Romanische Kleinsprachen heute
Romanistisches Kolloquium XXVII
0613
2016
978-3-8233-7881-5
978-3-8233-6881-6
Gunter Narr Verlag
Wolfgang Dahmen
Günter Holtus
Johannes Kramer
Michael Metzeltin
Wolfgang Schweickard
Otto Winkelmann
Die Beiträge des XXVII. Romanistischen Kolloquiums befassen sich mit der aktuellen Situation einer ganzen Reihe von romanischen Kleinsprachen. Im ersten Teil werden romanische Idiome in Europa vom Balkan bis zur Iberischen Halbinsel betrachtet, im zweiten Teil steht die außereuropäische Romania (vertreten vor allem durch Kreolsprachen) im Mittelpunkt. Thematisiert werden dabei sowohl system- wie auch soziolinguistische Phänomene, insbesondere Versuche der Kodifizierung und Normierung dieser Kleinidiome. Für einige von ihnen ist ein Vergleich mit den Beschreibungen in dem vor mehr als 20 Jahren erschienenen Band des V. Romanistischen Kolloquium (TBL 348) möglich.
<?page no="0"?> www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Die Beiträge des XXVII. Romanistischen Kolloquiums befassen sich mit der aktuellen Situation einer ganzen Reihe von romanischen Kleinsprachen. Im ersten Teil werden romanische Idiome in Europa vom Balkan bis zur Iberischen Halbinsel betrachtet, im zweiten Teil steht die außereuropäische Romania (vertreten vor allem durch Kreolsprachen) im Mittelpunkt. Thematisiert werden dabei sowohl systemals auch soziolinguistische Phänomene, insbesondere Versuche der Kodifizierung und Normierung dieser Kleinidiome. Für einige von ihnen ist ein Vergleich mit den Beschreibungen in dem vor mehr als 20 Jahren erschienenen Band des V. Romanistischen Kolloquiums (TBL 348) möglich. 546 Dahmen, Holtus, Kramer, Metzeltin, Schweickard, Winkelmann (Hrsg.) Romanische Kleinsprachen heute Romanische Kleinsprachen heute Romanistisches Kolloquium XXVII Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) <?page no="1"?> Romanische Kleinsprachen heute <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 546 <?page no="3"?> Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Romanische Kleinsprachen heute Romanistisches Kolloquium XXVII <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6881-6 <?page no="5"?> Inhalt Einleitung I. EUROPÄISCHE ROMANIA Thede Kahl/ Ioana Nechiti, Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak. Eindrücke einer Feldforschung in Südbessarabien (Ukraine).............3 Thede Kahl/ Elton Prifti, Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen..33 Lorenzo Filipponio, Romanische Kleinsprachen gestern: Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beipiel der Diphthongierung (mit einem Beitrag zur romanischen Vokallänge)......................................................65 Sabine Heinemann, Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen.................................................................................................121 Werner Forner, Das mentonaskische Verbalsystem: eine vergleichende Analyse mit einem Postscriptum zu Verschriftung und Normierung .........................149 Heike Jauch, Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen: (Ortho)Graphie-Debatte....................................................................................197 Jean-Marie Braillon, Usage écrit et standardisation du picard......................227 Carolin Patzelt, - Kodifizierungsansätze der in Westspanien.......................................................249 Lidia Becker, Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen........................................................................................................281 VII ................................................................................. ................... . Chacho, hagamus gramática? ! hablas de transición .. <?page no="6"?> VI II. AUSSEREUROPÄISCHE ROMANIA Julia Kuhn/ Rafael Matos, Estudio de la vitalidad de la lengua indígena pemon, en el sureste de Venezuela: el caso de la comunidad de Santo Domingo de Turacén.........................................................................................................307 Annegret Bollée/ Sibylle Kriegel, Kodifizierung und Ausbau des Kreolischen der Seychellen....................................................................................................319 Peter Stein, Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni.............................................................................................................333 Evelyn Wiesinger, to pé pa fè san ekri-a: Verschriftung und Normierung des Créole guyanais. Eine diachrone und synchrone Korpusstudie.................357 Eva Martha Eckkrammer, Standardisierung des Papiamentu/ o revisited: die Entwicklung der letzten beiden Dekaden im Lichte der Frage nach sprachlicher Normalität....................................................................................401 Johannes Kramer, Kodifizierungen des Papiamento/ Papiamentu und die politische separacion/ separashon zwischen Aruba und Curaçao................421 <?page no="7"?> Einleitung Das XXVII. Romanistische Kolloquium, das vom 7. bis 9. Juni 2012 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattfand, stellte eine Neuerung in der Reihe der seit dem Wintersemester 1984/ 85 regelmäßig stattfindenen Kolloquien dar, da zum ersten Mal das Thema einer vergangenen Tagung wieder aufgegriffen wurde. Im Dezember 1988 lautete das Thema des V. Romanistischen Kolloquiums an der Katholischen Universität Eichstätt Zum Stand der Kodifizierung romanischer Kleinsprachen 1 ; dabei wurde der damalige Stand der Kodifizierung und Normierung verschiedener kleinerer romanischer Sprachen aufgezeigt. Fast ein Vierteljahrhundert später schien es deshalb an der Zeit, eine neue Bestandsaufnahme zu machen, um festzustellen, welche Veränderungen sich in der Zwischenzeit ergeben haben, wie weit die sprachplanerischen Aktivitäten, die sich seinerzeit abzeichneten, gekommen sind, und welchen Einfluss die politischen Veränderungen an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert gehabt haben. Natürlich konnten nur noch einige der damaligen Referentinnen und Referenten wieder für einen Vortrag gewonnen werden, und selbst alle seinerzeit behandelten Sprachen konnten nicht berücksichtigt werden. Dafür wurden nunmehr auch Idiome betrachtet, die beim ersten Kolloquium, das ja kurz vor den einschneidenden Ereignissen mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Ost- und Südosteuropa stattfand, nicht thematisiert worden waren. So erlauben die hier vorgestellten Beiträge eine gute Übersicht über den Stand und die im einzelnen durchaus unterschiedlichen Bemühungen um eine Kodifizierung und Normierung romanischer Minoritätensprachen in der heutigen Zeit. Wie im damaligen Band sind die Beiträge wieder in zwei große Blöcke gegliedert, einen ersten Teil, der die europäische Romania von Ost nach West behandelt, und einen zweiten Teil, der sich mit der außereuropäischen Romania, vor allem mit Kreolsprachen, beschäftigt. Der erste Beitrag von Thede Kahl und Ioana Nechiti betrachtet die sprachliche Situation in einem Teil des Landes, das man als das östlichste europäische Land mit einer kompakten romanischen Bevölkerungsgruppe bezeichnen kann, was sicherlich viele Romanistinnen und Romanisten überraschen würde: die Ukraine, in der rund eine halbe Million Menschen lebt, die rumänischbzw. moldauischsprachig sind und die damit nach den Rus- 1 Dahmen, Wolfgang, u.a. (eds.): Zum Stand der Kodifizierung romanischer Kleinsprachen. Romanistisches Kolloquium V, Tübingen: Narr, 1991. <?page no="8"?> VIII sen die zahlenmäßig stärkste Minderheit stellen. In dem hier publizierten Beitrag werden die Resultate eigener Feldforschungen im Budschak, dem Süden der historischen Region Bessarabien, präsentiert, wo sich die komplexe historische Entwicklung dieser Region, die in den letzten 200 Jahren zu unterschiedlichen politischen Einheiten gehörte, in einer auf den ersten Blick schwer zu überschauenden ethnischen Mannigfaltigkeit widerspiegelt. Gerade die Tatsache, dass Untersuchungen in diesem Gebiet ganz unterschiedliche Sprach- und Kulturkenntnisse voraussetzen, macht diesen Aufsatz zu einem für das breitere Publikum hoch interessanten Beitrag. Die verschiedenen Versuche zur Verschriftung des Aromunischen seit den ersten Ansätzen im 18. Jahrhundert waren bereits Gegenstand eines Beitrages im seinerzeitigen Band zur Kodifizierung romanischer Kleinsprachen. Gerade für das Aromunische aber haben die politischen Veränderungen in Südosteuropa nach 1989 einige Veränderungen mit sich gebracht, sogar in Griechenland, wo ja die größte aromunische Gruppe lebt. So können Thede Kahl und Elton Prifti von einer Intensivierung der Bemühungen um die Erarbeitung einer aromunischen Schriftsprache berichten, allerdings ist das Aromunische mit mehr oder weniger großen Sprechergruppen in Griechenland, Mazedonien, Albanien, Rumänien sowie einer nahezu weltweiten Diaspora das typische Beispiel einer polyzentrischen Sprache, bei deren Kodifizierung nicht selten der häufig auch andernorts zu beobachtende Drang zur Durchsetzung der eigenen Sprach- und Schreibgewohnheiten zu hitzigen Debatten führt. Dass gerade in den drei Ländern, in denen die zahlenmäßig größten aromunischen Gruppen leben, für die jeweilige Staatssprache unterschiedliche Alphabete gebraucht werden (Griechenland - griechisch; Mazedonien - kyrillisch; Albanien - lateinisch), macht die Suche nach einer einheitlichen Schriftsprache natürlich nicht unbedingt leichter. Nicht mit der heutigen Situation einer romanischen Kleinsprache, sondern mit der internen Sprachgeschichte und deren Konsequenzen für die Kodifizierung eines solchen Idioms im ausgehenden Mittelalter beschäftigt sich Lorenzo Filipponio. Er untersucht die Diphthongierung von lat. Ĕ und Ŏ im Friaulischen in Opposition zu den Verhältnissen in den galloitalienischen Varietäten und erklärt daraus den Stand der Kodifizierung des Altfriaulischen im ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhundert. Das friaulische Sprachgebiet ist demnach durch eine Diglossie mit toskanischvenezischer Schriftsprache und dem gesprochenen Friaulisch charakterisiert. Im Ergebnis ist dieser Beitrag somit auch ein Beleg für die Relevanz der gemeinsamen Untersuchung sprachinterner wie -externer Faktoren. Einen Blick auf die aktuelle Situation des Friaulischen wirft anschließend Sabine Heinemann. Verschiedene (Sprach-)Gesetze haben seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts dazu geführt, dass das Friaulische als Minder- <?page no="9"?> IX heitensprache eine stärkere Position bekommen konnte, was auch positive Auswirkungen auf die Bestrebungen zur Standardisierung der Sprache und zum Sprachausbau hatte. Die Erstellung einer Normgraphie des Friaulischen ist allerdings durchaus nicht bei allen Betroffenen auf Zustimmung gestoßen, vielmehr hat es Widerstand vor allem bei Verfechtern einer größeren Varietätenvielfalt gegeben. Detailliert untersucht wird die Stellung des Friaulischen in der Schul- und Universitätsbildung sowie in den Medien. Als Fazit wird eine deutliche Steigerung der Anwendungsbereiche der friaulischen Sprache konstatiert, allerdings werden auch Desiderata etwa im Bereich der grammatikalischen Standardisierung benannt. In den französisch-italienischen Grenzraum, genauer gesagt in die Gegend um Menton, den letzten französischen Ort vor der Grenze zu Italien, führt der folgende Artikel. Das dort gesprochene Mentonaskisch galt traditionell als „Mischdialekt“ zwischen dem Nizzardischen im Westen, dem Küstenligurischen im Osten und dem Alpenligurischen im Norden. Um eine genauere Typisierung zu erreichen, liefert Werner Forner - basierend vor allem auf Material, das bei eigenen Sprachaufnahmen gewonnen wurde - zunächst eine eingehende Analyse des mentonaskischen Verbalsystems, das eine mono- und eine polysyllabische Flexion kennt. Dabei zeigt sich, dass die Parallelen oder sogar Übereinstimmungen mit dem Alpenligurischen sehr deutlich sind, während sie mit dem im Osten angrenzenden Küstenligurischen und erst recht mit dem im Westen anstoßenden Nizzardischen weit weniger ausgeprägt sind. Dies hat natürlich auch Bedeutung für die Versuche des Ausbaus und der Normierung des Mentonaskischen, für die sich im Wesentlichen eine örtliche Gesellschaft verantwortlich fühlt, die Mitglied des Felibrige und demzufolge auf dessen Verschriftungssystem ausgerichtet ist. Bedenkenswert sind die Schlüsse, die Werner Forner - nicht zuletzt durch einen Ausblick auf das nördlich anschließende Brigaskische - zieht: Nicht immer ist der Ausbau eines Idioms zu einer „anständigen“ Sprache von Vorteil; der Mehrwert, den das Wechselspiel einer diglossischen Situation bringt, kann verloren gehen. Der Status des Frankoprovenzalischen ist seit den bahnbrechenden Untersuchungen Ascolis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder diskutiert worden. Heike Jauch beleuchtet in ihrem Aufsatz nach einer kurzen Einführung in die Besonderheiten dieses Idioms zunächst die Tradition der schriftlichen Verwendung des Frankoprovenzalischen, die bis ins Hochmittelalter zurückreicht. Die Besonderheit, die gerade bei der Etablierung einer einheitlichen Orthographie für Schwierigkeiten sorgt, ist die Tatsache, dass das Sprachgebiet sich auf drei Staaten erstreckt: Italien, Frankreich und die Schweiz. So werden insgesamt fünf verschiedene Systeme vorgestellt - drei aus dem Aostatal, je eines aus Frankreich und der <?page no="10"?> X Schweiz -, bevor die aus den Jahren 1998 bzw. 2003 datierenden Versuche zur Schaffung einer supradialektalen Orthographie genauer betrachtet werden. Allerdings stellt sich auch hier die Verfasserin abschließend die Frage, ob eine koïné für ein Idiom wie das Frankoprovenzalische überhaupt nötig ist. Als überzeugter Anhänger der Notwendigkeit der schriftlichen Verwendung des Pikardischen und der Erstellung entsprechender Normen erweist sich Jean-Marie Braillon. Das Pikardische ist für ihn eine romanische Sprache, die unter der spätestens seit der Französischen Revolution üblichen verächtlichen Bezeichnung patois gelitten hat. Bei seinem Streifzug durch die Geschichte der schriftlichen Verwendung des Pikardischen klammert der Autor die mittelalterliche Epoche bewusst aus, da die entsprechenden Texte dieser Zeit gewöhnlich als Teil der altfranzösischen Epoche gesehen werden, die beim genaueren Hinsehen natürlich in der Tat als eine altpikardische, altfranzische, altanglonormannische, altchampagnische usw. Epoche gesehen werden muss. So werden - beginnend mit dem 15. Jahrhundert und endend im aktuellen Internetbereich - zahlreiche Belege für den schriftlichen Gebrauch des Pikardischen vorgestellt. Es zeigt sich dabei, dass die jeweils verwendete Orthographie alles andere als einheitlich ist und sich häufig - sehr zum Missfallen des Autors - an der französischen Standardsprache orientiert. Wohl in keinem anderen romanischsprachigen Land ist innerhalb des vergangenen Vierteljahrhunderts die Zahl der Idiome, die nach Standardisierung und Normierung und damit nach Anerkennung als „vollwertige“ Sprache streben, so gestiegen wie in Spanien. In den (Nord-)Westen des Landes führt der Beitrag von Carolin Patzelt - eine Region, in der es zwischen dem Gallego-Portugués im Westen und dem Kastilischen im Südosten neben Asturisch, Leonesisch und Mirandesisch verschiedene Übergangsvarietäten gibt. Diese hablas de transición werden zunächst auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Nachbaridiomen untersucht, um somit die möglichen Voraussetzungen für eine Kodifizierung zu bestimmen. Die Tatsache, dass es sich hier um sprachlich hybride Varietäten handelt, die zudem wiederum Subdialekte ausgebildet haben, macht die Normierungsversuche nicht einfacher. Auch fehlen Institutionen, die mit der notwendigen Autorität diese Prozesse steuern könnten. Außerdem spielt immer der Blick auf die Nachbarvarietäten eine bedeutende Rolle; die Angst, eigenes Profil zu wenig vertreten zu sehen, ist eine Konstante. Insgesamt bietet sich somit den Betrachtern ein überaus heterogenes Bild. Das Galicische, das in früheren Einführungen in die romanische Sprachwissenschaft zumeist als Varietät des Portugiesischen ( „Galizisch-Por tugiesisch“) betrachtet wurde, während ihm heute in der Regel der Sta- - <?page no="11"?