammenpassen. Eine Information stört die andere; und man kann diese Interferenz sogar zur Manipulation benützen; denn da meist der Gesichtssinn der dominante ist, geht gehörte Information unter oder wird relativiert. Ein Lehrer, der beispielsweise Filme aus dem Journal télévisé im Unterricht verwendet, muss das sorgfältig prüfen. Der zweite Grund, warum schon das Sehen selbst, ohne den Einfluss des Gehörten, keine ganz unproblematische Sache ist, wurde dem Verfasser bei einem Besuch einer deutschen Stadt so recht bewusst. Da stand er vor einer Kirche und schaute auch zum Turm hinauf. Aber er bemerkte nicht, was es da Eigenartiges zu sehen gibt. Recht verstanden: Auf seiner Netzhaut waren die Bilder mit Sicherheit vorhanden, aber er nahm nichts Besonderes wahr. Hätte er in diesem Moment an ein ihm durchaus bekanntes historisches Ereignis in der Stadt gedacht, er hätte sie „gesehen“, nämlich die eisernen Käfige, in denen die Widertäufer nach ihrer Hinrichtung ausgestellt waren und die bis heute am Turm der Lambertikirche in Münster aufgehängt sind. Zwei 5 Man muss allerdings konzedieren, dass bei der Interpretation von Gestik und Mimik kulturelle Divergenzen möglich sind: Der mit dem Daumen zum Kreis zusammengebogene Zeigefinger kann im Französischen etwas ganz anderes bedeuten als im Deutschen. Solche Unterschiede wurden schon in unserem Lehrbuch Étapes (Berlin 1989) thematisiert. Landeskunde-Test-Filme 309 Wochen später war er wieder, diesmal in theologischer Begleitung, in Münster, und da fiel es ihm „wie Schuppen von den Augen“, denn man hatte kurz zuvor von den Widertäufern gesprochen. Die Lehre, die man daraus ziehen kann, ist: Wir „sehen“ (nämlich: „wir nehmen wahr“) nur das, was wir wissen. Den Rest übersehen wir. Oder wir sehen etwas, was es nicht nicht gibt. „Sehen“ und „wahrnehmen“ sind zweierlei. 6 Schlussfolgerung: Wenn „Sehverstehen“ eine Kompetenz sein sollte, dann funktioniert es nur mit Wissen, solchem Wissen, das abrufbar ist. Kompetenzen ohne Inhalte sind Pseudokompetenzen. Allerdings: Vom Sehverstehen war eigentlich noch gar nicht die Rede. Die meisten Dinge, die wir sehen, bedeuten ja etwas. Simples Beispiel: ein Verkehrsschild. Der nachfolgende Film zeigt eine Klasse aus Bonn in der Impressionisten-Ausstellung, die im Winter 2011 in Museum Folkwang, Essen stattfand. Da machen die Schülerinnen etwas Gutes: Sie kommentieren für ihre Mitschüler die Bilder, die da aufgehängt waren; jede hatte den Auftrag, ein Bild für die anderen so zu erläutern, dass man nicht nur die Oberfläche sah. (Auf Französisch natürlich.) In der Ausstellung war auch Manets „Chemin de fer“ von 1872/ 73 zu sehen. Oberfläche: Eine Frau mit Buch und Hund, ein Mädchen, das durch Gitterstäbe schaut. Auf den ersten Blick ist nicht sichtbar, dass es in diesem Meisterwerk um Zeit geht, ausgedrückt durch die Blickrichtungen (die Frau schaut zurück und auf den Betrachter des Bilds ‒ sie schaut aus dem Bild heraus und wir schauen tatsächlich in eine recht private Vergangenheit, denn das Modell war Victorine Meurent, deren Verhältnis mit Manet gerade beendet war ‒ das kleine Mädchen schaut durch die Gitterstäbe in die noch verhüllte und unzugängliche Zukunft ‒ die Eisenbahn hat ja etwas Symbolisches, zumindest um 1870. Deshalb hat das Bild auch etwas mit Grenzen zu tun, die überschritten werden. Das Beispiel macht hoffentlich deutlich, dass Sehverstehen etwas mehr ist als flüchtiges Hinschauen. Man muss sich in der Tat (und auf Wissensbasis) etwas dabei denken. Zum Ausprobieren: Warum sind in Schloss Benrath (Düsseldorf) einige Türzargen in Stein, andere in Holz ausgeführt? 7 ‒ Wer nichts weiß, geht blind durch die Welt. 6 Allein aus dieser Beobachtung geht hervor, dass der Gegensatz, der zwischen „Kompetenz“ und „Wissen“ konstruiert wird, völlig unsinnig ist. Eine für März 2014 geplante Veranstaltung des Lehrerbildungszentrums der Universität Köln sieht einen Workshop mit dem Titel „Kompetenzen entwickeln (lassen) anstelle von Wissen vermitteln - Unterrichtsplanung im Lichte der Kompetenzorientierung“ vor, eine Alternative, die es so gar nicht geben kann, aber viel verrät über die gegenwärtige Lehrer(aus)bildung. 7 Steinzargen signalisieren den „öffentlichen“, Holzzargen den „privaten“ Raum in dieser Maison de plaisance. 310 Armin Volkmar Wernsing Dass man etwas wissen und sich etwas denken muss, zeigt der folgende Clip, der aus dem Film Guerre, occupation, libération von 2010 stammt. 8 Er beginnt mit einer Fahrt über die Champs Elysées und kontrastiert deren Pracht mit den vor eine Bäckerei anstehenden Kunden. Damit ist das Thema „Hunger“ gesetzt, die Abwesenheit von Essbarem. Die nachfolgenden Einstellungen zeigen Autos mit Gasflaschen auf dem Dach oder mit merkwürdigen Anbauten ‒ es sind Holzvergaser, etwas, was die Adressaten des Films mit Sicherheit noch nicht gesehen haben. Sie müssen sich also etwas denken, wenn sie die Frage beantworten wollen, was denn außer der Lebensmittelknappheit noch ein Problem im besetzten Frankreich gewesen sei. Das Bild wurde mehrmals eingefroren, um nachdrücklich auf die Lösungsversuche durch französische Techniker aufmerksam zu machen. 9 Auswahl-Antworten wurden hier nicht gegeben; die Schüler sollten das Problem benennen. Diese Form der Aufgabenstellung, die Vervollständigung eines Satzes oder Textes, ist erheblich menschenfreundlicher als das Ankreuzen bei vrai/ faux- oder multiple choice-Aufgaben, die immer voraussetzen, dass der Testkonstrukteur die einzig richtige Antwort kennt. Die Auswahl-Antwort wurde in den meisten der dreißig Fragen nur deshalb beibehalten, weil die Zeit beim Sprachenturnier begrenzt ist; der französische Landeskunde-Test dauert ohnedies doppelt so lange wie der in den anderen Sprachen. Jenseits der intellektuellen Bequemlichkeit, zu der die Eindeutigkeit eines Tests einlädt, wäre es besser, mit den Teilnehmern über das Gesehene zu sprechen ‒ gemeinsam würde man viel mehr aus den Bildern herauslesen als mit Hilfe eines worksheets. Mit einem Gespräch gewinnt man nicht nur eine deutlichere, komplexere Vorstellung von den Sachen, sondern auch ein sehr viel detaillierteres Bild von einem Schüler als durch die Addition von Punkten in einem immer manipulativen, weil restriktiven Ankreuz-Verfahren. Und es ist auch 8 Eigentlich dürfte es ein solches Thema gar nicht geben, denn auf dem Programm der OECD steht die Geschichtslosigkeit: „What is clear is, that the ‘best of the past’ is no longer necessarily the best for the future.“ Understanding the Brain. Towards a new Learning Science. zit. nach Andre Schütte, „Bildungswissenschaft“ (www.bildung-wissen.eu/ glossen/ bildungswissenschaft.html) 9 In seinem Film zur Francophonie hat der Verfasser einmal die auf physikalisches Grundlagenwissen zurückführende Frage gestellt, warum die Rakete „Ariane“ von Französisch-Guyana aus gestartet wird: Man kann gänzlich einverstanden sein mit der Formulierung im neuen Kernlehrplan Französisch NRW, die schon von Schülern am Ende der Sekundarstufe 1 erwartet, dass sie „medial vermittelten Texten die Gesamtaussage, Hauptaussage und Einzelinformationen entnehmen“ und „zur Erschließung der Textaussage grundlegendes externes Wissen heranziehen“ können sollen. Diese Formulierung artikuliert eine bare Selbstverständlichkeit wie auch die Forderung, dass man Textinformation und externes Wissen irgendwie kombinieren können müsse. Es wäre freilich einzuwenden, dass diese Anweisung so allgemein formuliert ist, dass der Lehrer für seine Unterrichtsplanung damit nichts anfangen kann. Alleingelassen, greift er dann zu Fertigprodukten aus dem Handel oder den Testfabriken. Ob man für eine solche Arbeit, Unterrichten nach Rezept, noch akademisch ausgebildete Pädagogen braucht? Landeskunde-Test-Filme 311 eine lebenswirkliche Situation: Über Gesehenes, wenn es interessant ist, redet man gern. Bei einem Test mit Punkte-Wertung weiß man, dass da einer uns klassifizieren will, zu welchen Zwecken auch immer. Das folgende Filmchen stammt aus Le tour du monde en 60 minutes, einem Film, in dem eine Weltreise durch die Francophonie gemacht wird, und behandelt ein afrikanisches Land, von dem der Verfasser durch seine Zusammenarbeit mit einem dortigen Jugendlichen während der Erstellung von Tricolore, der Internet-Schülerzeitschrift seiner Schule, Näheres weiß, zum Beispiel, dass es eine typische Kleptokratie ist. Anhand des Clips sollen die Schüler sich ein Urteil bilden. Togo mit seiner in tradierten Strukturen lebenden Landbevölkerung und einer städtischen Oberschicht, die eine Schule wie das Lycée français de Lomé besuchen kann, das nicht nur mit garantiertem Schulerfolg, sondern sogar mit klimatisierten Klassenräumen aufwartet, Togo also ist ein offensichtlich gespaltenes Land. Der vorgeschlagene Titel „Un pays à deux vitesses“ passt also am besten, und von liberté und égalité kann keine Rede sein. Vorausgesetzt, man versteht die Wendung „à deux vitesses“. Auch hier muss man etwas wissen. Erheblich einfacher ist das nächste Beispiel, das uns nach Polen führt. Die Schüler sollen herausfinden, welchen Beruf der polnische Arbeiter hatte, dessen Tätigkeit in Frankreich von Handwerkern als bedrohlich empfunden wurde. Hier braucht man ja nur die Attribute eines plombier zu identifizieren, um die richtige Antwort zu geben. Das hätte man wesentlich kürzer machen können; ein einziges Bild hätte genügt. Aus dem langen Vorspann kann man schließen, dass der Film noch etwas anderes vorhat, als den Schülern Testaufgaben zu stellen, nämlich ihnen vor Augen zu führen, aus welchem Grund man sein Heimatland verlässt, um im Ausland zu arbeiten. 10 Die erzieherische Aufgabe von Schule geht in der vertesteten völlig unter. Ähnlich simpel ist auch der Ausschnitt aus Louis Malles Zazie dans le métro, bei dem es in dieser Aufgabe für Fünfzehnjährige nur darum geht, eine bouche de métro zu identifizieren. Auch dieser Clip leistet mehr, als die Frage dann von den Teilnehmern fordert: Es fällt bei den ersten Bildern gewiss auf, dass hier eine vom Regisseur aufgebaute Erwartung des Zuschauers absichtsvoll enttäuscht wird, was Komik produziert. Nun ist dieser 1960 veröffentlichte Film, der nach dem nicht ganz einfachen Roman von Raymond Queneau gedreht wurde, alles andere als bloß komisch, sondern ein erkenntnistheoretischer Traktat. Anhand eines zweiten Ausschnitts kann man demonstrieren, was sich unter „Sehverstehen“ etwa in einer Oberstufenklasse begreifen lässt. Dieser Schritt führt zu dem zurück, was schon anlässlich Manets Bild angesprochen wurde. 10 Hier wird mithin mit der Erlebnisqualität von (Film-)Bildern gearbeitet. Der Verfasser hält es für wenig hilfreich, diesen Aspekt als nebensächlich zu betrachten. 312 Armin Volkmar Wernsing Die Église Saint-Vincent-de-Paul, die hier immer wieder von verschiedenen Seiten angefahren wird, so, als wäre es jeweils ein neues Gebäude, wird einmal als Invalidendom, dann als Pantheon bezeichnet, der Taxifahrer vermutet, es sei die Kaserne von Reuilly. Das ist nicht nur eine Parodie auf die Unkenntnis vieler Pariser, sondern stellt die Frage, wie wirklich unsere (immer stärker medial vermittelte) Wirklichkeit ist. Wirklich ist ja nicht nur der Strom von Sinneseindrücken, sondern das, was wir benennen und in Zusammenhänge stellen, was in unserem Kopf etwas bewirkt. Nun hat es gerade in den Jahren der Herstellung dieses Films eine bedeutende, inzwischen allerdings etwas relativierte Theorie gegeben, welche die Wirklichkeit als Konstrukt verstand. Man denke an Jacques Derrida. Der Dialogtext spielt darauf an: „La vérité, qu’est-ce que c’est? Tout ça, c’est du bidon.“ Paris ist bloße Vorstellung, wie der Film eine bloße Vorstellung von Realität gibt. Darum geht es in Zazie dans le métro, und das sollte man mit Oberstufenschülern anhand des Films besprechen. Louis Malle hat in einem Interview 1960 die Intention seines Films klar gekennzeichnet: Ce qu’il y a de profond dans le livre de Queneau et d’important c’est que c’est une critique très poussée du langage. de l’écriture. de la littérature. Alors le transposant au cinéma, l’adaptant, j’ai voulu faire une critique du langage cinématographique. Um ein solches Sehverständnis zu entwickeln, brauchen die Schüler aber erheblich mehr als die Identifikation von Gegenständen auf Bildern; dieses Wissen ist jedoch eine Voraussetzung für die weiteren Schritte. Gewiss gehört dazu auch die Kenntnis von beschreibenden Begriffen wie plan, montage, séquence, caméra subjective, 11 aber es geht natürlich nicht darum, die einzelnen Effekte eines Films nur benennen zu können, sondern deren Auswirkungen auf den im Zuschauer erweckten Eindruck zu erklären. Die Verwendung der „subjektiven Kamera“, die man nicht nur im Kinofilm einsetzt, sondern auch in der Berichterstattung des französischen Fernsehens, hat zum Beispiel eine Rolle gespielt bei der letzten Abituraufgabe, die der Verfasser noch selber stellen durfte und bei der es um die Jugendunruhen in Clichy-sous-Bois ging. Die Abiturienten sollten sich selber die Frage stellen, warum das Journal télévisé diesen Effekt benützt. Man braucht übrigens keine Angst davor zu haben, dass die Schüler das erforderliche Interpretationsvokabular als zusätzliche Belastung empfinden könnten: Was man braucht, lernt man, besonders wenn die Aufgabe sinnvoll ist. In der Schule geht es nicht darum, Schüler zu dressieren, Tests zu bestehen, sondern sie zu lehren, sich zu wundern und sich zu fragen, warum etwas 11 So auch Reimann 2016 (im vorliegenden Band). Landeskunde-Test-Filme 313 so ist, wie es ist. Eine Frage, die viele Lehrer in den letzten zentralen Abituraufgaben NRW schmerzlich vermisst haben. 12 Es liegt vielleicht daran, dass es heute manche gibt, die glauben, über den Menschen könne man nur das wissen, was sich messen lässt. 13 Etwas verblüffend wirkt der Titel eines Abstracts für diese Veranstaltung, der von der „empirischen Messung“ spricht, denn es gibt keine andere Messungen als eben empirische. Das Adjektiv bedeutet gar nichts; es soll nur (Natur)Wissenschaftlichkeit prätendieren. Dabei handelt es sich höchstens um Statistik. Jeder Lehrer, der seinen Schülern aufmerksam zuhört, arbeitet empirisch; er misst bloß selten. Dafür kann er über seine Schüler eine Geschichte (nämlich: zusammenhängende Fakten) erzählen und weiß damit mehr über sie als alle Messungen zusammen. Keine Frage, dass wir eine empirische Unterrichtsforschung brauchen, aber ob es die der Testinstitute sein muss, ist mehr als fraglich. Denn die interessieren sich kaum für den Unterricht, kaum für Lernprozesse, gar nicht für die Schüler, sondern nur für deren Ergebnisse. 14 Vor allem jedoch, weil man sich hier mit hochtönendem Vokabular aufhübscht, 12 Selbst ein (technisch) gut gemachter Test wie der Leseverstehenstest in den Bildungsstandards vom 18. Oktober 2012, dessen einzelne Items gut begründet sind, verzichtet auf die Erklärung eines Textes und verengt die Fragestellung auf ein „richtig / falsch / nicht im Text“-Raster. Eine solche Aufgabenstellung verlangt Textvorlagen, bei denen sich das eindeutig beantworten lässt, muss also von allen polyvalenten Texten die Finger lassen (und damit von einem Großteil der Literatur) oder darf an dieser Literatur nur völlig unwesentliche Aspekte aufgreifen. Der zweite Vorwurf, den man einem solchen Test machen kann, ist, dass der Schüler sich hier am Gängelband des Aufgabenstellers befindet und keine Gelegenheit bekommt, eigene Zugänge zum Text zu finden. Was in der Rechtsprechung vertretbar ist, die vorgeschriebene Weise, einen Text zu verstehen, ist in literaturafinen Fächern oder in der Philosophie völlig inakzeptabel und ist auch mit Blick auf die Bildung des mündigen Bürgers nicht empfehlenswert. Immerhin: Als Lernaufgabe in der Mittelstufe könnte dieser Test durchgehen, da er vom Schüler verlangt, seine Entscheidung mit Textzitaten zu begründen. 13 Wenn man will, kann man diese modische Vorstellung mit einer allgemeinen Tendenz zur Quantifizierung in Zusammenhang bringen, die der Popular-Philosoph Richard David Precht festgestellt hat und der er schädliche Auswirkungen auf die Politik wie auf die Gesellschaftswissenschaften bescheingt. (Spiegel 37 (2013) 138f.) Sicherlich hängt diese Tendenz mit dem Prestige der Naturwissenschaften zusammen. Vgl. Armin Volkmar Wernsing, „Messen und indoktrinieren“ http: / / bildung-wissen.eu/ wp-content/ uploads/ 2013/ 11/ wernsing_kliemekritik1.pdf (3. 12. 2013). 14 “Das liegt daran, dass das Ziel dieser Disziplin [der Empirischen Bildungsforschung] nicht ist, das Lernen zu verstehen und zu verbessern. [...] Die Empirische Bildungsforschung will das Gelernte vermessen.“ Wolfram Meyerhöfer, „Empirische Gewissheit gibt es nicht“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 9. 2013, Nr. 225, 7. 314 Armin Volkmar Wernsing dessen wahre Bedeutung verschwimmt. 15 Der vermessene Mensch, den die gegenwärtige Reformpädagogik herzustellen verspricht, ist der benützbare, der über genau definierte und daher begrenzte Kompetenzen verfügt, 16 die 15 Es handelt sich einfach um einen politischen Diskurs, bei dem Wörter ja auch etwas anderes meinen, als sie sagen, wie das Leitziel der „employability“: Gemeint ist die Befähigung zu prekärer Beschäftigung. ‒ 1961, dem Jahr einer OECD-Konfrenz in Washington, sprach man noch deutlicher: „Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, daß es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. [...] Eriehung ist wirtschaftliche Investition.“ (Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand. hg. im Auftrag der Kulturkommission des Europarates von Walther Bringolf u.a. Wien 1966, 40). Die OECD hat sich viele Jahrzehnte darum bemüht, Einfluss auf das europäische Bildungssystem zu gewinnen und mit der PISA-Untersuchung den Durchbruch geschafft. Auch in Frankreich mit seiner in der Tradition Jules Ferrys stehenden republikanischen Schule verzeichnet man die Auswirkungen dieser Reform: „L’école souffre des mêmes maux que notre société: le délitement des libertés individuelles et collectives, l’abandon des valeurs humanistes, l’inégalité des chances. J’ai le sentiment désagréable que, dorénavant, sa mission se réduit à préparer un individu sélectionné, formaté, fiché dès sa plus tendre enfance.“ Bastien Cazals, Je suis prof et je désobéis. Montpellier: Indigène 2009, 21. Der Autor beklagt besonders die „vision mécanique des apprentissages“ und die Tatsache, dass man sich nicht mehr bemüht, „de rendre l’élève acteur de sa propre formation“ (17). 16 Man kann diese gewünschte Begrenzung der Fähigkeiten gut illustrieren mit einer Stellenausschreibung des IQB für eine studentische Hilfskraft, die am „Fremdsprachenprojekt Französisch Sekundarstufe I“ mitarbeiten soll. Eine Art Mädchen für alles. Neben guten Computer-Kenntnissen muss der Bewerber über Französischkenntnisse auf dem Niveau A2/ B1 verfügen, also genau dem Niveau, das die Schüler der Sekundarstufe 1 erreichen sollen. Darüber hinausgehende Sprachkenntnisse sind nicht erforderlich. Für 10 Euro 98 pro Stunde wäre dieser Mitarbeiter mit weitergehenden Sprachkompetenzen auch überqualifiziert. (Zugriff auf die IQB-Seite am 6. 7. 2013) ‒ Der Geschichtsfachleiter Eberhard Keil (Stuttgart) hat die gewollte Dequalifikation in Schule und Hochschule auf ihre Folgen hin analysiert: „Schließlich wird so ein akademisches Proletariat erzeugt, welches den Unternehmen als Wegwerfware willig zu Diensten steht, welches als Praktikanten und Doktoranden alle Formen der Selbstausbeutung erduldet und sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag bettelt, dabei aber kaum noch in der Lage ist, die eigenen Lebenshaltungskosten zu decken, geschweige denn die einer Familie.“ Eberhard Keil, „Wort zum Sonntag: “Chancenspiegel” und “Chancengerechtigkeit” http: / / bildung-wissen.eu/ wp-content/ uploads / 2013/ 07/ keil_chancengleichheit.pdf. Man kann diese reduktionistische Vorstellung von Bildung gut illustrieren mit einem Beispiel aus der Urzeit der OECD-Pädagogik: „Rein vom Standpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung ist zwischen Erziehung, die das Produktionsvolumen hebt, und Erziehung, die nicht derartige Erfolge erzielt, zu unterscheiden. Bringt man einem afrikanischen Koch das Lesen bei, wird das vielleicht sein Leben bereichern, es könnte auch auf lange Frist dazu führen, daß der Koch einen neuen Beruf ergreift ‒ aber es muß ihn durchaus nicht zu einem besseren Koch machen. Unter Umständen kann es gar keine produktive Wirkung haben, dem [sic] Koch Lesen und Schreiben zu lehren.“ Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand, Wien 1966, 40. Unter dem Aspekt des Aufwands kann man dann auch darüber nachdenken, ob es rentabel ist, dass an den Schulen Französisch gelernt wird. Landeskunde-Test-Filme 315 sein Arbeitgeber verwerten kann. Übrigens ist das eine keineswegs neue Zielsetzung: Louis-Michel Lepeletier entwarf 1793, während der Schreckensherrschaft, ein Schulprogramm, das solche mit standardisierten Kompetenzen ausgestattete, flexibel einsetzbare Arbeitskräfte hervorzubringen versprach. Die OECD müsste ihm ein Denkmal setzen, war er doch ein früher Vertreter des „ökonomischen Imperialismus“, vor dem auch manche Didaktiker, in Unkenntnis der ökonomischen und ideologischen Hintergründe, einen Kotau machen. 17 Dass sie das tun, ist höchst befremdlich, viel befremdlicher als die Tatsache, dass einige Didaktiker sich noch nicht mit den Standards abgefunden haben. 18 Dabei hätte die Didaktikforschung ein Eigeninteresse, denn wenn sich die OECD-Schule durchsetzt, gibt es nur noch Tests und die Vorbereitung darauf, was man dann „erweiterte Schulautonomie“ nennt. 19 Es ist also zu hoffen, dass die eigensinnigen Didaktiker durchhalten, denn was man bisher an Realisationen von Standards in Zentralklausuren, Modulen oder Abituraufgaben sehen konnte, ist äußerst peinlich: Da gibt es orthographische und grammatische Fehler, variierendes Abschreiben wird als Analyse ausgegeben, und manche Aufgabensteller präsentieren Texte, die sie nachweislich selber nicht verstanden und nur zum Teil überhaupt gelesen haben. Von der 17 Der Begriff des „ökonomischen Imperialismus“ bezeichnet den Versuch der neoliberalen Ökonomie eines Milton Friedman und anderer Theoretiker der Chicagoer Schule, nicht nur die Herrschaft über ganze Volkswirtschaften zu gewinnen, sondern die Wirtschaftstheorie auch als umfassende Erklärung aller menschlichen Tätigkeit zu etablieren: „Indeed, I have come to the position that the economic approach is a comprehensive one that is applicable to all human behavior.“ (Gary Stanley Becker, The Economic Approach to Human Behavior, Chicago 1976, 8). Cf. Silja Graupe, „Die Macht ökonomischer Bildung. Das ökonomische Menschenbild und sein Einfluss auf das Demokratieverständnis“ in: Ursula Frost / Markus Rieder-Ladich (ed.). 2013. Demokratie setzt aus. Gegen die sanfte Liquidation einer politischen Lebensform. Vierteljahresschrift zur wissenschaftlichen Pädagogik. Sonderheft, 85-112. Jüngst hat der Bildungswissenschaftler Volker Ladenthin in einem Interview darauf aufmerksam gemacht, dass die mit Tests wie PISA von der OECD durchgesetzten Standards „unser Bildungssystem zunehmend darauf reduzieren, Menschen nur noch für kurzfristige und begrenzte Zwecke auszubilden, und nicht mehr als Menschen und ganze Personen zu bilden“. „PISA gefährdet unser Bildungssystem“ in: Wirtschaftswoche, 2. Dezember 2013 http: / / www.wiwo.de/ erfolg/ campus-mba/ bildungsforscher-volker-ladenthin-pisa-gefaehrdet-unser-bildungssystem/ 9149594.html (Zugriff 5. 12. 2013). 18 Befremdlich findet das Bernd Tesch in einer Rezension in Französisch heute (2) 2013, 87. Ein Student aus Köln, Sascha Frick, schreibt 2013 zum Begriff der Bildungsstandards: „Der Begriff allein ist paradox und führt den klassischen Bildungsgedanken, der gerade die Einzigartigkeit der sich bildenden Individuen stark macht, ad absurdum.“ http: / / www.avwernsing.de/ roseprintemps.html#bildenz (5. 12. 2013). 19 Den Begriff kann man einem Zitat entnehmen, das Sylvia Löhrmann im Vorwort der Kernlehrpläne (2013) anführt: „Klare Ergebnisorientierung in Verbindung mit erweiteter Schulautonomie und konsequenter Rechenschaftslegung begünstigen gute Leistungen.“ 316 Armin Volkmar Wernsing Banalität der ausgewählten Texte, der Inhaltslosigkeit mancher Aufgaben und, bei Aufgaben in Testform, von der Gängelung des Verstehensprozesses gar nicht zu sprechen. Das ist Anti-Aufklärung. Man kann nachempfinden, dass Leute wie der Mathematik-Didaktiker Meyerhöfer glatt die Abschaffung des Instituts mit dem prätentiösen Namen „IQB“ fordern. So weit will der Verfasser nicht gehen, schon deshalb nicht, weil die Ausführenden dieses Prozesses nichts Böses im Schilde führen, sondern, wie Wolf Wucherpfennig ausführt, „gutgläubig“ sind 20 und ihr Handwerk als Testkonstrukteure gut verstehen. 21 Freilich muss man sich fragen, ob die Schule eine demotivierte Lehrergeneration überleben kann, die, vom Bologna-Prozess gebeutelt, als Lehrer ihrer beruflichen Autonomie beraubt, Schüler nach den Prinzipien der Testinstitute unterrichten müssen. 22 Das Prinzip Hoffnung lässt wünschen, dass in Berlin irgendwann einmal eine solide und humane Bildung ins Auge gefasst werden werde, wie sich das nicht nur der Philosoph und ehemalige Staatssekretär Nida-Rümelin (2013) erträumt. Immerhin hatte einer dort vor zweihundert Jahren so etwas gedacht. Zu befürworten hingegen ist, dass wir unsere Schüler derweil das Fragen lehren. So wie es eine Schülerin aus Hildesheim gemacht hat, die den Filmautor nach dem Sprachenturnier in Weimar anschrieb. Sie brachte vielerlei Fragen vor, warum der 20 Wolf Wucherpfennig, „Kontrollgesellschaft“ in: Posts; http: / / ruc-dk.academia.edu/ WolfWucherpfennig (11.7.2013). 21 Was nicht bedeutet, dass die Messung durch Tests irgendeine valide Aussage über die Schülerleistung macht: „Die Vorstellung, Schülerleistungen ließen sich in einem Test objektiv oder mit angebbaren Fehlermargen - gleichsam physikalisch messen, ist schlicht (und) irreführend. Folgerungen aus solcher Vorstellung mehr als fragwürdig. Wird dies in Abrede gestellt, verschwiegen oder das Gegenteil prätendiert, liegen in aller Regel massive Erkenntnisinteressen der Auftraggeber oder -nehmer der Testungen vor.“ Thomas Jahnke, „Teaching to the Test - Erfahrungen aus den USA“ in: Stefan T. Hopmann / Gertrude Brinek / Martin Retzl (ed.): PISA zufolge PISA/ PISA According to PISA. Wien u. Berlin: LIT-Verlag. 2007, S. 305 -320. Im jüngsten PISA-Test (2013) wird Leseverstehen u. a. dadurch gemessen, dass die Sätze einer Inhaltsangabe in die richtige Reihenfolge gebracht werden sollen. 22 In Finnland hat man wohlweislich auf solche Maßnahmen verzichtet. Die „Zeit“ berichtet: „Die meisten [finnischen Grundschullehrer] aber machen deutlich, dass sie ihren Beruf infrage stellen würden, wenn ihre Autonomie im Klassenzimmer und in der Schule generell eingeschränkt werden würde, wenn ihre Arbeit plötzlich von Inspektoren oder die Leistung ihrer Schüler durch externe Testverfahren bewertet werden würde. [...] Standardisierung ist für uns der größte Feind von Kreativität und Innovation in Schule.“ Jeanette Otto, „’Wir vertrauen ihnen’ Ein Gespräch mit dem finnischen Bildungsexperten Pasi Sahlberg über die Suche nach den talentiertesten Lehrern und andere Geheimnisse des Schulerfolgs“, Die Zeit, 5. September 2013, 67. In Frankreich hingegen hat die konservative Partei UMP eben ein neoliberales Schulprogramm veröffentlicht, das fortwährende Beurteilungen von Lehrern wie Schülern fordert sowie größere Schulautonomie, die dadurch erzielt werden soll, dass das Budget einer Schule sich nach der Anzahl der Schüler richten soll. (Le café pédagogique. net, September 2013). Landeskunde-Test-Filme 317 Film so und nicht anders gemacht sei. Und so kam das Gespräch nach dem Test zustande, das allen Teilnehmern in der Schluss-Sequenz anboten worden war. Der wichtigste Satz findet sich in einer späteren Mail: „Es stimmt,“, sagt Carolin, „wo ich so darüber nachdenke, scheint es fast absurd, dass Lehrer sich immer die Fragen ausdenken, wo doch die Schüler eigentlich vor Fragen überlaufen müssten.“ Wie wahr und wichtig für diejenigen, die wirklich an schulischer Qualität interessiert sind. Um auch einmal ein ökonomisches Argument zu benützen, wie man das heutzutage so gern tut: Was soll aus einem Land werden, das ohne Rohstoffe ist und daher Erfinder braucht? Leute eben, die Fragen nicht nur beantworten, sondern sich auch stellen können? Die kreativ sind? Leider gibt es kein Potenzmittel für die Schule, ‒ auch Hör-Sehverstehen ist keines ‒ sondern nur ein paar Zutaten, die freilich für Menschen, die selber denken, sehr bekömmlich sind. Becker, Gary Stanley. 1976. The Economic Approach to Human Behavior. Chicago. Bildungstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch / Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18. 10. 2012) [PDF ohne weitere Angaben]. Cazals, Bastien. 2009. Je suis prof et je désobéis. Montpellier: Indigène. Frick, Sascha. „Bildung vs. Kompetenz“. http: / / www.avwernsing.de/ roseprintemps. html#bildenz (3. 12. 2013). Graupe, Silja. 2013. „Die Macht ökonomischer Bildung. Das ökonomische Menschenbild und sein Einfluss auf das Demokratieverständnis“, in: Ursula Frost / Markus Rieder-Ladich (ed.): Demokratie setzt aus. Gegen die sanfte Liquidation einer politischen Lebensform. Vierteljahresschrift zur wissenschaftlichen Pädagogik. Sonderheft, 85-112. [Hattie-Studie, Kritik ohne Verf.]. http: / / visible-learning.org/ de/ kritik-an-der-hattiestudie-visible-learning/ (3. 12. 2013). IQB: http: / / iqb.hu-berlin.de/ (6. 7. 2013) Die zitierte Stellenanzeige von Juli 2013 ist nicht mehr im Netz. Jahnke, Thomas. 2007. „Teaching to the Test - Erfahrungen aus den USA“, in: Hopmann, Stefan T. / Brinek, Gertrude / Retzl, Martin (ed.): PISA zufolge PISA/ PISA According to PISA. Wien u. Berlin: LIT-Verlag, 305 -320. Keil, Eberhard. 2013. „Wort zum Sonntag: „Chancenspiegel“ und „Chancengerechtigkeit“, http: / / bildung-wissen.eu/ wp-content/ uploads/ 2013/ 07/ Keil_chancengleichheit.pdf (3.12.2013). Kulturkommision des Europarates (ed.). 1966. Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand. Wien, Frankfurt u. Zürich: Europa Verlag. Ladenthin, Volker. „PISA gefährdet unser Bildungssystem“, Interview mit Jens Wernike in: Wirtschaftswoche, 2. 12. 2013. http: / / www.wiwo.de/ erfolg/ campusmba/ bildungsforscher-volker-ladenthin-pisa-gefaehrdet-unser-bildungssystem/ 9149594.html (5. 12. 2013). Löhrmann, Sylvia. 2013. „Vorwort“, in: Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium / Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen Französisch, 3. 318 Armin Volkmar Wernsing Meyerhöfer, Wolfram. 2013. „Empirische Gewissheit gibt es nicht“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 9. 2013, Nr. 225, 7. Nida-Rümelin, Julian. 2013. Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg. Otto, Jeanette. 2013. „’Wir vertrauen ihnen’ Ein Gespräch mit dem finnischen Bildungsexperten Pasi Sahlberg über die Suche nach den talentiertesten Lehrern und andere Geheimnisse des Schulerfolgs“, in: Die Zeit, 5. September 2013, 67. Reimann, Daniel. 2016. „Was ist Sehverstehen? Vorschlag eines Modells für den kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht“, in: Reimann, Daniel / Michler, Christine (ed.): Sehverstehen im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr, 19-33. Schütte, Andre. 2013. „Bildungswissenschaft“. www.bildung-wissen.eu/ glossen/ bildungswissenschaft.html (3. 12. 2013). Tesch, Bernd. 2011. „Bausch, Karl-Richard u.a. Fremdsprachen lehren und lernen: Rück- und Ausblick. Arbeitspapiere der 30. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts.“ Tübingen: Narr [Rezension]. Französisch heute (2) 2013, 86-87. Wernsing, Armin Volkmar. „Messen und indoktrinieren“ http: / / bildung-wissen.eu/ wp-content/ uploads/ 2013/ 11/ wernsing_kliemekritik1.pdf (3. 12. 2013). Wucherpfennig, Wolf. 2013. „Kontrollgesellschaft“ in: Posts. http: / / ruc-dk.academia. edu/ WolfWucherpfennig/ Posts (11. 7. 2013). Wucherpfennig, Wolf. 2013. „Kulturbegegnungsstudien“ in: Posts. http: / / ruc-dk. academia.edu/ WolfWucherpfennig/ Posts (3. 12. 