> XI tus einer eigenen Sprache zuerkannt wird, war bereits Gegenstand eines Beitrags im Romanistischen Kolloquium V. Damals tobte ein erbitterter Kampf zwischen Anhängern und Gegnern der kurz zuvor im Jahre 1983 von der Real Academia Galega und dem Instituto da Lingua Galega erstellten orthographischen Normen. An diese Diskussionen am Ende der 1980er Jahre knüpft Lidia Becker an und zeigt, dass die offizielle Orthographie, die seitdem zweimal modifiziert wurde, inzwischen in den Schulen unterrichtet und weitgehend, aber eben durchaus nicht einhellig, akzeptiert wird. Immerhin wird aber deutlich, dass gerade die mit der Erstellung einer normativa de concordia im Jahre 2003 verbundene zweite Änderung einen Schritt zur Annäherung zwischen den beiden Parteien darstellt. Bemerkenswert erscheint dabei, dass der Richtungsstreit um die geeignete Norm des Galicischen nur wenig Einfluss auf die in den letzten Jahren erschienenen lexikographischen Werke hat. So wird die aktuelle sprachpolitische Diskussion in Galicien weniger von Fragen der Korpusals vielmehr der Statusplanung (etwa der Stellung des Galicischen in der Schule) bestimmt. Der erste Beitrag des zweiten Teiles, der Bereiche der außereuropäischen Romania thematisiert, behandelt kein romanisches Idiom, sondern eine in Mitteleuropa eher wenig bekannte indigene Sprache Südamerikas, die vor allem im Südosten Venezuelas, aber auch in den angrenzenden Gebieten Brasiliens und Guayanas gesprochen wird, das Pemón, das zur Familie der karibischen Sprachen gehört. Julia Kuhn und Rafael Matos stellen die Ergebnisse einer soziolinguistischen Studie in einer rund 400 Einwohner zählenden Gemeinde des südvenezolanischen Bundesstaates Bolívar vor. Untersucht wurden dabei die Kenntnisse des Pemón und des Spanischen, abhängig von Faktoren wie Alter, Geschlecht, und der Gebrauch der jeweiligen Sprache in unterschiedlichen Situationen (Familie, Freunde, Einkaufen, Schule, Kirche, staatliche Autoritäten). Dabei wird deutlich, dass es markante Unterschiede in der Verwendung der beiden Sprachen je nach Situation gibt. Über den seinerzeitigen Stand der Kodifizierung des Seychellenkreols hatte Annegret Bollée, die bei der Erarbeitung der entsprechenden orthographischen Normen selbst aktiv beteiligt war, bei dem erwähnten V. Romanistischen Kolloquium referiert. Gemeinsam mit Sibylle Kriegel gibt sie nunmehr einen Überblick über den aktuellen Stand ein Vierteljahrhundert später. Vor allem durch die Aktivitäten des Lenstiti Kreol hat der Sprachausbau des Seychellenkreols, der sich auch einer klaren politischen Förderung erfreuen kann, erhebliche Fortschritte gemacht. Dies unterstützt den Ausbau des Schulwesens, denn die Alphabetisierung in einer anderen als der Muttersprache war einer der Gründe für die bis in die jüngste Vergangenheit hohe Analphabetenrate auf den Seychellen. Andererseits fragen die beiden <?page no="12"?> XII Autorinnen kritisch, ob die Schüler denn überhaupt genügend kreolischen Lesestoff finden, da es trotz der deutlichen Bemühungen des genannten kreolischen Instituts nur eine bescheidene Zahl von kreolischen Publikationen gibt. Durch die Untersuchung von Orthographie, Grammatik und Lexikon wird aber deutlich, dass man insgesamt von einer „gelungenen Kodifizierung“ des Kreolischen auf den Seychellen sprechen kann, wo die Sprache nicht nur im täglichen Leben, sondern auch in Radio und Fernsehen sowie in offiziellen Situationen wie etwa in Parlamentsdebatten verwendet wird, als schriftliches Medium aber neben (bzw. hinter) dem Englischen um seinen Platz kämpfen muss, während das Französische weiterhin an Boden verliert. An seinen Beitrag auf dem seinerzeitigen Kolloquium in Eichstätt zu den Verschriftungsversuchen des Kreolischen auf Mauritius kann Peter Stein in seinem Aufsatz zum Morisien anknüpfen. Er konstatiert einleitend, dass der Prozess seitdem eine „nicht unbedingt zu erwartende Entwicklung genommen“ hat. Zum besseren Verständnis greift der Verfasser über die Insel Mauritius und die gegenwärtige Situation hinaus und wirft einen Blick sowohl auf andere kreolophone Gebiete als auch auf die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte. Dadurch werden die verschiedenen Stadien der Entwicklung und die Möglichkeiten der Erstellung von orthographischen Normen deutlich: Besonders am Anfang dominieren Versuche, die sich an etymologischen Kriterien orientieren, in diesem Falle also am Französischen, während später dann - nicht zuletzt im Zuge der Abnabelung von der ehemaligen Kolonialmacht - eine dem Kreolischen adäquatere Schreibung angestrebt wurde, also eine Wendung vom Historischen zum Ahistorischen. Nach mehreren Versuchen wurde im Jahre 2004 eine vereinheitlichte Graphie (Grafi larmoni) vorgestellt, die inzwischen weitgehend akzeptiert worden ist: In ihr gibt es eine Übersetzung des neuen Testaments, und auch in der Grundschule ist das Kreolische inzwischen offiziell Unterrichtssprache. Allerdings macht Peter Stein abschließend deutlich, dass es durchaus noch immer kritische Stimmen gibt, die den gefundenen Konsens in Frage stellen. Mit den Verschriftungsversuchen für das Kreolische in Französisch- Guayana stellt Evelyn Wiesinger in ihrem umfangreichen Aufsatz eine ähnliche Situation vor wie die Beiträge zum Kreolischen der Seychellen und von Mauritius. Im Zuge einer „kreolischen Identitätsaffirmation“ hat man seit den 1980er Jahren auch hier gezielt Maßnahmen zum Ausbau des Guayana- Kreols unternommen, die nicht zuletzt dem Zweck dienten, den Abstand zum Französischen deutlich werden zu lassen. Die Verfasserin zeichnet zunächst ausführlich die Geschichte der schriftlichen Zeugnisse des Créole guyanais vom Beginn mit Briefen von Jesuiten im 17. Jahrhundert bis in die <?page no="13"?> XIII zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nach, bevor sie die verschiedenen Vor- Vorschläge der Sprachplanungsdiskussionen der letzten Jahrzehnte genauer analysiert. Dabei wird deutlich, dass nicht nur die Abgrenzung vom Französischen, sondern auch die Distanz zu den anderen frankokreolischen Gebieten der Karibik eine feste Größe ist. Das Fazit, das Evelyn Wiesinger am Ende ihrer Analyse zieht, ist allerdings ähnlich ambivalent wie in den Beiträgen zu den anderen Kreolsprachen: Die Schaffung klar formulierter Normen wird begrüßt, der Status des Kreolischen ist deutlich gestiegen, aber die Verwendung als Schriftsprache ist noch ausbaufähig. Die beiden letzten Beiträge des vorliegenden Sammelbandes schäftigen sich mit dem Papiamentu, das auch bereits Gegenstand eines Beitrags des Kolloquiums von 1988 war. Zunächst analysiert Eva Martha Eckkrammer im Anschluss an die damalige Zustandsbeschreibung die Entwicklung der Standardisierung des Papiamentu innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte. Nach grundsätzlichen Überlegungen zu den Faktoren, die für die Etablierung einer Standardsprache von Bedeutung sind, zeigt die Verfasserin die Schwierigkeiten auf, die sich bei den Bemühungen in den 1990er Jahren ergeben haben, als - nicht zuletzt aus politischen Gründen - aus einem „ sprachpolitisch gesteuerten top-down Prozess” ein „ weniger formal geplante[r ] bottom-up Prozess” wurde: Treibender Faktor ist dabei eine Institution, die diverse Aktivitäten entwickelt, um eine Standardisierung vor allem über die Übersetzung von Kinder- und Jugendliteratur sowie die Förderung originaler Werke zu erreichen. So ist in den letzten Jahren eine Reihe von Publikationen erschienen, durch die etwa der Wortschatz des Papiamentu nicht nur bereichert, sondern auch standardisiert wird. Über das konkrete Beispiel des Papiamentu auf den so genannten ABC-Inseln (Aruba, Bonaire, Curaçao) hinaus ist dieses Phänomen eines Standardisierungsprozesses von unten zweifellos ein Muster, über das auch für andere Idiome und Regionen nachgedacht werden kann, wie die vergleichenden abschließenden Überlegungen von Eva Martha Eckkrammer deutlich machen. Johannes Kramer vertieft in seinem Aufsatz ein Problem, das schon im vorangehenden Beitrag von Eva Martha Eckkrammer kurz angeschnitten worden war, nämlich die Problematik der politischen wie sprachlichen Differenzen zwischen den beiden größten Inseln Aruba und Curaçao, zwischen denen traditionell eine größere Rivalität besteht. Dies beginnt schon bei der Bezeichnung dieser Kreolsprache, die auf Curaçao (und Bonaire) als Papiamentu, auf Aruba aber als Papiamento bezeichnet wird, und gerne nutzte man auch unterschiedliche orthographische Systeme, um die Distanz zum jeweils wenig geliebten Nachbarn deutlich zu machen. Johannes Kramer zeichnet den Prozess der schriftlichen Verwendung dieser be- <?page no="14"?> XIV Kreolsprache nach, die im Wesentlichen auf dem Handelsportugiesischen basiert, das dann stark vom Spanischen beeinflusst wurde und auch niederländische Elemente aufnahm. Immerhin gibt es für das Papiamentu handschriftliche Zeugnisse bereits aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gedruckte Texte seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei wird deutlich, dass die auf Aruba und Curaçao unterschiedlichen orthographischen Konventionen (eine ortografia etimologico auf Aruba und eine ortografia fonológiko für Curaçao und Bonaire) weniger von sprachwissenschaftlichen als eben von (sprach-)politischen Überlegungen geleitet werden. Allerdings wird auch deutlich, dass die unterschiedlichen Schreibweisen letztlich keine großen Konsequenzen haben, da jeder nach den ihm vertrauten Gewohnheiten schreibt, was auf den anderen Inseln - wenn man es denn will - verstanden wird. Es bleibt aber jenseits der Orthographie und der vor allem durch zweisprachige Wörterbücher erreichten Wortschatzerweiterung im Bereich der Sprachnormierung des Papiamentu noch viel zu tun. Die Fertigstellung dieses Bandes mit den Akten des XXVII. schen Kolloquiums hat sich aus verschiedenen Gründen verzögert. Hierfür waren technische wie inhaltliche Ursachen verantwortlich. Letztere können auch als Beleg dafür angesehen werden, dass die Nor mierung und Standardisierung von Kleinsprachen ein Prozess ist, der stän dig im Fluss ist. Für die Mithilfe bei der technischen Erstellung des Manuskripts danken die Herausgeber Herrn Robert Guder, M.A., und Herrn Sören Scheidt, M.A., für die Unterstützung durch den Narr-Verlag Frau Kathrin Heyng, M.A., und Frau Karin Burger. Die Herausgeber - - Romanisti <?page no="15"?> I. Europäische Romania <?page no="17"?> Thede Kahl (Jena) - Ioana Nechiti (Jena/ Wien) Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak. Eindrücke einer Feldforschung in Südbessarabien (Ukraine) Einleitung Wer heute durch den Budschak reist, muss nicht viel von Sprachen verstehen, um das Gefühl zu bekommen, auf Schritt und Tritt die Grenzen eines Landes zu überschreiten: Hier ein bulgarisches Dorf neben einem gagausischen, dort ein albanischer Muttersprachler neben einem rumänischen. Doch bei aller sprachlichen Vielfalt geben Kulturlandschaft und Architektur ein derart ähnliches Bild, dass einem immer wieder bewusst wird, nicht im Ursprungsgebiet der jeweiligen Sprache zu sein. Der Budschak [ukr. und russ. Буджак, rum. Bugeac] ist eine historische Landschaft im Süden Bessarabiens [ukr. Бессарабія, russ. Бессарабия, rum. Basarabia] und damit eine Flachlandregion im westlichen Teil der Oblast' Odessa auf dem Staatsgebiet der Ukraine, im Süden begrenzt vom Donaudelta und dem Schwarzen Meer, im Westen vom Pruth [ukr., russ. Прут, rum. Prut] und im Osten vom Dnister [ukr. Дністер, russ. Днестр, rum. Nistru (Ortsnamenschreibungen nach Breu 1989)]. Ein Blick auf die Karten der ethnischen Struktur des Budschaks in der Vergangenheit und heute zeigt die bunte ethnische Konstellation auf kleinster Fläche. Gründe hierfür sind einerseits in migrationsbedingten Ansiedlungen unterschiedlicher Völker zu suchen, andererseits in den wechselnden staatlichen Zugehörigkeiten und den politischen Auseinandersetzung um dieses Gebiet, das durch die Interessen mehrerer Großmächte, vor allem des Osmanischen Reiches und Russlands, aber auch der Habsburgermonarchie und der Donaufürstentümer, immer wieder Ziel für politisch motivierte Umsiedlungen und Vertreibungen war. Bevor 1812 Bessarabien an Russland abgetreten wurde, bestand die Bevölkerung überwiegend aus Nogai-Tataren, Türken, Rumänen (Moldauern) und den im 18. Jahrhundert angesiedelten Lipowanern. Mit der Annexion durch das Zarenreich verließen alle Tataren und Türken, aber auch zahlreiche Rumänen und Lipowaner die Region. Die bis dahin stark muslimisch geprägte Region wurde mehrheitlich christlich-orthodox. Mit der geplanten Kolonisation ab 1824 warb die russische Regierung bulgari- <?page no="18"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 4 sche, gagausische, deutsche, ukrainische und russische Kolonisten an und stellte ihnen Land und Privilegien zur Verfügung. Während der Existenz Großrumäniens (1918-1940) erfolgte eine intensive Wiederbelebung und Verbreitung der rumänischen Sprache, deren Einfluss mit der Zugehörigkeit Bessarabiens zur Sowjetunion erneut schwand. Die ethnische Struktur der Bevölkerung veränderte sich erheblich zu sowjetischer Zeit. Durch die Ansiedlung von Ukrainern und Russen konnte in der Sowjetunion eine weitgehend einheitlich russischsprachige und staatsloyale Bevölkerung geschaffen werden. Doch immer noch ist der Budschak unabhängig von den territorialen Zugehörigkeiten eine mehrsprachige Region par excellence geblieben. Ziele und Methode In vorliegendem Beitrag soll der Situation der Minderheitensprachen und der Mehrsprachigkeit im Budschak sowie der Einstellung der Sprecher nachgegangen werden, um diese mit dem Prestige zu vergleichen, das die heutige Staatssprache Ukrainisch und die wichtige Verkehrssprache Russisch genießen. Unter Sprachminderheit soll dabei hier eine soziale, nicht homogene Gruppe verstanden, die nach Abstammung, Autokategorisierung, Sprache und sozialer Organisationsform bestimmt wird (Darquennes 2002), deren Mitglieder sich auch selbst als solche identifizieren (Allardt 1992: 350) und bei der die Sprache in den internen und externen Abgrenzungsstrategien eine besondere Rolle spielt (Nelde 1992: 384). Bilinguismus (Zweisprachigkeit) sehen wir dabei als Sonderfall des Multilinguismus (Mehrsprachigkeit), nämlich die Fähigkeit, sich in zwei (oder mehreren) Sprachen auszudrücken (Bußmann 2008: 459). Es geht also bei keiner der hier beschriebenen Formen der Mehrsprachigkeit um Diglossie im Sinne Fergusons (1959: 329) als eine stabile Sprachsituation, in der eine funktionale Differenzierung zwischen einer sozial ‘niedrigen’ und einer ‘hohen’ Sprachvarietät existiert. Um die Situation der Minderheitensprachen beschreiben zu können, wurden einzelne Dörfer im Budschak ausgewählt. Im Rahmen einer kurzen kulturwissenschaftlichen Feldforschung besuchten Mitarbeiter der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Frühjahr 2012 den südlichen Teil Bessarabiens. In unserem Team, bestehend aus Tanya Dimitrova, Thede Kahl, Anna Kuzmina und Ioana Nechiti, war für die vor Ort gesprochenen Sprachen genügend Expertise vertreten, wodurch Interviews auf Russisch, Rumänisch, Bulgarisch, Albanisch und in geringem Umfang auf Ukrainisch und Gagausisch geführt werden konnten. Während des Feldaufenthaltes versuchten wir, die heutige Situation des Rumänischen, Bulgarischen, Gagausi- <?page no="19"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 5 schen und Albanischen im ländlichen Raum des Budschaks durch Fragen zur mündlichen Kultur und zum Sprachkontakt zu untersuchen. Die Interviewten wurden hierzu zu ihrer Sprache, ihrem Sprachgebrauch und ihren Sprachkenntnissen gefragt, insbesondere zu ihrer sprachlichen Vergangenheit und Gegenwart (Sprache der Ausbildung, Lernumfeld, Lernmethoden, Kommunikationssprache in der Familie, auf dem Schulhof, mit Freunden etc.). Dabei sind Sprachportraits entstanden, von denen hier kurze Ausschnitte in transkribierter Form wiedergegeben werden. Die Transkriptionen bestehen aus einem Kompromiss der jeweiligen Graphie der Standardsprachen mit Ergänzungen phonetischer Sonderzeichen. Im Folgenden wird der Schwerpunkt auf dem Moldauischen oder Rumänischen liegen wird, wobei wir in den Zitaten die jeweilige Bezeichnung (Moldauisch, Rumänisch) übernehmen. Aus wissenschaftlicher Perspektive freilich lässt sich weder die Trennung in zwei Sprachen und zwei unterschiedliche Ethnien rechtfertigen noch die nostalgische, großrumänische Perspektive, die jegliche moldauische Identität und sprachliche Andersartigkeit vehement ablehnt (hierzu Bochmann 2000). Der Budschak - Geschichtliche und demographische Entwicklung Der Budschak gehört neben Transkarpatien und der Nordbukowina zu denjenigen Regionen der Ukraine, die sowohl ethnisch als auch sprachlich eine besondere Komplexität aufweisen, die „durch mehrfache Verschiebung der Staatsgrenzen, mehrfachen Wechsel der Staatsbzw. Herrschaftssprachen und demographische Veränderungen entstanden“ (Bochmann 2007: 14). Die Komplexität des Umgangs bezüglich der Zweibzw. Mehrsprachigkeit seit der Unabhängigkeit des ukrainischen Staates soll im Folgenden am Beispiel des Budschak mit einem besonderen Fokus auf die rumänischsprachige Bevölkerung veranschaulicht werden. Das Gebiet war von 1367 bis 1484 im Besitz des Fürstentums Moldau und von 1538 bis 1812 dem Osmanischen Reich einverleibt. Heute noch erinnern zahlreiche Toponyme wie Tatarbunary, Alibej oder Izmail an die türkischtatarische Herrschaft und Besiedlung. Infolge der Russisch-Osmanischen Kriege wurde nach dem Frieden von Bukarest 1812 ganz Bessarabien dem Zarenreich einverleibt, behielt aber bis 1828, als es zur russischen Provinz wurde, autonomen Status. Spätestens ab 1828 begann durch Einführung des Russischen als Amtssprache eine starke Russifizierung des Gebietes (Ciachir 1992: 33), die sich auch auf das religiöse Leben erstreckte und in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zum Verbot der Schulen in rumänischer/ moldauischer Sprache (1867) und zur Beendung der rumänischen/ moldau- <?page no="20"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 6 ischen Buchproduktion (1883) führte. Nach dem Friedensvertrag von Paris gehörten die südbessarabischen Bezirke - im Süden Izmail [türk. auch İşmasıl, Hacidar, ukr. Ізмаïл, russ. und bulg. Измаил, rum. Ismail] und Akkerman [ukr. Білгород Дністровський, russ. Бeлгород Днестрoвский, rum. Cetatea Albă], im Norden Hotin [ukr. und russ. Хотин, rum. Hotin] - zwischen 1856 und 1878 dem Fürstentum Moldau an. Nach dem Friedensvertrag von Berlin 1878 wurde es wieder ans Zarenreich angegliedert (Hausleitner 2008: 825). Nach dem Sturz des Zarenreiches am 12. März 1917 und der bolschewistischen Machtübernahme am 7. November desselben Jahres, erklärte der Sfatul Ț ării (Landesrat) ganz Bessarabien und damit auch den südlichen Teil des Budschak zur Demokratischen Moldauischen Republik als Bestandteil einer zukünftigen Russischen Demokratischen Föderativen Republik. Am 6. Februar 1918, einen Monat nach dem Einmarsch der rumänischen Truppen, erklärte der Landesrat die Unabhängigkeit Bessarabiens und am 9. April 1918 den freiwilligen Anschluss an das Vereinigte Rumänien, das sich gerade um die Bukowina und Siebenbürgen erweitert hatte. Die Wiedereinverleibung Bessarabiens bedeutete nicht nur die Erweiterung des Territoriums und der Einwohnerzahl, sondern auch eine Zunahme der ethnischen Heterogenität Bessarabiens. Laut der rumänischen Volkszählung von 1930 machten „die Rumänen 56% der Gesamtbevölkerung aus, Russen 12%, Ukrainer 11%, Juden 7%, Bulgaren 6% sowie Deutsche 3%, daneben gab es noch kleinere Minderheiten wie die Gagausen, Roma und Griechen“ (Kolar 2013: 13). Die Sowjetregierung erkannte die Zugehörigkeit Bessarabiens zu Rumänien nicht an. Um auf Bessarabien erneut Ansprüche erheben zu können, wurde Transnistrien zu einer Moldauischen Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Republik (MASSR) im Rahmen der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik aufgewertet. Diese Strategie trug Früchte, als Bessarabien am 23. August 1939 durch den Molotov-Ribbentrop-Pakt der Sowjetunion zugesprochen wurde. Im Juni 1940 ordnete die sowjetische Verwaltung per Ultimatum den sofortigen Abzug der rumänischen Verwaltung und Armee aus Bessarabien sowie aus der Nordbukowina und dem Herta-Gebiet an (Hausleitner 2008: 835). Daraufhin wurden diese Territorien von der Roten Armee besetzt. Noch im selben Jahr wurde die deutsche Minderheit zwangsumgesiedelt, während Angehörige anderer Ethnien nach Sibirien deportiert wurden, darunter 25.000 Rumänen in zwei Zügen zu je 60 Waggons (Hausleitner 2008: 835). Durch die sowjetische militärische Besetzung wurde Bessarabien Anfang November 1940 erstmals in seiner Geschichte geteilt: Die nördlichen und mittleren Teile bildeten die Moldauische Sowjetische Sozialistische Republik (MSSR) während der südliche Teil (Budschak) mit den Kreisen Izmail, Akkerman und Hotin zusammen mit den übrigen Ra- <?page no="21"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 7 yons der ehemaligen MASSR der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik angegliedert wurden. Der Kriegseintritt Rumäniens auf Seite des Deutschen Reiches bewirkte, dass Bessarabien, die Nordbukowina und das Herta- Gebiet vom August 1941 bis August 1944 zu Rumänien gehörten. 1944 wurden diese Gebiete erneut durch die Rote Armee besetzt. Nach dem Pariser Friedensvertrag vom 10. Februar 1947 „trat die Sowjetunion das Erbe der russischen Hegemonialansprüche über Bessarabien und die (Nord- )Bukowina an. Stalin stellte die Moldauische SSR in den Grenzen von 1940 wieder her“ (Hoffbauer 1993: 103). Die Nordbukowina, der Budschak und ein Teil der Moldau östlich des Dnister wurden der Ukraine zugesprochen. Hiermit endete die Zeit ethnischer Toleranz, die diese Gebiete so oft in den vergangenen Jahrhunderten zum Refugium vieler unterdrückter Minderheiten machte. Der nördliche Teil Bessarabiens hieß von nun an Moldawien, ihre Einwohner sprachen das „Moldawische“ und sollten sich von nun an als „Moldawier“ bezeichnen. Vor 1812 war Bessarabien mehrheitlich durch Rumänen (Moldauer) bewohnt und wies kaum russische Bevölkerung auf: „On ne trouve presque pas de population russe, si l’on ne tient pas compte de quelques dizaines de «sujets russes» et des Lipovènes“ (Ciobanu 1941: 16-17). Nach 1812 ändert sich die ethnische Zusammensetzung Bessarabiens geschwind. Die tatarischen Viehhirten flüchteten in die nördlichen Gebiete und an ihre Stelle kamen Völker aus den Gebieten südlich der Donau, vor allem Bulgaren und Gagausen. Mit der russischen Besatzung beginnt eine umfangreiche Kolonisierung des Gebietes durch russische städtische Bevölkerung und bulgarische Gärtner: „Les villes se remplissent de maraîchers bulgares, c’est-à-dire d’une population nouvelle qui détruit l’homogénéité ethnique des établissements urbains“ (Ciobanu 1941: 16-17). Später siedelten der Zar Alexander I. und die Zarin Katharina II. deutsche Kolonisten und Juden auf bessarabischem Gebiet an, wo sie durch die Befreiung von der Steuerpflicht einen privilegierten Status genossen. Mit den Bevölkerungsverschiebungen nach 1812 stieg die Bevölkerung rasant an, gleichzeitig jedoch ging die Zahl der Moldauer stark zurück: Von 86 Prozent im Jahr 1817 zählten die Moldauer im Jahr 1897 nur noch 52,1%. Im selben Zeitraum verzehnfachte sich die Zahl der Ukrainer. Die Juden zählten 1897 schon 11,8 % der Bevölkerung. Die Bulgaren, die vor allem um den Bezirk Bolgrad lebten, erreichten 1897 mit 103.220 5,33 %, der Anteil der Gagausen betrug mit 57.045 knapp 3 % (Solomon 2001: 156-164). Dabei muss berücksichtigt werden, dass demographische Quellen stark voneinander abweichen und oft nicht zuverlässig zu sein scheinen. <?page no="22"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 8 Sprach- und Sprachenpolitik in der Ukraine In der Ukraine liegt eine äußerst komplexe Sprachsituation vor. Die Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine ist heute mindestens zweisprachig und beherrscht das Ukrainische und das Russische (Näheres hierzu bei B ESTERS - D ILGER 2011). Dieser status quo führte zu einem Streitthema in der ukrainischen Politik, dem sogenannten Sprachenstreit (S AVIN 2012). Mit der Verabschiedung des Sprachengesetzes der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik im Oktober 1989 kann von einer ukrainischen Sprachpolitik gesprochen werden. Diesem Gesetz zufolge ist die Staatssprache der Ukraine und damit die Amtssprache der Behörden und sonstigen Staatsorgane das Ukrainische (Art. 10 Abs. 1 Verf., 2 Abs. 1 SprG.). Der Gebrauch einer anderen Muttersprache im privaten Bereich wird durch das neue Gesetz grundsätzlich nicht eingeschränkt, die Namen von Gebietseinheiten, Straßen, Plätzen, Flüssen jedoch sind auf Ukrainisch zu bilden und anzugeben (Art. 38). Zusätze in lokalen Sprachen sind zulässig, nichtukrainische Bezeichnungen müssen jedoch transkribiert werden. Minderheitensprachen sind nach dem Gesetz über die nationalen Minderheiten vom Juni 1992 in denjenigen Regionen, in denen die Minderheit die Mehrheit bildet, mit dem Ukrainischen gleichberechtigt. Die 13 offiziell anerkannten ethnischen Minderheiten der Ukraine sind Weißrussen, Bulgaren, Krimtataren, Gagausen, Griechen, Deutsche, Ungarn, Juden, Moldauer, Polen, Rumänen, Russen, Slowaken (Volkszählung 2001) 1 . Darüber hinaus gibt es die staatlich nicht anerkannte Minderheit der Russinen in der Karpato-Ukraine. Der Status der Minderheitensprachen Armenisch, Tschechisch, Romanes (Tatarisch, Russinisch) sowie der bedrohten Sprachen Krimtschakisch, Karaimisch und Jiddisch ist ungeklärt. Außerdem werden Sprachen wie das Griechische (CEECRML 2010, 2. Ratifikationsurkunde, S. 6) zwar anerkannt, doch bezieht sich diese Anerkennung auf das moderne Standardgriechische, und es werden keine Rahmenbedingungen geschaffen, die den Pontos-Griechen in der Ukraine die Bewahrung ihrer vom Standardgriechischen weit entfernten Sprache erleichtern. Seit 1991 gab es mehrfach Versuche, das Russische wieder als zweite offizielle Sprache einzuführen. Nach A REL und K HMELKO (1996) ziehen insgesamt 55% der Bevölkerung in der Ukraine die Kommunikation auf Russisch vor. So wie K ULYK (2006: 287) hervorhebt, sind die sowjetische Vergangenheit und die russische Sprache „the only past common to all Ukrainian regions, because it was only in the 1940s that they found themselves in one polity after many centuries of divided existence“. Dieser Theorie folgend hat das Russische eine Bindungsfunktion nicht nur zwischen den 1 http: / / 2001.ukrcensus.gov.ua/ results/ general/ nationality (09.03.2013). <?page no="23"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 9 Russisch- und Ukrainisch-Sprechern, sondern auch zwischen ihnen und den anderen in der Ukraine lebenden Minderheiten. Bei der Einhaltung der Minderheitengesetze spielt die Charta der Regional- und Minderheitensprachen, die am 5. November 1992 in Straßburg verabschiedet wurde, auch für die Ukraine eine Rolle. Die Entscheidung der ukrainischen Regierung, die Charta zu unterzeichnen, hat das Bewusstsein für die Minderheiten und ihre Sprachen erweitert sowie die Grundlage für die Auseinandersetzung mit diesem Thema geliefert, gleichzeitig aber eine Serie Probleme eingeleitet, denen sich die ukrainischen Regierung gegenübergestellt sah. Der Schutz der Minderheiten und die Verwendung der Muttersprache im privaten und öffentlichen Bereich sind im Art. 53 der ukrainischen Verfassung verankert. Dieses Recht wird unter anderem auch durch die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen bestätigt. Nichtsdestotrotz gibt es zwischen dem gesetzlichen Rahmen und den tatsächlichen Maßnahmen zum Schutz der Minderheiten und ihrer Sprachen eine große Kluft. 1944 gab es in der Region Odessa 62 Schulen mit muttersprachlichem rumänischem Unterricht, 1991 waren hiervon nur noch 21 dieser Schulen erhalten (Damian 2010: 18). 2008 waren es nur noch sechs Schulen mit integralem muttersprachlichem Unterricht. Bereits in der sowjetischen Zeit hatten die Minderheitensprachen in ganz Bessarabien „gewisse, sicherlich beschränkte Funktionen in einigen Tätigkeitsbereichen“ (Verebceanu 2007: 313): der Grund- und Mittelschulunterricht erfolgte in der Minderheitensprache, der Oberschulunterricht erfolgte jedoch vorwiegend in russischer Sprache. Hochschulen, die Unterricht in den Minderheitensprachen anbieten, sind gar nicht vorhanden. Mit der Zeit wurden systematisch Maßnahmen ergriffen, die den Wert der Minderheitensprachen für die Allgemeinbildung und die damit einhergehende Motivation, diese Sprache zu lernen, anstatt zu erhöhen, stark vermindern. Russisch und Ukrainisch Bis weit ins 19. Jh. waren Russen (Eigenbezeichnung русские) und Ukrainer (Eigenbezeichnung українці) im Budschak kaum verbreitet. Die Russifizierungspolitik beginnt nach Turczynski (1985) im Jahr 1828, als „die eingeleitete Assimilation von Verwaltung und Rechtspflege auf neue staatsrechtliche Grundlagen gestellt und die Berufung russischer Richter und Beamten verfestigt [wurden]“. Spätestens aber nach dem Frieden von Adrianopel (1829) und der Aufhebung des türkischen Handelsmonopols in den Donaufürstentümern wird Bessarabien der Einflussnahme durch das Russische ausgesetzt. Die Sprecher der großen ostslawischen Sprachen des Russischen und <?page no="24"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 10 Ukrainischen duldeten zunächst das Rumänische in Bessarabien, so spricht Iorga (1922: 62) bis 1830 von einer anfänglichen sprachlichen Toleranz. Die Einflussnahme des Russischen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiver und systematischer, wobei konkrete Maßnahmen vorwiegend auf die oberen Bevölkerungsschichten ausgerichtet waren (Ciobanu 1992: 258). Die Mehrheit der Bevölkerung lebte derzeit in den Dörfern und besuchte keine Schulen. So wundert es nicht, dass 1897 10,5 % der Männer und 1,7 % der Frauen Russisch lesen konnte (Hausleitner 2008: 828). Als Schulsprache war das Russische dennoch durch seinen hohen Ausbaugrad den anderen Sprachen überlegen. Von einer Emanzipation des Ukrainischen dürfte in dieser Zeit im Budschak nichts zu spüren gewesen sein. Rumänische Bücher wurden mit der Begründung abgelehnt, dass das Rumänische eine „langue tout-à-fait inférieure et incapable de fournir les éléments même d’une littérature“ (Iorga 1922: 62-63) wäre. Hierin kann man die Keime einer regionalen sprachlichen Identität erkennen, die später das Experiment eines eigenständigen „Moldovanismus“ und der „Zweisprachentheorie“ der 1920er Jahre in der MASSR untermauern wird. Die in der Charta aufgeführten Zahlen zum Erhalt der Muttersprache bei den verschiedenen Minderheiten der Ukraine (CEECRML 2010) belegen eindrucksvoll, dass bei den Russen (95,9%) die Muttersprache am besten erhalten ist, gefolgt von den Ungarn (95,4%), den Krimtataren (92%), den Rumänen (91,7%), den Gagausen (71,5%), den Moldauern (70%) und den Bulgaren (64,1%). Am wenigsten ist die Muttersprache bei Juden (3,1%), Griechen (6,4%), Deutschen (12,2%), Polen (12,9%) und Weißrussen (19,8%) erhalten. Unter den Russischsprachigen im Budschak sind auch viele Lipowaner (Eigenbezeichnung lipovany), Nachkommen altgläubiger orthodoxer Christen, welche sich zunächst in Südbessarabien im Übergang zum 18. Jahrhundert ansiedelten, um der Verfolgung nach der Kirchenspaltung unter der Regentschaft der Zaren Iwan V. und Peter I. zu entgehen. 