2013). Analytische und interpretatorische Kompetenz durch Sehverstehen Heide Schrader Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden Zum Einsatz von Kunstbildern im Französischunterricht Einleitung Die Annäherung an Kunstbilder ist ein Prozess. Schon nach dem ersten Blick besteht in der Regel eine globale Orientierung, der sich dann die Detailauswertung anschließt. Wohin das Auge blickt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, zunächst vom Bild selbst und vom Betrachter. Beide, das ästhetische Objekt und das betrachtende Subjekt, strukturieren den Rezeptionsprozess. Das Bild entfaltet seine strukturierende Macht und lässt den Betrachter auf Inhalt und Komposition achten. Der Betrachter wiederum bringt ins Spiel, was er empfindet, weiß, erinnert und assoziiert. Im Unterricht wird die Bildwahrnehmung zusätzlich von einem dritten Faktor bestimmt, der dem Bild zugedachten Funktion. Wahlweise nutzen wir Bilder als Mittel der Motivation, zur Veranschaulichung, als Gedächtnisstütze oder als Sprech- und Schreibanlass (cf. u.a. Schiffler 1973, Germain 1973, Brandi/ Dommel/ Helmling 1988, Reinfried 1992, Scherling/ Schuckall 1992, Macaire/ Hosch 1996). Im Fremdsprachenunterricht wird gern zu Bildmedien gegriffen, erlauben sie doch in vielen Situationen in Sekundenschnelle ein Globalverständnis. Die Beschäftigung mit dem Kunstbild stellt allerdings einen Sonderfall dar. Die ästhetische Zielsetzung des Kunstwerkes und die in ihm enthaltene Fremdheit verzögern die Verarbeitung und Interpretation der Bilddaten. Sie brauchen Zeit. Voraussetzung ist aber auch eine entwickelte Sprachkompetenz. Um das Sehverstehen im Kontext der Betrachtung von Kunstbildern zu qualifizieren, benötigen wir fast zwangs läufig die Sprache. „Wenn wir (differenzierter ) sehen wollen, brauchen wir mehr Unterscheidungs angebote“. So formuliert Schmidt (1995, 24) in seinem Aufsatz „Ü ber die Funktion von Sprache im Kunstsystem“ . Unterscheiden aber ist unlösbar mit Benennen verbunden. Wir brauchen die Sprache als differentielles System von Unterscheidungen, damit wir unsere Unterscheidungskapazität entfalten. Ein Grund mehr, Bildbetrachtung und Sprachenlernen zu verbinden. In den Handlungsfeldern des Französischunterrichts bestehen vielfältige Möglichkeiten, die Betrachtung von Kunstbildern mit dem Sprachenlernen zu 322 Heide Schrader verschränken. Welches Potential im Zusammenspiel von Kunstbild und Fremdsprache steckt und wie sich Sehverstehen und Sprachkompetenz zugleich entwickeln lassen, wird im Folgenden untersucht. Dabei soll es vor allem um die Rolle aufmerksamen, genauen Arbeitens gehen und um die Emotionalität und Kreativität der Lernenden. Aufmerksamkeit und Konzentration stärken Informationsflut und Bilderschwemme prägen viele Bereiche des gegenwärtigen Lebens. Nicht alles können oder wollen wir wahrnehmen und verarbeiten. Unsere Aufmerksamkeit sorgt für radikale Auswahl. Manche Reize nehmen wir unwillkürlich wahr, ob wir wollen oder nicht. Sie können unsere Zuwendung quasi erzwingen, wenn auch oft nur für kurze Zeit. Der zugrunde liegen de biologische Mechanismus wird als „le benswichtiger Orientierungsreflex“ (Ball staedt 2004, 624) bezeichnet. Bei der willkürlichen Aufmerksamkeit handelt es sich um eine absichtliche Zuwendung, um eine aktive Informationssuche. Auch diese Art der Aufmerksamkeit kann schnell erlahmen. Angesichts der Zunahme an Bildern sprechen manche von einer visuellen Wende oder stellen gar den Umbruch fest von einer sprachzu einer bildzentrierten Kultur (Ballstaedt/ Hesse 2000; Huber/ Lockemann/ Scheibel 2002). Damit im Zusammenhang diskutiert wird die Frage, ob wir durch pausenlose Bildangebote überfordert werden oder ob diese uns eher fordern und unsere Fähigkeiten stimulieren und fördern. Immerhin meint man, dass Jugendliche heute eine um 30 Prozent höhere visuelle und akustische Wahrnehmungsgeschwindigkeit hätten als vor zwanzig Jahren und sich somit visuell und akustisch schneller orientieren könnten (cf. Schmale 2000). Wie eingangs erläutert, sorgt die Aufmerksamkeit für Selektion und schützt uns vor Reizüberflutung. Menschen verfügen von Natur aus über effektive Mechanismen, um Informationen zu registrieren und zu verarbeiten. Im Ergebnis führt dies dann zu unterschiedlicher Gewichtung und Bewertung von Informationen, zu Abwehr und Verweigerung oder auch zu einer gewissen Ambiguitätstoleranz (cf. Ballstaedt 2004, 628). Vielfältige personale und soziale Faktoren geben den Ausschlag. In der Schule gehört es zu den Zielen, den biologischen Mechanismus der Aufmerksamkeit grundsätzlich zu schulen und die Informationsselektion in Lernsituationen zu steuern und zu intensivieren. Aufmerksamkeit an sich besitzt also einen Bildungswert, zugleich ist sie ein prinzipielles Mittel der Bildung. Assmann (1999) spricht davon, dass mit dem Aufmerken das Merken beginne. Die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit bedarf der gezielten Förderung und Unterstützung. Bei der Arbeit mit Kunstbildern und der Entwicklung des Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden 323 Sehverstehens bieten sich dazu vielfältige Gelegenheiten. Die kognitiven Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler divergieren, beeinflussen aber den Umgang mit Bildern und das Sehverstehen, z.B. die Betrachtungszeit und die Verarbeitungstiefe. Fördermaßnahmen können die unterschiedlichen Komponenten der Aufmerksamkeit in den Blick nehmen: die Aufmerksamkeitsaktivierung, die Ausdauer, die selektive Aufmerksamkeit und die geteilte Aufmerksamkeit (cf. Kain 2008, 20). Auf Schwächen und Defizite in diesen Komponenten wie beispielsweise das Nachlassen der Konzentration, die Ablenkung durch weniger relevante Bilddetails, die mangelnde Verknüpfung und Integration der Bildinformationen lässt sich reagieren, indem man bei der Auswahl des Bildmaterials zunächst die Komplexität und den Detailreichtum richtig einschätzt, die Aufgaben und Fragen entsprechend anpasst und schließlich die einzelnen Facetten der Aufmerksamkeit einem differenzierten Training unterzieht. Die meist recht eindrucksvolle Bildpräsentation über den Beamer bietet spezifische Möglichkeiten, die Aufmerksamkeit zu wecken, den Blick zu lenken und zu halten, die Konzentration immer wieder neu auf einzelne Bildsegmente zu verlagern. Auch Faktoren wie Sehgewohnheiten, Alter, Temperament und Geschlecht der Lernenden gilt es zu berücksichtigen, schließlich ist die Bildwahrnehmung eine individuelle Interaktion zwischen Bild und Betrachter. Bilder werden nicht sofort in ihrer Gesamtheit erfasst, sondern in Einzelheiten zerlegt. Man kann diesen Vorgang mit dem Schwenk einer Filmkamera vergleichen (cf. Sturm 1990, 34). Das Auge ruht nicht auf einem Punkt, sondern tastet das Bild ab. Wie das Auge ‚schwenkt’, hängt von verschiedenen Faktoren ab, einerseits vom Bild selbst und dem Kontext, dem das Bild zuzuordnen ist, und andererseits von den Erwartungen, Bedürfnissen und Vorstellungen des Betrachters. Dass die Wahrnehmung gewissermaßen von zwei Seiten beeinflusst wird, hat die Kognitionspsychologen veranlasst, zwischen datengesteuerter (bottom-up) und konzeptgesteuerter (top-down) Wahrnehmung zu unterscheiden. Interessant ist die Frage nach dem Zusammenspiel der Prozesse in den verschiedenen Situationen. Zunächst ist festzuhalten, dass Bilder unserem Blick oft nur fragmentarische Merkmale von Personen, Gegenständen oder Ereignissen bieten. Bei einer tiefenräumlichen Staffelung etwa wird für das Auge immer nur sichtbar, was nicht durch andere Dinge verdeckt ist. In anderen Fällen werden die abgebildeten Objekte, in die Tiefe gehend, zunehmend kleiner. Sie verlieren an Konturschärfe, ihre Formen vereinfachen sich, und die Häufung gleicher Dinge wird zum Muster einer entfernten Oberfläche. Merkmalsfragmentierung erfolgt schließlich auch und ganz wesentlich durch die Begrenzung des Bildes. Jedes Bild ist so gesehen von vornherein in gewisser Weise offen (cf. Braun 1987, 111). 324 Heide Schrader Die Reduzierung der Bildinformation stellt in der Alltagsroutine der visuellen Kommunikation kein Problem dar, solange in den verbliebenen Fragmenten die charakteristischen Merkmale der Dinge noch erkennbar sind, denn das Verstehen basiert auf dem Ergänzungsprinzip (cf. Braun 1987, 107). Bildproduzenten und Bildbetrachter folgen einem ungeschriebenen Gesetz: Bilder reduzieren und Wahrnehmung ergänzt. Wenn die Bilder einen bestimmten Grad der Unterdeterminiertheit erreichen, wird das Ergänzen zu einer Herausforderung für den Betrachter. Wandelt sich Offenheit in Mehrdeutigkeit, erhöht sich die Aufmerksamkeit noch einmal beträchtlich. Deutungsambivalente visuelle Reizvorlagen erfordern das ganze Engagement des Betrachters. Dies ist bei Kunstbildern häufig der Fall. Sie verlangen Konzentration und verlangsamen den Wahrnehmungsprozess. Die intensive Beschäftigung mit einem Kunstbild regt das Sehenlernen an, denn verlangt wird nicht das flüchtige Hinsehen, wie es sich bei Bildern im Alltag einstellt. Das Kunstbild lädt aufgrund seiner spezifischen appellativen Qualität zum Verweilen des Blickes ein. Es fordert sozusagen auf, einen Spaziergang durch die Bildlandschaft zu unternehmen, das Bild dabei schrittweise zu erschließen (cf. Charpentier/ Cros/ Dupont/ Marcou 1995, 248). Wenn unterschiedliche Personen versuchen, fehlende oder unklare Reizelemente durch ihr individuelles Vorwissen eindeutiger zu machen, können sie zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen in der Wahrnehmung kommen. Das führt auch zu einem erhöhten Bedarf an Austausch. Für einen Fremdsprachenunterricht, der permanent auf der Suche ist nach authentischen Anwendungen für die Sprache, empfehlen sich Kunstbilder dadurch umso mehr. Sie sorgen nicht nur für erhöhte Aufmerksamkeit, sondern auch für verstärktes Interesse an Kommunikation. Im Fremdsprachenunterricht herrscht eigentlich kein Mangel an Bildern. Das Lernen mit Bildern ist eine Selbstverständlichkeit geworden, vor allem im Zuge der sogenannten pragmatischen oder kommunikativen Wende. Bilder lassen Handlungsrahmen und Kommunikationsräume entstehen. Sie geben Themen, Rollen und Intentionen vor. Bilder ebnen das Textverständnis, steuern Übungen und erklären strukturelle Zusammenhänge. Dem Ziel, Sprache als Mittel zur Verständigung im Alltag und als Teil des sozialen Handelns zu vermitteln, ist auch das Angebot an Bildern verpflichtet. Die funktional-situativ exakt definierten Kommunikationsmuster spiegeln sich in der Welt der Bilder. Dominierend sind die klaren und leicht verständlichen didaktischen Bilder. Innerhalb von wenigen Sekunden verarbeitet, gewährleisten sie eine rasche Orientierung. Ebenso schnell verlieren sie aber auch an Reiz für den Betrachter. „Das Interesse an der Entnahme von Informationen sinkt unter Umständen sehr schnell ab (…), da die Bilder scheinbar keine Herausforderung an die kognitiven Prozesse bergen.“ (Sturm 1991, 10). Kaum jemand käme auf Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden 325 die Idee, eine Diskussion zu entzünden über Unterschiede im Verständnis dieser Bilder, denn der Interpretationsspielraum, den die Lehrbuchabbildungen im Allgemeinen bieten, ist gering. Als Impuls zum freien Sprechen oder zum persönlichen Schreiben etwa eignen sich die Lehrbuchabbildungen auf Grund ihrer Geschlossenheit nicht. Aus der Reserve gelockt werden die Schüler höchstens durch die Kleidung und die Frisuren der abgebildeten Personen. Für eine Phase der freien Anwendung von sprachlichen Kenntnissen, sei es beim Sprechen oder Schreiben, benötigt man anderes Bildmaterial. Geeigneter sind Bilder, die den Betrachter zu ungesicherten Vermutungen veranlassen, bei denen es kein richtig oder falsch gibt. Offenheit und Fremdheit, die herausfordert, findet man eher bei den Kunstbildern und in der Literatur. Ein kurzer Vergleich sei hier erlaubt. Hunfeld (1990) fordert die Normalität des Fremden und er plädiert dafür, mehr Realitäts- und Fremdheitserfahrung zuzulassen und die Lernenden sich an einem deutlichen Gegenüber erproben zu lassen. Hunfeld ist der Ansicht, dass gerade die Literatur, die ihrem Leser spontanes Verstehen verbiete, zunächst also bewusst Distanzen markiert, von ihm Mühe verlangt, besonders geeignet sei, im Fremdsprachenunterricht auf die Begegnung mit dem Fremden vorzubereiten. Jene Texte, die auf Überraschung, Widerspruch und Verfremdung aus seien, forderten Lernende am stärksten heraus (cf. Hunfeld 1990, 62). Hunfeld provoziert ein wenig, wenn er anmahnt, dass latente Grenzen des Verstehens notwendig seien und die Distanz zum Fremden nicht nivelliert werden dürfe. Aber man kann ihm wohl zustimmen, dass das Fremde, das im Angebot der Literatur implizit ist, im Fremdsprachenunterricht stärker produktiv gemacht werden sollte. Ich meine, dass das auch für das Fremde im Kunstbild gilt. Bilder, die Aufmerksamkeit beanspruchen und Konzentration beim Betrachter hervorrufen, öffnen Wege ins Gedächtnis und können auch den sprachlichen Lernprozess intensivieren. Wählen wir interessantes visuelles Material für den Unterricht aus und bearbeiten die Lernenden dies mit spezifischen Arbeitsaufträgen und Beobachtungsaufgaben, so wird die Aufmerksamkeit gesteigert. Die Lerner konzentrieren sich auf einen klar definierten Fokus, und eine oberflächliche Verarbeitungstiefe wird gemieden (cf. Harms 2005, 251). „Das Innehalten und Entschleunigen ist eine wichtige Fähigkeit, die in einem lernerzentrierten Unterricht mit Bildmedien erworben wird. (...) Die Lernenden folgen den Inhalten aufmerksam und verknüpfen diese mit ihrem Vorwissen: sie lernen.“ (Sass 2007, 6). Sie betrachten Bilder einmal in Ruhe und lassen sie auf sich wirken. 326 Heide Schrader Genaues Hinsehen und Formulieren fördern Die tagtägliche Konfrontation mit einer Vielzahl von Bildern unterschiedlichster Herkunft ist zur Normalität geworden. Einzelne Bilder aus Internet, Fernsehen oder Printmedien üben Einfluss auf unser Leben aus, ebenso wie aber auch die aus deren Zusammenspiel resultierenden multimedialen Prozesse und unsere Wahrnehmungs weisen bildhafter Konstruktionen (…) sie prägen auf jeden Fall in ganz entscheidendem Maße individuelle wie gesellschaftliche Entwicklungen (Schoppe 2011, 13). Angesichts der Häufung beziehungsweise ständigen Verfügbarkeit bildhafter Produkte bestehe allerdings die Gefahr, dass diesen mit wachsender Gleichgültigkeit in der Wahrnehmung oder Oberflächlichkeit im Umgang begegnet werde. Die Wertschätzung des Bildes als Informationsträger und Kommunikationsmittel, letztlich als Bestandteil von Kultur, stelle daher ein übergeordnetes Lernziel dar (cf. Schoppe 2011, 181). Sicherheit im Umgang mit den zentralen Charakteristika von Bildern begreift Schoppe als eine künftige Kernkompetenz, die es im schulischen Unterricht ganz verschiedener Fächer zu entwickeln gelte. Eine Bilddidaktik allerdings, mit deren Hilfe eine gründliche, innerhalb der Ziele und Kontexte des jeweiligen Faches nützliche und den Bildern gerecht werdende Integration in den Unterricht fundiert werden kann, sei erst im Entstehen (cf. Schoppe 2011, 26). Schoppe bezieht sich dabei u.a. auf Hallet (2008), der für den Fremdsprachenunterricht feststellt, dass eine fremdsprachendidaktische Theorie, die die Fähigkeit der Lernenden erfasst, Bilder zu verstehen und mittels Bildern zu kommunizieren (visual literacy), noch in den Anfängen stecke (cf. Hallet 2008, 213). Dabei werden Bilder doch schon sehr lange erfolgreich im Fremdsprachenunterricht verwendet. Als besonders aussagekräftig hinsichtlich der Verbindung von Bild und Spra che gilt immer noch Comenius’ Lehrbuch „Orbis sensualium pictus“ . Jede Lektion wird eingeleitet mit einer Abbildung, einem Holzschnitt. Es folgen erläuternde Texte mit neuen Vokabeln. Diese sind nummeriert und über die Zahlen im Bild erschließt sich ihre Bedeutung. Comenius’ Lehrbuch sollte gleich mehreren Zwecken dienen. Zunächst war es Bilderbuch für das Vorschulalter, später Fibel im muttersprachlichen Leseunterricht und schließlich Lehrbuch für das Fremdsprachenlernen. Diese Reihenfolge sollte es allen Schülern ermöglichen, mit jedem Wort eine klare Vorstellung zu verbinden. Comenius äußerte die Erwartung, dass die Schüler mit dieser dreiphasigen Methode fremde Sprachen „umso leichter lernten, da sie die Dinge schon kennten und nur neu benennen müssten“ (Comenius 1954, 195). Anschauung war im „Orbis sensu a lium pictus“ wie auch in zahlreichen nachfolgenden Lehrbuchgenerationen in Mutter- und Fremdsprachenunterricht ein wichtiges Prinzip des Lernprozesses. Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden 327 Bilder können bestimmte Informationen schneller und genauer vermitteln als lange Erklärungen. Eine Abbildung lässt häufig sehr viel leichter den Gegenstand erkennen, der mit einem bestimmten Wort bezeichnet wird, als eine Definition. Auch die heutigen Bildwörterbücher bedienen sich des von Comenius benutzten Prinzips der mittels Nummerierung herstellbaren Zuordnung von Bild und Bezeichnung. Für Französischlehrende wie -lernende kann es außerordentlich hilfreich sein, eine bildliche Vorstellung geliefert zu bekommen von Begriffen wie Rakelstreicher (fonceuse à râcles), Bramstengestag (draille de clin-foc) oder Grätschwinkelstütze (l’équerre au sol). Und wer kann sich schon etwas vorstellen unter den verschiedenen Griffarten beim Geräteturnen: Zwiegriff am Reck (la prise mixte à la barre fixe), Ellgriff am Reck (prise cubitale à la barre fixe), Ristgriff am Reck (prise simple à la barre fixe). Wenn deutsch-französische Wortgleichungen den Dienst versagen und Erklärungen zu umständlichen Beschreibungen auszuufern drohen, schafft ein Bildwörterbuch rasch Aufklärung. Auf einer einzigen Seite wird mitunter der Wortschatz eines ganzen Lebensbereiches illustriert. Die Funktion des Bildwörterbuches verkehrt sich allerdings mitunter ins Gegenteil. Man ist dann froh, wenn beispielsweise zu dem Bild einer Quarkverpackungsmaschine eine Bezeichnung geliefert wird: installation de production de fromage blanc (Dudenredaktion 1994, 147). Wissen ist auch bei Bildern Voraussetzung, um mit dem Abgebildeten etwas zu verbinden. Die Bildtafeln im Bildwörterbuch veranschaulichen nicht nur, sie liefern zugleich auch thematisch geordneten Wortschatz. Mit einem Blick kann man ein ganzes Sachgebiet erfassen. Die Reichhaltigkeit des Wortschatzes und die Art der Veranschaulichung machen das Bildwörterbuch zu einer guten Ergänzung im Französischunterricht. Kombiniert man ein Kunstbild mit einem thematisch passenden Wortfeld, kann das eine ähnliche Funktion erfüllen. Auf einfache Weise lassen sich Wortbedeutungen erklären. Andererseits werden mit Hilfe des Wortfeldes die Bildbetrachtungen genauer und differenzierter. Methodisch sollte die Aufgabe der Bildbeschreibung abwechslungsreich und anregend gestaltet werden, weil dieser Aufgabentyp häufig vorkommt. Man kann beispielsweise eine bereits erstellte Bildbeschreibung vorlegen, dann aber deren Lektüre durch Textlücken erschweren. Das macht es interessanter und aktiviert die Leser. Die Aufgabe besteht in diesem Fall nicht in der Bildbeschreibung selbst, sondern im Füllen von Textlücken mit Hilfe vorgegebener Begriffe und im richtigen Zuordnen dieser Begriffe zu den betreffenden Bildsegmenten durch Zahlen. Umgekehrt kann aber auch das zu beschreibende Bild zunächst als Puzzle bereitgestellt werden. Bestimmte Textpassagen der zum Bild mitgelieferten Beschreibung müssen dann durch Pfeile mit den passenden Bildausschnitten verbunden werden. Das können mögliche Vorübungen für das selbstständige Verfassen einer Bildbeschreibung sein, für die die bearbeiteten Texte dann als Muster dienen. 328 Heide Schrader Wie vielfältig sich die Betrachtung und Beschreibung von Kunstbildern mit Wortschatzübungen verbinden lässt, zeigt „Eva & Vincent“ (Plisson/ Olivier 1997), ein Material für den Anfangsunterricht Französisch. In Form eines Comics wird die Geschichte eines Mädchens erzählt, das malen lernen möchte. Evas großes Vorbild ist Vincent van Gogh. Auch über ihn erfährt der Leser einiges in den Sprachübungen rund um seine Meisterwerke. Die spielerischen Aktivitäten sollen mit Spaß und Humor helfen, sich Vokabeln und grammatische Strukturen der französischen Sprache einzuprägen. Zweifellos eignen sich die von Plisson und Olivier ausgewählten Gemälde Vincent van Goghs besonders gut für den Unterricht, aber die Übungstypen lassen sich auch auf vergleichbare Bilder anderer Maler übertragen.  Porträt: Körperteile benennen / Angaben zur Identität zuordnen (Van Gogh: „Le Portrait du docteur Gachet“, „Fillette nue assise“).  Stilleben: Die abgebildeten Objekte bestimmen, die Namen der Farben zuordnen (Van Gogh: „Vase avec un bouquet de fleurs“, „Nature morte avec cafétière, vaisselle et fruits“, „Nature morte avec raisins, pommes, citrons et poire“).  Landschaft: Details der Landschaft, der abgebildeten Gebäude und Bauwerke bezeichnen (Van Gogh: „Vue des Saintes-Maries“, „La Maison jaune“, „Barques aux Saintes-Maries“, „Le Pont d’Asnières“). „Eva & Vincent“, das in Italien produzierte Übungsbuch, ist ein gelungener Einstieg in die Welt der Kunst und der französischen Sprache. Ein besonderer Typus des Kunstbildes soll an dieser Stelle empfohlen werden, bei dem sich genaues Hinsehen und Formulieren gut verbinden lassen. Es geht um das Interieur. Konzentrieren wir uns bei der Interieurmalerei auf Darstellungen privater Räume, dann ist das Interieur oft ein Ort der Intimität, ein Refugium der Selbstfindung. Über den Raum können wir den Blick in die Seele seiner Bewohner lenken. Leere Stühle, Bilder und Tapeten, Musikinstrumente, flatternde Gardinen und verstreute Pantoffeln sind die mitunter sorgsam ausgesuchten Requisiten psychischer Befindlichkeit. Aber nicht nur die Gegenstände, durch die das Interieur konstruiert wird, ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Auch das Licht und die Farben, die die Bildräume modellieren. Die Dramaturgie der Ausleuchtung und koloristisches Raffinement charakterisieren das Interieur (cf. Schulze 1998, 9). Innenräume und das Leben in diesen Räumen sind von jeher auch ein Thema im Fremdsprachenunterricht. In jedem Anfangsunterricht treffen wir sie an, die Lektionen über die eigenen vier Wände und die darin verbrachte Freizeit. Vieles ist den Schülern bestens vertraut. Im häuslichen Bereich kennt sich jeder aus. Dem Vokabular zur Bezeichnung von Einrichtungsgegenständen und alltäglichen Lebensabläufen begegnen die Schüler immer wieder. Die hohe Vorkommenshäufigkeit im Gebrauch der zu erlernenden Sprache Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden 329 sorgt dafür. Von daher ist im Laufe des Unterrichts immer wieder einmal Gelegenheit, auf den großen Fundus an Innenraumdarstellungen in der Bildenden Kunst zurückzugreifen. Auf dem Gang durch fremde Räume gibt es viel zu sehen, sorgsam ausgewählte Möbel, persönlich arrangiertes Dekor, allerlei Requisiten, Stoffe und Materialien in vielen Farben. Vielleicht auch ein Blick in Nebenräume, auf eine Landschaft vor dem Fenster oder auf Bewohner der Räume. Die Vielzahl möglicher Blickpunkte gilt es zu reduzieren. Im Anfangsunterricht sollte man sich der Einfachheit halber auf meubles und couleurs beschränken. Später können weitere Themen folgen: costumes, coiffures, visages, bijoux, ustensiles de table, appareils. Wortschatzübungen in diesem Bereich können sehr vielfältig sein: Einrichtungsgegenstände benennen und genau beschreiben, fehlende Gegenstände entdecken, Farben bestimmen, fehlerhafte Bildbeschreibungen korrigieren, durch eine Fenster- oder Schlüssellochschablone in das Interieur blicken, das Bild nach Diktat zeichnen und Gegenstände hinzufügen. Die Bildbetrachtung ist an sich bereits ein komplexer Vorgang. Noch schwieriger wird es, andere am eigenen Sehen teilhaben zu lassen, die Bilder für andere zu beschreiben. Mit dieser Schwierigkeit sieht sich häufig auch die Kunstkritik konfrontiert. In den Anfängen der Kunstkritik hat vor allem der französische Aufklärer und Literat Denis Diderot originelle Methoden entwickelt, Bilder lebendig werden zu lassen. Im „Salon de 1767“ bedient sich Diderot eines Kunstgriffs, um Joseph Vernets Bilder zu beschreiben. Er behandelt die von Vernet dargestellte Landschaft als reale und berichtet von einem zweitägigen Aufenthalt in dieser „campagne voisine de la mer“ (Versini 1996, 594), wo er längere Wanderungen unternimmt, um die Schönheiten der Landschaft zu genießen. Die „Promenade de Vernet“ (Dieterle 1995, 59) wird zur Metapher für die Bildbetrachtung. Die systematische Bildbetrachtung im Kunstunterricht befasst sich im Wesentlichen mit drei Bereichen: der Bildbeschreibung (Beschreibung des Sichtbaren und Lesbaren), der Bildanalyse (Analyse der verwendeten Gestaltungsmittel) und der Bilddeutung (cf. Stieber 2011). Auch im Kunstunterricht, der in der Regel in der Muttersprache stattfindet, werden in diesen Bereichen Sehverstehen und sprachlicher Ausdruck gleichzeitig geschult. Einige Übungsbeispiele (cf. Stieber 2011) sollen das illustrieren:  Bildbeschreibung: Den Schülern werden zwei Bilder vorgelegt und eine Liste mit charakterisierenden Begriffen, die nun dem jeweiligen Bild richtig zugeordnet werden müssen: wild - geordnet - klar - chaotisch - lebhaft - starr - zufällig - geometrisch - rhythmisch - geradlinig - geschwungen - kantig - gerundet - überlagert - fröhlich - aggressiv - langweilig - exakt - klar begrenzt - übereinander geschichtet - konstruiert - spontan. Die Begriffe in der Liste dürften den Wort- 330 Heide Schrader schatz manches Schülers erweitern helfen und ihm dabei auch die Augen für die Besonderheiten der Bilder öffnen. Die nachfolgende Übung ist gleichfalls herausfordernd: Erstelle eine Liste der Begriffe, die sachlich beschreiben und nicht deuten.  Bildanalyse: Den Schülern wird Fachterminologie in Form einer Mindmap zur Verfügung gestellt: Form (realistisch, vereinfacht, verfremdet, abstrakt), Komposition (Goldener Schnitt, Drittel-Teilung, Dreieck, Kreis, Ellipse, Spirale, Bildlinien bzw. Kurven), Licht (irreal, realistisch, gleichmäßig, gerichtet), Farbe (realistisch, symbolisch, expressiv). Mit dem richtigen Einsatz von Adjektiven ist es aber bei der Bildanalyse nicht getan. Es müssen auch Sätze gebildet werden. Zur Unterstützung werden Sätze, die richtig zuzuordnen sind, zunächst noch vorgegeben: Die Materialien sind nicht erkennbar. / Die Dinge sind naturgetreu dargestellt. / Die Farben entsprechen nicht der Wirklichkeit. / Die Spiegelung sieht echt aus. / Die Dinge wirken dreidimensional. / Die Objekte zeigen keinen Schatten.  Bilddeutung: Da sich Deutung in der Wortwahl zeigt, werden den Schülern gut geeignete Wörter vorgegeben, um eine Deutung zu formulieren: …wirkt…, denn… …bedeutet für mich…, weil… …sieht aus, als ob…, denn… …interpretiere ich als…, weil... In dem Unterrichtsmaterial, aus dem diese Beispiele stammen, werden auch ganze Wortfelder zur Verfügung gestellt u.a. zu Haltung, Gestik, Mimik, Raum, Farbe und Wirkung. Die Autoren sind der Meinung, dass die Versprachlichung für Jugendliche ein großes Problem darstellt (cf. Strieber 2011, 21). Wenn dies schon für die Muttersprache gilt, dann vermutlich auch für die Fremdsprache. Deshalb sind solche Übungen und Materialien wichtig. Sie bringen die Schüler weiter beim genauen Hinsehen und Formulieren. Emotionale Kompetenzen ansprechen Die Betrachtung von Kunstbildern kann in unterschiedlicher Weise durchgeführt werden. Üblich ist es heute, von den subjektiven Empfindungen der Schüler auszugehen. Eine spontane Gefühlsäußerung, Assoziationen, eine unmittelbare Reaktion kann grundsätzlich und in jeder Altersgruppe am An- Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden 331 fang stehen (cf. Stieber 2011, 22). Dieses emotionale und spontane Herangehen wird in vielen Handreichungen zur Arbeit mit Bildern befürwortet und in den Unterrichtsverfahren entsprechend abgebildet. Bei der Planung müssten wir die Rezipienten, nämlich unsere Schülerinnen und Schüler, als zentrale Bezugsgröße deutlicher berücksichtigen. Unter einer solchen Fokussierung kann die Auseinandersetzung mit einem Bild nicht mehr streng analytisch und linear verlaufen. Sie findet vielmehr in einem Netzwerk statt, in dessen Zentrum der Lernende mit seinen Interessen, Vorerfahrungen und Fragen steht (Schoppe 2011, 31). Schoppe spricht denn auch lieber von Bildzugang als von Bildanalyse. In seinem Unterrichtsmodell geht er aus von einer individuellen, die ganz persönlichen Belange berücksichtigenden Annäherung an ein Bild und stellt die Interaktion von Betrachter und Bild (mit seinem dahinterstehenden Produzenten) in den Mittelpunkt (cf. Schoppe 2011, 33). Auch für Bertscheit (2001) ist es die emotional-biografisch-psychologische Anbindung an ein Bild, die gelingen müsse. Primäres Ziel des Kunst- oder Bilderlebnisses sei es, Bilder in den Interessenshorizont der Schüler zu bringen und Neugier, Entdeckenwollen, eine Fragehaltung zu provozieren. Im besten Fall führe das zu einem persönlichen Erlebnis mit dem Bild, das das Bild mit dem eigenen Ich in ganz individueller Weise verbinde. Jegliche Erarbeitung weiterer Ziele (formale Aspekte, inhaltliche Bedeutungen, historische Dimensionen, biografische Daten, interpretierende Ansätze) würden dann umso besser gelingen. (cf. Bertscheit 2001, 11f). Die emotionale Kompetenz kann bei der Betrachtung von Kunstbildern sehr gut gefördert werden, denn die Bilder sprechen die Gefühlsebene häufig direkt an. Schmidt (1995, 19) geht davon aus, dass der emotionale Aspekt bei Bildern meist stärker bemerkt wird als bei Texten. Bilder lösten spontan Interesse, Motivation, Abwehrreaktionen oder Gefallen aus. Eine ähnliche Meinung bezüglich der emotionalen Wirkung von Bildern wurde übrigens in der Epoche der Aufklärung vertreten. Seinerzeit schrieb man gerade der Kunst eine überragende Rolle zu „in der aufklärerischen Hoffnung (…) durch Empfindung und Rührung zur Moralität zu erziehen“ (Boskamp 1999, 227). Bekanntes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Radierung „Les effets de la sensibilité sur les quatre différens Tempéramens“ von Daniel Chodowiecki. Auf dem Bild betrachten vier Herren ein Gemälde, welches die ganze rechte Bildhälfte einnimmt. Dass die verschiedenen Empfindungen dieser vier Kunstkritiker gezeigt werden sollen, besagt die Bildunterschrift: „Nicht alle erschrecken in gleicher Weise über so großes Unglück“. Dass man damals meinte, die Verschiedenheit der Charaktere zeige sich besonders deutlich in der Betrachtung eines Kunstwerks, mag erstaunen. Das Beispiel ist für uns heute auch nicht mehr auf den ersten Blick nachvollziehbar. Es handelt sich bei dem 332 Heide Schrader von den vier Kunstkritikern betrachteten Gemälde um ein Historiengemälde mit dem Titel „Der Abschied des Jean Calas von seiner Familie“. Die rührselige Art der Darstellung, die uns heute eher befremdet, war damals der Schlüssel zum Erfolg. Chodowiecki selbst hatte das Ölgemälde gemalt, dessen Fassung als Druckgraphik große Verbreitung und Popularität fand. In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts bewegte die Affäre Calas, ein Justizmord aufgrund religiöser Intoleranz, Frankreich und ganz Europa. Heute löst das Bild nicht mehr sofort Gefühle aus, weil die Kenntnis des geschichtlichen Hintergrunds nur wenigen präsent ist. Dennoch zeigt das Beispiel, wie über die abgebildeten Personen das Bild ‚gelesen’ werden kann. Sind also Personen abgebildet, lassen sich die im Gesicht oder in der Körperhaltung erkennbaren Emotionen als besonderer Schwerpunkt in die Bildbetrachtung im Unterricht einbeziehen. Zur Förderung der emotionalen Kompetenz trägt auch bei, die Auseinandersetzung mit den ausgedrückten Emotionen zu vertiefen: Erörterung der Auslöser, der Ursachen und der Intensität der Gefühle. Einfühlungsvermögen und Mitgefühl lassen sich weiter entwickeln durch das Hineinversetzen in die dargestellten Personen oder Situationen. Gerade Kunstbilder ermöglichen das mit Emotionen verknüpfte Lernen, das so wichtig ist. Dies hat auch Ghislaine Rössler Vitiello (2008) berücksichtigt, von der ein Übungsmaterial für den Französischunterricht auf der Oberstufe vorliegt. Das Übungsheft enthält kreative und kommunikative Aktivitäten zu fünf Gemälden („Au bal“ von Berthe Morisot, „L’Absinthe“ von Edgar Degas, „Le déjeuner des canotiers“ von Auguste Renoir, „Une Baignade à Asnières“ von Georges Seurat, „Le rêve“ von Henri Rousseau). Der Titel des Heftes („Les tableaux, toi et moi“) deutet bereits darauf hin, worum es geht. Im Vorwort wird dann deutlich das Ziel umrissen: L’objectif principal de cet ouvrage est de créer des situations authentiques qui incitent les apprenants à s’exprimer, oralement ou par écrit, et à communiquer entre eux. En dehors de l’acquisition d’objectivs linguistiques, les activités ont pour but de développer la personnalité de l’apprenant et d’améliorer la qualité de ses rapports avec autrui. Elles développent en particulier les competences communicatives de l’apprenant, l’autonomie, la créativité et l’empathie. (…) Nous évitons de canaliser l’attention des apprenants (et de leur enseignant) en proposant des informations de genre encyclopédique sur les peintres et leur œuvre (Rössler Vitiello, 2008, 5). Diese besondere Schwerpunktsetzung überrascht vielleicht. Bei näherer Betrachtung der vielfältigen Übungen ist aber feststellbar, dass das Konzept überzeugend umgesetzt wurde. Rössler Vitiello selbst erläutert ihr Anliegen so: Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden 333 Le dossier pédagogique respecte une grande variété de méthodes et met également en valeur des tâches non linguistiques, comme le dessin et la pantomime. (…) Les activités invitent l’apprenant à établir un lien très personnel avec l’œuvre. Elles l’encouragent à exprimer ses émo tions et à laisser libre cours à son imagination et à sa créativité (Rössler Vitiello, 2008, 5). Hier ist nicht der Raum, im Einzelnen darauf einzugehen, wie die Autorin es schafft, die Lernenden einzuladen, eine persönliche Beziehung zum jeweiligen Bild aufzubauen, wie sie sie ermutigt, ihre Emotionen auszudrücken. Aber festzuhalten bleibt, dass Rössler Vitiello mit den Beispielen in ihrem Material eine gute Vorstellung davon liefert, wie Bilder spontane Reaktionen hervorrufen und Menschen ins Gespräch bringen können. Wenn es dabei mitunter zu Spannungen kommt, ist das fast schon gewollt. Rössler Vitiello geht davon aus, dass die Bilder widersprüchliche Reaktionen provozieren und daher eine gute Basis für e ine Lektion in Toleranz sind: „Savoir respec ter sa propre singularité tout en acceptant la différence de l’autre sera un premier pas vers une ouvertur e face à d’autres cultures“ (Rössler Vitiello, 2008, 4). Kunstbilder regen das Fremdverstehen an. Durch die intensive Beschäftigung mit einem Kunstwerk (und die unterschiedlichen Reaktionen darauf) gewinnen die Schüler auf anschauliche Weise Einblick in anders strukturierte kulturelle Welten. Dies hat Konsequenzen für das eigene Selbstverständnis. Das Subjekt entdeckt sich selbst in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk. Diese Arbeit hat also auch eine persönlichkeitsfördernde Funktion. Kreativität ermöglichen Will man kreatives Schreiben oder Sprechen in der Fremdsprache anregen, bietet es sich an, nach Offenheit und Unbestimmtheit im Kunstbild zu suchen und an diese Aspekte anzuknüpfen. Räumliche Offenheit entsteht, wenn das Bild nur einen begrenzten Ausschnitt der räumlichen Dimension wiedergibt. Durch die Struktur eines solchen Bildes wird der Betrachter aufgefordert, sich für das räumlich Nicht-Sichtbare zu interessieren. Bestimmte Indizien in der Darstellung können ihm Hinweise geben. Durch die zeitliche Offenheit wird der Betrachter angeregt, vorausgegangenes bzw. folgendes Geschehen zu (re)konstruieren. Mit der zeitlichen Dimension hängt oft eine Kausalität zusammen. Zwischen dem, was vorher war und dem, was folgt, kann ein kausaler Zusammenhang bestehen. Die Momentaufnahme durch das Bild gibt dem Betrachter die Möglichkeit, eigene Vermutungen über diesen Zusammenhang anzustellen. Die soziale Offenheit bezieht sich auf die aus dem Bild ableitbaren Rückschlüsse auf Personen, auf ihr Alter, ihre Situation etc. Auch 334 Heide Schrader wenn die Person gar nicht auf dem Bild zu sehen ist, können einzelne Gegenstände oder der räumliche Hintergrund Hinweise auf den Besitzer geben und den Betrachter zu Spekulationen verleiten. Kommunikative Offenheit besitzen jene Bilder, bei denen der Betrachter nur vage Vermutungen anstellen kann über Äußerungen oder Gedanken der abgebildeten Personen. Mimik und Gestik oder die Gesamtsituation geben vielleicht Hinweise für die Interpretation. (cf. Scherling/ Schuckall 1992, 34; Macaire/ Hosch 1996, 63). Es kann von Vorteil sein, die Offenheit des Bildes und damit seinen Aufforderungscharakter zu verstärken, d.h. die Bildinformation weiter zu reduzieren oder zu verfremden, um die Kreativität der Schüler herauszufordern. Dazu stehen eine Reihe von Techniken der Informationsreduktion zur Verfügung, beispielsweise das Verkürzen der Betrachtungszeit, das Herstellen von Unschärfe, das Entfernen von Bilddetails, das Reduzieren des Bildes auf ein Detail, das Halbieren des Bildes, das Abdecken und allmähliche Entwickeln, das willkürliche Kombinieren von Wort und Bild, das willkürliche Kombinieren mehrerer Bilder, das Reduzieren von Bildergeschichten, das Entfernen des zum Bild gehörenden Textes, das Bildpuzzle und das Bilddiktat (cf. Schrader 2007, 21). Wenn ein Bild Geheimnisse birgt und Rätsel aufgibt, richtet es implizit Fragen an den Betrachter z.B. zur Handlung, zu den Personen oder zu Raum und Zeit. Die ‚Antworten’ der Schüler, ihre kreativen Sprech- und Schreibprodukte, können ganz verschiedene Gestalt annehmen. Kreativ schreiben kann man sogar gemeinsam. Es beginnt, indem jeder einen Namen für die dargestellte Person erfindet. Der Name wird notiert, das Blatt anschließend weitergereicht. Auf allen Blättern werden nun Alter und Beruf der Person hinzugefügt, dann Angaben zum Familienstand, zur Anzahl der Personen in der Familie, die Adresse, Hobbys, Interessen und Vorlieben. Die Blätter wandern dabei immer weiter. Zum Schluss schreiben die Schüler gemeinsam einen Brief oder einen Tagebucheintrag, in dem sie von einem Tag im Leben der Person berichten. Ein anderes, deutlich aufwendigeres Verfahren zum gemeinsamen kreativen Konstruieren imaginärer Welten heißt simulation globale. In „L’immeuble“ (Debyser 1996, aktualisierte Fassung), dem Klassiker der simulation globale, lässt Debyser Identität und Leben von Personen erfinden, die gemeinsam in einem Haus wohnen. Ein Kunstbild als Ausgangspunkt schlägt Debyser zwar nicht vor, es kann aber für die Methode der simulation globale sehr gut als Stimulus genutzt werden. Sollten die Schüler bei der Erschaffung ihrer imaginären Welten an die Grenzen ihres historischen und kulturellen Wissens gelangen und sich Fragen auftun, ergibt sich die Möglichkeit, auf unkonventionelle Art und Weise in ein geschichtliches Thema einzusteigen. Das Leben in Paris um 1900 könnte so ein Thema sein und Félix Vallotton (1865-1925) der dazu passende Maler. Seine Bilder eignen sich gut als Ausgangspunkt für eine simulation globale. Das ahnt man bereits, wenn man sich Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden 335 die Titel einiger Bilder anschaut: „Enfant jouant au ballon ou Le Ballon“ (1899), „Jardin du Luxembourg“ (1895), „Dans la rue: Femme au manchon“(1895), „Troisième Galerie au Châtelet“ (1894), „Les Passants“(1895), „Le Pont-Neuf“(1901), „Femme fouillant dans un placard“(1900-01), „Interieur: Chambre rouge avec femme et enfant“(1899), „Le Bon Marché“(1898) und „Sur la plage“(1899). Aber auch ein einzelnes Gemälde kann bereits genug Stimuli bieten für eine Zeitreise in das Paris um 1900. „La visite“ ist so ein Bild. Vallotton hat es 1899 gemalt. Es zeigt eine Dame, die gerade die Wohnung eines Herrn betreten hat und von ihm hineingeleitet wird. Man sieht die noch offenstehende Eingangstür und den wie ein Wohnzimmer eingerichteten ersten Raum. Die Tür zu einem zweiten Raum steht ebenfalls offen. Um spontane Reaktionen anzuregen, kann das Bild zunächst kurz gezeigt / schnell herumgegeben werden, um es von der Klasse anschließend aus dem Gedächtnis beschreiben zu lassen. Zeigt man nur die Personen ohne die Wohnung im Hintergrund, kann man die Klasse zunächst bitten, sich selbst einen Handlungsort zu überlegen und diesen zeichnerisch auf einem Blatt zu ergänzen. Auch das Hinzufügen und Ausfüllen von Sprechblasen öffnet Spielraum für die Fantasie. Um erste Vorschläge und Vorstellungen zur unmittelbaren Lebenswelt der beiden Personen zu erzeugen, sollte man konkrete Fragen stellen: Wer sind die beiden (Namen, Alter, Lebenssituation)? Wo wohnen sie? Wie sind sie eingerichtet? Auf welchem Weg ist sie zu ihm gekommen? Was hat sie unterwegs in Paris gesehen? Wofür interessieren sich die beiden? Welcher Tätigkeit gehen sie nach? Wer kennt die beiden (Freunde, Familie, Nachbarn)? Wohin gehen die beiden am Nachmittag oder am Abend? Wenn auch die beiden von Vallotton gemalten Personen nur über eine fiktive Existenz verfügen, so gibt es doch genug geschichtliches Material, das man für die Ausgestaltung der simulation globale heranziehen kann. Folgende thematische Schwerpunkte könnten bei der Recherche gesetzt werden:  Pariser Stadtviertel, Stadtteilstrukturen, Sehenswürdigkeiten  Architektur, typische Straßenbilder, Architekten  Straßenverkehr, Eröffnung der Metro am 19.7.1900 (Welche Stationen gab es? Wie sahen sie aus? Eingänge von Hector Guimard)  Große Kaufhäuser (innen und außen)  Plakate von Toulouse-Lautrec  Kunsthandlungen und Galerien: „L’Art Nouveau“ und „La Maison Moderne“  Kunstzeitschrift „Revue Blanche“  Jugendstil im Kunsthandwerk: Schmuck, Möbel, Schule von Nancy  Plastiken von Rodin, Claudel, Maillol  Malerei und Graphik der Künstlergruppe NABIS, zu der Vallotton gehört  Marcel Proust 336 Heide Schrader  Pariser Cabarets, Sänger, Tänzerinnen  Le Palais Garnier: Standort, Geschichte, Architektur, Programm  Parks in Paris  Weltausstellungen (1889, 1900)  Alexandre Gustave Eiffel Die Liste ließe sich noch fortsetzen, aber auch den Interessen der Lernenden weiter anpassen. Ist das Paris um 1900 wieder auferstanden, sollen die von Vallotton gemalten Figuren diese Bühne betreten und beleben. Viele Arten von Alltagssituationen sind denkbar, aber auch Ausgefallenes wie z.B. ein Kriminalfall. Eine simulation globale ist vom Prinzip her für eine größere Unterrichtseinheit gedacht, aber einzelne Aktivitäten lassen sich auch herauslösen. Eine Vielzahl weiterer Anregungen für den kreativen Einsatz von Bildern im Unterricht liefern zwei Methodenübersichten zur Unterstützung der Unterrichtsvorbereitung. Bertscheit (2001) zielt mit seiner Methodensammlung auf eine lebendige, spielerische und schülernahe Bildbetrachtung. Fünf unterschiedliche Schwerpunkte setzt er, an denen man sich bei der Auswahl orientieren kann: Aus fremden Bildern werden eigene (Methoden zum Malen und Zeichnen), Bilder werden zur Schrift (Methoden zum Schreiben), Bilder hören und spielen (Musische Methoden), Bilder mal anders gesehen (Perspektivenwechsel), Bilder in Worten (Methoden zum Erzählen). Noch mehr Vorschläge macht Schoppe (2011), dessen Sammlung rund 100 Methoden beinhaltet, mit denen Bildzugänge geschaffen werden können. Die Sammlung ist ebenfalls gegliedert, folgt in ihrem Aufbau aber eher einem Unterrichtsablauf in sechs Schritten: 1. Erster Eindruck, 2. Abgleich mit eigenen Interessen, Ideen, Vorerfahrungen und Fragen, 3. Bestandsaufnahme von Bildgegenständen und Motiven, 4. Analyse formaler Phänomene, 5. Erschließen von Bildgehalten, 6. Verknüpfungen erstellen, das Verständnis vertiefen, eine abschließende Bilanz ziehen (cf. Schoppe 2011, 34). Zwar ist bei Schoppe und Bertscheit nicht allein von Kunstbildern die Rede, sondern von Bildern jeglicher Art und Herkunft, aber viele Methoden lassen sich auf entsprechend ausgewählte Kunstbilder übertragen. Meist sind die Methoden mit sprachlichen Aktivitäten verbunden oder können mit diesen kombiniert werden. Das macht sie geeignet für einen Unterricht, in dem es um die Sprache der Bilder, um bewusstes Sehen und Verstehen und um Kommunikation in der Fremdsprache geht. Bildbetrachtung mit Sprachenlernen verbinden 337 Assmann, Aleida. 1999. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck. Ballstaedt, Steffen-Peter / Hesse, Friedrich. 2000. „In der visuellen Wende“, in: Dotzler, Gerhard (ed.): Millenium computer art faszination (6-9). Frankfurt/ M.: dot-Verlag. Ballstaedt, Steffen-Peter. 2004. „Kognition und Wahrnehmung in der Informations- und Wissensgesellschaft. Konsequenzen gesellschaftlicher Veränderungen für die Psyche“, in: Kübler, Hans-Dieter / Elling, Elmar (ed.): Wissensgesellschaft. Neue Medien und ihre Konsequenzen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 621-641 (Abrufdatum 14.09.2014). Bertscheit, Ralf. 2001. Bilder werden Erlebnisse. Mitreißende Methoden zur aktiven Bildbetrachtung in Schule und Museum. Verlag an der Ruhr. Boskamp, Ulrike. 1999. „Berlin. Erziehung als Programm. Aufklärerische Kunst in Berlin um 1770“, in: Beck, Herbert / Bol, Peter C. / Bückling, Maraike (ed.): Mehr Licht. Europa um 1770. Die Bildende Kunst der Aufklärung (216-246). 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Der Überblick von Veneman (2012, 4) zeigt, wie vielseitig das Potenzial ist: Das Kompetenzquadrat: Potenziale des Films im Fremdsprachenunterricht Fachbezogene Sachkompetenz / inhaltsbezogene Kompetenzen insbesondere kommunikative Fertigkeiten Hörverstehen, Sehverstehen, Hörsehverstehen, Sprechen, Schreiben, Sprachmittlung (Leseverstehen) - Kulturelle Kompetenz Soziokulturelles Wissen Interkulturelle Kompetenz Transkulturelle Kompetenz Fachbezogene und - übergreifende Methodenkompetenz/ prozessbezogene Kompetenzen insbesondere Hör-/ Seh-/ Hörsehverstehensstrategien: Erschließungstechniken Umgang mit Texten (Zusammenfassung, Stellungnahmen, Film- / Analyse, kreative Textgestaltung…) Medienkompetenz Fachübergreifende Sozialkompetenz u.a. Teamarbeit, Partnerarbeit - Reflexion und Diskussion über die Beiträge der Mitschüler Fachübergreifende Selbstkompetenz / personale Kompetenzen - Auseinandersetzung mit im Film transportierten Werten und Normen - Entwicklung einer Frustrationstoleranz bei Hörverstehensproblemen Tab. 1: Potenziale des Films im FSU nach Veneman 2012, 4. 340 Marta García García Hinzu kommen nach Henseller/ Möller/ Surkamp (2011) noch drei wichtige Bereiche: die (film-)ästhetische Kompetenz, die Persönlichkeitsbildung (mit der Entwicklung narrativer Kompetenzen) und die Förderung affektiver und imaginativer Fähigkeiten. Im FSU lag aus diesem breiten Spektrum an Kompetenzen der Schwerpunkt traditionell auf den kommunikativen, insbesondere auf dem Verstehen von Ton bzw. Sprache. Zuerst und logischerweise, weil man zunächst einmal den Inhalt verstehen muss, um sich mit dem Film - schriftlich oder mündlich, in Team-, Einzel- oder Partnerarbeit - auseinanderzusetzen. Aber auch weil letztendlich die Ansicht überwog, dass es um Sprachunterricht und um fremdsprachliche Kompetenzen geht und dass die Bilder nur eine unterstützende Funktion haben 1 . Ein anderer Bereich, der von der Aufmerksamkeit der Fremdsprachendidaktik besonders profitierte, ist jener der sozio- und interkulturellen Kompetenz. Das Binom Interkulturalität und Film stellte sich besonders produktiv heraus: Vorschläge zur Förderung der interkulturellen Kompetenz anhand von Filmen gibt es zahlreiche. 2 Dank der visuellen Komponente sind Filme Fenster nach draußen und bieten eine reale Erfahrung mit der Ziel- oder Partnerkultur an. Das ist besonders günstig im Sinne des experiential learning (Witte 2011, 96f.), der Art von Lernen, die eine Veränderung in den Einstellungen und Identitätskonstruktionen der Lernenden bewirken kann. Die Zuschauer werden in eine „andere Welt“ (die im Vergleich zur „Eigenen“ sehr anders sein kann, aber nicht sein muss) versetzt. Einen Film aus einem anderen kulturellen Kontext zu sehen, ist mithin immer eine Begegnung interkulturellen Charakters (cf. Biechele 2011, 21). 3 Eine Verbindung zwischen dem interkulturellen Lernen und der Interpretation von Filmbildern, wofür Blell/ Lütge (2008) in ihrem Modell plädieren, besteht aber nur ansatzweise. Obwohl die Entwicklung der visuellen Kompetenz, d.h. der Fähigkeit, eigene Sehmuster zu erkennen und die Konventionen der bildproduzierenden Kultur zu erlernen (Hecke 2010a, 325), ein großes Potenzial für die Arbeit mit interkulturellen Fragestellungen darstellt, hat sich die Didaktik des Sehverstehens bisher eher auf die Deutung statischer Bilder konzentriert (cf. Hecke 2010b, Seidl 2007). Dieser Beitrag zielt darauf ab, diese eher wenig betrachtete Schnittstelle zwischen interkulturellem Lernen und Filmbildern genauer zu beleuchten. Im Folgenden sollen ein Überblick der Ebenen des Sehverstehens und ihre 1 Ein schneller Blick auf das Portal für Spanischlehrer Marcoele (http: / / marcoele.com/ actividades/ peliculas/ ) genügt, um zu sehen, wie tief verankert diese Annahme ist. Dort überwiegen die Materialien zur Arbeit mit Filmen mit einem grammatikalischen Schwerpunkt. 2 An dieser Stelle seien beispielhaft Bredella (2004) und Fäcke (2001) genannt. 3 Hier ist vor der verbreiteten Annahme Obacht geboten, Spielfilme mit der (ganzen) Wirklichkeit einer Kultur gleichzustellen (Küster 2003 in Blell / Lütge 2008, 134). Filme und interkulturelles Sehverstehen 341 Rolle im FSU (1.), der Gegenstand und die Ziele des interkulturellen Sehverstehens (2. und 3.) und eine Methodik mit Vorschlägen für den Spanischunterricht (4.) dargestellt werden. Sehverstehen und Filmdidaktik im FSU Sehverstehen darf nicht auf die Fähigkeit „visuell rezipieren zu können“ beschränkt werden, weil es „ähnlich wie das sinnentnehmende Lesen ein sinnentnehmendes Sehen darstellt“ (Bachtsevanidis 2012, 114). Es setzt eine aktive Rezeption voraus (Blell/ Lütge 2008, 128), um die Bedeutung der (bewegten oder statischen) Bilder mit all den Informationen, aber auch den „Suggestionen und Intentionen“ (Bienk 2008, 11), entnehmen und verstehen zu können. Diese Informationen werden hauptsächlich auf zwei Ebenen vermittelt; die Filmanalyse unterscheidet dabei zwischen Bildinhalt und Bildgestaltung (Bienk 2008, 30): Die Ebene des Bildinhalts ist alles, was zu sehen ist: Ausstattung, Personen, Umgebung, usw. Die objektiven und offensichtlichen Informationen, die die Bilder liefern, werden im FSU oft als Strategie, als Unterstützung für das Hörverstehen und als Verfolgung der Handlung eingesetzt. Diese unterstützende Funktion - und die untergeordnete Rolle - des Visuellen spiegelt sich in den Kompetenzmodellen der Bildungsstandards wider, wo man vergebens nach einer Eigenständigkeit der Bilder in Form von Deskriptoren für das Sehverstehen sucht, oder die Bilder lediglich Impulse für das Sprechen oder Schreiben darstellen (cf. KMK 2004, 19-20). 4 Die Analyse der Bildgestaltung oder der bildästhetischen Ebene (Hallet 2010) beschäftigt sich mit der Frage, wie ist das gemacht? Ein Film ist die Schöpfung eines Autors, der mithilfe der Technik (Aufnahmen, Perspektive, Lichtverhältnisse, Kameraeinstellung und Bewegung usw.) beabsichtigt, eine bestimmte Wirkung beim Zuschauer auszulösen, und dabei „[ist] nichts zufällig, jede Einstellung wird minutiös geplant; selbst die scheinbare Zufälligkeit einer Aufnahme stellt immer ein bewusst gewähltes Gestaltungsmittel dar“ (Bienk 2008, 11). Die intensive Arbeit mit den filmischen Wirkungsmitteln zählt, wie bereits erwähnt, zu den neuesten Tendenzen in der Filmdidaktik. Filme sind Kunstprodukte aber auch Kulturprodukte im Sinne, dass sie auch in einen bestimmten Kontext eingebettet sind und daher viele Hinweise über die Kultur und Gesellschaft liefern, in denen sie entstanden sind. Filme 4 Eine Ausnahme davon bildet hier das Kerncurriculum für das Fach Englisch in Baden- Württemberg, wo der Einsatz von Filmen zur Schulung des Sehverstehens explizit erwähnt wird (Heinecke 2007 in Blell / Lütge 2008). 342 Marta García García sind „also insofern Produkte ihres Entstehungskontextes, als sie gesellschaftliche Ereignisse und Erfahrungen sowie das kulturelle Wissen einer Gesellschaft aufgreifen und interpr etierend verarbeiten“ (Henseler/ Möller/ Surkamp 2011, 11). Das ist die Ebene der kulturellen Praktiken oder des kulturellen Sehens (Hallet 2010). Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass im Bildrezeptions- und Verständigungsprozess auch die Kultur des Empfängers eine entscheidende Rolle spielt. Bilder sind sowohl geprägt durch die Visualität der bild-produzierenden Kultur als auch durch jene der bildrezipierenden Kultur. Innerhalb dieser Spannung zweier Visualitäten vollzieht sich Seh-Verstehen im Fremdsprachen- und Fremdkulturunterricht (Seidl 2007, 7). Wir wenden unsere mentalen, kulturellen Modelle 5 an, und diese können mit der intendierten Interpretation übereinstimmen, sie müssen es jedoch nicht. Zum Beispiel hat eine Szene, in der ein Student mit dem Fahrrad durch die Stadt fährt, verschiedene Interpretationen zur Folge, je nachdem, wo sich diese Szene abspielt, beispielsweise, ob in Münster oder in Madrid. Im ersten Fall wäre die Darstellung ein übliches Alltagsphänomen, im zweiten wird diese Person automatisch einer politisch links-alternativen Gruppe zugeordnet. Die genaue Intention des Regisseurs ist ohne die notwendigen kulturellen Codes oder culture literacy nicht so einfach zu erschließen (Hallet 2010, 42sqq.) und dieser Mangel an Interpretationsressourcen kann dazu führen, dass die Zuschauer die Bilder zwar erkennen (wie Buchstaben eines bekannten Alphabets), aber keinen Sinn daraus entnehmen können (Bachtsevanidis 2012, 122). Interkulturelles Sehverstehen Hinweise, wie eine bestimmte Szene zu lesen ist (z.B. ist Fahrradfahren in Spanien ein typisches Phänomen der politisch links-alternativorientierten Strömung), können einen unerwünschten Nebeneffekt produzieren, indem Vorurteile erzeugt oder verstärkt werden (etwa in Spanien fährt man nicht Fahrrad, da gibt es kein Umweltbewusstsein). Damit solche voreiligen Schlüsse nicht gezogen werden, muss der Film Gegenstand eines „inter - und transkulturellen Diskursraum[ s]“ sein (Blell/ Lütge 2008, 136). Die Zuschauer (die Lernenden) benötigen interkulturelle Kompetenzen, was u.a. bedeutet, in der Lage zu sein, zu bemerken, dass die eigene Sichtweise kulturell bedingt ist: 5 Vgl. der symbolisch-kognitive Kulturbegriff von Trujillo (2005 ) bzw. die „kulturelle[n] Deutungsmuster“ von Altmayer (2009) . Filme und interkulturelles Sehverstehen 343 Interkulturelle Kompetenzen beinhalten Einsicht in die Kulturabhängigkeit des eigenen Denkens, Handelns und Verhaltens sowie die Fähigkeit und Bereitschaft zur Wahrnehmung und Analyse fremdkultureller Perspektiven (KMK 2004, 16). Interkulturelles Sehverstehen bedeutet daher die „Fähigkeit, Film[e] als (populär)kulturelle Artefakte zu lesen und sie im Wechselspiel eigen- und fremdkultureller Bezugskulturen zu interpretier en“ (Blell/ Lütge 2008, 128), und impliziert die Bereitschaft, aufmerksam gegenüber Bildern zu sein, sich Fragen über das Gesehene zu stellen, über die eigenen Referenzschemata zu reflektieren (affektive Dimension), um sich die Bilder mithilfe von kulturellem bzw. soziokulturellem Wissen und kulturellen Codes (kognitive Dimension) zu erklären und differenziert interpretieren zu können (verhaltensorientierte Dimension). Ziele des interkulturellen Sehverstehens Aus der vorigen Darstellung ergibt sich eine Reihe konkreter Fragen für den schulischen Alltag: Was wären angemessene Zielvorstellungen für die Arbeit mit Filmbildern im Unterricht in Bezug auf die interkulturelle Kompetenz? Welche Stufen oder Phasen sollen die SuS in diesem Prozess durchlaufen? In anderen Worten, was sollen SuS am Ende einer Unterrichtseinheit können? Im Folgenden wird eine Systematisierung solcher schulischen Zieldefinitionen vorgestellt, die als Leitfaden für Lehrkräfte und Schule 6 dienen kann. Dieser Darstellung liegen zwei Quellen zu Grunde: a) die Deskriptoren für die filmanalytischen und die rezeptiven kommunikativen Kompetenzen, die in Skalen von weniger zu mehr Eigenständigkeit formuliert sind, b) die Modelle von Meyer (1991) und Bennet (1993) zur Entwicklung interkultureller Kompetenz. In diesen Modellen durchlaufen die Lernenden einen Prozess vom Monozum Transkulturalismus (Meyer 1991) bzw. vom Ethnozentrismus zum Ethnorelativismus (Bennet 1993). Dabei werden die SuS gefördert und erhalten Hilfestellung, um den Weg zu durchschreiten, der von der ersten bewussten Wahrnehmung der Bilder (Annährung) zu einer fundierten Interpretation (Vertiefung) reicht und in den Status des interkulturellen Sprechers (Konsolidierung) mündet (cf. Instituto Cervantes, 2006). 6 In Anlehnung an das schulinterne Curriculum im Sinne von Henseler / Möller / Surkamp (2011). 344 Marta García García 4.1. Annährung In dieser ersten Phase sind die Lernenden  aufmerksam gegenüber den Bildern, erkennen deren Bedeutungspotenzial und sind mit Hilfe von Arbeitsaufträgen in der Lage, gezielte kulturelle Informationen zu entnehmen, besonders solche, die einen engen Bezug zur eigenen Lebenswelt (Familie, Schule, Alltag…) haben,  betrachten die gewonnenen Erkenntnisse mit Interesse und werten sie nicht ab,  vergleichen die neuen Informationen mit ihren Erwartungen bzw. mentalen Bildern und erkennen ggf. die eigenen Vorurteile oder den Einfluss von Stereotypen in diesen Erwartungen. 4.2. Vertiefung In einer zweiten Phase können die Lernenden  Bilder bewusst wahrnehmen und sich Fragen bezüglich deren Bedeutung stellen,  einige, einfache kulturelle Codes selbständig entnehmen,  die Filmbilder aktiv betrachten und nach Schlüsselmerkmalen suchen,  gesteuerte Aufgaben bezüglich komplexerer kulturspezifischer Aspekte bearbeiten: Werte, Lebensweise, Bedeutungen von bestimmten Handlungen, Orten, etc.,  anhand der neuen Erkenntnisse die eigene Perspektive relativieren. 4.3. Konsolidierung Die Lernenden  suchen aktiv nach den von der Bildspur gelieferten Informationen und können anhand vom erworbenen kulturellen Wissen diese richtig interpretieren,  sind in der Lage, die kulturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten sich selbst und anderen zu erklären,  entwickeln Empathie: Sie empfinden die beobachteten Phänomene als verständlich und nah. Im Anschluss wird erläutert, wie dieser komplexe Verbund didaktischer Ziele in konkrete Unterrichtsprozesse umgesetzt werden kann. Filme und interkulturelles Sehverstehen 345 Schulung des interkulturellen Sehverstehens im Spanischunterricht am Beispiel des Films El Bola (2000) „ Man kann langsam lesen, aber nicht langsam zuhören “ lautet die allgemeine Meinung unter den Sprachlernenden. Dasselbe gilt für den Verständnisprozess der bewegten Bilder. Im Folgenden wird eine Methodik zur Förderung des interkulturellen Sehverstehens aufgezeigt, die der Komplexität des ganzen Verständnisprozesses Rechnung trägt. Die Methodik wird anhand von drei Szenen aus dem spanischen Film El Bola 7 illustriert, um Vorschläge für den Spanischunterricht zu liefern. Dieser Film vom Regisseur Achero Mañas wurde aus folgenden Gründen für die nachfolgende exemplarische Darstellung ausgewählt: zuerst aufgrund seiner ausgesprochenen guten Qualität, die in Form von zahlreichen Preisen (u.a. bester Film, bester Regisseur, bestes Drehbuch, bester Darsteller in den spanischen Filmpreisen Premios Goya 2001) anerkannt wurde, zweitens aufgrund der realistischen Bilder, die Einblicke in das Leben zweier Schüler und deren Familien in einem spanischen Arbeiterviertel zulassen, und drittens aufgrund des Bezugs zur Lebenswelt der SuS und der Aktualität der Thematik, die darüber hinaus bspw. zwei Themenfelder des Kerncurriculums Niedersachsen abdeckt. Diese Themenfelder sind a) entscheidende Momente des Lebens (jugendlich sein), Erwachsen werden, die Freundschaft und der Tod und b) Individuum und soziales Zusammenleben (familiäre Konflikte und häusliche Gewalt). Im Folgenden werden spezifische Aufgaben für das Sehverstehen und die interkulturelle Reflektion entworfen, in denen die SuS schrittweise (anhand von vier Phasen, Wissens- und Erwartungsaktivierung, Perzeption, Rezeption und Interpretation) Gelegenheit bekommen, sich auf die Bilder zu konzentrieren und mit deren Bedeutung zu beschäftigen. Dem Vorgehen liegt das methodische Paradigma für die Arbeit mit statischen Bildern (Biechele 2006) zu Grunde, das um eine weitere Phase in Anlehnung an Wilts (2003) erweitert wurde. 7 Mehr Informationen zum Film sind z.B. unter der offiziellen Seite des Regisseurs (http: / / www.achero.es) zu finden. In der ersten Szene (von 07: 50-08: 47) verfolgt Pablo, der Protagonist, seinen neuen Mitschüler, Alfredo, auf den Weg von der Schule nach Hause. Alfredo merkt das und wartet auf Pablo nach einer Ecke. Es kommt zu einem kleinen Austausch zwischen den beiden, die sich gut zu verstehen beginnen. Die Szenen 2a (04: 40-05: 35) und 2b (44: 08-44: 39) zeigen die Familien von Pablo und Alfredo zu Hause beim Abendessen. 346 Marta García García 5.1. Wissens- und Erwartungsaktivierung In dieser Phase der Vorbereitung wird die Neugier der SuS angeregt, indem Fragen und Arbeitsaufträge formuliert werden, die die vorhandenen „Bilder im Kopf“ ansprechen. Neben den „typischen“ Fragen („was wisst ihr bereits über…? “) können andere Aufgaben für diese Phase beispielweise sein:  Die Arbeit mit der Filmsynopse und den mentalen Bildern, die diese hervorruft: (Szenen 1 und 2a und 2b) Lee la sinopsis de la película. Pablo, llamado por todos “Bola”, es un chico de 12 años con una situación familiar muy violenta y difícil. Estos problemas, que oculta avergonzado, hacen que tenga muchas dificultades para relacionarse y comunicarse con otros chicos. La llegada de Alfredo, un nuevo compañero, al colegio le permite descubrir la amistad y una realidad familiar completamente distinta. Esto le dará fuerzas para tratar de enfrentarse a la suya y cambiarla. ¿Cómo te imaginas a los dos protagonistas (Pablo y Alfredo)? Trata de imaginarte su cara, su pelo, su estatura, su forma de vestir… Escribe unas notas en tu cuaderno.  Eine Szene anhand von bestimmten Eckdaten „sich vor Augen führen“, bevor diese gezeigt oder gehört wird. Die SuS können dafür ihre eigene Realität als Ausgangspunkt nehmen, damit ihnen die Vorstellung einfacher fällt: (Szene 1) Piensa en el recorrido que haces de tu casa al colegio. ¿En qué medio de transporte vas, qué ves durante el camino? Apúntalo. (Szene 2a und 2b) Vais a ver dos escenas de la película en las que los protagonistas están cenando, la primera en la casa de Pablo y la segunda en la casa de Alfredo. Primero, piensa cómo es una cena en tu casa y apunta los siguientes datos: hora, habitación de la casa donde cenáis, personas presentes, comidas (normales), etc. Für die nachfolgende Betrachtung des Filmsauschnitts werden die SuS somit in eine aktive und entdeckende Haltung („Wird es im Film so sein, wie ich es mir vorgestellt habe? “) versetzt. Diese größere Aufmerksamkeit kommt einer bewussteren Wahrnehmung zugute, und so wird das Verständnis der Handlung und der Filmbotschaften zusätzlich erleichtert. Darüber hinaus ist das Hauptziel dieser Phase, eine Grundlage zu bilden auf der neue Erkenntnisse aufgebaut oder verglichen werden können. Filme und interkulturelles Sehverstehen 347 5.2. Perzeption Hier wird die bereits angeregte Aufmerksamkeit anhand von konkreten Arbeitsaufträgen gezielt auf besondere Aspekte der Szenen gelenkt. So werden Merkmale wahrgenommen, die sonst wahrscheinlich keine Beachtung beim Betrachtenden gefunden hätten. Im Sinne der Förderung der interkulturellen Kompetenz geht es vor allem darum, „[B]ekanntes zu identifizieren und Fremdes erkennen und benennen“ (Biechele 2006, 38). Beispiele für Arbeitsaufträge dieser Phase sind:  gezielt auf die Merkmale achten, die die SuS in der Erwartungsphase aufgeschrieben haben und auf Übereinstimmungen oder Diskrepanzen prüfen. (Szene 1) Observa la siguiente escena, en la que Pablo sigue a Alfredo en el camino a su casa. Describe lo que ves, cómo son las casas, los colores, los coches… 8  eine Liste oder eine Tabelle mit den Gegenständen, Personen (Aussehen, Handlung), dominierende Farben / Licht, usw. anfertigen, die in der Szene zu sehen sind. Dabei kann die Arbeit in Gruppen aufgeteilt werden. (Szene 2a und 2b) Vais a ver las dos escenas. Para cada una, en grupos de 3, 1- Haced una lista de todos los objetos y muebles que veáis. 2- Describid la luz y el espacio 3- Anotad lo que hacen las personas  auf gezielte (Such-)Fragen antworten (z.B. Ähnlichkeiten zum eigenen Umfeld suchen). (Szene 1 und 2a und 2b) Marca las cosas de tu lista (de la actividad anterior) que también aparecen en esta escena. 8 In dieser Szene geht der Protagonist durch die Straßen von Carabanchel, ein Viertel südlich von Madrid. Es ist Winter, aber sonnig und nicht so kalt. Man sieht kleine Straßen, viele geparkte Autos, keine Bäume, viel Beton. Überall finden sich kleine Läden, die Schilder sind teilweise heruntergekommen. Es gibt Graffitis an den Mauern, eine Gruppe von Jugendlichen jongliert auf einem Platz. 348 Marta García García 5.3. Rezeption Dies ist die Phase der Verarbeitung, der aktiven Auseinandersetzung mit den Bildern, in der die Ebene des kulturellen Sehens (s.o.) explizit thematisiert wird. Die Wirkung der Szenen auf die SuS wird angesprochen (wie wurden sie empfunden, was wurde wie verstanden? ). Durch die Verbalisierung und Reflektion erhöht sich die Chance für das Bewusstwerden der herangezogenen Referenzschemata. In einem zweiten Schritt werden Vergleiche angestellt. Das Kontrastieren zwischen dem Eigenen und dem Fremden muss nicht zur Stereotypenbildung führen, ganz im Gegenteil: Das Vergleichen stellt eine Voraussetzung im Fremdverstehen dar (cf. Grünewald/ Küster 2009, 219). 9 Zuletzt werden Hypothesen gebildet (Biechele 2006, 38), um eine mögliche Erklärung für das Gesehene zu finden. Potentielle Aufgaben in dieser Phase sind z.B.:  Von einer Liste die Wörter ankreuzen, die mit den erweckten Gefühlen und Impressionen übereinstimmen.  Die Impressionen und Gefühle explizit ansprechen. (Szene 1)¿Qué te parece el barrio, te gustaría vivir ahí? (Szene 2) ¿Cómo te sentirías en la primera casa? ¿Y en la segunda? ¿Por qué?  Ein Vergleich zwischen dem Erwarteten und dem Gesehenen anstellen. (Szene 1) ¿Se parece este recorrido al tuyo? ¿En qué sí, en qué se diferencia?  Vermutungen, mögliche Erklärungen für einen besonderen Aspekt der Szene sammeln. (Szene 1) ¿Por qué crees que el director ha escogido este barrio para la película? (Szene 2) ¿Crees que son dos típicas familias españolas? 5.4. Interkulturelle Reflexion, Transfer In dieser letzten Phase geht es darum, über das Bild hinauszugehen und anhand der gemeinsamen Auswertung der vorherigen Phasen, Prozesse der Selbsterkenntnis und des Fremdverstehens anzusteuern: die Klärung von 9 „In allen interkulturellen Situationen werden unbewusst oder bewusst Vergleiche angestellt, ohne Vergleichshandlungen kann sich kein Sprecher in die Perspektive des anderen hineinversetzen […]“ (Müller-Jacquier 1986, 34 in Grünewald / Küster 2009, 219). Filme und interkulturelles Sehverstehen 349 möglichen Stereotypen oder Vorurteilen und der Umgang mit Bewertungen. Die Aufgaben verfolgen das Ziel, dass die SuS bewusst über ihr eigenes Wahrnehmen und Denken reflektieren. Das kann im Rahmen „klassischer“ Aufgaben wie einer Debatte oder eines Unterrichtsgesprächs stattfinden (cf. Bachtsevanidis 2012, 135), aber auch mit kreativen Aufgaben, wie z.B.: (Szene 1) Busca en internet más información sobre el barrio (Carabanchel) en el que se ha rodado la película. ¿Dónde está, cuánta gente vive, qué problemas hay? (Szene 2) Se va a hacer una versión alemana de “El bola”. En grupos, vais a planear los decorados. ¿Cómo sería la casa de la familia de Pablo? ¿Y la de la familia de Alfredo? ¿Qué escenarios de la película mantendríais, cuáles cambiaríais? 