1817 wurden 6.000 Lipowaner in Bessarabien registriert (Ciobanu 1941: 17), heutige Schätzungen liegen um 100.000 Personen im Budschak. Ihre Zentren im Budschak sind heute Vylkove [ukr. Вилкове, russ. Вилково, rum. Vâlcov], Kilija [ukr. Кілія, russ. Килия, rum. Chilia Nouă], Ismajil [ukr. Ізмаїл, russ. Измаил, rum. Ismail] und umliegende Dörfer. Das Russische der Lipowaner weist einige Archaismen und Lokalismen auf, ist aber heute so stark am Standardrussischen orientiert, dass unsere Aufnahmen, aus dialektologischer Sicht, abgesehen von einigen Lehnwörtern aus dem Türkischen, Rumänischen und Ukrainischen, kaum Besonderheiten aufweisen. <?page no="25"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 11 Rumänisch (Moldauisch) Die auf ukrainischem Boden lebende rumänischsprachige Minderheit bezeichnet sich heute sowohl mit dem Endonym Rumänen (rum. români in der Region Transkarpatien) als auch Moldauer (rum. moldoveni im Budschak). Diese Unterscheidung ist eine relativ neue Erscheinung und kann als Ergebnis der Instrumentalisierungspolitik der Sowjetunion seit 1924 und der Gründung der Moldauischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (rum. Republica Autonomă Socialistă Sovietică Moldovenească, kurz RASSM) gesehen werden, durch welche die Spaltung der linguistischen und ethnischen Einheit der Bevölkerung vorangetrieben wurde. Der hierdurch entstandene rumänisch-moldauische Sprachenstreit dauert bis heute an. Bei der Volkszählung im Jahre 1989 wurden von 460.000 rumänischsprachigen Personen 325.000 „Moldauer“ und 135.000 „Rumänen“ auf ukrainischem Boden registriert. Im Jahre 2001 waren es 275.000 Moldauer und 151.000 Rumänen, womit sich eine Zunahme explizit rumänischer Identität vermuten lässt. Die zwei unterschiedlichen Glottonyme derselben Minderheit führen unter anderem dazu, dass sie nicht als ein und dieselbe Minderheit in der Ukraine betrachtet werden. Durch die unterschiedlichen Bezeichnungen rückten die Moldauer auf den fünften und die Rumänen auf den neunten Platz in der Tabelle der quantitativen Verteilung der Minderheiten. Nach Caraman (2007: 30) wird diese durch die Sowjetunion bewusste eingeführte Spaltung heute durch den ukrainischen Staat weitergepflegt: „Se urmărește înlocuirea radicală a terminologiei, care se referă la colectivitatea etnică în totalitatea ei, cu termeni care definesc numai un grup dialectal din intregul etnic, tinzându-se astfel la înstrăinarea conștiinței naționale a grupului“. So wurden die in der Moldau gesprochenen rumänischen Mundarten als moldauische Standardsprache etikettiert und die Verbindungen zu Rumänien unterbrochen. Das bis dahin kyrillisch geschriebene Moldauisch wird nach 1989 wieder offiziell mit der Lateinschrift geschrieben, die Bezeichnung für die Sprache blieb aber ein Politikum. Einerseits spricht der Staatenbericht der Charta der Regional- und Minderheitensprachen von einer moldauischen literarischen Tradition, einer eigenständigen moldauischen Kultur, sogar von moldauischen Sitten und Frühlingsbräuche wie dem „Mertsyshor“ (S. 33), der allerdings im gesamten südosteuropäischen Raum (rum. măr ț i ș or, bulg. martinička, gr. µάρτης, µαρτίτσι) verbreitet ist. Bei der Identifikation mit den Begriffen als Rumänen oder Moldauer kann beobachtet werden, dass die Bezeichnung „rumänisch“ in Form von Adjektiven auch in den Gegenden auftritt, in der das „moldauische“ Element betonnt wird. Das bedeutet, dass die beiden Glottonyme bzw. <?page no="26"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 12 Ethnonyme nicht austauschbar sind und dass sich der Exonym „Moldauer“ langsam zu einem Endonym entwickelt. Andererseits wäre es falsch, nur aufgrund der Tatsache, dass die in Frage kommenden Personen Rumänisch sprechen, von einer rumänischen Identitätskonstruktion auszugehen, als hätten die Moldauer eine gemeinsame Entwicklung nationalen rumänischen Bewusstseins durchgemacht. Bochmann (2007: 16) hebt daher hervor, dass die sprachliche Identität mit der nationalen oder ethnischen Identität nicht austauschbar sei, ohne diese aber auch nicht definiert werden könne: „Zweifellos ist die sprachliche Identität nicht ohne weiteres zu trennen von anderen Aspekten der Identität: nationaler und/ oder ethnischer Identität, kultureller Identität, regionaler, sozialer, beruflicher usw.“ Es liegt auf der Hand, dass man die Kollektividentität der in Rumänien lebenden Rumänen nicht mit derjenigen eines im russischsprachigen Budschak sozialisierten „Moldauer“ gleichstellen kann. Es handelt sich hier um komplexere Identitätszuweisungen und -konstruktionen, die durch die wiederholten Mechanismen sprachlicher und kultureller Hegemonie im Laufe der Zeit immer wieder neu definiert wurden. Medien in rumänischer Sprache sind im Budschak, anders als in der ukrainischen Nord-Bukowina, so gut wie nicht vorhanden. Neben einigen Zeitschriften wie der Basarabia, waren die einzigen Bücher, die in rumänischer Sprache kursierten, religiöser Natur. Eine einzige wöchentliche Lokalzeitung, herausgegeben in Odessa von Anatol Fetescu, Luceafărul, informiert die moldauische Minderheit „in der moldauischen Sprache“. Darüber hinaus gibt es eine moldauische halbstündige Fernsehsendung pro Woche und eine einstündige Radiosendung pro Woche mit moldauischer Volksmusik. Die Versuche, ein rumänisches Kulturzentrum durch die Bemühungen der Uniunea Interregională Comunitatea Românească din Ucraina in Odessa zu eröffnen, wurden seit 2005 immer wieder durch die ukrainische Kulturkommission in Odessa abgelehnt. Das Rumänische unserer Interviewpartner war klar, korrekt und deutlich an der rumänischen Standardsprache orientiert. Viele Sprecher verwendeten offenbar bewusst „unmoldauische“ Formen, was die Verwendung hyperkorrekter Formen wie perz [2012_03_06 (12) 06: 14] 2 statt pierzi eindrucksvoll zeigt. 2 Time Code und Archivnummer, unter der die Feldaufnahmen auf dem zentralen Server des Rechenzentrums der Friedrich-Schiller-Universität gespeichert sind. <?page no="27"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 13 Bulgarisch Die Bulgaren in der Ukraine und der Republik Moldau, die sich selbst als bălgari und besarabski bălgari bezeichnen, stellen die größte bulgarische Diasporagruppe dar. Ihre Anwesenheit geht zurück auf die Migration und Ansiedlung von großen und kompakten bulgarischen Gemeinden in Südrussland ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem aber im 19. Jahrhundert in Folge der Russisch-Osmanischen Kriege. Die erste Migrationswelle geht auf das Jahr 1769 zurück (Caraman 2007: 22). Sie ließen sich in die Gebiete um Bolgrad nieder, das auch heute noch als Zentrum der Bulgaren gilt. Durch die Ansiedlung der Bulgaren in kompakten Gruppen konnten sich ihre ethno-kulturellen und sprachlichen Eigenheiten erhalten. Die bulgarische Dialektologie bezeichnet seit den Veröffentlichungen Stojkovs (Стойков 1955; Стойков 1958) die bulgarischen Dialekte in der Ukraine und der Moldau als eine eigene Kategorie der „bulgarischen Dialekte in der ehemaligen UdSSR“, obwohl sie sich nicht signifikant von den entsprechenden Herkunftsdialekten in Bulgarien unterscheiden. Ihre jeweilige Provenienz aus verschiedenen Regionen Bulgariens ist den Dialekten bis heute anzuerkennen, weshalb die zusammenfassende Bezeichnung aus diachroner Sicht anfechtbar ist. Die Gemeinsamkeiten, vor allem durch die verbindenden außersprachlichen Einflüsse aus dem Russischen und Rumänischen, legen jedoch die Behandlung als einer Dialektgruppe nahe. Phonetisch fallen in den bessarabischen Mundarten des Bulgarischen zunächst die Aussprache des Jat-Lautes, die Vokalreduktion und der o-Artikel im Maskulin Singular auf. An den Mundarten lässt sich ablesen, dass die Mehrheit der Kolonisten aus Regionen kam, in denen ostbulgarische Dialekte gesprochen wurden, vor allem aus Sliven, Veliko Tărnovo, Šumen, aber auch im Gebiet des sich heute in der Türkei befindlichen Edirne/ Adrianopel, in weitaus geringerem Ausmaß aus den nordwestlichen Gebieten wie Vidin und Lom. Der erste Wissenschaftler, der sich mit der Sprache der bulgarischen Kolonisten in Russland beschäftigte, war Deržavin (Державин 1914), der sich vor allem dem Studium der Volkskunde der Bulgaren widmete und eine Beschreibung der Dialekte von Bolgrad, Čušmeli und Šikirli liefert. Ein halbes Jahrhundert später wurden die bulgarischen Dialekte in der UdSSR systematisch von der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften untersucht (z.B. Бернштейн 1950; Бернштейн 1952; Бернштейн 1958). Während der 1950er Jahren wurde auf der Grundlage der gesammelten Materialien eine Reihe weiterer Artikel verfasst (z.B. Бунина 1953; Журавлев 1955; Колесник 2001; Николаевская 1969; Стойков 1958; Топалова 2009; Чешко 1952; Швецова 1952). <?page no="28"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 14 Heute haben sich die regionalen Dialekte nur in den Familien erhalten. Junge Leute sprechen die Sprache zwar, aber sie sind stark von der russischen Sprache und der bulgarischen Standardsprache beeinflusst. In Dörfern mit überwiegend bulgarischer Bevölkerung wird in den Schulen optional die bulgarische Schriftsprache gelehrt. In der Ukraine gibt es mehrere Organisationen, die sich zum Ziel gesetzt haben, die bulgarische Kultur zu bewahren; häufig erfahren sie Unterstützung durch bulgarische oder ukrainische Universitäten, die bei der Veröffentlichung von Büchern und Broschüren helfen. Die bessarabischen Bulgaren verfügen über eine Literatur, die auf Standardbulgarisch, Russisch und Ukrainisch verfasst wird. Ähnliches kann über ihre Präsenz im Internet gesagt werden. Viele Webseiten sind zwar mehrsprachig (Standardbulgarisch und Russisch oder Ukrainisch), doch keine von ihnen veröffentlicht im lokalen bessarabischen Dialekt. Seit Mai 2008 strahlt der Kanal Novaja Odessa in Odessa wöchentlich eine Sendung in bulgarischer Standardsprache für die bulgarische Minderheit aus, auch die Ausgaben Roden kraj und Ukraina: Bălgarsko obozrenie sind in Standardbulgarisch verfasst. Gagausisch Die Gagausen (gagaus. Gagauz, Pl. Gagauzlar oder Gagavuz, Pl. Gagavuzlar; russ. Гагаузы) sind orthodoxe Christen und Sprecher einer nah mit dem Türkischen verwandten Sprache. Sie leben überwiegend in der Republik Moldau in der Region Gagauz Yeri, wo sie weitreichende Territorialautonomie mit legislativen und exekutiven Kompetenzen genießen. Sie haben große Minderheiten in unserem Untersuchungsgebiet sowie in Russland, Bulgarien und Griechenland. Als Vorfahren der Gagausen werden türkische Oguz-Stämme angenommen, was aber die bulgarische Historiographie nicht daran hindert, sie als Bulgaren zu betrachten, weshalb sich bulgarische Publikationen zu den bessarabischen Bulgaren in der Regel auch mit den Gagausen befassen. Ähnliches gilt für türkische Autoren, die in den Gagausen trotz ihrer christlichen Konfession Türken sehen. Die Ansiedlung der Gagausen im Budschak vollzog sich im Zuge der Russisch-Osmanischen Kriege im Laufe des 18. Jahrhunderts. Ihr Nebeneinander mit den Bulgaren und Russen hat zu sprachlicher und ethnizitärer Annäherung geführt. Das Gagausische wird gelegentlich als Dialekt des Türkischen bezeichnet, was aufgrund der sprachlichen Nähe linguistisch gesehen auch legitim erscheint. Erste Veröffentlichungen auf Gagausisch gehen auf das 19. Jahrhundert zurück, stehen im griechischen Alphabet und haben religiösen Charakter. <?page no="29"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 15 Eine eigenständige gagausische Schriftsprache mit einem modifizierten kyrillischen Alphabet wurde 1957 geschaffen. Das mit dem Türkischen dicht verwandte Gagausisch genießt zwar in der benachbarten autonomen Region Gaugausien auf moldauischem Territorium den Status einer Amtssprache, in der Ukraine jedoch nicht. In der Republik Moldau wurde 1994 ein eigenes Schulsystem mit gagausischer Unterrichtssprache eingerichtet, im Budschak sind derartige Aktivitäten nicht zu verzeichnen. Die zu sowjetischer Zeit übliche Schreibung des Gagausischen mit dem kyrillischen Alphabet wurde durch das in Gagausien seit Mitte der 1990er Jahre wieder übliche lateinische Alphabet abgelöst. Das Alphabet orientiert sich am türkischen Alphabet der Türkei, enthält aber auch Zusatzzeichen wie ä und ţ (letzteres vor allem in rumänischen Wörtern). In der Ukraine ist es hingegen heute nicht üblich, das Gagausisch zu schreiben. Die Anwesenheit der Gagausen und ihrer Sprache hat sicher dazu beigetragen, dass im Budschak, in dem bereits alte türkische und tatarische Ortsnamen in Benutzung waren, nicht von slawischen verdrängt wurden. Von den 31.900 in der Ukraine lebenden Gagausen leben 27.600 im Raum Odessa. In einigen Dörfern bilden sie die Mehrheit, so in den Räumen Bolgrad und in Oleksandrivka. Die Gagausen besuchen in der Ukraine russische bzw. ukrainische Schulen und verwenden im Umgang mit den anderen ethnischen Gruppen fast ausschließlich Russisch. Trotz dieser Sympathien ist unser Eindruck auf der Reise gewesen, dass sich die Mehrheit der Gagausen als eigene Gruppe mit eigener Sprache und Geschichte sieht. Die Gagausen im Budschak sind schlecht untersucht im Vergleich zu denjenigen in der Moldau. Eine sehr knappe Einführung zu den Gagausen in deutscher Sprache bietet Grulich (1984). Das Interesse an der Sprache der Gagausen bezieht sich vor allem auf die grammatikalischen Phänomene (Menz 1999; Özkan 1996; Поровская 1964), während es an einer Gesamtdarstellung, einer komparativen Dialektologie oder einer oder knappen allgemeinen Einführung in die Sprache mangelt. Albanisch Wenig später als die Bulgaren, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, kamen albanische Einwanderer aus dem Dorf Devnja (in der Nähe von Varna) und ließen sich in Karakurt (seit 1947 Žovtneve) nieder. 1930 bezeichneten sich 1.809 Befragte als orthodoxe Christen albanischer Nationalität. Die in der Ukraine ansässigen Albaner bezeichnen sich selbst, so sie ihr altes Ethnonym bewahrt haben, als Arnauten (alb. arnautë) oder Albancët und ihre eigene <?page no="30"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 16 Sprache als arnautçe, albançe oder einfach si neve (d.h. wie bei uns). Das in Albanien verbreitete Ethnonym Shqiptar ist unter den ukrainischen Albanern nicht bekannt. Laut Десницкая (1968: 374-376) stammen ihre Vorfahren aus der Gegend von Devoll und Vithkuqë im Südosten Albaniens. Ihre Mundart stimmt weitgehend mit nordtoskischen Dialekten überein, insbesondere bezüglich der Erhaltung von Archaismen, aber auch bezüglich der Phonologie (z.B. Vorhandensein der Konsonanten kl’, gl’, l’k, l’g) und einer Reihe weiterer Besonderheiten wie der Monophthongisierung von Diphthongen und Änderungen der Wortstellung in attributiven Verbindungen (Bestimmungswort vor Beziehungswort). Unter den bestehenden vielsprachigen Verhältnissen kommt es zu zahlreichen Interferenzerscheinungen. Dies betrifft v.a. lexikalische Entlehnungen aus dem Russischen. In Karakurt, dem einzigen Dorf mit stark albanischer Bevölkerung im Untersuchungsgebiet, spricht man neben dem Russischen auch Albanisch, Bulgarisch und Gagausisch. Das Albanische wird hier überwiegend in familiärer Umgebung gesprochen, wobei der Umfang der Albanischkenntnisse vom Alter abhängt, so dass es während des Gesprächs immer wieder zum Code Switching kommt wie in folgenden beiden Interviewausschnitten mit Konstantin Prokopyč und Fjëdor Konstantinovič Rekal: „Na kurse zalahitni k ë shtu, это вúдно na pas neve, [...] pas neve gluha albançe, a gjuhesha dimt ë zalahitni по-рýсски“ [2012_03_04 (1)]; „Në shkollë albançe mos zallahitëm, только украинский и русский.“ [2012_03_04 (1)]. Bei der jungen Generation hat das Albanische kaum Bedeutung. Für das Albanische in Karakurt gibt es keine Bücher, Lehrbücher oder Fernseh- oder Radiosendungen in der lokalen Mundart. Auch in der Schule wird es nicht unterrichtet. Allerdings wird seit 1995 die Lokalzeitung Rilindja (Wiedergeburt) auf Albanisch unregelmäßig veröffentlicht, welche Kenntnisse über die lokale Kultur, Geschichte sowie albanische Traditionen übermitteln und wahren möchte. Die Sprecherzahl des Albanischen in der Ukraine beträgt etwa 4.000 Muttersprachler, die außer in Karakurt, der größten und ältesten Siedlung der in der Ukraine lebenden Albaner, in drei anderen Dörfern am Azovschen Meer (Gammovka, Georgievka, Devninskoe) zu finden sind, wo sie erheblich besser untersucht wurden. Die frühesten Erwähnungen der Albaner in der Ukraine stammen von Keppen (Кеппëн 1861), die ersten Beschreibungen von dieser ethnischen Gruppe gehen auf den russischen Wissenschaftler Deržavin (Державин 1948) zurück. Das Albanische erfreut sich seit Jahrzehnten seitens russischer Sprachwissenschaftler regen Interessens, wie an den zahlreichen linguistischen, ethnografischen und historischen Arbeiten zu erkennen ist (z.B. Budina 1993; Kaminskaja 2010; Musliu 1996; Novik 2010; Voronina 1996; Державин 1948; Десницкая 1968; <?page no="31"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 17 Иванова-Бучатская 2008; Иванова 2000; Кеппëн 1861). Heute liegt der Schwerpunkt der russischen Forschung auf der Mundart am Azovschen Meer. Dieses Gebiet wurde zwar später von den Albanern besiedelt, die isolierte Lage der dortigen Dörfer jedoch ließ die Mundart gut bewahren. Aussagen der Befragten zu Sprachprestige, Mehrsprachigkeit und musikalischer Identität Im Laufe unserer Gespräche konnten wir Beobachtungen zur sprachlichen und musikalischen Identität verschiedener Ethnien und Individuen im Budschak anstellen. Bei der zahlenmäßig kleinsten Gruppe, den Albanern, lassen sich die Auswirkungen der Assimilation am deutlichsten feststellen. Kaum ein Gesprächspartner machte uns den Eindruck, eine ausgeprägte Affinität zu seiner albanischen Herkunft, geschweige denn zu Albanien zu haben. Mehrfach wurde uns gegenüber betont, dass es außer der Sprache kaum kulturelle Eigenschaften gäbe, die die Albaner nicht mit ihren Nachbarn teilen würden. Sogar die ihre traditionellen Feste würden sie gemeinsam mit anderen Gruppen, vor allem aber mit den Bulgaren, durchführen (Interview mit Rodion Stepanovič Pandar): „tradicionale... vetëm Shën Gergi, [...] прáзники [...] na jemi shumë të përziera, në koha të kalojtj, kur na jetona me ballgar treqind vit, katërqind dëra ужé, e na shumë traditë bullgarë morëma na, vetëm gjuha mbetmë na“. [2012_03_03 (2)] Auf der anderen Seite betont der selbe Gesprächsparner wenig später, dass ein ethnisches albanisches Selbstbewusstsein dennoch aufrechterhalten wird: „Kur të dalim [...] ka një rrugë, ati to, parë, tashi zetojnë vetem çitakët, ну gagauzi, ato kishin frikë të vjet në kë, ну të rrimat, i vjen tutj qupat.. ta i parit kohët, ну tashi ужé всё.“ [2012_03_04 (2)] Bei den Interviews mit unseren gagausischen Gesprächspartnern fällt auf, dass stets die orthodoxe Religion in den Vordergrund gestellt wurde, sobald es um ihre Identität geht. Auch Personen, die sich als nicht gläubig bezeichneten, wiesen uns stets darauf hin, dass sie trotz ihrer mit dem Türkischen eng verwandten Sprache nicht „türkischen Glaubens“ wären. Die Rolle der Religion bestätigt auch unsere Beobachtung in Vesëlyj Kut (Bezirk Arcyz), wo sich eine große Anzahl Gagausen in der Volkszählung von 2001 als Griechen deklarierte, ohne ein Wort Griechisch zu sprechen. Auf unsere Frage nach dieser ethnischen Zuordnung erhielten wir mehrfach als Antwort, die religiöse Verbundenheit sei der Hauptgrund für diese Sympathiebekundung <?page no="32"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 18 gewesen. Entgegen der unter bulgarischen Autoren recht verbreiteten Illusion einer bulgarischen Identität unter den Gagausen, findet man bei den meisten von ihnen eher eine Solidarität mit den Russen, nur sehr selten mit den Türken. Hier scheinen religiöse und sprachliche Identität wenig Platz zu lassen für bulgarische Identitätsmuster. Da jedoch eine ausführliche Analyse der Interviews mit den bulgarischen Gesprächspartnern an anderer Stelle geplant ist, soll im Folgenden die Behandlung der Aussagen unserer moldauischen Gesprächspartner ausführlicher behandelt werden. Unweit von Tatarbunary befindet sich das moldauische Dorf Borysivka [russ. Borisovka, rum. Borisăuca]. Hier ist das „Moldauische“ noch zu Hause, sowohl in der Schule als auch in der Kirche, auch wenn sich in den letzten Jahren das Ukrainische bei den jüngeren Generationen, die das Gymnasium außerhalb des Dorfes besuchen, durchgesetzt hat. Gefragt wie sie die Zukunft der moldauischen Sprache im Dorf Borysivka aus ihrer Perspektive sieht, antwortet eine Moldauerin (Anonyma): „Cu máre părére de rắu, ĭa să p’érde, fiíndcă tìnerí nu vorbésc delóc. Poáte onțălég, da să vorbeáscă nu pot […]. Cu máre părére de rắu, da mé͔rĝe tendínța d’a ukrainizá școála șî mérĝem spre ásta fiíndcî la clásele mári, începî́nd din clása noá se predắ în límba ucrain’ánă. […] Șî copií noștri nu au ún’e să studiéze. [...] Avém graníțî, avém kestí cáre trébu, pașapoárti, drumú-i scump, și de áĭa copií nóștri să duc la Odésa, să duc șî întî́mpină táre múlti greutắț’ studínd romî́na.“ [2012_03_06 (12) 03: 40-04: 54] Das Rumänische, die Bezeichnung die unsere Interviewte verwendet, verliert nicht nur zugunsten des Russischen an Kraft und Verbreitung, so wie es vor Jahrzehnten der Fall war, sondern, seit der Unabhängigkeit der Ukraine, auch zugunsten des Ukrainischen: „Ĭéste sátu de alắturea, Glubucóia, e la ĉínĉi kilométri de... Acolo îs, d’ámu cred că, cîn am vin’ít ĭo òptsprăzắce áni în úrmă ĭéra ĉínĉi zắși la ĉínĉi zắși, rúși cu moldovéni, acumá úndeva îs la dóă zắși de proĉént’e moldové͔n’i, în timp de optsprăzắce áni eu am observát cum lúmea se rusífică foárt’i͔ réped’e.“ [2012_03_06 (12) 05: 14-05: 41] Unsere Interviewte fügt „mit großem Bedauern“ hinzu, dass das moldauische Volk aufgrund der Geschichte „sich leider sehr schnell an die Umstände [anpasse]. Früher wurde es russifiziert, jetzt ukrainisiert, und so [verliere] sich bald die moldauische Kultur und Sprache vollständig“ (ebd.): „Límba rúsă-i преступле́ние, da límba noástră-i... Să-ț perz límba, ásta-i o máre tragedíe, un pacát să-ț per z límba.” [2012_03_06 (12) 06: 14-06: 40] Eine weitere moldauische Gesprächspartnerin, Baba Catia aus Novosel’skoe [rum. Satu nou] erzählte uns, dass sie sich mit ihrem Schwiegersohn nicht <?page no="33"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 19 verständigen kann, da er nur Ukrainisch, sie dagegen nur Rumänisch oder Moldauisch spreche: „Io vorbésc pe límba noástră romînéșt’i, moldovenéșt’i“ [2012_03_02 (1)]. Dieses Zitat zeigt die so charakteristische Verwendung der Bezeichnung Rumänisch und Moldauisch in einem Atemzug. Im Dorf Borysivka sagten mehrere Interviewte, dass sie sich regelmäßig „im Fernsehkanal 125 die rumänische Messe anschauen“, wo „Gebete und Gesang wie bei den Moldauern gesungen werden“. Obwohl ihnen bewusst ist, dass es sich um einen rumänischen Kanal handelt, empfinden sie die rumänische Messe als ihre eigene. Das Moldauische im Budschak wird sich mit der Zeit verlieren, weil die Dorfbewohner selbst nicht mehr daran glauben, dass ihre eigene Sprache und Kultur in der Ukraine eine Zukunft haben. Viele Eltern aus Borysivka schicken ihre Kinder in ukrainische Schulen in Tatarbunary, weil sie dort einen leichteren Zugang sowohl zur höheren Bildung als auch zum Arbeitsmarkt nach der Schule hätten: „[…] Áre prestíĝu máĭ máre, da. Nu întî́mpină greutắțile e͔ ́ste͔ cîn se duc copií la învățătúrî șî nu sînt consideráț moldovén’i͔. Nói párcă sîntém cu placát în frúnt’i͔. Copií cáre îs deștépț i vin șî di la moldovén’i și di la bulgári, și di la toát’i nàționalitắțîl’e. Nu sunt nàționalitắți réle, sunt oámen’i rắĭ. Nói sîntém primíț ca atár’i͔ bín’i͔, dar totúș copií nóștri cînd ajúng șî l-áu cunoscút că ĭél îĭ moldován, toț găsắsc cumvá să-l împúngă cu șevá, să-l obijduĭáscă, o leácă să-l… oĭ, nu găsăsc cuvíntil’i͔ ĉéle pi car’i͔ trébuĭe.“ [2012_03_06 (12) 07: 23- 08: 36] Diana, ein 14jähriges Mädchen erzählt, warum sie ihre eigenen Kinder niemals auf eine moldauische Schule schicken will: „Ĭéu am zîs așá di ĉe la nói școála-i mòldovin’áscă șî cîn noi n’e dúșim máĭ dipárti l-a î̀nvățătúră, avem n’íșt’e greutắț de так nóĭ òbíectil’e tắt’i fost moldovin’é͔șt’e, l’ímba rusă gréu d’eprínd’em în prímu t’imp și d’e ĉéĭe am spus că copií méi să nu învé͔ță-n șcólă mòldovin’áscă.“ [2012_03_06 (12) 09: 24- 09: 54] Sie erzählte weiterhin, dass sich die Jugendlichen auf dem Gymnasium mit ihren Schulkameraden immer auf Russisch unterhalten haben, während die Schulfächer ausnahmslos auf Ukrainisch waren. Das Moldauische verursacht den Schülern Minderwertigkeitskomplexe und Sprachunsicherheit, soweit sie sich außerhalb ihres Dorfes befinden. Ukrainisch zu können, wäre, Dianas Meinung nach, heutzutage besser als Russisch, obwohl Russisch die „Lieblingssprache“ vieler ihrer Gleichaltrigen sei: <?page no="34"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 20 „Șt’iínd o límbă únică cu care poț iéșî cu dî́nsa în afára țắri, ásta-i cred că rúsa, șt’iínd ùcrain’ána ĭéu nu socót că poț să mérĝi píst’e gran’íțî, să vorbéșt’i ùcrain’ána șî lúm’a să te-nțăl’ágă.“ [2012_03_06 (12) 11: 24-11: 36] Die unterschiedlichen Völker, die heute noch im Budschak leben, blieben für Einflüsse der Nachbarn, ob sprachliche oder im Bereich der Bräuche und Musik, offen. Der tägliche Umgang mit einer anderen Sprache und Kultur kann sowohl zur Ausgrenzungen führen als auch zu einer Vertrautheit, die einen Austausch potenziert. Die Konstellationen sind verschieden, genauso wie die Bedingungen, die sie nähren. Sozialwissenschaftlichen Theorien nach kann die Multiethnizität auch Konflikte in sich bergen, „when ethnic or other group boundaries are distinct and the differences between groups are great“ (Shulman 2006: 249). Im nördlichen Teil des historischen Bessarabien hat die Sprachenfrage zu erheblichem Konfliktpotential geführt und erfüllt eine deutliche identitätsstiftende Rolle. Der südliche Teil Bessarabiens, der Budschak, hat eine solche Spannung nicht erfahren. Die Akteure sind hier andere, und die gefühlten und tatsächlichen Unterschiede zwischen dem Ukrainischen und dem Russischen sind geringer als zwischen dem Rumänischen und Russischen in der Republik Moldau. Hinzu kommt die lange Zeit der Zweisprachigkeit und ein gewisser Identifikationsgrad der Sprecher der Minderheitensprachen mit dem Russischen. Das Zusammenleben der verschiedenen Minderheiten im Budschak hat ferner stets die Zentren der Konflikte verschoben, was es zu einer multiethnischen, multikulturellen und mehrsprachigen Gesellschaft mit einer bestimmten Dynamik formte. Besonders über den Bereich der Musik und der Märchen sind Aussagen über andere Völker in Erfahrung zu bringen. So singt uns eine Moldauerin im Dorf Borisovka über einen Lipowaner: „Lipován cu cáì bún’/ Ce stái cu cărúța-n drum/ Tráge cáì la o cásă,/ Únde-i nèvastá frumoásă/ Únde-i nèvastá frumoásă/ Și bărbátu nu-i͜ acásă […].“ [2012_03_06 (5)]. Dieses Lied ist in unterschiedlichen Varianten auch in Siebenbürgen zu finden. 1968 wurde dieses Volkslied in Arad, im Süden des Kreischgebietes, Rumänien aufgenommen (Oarcea 1972: 206). „Omule cu caii buni/ Ce stai cu cocia-ntre pruni? / Trage caii la o casă/ Unde-i nevastă frumoasă,/ Că-i cu capul pe fereastră./ Hai, bădiţă, hai în casă,/ Că bărbatu-acuma marsă. Cînd era să fie bine,/ Iacă şi bărbatul vine [...]“. (Lied aufgenommen in Avram Iancu, Arad, 1968, Sängerin Șerb Nița, 76) Die rumänische Volkskultur wurde in Bessarabien weiter tradiert und durch neue Elemente angereichert. Die Anrede im Vokativ omule, welches im rumänischen Lied einen unbekannten vorbeigehenden Passanten anspricht, <?page no="35"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 21 wird in unserem Lied weiter bestimmt. Die angesprochene Person ist hier ein Lipowaner. Die Lipowaner gehören also zu den ältesten Ansiedlern und Nachbarn der Moldauer in Bessarabien und könnten aus diesem Grund im dargestellten Lied nicht mit einem Bulgaren oder einem Albanern ausgetauscht werden, welche sich in den südbessarabischen Gebieten erst später niederlassen haben. Unsere moldauische Interviewte, deren Name wir anonym halten sollen, erzählte uns, dass sie außer Moldauisch und Russisch auch Bulgarischkenntnisse besitzt. Als wir sie fragten, ob sie auf Bulgarisch alles verstehe, antworte sie: „[…] da, коне́чно разби́рu, dácă mă ocărắșt’i, î́ncă máĭ ghíni͔, mái di͔grábănțălég, разби́рu [sic.]. Șî iáca cîn grăiésc șin’evá da ĭo șăd la o párti͔ înțălég șe grăiésc“. (Ebd.) Somit verwendete sie innerhalb eines einzigen Satzes Rumänisch, Russisch und Bulgarisch. Der Übergang von einem Sprachcode zum anderen gehört zur alltäglichen sprachlichen Praxis in Borysivka. In unseren Gesprächen fand permanentes Code Switching statt, wobei das Russische der rumänischen Phonologie, Morphologie und Syntax angepasst wurde. Das Russische erfüllte bereits seit der Einnahme Bessarabiens unter russischer Verwaltung die Rolle der lingua franca. Pjotr Stoju Ivanovič, ein 81jähriger Bulgare aus Krynyčne (früher Čismeli), erzählte in perfektem Rumänisch eine Episode aus seiner Schulzeit, als der Rumänischlehrer ihn verprügelt hatte. Er sei vier Jahre in die rumänische Schule gegangen, wo er sowohl Rumänisch als auch Bulgarisch gelernt habe: „Ne-nvățáu pă bulgăré͔șt’e șî pe moldávski ne-nvățáu […]. A fost únu Bolovécki fáșe n’in’íc, céva cînd la vré͔mea áĭa vráĭ să iéși, aĭ bătút pe cin’evá, hái дете́й, íntră-n clásă, cîn te-endóĭ și cu curáua, zéĉe curáuă cît dă la mî́ine“ [2012_03_04 (5)]. Außerdem habe er viele moldauische Freunde gehabt, mit denen er sich auf Moldauisch unterhalten habe. Laut Piotr können die Dorfbewohner in seinem Alter gut Moldauisch sprechen, die jungen Generationen dagegen verständigen sich mit den anderen Ethnien auf Russisch, nicht mal ihre bulgarische Muttersprache könne die Jugend heute sprechen. Auch in diesem Beispiel erfolgte das Code Switching mit dem Russischen und nicht mit dem Bulgarischen, so wie es bei einem Gespräch zu erwarten wäre, das auf Bulgarisch und Rumänisch stattgefunden hat. Seine Nachbarin, Elena Dimitrevna Marinova, kurz Baba Elena, 78 Jahre alt, ist eine ausgezeichnete Sängerin und erzählte uns auf Rumänisch, wie sie mit dem Moldauischen in Kontakt gekommen ist: <?page no="36"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 22 „Puțîn șĉiú așá, să vráu ápă, pî́ine. Șî rugăciúni am știút, tatắl nóstru, am știút, da am uitát, по-ру́сски тепе́ри.