10 Schlussbemerkungen Interkulturelle Kompetenz kann nicht von Lehrpersonen in Form von Fakten vermittelt werden, vielmehr sind Lernarrangements angebracht, die ein entdeckendes und erfahrungsreiches Lernen begünstigen und Zugang zu einer Vielfalt von kommunikativen Erfahrungen ermöglichen (cf. Witte 2011; Trujillo 2005). Die vorgestellten Aufgaben zielen durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Bildern und ausgehend von kulturellen und soziokulturellen Aspekten auf die Förderung der interkulturellen Sensibilität ab. Beim Einsatz von Filmen im FSU mit dem Fokus auf das Sehverstehen sollte man drei allgemeine Empfehlungen beachten:  das Sehverstehen vom Hörverstehen abkoppeln, um eine Überforderung der SuS zu vermeiden. Die ausgewählten Szenen sollen darüber hinaus sehr kurz bzw. mit wenigen und kurzen Dialogen versehen sein.  die „richtige“ Dosis von reinen Sehverstehens -Aufgaben finden. Mehr als ein Ablauf der Sequenz Erwartung, Perzeption, Rezeption und Interpretation kann für die SuS langweilig wirken.  diese Aufgaben zum Sehverstehen sollen immer Teil einer größeren Unterrichtssequenz (mit Schulung weiterer Kompetenzen) sowie dem 10 Z.B. könnten sich die SuS überlegen, ob die vielen Szenen im Freien (die beiden Protagonisten treffen sich häufig auf öffentlichen Plätzen, viele Gespräche finden auf der Straße statt und ziemlich spät am Abend) für den deutschen Zuschauer plausibel sind. 350 Marta García García Verständnis und der Interpretation der Handlung untergeordnet sein. Anderenfalls würde man den Film vor lauter Bildern nicht sehen. Altmayer, Claus. 2009. „Instrumente für die empirische Erforschung kultureller Lernprozesse im Kontext von Deutsch als Fremdsprache“, in: Hu, Adelheid / Byram, Michael (eds.): Interkulturelle Kompetenz und fremdsprachliches Lernen. Modelle, Empirie, Evaluation. Tübingen: Narr, 123-138. 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Prinz) Das Thema Hiphop, Rap, Sprechgesang und deren Einbeziehung interessieren mich seit nunmehr 20 Jahren: Vorträge auf Kongressen, Städtetagen, Ausstellungen und Jugendkulturelle Veranstaltungen in Kulturinstituten in Brasilien, Polen, Frankreich, Portugal und anderen Ländern sind dann im vergangenen Jahr eingeflossen in ein kleines Büchlein mit dem Titel RapRoMania (Prinz 2014), das den Sprachen Französisch und Spanisch gewidmet ist. Der Einsatz der rezitativ-improvisierenden Musikgattung des Rap für das Erlernen von Fremdsprachen wurde zunehmend von Verlagen propagiert, z.B. in dem Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrwerk Tangram (Ismaning 2000) gleich in der ersten Lektion in dem „Tag, wie geht’s“ -Rap. Das memorisierend, Einprägsame, meditativ Repetitive im Sprechgesang des Gregorianischen Chorals, die narrative Kompetente der Rezitative in anderen Vokalkunstgattungen, die spärliche Instrumentierung und die Konzentration auf den Text sind Eigenschaften, die der Rap aus alten Musiktraditionen übernimmt und mit einer oft unterschätzten poetisch tiefgründigen und polysemischen Botschaft verbindet, die Assoziationen und Interpretationen nahezu freien Lauf lässt. Hinzu kommt, das Rap und Hiphop seit mehr als vierzig Jahren in der internationalen Musikszene etabliert sind, als lokale Kulturphänomene mit globaler Verbreitung und identischen Stilelementen einerseits, in diversifizierten, lokal verankerten Botschaften und Themen andererseits. Rap- und Hiphop-Kulturen eignen sich daher insbesondere in weltweiten kolonial-postkolonialen Räumen von Nord bis Süd, von Ost nach West, sprachlichkulturell verwandte und hybride Gefüge als „Zwi schenraumkulturen“ mit „Multiidentitäten“ und pluralen Paradigmen dar zustellen. Basiert auf repräsentativen Artikulationsmustern spiegeln sie hochdifferenzierte Realitäten, Denk- und Verhaltensformen wider, und dies in Form von Ausdrucksformen der Jugend, die weltweit ausgegrenzt, gegängelt und abhängig, als unterdrückte Mehrheit der minors, in musikalischen Ausdrucksformen - wie Rap und anderen Musik- und Kulturstilen - Emanzipation und Befreiung einfordert. RapRoMania 353 Umgekehrt definieren und entwerfen Jugendkulturen in ihren differenzierten Ausformungen auf der Folie der international gelebten Problem- und Schieflagen Gegenentwürfe und Heterotopien (Souza-Santos 1997), in breiten Fächerungen von Gangstabis Gospelrap (Toop 1994). Auf diese Weise wirkt auch die Hiphopkultur wie andere Zwischenraumkulturen modellbildend auf die sogenannten Leuchtturmzentren (Galtung 1985). Diese umgekehrt modellbildende Funktion, ausgehend von periphären, aufsteigenden Kulturen und Paradigmen, ist Teil der dialektischen Entwicklung von Peripherien, Zentren und Epizentren und insbesondere innerhalb der Dynamik von Nord- Süd-Asymmetrien (Prinz 1996). Frankophonie und Lusophonie als sich dominant definierende sprachlichkulturelle postkoloniale Großräume zeigen nicht nur eine hohe Differenziertheit in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform, die sich auch und vor allem aus der Dynamik einer Unterdrückungs- und Emanzipationsgeschichte verstehen. Es steht aber auch zu erwarten, dass künftig aus dieser Differenziertheit eine Eigendynamik entsteh t, in der die „majorité des opprimés“ (Balandier 1995) einer „situation coloniale“ (Balandier 1955) wort- und positionsergreifend Gegenmodelle zu den bestehenden Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnissen entwirft. Zu der Veröffentlichung des 1. Bandes von RapRoMania hat schließlich Manfred Overmann mit seinem beeindruckenden multimedial ausgerichteten Buch Histoire et abácédaire pédagigique du Québec avec des modules multimédia prêts à l’emploi (2009), erschienen im Ibidem-Verlag, den Anstoß gegeben. Konzeption der Zusammenarbeit Das Hiphop-Projekt ist in Entstehung und Verlauf kollektiv-kooperativ angelegt. Von Beginn an haben Anregungen aus verschiedenen Richtungen zu Ergebnissen geführt, wobei das Prozesshafte letztendlich immer im Vordergrund stand. Die jeweiligen Impulse und Anregungen kamen aus Medien, Unterrichtmaterialien, Gesprächen mit Studierenden, Schülern und Schülerinnen sowie unzähligen anderen Umfeldern und flossen ein in Lehrveranstaltungen, Veröffentlichungen und Veranstaltungen, die wiederum Ergebnisse kollektiven Denkens, Konzipierens und Handelns waren. So entstand an der Justus-Liebig-Universität in Gießen im Rahmen einer Foto- und Performance- Veranstaltung zum Thema „Graffiti - zwischen Knast und Galerie“ (1999), welche zahlreiche Fortsetzungen im niederrheinischen Neuss und danach (2000) in Goethe-Instituts-Einrichtungen des brasilianischen Nordostens, in Salvador da Bahia und Recife, erfuhren, ein bleibendes Denkmal: Ein Graffiti des namhaften Sprayers Seak, alias Claus Winkler aus Köln, auf einem 354 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner Mäuerchen vor dem Eingang des Philosophikums I, als Ende des bereits bestehenden „Kunstwegs“ der Universität. Des Weiteren lässt sich eine Veröffentlichung wie RapRoMania (2014) nur als Ergebnis kollektiver Arbeit denken, autorenrechtlich schwer zu händeln und per se plagiatsverdächtig, legte man strengste Maßstäbe an. Diesem Thema haben wir im ersten Band von RapRoMania ein eigenes Kapitel für die Hand der SchülerInnen und LehrerInnen (Prinz 2014, 53-69) verfasst, in dem Aspekte des Schutzes von Autorenrechten angesprochen werden. Raubkopien sind für noch unbekannte Musiker, beispielweise in afrikanischen Ländern, die einzige Möglichkeit Bekanntheit und Popularität zu erlangen, andererseits sollte jeder junge Mensch wissen, dass seine persönlichen ästhetischkünstlerisch-intellektuellen Produkte sein geistiges Eigentum darstellen, vor dessen Publizierung und Nutzen ihm ein persönlicher Schutz zusteht. Für den vorliegenden Beitrag haben wir uns die Arbeit wie folgt aufgeteilt: Als Projektinitiator und -betreuer habe ich im Rahmen ihrer Ausbildung zum Fremdsprachenlehrer die studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter Rafael Cano Garcia, Sebastian Buchczyk und Lars Kettner kennengelernt, denen ich für das Zustandekommen dieses Beitrags viel zu verdanken habe. Rafael Cano Garcia nahm mit mir am Romanistentag in Würzburg teil und übernahm den fremdsprachendidaktischen Teil der Ausführungen zum Hör-Seh-Verstehen, mein Beitrag bezog sich auf die angolanisch-mosambikanischen Raps und deren Verwendung zur Förderung der Hör-Seh-Verstehens-Kompetenz und interkulturellen Lernens. Sebastian Buchczyk und Lars Kettner haben die diffizile - für mich schier unmögliche - Aufgabe der Umsetzung und Integrierung des Film-Videomaterials in die Skriptform durch Screenshots und Quick-Response-Codes geleistet und den vorliegenden Beitrag bereichert. Schließlich eröffnen sie in der Formulierung offener Aufgaben zu dem Videomaterial anregende Möglichkeiten didaktischer Umsetzungen. Fertigkeits- und Kompetenzerweiterung im Fremdsprachenunterricht Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben waren über Jahrzehnte die vier Basisfertigkeiten des Fremdsprachenlernens, obwohl immer auch unausgesprochen das Hör-Sehr-Verstehen (man denke an die audio-visuelle mediengestützte Methode, beispielsweise in La France en direct), die Landeskunde, das Interkulturelle Lernen, die Mehrsprachigkeitskompetenz sowie Sprachmittlung und Medienkompetenz den offenen Reigen der Fertigkeiten ausmachten. In der Regel werden diese Fertigkeit in rezeptive und produktive unter- RapRoMania 355 teilt, wobei i.d.R. verständlicherweise beim Fremdsprachenerwerb - insbesondere in der Anfangsphase - die produktiven hinter den rezeptiven zurücktreten. Dies hat sich durch die elektronischen Medien entscheidend verändert, weil die Lerner selber in offen formulierten Aufgaben in Eigenregie nach Antworten in eigengesteuerten, individuellen Recherchen nach Lösungen und Antworten suchen können. Hier kann dem Rap - bereits in der Anfangsphase - eine vorrangige Bedeutung zukommen, wie das erwähnte Beispiel von Tangram (2000) im ersten Band („Tag, wie geht’s“ -Rap) anschaulich belegt. Hör-Seh-Verstehen und Fremdsprachendidaktik (Rafael Cano García) Dass Hör-Seh-Verstehen eine essentielle Kompetenz im Fremdsprachenerwerb repräsentiert und deshalb in Theorie und Praxis der Fremdsprachenforschung einer sehr intensiven Zuwendung bedarf, dürfte inzwischen unbestritten sein. Umso wichtiger ist es deshalb, geeignete Unterrichtsmaterialien und Aufgaben zu entwickeln, die das Hör-Seh-Verstehen als linguistische Kompetenz fördern. Gleichzeitig sollte die audiovisuelle Rezeptionskompetenz nie nur um ihrer selbst willen Einzug in den FSU halten, sondern immer auch als Brücke zur Förderung ganzheitlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten, allen voran der interkulturellen Kompetenzen, genutzt werden. Im Kontext passender Hör-Seh-Verstehenstexte eignen sich Musikvideoclips und insbesondere solche des HipHop-Genres ausgezeichnet. Musik als authentisches Kulturprodukt birgt ein enorm hohes emotionales Identifikationspotential und ermöglicht einen unverbindlichen aber nicht minder intensiven Kontakt mit fremdkulturellen Phänomenen. HipHop und die dazugehörige Jugendkultur können dabei sehr gut als Fenster in die Zielkultur dienen, da der internationale Charakter der Bewegung, die angesprochenen Themen und die häufig übersichtliche musikalische Komplexität einen guten Anknüpfungspunkt zur Lebenswelt der Sprachenlerner darstellen können. Im Folgenden soll am Beispiel eines Zusammenschnitts verschiedener mosambikanischer und angolanischer Rapvideos gezeigt werden, welches Potential HipHop-Clips hinsichtlich der Förderung verschiedener Kompetenzen im Kontext des Fremdsprachenlernens entfalten können. 4.1. Warum HSV im FSU? In einer Welt, in der Arbeit, Kommunikation und Freizeitgestaltung immer häufiger auf der Grundlage von Internet und TV funktionieren, erscheinen klassische Segmentationsansätze linguistischer Kompetenzen im FSU (also 356 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner das strenge Trennen von Hör- und Leseverstehen sowie von sprech- und schriftsprachlicher Produktion) lebensfern und veraltet. In multimedialen und mehrkanaligen Umgebungen kommt es zu einer Simultanität von bis dato voneinander unabhängigen Kommunikationsphasen und Aufgaben, die wir nur mit einer gekonnten Integration der verschiedenen Sprachfertigkeiten bewältigen können. Insbesondere im Hinblick auf das gar nicht mehr so neue Kommunikations- und Unterhaltungsmedium Internet ist eine Neukonzeption sprachlicher und insbesondere rezeptiver Kompetenzen daher unerlässlich. Das Konzept des Hör-Seh-Verstehens wagt eben diesen Schritt und eignet sich vor allem im Kontext der Filmdidaktik als ausgezeichneter Wegbereiter für eine kompetente Auseinandersetzung mit Filmen und Videos auf sprachlicher Ebene. Als problematisch stellt sich dennoch die Abgrenzung des HSV zu traditionellen Rezeptionskompetenzen dar. Während der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen suggeriert, dass audiovisuelle Rezeption eine Form des Hörverstehens sei (cf. Europarat 2001, 71sqq.), weist Engelbert Thaler in seinem Artikel „Schulung des Hör-Seh-Verstehens“ von 2007 zurecht darauf hin, dass es sich hierbei tatsächlich um eine „eigenständige kommunikative Kompetenz“ handelt (Thaler 2007, 13). Auch Blell und Lütge sehen im HSV keine Abwandlung oder gar Unterkategorie des Hörverstehens, sondern definieren es als ein Produkt aus Filmerleben und Sehverstehen, was auf eine Integration kognitiv-analytischer und emotional-affektiver Komponenten hindeutet (cf. Blell/ Lütge 2008). In der Tat trägt eine klare Abgrenzung des HSV zu anderen rezeptiven Kompetenzen der Komplexität der hierdurch aktivierten mentalen Prozesse Rechnung, weshalb sie in Forschung und Praxis deutlich herausgearbeitet werden sollte. Unter Berücksichtigung aktueller fremdsprachendidaktischer Paradigmen wie Handlungsorientierung, Aufgabenorientierung und dem Fokus auf interkulturelle Kompetenzerweiterung sollte die Schulung von Hör-Seh-Verstehen wie von jeder anderen sprachlichen Kompetenz aber nie einen Selbstzweck erfüllen, sondern vielmehr als Brücke für authentische Kommunikation, kulturelle Einblicke und sprachliche sowie persönliche Handlungsfähigkeit dienen. Blell/ Lütge verdeutlichen diese Hierarchien der Kompetenzen in ihrem pyramidalen Modell zur Filmbildung, wobei (inter-)kulturelles Sehverstehen und interkulturelles Lernen die Spitze der Pyramide bilden (cf. Blell/ Lütge 2008). RapRoMania 357 Abb. 1: Modell zur Filmbildung im FSU (Blell/ Lütge 2008, 128). Obwohl sich das obenstehende Modell zunächst auf die Rezeption und Analyse von Spielfilmen bezieht, ist es problemlos auch auf die Integration von Musikvideoclips in den FSU übertragbar. Das zentral positionierte Hör-Seh- Verstehen und die durch die in beide Richtungen gehenden Pfeile angezeigte Reziprozität deuten darauf hin, dass die audiovisuelle Kompetenz stets im Kontext anderer Fertigkeiten zu betrachten ist. Von unten nach oben betrachtet kann man die Pyramide als eine Entwicklung von der Intuition zur kritischen Reflexion im Umgang mit Filmen lesen, bei der die einzelnen Abschnitte keine abgeschlossenen und aufeinander folgenden Phasen sind; vielmehr bauen die verschiedenen Kompetenzen im wahrsten geometrischen Wortsinne aufeinander auf. Auf der Grundlage dieses Filmbildungsmodells sollen im Folgenden Überlegungen zu HipHop-Videoclips im FSU angestellt und in Verbindung zu aktuellen Hör-Seh-Verstehensparadigmen gesetzt werden. Mit dem Einzug der Cultural Studies in die Fremdsprachendidaktik und der damit einhergehenden Einführung des Multiliteracies-Konzepts (cf. New London Group 1996) erfuhr das Anforderungsprofil eines kompetenten Fremdsprachenlerners beachtliche Änderungen. Literacy - ein Begriff, der ursprünglich die Fähigkeit des Lesens und Schreibens von Schriftsprache 358 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner meinte - erschien dem interdisziplinären Forscherteam der New London Group in Anbetracht sich wandelnder Präsentationsformen von Sprache ungenügend. Vielmehr sei ein erweiterter Textbegriff nötig, der über das geschriebene Wort hinausgeht und dem technologischen Fortschritt der letzten Jahre Rechnung trägt. Auch Bilder, Musik und eben Filme zählen laut Multiliteracies-Pädagogik als Texte im weiteren Sinne und repräsentieren daher ein unverzichtbares Element im guten Sprachunterricht. Besonders bei der Arbeit mit Musikvideoclips kann hier das Potential mehrkanaliger Präsentationsformen voll ausgeschöpft werden. Zusätzlich bietet Musik im Allgemeinen als Quelle authentischen Sprachkontakts immer einen Lebensweltbezug und ein emotionales Identifikationspotential für SuS und somit einen Anlass zur kreativen Auseinandersetzung mit Sprache. So schreibt Nils Eigenwald: „Kaum ein anderer Bereich spielt in der außerschulischen Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler solch eine wichtige Rolle wie Musik“ (Eigenwald 2011, 4). Im Vergleich zu anderen filmischen Textsorten (Spielfilm, TV-Serie, Dokumentation) haben Musikvideoclips einen entscheidenden Vorteil: ihre oft übersichtliche Länge ermöglichen eine mehrmalige Präsentation (cf. Schwerdtfeger 2003, 301) und einen konzentrierten Umgang mit dem dargebotenen Material. Außerdem schaffen es Musikvideoclips wie kaum eine andere Textsorte, Emotionen auf eine so vielkanalige und multimediale Art und Weise zu vermitteln (auditiver/ visueller Kanal; Bilder, Sprache, Musik und Schrift als Medien). Insbesondere das HipHop-Genre und die daran angebundene Jugendkultur mit ihren verschiedenen Bereichen (Rap, DJing, Graffiti, Mode, etc.) sind für den FSU geeignet, da sie sich im Allgemeinen unter Jugendlichen einer großen Beliebtheit erfreuen und der Rap zugleich die sprachlich interessanteste musikalische Ausdrucksform sein dürfte. Die durch Reime, Versmaß und rhetorische Figuren entstehende Nähe zur Poesie ist ein weiterer Anknüpfungspunkt für die Integration dieser Art von Musik in den Sprachenunterricht. 4.2. Förderung der Hör-Sehverstehenskompetenz Auf Grundlage der im Filmbildungsmodell von Blell und Lütge subsummierten Teilkompetenzen für das Hör-Sehverstehen sollen im Folgenden Aufgabenformate für die einzelnen Bereiche vorgestellt werden. Der grundlegende Kompetenzbereich des Filmerlebens kann grundsätzlich wohl bereits in der Primarstufe gefördert werden. In Reflexions- und Evaluationsphasen im Anschluss an eine Filmbetrachtung sollten Schülerinnen und Schüler bereits in den ersten Schuljahren in der Lage sein, Stellung zu einfachen subjektiven Fragen zum Film zu beziehen. Die Lerner können dazu RapRoMania 359 eingeladen werden, ihre Gefühle zum Film zum Ausdruck zu bringen („Ich finde den Film schön / traurig / langweilig…“) und mit kleinen Begründungen zu versehen („…weil ich die Hauptfigur mag / die Figur XY traurig ist / immer nur das Gleiche passiert.“). Für das Filmerleben von fremdsprachigen Musik-Videoclips (möglich ab dem ersten Lernjahr der entsprechenden Sprache) lässt sich sagen, dass das sprachliche Verständnis des Gesagten (bzw. des Gesungenen) eine untergeordnete Rolle spielt. Vielmehr ist es im Sinne einer positiven emotionalen Verbindung zur Fremdsprache und zum Fach sogar sinnvoll, auf ein detailliertes Verständnis des Textes zugunsten eines intuitiveren Zugangs zu verzichten. Schüler können emotionale Reaktionen auf das Gesehene/ Gehörte im Sinne der funktionalen Einsprachigkeit sogar in ihrer Muttersprache äußern und würden dennoch vom Umgang mit dem authentischen Kulturprodukt in der Fremdsprache profitieren. Videoclip und Musikstück können mit bereits bekannten Liedern, z.B. aus dem gleichen Genre, verglichen oder auf ihre Wirkung auf den Betrachter analysiert werden. Der zweite Teilbereich, das Sehverstehen, bedarf einer genaueren Betrachtung des Videoclips und einer Priorisierung des Gesehenen. Ein denkbares Aufgabenformat wäre, den Videoclip ohne Ton zu präsentieren und Spekulationen über die Musik oder das Liedthema auf Grundlage des Bildes anstellen zu lassen. Menschen, Räume und Gegenstände aus dem Video können über das reine Sehverstehen semantisiert, interpretiert und zueinander in Verbindung gesetzt werden. Drittens soll die Kompetenz des Hör-Sehverstehens gefördert werden. Hierbei sollen die Fremdsprachenlerner Gesehenes und Gehörtes verstehen und miteinander verbinden. Besonders geeignet für die Förderung dieses Bereiches sind Videoclips, in denen das Bild zum Gesungenen passt und der Liedtext bildlich dargestellt wird 1 . Schüler könnten die Aufgabe bekommen, das Lied zu hören und Screenshots, also aus dem Video entnommene Standbilder, zu verschiedenen Abschnitten zuzuordnen und in die richtige Reihenfolge zu bringen. Der vierte Kompetenzbereich der Filmanalyse und -kritik bedarf einer sehr sorgsamen Vorauswahl des zu bearbeitenden Materials und der entsprechenden Aufgaben zur Förderung des Hör-Seh-Verstehens. Fragen nach dem Effekt von Kameraperspektiven u.ä. lassen sich natürlich nur an Videoclips erforschen, in denen dieser künstlerische Aspekt filmischer Narration eine Rolle spielt und für die Bedeutung des Videoclips relevant ist. Essentiell ist 1 Als Beispiel kann hier auf das Lied Tranquilo des lateinamerikanischen Rappers Latin Fresh verwiesen werden, zu dem sich Unterrichtsmaterialien im Dossierband Rap RoMania - Jugendkulturen und Fremdsprachenunterricht Band 1: Spanisch/ Französisch sowie auf www.rapromania.de finden. 360 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner dabei weiterhin ein ausreichender terminologischer Wortschatz der Filmanalyse, der mit den Lernern erarbeitet werden muss. Sind der Videoclip geeignet und das Fachvokabular vorhanden, können Schülerinnen und Schüler z.B. Perspektive, Schnitt oder Licht betrachten, analysieren und interpretieren. Aufgrund der Komplexität der zu beobachtenden Sachverhalte und ästhetischen Mittel empfiehlt sich eine Behandlung dieses Kompetenzbereichs nicht früher als am Ende der Sekundarstufe I. Die Pyramidenspitze, das interkulturelle Sehverstehen im Kontext des interkulturellen Lernens, repräsentiert die Königsdisziplin im Bereich des Hör- Sehverstehens in der Fremdsprache. Schüler, bei denen diese Kompetenz gefördert werden soll, müssen über ausgeprägte Vorkenntnisse in den Bereichen der Filmanalyse sowie der interkulturellen Kommunikation verfügen, um im Sinne eines kritischen Kulturbewusstseins interkulturell agieren zu können (cf. Byram 1997). Neue Inhalte - Herausforderungen für künftige Kulturvermittler Die inhaltliche Erschließung und Behandlung der Videoclips angolanischmosambikanischer Raps erfordert allerdings gründliche Vorstudien der landeskundlichen Sachverhalte dieser beiden Länder an der Peripherie der Lusophonie. Abgesehen von sprachlich-kultur- und sozioökonomischen sowie historischen Besonderheiten beider Länder als ehemalige portugiesischsprachige Kolonien, die beide - wie viele andere afrikanische Länder - vor und nach der politischen Unabhängigkeit jahrzehntelange Befreiungs- und Stellvertreterkriege durchlebt haben, verdienen sie eine eigene analytische Aufarbeitung der kolonial-postkolonialen Situation, die sie bis auf Weiteres auszeichnen und nur schwierig mit westlich-nördlichen Erklärungs- und Lösungsmustern von Entwicklung und Fortschritt fassen lassen. So bleiben auch manche Anspielungen in den Videos bzw. Screenshots widersprüchlich bis verborgen ohne eine gründliche Kenntnis und Aufarbeitung ihrer spezifischen Realität in der Nord-Süd-Asymmetrie. Meine eigene Lebenserfahrung durch langjährige Aufenthalte in afrikanischen Ländern (Senegal, Mosambik und Angola) geben mir die Schlüssel, um auf folgende Fragen eine plausible Antwort und einen halbwegs angemessenen Zugang zu diesen Anspielungen zu finden. So möchte ich beispielhaft folgende Fragen an die Lehrer, die künftig mit den vorgestellten Materialen arbeiten, stellen:  Könnt Ihr, liebe KollegInnen, auf einer der vorliegenden Screenshots respektive Videoclips 1 bis 8 Anspielungen auf Scabies, kollektive Unterbringung, sanitäre Verhältnisse entdecken? RapRoMania 361  Stellt eine Beziehung zwischen den in Abbildung (2) vorgestellten „Aspekten und Inhalten portugiesisch angolanischen Raps“ und den Screenshots her!  Erkennt Ihr Zusammenhänge zwischen den Aspekten zu „Rap - Identität - Postmodernität“ in Abbildung (4) und den Screenshots, etwa (3), (5), (8) o.a.? Aus dem Gesagten wird deutlich, dass das vorgelegte Unterrichtsmaterial weit über den Fremdsprachenunterricht hinaus fächerübergreifend, interdisziplinär von Relevanz ist: Fächer wie Geographie, Geschichte, Sozialwissenschaften, Politik-, Kultur- und Geisteswissenschaften u.v.m. behandeln Themen wie Kolonialismus, Postkolonialismus, Lebensqualität, Migration, kulturelle Identität, Nord-Süd-Asymmetrien und vorkoloniale Kulturen, Paradigmenvielfalt und Werte- und Lebensentwürfe. Aus diesem Grund verfassen wir unsere Arbeitsaufträge und assoziativen Felder unabhängig von der Vermittlung der portugiesischen Sprache, die als Fremdsprache im öffentlichen Schulwesen Deutschlands und dem der meisten europäischen Länder kaum und allenfalls in der Erwachsenenbildung von Bedeutung ist. Assoziative Felder - (post-)koloniale Theoriebildung und afrikanischer Hiphop Das Erstellen assoziativer Felder als „mind maps“, „champs sémantiques” oder „Cluster” spielen traditionell im Fremd - und Muttersprachenunterricht als kreative, nicht primär normenorientierte Formen des Zugangs zur Sprache eine wichtige Rolle (etwa bei Caspari 1995). Einen über das Bieten von Schreibanlässen hinausgehenden - weniger bekannten - Zugang zum sogenannten „Kreativen Schreiben“ hat Gabriele Rico in Garantiert schreiben lernen 1984) vorgestellt, indem sie diese Fertigkeit auf ältere Menschen und deren Prozess der Selbst- und Identitätsfindung in Verbindung mit der Hirnforschung übertrug und anwandte. Die Verbindung zu synästhetischen Aspekten, anderen Kunstformen wie Musik und Poesie, Rhythmus und Wort-Bild- Bezug sowie schließlich Traumbildern und Tiefenpsychologie rücken das Kreative Assoziieren in den Vordergrund. Dieser zwangfreie, ungelenkte und in keiner Weise zensierende Umgang mit Sprache, Kunst und Imagination eröffnet weite Felder für das Hör-Seh- Verstehen, bei dem ja vordergründiges, rein referentiell-denonatives Zuordnen der Bilder und Videos gleichberechtigt neben der Klang- und Sprachwahrnehmung, die gleichsam synästhetisch (Es fehlt eigentlich nur der Geruch, der elektronisch (noch) nicht vermittelt werden kann, dem aber sicherlich gerade im interkulturellen Verstehen eine eigene prioritäre Bedeutung 362 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner zukommt). Dem rein Referentiell-Denotativen folgen dann weitere assoziativ-konnotative Bedeutungsfelder, die in den multiplen Identitätskonzept- Theoremen (etwa Bhabha 1994, Sousa-Santos 1995) wiederum in metaphorischen, an phantastische literarische Vorgaben („Pela M-o de Alice“) anknüpfende Begrifflichkeiten ihren Niederschlag finden. Aspetos e conteúdos do rap moçambic/ angol/ ano (Aspekte und Inhalte des mosambikanischen/ angolanischen Raps) modelos e padrões (Samora Machel, Fany Mpfumo, …) mulheres homens lugares de transiç-o (casas sem reboque, carril de ferroviária, aeroportos, escadas, …) lugares de luxo e de carência contextos históricos (época pré-colonial, colonial, pós-colonial) géneros híbridos (literários, musicais, …, marrabunta, samba, batuque, cenário-poesia-romance-teatro, …) crítica social: „burrice de povo“ guerra (crianças-soldados) realidade e natureza africanas realidades urbanas e realidades do interior arte africana questionamento irónico da educaç-o e escola europeias linguístico (code-switching língua oficial, línguas africanas, inglês) - … Abb. 2: Aspekte und Inhalte des mosambikanischen/ angolanischen Raps Schließlich lassen sich diese mit den realen kultur- und gesellschaftlichen Realitäten und Inhalten (Abbildung 3) afrikanischer Lebenswirklichkeit, verstanden als „Zwischenraumkulturen“ (Calvet 1994, Bhabha 1994) in Verbindung setzen, die in mannigfaltiger Form in den Verbildlichungen der Videos und Rap-Clips in Erscheinung treten: „Fluktuierendes-Transitorisches“ in „Gestalt von unverputzten Häuserwänden“ (Rap 3) oder „Gehen entlang von und über Eisenbahngleise“ (Rap 5, 6), „Generationskonflikt“ und „Soziale Ungerechtigkeit“ Ausdruck findend in „Kindersoldatentum“ (Rap 8) und „anspruchsvollen Mode- und Konsumartikeln“ wie „Champagner und Limousinen und Konsummarkenartikeln wie „Champagner und Limousinen“ (Rap 1) oder „snobistischen Rappern“ (Rap 7). Insgesamt haben wir 14 Videoclips zusammengestellt, die in in kurzen Ausschnitten über den folgenden QS … aufgerufen werden können. Eine eigene Auflistung der kompletten Videoclips findet sich im Anschluss an die Arbeitsaufträge. RapRoMania 363 RAP - Inventário tématico (RAP - Thematisches Inventar) injustiça social drogas deliquências conflito das gerações namouro marginalizaç-o das minorias, da juventude etc. crítica do sistema capitalista, da corupç-o porta-voz dos bairros periféricos urbanos inclus-o exclus-o auto-exclus-o criatividade linguística (sociolectos: verlan, lunfardo, gíria dos prisoneiros, …) - … Abb. 3: RAP - Thematisches Inventar Rap - Identidade - Pós modernidade (Rap - Identität - Postmodernität) intersticial pluriparadigmatico central periférico local global glocal híbrido flutuante transitório capital estético resistência-cultural - … Bhaba, Homi K. 1994. Location of Culture. London/ New York: Routhledge. Calvet, Louis-Jean. 1994. Les voix de la ville. 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Beides sind unterschiedliche Formen des Zugangs zum Hör-Seh-Verstehen, einmal als Standbilder und zum anderen als Kurzvideo. RapRoMania 365 366 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner RapRoMania 367 368 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner RapRoMania 369 370 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner RapRoMania 371 372 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner RapRoMania 373 374 Manfred F. Prinz/ Rafael Cano García/ Sebastian Buchczyk/ Lars Kettner www.uni-giessen.de/ cms/ fbz/ fb05/ romanistik/ institut/ personal/ profs/ prinz/ bilder-und-datein/ Videomix Balandier, Georges. 1955. Sociologie actuelle de l’Afrique Noire, dynamique sociale en Afrique Noire. Bhabha, Homi K. 1994. Location of Culture. London/ New York: Routledge. 