[...] În clása dóa ĭerám prem’ántu întî́i. Da, da d’acúma múltă vré͔me s-a dus. [...] Ĭerám în clása dóa cînd s-au dus rumî́n’i, da nóĭ, cînd a vin’ít ruș și a întrebát pi cári͔ clásă ĭerám și ĭar to n’áu pus în clása dóa șî ĭo în clása dóa, clása tréi, clása pátra еще́“ [2012_03_05 (16)]. Es sei mittlerweile so viel Zeit vergangen, dass man „sogar auf Russisch betet”, fügt Elena seufzend hinzu. Das Bulgarische, das sie sprechen, sei auch kein reines Bulgarisch, so wie man in Bulgarien spräche. Man müsse sich deswegen an jedes System anpassen und eine neue Sprachen erlernen, um zu überleben. Später habe sie für sich den Gesang entdeckt und dadurch Anerkennung genossen. Sie sang sowohl bulgarische, russische als auch moldauische Lieder. Diese seien ja mit dem Bulgarischen eng verwandt: „Niĉ o fátă nu ĭéra să cî́ntă, atúnĉe cînd eu am cîntá. Tătícul și máma cînd am cîntá cînd am făcút núnta, șî la núntă eu cîntá. La núntă cî́ntă, cum să spún’e, gud’iníța, gud’énă, gud’iníța la svábădă. E, táta șî máma pe úrmă cîn s-a dus acásă u ómeni, da táta mă spúne. Di úndi ști atî́ta kî́nĉișe. El nu m-auzî́t în cásă cînd eu așá cînt múlt’i͔ kî́nĉișe. D’e únd’e? Pe úrmă mă î̀ntreábă. D’e únd’e tu știi așá múlt’e cî́nĉișe? ” [2012_03_05 (2)]. Baba Elena sang uns anschließend akzentfrei ein moldauisches Lied vor: „Foiĉícă ș-o lal’á, di ĉe nu pot ĭéu cîntá”: Im selben Rayon, im Dorf Karakurt, spielt und singt Stepan Trifonovič Zečev, begleitet von seiner Ehefrau und Schwägerin das „moldauische“ Lied „Tineré͔ță, tineré͔ță, te sîléști la bătrîné͔ță“ [2012_03_04 (14)]. Stepan ist Bulgare, seine Frau Albanerin, die beiden sprechen Bulgarisch und Russisch miteinander, sangen für uns aber auch auf Rumänisch. Stepans Repertoire reicht von Liedern wie Makedonsko devojče über Geamparale zu russischen, gagausischen und moldauischen Liedern. Dort, wo die Sprache im alltäglichen Bereich vergessen worden ist, kann sprachliche und kulturelle Identität immer noch in Form von Liedern weitertragen werden. Schlussfolgerungen Bezüglich der eingangs gestellten Beobachtungsaufgaben und Fragen lassen sich zusammenfasend folgende Aussagen treffen. <?page no="37"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 23 1. Rolle der Minderheiten in der Sprachenfrage: Die unabhängige Ukraine kennt noch keine lange Geschichte der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung. Es wurde bis heute keine Einigung in Bezug auf die Rolle der Minderheitensprachen erzielt. Im öffentlichen Sektor ist das Ukrainische gesetzlich festgelegt, dennoch ist das Russische weiterhin im öffentlichen Bereich von der Wirtschaft bis zur Kunst stark präsent, gerade unter den Minderheiten dient es als lingua franca oder, um es mit Ciobanu (2006: 75) zu formulieren, als limbă de comunicare interetnică. Unter der älteren Bevölkerung sind die Kenntnisse des Russischen weitaus besser als diejenigen des Ukrainischen. Darüber hinaus genießt das Russische in der Ukraine, trotz der Versuche, die ukrainische Sprache durchzusetzen, immer noch ein höheres Prestige im Budschak. In den letzten Jahren ist das Russische durch die Dominanz des Ukrainischen selbst zu einer Minderheitensprache geworden. Für viele Sprecher erhöht dies jedoch wiederum das Image und die Bereitschaft zur Akzeptanz des Russischen. Auch für den Budschak gilt die Feststellung Stewarts, dass in manchen Regionen der Ukraine ein Teil der Bevölkerung die ukrainische Sprache als „Bedrohung ihrer bisherigen Identität“ (Stewart 2012: 13) sieht, während das Russische von vielen als Muttersprache angesehen wird. Es konnte weiterhin beobachtet werden, dass eine starke Betonung des ukrainischen bzw. russischen Diskurses die Entwicklung eines konstruktiven Dialogs in Bezug auf die anderen in der Ukraine lebenden Sprachminderheiten hindert. Bezüglich der Sprachenfrage lassen sich somit zwei Haltungen beobachten: eine ukrainisierende, die die Bedeutung des Ukrainischen betont und die Entwicklung der Sprachminderheiten, insbesondere aber die Stärke des Russischen als Bedrohung wahrnimmt, und eine russisierende, die die Bedeutung des Russischen in fast allen Sektoren des öffentlichen Lebens betont und der die Vertreter der Minderheitensprachen in der Regel willkommen sind, da ihre Eliten bis heute auch eher russischsprachig sind. 2. Geringes Sprachbewusstsein und Ausbleiben sprachlichen Ausbaus: Gegen das Ukrainische und Russische werden sich die kleinen Sprachen im Budschak kaum behaupten können. Die Bedingungen eines „hopeless struggle of smaller languages for survival“ (Haarmann 2002: 32) sind bereits erfüllt. Selbstverständlich haben die einzelnen Sprachen dabei unterschiedliche Chancen. Auch wenn es aufgrund des momentanen Prestiges und der Dominanz des Russischen nicht danach aussieht, dass es sich zurückentwickeln wird, werden die Russischkenntnisse der heranwachsenden Generation, die mit dem Ukrainischen als Bildungssprache aufwächst, in naher Zukunft stark abnehmen, „es sei denn, die Entwicklung der […] Beziehungen der Ukraine zur Europäischen Union stagnieren, so dass Russland neuerlich eine wichtigere Rolle bekommt“ (Reuther 2006: 306). Keine der hier berücksichtigten Sprachen scheint sich <?page no="38"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 24 auf dem Weg sprachlichen Ausbaus zu befinden. Wie beobachtet werden konnte, sinkt die Zahl der Sprecher des Rumänischen nicht nur aufgrund der Assimilation, sondern auch aus demographischen Gründen, so dass die heutigen moldauischen Minderheiten viel zu klein sind, als dass ernsthaft an muttersprachlichen Unterricht oder andere sprachbewahrende Maßnahmen gedacht werden kann. Die Anerkennung des Gagausischen und die sich daraus ermöglichenden Aktivitäten in der Moldau greifen kaum auf die Gagausen in der Ukraine über. Das Interesse aus der Türkei hält sich in Grenzen, wobei auch die unterschiedliche Religion eine Rolle spielen dürfte. Noch schlechter ist es um das Albanische in der Ukraine bestellt, das zwar von Sprachwissenschaftlern nahezu überforscht wurde, an dem aber nicht einmal albanische Politiker Interesse haben. Lediglich das Bulgarische lässt anhand der kulturellen Aktivitäten und Publikationen ein Potenzial zum Ausbau feststellen. Lehrbücher, Grammatiken, Wörterbücher und Folklorezeitschriften erscheinen sowohl in der Ukraine als auch in Bulgarien in beträchtlicher Auswahl, aber in kleinen Auflagen. Sie werden das Bulgarische nicht in der bessarabischen Variante festigen, sondern die lokalen Mundarten verdrängen und dafür wahrscheinlich eine lebensfähige, standardnahe bulgarische Minderheitensprache mit Schulsystem und Medien etablieren können. 3. Diskrepanz zwischen Modernisierung und Minderheitenschutz: Es ist eine deutliche Diskrepanz zwischen der Modernisierung der ukrainischen Gesellschaft bzw. den gesetzlichen Maßnahmen, die zum Schutz der Minderheiten angestrebt werden, und den tatsächlichen Ergebnissen, die erzielt werden, zu beobachten. In den letzten 20 Jahren seit der Unabhängigkeit der Ukraine ist die Zahl der Schüler, die muttersprachlichen Schulunterricht besuchen, deutlich gesunken. Ganze Dörfer, in denen vor 20 Jahren noch die Muttersprache gesprochen wurde, verschwinden von der sprachlichen Landkarte der Ukraine, ohne dass dagegen die geringsten Maßnahmen ergriffen werden. Die Sprachminderheiten selbst beugen sich diesem Prozess resigniert und ohne Widerstand. Probleme wie Arbeitslosigkeit und Kriminalität scheinen angesichts schwindender Sprachen und Identitäten größere Aufmerksamkeit zu erfordern. Auf der anderen Seite gibt es seitens einiger leidenschaftlichen Verfechter der Minderheitensprachen, wie z.B. des Moldauischen, immer wieder „überhitzte“ Stellungnahmen, geweckt durch die Nostalgie eines längst vergangenen Großrumäniens, die eher bewirken, dass die Initiativen zum Erhalt der rumänischen/ moldauischen Sprache und Kultur nicht ernst bzw. überhaupt wahrgenommen werden. Ähnlich sieht es auch im Fall des Bulgarischen aus. 4. Gut funktionierendes Miteinander der ethnischen Gruppen: Der sprachliche und kulturelle Austausch zwischen Mehr- und Minderheiten sowie das gegenseitige Verständnis, das sich daraus entwickeln kann, gehören zu <?page no="39"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 25 den wichtigsten Aspekten des menschlichen Daseins. Die interethnische Koexistenz im Budschak ist durch Austausch und gute Kenntnisse der jeweils anderen Gruppen gekennzeichnet und ist daher mehr ein Miteinander als ein Nebeneinander. Bislang ist es nicht zu Konflikten oder ernsthaften politischen Spaltungen gekommen wie in der benachbarten Republik Moldau. Der Sprachisolationismus und die Einsprachigkeit, die immer wieder im Laufe des 20. Jahrhundert propagiert wurden, konnten diese natürlichen Prozesse nicht stoppen. Das Russische ist im Budschak noch sehr präsent und stellt heute noch die lingua franca aller südbessarabischen Minderheiten dar. Darüber hinaus lassen sich erhebliche sprachlichen „Spuren“ des Rumänischen bei den im Budschak koexistierenden Minderheiten beobachten, die auf eine Zeit zurückzuführen sind, als die Mehrheitsbevölkerung rumänischsprachig war, sowie auf eine rumänisch geprägte Schulpolitik vor und während des Zweiten Weltkrieges. Die Aufgabe, vor der alle Beteiligten sowohl auf staatlicher als auch auf internationaler Ebene stehen, ist daher die Bewahrung und Unterstützung des Selbstbewusstseins der Sprecher der Regional- und Minderheitensprachen und der damit einhergehenden Kultur(en) durch bewusste sprachpolitische, sprachsoziologische, aber vor allem auch wirtschaftliche Maßnahmen, die die Minderheiten und ihre Sprachen auf allen Ebenen der Gesellschaft einbeziehen. Bibliographie Allardt, Erik: „Qu'est-ce qu'une minorité linguistique? “. In: Giordan, Henri (Ed.): Les minorités en Europe. Droits linguistiques et Droits de l'Homme. Paris: Editions Kimé 1992, 45-54. Arel, Dominique / Khmelko, Valeri: „The Russian Factor and Territorial Polarization in Ukraine“. In: Harriman Institute Review, 1996, 9/ 1-2, 81-91. Besters-Dilger, Juliane: „Nation und Sprache seit 1991: Ukrainisch und Russisch im Sprachkonflikt“. In: Kappeler, Andreas (Ed.): Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung. Wien: Böhlau 2011, 375-388. 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Interview: Ioana Nechiti <?page no="43"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 29 Interview mit Elena Dimitrevna Marinova am 4. und 5. März 2012 in Krynyčne. EthnoThesaurus Archivnummer Video 2012_03_04 (14), 2012_03_05 (12-16), Interview: Tanya Dimitrova, Thede Kahl, Anna Kuzmina, Ioana Nechiti Interview mit Fjodor Konstantinovič Rekal am 4. März 2012 in Žovtneve. EthnoThesaurus Archivnummer Video 2012_03_04 (1). Interview: Anna Kuzmina Interview mit Konstantin Prokopyč Rekal am 4. März 2012 in Žovtneve. EthnoThesaurus Archivnummer Video 2012_03_04 (1). Interview: Anna Kuzmina Interview mit Pjotr Stoju Ivanovič am 4. März 2012 in Krynyčne. EthnoThesaurus Archivnummer Video 2012_03_04 (5). Interview: Tanya Dimitrova Interview mit Rodion Stepanovič Pandar am 4. März 2012 in Žovtneve. EthnoThesaurus Archivnummer Video 2012_03_03 (2). Interview: Thede Kahl, Anna Kuzmina Interview mit Stepan Trifonovič Zečev am 5. März 2012 in Žovtneve. EthnoThesaurus Archivnummer Video 2012_03_05 (14), 2012_03_05 (2, 16). Interview: Tanya Dimitrova, Thede Kahl, Anna Kuzmina, Ioana Nechiti Die Videoaufnahmen sind auf dem zentralen Server des Rechenzentrums der Friedrich-Schiller-Universität Jena gespeichert. Die Aufzählung beschränkt sich auf direkt zitierte Quellen. Gespräch mit Moldauerin in Borysivka. Foto: Ioana Nechiti <?page no="44"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 30 Zu Besuch bei Stepan Trifonovič Zečev. Foto: Thede Kahl Fischer in Nova Nekrasivka. Foto: Thede Kahl <?page no="45"?> Minderheitensprachen und Kulturkontakt im Budschak 31 Ioana Nechiti und Anna Kuzmina, Interview in Karakurt. Foto: Thede Kahl Abb. 7: Ethnische Struktur im Budschak 2004 (Ausschnitt aus K AHL 2010) <?page no="46"?> Thede Kahl - Ioana Nechiti 32 Legende: <?page no="47"?> Thede Kahl (Jena) - Elton Prifti (Mannheim) Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen Es ist nichts Verwunderliches, dass sich die Kodifizierung als grundlegender Bestandteil der Standardisierung gerade im Fall der sogenannten „klein“romanischen Sprachen ausgesprochen dynamisch und komplex gestaltet und jeweils eigene Wege geht. Diese Eigenschaften sind auf die spezifischen und sich wandelnden geschichtlichen, kulturellen und politischen Faktoren zurückzuführen, die in den Ländern vorgeherrscht haben bzw. vorherrschen, wo sie in der Regel neben einer anderen Sprache vorkommen. Die Koexistenz ist gewöhnlich durch Konkurrenz und nicht selten sogar durch Konflikte gekennzeichnet. Konkurrenzerscheinungen können aber auch innerhalb des Kodifizierungsverlaufs derselben kleinromanischen Sprache auftreten, der, als sprachpolitischer Akt, eine identitätsmarkierende bzw. -stiftende Rolle 1 spielt, wie etwa die alpenromanische 2 , die galicische oder die aromunische Realität zeigen, um nur einige zu nennen. Besonders komplex und dynamisch stellt sich der Kodifizierungsverlauf des Aromunischen dar. Dabei handelt es sich um einen plurizentrischen Prozess, der durch die weite Verbreitung der aromunischen Enklaven in Südosteuropa - seit etwa einem Jahrhundert in sechs Nationalstaaten (Albanien, Bulgarien, Griechenland, Republik Makedonien, Rumänien, Serbien; cf. z.B. Prifti (im Druck) - bedingt ist. 1 Forschungsstand Die Beschreibung der Kodifizierungsdynamiken steht in enger Verbindung mit der Verschriftungstradition, die sich im Falle des Aromunischen bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Mit der Geschichte der frühen aromunischen Sprachdenkmäler haben sich bereits einige Autoren befasst, wenn es sich auch meist nur um reine Zusammenstellungen der Quellen handelt (z. B. Papahagi 1909, 24-29, Caragiu Marioţeanu 1962, 111- 1 Über die Wahrnehmung der Sprache als ousía und die bidirektionale Korrelation zwischen Sprache (bzw. Kontaktvarietäten) und Identität (bzw. Teilidentitäten) cf. Prifti 2014, 62-63. 2 Man denke insbesondere an die Dynamiken der Kodifizierung und der Standardisierung des Rätoromanischen. <?page no="48"?> Thede Kahl - Elton Prifti 34 118). Vereinzelt sind Studien über aromunische Schriftdokumente zu finden, wobei es auch um ihre Autoren und um ihr Wirken geht. Im Interesse bisheriger Forscher standen die mehrsprachigen Glossare von Theodor Kavalliotis (s. hier Kap. 2.1, E) und Daniel von Moschopolis (s. hier Kap. 2.1, H), wobei deren aromunischer Anteil weniger untersucht wurde als der der anderen Sprachen, die inzwischen Nationalsprachen sind. Die Kodifizierung des Aromunischen wurde in einigen Studien thematisiert. Im Rahmen der fünften Edition des Romanistischen Kolloquiums befasste sich Wolfgang Dahmen (Dahmen 1991) mit der Kodifizierungsgeschichte des Aromunischen und nahm dabei eine dreiteilige Periodisierung vor, die zum Teil auch im vorliegenden Beitrag wiederzufinden ist. Gheorghe Carageani beschrieb in Deşteptarea - Revista Aromânilor in einer neunteiligen Artikelserie (IV/ 5 (1993) - V/ 1 (1994)) die aromunischen Alphabete der letzten 200 Jahre. In seinem 1999 erschienen Aufsatz zeigt Tiberius Cunia die wichtigsten Tendenzen und Ereignisse der Standardisierung des Aromunischen im Hinblick auf die Verschriftlichung auf und beschreibt ausführlich den Vorschlag eines allgemeinen aromunischen Alphabets, der im Rahmen des im August 1997 in Bitola (Rep. Makedonien) stattgefundenen Symposium for the Standardization of the Aromanian Writing System unterbreitet wurde. In Kahl 2006 wird u. a. der Frage nach der diatopischen Klassifikation und der spezifischen, graphematisch-phonologischen Korrelationen des Aromunischen der zwischen 1731 und 1813 entstandenen Sprachdenkmäler nachgegangen. Einer ähnlichen Fragestellung, jedoch unter Berücksichtigung von gegenwärtigen Zusammenhängen, widmet sich Kahl 2015. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags wird die Entwicklung des Kodifizierungsprozesses des Aromunischen dargestellt, dessen bisher bekannte Anfänge bis 1731 zurückzuführen sind, wobei das Ziel einer noch fehlenden umfassenden, differenzierten und entpolitisierten Beschreibung der Tendenzen und Hauptdynamiken des gesamten Prozesses unter Berücksichtigung der soziokulturellen und politischen Rahmenbedingungen verfolgt wird. <?page no="49"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 35 2 Haupteigenschaften Es lassen sich drei Haupteigenschaften des Kodifizierungsprozesses des Aromunischen feststellen. 1 Der Kodifizierungsprozess des Aromunischen ist durch eine ausgeprägte Länge und eine weite räumliche Verbreitung gekennzeichnet. Die Verschriftlichung des Aromunischen lässt sich bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. In der nahezu 300jährigen Kodifizierungsgeschichte haben sich mehrere Epizentren hervorgehoben, die sich außerhalb des Verbreitungsgebietes der Aromunen in Südosteuropa befanden, wie Wien, Budapest, Bukarest, Sofia, Kairo, Bitola, Boston u.a. Die hohe Zahl an Epizentren spiegelt die Vielfalt der soziopolitischen und kulturgeschichtlichen Faktoren wider, die bei der dynamischen Gestaltung der externen Sprachgeschichte des Aromunischen eine unmittelbare Rolle gespielt haben. 