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Sehverstehen in anderen Fremdsprachen - exemplarische Studien Jörg Roche/ Ferran Suñer Muñoz Das innere Auge - Zur Rolle der Metaphern im Fremdsprachenunterricht 1 Einleitung Sehen und Sehverstehen gehören zwar schon immer zu den wichtigsten Fertigkeiten des Fremdsprachenunterrichts, und seit geraumer Zeit mit neuer Denomination auch zu den Kompetenzbereichen. Aber eben auch nur zu den Fertigkeiten und Kompetenzbereichen. Wie in vielen anderen Bereichen der Fremdsprachendidaktik auch scheint diese Verkürzung auf die management- und prüfungstechnische Ebene weder der Komplexität noch dem Potenzial der Wahrnehmung, Verarbeitung und Produktion von Sprache im Spracherwerb gerecht zu werden. Stellen wir das Auge also einmal an den Anfang der Sprache und sehen uns an, wie ein sehender Unterricht aussehen könnte. Die Kognitive Linguistik und die essentiellen Arbeiten zur Spracherwerbsforschung haben uns in den vergangenen Jahren mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass sich Sprache aus dem Gebrauch entwickelt, und nicht aus einem abstrakten Interesse an Form oder Formen (cf. Form und content Roche et al. 2012; Riedl 2010; Müller-Hartmann/ Schocker-v. Ditfurth 2008; Pietzner/ Scheuer 2004). Das, was wir wahrnehmen, visuell, auditiv, gustatorisch, olfaktorisch, durch Tastsinn, Temperatur und andere Wahrnehmungsbereiche und -kanäle, wird unmittelbar in sprachliche Symbole übernommen, zunächst lexikalische, danach auch grammatische und orthographische. Wer sehen kann und hören, kann immer auch durch die Symbole auf die weltlichen Gegenstände und Ereignisse schauen, auch wenn sie schon längst verschwunden sind, wie zum Beispiel die Sau raus lassen. Mit anderen Worten: Sprache ist ein Ergebnis von Konzeptualisierungsprozessen durch das innere Auge, das sich in Konzepten und mentalen Modellen zeigt und - das ist didaktisch beachtenswert - aktivieren und reaktivieren lässt. Es geht im Fremdsprachenunterricht also nicht nur um das Sehen, sondern um das Erkennen der direkten und indirekten Bilder in der Sprache und um deren Nutzbarmachung. Das geschieht dadurch, dass Erfahrungen über Prozesse der Imagination auf abstrakte konzeptuelle Strukturen projiziert werden. Der Kontrast unterschiedlicher Projektionen, wie sie sich 1 Teile dieses Beitrags basieren auf dem Beitrag Roche / Suñer (2014), der in der Herbstnummer der Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht erschienen ist. 380 Jörg Roche/ Ferran Suñer Muñoz in verschiedenen Sprachen finden, kann vor allem dann zu einer konstruktiven, nachhaltigen Auseinandersetzung führen, wenn die Differenzen auffällig und merkwürdig sind. Wenn man sich die Bilder des zwischen den Stühlen Sitzens im Deutschen und des auf dem Zaun Sitzens im Englischen im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen führt, wird sich jeder lange daran erinnern, der schon einmal ähnliche unbequeme Sitzgelegenheiten gesehen und erfahren hat.Im Folgenden sollen die kognitionslinguistischen Grundlagen der Bildhaftigkeit skizziert werden und die Möglichkeiten dargestellt werden, aus den mentalen Modellen und der Kontrastierung unterschiedlicher mentaler Modelle das didaktische Potenzial der Transferdifferenz von bildlichen Elementen der Sprachen für den Spracherwerb und die Sprachvermittlung nutzbar zu machen. Bildhaftigkeit in der Sprache Die kognitive Linguistik geht davon aus, dass Sprache als Bestandteil der allgemeinen Kognition nach Prozessen des bildlichen Denkens, der Metaphorisierung, der Analogiebildung etc. funktioniert (Langacker 2013; Evans 2013; Talmy 2000, 2008). Die Prozesse der Sprachproduktion und - verarbeitung laufen aber in der Regel so schnell ab, dass die meisten Sprecher sich weder in der Erstsprache noch in der Fremdsprache dessen bewusst sind. So scheinen zum Beispiel der Regen oder andere meteorologische Erscheinungen im Deutschen nichts mit dem Konzept eines Behälters zu tun haben. Bei einer kontrastiven Analyse mit dem Spanischen oder Französischen wird klar, dass die verschiedenen Sprachen solche meteorologischen Phänomene unterschiedlich konzeptualisieren: Durch die Verwendung der Präposition in (zum Beispiel Er fährt mit Sommerreifen im Schnee) wird im Deutschen markiert, dass der Schnee als Behälter konzeptualisiert wird; im Spanischen oder Französischen wird der Schnee hingegen als eine Entität über uns konzeptualisiert (z.B. Span. Estoy bajo la lluvia oder Fr. Je marche sous la pluie, cf. Tyler/ Evans 2005). Die verschiedenen Sprachmittel sind also konzeptuell motiviert und beeinflussen damit die Konzeptualisierung von Ereignissen und Erfahrungen. In diesem Zusammenhang definiert die kognitive Linguistik die Konzeptualisierung (auch construal genannt, Langacker 2013) folgendermaßen: The process of meaning construction to which language contributes. It does so by providing access to rich encyclopaedic knowledge and by prompting for complex processes of conceptual integration. Conceptualisation relates to the nature of dynamic thought to which language can contribute (Evans 2007, 38). Das innere Auge 381 Trotz der unterschiedlichen Konzeptualisierungen des gleichen Ereignisses greifen Sprachen auf Konzepte zurück, die allen Sprechern aufgrund ihrer nichtsprachlichen Erfahrungen im Umgang mit der Umwelt bekannt sind (Hitze und Kälte sind zum Beispiel überall gleich). Aus diesen Erfahrungen werden wiederkehrende Muster erkannt, die dann in Form von sogenannten Bildschemata in das konzeptuelle System der Sprecher übergeführt werden. Zu diesen Bildschemata gehören nach Evans/ Green (2006, 190; cf. auch Lakoff/ Johnson 1980) unter anderem Raumkonzepte (OBEN-UNTEN; VORN- HINTEN; LINKS-RECHTS), Konzepte der Bewegung (IMPULS/ EIGENDY- NAMIK; URSPRUNG-WEG-ZIEL), Konzepte der Kraft-Dynamik (DRUCK; BLOCKIERUNG; GEGENKRAFT; ANZIEHUNG; WIDERSTAND) etc. Die Übertragung dieser Konzepte auf die Sprache erfolgt durch Metaphorisierung, die allgemein als die Übertragung des konzeptuellen Inhalts einer Quellendomäne auf eine Zieldomäne aufgefasst wird (Lakoff/ Johnson 1980). Nehmen wir den folgenden Beispielsatz: Die Preise für Nahrungsmittel sind im Juli in Deutschland so stark gestiegen wie seit fast fünf Jahren nicht mehr (Süddeutsche Zeitung, 13. August 2013). In diesem Fall wird das Konzept der Vertikalität (OBEN-UNTEN) als Quellendomäne auf die abstrakte Zieldomäne der Preise (TEUER-BILLIG) projiziert, so dass die Verwendung von Verben wie steigen, sinken oder sich stabilisieren als plausibel erscheinen. Erst durch die Metaphorisierung erlangen also solche semantischen Felder die innere Konsistenz, die für die konzeptuelle Organisation abstrakter Sachverhalte, Wertvorstellungen, Erfahrungen erforderlich ist. Bereits aus diesen Skizzierungen zeichnet sich ein besonderer Beitrag der kognitiven Linguistik zur Grammatikbeschreibung und -vermittlung ab, den weder generativistische Ansätze noch andere formell-abstrakte Erklärungs- und Beschreibungsverfahren zu leisten in der Lage sind. Unter Rückgriff auf Prinzipien der allgemeinen Kognition und Perzeption verweist die Kognitive Linguistik auf körperliche Erfahrungen (Metaphorisierung, Figur-Grund- Prinzip, Perspektivierung etc.), die Grammatik als ein bedeutungsvolles und konzeptuell motiviertes System erscheinen lassen (cf. Langacker 1987, 1991, 2009; Talmy 1983, 2000). Die Grammatik steht dabei in einem besonderen Verhältnis zur Lexik. Während die lexikalischen Einheiten der Sprache den konzeptuellen Inhalt der Äußerungen darstellen, liefert die Grammatik das nötige Gerüst für ihre konzeptuelle Struktur (Talmy 2000; Meex/ Mortelmans 2002). Dieser Paradigmenwechsel hatte die Einführung alternativer Beschreibungsparameter und Begriffe zur Folge, die mit den bisherigen Erkenntnissen aus den Kognitionswissenschaften besser vereinbar sind und daher mit der Terminologie in den traditionellen Erklärungsansätzen stark kontrastieren. So lassen sich zum Beispiel grundlegende grammatische Kategorien wie Subjekt und Objekt in der kognitiven Grammatik anhand des Begriffspaars Figur- Grund beschreiben (Talmy 2000, cf. auch Trajector/ Landmark genannt, cf. 382 Jörg Roche/ Ferran Suñer Muñoz Langacker 2013), das auf Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie zurückgreift (cf. Gestalttheorie, Wertheimer 1967). Nach dem Figur-Grund-Prinzip stellen wir bei der allgemeinen Wahrnehmung von Ereignissen stets ein Element in den Vordergrund (Figur) und alle anderen Elemente der Szene in den Hintergrund (Grund). Eine solche Beschreibung von Subjekt und Objekt erlaubt die Überbrückung möglicher Unterschiede in der formellen Realisierung solcher Kategorien zwischen der Erst- und der Zielsprache der Lerner und schafft somit einen konzeptuell besser nachvollziehbaren Zugang zur Zielsprache. So zeigt die kognitionslinguistische Analyse der Wechselpräpositionen im Deutschen zum Beispiel, dass für die Kasuswahl Akkusativ/ Dativ nicht der itemspezifische Ausdruck von Bewegung/ Richtung (Akkusativ) oder Nichtbewegung/ Lage (Dativ) ausschlaggebend ist, wie es in den Referenzgrammatiken überwiegend dargestellt wird, sondern dass das Überschreiten (Akkusativ) bzw. Nicht-Überschreiten (Dativ) der Grenzen eines realen oder imaginären Zielbereiches ausschlaggebend ist (cf. Scheller 2009; Langacker 1991, 2008; Roche/ Webber 1995). Im Beispielsatz Das Auto fährt auf der Straße kann trotz der vom Verb ausgedrückten Bewegung durch den Dativ markiert werden, da der imaginäre Bereich der Straße nicht verlassen wird. Bei der Festlegung der konzeptuellen Struktur einer Szene entscheiden sich Sprecher stets für eine Perspektive, mit der sie ihr inneres Auge innerhalb der Szene situieren (Talmy 2000, 217; cf. auch vantage point bei Langacker 2008a, 69). So werden zum Beispiel bei den Sätzen Manuel Neuer ging ins Training und Manuel Neuer kam in die Pressekonferenz jeweils eine externe und eine interne Perspektive, indem die Position des Sprechers als Origo in Bezug auf die wahrgenommene Szene fungiert (cf. Talmy 2000, 69; cf. auch Langacker 2008a, 75-77). Dieses Prinzip erklärt zum Beispiel auch die unterschiedlichen Perspektiven, die die Sprecher durch die Nutzung des progressiven Aspekts im Englischen (I build up a new team vs. I am building up a new team) oder des Gerundivs im Spanischen (Bsp. canto und canción de Pablo Peret vs. estoy cantando una canción Pablo Peret) einnehmen können (cf. Radden/ Dirven 2007, 177). Mit dem nicht-progressiven Aspekt wird eine Art globale bzw. externe Perspektive eingenommen, die bei perfektiven Verben die Betrachtung des Anfangs- und des Endpunkts eines Prozesses ermöglicht. Mit dem progressiven Aspekt wird hingegen eine lokale beziehungsweise interne Perspektive eingenommen, die die Aufmerksamkeit auf eine einzelne Komponente des Gesamtprozesses fokussiert und daher auch dessen Anfangs- und Endpunkt ausblendet. Dabei bleibt jedoch der Gesamtprozess als konzeptuelle Basis der profilierten Einzelkomponente implizit vorhanden (cf. Radden/ Dirven 2007; cf. auch Basis/ Profil in Bezug auf das Gerundiv nach Castañeda 2006, 17; Castañeda/ Alonso 2009, 27). Das innere Auge 383 Auch das Bedeutungssystem der Modalverben lässt sich in vielen Sprachen als unterschiedliche kraft-dynamische Konstellationen zwischen verschiedenen Partizipanten einer Szene beschreiben (Tyler 2008; Talmy 2000; Sweetser 1990). Auf diese Weise werden psycho-soziale Interaktionen wie Erlaubnis, Notwendigkeit, Möglichkeit, Pflicht etc. durch körperliche Erfahrungen wie Druck, Gegenkraft, Dynamik, Blockade etc. ausgedrückt. Nehmen wir folgenden Beispielsatz: Vettel ist zu schnell gefahren und muss daher eine Strafe zahlen. In diesem Fall stellt Vettel den sogenannten Agonisten (zentrale Figur) in der Szene dar, der eine Tendenz zum Ruhezustand hat. Der sogenannte Antagonist (zum Beispiel die Verkehrspolizei) übt einen Druck gegen Vettel aus und stoppt ihn unter Umständen (bei Führerscheinentzug und ähnlichem). In dem Beispielsatz Johnny Depp darf nach der Scheidung endlich mal in der Wohnung wieder rauchen stellt sich die kraft-dynamische Konstellation durch das Modalverb dürfen hingegen etwas anders dar (siehe Abb. 1): Johnny Depp ist der Agonist und hat eine innere Tendenz zur Fortbewegung (Rauchen), die aber durch die stärkere Gegenkraft beziehungsweise Blockierung des Antagonisten (hier seine Frau) verhindert wird. Erst die Aufhebung der Gegenkraft durch einen weiteren Antagonisten (hier die Scheidung) kann sich die innere Tendenz von Johnny Depp zur Fortbewegung (hier rauchen) vollziehen (die Namen der Agonisten und Antagonisten sind hier natürlich frei erfunden und haben hoffentlich nichts mit der Realität zu tun). Die daraus resultierende Kursänderung stellt das Compulsion Image Schema dar. Abb. 1: Compulsion image schema und removal of constraint image Schema nach Evans/ Green (2006, 188). Die Nutzung körperlicher Erfahrungen als konzeptuelle Basis in vielen Sprachbereichen wurde in den Anfängen der kognitiven Linguistik anhand introspektiver Methoden analysiert und hatte daher ein wenig gesichertes systematisches Fundament (cf. Geeraerts/ Cuyckens 2007; Grady 2007). In den letzten zwei Jahrzehnten mehrten sich jedoch Studien aus benachbarten Kognitionswissenschaften, die empirische Evidenz für die enge Verbindung zwischen Sprache und körperlichen Erfahrungen bei der Metaphorisierung 384 Jörg Roche/ Ferran Suñer Muñoz generiert haben (cf. Gibbs/ Ferreira 2011). So zeigt die psycholinguistische Studie von Wilson/ Gibbs (2007), dass die Verarbeitung von metaphorischen Ausdrücken schneller abläuft, wenn die entsprechenden modalitätsspezifischen Aspekte durch eine nicht-sprachliche Handlung voraktiviert wurden. Weiterhin stellen Bergen/ Wheeler (2010) fest, dass sich die Nutzung unterschiedlicher Aspektformen (progressive vs. perfect) in Sätzen mit demselben konzeptuellen Inhalt in unterschiedlichen Aktivierungsmustern des motorischen Systems niederschlägt. Schließlich zeigen Boulenger et al. (2009) in einer fRMI-Studie, dass die Mitaktivierung relevanter sensomotorischer Aspekte die Erschließung abstrakter Bedeutungen von idiomatischen Redewendungen erleichtert. Auf die kulturspezifischen Differenzen in der Metaphorisierung von Konkreta, Abstrakta und Adjektiven verweisen zudem einige kontrastive Studien zwischen dem Deutschen, dem Französischen und dem Québecois (Roche/ Roussy-Parent 2006) sowie zwischen Deutsch, Französisch und Arabisch (Ait Ramdan 2013). Zusammen mit den Ergebnissen älterer Studien zum Englischen verweisen sie 1. auf den hohen Grad der Metaphorisierung bei Abstrakta und 2. auf frappierende kulturspezifische Differenzen, aber auch überraschende konzeptuelle Gemeinsamkeiten bei den typologisch nicht verwandten Sprachen. Transferdifferenz in der Sprach- und Kulturvermittlung Entgegen der weitläufig verbreiteten Meinung in der Lehrpraxis, dass die Metaphern lediglich in der gehobenen Sprache auftreten und daher erst für L2- Lerner auf den höheren Niveaustufen (C1-C2) relevant sind, zeigt die Studie von Littlemore et al. (2013), dass L2-Lerner durchaus auf allen Niveaustufen des GER Gebrauch von metaphorischen Ausdrücken machen. Die Autoren stellten zum Beispiel fest, dass die Nutzung von metaphorischen Ausdrücken mit zunehmendem Sprachniveau häufiger wird. Außerdem beobachteten sie, dass die Lerner auf den niedrigen Niveaus in den metaphorischen Ausdrücken vorwiegend Items aus kaum erweiterbaren Wortklassen nutzten (zum Beispiel die räumlichen Präpositionen unter und über für den Ausdruck von Hierarchien), während die Lerner auf den höheren Niveaustufen (ab B2) vor allem Wörter aus erweiterbaren Wortklassen nutzten (zum Beispiel das Verb kontern in einer Diskussion). Folgerichtig fordern Littlemore et al. (2013; cf. auch Littlemore/ Low 2006) eine stärkere Berücksichtigung der Vermittlung metaphorischer Ausdrücke in den Curricula und die gezielte Förderung einer konzeptuellen Kompetenz im Fremdsprachenunterricht (cf. auch Danesi 2008 mit der Forderung nach einer Conceptual Fluency). Welche Rolle die sogenannte Transferdifferenz beim Erwerb einer konzeptuellen Kompetenz spielt, Das innere Auge 385 wird im Folgenden mit Roche/ Suñer (2015, 292sqq.; cf. auch Roche/ Suñer 2014, 132) näher erläutert. Im Kontext der Sprach- und Kulturvermittlung bezeichnet der didaktische Begriff der Transferdifferenz die Distanz zwischen dem konzeptuellen System der Lerner und dem konzeptuellen System der Zielsprache. Dieser Begriff geht also nicht von prinzipiellen konzeptuellen Unterschieden zwischen beiden Sprachsystemen aus (die jedoch nicht in jedem Einzelfall gegeben sein müssen), sondern er fasst konzeptuelle Unterschiede als Elemente linguakultureller Systeme auf und löst damit die artifizielle Trennung zwischen Sprache und Kultur, die in der Sprach- und Kulturvermittlung oft in Form von isoliertem Landeskunde-Unterricht betrieben wird. Die Transferdifferenz wird im vorliegenden Ansatz eher als Potenzial der Vermittlung denn als Hürde angesehen, da gerade große Diskrepanzen zwischen L1 und L2 oft das nötige Interesse der Lerner erzeugen, das zu einer intensiveren Verarbeitung und damit zur Stärkung der Aktivierungspfade in den Wissensstrukturen der Lerner führen (cf. Roche et al. 2012). Eine erfolgreiche Vermittlung nutzt also diese Transferdifferenz produktiv und bietet entsprechende konzeptuelle Brücken an. Das Erlernen von Sprachen und deren Konzeptualisierungswegen erfordert eine Restrukturierung des konzeptuellen Systems (cf. Jessen/ Cadierno 2013; Roche 2013; de Knop/ Dirven 2008). Je nach Vorwissen der Lerner kann die kognitive Integration der daraus resultierenden Transferdifferenz unterschiedlich große Schwierigkeiten bereiten. In dieser Hinsicht bewegt sich Transferdifferenz auf einem Kontinuum zwischen konzeptueller Divergenz und konzeptueller Konvergenz der konzeptuellen Systeme der L1 und L2. Wird diese Transferdifferenz durch konzeptuelle Koordination (unter anderem durch Assimilations- und Akkommodationsprozesse) in die Wissensstrukturen des Lerners aufgenommen, so spricht man von Transdifferenz als Ergebnis des Lernprozesses (cf. Roche 2013). Transdifferenz als Ziel des Unterrichts ist also durch Prozesse der Entstehung und Veränderung mentaler Modelle und Schemata operationalisierbar (cf. Ifenthaler 2010), wobei diese Prozesse prinzipiell Sprachenerwerb, Sprachenmanagement und Transkulturation (und damit auch die Landeskunde) gleichermaßen betreffen. Vermittlung konzeptueller Kompetenz im Fremdsprachenunterricht Das Potenzial kognitionslinguistischer Ansätze für die Sprachvermittlung beruht vor allem auf der hohen Nachvollziehbarkeit der verwendeten Beschreibungsparameter (vor allem ihrer physischen Erfahrbarkeit) vor dem Hintergrund allgemeiner Kognitionsprozesse. Die konzeptuelle Motiviertheit von 386 Jörg Roche/ Ferran Suñer Muñoz Sprache wird nämlich anhand von allgemeinen Wahrnehmungs- und Konzeptualisierungsprinzipien sowie Prozessen des menschlichen Denkens erklärt und erfahr- und sichtbar gemacht, so dass jeder Lerner fast unabhängig von seinem sprachlichen Vorwissen einen konzeptuellen Zugang zu den scheinbar abstrakten Strukturen der Zielsprache finden kann. Die aktuelle Forschung zeigt jedoch, dass die Verwendung kognitionslinguistischer Konzepte in der Sprachvermittlung nicht immer ausreicht, um die Prinzipien der Sprache transparent zu machen (cf. Reif 2012; Bielak/ Pawlak 2011; Tyler 2008; Yasuda 2008). Vor diesem Hintergrund entwickelten Roche/ Suñer (2014) am Beispiel der Grammatikanimationen einen Ansatz zu einer integrativen, kognitiv ausgerichteten Didaktik, der neben kognitionslinguistischen Erkenntnissen auch Erkenntnisse aus benachbarten Forschungsbereichen ergänzt, die sich in jüngster Zeit als ertragreich und paradigmabildend erwiesen haben. Dazu gehören die Erforschung der Entstehung und Veränderung mentaler Modelle (cf. zum Beispiel Grass 2013; Ifenthaler 2010), psycholinguistische Aspekte des Spracherwerbs und der Sprachverarbeitung (cf. zum Beispiel de Bot 2004, Pavlenko 2009, Jarvis 2011), die Struktur und der Erwerb des mentalen Lexikons (cf. zum Beispiel Cieslicka/ Heredia 2015; Plieger 2009), kognitive Theorien des multimedialen Lernens (cf. zum Beispiel Mayer 2009; Schnotz 2005), Motivationsvariablen (cf. zum Beispiel Dörnyei/ Kubanyiova 2014, Schoor/ Bannert 2011), dynamische und ökologische Mehrsprachigkeitsmodelle (de Bot et al. 2013; Verspoor/ Behrens 2011, de Bot/ Larsen- Freeman 2011) und weitere Forschungsfelder. Der Ansatz unterscheidet insgesamt vier Ebenen, die hier am Beispiel verschiedener Grammatikanimationen veranschaulicht werden: 1. Ebene der kognitiven Linguistik, 2. Ebene der Transferdifferenz, 3. Ebene der grammatischen Metapher, 4. Ebene der Darstellung und Vermittlung. Diese Ebenen sollen im Folgenden erläutert werden. Das innere Auge 387 Abb. 2: Ebenen der kognitiven Didaktik (Roche/ Suñer 2014, 125). Die Ebenen der kognitiven Linguistik und der Transferdifferenz wurden jeweils in den Abschnitten 2 und 3 bereits vorgestellt. Daher sollen im folgenden Abschnitt Aspekte der Nutzung von grammatischen Metaphern sowie der Vermittlung konzeptueller Kompetenz im Fremdsprachenunterricht behandelt werden. 4.1. Metaphern in der Grammatikvermittlung Als didaktische Brücken dienen die sogenannten grammatischen Metaphern der Veranschaulichung der konzeptuellen Motiviertheit von Grammatik und unterstützen damit den Erwerb konzeptueller Kompetenz. Nach Roche/ Suñer Muñoz (2014; cf. auch Suñer Muñoz 2013) werden grammatische Metaphern als innovative konzeptuelle Metaphern definiert, die anhand von Situationen aus dem Alltag der Lernerinnen die konzeptuelle Basis der Grammatik transparent machen. Didaktisch geht es darum, die semantische 388 Jörg Roche/ Ferran Suñer Muñoz Grundlage der Grammatik den Lernern vor Augen zu führen, damit sie sie nachhaltig in ihrem inneren Auge abbilden können. Die kognitive Verankerung von grammatischen Metaphern ist eine wichtige Voraussetzung für die Erzielung des gewünschten Mehrwerts, da sonst die verwendete Metapher eine reine Unterhaltungsfunktion ohne erkennbaren Bezug zum Lernprozess erfüllen würde. Die Formulierung und Anwendung von grammatischen Metaphern soll im Folgenden am Beispiel des zuvor besprochenen Erklärungsansatzes zum Gerundiv im Spanischen veranschaulicht werden. Das Gerundiv im Spanischen verhält sich ähnlich wie der progressive Aspekt im Englischen, und zwar markiert der Sprecher mit diesen Formen eine interne Perspektive der Szene, die es ihm erlaubt, sich einzelne Komponenten eines Gesamtprozesses genauer anzuschauen. Eine solche Funktion lässt sich anhand der grammatischen Metapher der Lupe veranschaulichen: Mit der Lupe können Teile eines Ganzen vergrößert dargestellt werden, ohne dass der Gesamtzusammenhang verloren geht. Das heißt, der Betrachter ist sich zwar stets dessen bewusst, dass er mit der Lupe einige Teile vom Ganzen ausblendet, dafür kann er aber die kleinsten Details der vergrößerten Teile beobachten. Für die Darstellung dieser grammatischen Metapher sind vor allem Handlungen, die Prozesse ausdrücken und daher mehrere Komponenten aufweisen (zum Beispiel bringen, bauen etc.), besonders gut geeignet. Die nachfolgenden Abbildungen stellen am Beispiel des Verbs llevar (span. bringen) drei Komponenten eines Prozesses: abholen, (hin)bringen und abgeben. Kommt das Gerundiv zur Anwendung, so wird die mittlere Komponente des Prozesses fokussiert und damit eine noch nicht abgeschlossene Handlung gezeigt. Abb. 3: Darstellung des Gerundivs im Spanischen nach Castañeda (2006, 17). Die grammatischen Metaphern bieten für die Sprachvermittlung den Vorteil, dass sie komplexe Aspekte der konzeptuellen Motiviertheit von Grammatik anhand von leicht zugänglichen Alltagserfahrungen aus der Lernerwelt transparent machen lassen. So lassen sich zum Beispiel die (kraft-dynamische) Bedeutung der Modalverben durch Rennautos anschaulich machen und die unterschiedliche Salienz von Elementen im Aktiv und Passiv durch das Billard-Spiel und den Scheinwerfer (cf. Roche/ Suñer 2014; Suñer 2013). Anhand solcher grammatischen Metaphern können die Lerner die Variationen einer Szene in Abhängigkeit mit den verwendeten Sprachformen mental Das innere Auge 389 durchspielen und sich damit in ihrer Rolle als echte Gestalter sprachlicher Handlungen ausleben. 4.2. Die Arbeit mit Metaphern im Fremdsprachenunterricht Wenn dem inneren, von der Metaphorik geschulten Auge des Lerners im Fremdsprachenerwerb eine dermaßen umfangreiche Aufgabe zukommt, bietet es sich an, die Prinzipien des natürlichen Sprachenerwerbs auch im Unterricht angemessen abzubilden. Weder kann die Sprachdidaktik bei ihren oft noch sehr abstrakten, gegebenenfalls mit mehr oder weniger bunten Aktivitäten garnierten Verfahren der Grammatikvermittlung bleiben, noch würde die Behandlung von Metaphern als reiner lexikalischer Lernstoff grundsätzlich am Unterricht etwas verbessern. Es geht also um das richtige Maß und vor allem die Berücksichtigung der Grundfunktionen der Metaphorisierung in der phylo- und ontogenetischen Sprachentwicklung. Als besonders effektiv für den Einsatz grammatischer Metaphern hat sich die Nutzung von animierten Darstellungen erwiesen, da sich dynamische Aspekte der konzeptuellen Basis grammatischer Phänomene damit besonders gut repräsentieren lassen. Die Studie von Scheller (2009; cf. auch Roche/ Scheller 2008) zeigt jedoch, dass der Einsatz visueller Mittel bei der medialen Umsetzung von Grammatikanimationen nicht Unterhaltungszwecken dienen sollte, sondern sorgfältig zu planen und zu begründen ist. Erst durch die Berücksichtigung der kognitionspsychologischen Grundlagen aus den Theorien des multimedialen Lernens (cf. Mayer 2009; Schnotz 2005) können animierte Grammatikdarstellungen nachhaltige Lerneffekte erzielen und die Bildung mentaler Modelle unterstützen. Die Effekte einer vordringlichen Berücksichtigung von Metaphorisierungsprozessen im Fremdsprachenunterricht lassen sich mit Roche (2013, 133sq.) folgendermaßen zusammenfassen:  Metaphorisierungsprozesse sind gerade bei der Vermittlung von abstraktem Wortschatz ein geeignetes Mittel. Diese können auch durch visuelles Material unterstützt werden. Zu beachten ist dabei, dass auch die visuelle Wahrnehmung kultursemiotischen Einflüssen unterliegt (cf. Roche et al. 2012).  Das Verfahren der kontrastiven Assoziation ist ein geeignetes Mittel zur Vorbereitung und Entlastung von jeder Art interkultureller Kommunikation.  Metaphern stellen ein konzeptuelles Orientierungssystem dar, das am besten in Teilbereichen und sukzessive erworben werden kann, je nach thematischem Interesse. Das System kann auf strukturellen Metaphern und räumlichen, zeitlichen oder anderen Orientierungen basieren oder von ontologischen Kategorien abgeleitet sein. 390 Jörg Roche/ Ferran Suñer Muñoz  Metaphern in der Fremdsprache bedürfen der Relevanz für den Lerner. Die Konzepte und Strukturen, die ihnen zugrunde liegen oder in deren Kontext sie verwendet werden, sollten darüber hinaus die nötige Salienz besitzen, um die Aufmerksamkeit des Lerners zu wecken. Wo Metaphern zwischen zwei Sprachen differieren, entsteht eine Transferdifferenz, die das besondere Interesse des Lerners wecken kann.  Diese Differenz kann zwischen primärer und metaphorischer Bedeutung oder den Bedeutungen der L1 und L2 bestehen. Ungewöhnliche kulturelle Äquivalenzen und Diskrepanzen wie in green with envy / gelb vor Neid tendieren zu besonders hoher Salienz.  Das erhöhte Interesse bewirkt eine intensivere Verarbeitung der Metaphorik. Dieser erhöhte kognitive Aufwand hinterlässt stärkere Spuren im kognitiven System und stärkt damit die Aktivierungspfade des mentalen Lexikons, das heißt das Behalten. Unter bestimmten Bedingungen führt die multimodale Verarbeitung mittels verschiedener Verarbeitungskanäle (Modi) und verschiedener Kodierungen (Formate) zu einer Erleichterung der Verarbeitungsaufgabe (cf. Suñer Muñoz 2011; Scheller 2009). Ausblick Der Fremdsprachenunterricht kann sich nicht vordringlich mit strukturellen Aspekten des Grammatik-, Wortschatz- und Wissenserwerb beschäftigen, wenn damit die eigentliche Bedeutung des Kommunizierens und der Sprache aus dem Blick gerät. Tut er es dennoch, hat er eine Fülle von Folgeproblemen, denen die bisherige Sprachdidaktik nur mühsam gerecht wird. Meistens führen sie zu Aktionismus, der sich in Wellen manifestiert, aber in ähnlicher Frustration endet, wie Ansätze, die „schon mal da waren“. Man denke etwa an die verschiedenen Tsunamis der Medienbegeisterung und die Ebbe danach, man denke an die stets wiederkehrenden Inhaltsdebatten (neuerdings CLIL), die Input- und Kompetenzmodelle und die vielen, meist fruchtlosen Versuche, Grammatik lustiger und bunter zu machen. Würde sich die Sprachdidaktik dagegen stärker auf das innere Auge der Sprecher und Lerner einstellen, ließe sich Sprache sowohl an Lerner als auch an sogenannte Muttersprachler transparent und nachhaltig vermitteln. Das hätte beschleunigende und qualitätssteigernde Effekte auf den Spracherwerb und könnte zu einer echten Sprachbewusstheit führen, die selbst ein enormer Beitrag zu einer lebendigen und gut ausgeprägten Sprachkultur sein könnte. Debatten um die künstliche Trennung von focus on form, forms und content würden überflüssig, Das innere Auge 391 es ergäbe sich eine natürliche Ausrichtung auf aufgaben- und handlungsorientierte Lehr- und Lernverfahren - und damit auf Kompetenzen -, und es ließen sich die sonst solitär agierenden Strukturelemente des Sprachunterrichts mit der meist zu Unrecht prekariatsmäßig behandelten Landeskunde sinnvoll zusammenführen (cf. hierzu unter anderem die neuere Literatur zu Erinnerungsorten in der Sprach- und Kulturvermittlung, Reimann 2014; Roche/ Röhling 2014). Man sagt, die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Man könnte aber auch sagen, die Effizienz des Spracherwerbs liegt im inneren Auge des Lerners. Ait Ramdan, Mohcine. 2013. „Wortassoziationen: Ein interkultureller Vergleich zwischen dem Deutschen, dem Arabischen und dem Französischen“, in: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht, 18 (1), 35-61. 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Jahrhunderts ist immer häufiger die Rede vom kulturellen visual turn (cf. Hecke/ Surkamp 2010, 9; Hallet 2010, 33), worunter die zunehmende Visualisierung des gesamten Fremdsprachenlernens zu verstehen ist. Lehrwerke, Handreichungen und weitere Unterrichtsmaterialien sind gefüllt mit Fotografien, Zeichnungen, Illustrationen, Grafiken, Cartoons und comicartigen Bildsequenzen. Darüber hinaus gibt es eine große Auswahl von visuellem Begleitmaterial wie Folien, DVDs, Internethinweisen etc. Dies führt unweigerlich zu einer didaktischen Kultur des Sehens, der sogenannten viewing culture (Hallet 2010, 30sqq.), die aufgrund der Omnipräsenz der Bilder innerhalb und außerhalb der Schule in Lehr-/ Lernprozessen immer wichtiger wird. Auch in den Kulturwissenschaften lenkt der iconic turn den Blick auf die dialektische Beziehung zwischen „biologisch bestimmter Sinneswahrnehmung und kulturellen Sehgewohnheiten“ (Blell 2010, 95), d.h. das Visuelle besitzt nicht nur eine illustrative Funktion, sondern stellt in Analogie zu linguistischen Formen ei ne „bedeutungsstiftende, bedeutungstragende und bedeutungsvermittelnde Instanz“ (Seidl 2007, 3) dar. Für die Fachdidaktik bedeutet das, die Lerner darauf vorzubereiten, sich mit einer immer weiter verbreiteten Kultur des Bildes (visual culture) auseinanderzusetzen und semiotische Mittel vor allem im Literaturunterricht zu verarbeiten, zu interpretieren und zu verstehen (visual literacy) (cf. dazu auch die Ausführungen von Reimann 2016 im vorliegenden Band). Durch die Hybridität der Texte sind Leser und Lerner gleichermaßen gefordert, auf verschiedenen intermedialen, multicodalen und multimodalen Ebenen zu lesen und zu dekodieren. Im vorliegenden Beitrag sollen deshalb Überlegungen zum Umgang mit multimodalen Texten entwickelt werden, die ein facettenreiches Bild im Hinblick auf inter- und transkulturelles Sehverstehen liefern. Gezeigt wird dies am Beispiel ausgewählter Cartoons in Sherman Alexies 2007 verfassten Roman The Absolutely True Diary of a Part-time Indian. Kulturelles Sehverstehen 397 Multimodalität in narrativen Texten In der Theorie der Multimodalität ist ein Modus ein semiotisches Mittel für einen Diskurs, d.h. eine sozial und kulturell geformte Möglichkeit, Bedeutung in Repräsentations- und Kommunikationsformen zu verhandeln (cf. Kress/ van Leeuwen 2001, 25; Kress 2010, 53). Diese Modi und generischen Formen sind die Bausteine von (inter-)kulturellen Diskursen, die sowohl aus geteiltem Wissen als auch aus kulturellen Vorstellungen innerhalb einer Gemeinschaft bestehen (cf. Kress/ van Leeuwen 2001). Somit können semiotische Modi verschiedene Funktionen übernehmen, wie z.B. Nachrichten übermitteln oder zwischenmenschliche Beziehungen zwischen Gesprächspartnern herstellen. In Analogie zu verbaler Sprache ergeben diverse semiotische Modi nur Sinn, weil sie sich auf Zeichensysteme stützen, die durch Enkodierung und Dekodierung in ähnlicher Weise ‚gelesen‘ werden können wie rein sprachliche Zeichen. Bilder und Zeichen hat es schon immer gegeben, d.h. Multimodalität ist nichts grundlegend Neues, die stetig wachsende Bedeutung der visuellen und grafischen Darstellung und Kommunikation scheint jedoch ein Indikator für einen grundsätzlichen kulturellen und medialen Wandel in den westlichen und technologisch hoch entwickelten Gesellschaften zu sein (cf. Hallet 2015). Auch innerhalb des Genres Roman hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten ein Wandel vom monomodalen zum multimodalen Roman vollzogen. Anders als traditionelle Romane des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich in erster Linie des geschriebenen Wortes in gedruckter Form bedienten, verfügt der zeitgenössische multimodale Roman über eine große Auswahl an visuellen und anderen symbolischen Darstellungen und nicht-narrativen semiotischen Modi wie Bilder, Cartoons, Zeichnungen und Grafiken aller Art zur Darstellung und Erzeugung der Romaninhalte. Semiotische Ressourcen werden dabei in den narrativen Diskurs der fiktionalen Welt integriert (cf. Hallet 2010). Durch die Synergie der Gesamtbedeutung eines multimodalen Textes entsteht schließlich ein Hypertext, der eine gezielte Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen von Sprache ermöglicht. Durch die Kombination verbaler Sprache mit verschiedenen semiotischen Modi können multimodale Romane als Imitation einer komplexen und symbolisch vielfältigen Möglichkeit gesehen werden, (inter-)kulturelle Erfahrungen und Diskurse zu kommunizieren. Somit modellieren sie nicht nur lebensweltliche mediale Erfahrungen der Lernenden, sondern auch kulturelle kommunikative Praktiken und erfordern die Entwicklung von multiple literacies.  