2 Der Kodifizierungsprozess des Aromunischen ist durch eine starke Politisierung charakterisiert. Das Aromunische zählt zu den wichtigsten kulturellen Markern der individuellen, vor allem aber der kollektiven Identität der Aromunen, die trotz ihrer verhältnismäßig hohen Zahl in mindestens zwei Balkanstaaten dort traditionell als bedeutende Minderheit ohne Autonomisierungsbestrebungen fortbestehen. Die aromunische Gemeinschaft wurde und wird aber aufgrund der sprachlichen und der religiösen Affinitäten jeweils von der rumänischen und der griechischen Außenpolitik als außerhalb der ent sprechenden Staatsgrenzen lebende rumänische bzw. griechische Minderheit wahrgenommen. Dies spiegelt sich deutlich im Verschriftlichungsprozess des Aromunischen wider, der nahezu durchgehend als Mittel für die Durchsetzung von innen- und außenpolitischen Interessen genutzt und instrumentalisiert wurde, wobei sich zwei Haupttendenzen erkennen lassen. Es handelt sich einerseits um eine Gräzisierungs-, besser sogar eine Hellenisierungstendenz, die in den Anfängen des Kodifizierungsprozesses verstärkt festzustellen ist, und andererseits um eine Rumänisierungstendenz, die ihre Blüte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichte. Diese Tendenzen drücken sich vor allem in der Verwendung jeweils des griechischen und des rumänischen Alphabets aus. Insbesondere in den letzten drei bis vier Jahrzehnten kristallisierte sich allmählich eine weitere Tendenz heraus, die als Autonomisierungstendenz bezeichnet werden kann. Diese beruht auf der Loslösung von den weiteren Tendenzen, ohne sich jedoch dabei vom lateini- - <?page no="50"?> Thede Kahl - Elton Prifti 36 schen Alphabetsystem zu entfernen. Zentraler Punkt ist dabei die graphematische Wiedergabe einiger Phoneme, die teilweise spezifisch für das Aromunische oder für einzelne diatopische Varietäten sind. 3 Die Verschriftlichung des Aromunischen ist durch die Anwendung dreier Alphabetsysteme gekennzeichnet. Zur ausgeprägten Dynamik des Kodifizierungsprozesses des Aromunischen trägt die Anwendung der griechischen, der kyrillischen und der lateinischen Alphabetsysteme bei. Ferner wurden bzw. werden im Rahmen des lateinischen Alphabetsystems verschiedene Traditionen verwendet, wie beispielweise die rumänische, die ungarische oder die albanische, die in einigen Fällen auch kombiniert werden. Die Verwendung der verschiedenen Alphabettraditionen kann auch synchron vorkommen, wie es beispielsweise heutzutage (s. Abbildung 1) der Fall ist. Während die gegenwärtige parallele Nutzung verschiedener Alphabetsysteme auf die je unterschiedliche Alphabetisierung der in verschiedenen Staaten lebenden Aromunen zurückgeführt werden kann, ist dasselbe Phänomen bis ins 20. Jahrhundert hinein in erster Linie als Ausdruck der kulturellen Konkurrenz bzw. Konflikte zu interpretieren 3 . In der Abbildung 1 sind mehrere spontane und miteinander verbundene Kommentare von Aromunophonen vorzufinden, die unterschiedlichen Alphabetisierungstraditionen angehören und auch die wichtigsten Kodifizierungstendenzen vertreten. Von Interesse sind dabei auch die metalinguistischen Meinungsäußerungen im Hinblick auf die Kodifizierung, die die eingangs erwähnte Konkurrenzdynamik gut illustrieren. 3 Ähnliche Dynamiken herrschten auch bei den Kodifizierungsprozessen weiterer Sprachen Südosteuropas vor, wie etwa im Falle des Albanischen, in dem auch die arabische Alphabettradition eine Rolle spielte. <?page no="51"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 37 Abb. 1: Auszug aus dem Kommentarbereich eines Youtube-Videos 4 3 Die Kodifizierungsgeschichte des Aromunischen in Etappen Die Dynamiken des Kodifizierungsprozesses lassen sich adäquat auf der Grundlage einer Periodisierung beschreiben, die vorwiegend mittels außersprachlicher kulturgeschichtlicher, soziopolitischer und teilweise auch räumlicher Unterscheidungsfaktoren vorgenommen wird. Es lassen sich die folgenden chronologisch geordneten und teilweise ineinandergreifenden vier Phasen unterscheiden, die sich auch in der Untergliederung dieses Kapitels (3.1-3.4) widerspiegeln. 4 Aus: https: / / www.youtube.com/ watch? v=7pmerPDygbo (30.7.2014). <?page no="52"?> Thede Kahl - Elton Prifti 38 - Erste Phase (ca. 1731-1840), - Zweite Phase (ca. 1820-1945), - Dritte Phase (ca. 1945-1990), - Vierte Phase (seit ca. 1985). 3.1 Erste Phase Im Vergleich zu den ersten (nord-)albanischen, rumänischen und südslawischen sprachlichen Belegen setzen die bisher bekannten aromunischen Überlieferungen (ab ca. 1731) erst relativ spät ein. Ihr Entstehungszeitraum entspricht im Großen und Ganzen dem der ersten Sprachdokumente der südalbanischen Varietäten, die im selben kulturellen Raum entstanden. Diese zeitliche Verzögerung ist zum einen auf die dominante Rolle der griechischen Schriftkultur zurückzuführen, zum anderen wahrscheinlich auf Zerstörungen aromunischer Inschriften, Bücher und Handschriften. In der ersten Phase, die sich über 100 Jahre (ca. 1731-1840) erstreckt, entstanden wichtige aromunische Sprachdokumente, die mehrere Gemeinsamkeiten aufweisen und mit einigen wenigen Ausnahmen räumlich zusammenhängen. Beim Entstehungsraum der in dieser Phase entstandenen Dokumente handelt es sich um den damaligen Hauptsiedlungsraum der Aromunen, d. h. um das heutige Südalbanien und Nordwestgriechenland, wo sich einige ihrer Siedlungen wie Moschopolis (mit einst ca. 30.000 Einwohnern) oder Shipska (deren Gründung von manchen Autoren bereits auf das 14. Jahrhundert geschätzt wird) befanden und ihre Blütezeit erlebten. Dort konzentrierte sich ein geistiges Potential, dessen Wirken sich im Vorhandensein einer Akademie (1744 gegründet) und einer Druckerei (1730- 1769) zeigte. Die Lehrenden der Akademie verbreiteten keine Theologie, sondern Logik, Physik und Grammatik. Obwohl Moschopolis eine weitgehend aromunische Siedlung war (Thunmann 1976, 178), wurde dort überwiegend auf Griechisch gedruckt (Peyfuss 1996, 39). In der zweiten Hälfte der ersten Phase kam es zu einer aktiveren Textproduktion in ihrer Diaspora, zunächst in Venedig, dann in Budapest und Wien. Nachdem ein Teil der aromunischen Hirtenbevölkerung sesshaft geworden war, konnte dieser in großen Gebirgssiedlungen Handel betreiben und sich der Bildung und Kunst widmen. Die frühe Verschriftung des Aromunischen stammt aus der Zeit der nationalen Identitätssuche und -bildung, d. h. der Ausbau der südosteuropäischen Nationalstaaten und -sprachen. Bei den Aromunen lässt sich in jener Zeit eine starke Tendenz zur Gräzisierung beobachten. Die griechische Sprache war im betreffenden Zeitraum lingua franca des südlichen Balkanraums, Sprache der Liturgie sowie theologischer und philosophischer Abhandlun- <?page no="53"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 39 gen. Dies hemmte stark die Verwendung des Aromunischen im schriftlichen Sprachgebrauch, was sich in der geringen Zahl aromunischer Veröffentlichungen widerspiegelt. Wer sich in dieser Zeit im südbalkanischen Raum schriftlich ausdrücken wollte, bediente sich des Griechischen und selbst wenn man in anderen Sprachen schrieb, bemühte man die griechische Schrift. Nicht zu unterschätzen ist hierbei die Rolle aromunischer und griechischer Intellektueller, die das Griechische als einzige Sprache durchzusetzen versuchten und daher andere Sprachen bekämpften. Es sei hier stellvertretend an den Heiligen Kosmas den Ätolier (1714-1779) erinnert, der auf seinen Reisen (1760-1769) durch die aromunisch- und albanischsprachigen Gebiete ganze Landstriche dazu zu bewegen versuchte, ihre Muttersprache aufzugeben. Doch auch andere Denker, Kleriker und Politiker der Zeit wie Rigas Ferraios, Neofytos Doukas oder Dimitrios Darvaris verfolgten diese Absicht vehement. Die aromunischen Überlieferungen dieser Phase lassen sich in zwei Gruppen einordnen, die im Folgenden im Hinblick auf die Kodifizierung kurz vorgestellt werden. Zur ersten Gruppe zählen die Inschriften (A-D), die religiösen Charakter haben, in der Regel sehr kurz sind und in den ersten Jahrzehnten der Phase entstanden. Der zweiten Gruppe gehören Textdokumente (E-I) an, die größtenteils didaktisch-pädagogischen Charakter haben. A Der Holzschnitt von Ardenicë, (1731) Es handelt sich um eine Inschrift in Griechisch, Aromunisch, Albanisch und Latein, von denen nur letzteres mit lateinischen Graphemen geschrieben wurde. Unter Verwendung des griechischen Alphabetes steht der folgende, hier transkribierte aromunische Satz links über der Ikone: 5 5 Eine weitere Abbildung der Inschrift ist in Shuteriqi 1952 zu finden. 1950 erwarb das Instituti i Shkencave Albaniens eine aus dem Kloster von Ardenicë (Mittelalbanien) stammende Gravur der Heiligen Maria, die höchstwahrscheinlich 1731 erstellt wurde (Shuteriqi 1976, 107). <?page no="54"?> Thede Kahl - Elton Prifti 40 Abb. 2: Der Holzschnitt von Ardenica (aus: Caragiu Marioţeanu 1962, 112) Abb. 3: Das aromunische Fragment des Holzschnittes von Ardenica (bearbeitet, aus: Caragiu Marioţeanu 1962, 112) In heutiger Schreibweise Transliteration Übersetzung Viryiră, muma-al Dumnedză, oră tră noi pecătoshlji Βήργιρι Μ ᴕ µάλ τ ᴕ µνεζί ώρε τρέ νοι ̟εκιτό..λοι 6 Jungfrau Mutter Gottes, bete für uns Sünder Der Text wurde vermutlich vom Ieromonach und Abt von Ardenicë, Νεκτάρι aus Moschopolis verfasst. Das dort verwendete Aromunische ist in dialektologischer Hinsicht dem nördlichen Aromunischen zuzuordnen 7 . B Die Simota-Vase (Anfang des 18. Jahrhunderts) Das griechische Alphabetsystem wurde auch beim folgenden aromunischen Text verwendet, der auf einer Vase aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschrieben und 1913 von Pericle Papahagi anfänglich entziffert wurde (Caragiu Marioţeanu 1962, 113). 6 Nach Shuteriqi 1976, 107. 7 Einige systemlinguistische Angaben sind in Kahl 2006, 247-248 zu finden. <?page no="55"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 41 Abb. 4: Bild der Simota-Vase mit aromunischer Inschrift (aus Papahagi 1913, 36 (I)) Abb. 5: Die aromunische Inschrift der Simota- Vase (aus Papahagi 1913, 36 (II)) In heutiger Schreibweise Übersetzung Caleritu ameu, bia yinu ka shi ateu/ Multu se nu biai, s-nu te vemai/ Tra se nu tsi fake reu, tra se nu te mbetu eu/ Une uare se biai, si akase se vei. Mein Kalerit, trink Wein so wie den deinen/ Doch trink nicht viel, damit du dich nicht übergibst/ Dir soll nicht schlecht werden, ich soll dich nicht trunken machen/ Einmal sollst du trinken und dann nach Hause gehen. Der aromunische Text unterscheidet sich kaum vom heutigen Aromunischen des Pindos. Die gedeckten Kehllaute werden mit α und ε wiedergegeben; zwischen s und sh kann durch die Wiedergabe beider Laute mit σ kein Unterschied gemacht werden. Eine dialektale Zuordnung des Textes ist aufgrund seiner Kürze nicht eindeutig möglich, wenn ihn auch die Schreibung des Diphthongs (uare) tendenziell als armāneashti ausweist. 8 Die Zuweisung des Wortes Caleritu als Bewohner des Dorfes Cālarlji (heute Kalarites, bei Ioannina, Griechenland), wie sie Caragiu Marioţeanu (1997, Anhang) vornimmt, ist also nicht abwegig. 8 Einige weitere systemlinguistische Angaben sind in Kahl 2006, 248 zu finden. <?page no="56"?> Thede Kahl - Elton Prifti 42 C Die Kircheninschrift von Klinovo Um 1780 dürfte die folgende aromunische Inschrift mit Versen des Heiligen Zōsimas entstanden sein, die mittels des griechischen Alphabets verfasst wurde und sich im Kloster der Heiligen Apostel in den Bergen Westthessaliens (in der Nähe des Dorfes Klinovo, heute Klino) befindet 9 : Abb. 6: Der aromunische Teil der Kircheninschrift von Klinovo (Foto: Th. Kahl) In heutiger Schreibweise Übersetzung Intrā mbāsiareka ku multā pāvrie, triamburā lundalui Maria kumnikatura, fokulu akshi shi kolasi tra skaki Betrete die Kirche voll Ehrfurcht und zittere wenn du die Kommunion der Maria empfängst, um dem Feuer und der Hölle zu entkommen D Die Kircheninschrift von Moschopolis 2005 fanden wir folgende Inschrift in griechischem Alphabet auf den Außenfresken der Kirche des Heiligen Athanasios in Moschopolis (Kahl 2006, 249): Inschrift In heutiger Schreibweise Übersetzung ΜΑΝΕ ΝΤΙ ΜΖΟΥ ΚΟΥ ΑΘΑΝΑΣΙΣ ΦΙΛΙΠΠΟΥ Mane di mzou ku Athanasis Filipu Von Hand Gottes 10 mit Athanasis Philippou Im Hinblick auf die Inschriften ist hervorzuheben, dass systematische Untersuchungen der zahlreichen Kirchen aromunischer Gemeinden weitere derartige Elemente ans Licht bringen könnten. 9 Die Inschrift ist bei Γαρίδης 1985, 188, 200 abgebildet. Einige systemlinguistische Anmerkungen sind in Kahl 2006, 249 zu finden. 10 Die Interpretation von MZOY ist unsicher. <?page no="57"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 43 E Die Aromunische Liturgie (Anfang des 18. Jh.) Die mit griechischem Alphabet gegen Anfang des 18. Jahrhunderts handschriftlich verfasste Liturgikon wurde 1939 von Ilo Mitkë Qafëzezi aus Korçë in der Nationalbibliothek von Tirana gefunden und 1962 von Matilda Caragiu Marioţeanu transkribiert sowie mit einem Glossar versehen. F Die Fibel des Theodor Kavalliotis (1770) Πρωτο̟ειρία ̟αρά του σοφολογιωτάτου, Και Αιδεσιµωτάτου ∆ιδασκάλου, Ιεροκήρυκος, Και Πρωτο̟α̟ά Κυρίου Θεοδώρου Αναστασίου Καβαλλιώτου του Μοσχο̟ολίτου συντεθείσα, Και νυν ̟ρώτον τύ̟οις εκδοθείσα ∆α̟άνη του Εντιµοτάτου, και Χρησιµωτάτου Κυρίου Γεωργίου Τρίκου̟α, του και Κοσµήσκη ε̟ιλεγοµένου εκ ̟ατρίδος Μοσχο̟όλεως. Eνετία 1770. Zu den bekanntesten (auch) aromunischen Sprachdenkmälern zählt Kavalliotis ʼ Fibel, die sich in der Bibliothek der Rumänischen Akademie in Bukarest befindet und seit 1935 der Forschung zugänglich ist (Peyfuss 1996, 53). Damit befassten sich u. a. Thunmann (1774 bzw. 1976; Abdruck des Glossars und Ergänzung um das Lateinische), Meyer (1895; mit Erklärungen zum Glossar), Papahagi (1909; Abdruck und Kommentar) und Hetzer (1981). Theodor Kavalliotis (ca. 1718-1789) stammte aus Moschopolis, wo er überwiegend lebte und in der dortigen Akademie lehrte. Er verfasste auch eine neugriechische Grammatik (1760), Manuskripte zur Logik (1749) und Physik (1752), die allerdings nicht in gedruckter Form vorliegen. 11 Kavalliotis war offenbar aromunischer Abstammung (Hetzer 1981, 37), wuchs in aromunischem Umfeld auf und war mit der griechischen Volks- und Literatursprache eng vertraut. Seine Fibel besteht aus religiös-didaktischen Lehren in griechischer Sprache, wobei einen breiten Raum das dreisprachige, 1170 Lemmata umfassende Glossar einnimmt (S. 13-59), dem eine Zusammenstellung von Kindersprüchen, Kirchenliedern und Zahlwörtern auf Griechisch sowie ein lateinisches ABC folgen (Meyer 1895, 3-4) 12 . Außer einem Satz aus der Osterliturgie (Caragiu Marioţeanu 1997, unpaginierter Anhang) wird im Textteil kein Aromunisch verwendet. Die Unterdrückungen und Auseinandersetzungen, die um 1770 die Stadt Moschopolis weitgehend zerstörten, dürften der Grund gewesen sein, weshalb die Prōtopeiria nicht in Moschopolis gedruckt werden konnte. Das Hauptanliegen Kavalliotis ʼ war die Verbreitung von praktischem und religiösem Wissen, wofür er das Griechische vorzog, das offenbar nicht die Alltagssprache in Moschopolis darstellte 11 Eine Zusammenstellung seiner griechischen Werke ist in Peyfuss 1996, 154-155 zu finden. 12 Zu näheren Angaben zum Inhalt des Glossars cf. Hetzer 1981, 70; Kahl 2006, 251-253. <?page no="58"?