T  he use of several semiotic modes in the design of a semiotic product or event, together with the particular way in which these modes are combined - they may for instance reinforce each other […], fulfil complementary roles […], or be hierarchically ordered, as in action films, where action is dominant, with 398 Maria Eisenmann music adding a touch of emotive colour and sync sound a touch of realistic ‘presence’ (Kress/ van Leeuwen 2001, 20). Prozesse kultureller und sozialer Interaktion können somit als Ergebnis der Kombination von sprachlichen Äußerungen mit visuellen und anderen semiotischen Modi betrachtet werden. Neben der verbal erzählten Geschichte können in multimodalen Romanen die Gedanken des Erzählers zudem im ‚Original’ oder in meta -medialer Form wiedergegeben werden, z.B. in Form von Fotos, Karten, Skizzen, Postkarten, persönlichen Briefen, E-Mails etc. Das Entscheidende dabei ist, dass all die eingesetzten Modi - im Gegensatz zu zusätzlichen Abbildungen oder Paratexten - Teil der fiktiven Welt sind, d.h. sie werden vom Erzähler produziert und verwendet, um dem Leser Zugang zu Elementen und Teilen der fiktiven Welt zu gewährleisten, die bisher nur in verbaler Form zugänglich waren. Kultureller Diskurs und soziale Interaktion in multimodaler narrativer Jugendliteratur Neben der wachsenden Bedeutung multimodaler Texte ist in den letzten zwei Jahrzehnten auch interkulturelles Lernen ein fester Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts geworden. Schon in den 1990er Jahren erkannte man das Potenzial des Literaturunterrichts für das interkulturelle Lernen (Kramsch 1993; Bredella 2002; Delanoy/ Volkmann 2006). Vor diesem Hintergrund betont Claire Kramsch „if language is seen as social practice, culture becomes the very core of language teaching“ (1993, 8). Literarische multimodale Texte sind für das interbzw. transkulturelle Lernen ganz besonders geeignet, weil sie komplexe Wirklichkeiten anderer Kulturen auf authentische Weise verbal und mit Hilfe semiotischer Modi ins Klassenzimmer bringen. Fremdsprachlicher Literaturunterricht weckt Neugier und Interesse für das Andere, bringt den Leser zum Perspektivenwechsel und lässt somit auch das Eigene hinterfragen. Im Leseprozess werden die eigenen Werte neu durchdacht und in Frage gestellt, indem sie mit anderen Erfahrungen verglichen werden. Dabei ist es wichtig, nicht nur die Vielfalt, sondern auch die Durchlässigkeit, die Hybridität von Konflikten, Diskursen und Identitäten zu erkennen. In diesem Sinne bedeutet die Beschäftigung mit Literatur für Lernende auch ein Angebot, ihren eigenen Erfahrungs- und Sinnhorizont zu erweitern und neben den kulturspezifischen Elementen jedes Textes auch dessen transkulturelle Ausrichtung zur Entwicklung und Bereicherung der eigenen Persönlichkeit zu verwenden (Volkmann 2010, 252). Kulturelles Sehverstehen 399 Folgen wir den Ausführungen von Claire Kramsch (1993), so führt uns das Lesen von Literatur zu einem third place - einem neuen Kulturraum, der weder der Ort des Eigenen noch der Ort des Anderen, des Fremden ist. Vor dem Hintergrund des inter- und transkulturellen Lernens handelt der Leser bzw. der Lernende zwischen dem Eigenen und dem Fremden einen neuen, individuellen Ort aus, bei dem es nicht darum geht, Unterschiede zu überbrücken, sondern in einen dialogischen Diskurs zwischen den Kulturen zu treten, um zu einem tieferen Verständnis komplexer Zusammenhänge zu gelangen. Um den Prozess des interund/ oder transkulturellen Sehverstehens (cf. Reimann 2016 im vorliegenden Band) zu erleichtern, bietet es sich an, Texte auszuwählen, die eine Identifikation der Schülerinnen und Schüler mit dem/ den Protagonisten ermöglicht. Dabei rücken Texte in den Vordergrund, die dem Genre young adult fiction zuzurechnen sind, weil sie sich häufig mit alterstypischen Problemen des Erwachsenwerdens beschäftigen. In den meisten Texten trägt die Fantasie in Kombination mit Empathie zum intersowie transkulturellen Lernen bei, weil diese Bücher auf die Ähnlichkeiten verweisen, die junge Menschen auf der ganzen Welt betreffen (cf. Eisenmann 2015, 222sq.). Im Zentrum stehen dabei immer Texte, die vom Leben Heranwachsender in anderen kulturellen Umgebungen erzählen. (Inter)kulturelle Konflikte bzw. Missverständnisse werden neben postkolonialen vor allem in multikulturellen Texten oder in der Minderheitenliteratur fokussiert, die sich mit ethnischer Herkunft und Rasse auseinandersetzt. Literarische Texte ... gewähren einen differenzierten Einblick in die Gedanken, Gefühle und Handlungsmotive von Charakteren, wie dies in der Lebenswelt nur selten möglich ist. ... Besondere Bedeutung haben für das i.L. multikulturelle Texte, die interkulturelle Begegnungen und Charaktere mit multikulturellen Identitäten darstellen (Bredella 2010, 125). Multikulturelle Texte machen die sozialen Gegebenheiten ethnischer, religiöser oder auch nationaler Randgruppen zum Thema, wobei die Begriffe ‚multikulturell’ bzw. ‚multi-ethnisch’, häufig auch ‚interkulturell’ bedeuten. Meist gehört der Protagonist einer ethnischen Minderheit an, ist Einwanderer in einem ihm fremden Land oder Flüchtling, der mit der Problematik von Entfremdung, Assimilation und/ oder Integration zu kämpfen hat (cf. Eisenmann 2015, 224). Unter multimodalen Romanen gibt es eine große Anzahl von fiktiven Autobiographien, die in der Regel aus der Sicht eines jugendlichen peer-Erzählers geschrieben sind, die aus ihrem Leben, von ihren Familien, Schule und Freundschaften berichten. Sie reflektieren ihre eigenen Erfahrungen und präsentieren sich als Autoren auf der Suche nach einer eigenen Sprache und individuellen, alternativen Möglichkeiten, sich auszudrücken. In nahezu allen diesen Romanen wird der Wert des geschriebenen Wortes im Vergleich zu 400 Maria Eisenmann anderen Kommunikations- und Repräsentationsformen thematisiert (cf. Kress 2010, 80). In der Regel geht es um die Effizienz und Eignung eines semiotischen Modus im Hinblick darauf, eine Wahrnehmung, eine Erfahrung oder einen Gedanken entsprechend zu kommunizieren. Häufig geht es um die erste große Liebe, um Familienprobleme, aber auch um Themen wie Gewalt, Drogen, Tod oder Selbstmord. Die multimodal erzählten Geschichten liefern ein facettenreiches Bild hybrider Identitäten in einer transkulturellen, globalisierten Welt. Genau darin liegt das große Potenzial dieser Texte, die den Lernenden eine Vielzahl an Identifizierungsmöglichkeiten bieten. Cartoons und Zeichnungen in The Absolutely True Diary of a Parttime Indian Sherman Alexis Roman The Absolutely True Diary of a Part-time Indian (2007) ist eines der bekanntesten Beispiele des multimodalen Jugendromans. Der mit schwarz-weißen Cartoons versehene Roman (Cartoons von Ellen Forney) erzählt die Geschichte von Arnold Spirit, Jr., genannt Junior, einem 14-jährigen Jungen aus dem Wellpinit-Reservat Spokane in Washington State. In der Hoffnung, der Perspektivlosigkeit zu entkommen, verlässt der junge indianische Erzähler und Protagonist dieses Romans das Reservat, um eine „weiße“ Schule in Reardan zu besuchen. Er entscheidet sich dafür, um eine Zukunftschance zu haben, da in der Indianerschule im Reservat Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit vorherrschen. In dieser fiktiven Autobiographie schildert der Ich-Erzähler Junior die Diskriminierung, die er in der neuen Umgebung erfährt, gekoppelt mit der ablehnenden Haltung, die ihm seitens seiner Freunde und Verwandten im Spokane Reservat aufgrund seiner Entscheidung, dieses zu verlassen, entgegenschlägt. Es ist eine Geschichte des kulturellen Grenzgangs, die zunächst in Form eines herkömmlichen Textes erzählt wird. In der Hoffnung, eine höhere, universelle Kommunikationsebene zu erreichen, entwickelt der Erzähler durch das Zeichnen von Cartoons darüber hinaus eine ganz eigene karikaturhafte Comic-Sprache, die vor allem dann zum Einsatz kommt, wenn es um die Charakterisierung der Menschen in den verschiedenen (inter-)kulturellen Umgebungen oder um die Darstellung seines kulturell geteilten Selbst geht. Der Erzähler thematisiert und reflektiert meta-semiotisch über die von ihm geschaffene visuelle Sprache, indem er Erklärungen darüber abliefert, warum er visuelle Bilder produziert und sie als Ausdruck seiner Gedanken verbaler Sprache oft vorzieht: I draw all the time. I draw cartoons of my mother and father; my sister and grandmother; my best friend, Rowdy; and everybody else on the rez. Kulturelles Sehverstehen 401 I draw because words are too unpredictable. I draw because words are too limited. If you speak and write in English, or Spanish, or Chinese, or any other language, then only a certain percentage of human beings will get your meaning. But when you draw a picture, everybody can understand it. If I draw a cartoon of a flower, then every man, woman, and child in the world ca n look at it and say, “That's a flower.” (True Diary, 5) In seiner eigenen jugendlich-optimistischen Sprache liefert der junge Erzähler damit eine Begründung für die Ausdruckskraft und das transkulturelle kommunikative Potenzial der Cartoons und Zeichnungen, die er schafft. Die Visualisierung autobiographischen Erzählens steht hier im Kontrast zum begrenzten Potenzial verbaler Sprache im Hinblick auf ihre Bedeutungsvermittlung. Diese Kombination aus Wort und Bild ist eine sehr ansprechende und effektive Technik, die zu interessanten Diskussionen über Bildsprache bzw. Bildsymbolik in der Klasse führen kann, vor allem darüber, wie die Cartoons das Textverständnis unterstützen. Die Respektlosigkeit und der schwarzer Humor Juniors können in den Cartoons häufig besser ausgedrückt werden als dies mit rein verbalem Text möglich wäre. Die Cartoons stellen auch eine thematische Verbindung zu Juniors Leben in Armut dar, das er im Reservat erfahren muss. Er zeichnet, weil nur so die Welt auf ihn aufmerksam werden kann und dies seiner Meinung nach der einzige Weg aus der Misere ist: So I draw because I want to talk to the world. And I want the world to pay attention to me. [...] That´s the only way I can become rich and famous. [...] I draw because it might be my only real chance to escape the reservation (True Diary, 15sq.). Die Bildsprache erfährt somit eine zusätzliche Brisanz, weil sie nicht nur Juniors Gefühle und Gedanken zeigt, sondern auch seinen starken Wunsch, etwas aus seinem Leben zu machen. Sherman Alexies The Absolutely True Diary of a Part-time Indian im Unterricht Im Laufe des Romans wird Junior mit vielen Problemen und Schicksalsschlägen konfrontiert. Er wird in eine arme Familie hineingeboren, sein Vater ist Alkoholiker und Junior selbst kommt mit einer Gehirnanomalie auf die Welt. Er wurde mit zu viel Gehirnwasser geboren, er stottert, lispelt und musste sich früh einer Gehirnoperation unterziehen. Der erste Cartoon im Roman, könnte als Einstieg in die Klassenlektüre von True Diary dienen, denn bereits 402 Maria Eisenmann hier sind einige physische Besonderheiten des Protagonisten zu erkennen, die den Inhalt des ersten Kapitels ausmachen 1 : Abb. 1: True Diary, 14. Nach dem Lesen des ersten Kapitels können die Lernenden mit folgender Fragestellung für die Funktion der Cartoons sensibilisiert werden: Why does Junior draw cartoons? What does the first cartoon depict? What do Junior’s drawings tell us that his words in the diary don’t? What is the relationship between his pictures and his words? Durch den Einsatz der Cartoons weist das Visuelle über das Narrative hinaus, d.h. Dinge, die Junior nicht in Worte fassen kann, gelingen ihm besser in der Bildform. Sie bereichern, erklären und erweitern das Erzählte, wodurch der Leser Juniors Perspektive einnimmt und noch enger in das Erzählte eingebunden wird. Um die Schülerinnen und Schüler vor dem Hintergrund des inter- und transkulturellen Lernens auf den Kontext der ethnischen und kulturellen Identität(en) einzustimmen, empfiehlt es sich zudem, die einführende Information zum Autor Sherman Alexie zu lesen (True Diary, 6sq.) und mit den Lernenden über ihre eigenen ethnischen Hintergründe bzw. die ihrer Eltern und Großeltern zu diskutieren. Im weiteren Verlauf des Lesens wird schnell klar, dass es sich hier trotz Juniors angeborener Schwächen weder um die rührselige Geschichte eines sozial Benachteiligten noch um die eines körperlich Behinderten handelt. Es geht um die Geschichte eines Jungen, der seine schlechten Ausgangsbedingungen mit Witz, Charme und Intelligenz kompensieren kann. Um der Hoffnungslosigkeit des Reservats zu entkommen und seine Träume zu verwirklichen, muss er die Apathie und Gleichgültigkeit des Lebens im Reservat überwinden, denn er ist in einer Kultur aufgewachsen, in der die Menschen verlernt haben, zu hoffen und zu träumen. Junior muss also den Teufelskreis der 1 Für weitere methodische Ideen siehe Ernst / Hesse, 2010. Kulturelles Sehverstehen 403 Armut, die ihn zu verschlingen droht, durchbrechen. Der folgende Cartoon veranschaulicht sehr deutlich seine Unsicherheit und Verwirrung, die die anstehende Entscheidung bei ihm auslösen, denn das Reservat ist die einzige Welt, die er kennt, aber dennoch keimt in ihm Hoffnung auf eine bessere Welt auf: Abb. 2: True Diary, 59. Seine Entscheidung ist schwerwiegend, da es nicht nur darum geht, ob er das Reservat verlässt oder nicht, sondern wer er letztendlich ist - es ist eine Frage der Identität. Ist er ein Verräter seines Volkes und damit seiner eigenen Familie oder ist er nur ein Junge, der der Hoffnungslosigkeit seiner Situation entkommen möchte? Ist er ein ‚weißer’ Amerikaner oder immer noch ein Native American? Die Antwort auf diese Frage gibt der Roman selbst, der die Existenz polarisierender Identitäten ins Zentrum stellt. Wenn Lerner das Buch lesen, müssen sie sich unweigerlich mit dem ethnischen und kulturellen Hintergrund Juniors auseinandersetzen und erkennen, dass er in beiden Welten zu Hause ist - sowohl in der Welt der Native Americans als auch in der ‚weißen’ Welt, was die folgende Zeichnung ganz großartig zum Ausdruck zu bringen vermag: 404 Maria Eisenmann Abb. 3: True Diary, 67. Um Juniors Konflikt besser nachvollziehen zu können, kann die Lehrkraft an dieser Stelle die folgenden Fragen stellen: Would you have left the reservation? Why/ Why not? What does it mean for Junior to be a „part-time Indian“? Do you sometimes feel yourself as belonging to something „part-time“? Auf der Suche nach seiner Identität erkennt er die Hybridität seiner Existenz und dass er tatsächlich sehr viele Identitäten teilt, wie man an folgendem Textbeispiel sehr gut sehen kann: I realized that, sure, I was a Spokane Indian. I belonged to that tribe. But I also belonged to the tribe of American immigrants. And to the tribe of basketball players. And to the tribe of bookworms. And the tribe of cartoonists. And the tribe of masturbators. And the tribe of teenage boys. And the tribe of small-town kids. And the tribe of Pacific Northwesterners. And the tribe of tortilla chips-and-salsa lovers. And the tribe of poverty. And the tribe of funeral-goers. And the tribe of beloved sons. And the tribe of boys who really missed their best friend. It was a huge realization. (True Diary, 220sq.) Kulturelles Sehverstehen 405 Diese Stelle, die auf den hybriden Charakter Juniors Welt aufmerksam macht, zeigt den Lernenden, dass auch sie in verschiedenen ‚Welten’ leben und an diesen sozusagen part-time teilnehmen. In der Schule in Reardan angekommen, wird Junior zunächst von den neuen Schulkameraden bestaunt, aber gleichzeitig auch gehänselt, was der folgende Cartoon zeigt: Abb. 4: True Diary, 74 Um Juniors Ängste und Unsicherheiten herauszuarbeiten, können die Schülerinnen und Schüler zunächst den Cartoon beschreiben und die Anspielung zum Ku-Klux-Klan im Zusammenhang mit allen in den Sprechblasen genannten Begriffen diskutieren, gefolgt von der Fragestellung: What does the cartoon symbolise about Junior’s insecurities? Junior weiß sich aber trotz all seiner Ängste vor allem durch gute Leistungen Respekt zu verschaffen. Erfolg hat Junior in erster Linie, weil er trotz seines physischen Handicaps und seiner zerrütteten Familienverhältnisse ein zugleich intelligenter Schüler und ausgezeichneter Basketballspieler ist und sich damit auch in der ‚weißen’ Schule Anerkennung und Freunde verschafft. Allerdings führt sein Entschluss, die Reservatschule zu verlassen, zu Ablehnung und Feindschaft innerhalb seiner Familie und seines Freundeskreises im Wellpinit-Reservat. Besonders leidet Junior unter dem Verlust seines langjährigen Freundes Rowdy, der ihm seinen Entschluss zunächst sehr übel nimmt. Schließlich sieht es aber so aus, als würden sich die beiden wieder annähern. Nachdem sie ein ganzes Jahr einander gemieden haben, führen die beiden am Ende des Romans das folgende Gespräch: “Well, the thing is, I don’t think Indians are nomadic anymore. Most Indians, anyway.” 406 Maria Eisenmann “No, we’re not,” I said. “I’m not nomadic,” Rowdy said. “Hardly anybody on this rez is nomadic. Except for you. You’re the nomadic one.” “Whatever.” “No, I’m serious. I always knew you were going to leave. I always knew you were going to leave us behind and travel the world. I had this dream about you a few months ago. You were standing on the Great Wall of China. You looked happy. And I was happy for you.” Rowdy didn’t cry. But I did. “You’re an old-time nomad,” Rowdy said. “You’re going to keep moving all over the world in search of food and water and grazing land. That’s pretty cool.” I could barely talk. “Thank you,” I said. (True Diary, 232sq.) Um auf das letzte, sehr versöhnliche Bild Bezug zu nehmen, könnte die Lehrkraft mit der folgenden Frage verweisen: What is the last picture/ cartoon Junior draws about? Why is it important? Abb. 5: True Diary, 221. Sowohl der Cartoon als auch das Gespräch zeigen, dass Rowdy Junior letztlich doch bewundert und die vorherige Aggression in erster Linie Enttäuschung des Verlassenen war. So hat Junior nach einem Jahr an der außerhalb des Reservats liegenden High School nicht nur dort Freunde gefunden, sondern sich auch mit seinem alten Freund vom Reservat wieder versöhnt. In der Schule sind es vor allem seine Basketball-Teamkollegen, eine Freundin, Penelope, mit der er eine gewisse Verachtung gegenüber der Konsumgesellschaft Kulturelles Sehverstehen 407 teilt, und ein Freund, Gordy, der sich in vielen Dingen von ihm unterscheidet, sich jedoch als gleich intelligent erweist. In True Diary ergänzt die Familie von selbst gewählten Freunden die Blutsfamilie. Die Eltern von Junior sind oft nicht in der Lage, den Sohn zu erziehen bzw. sich in angemessener Weise um ihn zu kümmern. Wie in Alexies Film Smoke Signals, der auf der Kurzgeschichte „This is What it Means to Say Phoenix, Arizona“ (Alexie 2005) basiert, zeichnet Alexie das Bild eines alkoholabhängigen, meist arbeitslosen Vaters und einer ohnmächtigen Mutter - ein Stereotyp, das man aus Schilderungen von US-amerikanischen Reservaten kennt. Dennoch liebt Junior seine Eltern und weiß, dass auch sie schon unter den schlechten Bedingungen im Reservat zu leiden hatten und Opfer der dort herrschenden Armut sind. Ihre Träume von einem Leben als Lehrerin bzw. Musiker - wie im hier gezeichneten Cartoon - konnten nie Wirklichkeit werden: Abb. 6: True Diary, 22. Daher spielen die Freunde als selbstgewählte Familie bei dem adoleszenten Jungen eine sehr große Rolle, die familiären Beziehungen treten dabei in den Hintergrund. Nicht nur die Basketballmannschaft, sondern auch Penelope, die sensible, politisch aktive Freundin und Gordy, der intelligente Freund, der auch Konflikte mit Lehrern nicht scheut, werden für ihn zu einer Art neuen Familie. Sie sind jedoch kein Ersatz, sondern eine Ergänzung der eigenen Familie, die während des einen Jahres außerdem dezimiert wird. Zuerst 408 Maria Eisenmann stirbt sein Hund Oscar, weil die Familie seine Behandlung nicht bezahlen kann, wenig später die von Junior verehrte, weise Großmutter, kurz darauf kommt seine Schwester bei einem Brand um, der auf exzessiven Alkoholkonsum zurückzuführen ist, und schließlich stirbt Juniors Onkel Eugene bei einem Motorradunfall. In der Fähigkeit, sich eine neue Familie in einer fremden Umgebung aufzubauen, beweist Junior seine Stärke. Die von Junior gewählte, neue Familie besteht aus Mitgliedern, die sich der kritische Protagonist außerhalb der Reservats, das häufig die Rolle einer erweiterten Familie übernimmt, selbst zusammengestellt hat. Damit erw eist Junior sich als „nomad“ (True Diary, 232), der die Fähigkeit besitzt, in der ganzen Welt eine Familie von Freunden und damit eine neue Heimat zu finden. Auch an dieser Stelle kann im Sinne einer post-reading activity erneut interkulturelles Lernen gef ördert werden, indem der Begriff „nomad“ diskutiert wird: Why does Rowdy call Junior a „nomad“? What does the term mean literally and in a figurative sense? Is it a positive or a negative word? Hier könnte man diskutieren, dass Nomaden aus unterschiedlichen Gründen eine nicht sesshafte Lebensweise führen, sei es aus traditionellen, kulturellen, ökonomischen oder auch weltanschaulichen Gründen. Fazit Der Roman eignet sich hervorragend für den Einsatz im Englischunterricht sowohl in der Mittelals auch in der Oberstufe. Schülerinnen und Schüler erhalten einen Einblick in sehr unterschiedliche Lebenswelten und bekommen gleichzeitig Gelegenheit, ihre eigene Umgebung mit der Welt der literarischen Figuren in Beziehung zu setzen. Was den Protagonisten in True Diary insbesondere auszeichnet, ist seine polarisierende Identität - die Verknüpfung von indigener und ‚weißer’ Welt. Der Roman gehört dem Genre multimodaler narrativer Jugendliteratur an, das als Feld für dynamischen Austausch sowohl für interals auch transkulturelle Erfahrungen gesehen werden kann. Multimodale Romane können für den Fremdsprachenunterricht sehr gewinnbringend sein, weil sie neue Möglichkeiten des Geschichtenerzählens eröffnen. Das Genre setzt sich zudem mit neueren kulturellen Veränderungen in medialer und kommunikativer Hinsicht auseinander und ist näher an der sozialen und kulturellen Wirklichkeit junger Menschen. Gerade multikulturelle Texte liefern ihren Lesern ein facettenreiches Bild verschiedenster Kulturen und ermöglichen den Lernenden einen Einblick in komplexe und sich dauerhaft verändernde Gesellschaftsstrukturen. Durch die unzähligen Identifikationsangebote fördert die Beschäftigung mit multikultureller, multimodaler Jugendliteratur ein tieferes Verständnis für kulturelle Hybridität und Transkulturalität in einer globalisierten Welt. Kulturelles Sehverstehen 409 Alexie, Sherman. 2009. The Absolutely True Diary of a Part-time Indian. Stuttgart: Klett. Alexie, Sherman. 1998. Smoke Signals (film). Blell, Gabriele. 2010. „Der Leser als ‚Grenzgänger‘: Entwicklung intermedialer Lese- und Sehkompetenzen“, in: Carola Hecke / Carola Surkamp (ed.): Bilder im Fremdsprachenunterricht. Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden. Tübingen: Narr, 94- 109. Bredella, Lothar. 2002. Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen: Narr. Bredella, Lothar. 2010. „Interkulturelles Lernen“, in: Carola Surkamp (ed.): Metzlers Lexikon Fremdsprachendidaktik. Stuttgart: J.B. Metzler, 123-126. Delanoy, Werner / Volkmann, Laurenz (ed.). 2006. Cultural Studies in the EFL Classroom. Heidelberg: Winter. Eisenmann, Maria. 2015. „Crossing Borders by Teaching Postcolonial Literature”, in: Werner Delanoy / Maria Eisenmann / Frauke Matz (ed.): Introduction to the Role of Literature in the EFL Classroom. Frankfurt: Lang, 217-236. Hallet, Wolfgang. 2010. „Viewing Cultures: Kulturelles Sehen und Bildverstehen im Fremdsprachenunterricht“, in: Carola Hecke / Carola Surkamp (ed.). Bilder im Fremdsprachenunterricht. Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden. Tübingen: Narr, 26-54. Hallet, Wolfgang. 2015. „Teaching Multimodal Novels“, in: Werner Delanoy / Maria Eisenmann / Frauke Matz (ed.). Introduction to the Role of Literature in the EFL Classroom. Frankfurt: Lang, 283-298. Hecke, Carola / Surkamp, Carola. 2010. „Einleitung: Zur Theorie und Geschichte des Bildeinsatzes im Fremdsprachenunterricht“, in: Carola Hecke / Carola Surkamp (ed.). Bilder im Fremdsprachenunterricht. Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden. Tübingen: Narr, 9-24. Ernst, Dorothea / Hesse, Mechthild (ed.). 2010. The Absolutely True Diary of a Part-time Indian. Teacher’s Guide. Stuttgart: Klett. Kress, Gunther / van Leeuwen, Theo (ed.). 2001. Multimodal Discourse. The Modes and Media of Contemporary Communication. London: Arnold. Kress, Gunther. 2010. Multimodality: A Social Semiotic Approach to Contemporary Communication. London: Routledge. Kramsch, Claire. 1993. Context and Culture in Language Teaching. Oxford: OUP. Reimann, Daniel. 2016. „Was ist Sehverstehen? Vorschlag eines Modells für den kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht“, in: Reimann, Daniel / Michler, Christine (ed.): Sehverstehen im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr, 19-33. Seidl, Monika. 2007. „Visual Culture“, in: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch, 87, 2- 7. Volkmann, Laurenz. 2010. Fachdidaktik Englisch. Kultur und Sprache. Tübingen: Narr. Inklusiver Fremdsprachenunterricht und Sehverstehen Eva Leitzke-Ungerer Hinsehen statt wegsehen Sehverstehen als Zugang zum Thema ‚Behinderung’ im Fremdsprachenunterricht - am Beispiel des Films Intouchables Einleitung Wenn wir auf einen Menschen mit Behinderung treffen, ist das oft eine ungewohnte Situation. Uns schießen Gedanken durch den Kopf wie: Wie soll ich mich verhalten? Gibt es überhaupt eine richtige Verhaltensweise? Kann ich der Person helfen? Oder soll ich die Person lieber nicht auf ihre Behinderung ansprechen? (Först o.J., 1) Mit diesen Worten beginnt ein kleiner Leitfaden zum respektvollen Umgang mit behinderten Menschen; Herausgeber ist JUPO, das offizielle Jugendportal der Bayerischen Staatsregierung , und die „10 Praxis - Tipps“, die in ähnlicher Form auf den Websites vieler anderer Bildungseinrichtungen zu finden sind, sind alles andere als banal oder gar überflüssig. Ein angemessener Umgang mit behinderten Menschen ist schwierig. Aber: Man kann ihn erlernen. Wenn Ratgeber und Praxis-Tipps nicht ausreichen, ist neben dem Elternhaus in erster Linie die Schule gefragt. Hier erfordert nicht nur der allgemeine Erziehungsauftrag, sondern in jüngster Zeit auch der Wunsch nach Inklusion eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich behinderte und nichtbehinderte Menschen angemessen begegnen können. Diese Auseinandersetzung wird in der Regel in den Fächern Ethik, Religion und Deutsch geführt. Warum aber sollte sie nicht auch Eingang in den Fremdsprachenunterricht finden - der Umgang mit behinderten Menschen ist schließlich eine Frage, die die Zielkulturen unserer Schulfremdsprachen genauso betrifft wie unsere eigene Kultur. Wenn das Thema im Fremdsprachenunterricht angesprochen werden soll, bedarf es dazu u.a. auch geeigneter fremdsprachlicher Texte und anderer Materialien. Geeignet erscheinen diese dann, wenn sie Wissen vermitteln, zum Nachdenken anregen und Beispiele guter Praxis zeigen. Diese Kriterien erfüllt z.B. der französische Spielfilm Intouchables (Nakache/ Toledano 2011a). Vieles, was in den oben angeführten „Praxis - Tipps“ zum respektvollen Umgang mit behinderten Menschen nachzulesen ist, wird den Schülerinnen und Schülern (im Folgenden: SuS) in diesem Film im wahrsten Sinn des Wortes 414 Eva Leitzke-Ungerer ‚vor Augen geführt’. Wie aber können die SuS die Botschaft des Films erkennen und daraus Nutzen für ihr eigenes Verhalten und Handeln ziehen? Eine entscheidende Rolle spielt hier meines Erachtens das Sehverstehen. Es erweist sich gerade in Bezug auf sensible Themen wie den Umgang mit behinderten Menschen als vielversprechender Zugang. Durch die Konzentration auf das, was man sehend wahrnimmt, ermöglicht es in vielen Fällen ein Erfassen des Wesentlichen ohne Worte, ohne den oft schwierigeren, da rational-analytischen Weg über die Sprache und das verbale Verstehen. Hinzu kommt ein weiterer Vorzug des Sehverstehens, der jedoch auf der ästhetischen Qualität des Films Intouchables beruht und daher nicht verallgemeinert werden kann. Der Film zeigt, was es bedeutet, einen schwer körperbehinderten Menschen zu pflegen; er konfrontiert den Zuschauer mit Situationen, in denen man im echten Leben eher zum ‚Wegsehen’ neig en würde, sei es aus Unsicherheit, Gleichgültigkeit oder weil man sich vielleicht sogar peinlich berührt oder abgestoßen fühlt. Die Bilder des Films sind aber weder schwer erträglich noch wirken sie verstörend; im Gegenteil: ihre suggestive Kraft motiviert , ja zwingt bisweilen geradezu zum ‚Hinsehen’. Dies kann im Unterricht durch entsprechende Aufgaben zum Sehverstehen zusätzlich unterstützt werden. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es somit, am Beispiel des Films Intouchables die besondere Rolle des filmischen Sehverstehens für die Auseinandersetzung mit einem so wichtigen und zugleich so sensiblen und tabubelasteten Thema wie dem des Umgangs mit behinderten Menschen herauszuarbeiten. Nach einer Einführung in den Film und seine Rezeption durch Filmkritik und Fremdsprachendidaktik wird auf den thematischen Schwerpunkt des handicap physique und auf den kompetenzbezogenen Schwerpunkt ‚Sehverstehen’ eingegangen. Im Anschluss daran stelle ich eine Unterrichtssequenz für den Französischunterricht mit fortgeschrittenen Lernenden vor; sie basiert auf vier Ausschnitten aus Intouchables und zeigt, wie das Sehverstehen als Zugang zum Thema ‚Umgang mit behinderten Menschen’ genutzt werden kann. Intouchables: Zum Film und seiner Rezeption in Filmkritik und Fremdsprachendidaktik Intouchables (Nakache/ Toledano 2011a; deutscher Titel: Ziemlich beste Freunde) war einer der größten Kinoerfolge der letzten Jahre; in Frankreich hatte der Film mehr als 19 Millionen Zuschauer, in Deutschland über 9 Millionen, weltweit bis heute knapp 50 Millionen. Worauf beruht das Geheimnis seines Erfolges? Intouchables ist ein Film, der die Zuschauer trotz der ernsten Themen, Hinsehen statt wegsehen 415 die er behandelt, zum Lachen bringt; er „verwandelt das Drama eines Rollstuhlfahrers in eine Komödie“ (Wolf 2012). Hinzu kommt, dass er auf einer wahren Geschichte beruht, auf die zu Beginn und am Ende explizit verwiesen wird. 1 Das „Wissen darum macht den Film [...] so attraktiv“, denn damit erscheint die „kleine gesellschaftliche Utopie“, von der er erzählt, „im Bereich des Möglichen“ (Marini 2012, 12). Worum aber geht es in Intouchables? Philippe ist ein reicher und kultivierter Geschäftsmann, der seit einem Unfall beim Gleitschirmfliegen querschnittsgelähmt ist und gerade einen neuen Pfleger sucht. Er stellt Driss ein, einen arbeitslosen jungen Senegalesen aus der Pariser banlieue, der soeben sechs Monate im Gefängnis verbracht hat. Driss ist unbekümmert und frech, zugleich aber offen und unvoreingenommen; er bringt Philippe kein falsches Mitleid entgegen und ermöglicht ihm vor allem wieder die Teilhabe am ‚normalen’ Leben. Statt des hässlichen behindertengerechten Kombis wird der Maserati reaktiviert; der Rollstuhl wird getunt und für rasante Ausfahrten benutzt, statt Askese ist Ohrensex angesagt. Angestachelt und ermutigt durch Driss gelingt es Philippe, viele der Schranken, die ihm sein handicap physique auferlegt, zu überwinden. Aber auch Driss überwindet die soziale Ausgrenzung, das handicap social, für das ihn seine Herkunft, die Arbeitslosigkeit und die Karriere als Kleinkrimineller prädestiniert zu haben scheinen. Dies wiederum ist das Verdienst von Philippe. Er macht aus Driss nicht nur einen verantwortungsvollen Pfleger und eröffnet ihm mit der gut bezahlten Arbeitsstelle die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, sondern weckt etwa auch sein Interesse für Literatur, Kunst und klassische Musik. Im Zuge dieser wechselseitigen positiven Beeinflussung (cf. Abb. 1) entwickelt sich zwischen den beiden Männern, die aus so unterschiedlichen Welten kommen, sich in ihrem Charakter, ihren Vorlieben und Einstellungen aber gar nicht so unähnlich sind, eine echte Freundschaft, oder, wie Ladmiral 1 Intouchables basiert auf der Autobiographie von Philippe Pozzo di Borgo (2001), der bis zu seinem Unfall beim Gleitschirmfliegen Chef einer französischen Champagner-Firma war. Pozzo di Borgo stellte den arbeitslosen, gerade aus dem Gefängnis entlassenen Algerier Abdel Sellou als Pfleger ein. Die beiden wurden Freunde. 416 Eva Leitzke-Ungerer (2013, 6) es beschreibt, „une relation unique et hors normes qui les rendra intouchables.“ 2 Philippe: aide Driss à surmonter son ‘handicap social’ Driss: aide Philippe à surmonter son ‘handicap physique’ Abb. 1: Wechselseitige positive Beeinflussung: Der Film und seine Protagonisten (Nakache/ Toledano 2011a: Filmplakat) Von der Filmkritik in Frankreich und Deutschland wurde Intouchables überwiegend positiv aufgenommen. Wie bereits angedeutet, wird der Film vor allem wegen seiner „Botschaft von Toleranz, Nächstenliebe und Hoffnung“ (Popp 2012) und der gelungenen Gratwanderung zwischen ernster Thematik und geistreich-humorvoller filmischer Umsetzung gelobt. Gerade dem Thema ‚Behinderung’ wird durch den schwarzen Humor und die „besondere Art von Sarkasmus“ der beiden Hauptfiguren (Wolf 2012) viel von seiner Schwere genommen. Ein vielzitiertes Beispiel ist etwa das folgende (Nakache/ Toledano 2011b, 68): Driss: Putain moi si ça m’arrive je me flingue. Philippe: Oui mais ça aussi c’est difficile pour un tétra... Auch die handwerkliche Perfektion des Films, sichtbar u.a. im perfekten Timing der komischen und der ernsten Szenen, sowie die schauspielerische 2 Intouchables, der Titel des Films, lässt sich aber auch unter Verweis auf die im Text erwähnte Parallele zwischen Philippe und Driss erklären: Beide leiden unter einem handicap, das für beide eine soziale Ausgrenzung bedeutet. Driss’ Chancen, aus der banlieue wegzukommen, sind gering; Philippe kann aufgrund seiner schweren körperlichen Behinderung nur sehr eingeschränkt am sozialen Leben teilnehmen (cf. Marini 2012, 4). In diesem Sinn sind beide - zumindest zu Beginn der Filmhandlung - ‚Unberührbare’. Die damit verbundene Anspielung auf das indische Kastenwesen wurde von den Regisseuren bewusst gewählt: „Le titre ‚Intouchables’ fait référence à la cinquième caste indienne, ces gens mis au ban de la société, comme nos deux personnages“ (zit. nach Herzberg / Weber 2013, 32). Hinsehen statt wegsehen 417 Leistung der beiden Hauptdarsteller werden von der Filmkritik lobend hervorgehoben (cf. Assmann 2012). Unterschiedlich beurteilt wird hingegen das Verhältnis von filmischer Geschichte, echter Geschichte und gesellschaftlicher Realität. Die auf Tatsachen beruhende Filmhandlung ist für Martin Wolf (2012) der Beweis dafür, dass der Film eben gerade nicht „als Märchen abgetan“ werden kann. Für Lena Bopp (2012) ist Intouchables dagegen „ein sozialromantisches Märchen, das nur deswegen funktioniert, weil es zu der französischen Realität, in der es spielt, in so eklatantem Kontrast steht“. Anders wird dieses Verhältnis von Le Monde gesehen (zit. nach Wolf 2012); nach Ansicht der französischen Zeitung fungiert Intouchables als „soziale Metapher“; das „in Prinzipien erstarrte alte Frankreich“ verbindet sich „mit der Lebenskraft junger Einwanderer“. Ein uneinheitliches, mehrheitlich jedoch positives Urteil geht auch mit der häufig zu findenden Etikettierung von Intouchables als „Wohlfühlfilm“ oder „Family Entertainment“ einher (Hentschel 2013). Manche Kritiker rücken den Film damit in die Nähe leichter und seichter Unterhaltungsfilme („gefällige Sozialtauschkomödie“, Schweizerhof 2012). Von der Mehrheit wird dem Film aber zuerkannt, dass man sich seiner Faszination nur schwer entziehen kann: ... diese Geschichte, in der sich der Problemtyp aus der Pariser Banlieue mit dem reichen, armen Rollstuhlfahrer anfreundet, in der einer der zwei sein Verantwortungsbewusstsein entdeckt, der andere das wahre Leben? Da kann der Zyniker viel labern, aber auch er spürt die Wärme (Hentschel 2013). Was die fremdsprachendidaktische Aufarbeitung von Intouchables betrifft, so liegen mit den im Internet verfügbaren Arbeitsheften (Ladmiral 2013, Marini 2012, Repellin 2013, School-Scout 2012) und dem Dossier pédagogique eines deutschen Schulbuchverlags (Weber/ Herzberg 2013) eine Reihe von sehr hilfreichen, jedoch vorwiegend anwendungsorientierten Publikationen vor. Der vorliegende Beitrag zielt dagegen auf eine Verknüpfung konzeptioneller Überlegungen zum Sehverstehen mit unterrichtspraktischen Vorschlägen zum Film. 3 3 An dieser Stelle sei auch auf neuere Publikationen zum Film im Fremdsprachenunterricht und zum filmischen Sehbzw. Hör-Sehverstehen verwiesen, so u.a. Grünewald 2009, Henseler / Möller / Surkamp 2011a, b, Leitzke-Ungerer 2009 und 2016, Lütge 2012, Nieweler 2013, Reimann 2008, Thaler 2007, Veneman 2012. Zum Sehverstehen außerhalb der Gattung ‚Film’ cf. u.a. Michler 2012 und Reimann 2009. 418 Eva Leitzke-Ungerer Le handicap physique: Überlegungen zum thematischen Schwerpunkt Wie oben gezeigt (cf. Abb. 1), werden im Film zwei unterschiedliche Arten von ‚Behinderung’ angesprochen: die körperliche Behinderung (le handicap physique) von Philippe und die soziale ‚Behinderung’ ( le handicap social) von Driss. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich ganz auf das Thema der körperlichen Behinderung und die Art und Weise, wie dessen filmische Umsetzung durch Intouchables für den Fremdsprachenunterricht nutzbar gemacht werden kann. 4 Maßgeblich für die Wahl dieses Themenschwerpunkts sind zwei Gründe:  Intouchables ist ein Film, der sich dem schwierigen und tabubelasteten Thema des handicap physique mit Unvoreingenommenheit, Feinfühligkeit und Humor nähert. Der Film stellt somit eine geeignete Ausgangsbasis für die Behandlung des Themas im Unterricht dar.  Intouchables ist ein französischsprachiger Film aus Frankreich und bietet als authentisches Dokument die Möglichkeit, das Thema im Französischunterricht zu behandeln. Auf diese Weise kann - zumindest auf der Ebene der Themen und Lerninhalte - ein Beitrag zum inklusiven Fremdsprachenunterricht geleistet werden. Wenn jedoch im Französischunterricht mit dem Film gearbeitet und dabei das Thema der körperlichen Behinderung in den Vordergrund gestellt wird, ist es unerlässlich, die SuS sprachlich und inhaltlich darauf vorzubereiten. Im Bereich Sprache sollte eine lexikalische Vorentlastung erfolgen, da der Fachwortschatz zum Thema ‚Behinderung’ auch fortgeschrittenen F ranzösischlernenden kaum vertraut sein dürfte. Neben Fachvokabular wie tetraplégique, fauteuil roulant etc. sollten auch allgemeinsprachliche Wörter und Wendungen wie se sentir mal à l’aise, avoir honte de qn./ qc., le respect mutuel etc. vermittelt werden, damit sich die SuS zur Situation von behinderten Menschen angemessen äußern können. Cf. dazu Abb. 2 (Ausschnitt aus Herzberg/ Weber 2013, 65-66; Zuordnung zu Fachvokabular bzw. Allgemeinsprache: ELU). 4 Aus Platzgründen kann auf die komplementäre Thematik des handicap social und die damit verbundene Kontrastierung von banlieue und Bourgeoisie nicht eingegangen werden (cf. dazu die in Abschnitt 1 genannten Arbeitshefte sowie Weber / Herzberg 2013, 78-95). Hinsehen statt wegsehen 419 Fachvokabular Allgemeinsprachlicher Wortschatz un(e) handicapé(e) ein(e) Behinderte(r) se sentir mal à l’aise sich unwohl fühlen un handicap physique / mental eine körperliche / geistige Behinderung être désespéré(e) verzweifelt sein une personne à mobilité réduite (PMR) eine Person mit eingeschränkter Mobilität avoir honte de qn./ de qc. sich wegen jdm./ für etw. schämen être accessible pour les PMR barrierefrei zugänglich sein la détresse, le désespoir die Verzweiflung un fauteuil roulant ein Rollstuhl la compassion das Mitleid un aide à domicile ein Pfleger détourner son regard seinen Blick abwenden, ‚wegsehen’ un antidouleur ein Schmerzmittel consoler qn. jdn. trösten aveugle Blind rendre service à qn. jdm. behilflich sein sourd(e) taub, gehörlos soutenir qn. jdn. unterstützen muet(te), sourd(e)muet(te) stumm, taubstumm le soutien die Unterstützung paralysé(e) Gelähmt encourager qn. à faire qc. jdn. ermutigen, etw. zu tun tétraplégique querschnittsgelähmt le respect mutuel der gegenseitige Respekt Abb. 2: Lexikalische Vorentlastung zum Thema Le handicap physique (Ausschnitt aus Herzberg / Weber 2013, 65-66) Die inhaltliche Heranführung an das Thema ‚Behinderung’ und ‚Umgang mit behinderten Menschen’ kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Im Folgenden werden einige Möglichkeiten vorgestellt (weitere Vorschläge in Herzberg/ Weber 2013, 68, 70, 72-76). Die Bewusstmachung von Problemen, mit denen querschnittsgelähmte Menschen im Alltag konfrontiert sind, kann z.B. durch ein Standbild aus Intouchables (z.B. 00: 59: 54: Driss joggt neben dem an den Rollstuhl gefesselten Philippe) in Kombination mit einer offenen Frage angestoßen werden: Être handicapé dans un fauteuil roulant - quels sont les problèmes qu’on doit affronter. 5 Eine andere Möglichkeit könnte darin bestehen, sich dem Thema durch ‚Personalisierung’, durch die Auseinandersetzung mit konkreten Einzelschicksalen behinderter Menschen, zu nähern. In Frage kommen hier Textsorten wie Erfahrungsberichte, Blogs, Zeitungsreportagen, Interviews und literarische Texte (cf. z.B. die Vorschläge in CRDP 2013, 1-5). 5 Ein möglicher Erwartungshorizont wäre (cf. School-Scout 2012, 5): (1) Problèmes pratiques, p.ex. monter dans une voiture, aller aux toilettes; (2) Problèmes psychiques, p.ex. les dépressions, la colère, la dépendance; (3) Problèmes sociaux, p.ex. les amitiés, les relations familiales, les relations sexuelles, le travail. 420 Eva Leitzke-Ungerer Wenn dagegen Sachlichkeit und Aktualität im Vordergrund stehen sollen, können sich die SuS mit dem Stand der schulischen Inklusion in Frankreich befassen und dazu im Internet recherchieren (eine Sammlung nützlicher Weblinks findet sich ebenfalls in CRDP 2013, 5). Sehverstehen: Überlegungen zum kompetenzbezogenen Schwerpunkt 4.1. Konzeptionelle Aspekte Wie einleitend schon angesprochen, geht der vorliegende Beitrag davon aus, dass das Sehverstehen für die unterrichtliche Annäherung an sensible Themen wie ‚Behinderung’ und ‚Umgang mit behinderten Menschen’ in besonderem Maße geeignet ist. Es weist hier zwei entscheidende Vorteile auf:  Sehverstehen ermöglicht ein Erfassen bzw. erstes ‚Verstehen’ ohne Worte, d.h. nur über die visuelle Wahrnehmung. Darin unterscheidet es sich von den beiden anderen rezeptiven Kompetenzen, dem Hör- und dem Leseverstehen, die auf dem Verstehen von Sprache basieren und somit einen eher rational-analytischen Zugang darstellen. Sehverstehen vollzieht sich dagegen holistisch und zunächst eher intuitiv. 6  Sehverstehe n als ‚genaues Sehen’ zwingt Lernende, die bei der Begegnung mit behinderten Menschen in der Realität vielleicht eher zum ‚Wegsehen’ neigen würde n , zum ‚Hinsehen’. Dem Sehverstehen kommt somit eine wichtige erzieherische Funktion zu. Unabhängig vom thematischen Schwerpunkt ‚Behinderung’ stellt sich als zweites die Frage, welches generelle Verständnis von Sehverstehen im vorliegenden Beitrag vertreten wird. Mit Hecke/ Surkamp (2010b, 14, 18) gehe ich davon aus, dass Sehverstehen im Gegensatz zur angeborenen Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen eine Fähigkeit ist, die erlernt werden muss (und kann). Sie umfasst mehrere Teilkompetenzen, die in ihrer Gesamtheit 6 Dahinter steht die Auffassung, dass sich Bilder und Sprache in ihrer kognitiven Verarbeitung unterscheiden. Bilder werden ganzheitlich und simultan wahrgenommen, Sprache kann nur linear und sukzessiv rezipiert werden. An der Verarbeitung von Bildinformationen sind insbesondere diejenigen Areale des Gehirns beteiligt, die auch für die Verarbeitung von Emotionen zuständig sind, während bei der Sprachverarbeitung jene Areale dominieren, die die Prozesse des analytischen und rationalen Denkens steuern (cf. Nöth 2000, 481). Wie die weiteren Ausführungen zum Sehverstehensprozess zeigen, bedeutet dies jedoch nicht, dass Bilder nicht auch sprachanalog analysiert werden könnten. Hinsehen statt wegsehen 421 häufig auch als visual literacy bezeichnet werden (cf. u.a. Hallet 2010, Seidl 2007a, b). 7 Visual literacy meint die Fähigkeit, Bilder ‚lesen’ zu können, d.h. ihre Bedeutung ‚verstehen’ und die jeweils getroffene Sinnzuweisung begründen und kritisch reflektieren zu können. Dabei muss wie bei jedem Artefakt nicht nur das Zusammenspiel von Inhalt und Form, sondern auch die kulturelle Gebundenheit berücksichtigt werden, die sowohl den Entstehungsprozess der Bilder als auch den Rezeptionsprozess des Bildbetrachters betrifft. Wolfgang Hallet spricht daher vom „kulturellen Sehen“ (2010, 46) und meint damit ein Bildverstehen, das in erster Linie auf der Fähigkeit zur Entschlüsselung kultureller Codes beruht. Zu solchen „Codes kulturellen Sehens“ zählen Aspekte wie z.B. „facial expression, posture, activity, body language, physical features, gender features, ethnic features, objects, setting/ location, social situation” (Hallet 2010, 41-46; cf. die u.g. Gegenstandsbereiche nach Thaler 2007). Diese sind zu unterscheiden von den “Codes bildästhetischen Sehens“ (2010, 46-49), die sich mit Kategorien wie “centre, background, foreground” auf die kompositorische Gestaltung von Bildern beziehen. Ähnlich, wenn auch nicht ganz deckungsgleich differenziert Reimann 2016 (im vorliegenden Band) zwischen „interkulturellem Sehverstehen“ und „analytischem und interpretatorischem Sehverstehen“. Da das Sehverstehen nicht angeboren ist, sondern entwickelt werden muss, ist als drittes und letztes zu überlegen, wie es im Fremdsprachenunterricht gezielt gefördert werden kann. Hier zeichnen sich drei Ebenen ab, die durch entsprechende Aufgabenstellungen berücksichtigt werden sollten:  Gegenstandsbereiche des Sehverstehens Nach dem Modell von Engelbert Thaler (2007, 13; cf. Reimann 2016, in vorliegenden Band) 8 lassen sich vier Bereiche unterscheiden, die als Gegenstand des Sehverstehens von besonderer Bedeutung sind: (1) Handlungen und Aktivitäten (2) Ikonische Elemente (z.B. Bilder, Landschaften, Objekte) (3) Paralinguistische und nonverbale Merkmale der Interaktion (z.B. Räuspern, Husten; Gestik, Mimik, Körperhaltung, Augenkontakt, Proxemik) (4) Filmspezifische visuelle Mittel (z.B. Einstellungen, Perspektiven und Bewegungen der Kamera; Licht und Farben; Montage). 7 Im vorliegenden Beitrag ist weiterhin von ‚Sehverstehen’ die Rede, da der Begriff meines Erachtens das Bedeutungsspektrum von visual literacy voll abdeckt. 8 Das Modell wurde für die vorliegende Fragestellung, in der die Gegenstandsbereiche im Vordergrund stehen, leicht modifiziert. 422 Eva Leitzke-Ungerer Das Modell von Thaler ist mit Ausnahme der vierten Kategorie, die nur das filmische Sehverstehen betrifft, auf alle Kommunikationssituationen anwendbar, in denen Sehverstehen eine Rolle spielt.  Phasen des Sehverstehensprozesses Auch wenn sich Bilder und sprachliche Texte z.T. unterscheiden (cf. Anm. 6), so weisen sie andererseits die fundamentale Ähnlichkeit auf, dass sie komplexe Bedeutungseinheiten und damit ‚Texte’ im Sinne des erweiterten Textbegriffs darstellen. Es erscheint daher legitim, auf Bilder als Gegenstand eines kritischen und auch überprüfbaren Verstehens ein ähnliches Verfahren anzuwenden, wie es seit langem im Umgang mit sprachlichen, insbesondere literarischen Texten gepflegt wird. Analog zur Textanalyse können beim Sehverstehen drei kognitive Operationen und damit drei Phasen durchlaufen werden: Beschreibung (Was ist zu sehen? ), Strukturanalyse (Wie ist die formale Gestaltung? ) und Interpretation (Wie sind die Bildinhalte und das Zusammenspiel von Inhalt und Form zu deuten? ). Für die Phase der Interpretation ist die oben genannte Fähigkeit zur Entschlüsselung kultureller und ästhetischer Codes von zentraler Bedeutung.  Interaktion des Sehverstehens mit anderen fremdsprachlichen Kompetenzen Hier geht es um die Frage, inwieweit das Sehverstehen durch andere Kompetenzen unterstützt bzw. ergänzt wird. Im Bereich der sprachlich-funktionalen Kompetenzen (cf. dazu Leitzke-Ungerer 2016) kommt zunächst dem Hörverstehen bzw. dem Hör-Sehverstehen eine Schlüsselrolle zu, denn es ist neben dem ‚reinen’ Sehverstehen die zweite rezeptive Kompetenz, die in der mündlichen Kommunikation, aber eben auch bei der Betrachtung von Filmen und anderen audiovisuellen Medien ausschlaggebend für das Verstehen ist. Des Weiteren müssen auch die produktiven Kompetenzen des Sprechens und Schreibens als wichtig für das Sehverstehen betrachtet werden, da durch sie das Verstehen überhaupt erst sprachlich signalisiert und zum Ausdruck gebracht wird. Damit Bilder oder Filme ihre Funktion als Sprech- und Schreibanlass erfüllen können, müssen die SuS aber auch über die entsprechenden sprachlichen Mittel verfügen. Neben dem schon erwähnten thematischen Wortschatz, hier zu Le handicap physique (cf. Abb. 2), ist eine sprachliche Unterstützung der visuellen Wahrnehmungsprozesse not- Hinsehen statt wegsehen 423 wendig (z.B. Wortschatz und Redemittel zur Personencharakterisierung). Wenn ein bestimmtes Bildmedium Gegenstand der Betrachtung ist, muss darüber hinaus von den SuS auch medienspezifisches Vokabular erworben werden, für einen Film also etwa Fachwortschatz zur Beschreibung der wichtigsten filmischen Mittel, ihrer Funktion und Wirkung. Da es im Fall des Films und anderer Bildmedien (Fotos, Zeichnungen, Gemälde etc.) um visuelle Medien geht, sollte dieses Fachvokabular nach Möglichkeit wiederum bildgestützt vermittelt werden. Sehverstehen ist des Weiteren, wie oben erwähnt, stark von kulturspezifischen Visualisierungs- und Deutungsmustern abhängig; ferner setzt es Wissen über den Gegenstand des Sehens und seinen soziokulturellen Kontext voraus. Für erfolgreiches Sehverstehen spielen demnach auch interkulturelle Kompetenzen eine wichtige Rolle. Wenn Sehverstehen auf das Erkennen und Analysieren medienspezifischer Mittel und Merkmale ausgerichtet ist, so ist last but not least auch Medienkompetenz gefragt, d.h. die Kenntnis ausgewählter Spezifika des jeweiligen Mediums und die Fähigkeit, sich mit ihrer Funktion und Wirkung kritisch auseinanderzusetzen. 4.2. Modellbeispiel für die Berücksichtigung der drei Ebenen des Sehverstehens Das folgende Beispiel zeigt modellhaft und daher noch ohne Bezug auf das Thema ‚Behinderung’, wie die drei Ebenen des Sehverstehens - Gegenstandsbereiche, Phasen des Verstehensprozesses, Interaktion mit anderen Kompetenzen - im Französischunterricht berücksichtigt werden können. Gegenstand der Betrachtung ist ein kurzer Filmausschnitt aus Intouchables, den ich mit Driss et les autres candidats betitelt habe (Nakache/ Toledano 2011a, 00: 07: 35-00: 08: 13). Im Rahmen der filmischen Erzählung bildet dieser Filmausschnitt den Auftakt zu der Szenenfolge, mit der die in Abschnitt 4 vorgestellte Unterrichtseinheit einsetzt. Die Szene spielt in der luxuriösen Stadtvilla von Philippe und zeigt die Kandidaten, die sich um die Stelle als Pfleger bewerben. Unter ihnen befindet sich auch Driss, der jedoch nicht wegen der Stelle gekommen ist, sondern lediglich wegen einer Unterschrift, die ihn gegenüber den Behörden als arbeitssuchend ausweist. Die Unterschiede zwischen Driss und den anderen Kandidaten werden schon in der ersten Einstellung, einer Kamerafahrt über die Schuhe der Sitzenden, deutlich: Driss ist in Turnschuhen erschienen (00: 07: 46), die anderen in feinen Lederschuhen. Großaufnahmen der einzel- 424 Eva Leitzke-Ungerer nen Bewerber und die Totale auf die gesamte Gruppe (00: 07: 55) zeigen weitere eklatante Unterschiede: Driss ist wach und konzentriert, die anderen sind damit ‚beschäftigt’, die Wartezeit zu überbrücken - sie lesen Zeitung, machen Smalltalk, starren in die Luft, gähnen. Zum Schluss folgt die Kamera dem Blick von Driss, und der Zuschauer erfährt, was der Gegenstand seines Interesses ist: Es sind die auf einer Kommode ausgestellten Fabergé-Eier (00: 08: 10), von denen er wenig später eines ‚mitgehen’ lassen wird. Wie sieht der methodische Ablauf für die Arbeit mit dem Filmausschnitt aus? Zunächst konzentrieren sich die SuS auf das ‚reine’ Sehverstehen: sie betrachten den Ausschnitt über die Bildebene (ohne Ton) und beantworten anschließend die in Abb. 3 (oberer Teil) genannten Fragen. Als Gedächtnisstütze dienen ihnen dabei die o.g. Screenshots. In einer Anschlussaufgabe wird der Filmausschnitt in der Vollversion (Bild und Ton) gezeigt, und die SuS setzen sich mit dem Zusammenspiel der beiden Ebenen auseinander (cf. Abb. 3, unterer Teil). Fragen zum ‘reinen’ Sehverstehen Gegenstandsbereiche und Phasen des Sehverstehens Driss et les autres candidats: qu’est-ce qu’ils font en attendant? Handlungen und Aktivitäten: Beschreibung Décrivez leur aspect physique, leurs vêtements, leur mimique, leurs gestes, leurs mouvements. Quelles différences y a-t-il entre Driss et les autres candidats? Paralinguistische und andere äußere Merkmale: Beschreibung und Analyse Pourquoi Driss se présente-t-il en baskets? Les œufs de Fabergé: qu’est-ce qu’ils représentent ? Ikonische Elemente: Analyse und Deutung Les baskets de Driss et les œufs de Fabergé: Comparez les deux images d’un point de vue filmique (plans, perspectives, couleurs, etc.). Filmische Mittel: Analyse und Deutung Anschlussaufgabe zum Hör-Sehverstehen Décrivez la musique et les sons. Ton-Ebene: Beschreibung La musique - va-t-elle bien avec ce qu’on voit ? Zusammenspiel von Bild und Ton: Analyse und Deutung Abb. 3: Sehverstehen und Hör-Sehverstehen: Modellbeispiel zur Filmsequenz „Première présentation des candidats“ Wie in der rechten Spalte von Abb. 3 verdeutlicht, beziehen sich die Fragen zum Sehverstehen auf die bei Thaler (2007) genannten Gegenstandsbereiche: auf die Handlungen und Aktivitäten der Wartenden, auf paralinguistische Merkmale wie das Gähnen und andere äußere Merkmale (Kleidung, Mimik, Gestik, Bewegungen), auf ikonische Elemente wie die Turnschuhe von Driss und die Hinsehen statt wegsehen 425 Fabergé-Eier, und schließlich auf die filmischen Mittel; hier wären die Kamerafahrt und die unterschiedlichen Einstellungsgrößen zu beschreiben. Des Weiteren werden in den Fragen jeweils unterschiedliche Phasen des Verstehensprozesses - von der Beschreibung über die Analyse bis zur Interpretation - angesprochen. Wie an den Fragen zur Filmsequenz deutlich wird, erfährt bereits das ‚reine’ Sehverstehen eine Unterstützung bzw. Ergänzung durch weitere Kompetenzen. Da sich die SuS zum Gesehenen beschreibend und analysierend äußern sollen, spielen zum einen die Sprech- und gfs. die Schreibkompetenz inklusive der Kenntnis der notwendigen sprachlichen Mittel sowie die Medienkompetenz eine wichtige Rolle. Des Weiteren sollen die SuS Vermutungen anstellen, warum Driss in Turnschuhen erscheint und weshalb die Fabergé- Eier seine Aufmerksamkeit erregen. Dazu sind interkulturelle Kompetenzen notwendig, und zwar sowohl auf der Ebene des Faktenwissens (Was ist ein Fabergé-Ei, welche kulturelle Bedeutung hat es? ) als auch auf der Ebene der Perspektivenübernahme (Was geht in Driss vor, warum sind die Fabergé-Eier für ihn interessant? ). Auch in den abschließenden Fragen zum Hör-Sehverstehen spielen die genannten Kompetenzen eine Rolle, außerdem kommt die Interaktion von Seh- und Hörverstehen zum Tragen. Vivre avec un handicap physique: Eine Unterrichtssequenz zu Intouchables für den fortgeschrittenen Französischunterricht 5.1. Unterrichtliche Parameter Im Folgenden stelle ich eine von mir konzipierte Unterrichtssequenz zu Intouchables vor. Sie richtet sich an fortgeschrittene Französischlernende, d.h. an SuS ab dem vierten Lernjahr, und kann somit ab Jahrgangsstufe 9/ 10, aber auch in der Oberstufe eingesetzt werden. Die Sequenz ist auf vier Doppelstunden à 90 Minuten angelegt und kann im Französischunterricht in zweierlei Weise verwendet werden. Sie kann als einer von mehreren möglichen Bestandteilen einer Unterrichtseinheit zum Thema ‚Behinderung’ oder ‚Inklusion’ eingesetzt werden; in diesem Fall wird nicht mit dem gesamten Film, sondern nur mit den ausgewählten Szenen gearbeitet. Die andere Möglichkeit sieht vor, dass der Film im Zentrum steht und die Sequenz Teil einer umfassenden Unterrichtseinheit zu Intouchables ist. In dieser kommen dann selbstverständlich auch die anderen Themen des Films - Freundschaft, Solidarität, die Problematik der banlieue und des handicap social von Driss - zum Tragen. Da diese aber alle mit der zentralen Thematik der körperlichen Behinderung 426 Eva Leitzke-Ungerer verbunden sind, bietet es sich an, diesem Aspekt auch im Rahmen der Behandlung des gesamten Films ein eigenes ‚Modul’ zu widmen (entsprechend verfahren etwa auch Herzberg/ Weber 2013 und Marini 2012). Terminologisch wird im Folgenden auf ein solches ‚Modul’ mit dem Begriff ‚(Unterrichts)Sequenz’ verwiesen; diese Sequenz kann, wie beschrieben, Bestandteil einer größeren ‚Unterrichtseinheit’ zum gesamten Film bzw. zum Thema ‚Behinderung’ oder ‚Inklusion’ sein. 5.2. Doppelter Fokus des Sehverstehens Im Mittelpunkt der vorgeschlagenen Sequenz mit dem Titel Vivre avec un handicap physique stehen der thematische Schwerpunkt des handicap physique sowie aus kompetenzbezogener Sicht das Sehverstehen. Der Fokus des filmischen Sehverstehens richtet sich auf zwei Bereiche, die eng miteinander verflochten sind: Zum einen auf die Art und Weise, mit der Philippe selbst, aber auch die Menschen in seiner Umgebung, allen voran Driss, mit seiner schweren körperlichen Behinderung ‚leben’, d.h. mit ihr ‚umgehen’; zum anderen auf die Entwicklung der Beziehung zwischen Philippe und Driss, die wiederum maßgeblich beeinflusst wird von der Art und Weise des Umgangs der beiden mit dem handicap physique von Philippe. Filmausschnitte aus Intouchables Doppelter Fokus des Sehverstehens: Le handicap physique de Philippe / La relation entre Philippe et Driss 1 Les candidats se présentent / Driss se présente (Nakache / Toledano 2011a: 00: 08: 15- 00: 08: 56 / 00: 09: 55-00: 12: 35) Sympathie zwischen Philippe und Driss (vs. Antipathie Philippe - andere Bewerber) vor dem Hintergrund der Vorstellungsgespräche für die Stelle als Behindertenpfleger 2 Driss apprend son métier d‘aide à domicile (Nakache / Toledano 2011a: 00: 21: 34- 00: 25: 37) Respekt von Driss angesichts der direkten Konfrontation mit den körperlichen Einschränkungen von Philippe 3 La crise / Prendre l’air (Nakache / Toledano 2011a: 00: 39: 55-00- 00: 45: 55) Wachsende Empathie von Driss in Bezug auf die Situation von Philippe als behinderter Mensch 4 La course en fauteuil roulant / Le massage érotique de l’oreille (Nakache / Toledano 2011a: 01: 00: 00- 01: 00: 43) Gemeinsames Überwinden der Schranken der Behinderung von Philippe Abb. 4: Intouchables: Doppelter Fokus des Sehverstehens in den Filmausschnitten In der Entwicklung der Beziehung der beiden Protagonisten lassen sich vier Phasen unterscheiden (cf. Abb. 4, Spalte rechts). Schon bei ihrer ersten Begegnung im Rahmen der Vorstellungsgespräche um die Stelle als Pfleger von Philippe wird deutlich, dass wechselseitige Sympathie im Spiel ist (Phase 1). Als Hinsehen statt wegsehen 427 Pfleger von Philippe entwickelt Driss Respekt (Phase 2) und Empathie (Phase 3) angesichts der enormen Einschränkungen, die Philippe aufgrund seiner Behinderung hinnehmen muss bzw. glaubt hinnehmen zu müssen. Schließlich gelingt Philippe und Driss das gemeinsame Überwinden der Schranken der Behinderung (Phase 4). Diesen Phasen lassen sich Filmausschnitte zuordnen, die wie folgt betitelt sind (cf. Abb. 4, Spalte links): Les candidats se présentent und Driss se présente (1), Driss apprend son métier d’aide à domicile (2), La crise und Prendre l’air (3), La course en fauteuil roulant und Le massage érotique de l’oreille (4). 5.3. Kategorien der Beschreibung der Unterrichtssequenz Die Unterrichtssequenz Vivre avec un handicap physique umfasst vier Teilsequenzen. Was den übergreifenden methodischen Ansatz betrifft, so orientiert sie sich am Konzept der Lernaufgabe (cf. u.a. Henseler/ Möller/ Surkamp 2011c, Müller-Hartmann/ Schocker-v. Ditfurth 2011, Leitzke-Ungerer 2016). Die Beschreibung selbst folgt einem einheitlichen Muster, z.T. in Anlehnung an Henseler/ Möller/ Surkamp (2011c) zu filmbezogenen Lernaufgaben. Sie umfasst Angaben zum Inhalt des jeweiligen Filmausschnitts (1) und zur filmischen Inszenierung (2), insbesondere zur visuellen Umsetzung. Von besonderer Relevanz ist die anschließende Aufgabenstellung mit dem Fokus ‚Sehverstehen’ (3). Es folgen Hinweise zur Materialgrundlage für den Unterricht (4) und zum methodischen Vorgehen (5). Am Ende steht jeweils eine als ‚Anschlussaufgabe’ (6) bezeichnete Aktivität, die über das Sehverstehen hinaus der Plurimedialität der Gattung Film Rechnung trägt. Ihr Ziel ist die Förderung des Hörverstehens bzw. des Hör- Sehverstehens; die SuS sollen insbesondere das Zusammenspiel von Bild, Sprache und Ton erkennen. 9 5.4. Die Unterrichtssequenz Vivre avec un handicap physique Nachstehend wird die Unterrichtssequenz Vivre avec un handicap physique im Detail vorgestellt. Analog zu den in Abb. 4 genannten vier Filmausschnitten und Phasen umfasst sie vier Teilsequenzen. 9 Für die Anschlussaufgaben zum Hörbzw. Hör-Sehverstehen empfiehlt es sich, mit den französischen Untertiteln der Filmfassung bzw. dem Drehbuch (Nakache / Toledano 2011b) zu arbeiten. Ansonsten könnte es sich als schwierig erweisen, den Witz und die Pointiertheit der Filmdialoge zu erfassen, die sehr schnell gesprochen werden und zahlreiche umgangssprachliche Wörter und Ausdrücke enthalten. 428 Eva Leitzke-Ungerer 5.4.1. Les candidats se présentent / Driss se présente (1) Inhalt der Filmausschnitte Die Filmsequenz, die die beiden Filmausschnitte Les candidats se présentent und Driss se présente umfasst, schließt unmittelbar an die in Abschnitt 3.2 besprochene Szene Driss et les autres candidats an. Les candidats se présentent zeigt die Vorstellung der Bewerber um die Stelle als Pfleger. Die Gespräche werden von Magalie, der Assistentin von Philippe, geführt. Er selbst schaltet sich nicht ein; man sieht nur an seinem Gesichtsausdruck, wie sehr ihm die Bewerber und ihre „geheuchelten Sympathiebekundungen für Behinderte“ (Marini 2012, 7) missfallen. In direktem Gegensatz dazu steht die folgende Szene (Driss se présente). Driss ist offen und direkt; er macht kein Hehl daraus, dass er nur wegen einer Unterschrift zur Sicherung weiterer Arbeitslosenunterstützung gekommen ist. Philippe zeigt sich im Gespräch, das im Übrigen er und nicht Magalie führt, zunächst verblüfft, dann amüsiert und zuletzt sichtlich angetan von Driss’ unkonventioneller und schlagfertiger Art und sichert ihm die Unterschrift für den nächsten Tag zu. (2) Filmische Inszenierung Beide Szenen heben die Unterschiede zwischen den Bewerbern und Driss auch visuell markant hervor. So werden die Austauschbarkeit der Bewerber und die Schablonenhaftigkeit ihrer Antworten durch ihre Positionierung auf dem immer gleichen Stuhl, durch die Wahl identischer Kameraeinstellungen und durch die Schnitttechnkik der direkt hintereinander montierten Interviewausschnitte besonders unterstrichen (cf. Marini 2012, 7). Der Auftritt von Driss und sein Gespräch mit Philippe werden hingegen ganz anders in Szene gesetzt. Im Gegensatz zu den steifen Kandidaten von vorher wird Driss lebendig und dynamisch präsentiert: er ‚platzt’ förmlich in den Raum und durchquert ihn im Laufschritt; er lacht und gestikuliert; er flirtet mit Magalie. Das Gespräch zwischen Philippe und Driss ist keine leere Routine, sondern ebenfalls ein lebendiger Austausch; die Reaktionen der beiden werden im ständigen Wechsel von Schuss und Gegenschuss eingefangen. Hinzu kommen Großaufnahmen, mit denen Gefühle der Sympathie und der Empathie in Szene gesetzt werden, so das Lächeln von Philippe angesichts von Driss’ Annäherungsversuch an Magalie, oder die Bestürzung von Driss, als er bemerkt, dass Philippe im Rollstuhl sitzt. (3) Aufgabenstellung mit Fokus Sehverstehen Nach Reaktivierung von Wortschatz zur Personenbeschreibung und zur Kameraführung arbeiten die SuS die Unterschiede zwischen Driss und den anderen Kandidaten sowie ausgewählte Mittel der filmischen Inszenierung zur Verdeutlichung dieser Unterschiede heraus. Ferner soll das Verhalten, das Hinsehen statt wegsehen 429 Philippe gegenüber den anderen Kandidaten zeigt, mit seinem Verhalten im Gespräch mit Driss verglichen werden. (4) Materialgrundlage  Filmsequenzen Les candidats se présentent und Driss se présente (Nakache/ Toledano 2011a, 00: 08: 15-00: 08: 56 und 00: 09: 55-00: 12: 35)  Arbeitsblatt (im Folgenden: AB): Thematischer Wortschatz zur Personenbeschreibung (Aussehen, Mimik, Gestik, Bewegungen, etc.)  AB: Medienspezifischer Wortschatz zu filmischen Mitteln (insbes. Kameraführung: Einstellungsgrößen, Perspektiven, Bewegungen) (5) Methodisches Vorgehen Schritt 1: Arbeit mit der Filmsequenz Les candidats se présentent (Modus: Bild ohne Ton) Ziele: Beschreibung der Kandidaten und der Reaktionen von Philippe sowie Analyse der filmischen Visualisierung der Vorstellungsgespräche. Fragen:  Décrivez comment les autres candidats se présentent (mimique, gestes, mouvements, interaction avec Philippe et son assistante).  Décrivez Philippe et ses réactions.  Quels sont les moyens cinématographiques pour présenter les candidats?  Quels effets la mise en scène produit-elle sur le spectateur? Schritt 2: Arbeit mit der Filmsequenz Driss se présente (Modus: Bild ohne Ton) Ziele: Beschreibung der Unterschiede zwischen Driss und den vorherigen Kandidaten sowie Beschreibung des Verhaltens von Driss und Philippe während ihres Gesprächs. Fragen:  Driss est très différent des autres candidats. Dans quels aspects?  Décrivez et interprétez le comportement de Philippe vis-à-vis de Driss.  Comment Driss réagit-il quand il voit que Philippe souffre d’un handicap? (6) Anschlussaufgaben mit Fokus Hörverstehen (HV) und Hör-Sehverstehen (HSV) Die SuS betrachten beide Filmsequenzen in der Vollversion (Bild und Ton) und erfassen zunächst Inhalt und Ablauf der Vorstellungsrunde der Kandidaten sowie des Gesprächs zwischen Driss und Philippe (HV: Grobverstehen). 430 Eva Leitzke-Ungerer In Bezug auf die Sequenz Les candidats se présentent setzen sich die SuS mit der Frage auseinander, welche Einstellungen gegenüber behinderten Menschen sich in den Äußerungen der Kandidaten widerspiegeln (HV: Detailverstehen). Im Anschluss an die Sequenz Driss se présente stellen die SuS Vermutungen darüber an, ob Philippe Driss als Pfleger einstellen wird, und begründen ihre Antwort unter Bezugnahme auf das Gespräch zwischen Driss und Philippe (HV: Detailverstehen sowie HSV). 5.4.2. Driss apprend son métier d‘aide à domicile (1) Inhalt des Filmausschnitts Driss wird in seine Aufgaben als Pfleger eingewiesen. Er lernt u.a., wie man Philippe aus dem Bett hebt und in den Rollstuhl setzt, wie man ihn duscht oder ihm Kompressionsstrümpfe anzieht. Driss zeigt sich anfangs unachtsam und ungeschickt; so lässt er Philippe beinahe aus dem Rollstuhl fallen oder behandelt seine Füße mit Haarshampoo. Er lernt jedoch schnell und erledigt die ihm übertragenen Aufgaben nicht nur mit großer Sicherheit und Zuverlässigkeit, sondern auch mit dem nötigen Feingefühl, denn die meisten der gezeigten pflegerischen Tätigkeiten greifen stark in die Intimsphäre von Philippe ein. Insgesamt wird in der gesamten Filmsequenz deutlich, dass Driss dem behinderten Philippe mit Achtung und Respekt begegnet. (2) Filmische Inszenierung Die filmische Inszenierung, insbesondere die Kameraführung, ist so gestaltet, dass der Zuschauer das Geschehen im Wesentlichen aus der Perspektive von Driss verfolgt. Mit ihm wird er in die diversen pflegerischen Tätigkeiten eingeführt, mit ihm lernt er, sich den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen. Zugleich macht die Inszenierung auch die Beziehung von Philippe und Driss und ihr Verhalten zueinander deutlich. Auf der visuellen Ebene lässt sich dies sehr gut anhand der unterschiedlichen Einstellungsgrößen und Kameraperspektiven nachvollziehen. Die Vollversion der Filmsequenz mit den Dialogen erlaubt eine noch genauere Analyse; hier zeigt sich, dass Driss mit Philippe offen und ohne falsches Mitleid, aber auch sehr direkt und schlagfertig umgeht. So dreht er etwa Philippes Vorwurf, ein Sozialschmarotzer zu sein, einfach um (Nakache/ Toledano 2011b, 33): Philippe: Comment vous vivez l’idée d’être un assisté ? […] Ça ne vous gêne pas de vivre sur le dos des autres? Driss: Ça va, merci, et vous? Hinsehen statt wegsehen 431 (3) Aufgabenstellung mit Fokus Sehverstehen Nach Reaktivierung von Wortschatz zur Kameraführung und nach dem Grobverstehen der Filmsequenz untersuchen die SuS, inwiefern die Kameraführung die Beziehung zwischen Driss und Philippe und ihr Verhalten zueinander deutlich macht. (4) Materialgrundlage  Filmsequenz Driss apprend son métier d‘aide à domicile (Nakache/ Toledano 2011a, 00: 21: 34-00: 25: 37)  AB aus Teilsequenz 1 (Medienspezifischer Wortschatz zu filmischen Mitteln, insbes. Kameraführung: Einstellungsgrößen, Perspektiven, Bewegungen)  AB bzw. Powerpoint-Präsentation: Folge von ca. 10 Screenshots aus der Filmsequenz (5) Methodisches Vorgehen Schritt 1: Arbeit mit der Filmsequenz Driss apprend son métier d‘aide à domicile (Modus: Bild ohne Ton) Ziele: Verstehen der Filmsequenz auf der Handlungs- und Beziehungsebene sowie Erfassen der Rolle der Komik. Fragen zur Filmsequenz:  Driss doit apprendre son ‘métier’: que fait-il et comment remplit-t-il ses tâches ?  Décrivez le comportement et l’attitude de Philippe vis-à-vis de Driss.  Quel rôle jouent le comique et l’humour ? Schritt 2: Arbeit mit einer Folge von Screenshots aus der Filmsequenz Driss apprend son métier d‘aide à domicile Ziele: Beschreibung, Analyse und Deutung der Kameraeinstellungen (und gfs. weiterer Aspekte der Kameraführung) im Hinblick auf die Beziehung zwischen Driss und Philippe und ihr Verhalten zueinander. Fragen zu den Screenshots (cf. Ladmiral 2013, 34):  Quels sont les plans utilisés pour Driss et pour Philippe ?  Quelles sont les fonctions des différents plans ?  Que traduit le choix des plans pour la relation entre Driss et Philippe ? (6) Anschlussaufgabe mit Fokus Hörverstehen (HV) Die SuS betrachten die Filmsequenz in der Vollversion (Bild und Ton) und erfassen zunächst Inhalt und Ablauf des Gesprächs (HV: Grobverstehen). Im Rahmen des Detailverstehens (HV) untersuchen sie, was der Dialog über das 432 Eva Leitzke-Ungerer Verhältnis von Philippe und Driss und die Art und Weise, wie sie miteinander umgehen, aussagt. 5.4.3. La crise / Prendre l’air (1) Inhalt der Filmausschnitte Es ist vier Uhr morgens. Philippe erleidet einen Atemnotanfall (La crise). Driss ist sofort zur Stelle und reagiert, wenn auch unkonventionell: Er wirft Philippe eine Decke über, setzt ihn in den Rollstuhl und geht mit ihm nach draußen, die Seine entlang (Prendre l’air); später kehren sie im Café Deux Magots ein. Philippes Zustand bessert sich schnell, zumal ihm Driss auch noch einen Joint gibt. Als der Anblick zweier hübscher Mädchen ihrer beider Interesse weckt, fragt Driss ziemlich unverblümt, wie es denn für Philippe mit den Frauen und dem Sex sei: „... les femmes, ... comment ça se passe? ... vous pouvez ou vous pouvez pas? “ (Nakache/ Toledano 2011b, 62). Mit dem Hinweis, dass bei ihm alles „ein bisschen komplizierter“ sei, verrät Philippe, dass seine erogene Zone die Ohren sei, worüber beide sehr lachen müssen. Ihr Gespräch kreist aber auch um ernste Themen; Philippe erzählt vom Tod seiner Frau und von seinem Unfall. Driss zeigt ehrliches Mitgefühl. (2) Filmische Inszenierung Die gesamte Szenenfolge spielt in der Nacht. Sie beginnt in einem Innenraum, dem Schlafzimmer von Philippe, das zugleich ein perfekt ausgestattetes Krankenzimmer ist. Dann geht es nach draußen, an die Quais der Seine, und schließlich wieder in einen Innenraum, in das Café Deux Magots. Auffällig ist die unterschiedliche Farb- und Lichtgestaltung der Orte. So ist das Schlafzimmer von Philippe ebenso wie die Kleidung, die Philippe und Driss zu Beginn tragen, ganz in kaltem Blau und in Weiß gehalten. Dagegen erscheinen die beiden anderen Orte in warmen Braun- und Goldtönen, Philippe ruht im Rollstuhl unter einer braunen Wolldecke, Driss trägt draußen seine schokoladenfarbene Lederjacke. In Philippes Schlafzimmer ist es trotz Beleuchtung düster. Das nächtliche Paris hingegen glitzert förmlich, in der Seine spiegeln sich Lichtreflexe, und im Café Deux Magots verbreiten die Wandlampen ein warmes Licht. Handlung und ästhetische Gestaltung lassen darauf schließen, dass die Orte konträre ‚Welten’ symbolisieren: in seinem Schlaf- und Krankenzimmer lebt Philippe wie in einem Gefängnis, das Ufer der Seine und das Café stehen für den Ausbruch aus den Zwängen der Behinderung, für Freiheit (cf. Ladmiral 2013, 20). Hinsehen statt wegsehen 433 (3) Aufgabenstellung mit Fokus Sehverstehen Nach der ersten Betrachtung der beiden Filmausschnitte vergleichen die SuS die Visualisierung der Innen- und Außenräume und deuten deren Symbolik. Nach der zweiten Betrachtung - diesmal nur der Sequenz Prendre l’air - bilden die SuS Hypothesen zum Inhalt der Gespräche von Philippe und Driss und erstellen in Zweiergruppen eine eigene Dialogfassung. Diese sprechen sie im Rahmen der dritten Präsentation der Sequenz Prendre l’air in Echtzeit ein und achten dabei auf die ‚Passung’ von Bild und Dialog. Für die vorherige Erprobung der Dialoge wäre es gut, wenn den Zweiergruppen jeweils ein Computer für die wiederholte Betrachtung der Sequenz Prendre l’air (ohne Ton) zur Verfügung stünde. (4) Materialgrundlage  Filmsequenzen La crise und Prendre l’air (Nakache/ Toledano 2011a, 00: 39: 55-00: 45: 55)  AB: Thematischer Wortschatz zur Beschreibung der Innen- und Außenräume  Computer für jeweils zwei SuS (5) Methodisches Vorgehen Schritt 1: Arbeit mit den Filmsequenzen La crise und Prendre l’air (Modus: Bild ohne Ton) Ziele: Beschreibung und vergleichende Analyse der visuellen Inszenierung der Innen- und Außenräume und Deutung ihrer symbolischen Aussagekraft. Fragen:  Comparez la mise en scène des différents lieux et des actions qui s’y déroulent (couleurs, lumières, plans et mouvements de la caméra).  Quelle est la valeur symbolique des lieux? (cf. Ladmiral 2013, 20) Schritt 2: Arbeit mit der Filmsequenz Prendre l’air (Modus: Bild ohne Ton) Ziele: Hypothesenbildung zu den Inhalten der Gespräche von Philippe und Driss sowie Erstellen und Erprobung einer eigenen Dialogfassung, mit anschließendem Einsprechen in die nur über die Bildebene gezeigte Filmsequenz. Fragen:  De quoi parlent Philippe et Driss?  Formez des groupes à deux et imaginez les dialogues en respectant les mouvements de bouche, la mimique et les gestes des protagonistes.  Quand la séquence sera présentée sans son, vous synchroniserez les scènes avec vos dialogues en respectant à nouveau les mouvements de bouche, la mimique et les gestes des protagonistes. 434 Eva Leitzke-Ungerer (6) Anschlussaufgabe mit Fokus Hörverstehen (HV) Die SuS betrachten die Filmsequenz in der Vollversion (Bild und Ton) und vergleichen ihre Fassungen der Dialoge mit dem Original (HV: Detailverstehen). Dabei sollen sie besonders darauf achten, ob und wenn ja, wie jeweils auf das Thema der körperlichen Behinderung von Philippe eingegangen wird. 5.4.4. La course en fauteuil roulant / Le massage érotique de l’oreille (1) Inhalt der Filmausschnitte Philippe hat seinen Rollstuhl tunen lassen, dieser schafft nun eine Geschwindigkeit von 12 km/ h. Am Pont des Arts liefern sich Philippe und Driss ein Wettrennen mit Segway-Fahrern (La course en fauteuil roulant) und lassen diese mühelos hinter sich. Die nächste Szene (Le massage érotique de l’oreille) zeigt, wie sich die beiden in einem Salon von zwei asiatisch aussehenden Mädchen an Kopf und Schultern massieren lassen und dazu einen Joint rauchen. Philippe genießt beides sichtlich. Driss achtet darauf, dass bei Philippe vor allem die Ohren stimuliert werden ... (2) Filmische Inszenierung Die kurze Szene, in der Driss auf dem Trittbrett von Philippes Rollstuhl steht und die beiden an den Segway-Fahrern vorbei über den Pont des Arts rasen, gehört zu den eindrucksvollsten Szenen des Films. In der ‚Ohrensex-Szene’ ist die identische räumliche Positionierung der beiden Protagonisten und ihre fast identische ‚Behandlung’ durch die Mädchen bemerkenswert. Der Zuschauer hat den Eindruck, als seien die beiden Männer völlig gleich; Philippe wird nicht mehr als Behinderter wahrgenommen. Die Nah- und Großaufnahmen von Philippes Gesicht zeigen zudem, wie sehr er den Joint und die Ohrenmassage genießt. Die filmische Inszenierung der gesamten Sequenz, insbesondere aber die Dynamik der course en fauteuil roulant und die räumlich parallele Anordnung der beiden Männer im Massagesalon setzen auf der visuellen Ebene eindrucksvoll in Szene, dass es Philippe und Driss gelungen ist, die Schranken von Philippes Behinderung gemeinsam zu überwinden. (3) Aufgabenstellung mit Fokus Sehverstehen Nach der Betrachtung der Filmsequenz beschreiben die SuS die gemeinsamen ‚Aktivitäten’ von Driss und Philippe und nehmen Stellung zu der Frage, was diese für Philippe als behindertem Menschen bedeuten und was damit über die Beziehung von Philippe und Driss ausgesagt wird. Im Anschluss daran stellen die SuS Überlegungen an, wie die beiden Szenen in geeigneter Weise durch Musik und Geräusche untermalt werden können, und machen entsprechende Vorschläge. Hinsehen statt wegsehen 435 (4) Materialgrundlage  Filmausschnitte La course en fauteuil roulant / Le massage érotique de l’oreille (Nakache/ Toledano 2011a, 01: 00: 00-01: 00: 43) (5) Methodisches Vorgehen Schritt 1: Arbeit mit den Filmsequenzen La course en fauteuil roulant / Le massage érotique de l’oreille (Modus: Bild ohne Ton) Ziele: Beschreiben der Aktivitäten von Driss und Philippe und Stellungnahme zu den Aktivitäten. Fragen:  Décrivez ce que font Driss et Philippe.  Que pensez-vous de leurs actions et de leur comportement?  Que révèlent les deux scènes sur la vie de Philippe comme handicapé? la relation entre Philippe et Driss? Schritt 2: Arbeit mit den Filmsequenzen La course en fauteuil roulant / Le massage érotique de l’oreille (Modus: Bild ohne Ton) Ziele: Suche nach geeigneter Musik und passenden Geräuschen zur Untermalung der Szenen. Fragen:  Quelle musique et quels sons vont avec les scènes?  Faites des propositions. Vous pouvez choisir une musique déjà existante ou en composer une. Vous pouvez aussi ajouter un bruitage. (6) Anschlussaufgabe mit Fokus Hör-Sehverstehen (HSV) Die SuS betrachten die Filmsequenz in der Vollversion (Bild und Ton) und diskutieren - unter Bezug auf das Verhältnis von Bild, Sprache und Ton - ob ihre eigenen Vorschläge für Musik bzw. Geräusche überzeugender sind als die bande sonore des Originals. Schlussbemerkungen Wie die konzeptionellen Überlegungen und die unterrichtspraktischen Vorschläge zu zeigen versucht haben, erweist sich die Konzentration auf das Sehverstehen als geeigneter Zugang zum Thema ‚Behinderung’ und seiner ästhetisch-künstlerischen Umsetzung im Film Intouchables. Neben der Unmittelbarkeit des bildbezogenen Zugangs und der suggestiven Kraft der filmischen 436 Eva Leitzke-Ungerer Bilder, die zum ‚Hinsehen’ motivieren, lassen sich weitere Vorzüge ausmachen. So werden durch die kognitive und emotionale Verarbeitung des Gesehenen wichtige Kompetenzen für den angemessenen Umgang mit behinderten Menschen gefördert, angefangen vom Fakten- und Handlungswissen (Wie hilft man einem behinderten Menschen beim Duschen? Wie setzt man ihn in den Rollstuhl? ) über die Fähigkeit zur Problemlösung (Was kann man im Fall plötzlicher Komplikationen wie einem nächtlichen Atemnotanfall tun? ) bis hin zu jenen ‚Tugenden’, die - laut Intouchables - für ein Miteinander von behinderten und nichtbehinderten Menschen besonders wichtig sind: Feinfühligkeit, Empathie, Optimismus und Humor. Assmann, David. 2012. „Die Lebenslust und nichts Anderes“, in: ZEITmagazin. 06.01.2012. (http: / / www.zeit.de/ kultur/ 2012-01/ film-ziemlich-beste-freunde, 12.03.2016). Blell, Gabriele / Lütge, Christiane. 2008. „Filmbildung im Fremdsprachenunterricht”, in: Fremdsprachen lehren und lernen 37, 124-140. 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Bildnachweis : Intouchables, un film de Éric Toledano et Olivier Nakache. © 2011 Gaumont / Splendido / Ten Films / TF1 Films Production. Renate Fischer Sehverstehen und Gebärdensprachen Einführung Weltweit haben viele Länder, darunter Deutschland oder Frankreich, die UN- Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Nicht nur, aber auch durch Aufklärung der Mehrheitsbevölkerung soll die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderung in Richtung auf Barrierefreiheit und Inklusion verbessert werden. Im Unterricht Gebärdensprachen zum Thema zu machen, kann eine Form sein, einen persönlichen Beitrag zu diesem Ziel zu leisten. Weltweit gibt es viele verschiedene nationale Gebärdensprachen, wie die Langue des Signes Française (LSF), die Deutsche Gebärdensprache (DGS), die Lingua Italiana dei Segni (LIS) oder die Língua Brasileira de Sinais (LIBRAS), die sich in ihrer Grammatik, vor allem aber in der Lexik stark voneinander unterscheiden und außerdem sprachtypologisch nicht mit den jeweiligen Nationalsprachen (Lautsprachen wie Französisch oder Italienisch) verwandt sind. Alle Gebärdensprachen weltweit bilden wahrscheinlich einen eigenen visuogestischen Sprachtyp und lassen sich keiner der bisher bekannten Sprachfamilien (wie Indoeuropäisch) zuordnen. Sprachgemeinschaften sind ferner auch Kulturgemeinschaften, so dass die Beschäftigung mit Gebärdensprachen stets Sprach- und Kulturdifferenzen beinhaltet. Der vorliegende Beitrag präsentiert Überlegungen über Möglichkeiten, im Rahmen des fremdsprachenunterrichtlichen Sehverstehens den visuogestischen Sprachtyp einzubeziehen. Für die praktische Umsetzung, die meinen Überlegungen folgen könnte, sei an dieser Stelle das Motto der Aktion Mensch vorangestellt: „Nichts über uns ohne uns! “ - die Gebärdensprachen sollten also gerade auch durch native signers im (virtuell erweiterten) Klassenraum „zur Anschauung“ kommen. 440 Renate Fischer Was können Gebärdensprachen zum Sehverstehen beitragen? Jede Face-to-face-Interaktion fordert von den Interagierenden, eine Vielzahl gleichzeitiger und auf verschiedenen Sinneskanälen verfügbarer Informationen zu verarbeiten, und dies geschieht durchaus kulturspezifisch. 1 Insofern mag es scheinen, als komme die Beschäftigung mit Gebärdensprachen eher einer Reduktion gleich, fehlt doch der akustische Input, und an das Nebeneinander aus verbalen und sogenannten non-verbalen, z.B. gestischen Inputs, ist man schließlich gewöhnt. Erfahrungen mit (hörenden) Erstsemestern unserer gebärdensprachlichen Studiengänge an der Universität Hamburg zeigen jedoch, dass schon das Vorherrschen sichtstatt hör- und sichtbarer Kommunikation eine Herausforderung und neue Erfahrung ist und dass ferner das systematische Vorkommen komplexer visuogestischer Strukturen eine dauerhafte große Lernaufgabe im Fremdsprachenunterricht darstellt. Das Hinsehen und Ansehen lernen , manchmal auch als „den visuellen Kanal offen halten“ bezeichnet, kann als ein grundlegendes Übungsniveau für Sehverstehen betrachtet werden. Das meint nicht nur die rezeptive und kommunikative Herausforderung des Verzichts auf auditiv wahrnehmbare Äußerungen, sondern weitergehende interaktive Aspekte zwischen hörenden und gehörlosen Menschen. Dazu gehören kommunikative Empfehlungen für hörende Gesprächspartner , sich zum Beispiel ganz konkret „ins rechte Licht zu setzen“, damit der gehörlose Gesprächspartner gegebenenfalls von den Lippen ablesen kann. Hierher gehören auch Übungen, wie man, unter Beachtung kulturell differierender Höflichkeit, überhaupt erst einmal eine visuell getragene Interaktionsachse herstellt, jemanden in ein Gespräch hineinzieht oder anredet. 2 Eine Sendung von DeutschlandRadio Kultur thematisierte unlängst das unterschiedliche Blickverhalten in laut- und in gebärdensprachlicher Kommunikation und damit indirekt seinen Wert für das Sehverstehen. Wahrnehmungsmuster würden dadurch geändert und zugleich eine andere kulturelle Art des In-Kontakt-Seins erfahrbar gemacht. 3 In der Tat, als Rezipientin muss 1 E ntsprechend beginnt Wandruszka (1954, 7) seine Monographie wie folgt: „Zu den landläufigen Vorstellungen von romanischer Wesensart gehören die ausdrucksvollen, großartigen, lebhaften, liebenswürdigen Haltungen und Gebärden. Dem Nordländer scheint im Süden der menschliche Körper eine deutlichere Sprache zu sprechen, eine Sprache, die in unerschöpflichem Wechsel Ausdruck, Darstellung, Aufforderung ist, die den Menschen im Blut liegt, die ansteckend in der Luft liegt.“. 2 Übungen dazu lassen sich in den Lektionen 1B und 2C des Sprachkurses DaZiel finden (Fischer et al. 2006; http: / / http: / / www.sign-lang.uni-hamburg.de/ daziel/ ). 3 „Als Hörende stellt man sich ja immer vor, wie es wäre, wenn man nichts hören würde, und dann denkt man, man sieht ja eigentlich noch genau das gleiche: Ich sehe die Dinge immer noch genau so, wie sie sind, nur fehlt eben der Ton. Und das ist eben ganz anders.“ (hörende DGS -Lernerin; Kaspar 2013, 4). Sehverstehen und Gebärdensprachen 441 ich fortwährend auf meine Gesprächspartnerin schauen, um ihr damit den „offenen Sehkanal“ zu signalisieren, da sonst der Eindruck von Kommunikationsverweigerung unausweichlich ist. Dieses andauernde rezeptiv-kommunikative „Onlinesein“ zählt ebenso zu den erschöpfenden Erfahrungen von Gebärdensprachlernenden wie die Masse an visuellem Input und die Ausschließlichkeit des visuellen Inputs, wohingegen alles Akustische „überhört“ werden muss. Als Produzentin muss ich demgegenüber lernen, dass ich meine Interaktionspartnerin nicht fortgesetzt anschauen kann, dass mein Blickverhalten kein rein kommunikatives ist, vielmehr grammatische und diskurssegmentierende Funktionen hat. Die visuelle Wahrnehmung trainieren lässt sich mithilfe gebärdensprachlicher Minimalpaare. In der lautsprachlichen Phonologie sind Minimalpaare wie „Rat - Tat“ gut bekannt, und Analoges lässt sich mit gebärdeten Lexemen für das Sehverstehen üben. Dazu müssen rasch wechselnde Handformen oder minimale Änderungen der Bewegung erkannt oder produziert werden. Da es sich bei Minimalpaaren immer um Lexeme handelt, lässt sich so die visuelle Wahrnehmung zusammen mit einem kleinen, individuell zusammenstellbaren Gebärden-Wortschatz trainieren. Es gibt heutzutage für etliche Gebärdensprachen online-Wörterbücher, in denen man einen lautsprachlichen Suchbegriff eingibt und zumeist mittels Video die äquivalente Gebärde gezeigt bekommt. Eine solche Webseite ist bspw. die folgende zur Französischen Gebärdensprache (http: / / www.lsfdico-injsmetz.fr/ recherche-parsigne-de-la-main.php), wo Minimalpaare gezielt abgefragt werden können nach dem gebärdensprachlichen Parameter Handform. Die für Gebärdensprachen charakteristischen komplexen Prädikate, die erst so recht das linguistische Verständnis für den visuogestischen Sprachtyp schaffen (cf. Fischer/ Kollien 2006), sind auf dem Einstiegsniveau wohl nicht einsetzbar. Im Unterschied zu den Minimalpaaren stellen sie die eigentliche rezeptive und produktive Herausforderung für Gebärdensprachlernende dar, setzen aber voraus, dass die Lerngruppe bereits sprachliche Strukturen zu sehen gelernt hat. Ist das im Rahmen eines entsprechenden Unterrichtsprojektes möglich, so erhält man mit diesem Sprachmaterial den eindrucksvollsten Beleg sprachlich-visueller multipler Strukturiertheit. 4 Die Verbindung von Sprache und Kultur lässt sich tiefgreifend und vielfältig ausgehend von einem gebärdensprachlichen Sehverstehen thematisieren. Ein gemeinsamer Aspekt aller dieser möglichen Thematiken ist der Zusammenhang von Sprache und Werturteilen. Dies kann sich niederschlagen in Leitfragen wie: Warum gilt „Körpersprache“ als weniger seriös als Lautsprache; ist dies eine Folge des Dualismus im abendländischen Denken? Warum gilt 4 Es gibt nicht nur online-Wörterbücher, sondern auch einige online verfügbare Lehrwerke, z.B. LSF auf Wikibooks. (http: / / fr.wikibooks.org/ wiki/ Langue_des_signes_ fran%franC3%A7aise). 442 Renate Fischer tierliche Kommunikation weniger als menschliche Sprache? Warum sind Gebärdensprachen weltweit und bis in die neueste Zeit in der Beschulung gehörloser Menschen verboten gewesen? Unter welchen Bedingungen entwickeln Menschen eine Gebärdensprache (Mönche, Aborigines in Trauer, Indianer, gehörlose Menschen)? Gibt es Gesetze, die die Verwendung von Sprachen festlegen (z.B. als „Schulsprache“, als „Minderheitensprache“)? Bilden Gebärdensprachen dieselben geografisch mitbestimmten Sprachfamilien aus wie die Lautsprachen, oder haben sie andere historische Wege der Ausbildung von Sprachverwandtschaften? 5 Kann man für alle Sprachen, Laut- und Gebärdensprachen gleichermaßen, dasselbe Ursprungsszenario einer gemeinsamen gestischen Urform entwerfen? Welche kulturellen Aspekte gehen in die ikonischen Gebärdenlexeme ein? 6 Wie gelangt man von einer manuellen oder körperlichen Aktion zu einem visuogestischen Symbol oder gebärdensprachlichen Lexem? Und last, not least: Nimmt man den Terminus (visual) literacy wörtlich: Wie überleben Sprachen und welchen soziokulturellen Problemen begegnen sie ohne eigene Schriftkultur, und wie entsteht „Schriftkultur“ als (visuelle) Literalität? 7 Language Awareness anhand der visuogestischen Modalität ist der vierte und letzte große Einsatzbereich von Gebärdensprachen für Sehverstehen im Unterricht, den ich hier ansprechen möchte. Je nach dem weiten oder engen Verständnis von Language Awareness enthalten alle meine bisherigen Einsatzbereiche, oder aber nur der zweite, umfangreichen Reflexionsstoff hierfür. Im nächsten Kapitel möchte ich am Beispiel der Versprachlichung von Bewegungsereignissen einen Vorschlag machen, der Kognition und sprachlichen Ausdruck, Lautsprachen, Gestik und Gebärdensprachen in einem komplexen „Fall“ von Sehverstehen verbindet und der sie der metasprachlichen und kulturell ausgerichteten Reflexion zuführen kann. Was Gebärdensprachen zum Sehverstehen beitragen können, das ist zunächst einmal also ein sehr großes Potenzial. Die aktuell leitenden Neuro- Wissenschaften stützen diese Einschätzung, wenn sie betonen, dass visuelle Sprache neuronal anders verarbeitet werde als „nonlinguistic gestural communication“ (MacSweeney et al 2004, 1605). Gebärdensprachen sind visuo- 5 Durch die historischen Modalitäten der Gründung von Gehörlosenschulen, Migrationen etc. bestehen z.B. enge Verbindungen zwischen der Schwedischen und der Portugiesischen Gebärdensprache; die Sprachenfrage in Spanien zeigt sich auch in den beiden Gebärdensprachen (nicht Dialekten) Spaniens, der Spanischen und der Katalanischen Gebärdensprache; die Amerikanische Gebärdensprache ist durch historische Kontakte diachronisch mit der Französischen, nicht der Britischen Gebärdensprache verwandt, welche ihrerseits mit der Australischen Gebärdensprache verwandt ist; etc. 6 Die Gebärden z.B. für „Haus“ unterscheiden sich erheblich je nach Kulturkreis und „Haus“formen. 7 Keine der weltweit existierenden Gebärdensprachengemeinschaften hat derzeit eine eigene Schriftkultur. Es existieren lediglich Notations- und Transkriptionssysteme. Sehverstehen und Gebärdensprachen 443 gestische Sprachen, mit keiner anderen Sprache übt sich ein umfassend verstandenes Sehverstehen daher besser als mit Vertretern dieses Sprachtyps - auch wenn dies in der Praxis nicht immer einfach zu realisieren ist bzw. sich nicht jeder gebärdensprachliche Bereich für eine „naive“ Berücksichtigung empfiehlt. Wenn ich von Anforderungen (an Lehrende und Lernende) spreche, so dürfen doch die Lust und die Freude, die körpersprachliche Kommunikation immer auch ist, nicht unerwähnt bleiben. Sie ist sicher ein starker Faktor dafür, warum sich in unserem „visuellen Zeitalter“ so viele junge Menschen für Gebärdensprachen interessieren und ein Studium aufnehmen - das Studium einer visuogestischen Fremdsprache, obwohl die Sprachgemeinschaft „mitten unter uns“ lebt, aber irgendwie „nicht sichtbar“ ist. Ermutigend mag da wirken, dass in den USA die Amerikanische Gebärdensprache (ASL) bereits als vierthäufigst gelernte Fremdsprache rangiert; es ist absehbar, dass sie an amerikanischen Colleges und Universitäten Deutsch als Fremdsprache (noch Platz 3) ablösen wird (cf. Weise 2010). Die Versprachlichung von Bewegungsereignissen im Vergleich Bewegungsereignisse gehören zu den crosslinguistisch recht gut beschriebenen Bereichen, und das gilt für ihre Kodierung in (lautsprachlichen) Wörtern, in begleitender Gestik und in Gebärdensprachen. Ich möchte sie daher für das Sehverstehen als einen einzigartigen „Schatz“ vorstell en. Kognitionssemantisch werden an Bewegungsereignissen unterschiedliche Dimensionen unterschieden, wie: Art der Bewegung, Verlaufspfad der Bewegung, Anfangs- und Endpunkt, Figur und Hintergrund etc. (cf. Talmy 2000). (Laut-) Sprachen greifen diese Aspekte von Bewegungsereignissen typologisch sehr unterschiedlich auf - was nicht nur die Frage meint, welche Aspekte sie lexikalisieren, sondern auch, „wo“ sie dies tun, ob im Verbstamm, in Präfixen, Präpositionen etc. Es ist diesbezüglich die Hypothese vorgetragen worden, dass sich auch verwandte Sprachen wie Deutsch und Französisch diesbezüglich unterscheiden, Deutsch könne als satellite-framed und Französisch als verb-framed beschrieben werden (cf. Soroli et al. 2012, 264sqq.). Für den Fremdsprachenunterricht haben Carroll et al. (2012) hierzu bereits eine Studie vorgelegt. Welche weiteren Einsichten verschafft die Einbeziehung von redebegleitender Gestik? McNeill (1992, 106sq.) dokumentiert drei verschiedene Gesten für dasselbe Bewegungsereignis; die Gesten encodieren Unterschiedliches. Einmal ist es nur der Aspekt einer Aufwärtsbewegung, dann die aufwärtskletternde Bewegungsart des Referenten, und im dritten Beispiel dürfte es der kugelige kleine Referent selbst sein, der in einem gestisch nicht näher spezifi- 444 Renate Fischer z ierten Innenraum „irgendwie“ aufwärts gelangt. Auch die Gesten differenzieren also Bewegungsaspekte und bringen einige (ggfs. in Kombination) redebegleitend zur Anschauung. Einer Studie von Hickmann et al. (2011) zufolge ist die gestische Semantisierung von der verbalen nicht unabhängig, so dass z.B. französische Sprecherinnen redebegleitend anders gestikulieren, also Bewegungsaspekte anders encodieren, als englische. Für den Fremdsprachenunterricht z.B. im Fach Französisch könnte man die Herausforderung ableiten, das Sehverstehen müsse einbezogen und die Förderung der Sprachkompetenz gleichermaßen auf lexikalische und visuogestische Mittel gerichtet werden. In der Gebärdensprachforschung sind Bewegungsereignisse sehr früh zum Forschungsobjekt geworden, es wurde sogar ein eigener Prädikats- oder Verbtyp postuliert, die Stand- und Bewegungsverben (cf. Fischer/ Leven 2004). Jede Gebärdensprache, in alter Terminologie „Aktionssprache“, hat ein reiches Inventar an visuogestischen Mitteln unterschiedlicher Art, um Bewegungsereignisse abzubilden; weitere Regeln begrenzen die Kookkurrenz mehrerer Bewegungsaspekte, so dass ggfs. Serialverbkonstruktionen die regelkonforme sequentielle Enkodierung bilden. 8 Andere hoch komplexe simultane Formen beziehen außer den Händen in besonderem Maße Oberkörper und Gesicht ein und sind als simultane Blends verschiedener Arten aus verschiedenen Mental Spaces zu beschreiben, „body partitioning“ genannt (cf. Dudis 2004). Einen ersten Ansatz für die crosslinguistische Arbeit mit Gebärdensprachen einschließlich des body partitionings bieten Sallandre et al. (2010). Ausblick Einen „Ausblick“ stellt sicher nicht nur der abschließende Passus meines Beitrags, sondern dieser selbst in Gänze dar. 9 Ich bin mir sehr bewusst, dass sich die vorgetragenen Ideen auch bei bestem Willen nur in wenigen Fällen direkt in das unterrichtliche Sehverstehen integrieren lassen. Zu fortgeschritten sind die Erkenntnisse in den einzelnen Disziplinen, hier zum Beispiel der Gebärdensprachlinguistik, und zu wenig interdisziplinären Dialog pflegen wir im Allgemeinen, um Grenzen unbekümmert überwinden zu wollen oder können. Dennoch hoffe ich, dass meine Überlegungen einen Anstoß zu geben vermögen - zum Überschreiten von Sprachgrenzen und zum Erkunden der vielfachen Ausdr ucksmöglichkeiten von „Körpern in Bewegung“. 8 Eine Serialisierung aus Geste und Wort beschreibt Choi (2011) für Koreanisch. 9 Daniel Reimann danke ich dafür, dass er mich zu dieser Thematik eingeladen und damit im besten Sinn herausgefordert hat. Sehverstehen und Gebärdensprachen 445 Der Einbezug von Gebärdensprachen in ein Konzept von Sehverstehen, wie Reimann (2014) es ausformuliert, ermöglicht das unterrichtliche Arbeiten in beiden Kernbereichen, dem „interkulturellen Sehverstehen“ sowie dem „analytischen und interpretatorischen Sehverstehen“. Gebärdensprachen verschaffen die Erfahrung einer ausschließlich visuogestischen Kommunikation, die nicht nur im engeren Sinne ihre interkulturelle Spezifik von „höflicher“ Raumnutzung incl. Nähe und Ferne hat. Interkulturell ist ebenfalls die Wahrnehmung dieser Sprachen als Minderheitensprachen - denn sie alle existieren sozusagen „neben“ den Sprachen der (Mehrheits-) Gesellschaften, die im schulischen Fremdsprachenunterricht erlernbar sind. Nur über diese „Brücke“ dürften die Schülerinnen und Schüler den jeweiligen nationalen Gebärdensprachen überhaupt nahekommen oder ihrer gewahr werden, denn keine von ihnen hat bisher den Status einer schulischen Fremdsprache. Vor allem die Einladung, die stets an native signers ergehen sollte, wäre dann auch gelebte Interkulturalität. Das „analytische und interpretatorische Sehverstehen“ hat im Fall der Gebärdensprachen seinerseits ganz fundamental mit Raum zu tun, hier als eine die Sprache selbst bestimmende Größe. Visuogestische Sprachen nutzen den Raum und den Oberkörper der Gebärdenden für „Phonologie“ und Grammatik, nicht „nur“ für faktische Räumlichkeit. Dies ermöglicht neue Erfahrungen, sich eine Fremdsprache anzueignen und sie metasprachlich zu begreifen. Das Thema Bewegungsereignisse stellt für mich in diesem Zusammenhang ein anspruchsvolles Objekt sprachbezogener Reflexion dar. Zugleich ist es eine weitere „Brücke“, in diesem Fall in einen Bereich, den man vielleicht metakulturell nennen könnte und der sich mit Denkstilen und Wertsetzungen befasst. Sich mit Abwertung und Ausgrenzung zu beschäftigen - diese Einladung sprechen die Gegenstände „Körpersprache“ und „Gebärdensprache“, die bisher im abendländischen Denken nicht unangefochten dastehen, in eindrücklicher Weise aus. Carroll, Mary / Weimar, Katja / Flecken, Monique / Lambert, Monique / von Stutterheim, Christiane. 2012. „Tracing trajectories. Motion event construal by advanced L2 French-English and L2 French-German speakers“, in: Language, Interaction and Acquisition 3: 2, 202-230. Choi, Soonja. 2011. „Language-specificity of motion event expressions in young Korean children“, in: Language, Interaction and Acquisition 2: 1, 157-184. Dudis, Paul. 2004. „Body partitioning and real-space blends“, in: Cognitive Linguistics 15.2, 223-238. Fischer, Renate / Hermann, Bettina / Müller, Anke. 2006. DaZiel - Deutsch als Zielsprache. 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Sprachmittlung im Fremdsprachenunterricht Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung, Vol. 1 2013, 303 Seiten, €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6824-3 Sprachmittlungsaufgaben gehören mittlerweile zum Unterrichtsalltag und sind in vielen Bundesländern zudem Teil der Abiturprüfung in den modernen Fremdsprachen. Auch die neuen Lehrwerke für die romanischen Schulsprachen können deshalb nicht mehr auf dieses Aufgabenformat verzichten. Die wissenschaftliche Erforschung dieser neuen Kompetenz in Theorie und Praxis steht allerdings noch aus. Indem er auch linguistische und vor allem translationswissenschaftliche Grundlagenforschung für den fremdsprachendidaktischen Diskurs erschließt, versammelt der Band erstmalig theoretische und empirisch fundierte Beiträge zur Sprachmittlungskompetenz. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Daniel Reimann (Hrsg.) Kontrastive Linguistik und Fremdsprachendidaktik Iberoromanisch - Deutsch Studien zu Morphosyntax, Mediensprache, Lexikographie und Mehrsprachigkeitsdidaktik Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung, Vol. 2 2014, 292 Seiten, €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6825-0 Aus sprachvergleichendem Arbeiten ergeben sich unter Berücksichtigung jüngerer linguistischer Theorien und methodischer Zugriffe neue Perspektiven für Angewandte Linguistik und Fremdsprachenvermittlung in einer Zeit, in welcher sich die Kontakte mit den hispano- und lusophonen Sprachräumen intensivieren. Die Beiträge im vorliegenden Band fokussieren morphosyntaktische, pragmatische, medienlinguistische und fremdsprachendidaktische Aspekte zum Deutschen, Spanischen, Portugiesischen und Katalanischen; auch (meta-)lexikographische und hochschuldidaktische Fragestellungen werden in theoretisch-konzeptionellen und empirischen Zugriffen thematisiert.