> Thede Kahl - Elton Prifti 44 (Hetzer 1981, 70). Es ist kein Bestreben zu erkennen, den Wortschatz der örtlichen Umgangssprachen (Aromunisch, Albanisch) zu bewahren oder zu entfalten und erst recht nicht die Glaubensverkündung in einer anderen Sprache als der griechischen vorzunehmen. Für alle drei Sprachen des Glossars (αλβανίτικα (albanisch), βλάχικα (aromunisch) und ρωµαίϊκα (griechisch)) verwendet der Autor das griechische Alphabet. Er ergänzt es um einige Sonderzeichen, so dass die Besonderheiten der Lautstruktur des Albanischen und Aromunischen teilweise berücksichtigt werden können. Die Schreibweise des Kavalliotis im Aromunischen ist sehr gut lesbar. Problematisch bleibt die Wiedergabe der Phoneme / b/ , / d/ und / g/ mit griechischen Buchstaben. Ein weiteres Problem sind palatale Laute, die im Griechischen nur vor einem Vokal bzw. im Fall von l und n nur dialektal vorkommen. Die aromunischen Phoneme / ɲ / , / ʎ / sowie die albanischen / ɲ / und / ɟ / können daher im Griechischen nicht wiedergegeben werden; Kavalliotis versucht dies, wenn auch inkonsequent, anhand von Doppelkonsonanten darzustellen (λλ für / ʎ / , νν für / ɲ / ). Weitere Einzelheiten zur Orthographie der Fibel gibt Gustav Meyer (1895, 5-7). Bei dem Versuch, den Laut d wiederzugeben, macht Kavalliotis meist vom Graphem τ Gebrauch, seltener vom heute üblichen Nexus ντ. Er unterscheidet nicht zwischen den gedeckten Kehllauten â und ă, sondern er verwendet stets das Graphem ᾳ . G Die Pädagogik des Konstantin Ukuta (1797) Νέα ̟αιδαγωγία ήτοι Αλφαβητάριον εύκολον του µαθείν τα νέα ̟αιδία τα ρωµανο-βλάχικα γράµµατα εις κοινήν χρήσιν των Ρωµανο-βλάχων ΝΥΝ ΠΡΩΤΟΝ Συνετέθη και εδιορθώθη ̟αρά του αιδεσιµωτάτου εν ιερεύσιν ΚΥΡΙΟΥ ΚΥΡΙΟΥ ΚΩΝΣΤΑΝΤΙΝΟΥ του Ουκούτα, Μοσχο̟ολίτου, Χαρτοφύλακος, και ̟ρωτο̟α̟ά εν τη Ποσνάνια της µεσηµβρινής Προυσίας. Βιέννη 1797. Das 1907 in Bitola gefundene Exemplar der Paidagogía von Ukuta wurde durch die Ausgabe Papahagis 1909 (Abdruck und Kommentar) bekannt. Der in Ochrid als Kleriker tätige Autor stammte ursprünglich aus Moschopolis. In der Einführung beschreibt Ukuta die Laute des Aromunischen sowie die Grapheme des griechischen Alphabetes, die er zur Verschriftlichung verwendet, wobei weitgehende Ähnlichkeiten mit dem Kodifizierungssystem Kavalliotis ʼ auffallen. Er unterscheidet zwischen zwei gedeckten Kehllauten im Aromunischen, die er mit den Graphemen ᾳ und οι wiedergibt. Die Intention Ukutas ʼ ist, wie er selbst hervorhebt, die Verbreitung religiösen Gedankenguts in aromunischer Übersetzung. Die Wahl des griechischen Alphabetsystems zur Verschriftlichung des Aromunischen begründet er wie folgt: <?page no="59"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 45 Abb. 7: Originaltext 13 : Auszug aus Ucuta 1797, 3 und 4 (graphisch überarbeitet) Transliteration Übersetzung Shi se nu oai tră rrshăne kă tră tsi lom Grammele a ellinjloru, i kă tră tsi nă m’prămutamu de altă limbă, kă tute limbile tsi suntu tru etă sem’prămuteadză ună dealantă. Und schäme dich nicht, dass wir die Buchstaben der Hellenen benutzen oder weil wir uns von anderen Sprachen Wörter leihen, denn jede Sprache der Welt entlehnt von anderen. H Das Lehrbuch des Daniel von Moschopolis (1802) Εισαγωγική ∆ιδασκαλία Περιέχουσα Λεξικόν Τετράγλωσσον των τεσσάρων κοινών ∆ιαλέκτων ήτοι της α̟λής ρωµαϊκής, της εν Μοισία Βλαχικής, της Βουλγαρικής, και της Αλβανιτικής. Συντεθείσα µεν εν αρχή χάριν ευµαθείας των φιλολόγων αλλογλώσσων νέων ̟αρά του Αιδεσµωτάτου, και Λογιωτάτου ∆ιδασκάλου, Οικονόµου, και Ιεροκήρυκος Κυρίου ∆ανιήλ tου εκ Μoσχο̟όλεως [...] 1802. Das in zahlreichen Quellen auftauchende, angeblich schon 1794 in Venedig gedruckte Exemplar (Thunmann 1976, 11), ist nicht nachweisbar; die einzige gesicherte Veröffentlichung von 1802 weist keinen Druckort auf (Kristophson 1974, 8; Peyfuss 1996, 55). Das Werk wurde in Auszügen von Leake 13 In der Wiedergabe des Originals durch Pericle Papahagi (Papahagi 1909, 64) fehlt die Negationspartikel. <?page no="60"?> Thede Kahl - Elton Prifti 46 (1814) nachgedruckt und ins Englische übersetzt. Es erfuhr einen Abdruck mit kritischem Kommentar durch Miklosich (1882) sowie durch Papahagi (1909). Eine kommentierte Neubearbeitung in lateinischer Schrift und einer Einleitung zur Textgeschichte bietet Kristophson (1974, 7-13). Das Lehrbuch, welches sich an nicht gräkophonen Bevölkerungsgruppen richtete, 14 war sein einziges gedrucktes Werk und besteht aus mehreren Abschnitten in griechischer Sprache, die einen guten Eindruck von der Gesellschaft im damaligen Moschopolis vermitteln. Lediglich das im Lehrbuch enthaltene Lexikon Tetraglosson ist für unsere Fragestellung von Interesse, da allein dort neben dem Griechischen (ρωµαίϊκα), dem Albanischen (αλβανίτικα) und dem Bulgarischen (βουλγάρικα) auch Aromunisch (βλάχικα) vorkommt, wobei für die Verschriftlichung nur das griechische Alphabetsystem Gebrauch fand. Die graphematischen Besonderheiten sind in Kristophson (1974, 10-13) ausführlich behandelt. 15 I Der Codex der Gebrüder Dimonie (Anfang 19. Jh.) Als Codex Dimonie wird eine Sammlung von 127 losen Blättern bezeichnet, die früher wohl gebunden war (Dachselt 1894, 1) und von dem Leipziger Balkanologen Gustav Weigand 1889 in Ochrid (Achrida) entdeckt wurde. Es handelt sich um die ausführlichste Sammlung früher aromunischer Texte. Weder Jahr noch Ort der Manuskriptentstehung sind bekannt. Die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf die Ausgabe in den Rumänischen Jahresberichten (Dachselt 1894, Weigand 1897-1899). Es wird davon ausgegangen, dass dieser Codex von mehr als einer Person geschrieben wurde (Weigand 1894, 136). Er erlangt im Hinblick auf die Kodifizierung eine besondere Relevanz, weil in ihm unterschiedliche Schreibweisen vorkommen, woraus sich schließen lässt, dass sich am Anfang des 19. Jahrhunderts keine Alphabetisierungstradition stabilisiert hatte; sogar auch innerhalb derselben Kodifizierungstendenz - in diesem Falle der auf dem griechischen Alphabet gestützten - bestanden miteinander konkurrie- 14 Die Intention seines Werkes beschreibt Daniel im Vorwort (Ausgabe von 1802) wie folgt: Αλβανοί Βλάχοι Βούλγαροι Αλλόγλωσσοι χαρείτε Κι ετοιµαστείτε όλοι σας Ρωµαίοι να γενήτε Βαρβαρικήν αφήνοντας γλώσσαν, φωνήν και ήθη Ό̟ου στους α̟ογόνους σας να φαίνονται σαν µύθοι. Albaner, Vlachen, Bulgaren, Anderssprachige, freut euch und stellt euch darauf ein, Romäer zu werden Legt barbarische Sprache und Gebräuche ab auf dass sie euren Nachfahren wie Mythen vorkommen. 15 Cf. auch Kahl 2006, 256-258. <?page no="61"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 47 rende Traditionen. Der mutmaßliche Hauptverfasser war der Großonkel der Gebrüder Iancu und Mihail Dimonie, bei denen Gustav Weigand das Manuskript gefunden hat, offenbar ein Aromune aus Moschopolis, auch wenn Dunker (1895, 1-2) annimmt, dass er von einer albanischsprachigen Familie aus Moschopolis abstammte. Die Verfasser waren mit Sicherheit weder des Rumänischen noch des Lateinischen mächtig, konnten dafür aber gut Griechisch (auch wenn die Orthographie in den griechischen Passagen oft inkorrekt ist), Türkisch und Albanisch. Der Codex Dimonie ist durchweg auf Aromunisch verfasst, für dessen Verschriftlichung das griechische Alphabet herangezogen wird. Die diakritischen Zeichen des Griechischen finden auch im Aromunischen Anwendung. Miklosich (1882, 8) weist bereits auf die Mangelhaftigkeit der Wiedergabe aromunischer Laute im Codex Dimonie hin. Diese werden besonders inkonsequent zur Kennzeichnung nichtgriechischer Laute verwendet; meist haben sie jedoch keine Bedeutung. Durch den Zirkumflex scheinen die Diphthonge bzw. das Verschmelzen mehrerer Laute angedeutet zu sein. Das ζ kann sowohl für [z] als auch für [ ʣ ] stehen, τζ entsprechend sowohl für [ ʦ ] als auch für [ ʣ ]. Unklar ist es, ob die Graphemenkombination στστ konsequent für den konsonantischen Nexus [ ʧ ] - wie Dachselt (1894, 6) annimmt - oder eher für den [ ʃʧ ] stand, wie heute im Dialekt von Kruševo zu hören ist. Das verwendete Kodifizierungssystem ähnelt stark demjenigen von Daniel von Moschopolis. Wie bereits in den früheren Versuchen, die an das griechische Alphabet angelehnt waren, treten die meisten Probleme dort auf, wo das letztgenannte keine Grapheme für die aromunischen Laute bereithält, so auch beim [d], für das der Verfasser seine Schreibweise im Laufe des Textes ändert: Schreibt der Verfasser anfangs noch ντ, wird das ν ab Seite 34b immer kleiner geschrieben, bis es schließlich einem Punkt (.τ) Platz macht. Bei der Wiedergabe von Gräzismen beweist der Verfasser gute Griechischkenntnisse, selbst die aromunisierten Formen weisen einigermaßen korrekte griechische Orthographie auf, z. B. ευχαρηστησέςκου (Weigand 1897, 160) und ηξουµουλουγησέςςη (Weigand 1897, 166). Wie auch in den zuvor dargestellten Textdokumenten wird auch im Codex Dimonie eindeutig ein rrāmāneshti aus dem südalbanischen Raum verwendet, das geringfügig Einflüsse aus dem Aromunischen des Pindos aufweist. Die Schreibweise doppelter Konsonanten legt nahe, dass es beispielsweise zwischen rr und r klangliche Unterschiede gegeben haben muss. Dachselt geht davon aus, dass es trotzdem nur ein r-Laut gegeben habe, weil man vielfach beide Schreibweisen findet: rrale (II, 5) neben rale sowie lukârrâ (II, 5) neben lukârâ (XV, 8). Weigand (1897, 137) hält es für möglich, dass der Verfasser nur einen gedeckten Kehllaut kannte. Doch muss man sich fragen, warum im Manuskript so zahlreiche Grapheme für ă <?page no="62"?> Thede Kahl - Elton Prifti 48 ( ᾳ , ᾳᾳ , αο, α) verwendet werden, denen Weigand jeweils ŏ zuordnet. Die parallele Verwendung verschiedener Schreibweisen zeigt, dass Sprecher unterschiedlicher Dialektgruppen in den aromunischen Siedlungen aufeinander stießen. So darf auch das Nebeneinander von σση, σσα und σσ ἁ sowie von ρρσσ ἁ νε und ρρσσήνε nicht verwundern. An Stelle der Diphthonge oa und ea stehen im Codex Dimonie zumeist ua und ia (sanatatia, vidia, vriaria, seltener vrerea). Inkonsequenz findet man bei der Schreibung des Phonems / z/ , mal kommt ζµ̟άτ, mal σµ̟άτ vor. Es können nur Vermutungen darüber angestellt werde, welche Absichten die Verfasser des Codex Dimonie verfolgten, doch scheint die Übersetzung und Verbreitung religiöser Texte, insbesondere die Verbreitung von Predigten, ferner von Heiligenviten sowie der Kenntnis religiöser Praktiken auf Aromunisch ihr Hauptziel gewesen zu sein. Hierin das Ziel der Schaffung einer aromunischen Schriftsprache oder der Verbreitung des Aromunischen als Kirchsprache sehen zu wollen, wäre sicher überinterpretiert, zumal das Werk nicht als Lehrmaterial aufgebaut war. 3.2 Zweite Phase Die Kodifizierungsversuche der zweiten Phase sind räumlich im Großen und Ganzen außerhalb des südosteuropäischen aromunischen Sprachraumes entstanden. Diese sind durch eine Reduktion des griechischen Einflusses gekennzeichnet, welcher durch die zunehmende Relevanz des Rumänischen sowie ferner und vereinzelt des Ungarischen begleitet ist. Eine vollständige Loslösung vom Griechischen bleibt jedoch aus. Die Autoren der für diese Phase wichtigsten Werke im Hinblick auf die Kodifizierung, die nur zum Teil Aromunen waren, lebten und publizierten außerhalb des Balkans, vorzugsweise in Buda, Pest, Wien und Bukarest. Es folgen jeweils kurze Darstellungen der Eigenschaften der zwei für die Kodifizierungsgeschichte des Aromunischen wichtigsten Werke, die während der zweiten Phase entstanden sind (J, K) 16 . J Die Untersuchungen und die Lesekunst von Georg Rosa (1808/ 1809) 1. Untersuchungen über die Romanier oder sogenannten Wlachen, welche jenseits der Donau wohnen - Εξετάσεις ̟ερί των Ρωµαίων ή των ονοµαζοµένων Βλάχων όσοι κατοικούσιν αντι̟έραν του ∆ουνάβεως. Pesth 1808. 16 Detallierte Analysen und weiterführende bibliographische Angaben sind u. a. in Kahl 2006 und Kahl 2015 zu finden. <?page no="63"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 49 2. Măestria giovăsirii românešti ku litere latinešti, kare sânt literele românilor čele veki - Τέχνη της ρωµανικής αναγνώσεως µε Λατινικά γράµµατα, τα ο̟οία είναι τα ̟αλαιά γράµµατα των Ρωµάνων. Buda 1809. In seinen Untersuchungen geht es dem aus dem westmakedonischen Kailar (heute Ptolemaida) stammenden und in Pest als Arzt arbeitenden Georg Konstantin Rosa (1786-1847) vor allem um historische Phänomene. Er schreibt in deutscher und griechischer Sprache über das Nomadentum, über die ethnische Herkunft der Wlachen und über Aspekte ihrer Geschichte. Rosa sieht die romanischen Gruppen nördlich und südlich der Donau als Romanier, einschließlich der Bevölkerung in Siebenbürgen und dem Banat, die er als Brüder der Wlachen südlich der Donau (1808, 44, 98) bezeichnet. Für Aussagen zum verwendeten Aromunisch ist die Liste der romanischen Wörter in den Untersuchungen (ab S. 68) von Interesse, die romanisch, griechisch und lateinisch gegenüberstellt, während in der Lesekunst vor allem die Schreibweise und die didaktische Methode von Bedeutung ist. Rosa war offensichtlich bestrebt, eine gemeinsame Schriftsprache für Rumänen und Aromunen zu schaffen. Obwohl er die Griechen als die „innigsten und ersten Nachbarn“ der Wlachen (1808, 78) bezeichnet, tritt Rosa für die Vereinigung der Aromunen mit den Rumänen ein: „Wir dürfen also diese Nationen voneinander gar nicht unterscheiden“ (1808, 98). Sein Denken war von der Siebenbürger Schule (Şcoala Ardeleană) der rumänischen Philologen (Samuil Micu, Gheorghe Şincai, Petru Maior) beeinflusst, die für eine Relatinisierung des Rumänischen - einschließlich des Aromunischen - eintraten. Sein Werk allerdings verfasste er auf Deutsch und auf Griechisch. Er macht vom Griechischen Gebrauch, um den „Nationalisten in Ungarn, dann in der Türkey und in den angränzenden Ländern, endlich allen andern die Sache verständlich zu machen“ und „weil man nicht nur den Romaniern, sondern auch allen andern, welche nur gemein griechisch verstehen und lesen, dienen will“ (1808, 6). Neben der Verwendung des Deutschen besteht die grundlegende Neuerung aber in der Verschriftlichung des Aromunischen anhand des lateinischen Alphabets. Er empfiehlt den Wlachen, in ihrer Sprache zu schreiben. Den Versuch Kavalliotis ʼ bezeichnet er als ungeeignet (1808, 143). Laut ihm möchten die „Romanier entweder die lateinische[n] oder die slawische[n] Buchstaben anwenden“ (S. 142). Die von Rosa verwendete Schreibweise scheint von den bisherigen Autoren kaum beeinflusst worden zu sein. Sie orientierte sich offensichtlich an anderen Vorbildern als den bisher behandelten Kodifizierungssystemen. Sie ist mal ans Deutsche (caschu, Schiarpe), mal ans Italienische (fazza) angelehnt. Caragiu Marioţeanu (1997, unpaginierter Anhang) bezeichnet Rosas Werk als „Versuch der sprachlichen Vereinigung des nördlichen und südlichen Rumä- <?page no="64"?> Thede Kahl - Elton Prifti 50 nisch. Ergebnis: ein aromunisiertes Dakorumänisch“. Bei diesem Versuch entstehen in der Tat zahlreiche Mischformen. In vielen Fällen ist jeweils diejenige Variante aufgenommen worden, die dem Lateinischen näher steht. Sprachgeographisch ist das aromunische Sprachmaterial tendenziell der rrāmāneshti-Dialektgruppe zuzuordnen (Kahl 2006, 259). Es fehlt eine konsequente graphematische Differenzierung zwischen den offenen und den mittleren Zentralvokalen ([a] vs. [ ǝ ] und gegebenenfalls [ ɨ ]) sowie zwischen den stimmlosen apiko-alveolaren und apiko-postalveolaren Frikativa ([s] vs. [ ʃ ]). Ein Jahr später (1809) hat Rosa dann das Lehrwerk parat, das diesem Ziel dienen soll. In seiner Lesekunst schreibt er zunächst kyrillisch (1809, 17, 18), wie es unter den Rumänen derzeit üblich war, empfiehlt dann aber zur Benutzung außerhalb der Kirche die lateinischen Buchstaben. Bereits im Titel seiner Lesekunst bezeichnet er sie als „die alten Buchstaben der Romanier“. K Die Grammatik von Michaël Bojadschi (1813) Γραµµατική ρωµανική, ήτοι µακεδονοβλαχική. Σχεδιασθείσα και ̟ρώτον εις φως αχθείσα υ̟ό Μιχαήλ Γ. Μ̟οϊατζή, διδασκάλου της ενταύθα α̟λοελληνικής σχολής. Romanische, oder Makedonowlachische Sprachlehre. Verfaßt und zum ersten Male herausgegeben von Michael G. Bojadschi, öffentlichen griechischen Lehrer der hiesigen National-Schule. Βιέννη 1813. Das zweisprachige Werk (Deutsch und Griechisch) des aus Moschopolis stammenden, in Buda geborenen und an der griechischen National-Schule in Wien tätigen Lehrers Michaël G. Bojadschi (ca. 1780 ca. 1842) stellt die erste Grammatik des Aromunischen dar, die zudem einen wissenschaftlichen Anspruch hat. Sie bildet einen Meilenstein im Kodifizierungsprozess und besitzt einen besonderen symbolischen Stellenwert 17 . Die Grammatik erfuhr 1863, 1915 und 1988 Neuauflagen bzw. Abdrucke 18 . Die Grammatik, die sich sowohl an Aromunen auf dem Balkan als auch an die nach Österreich- Ungarn ausgewanderten Aromunen richtete, stellt zugleich die erste aromunische Textsammlung mit nicht-religiösem Inhalt dar. Dem Grammatikteil folgen Beispieltexte und Dialoge aus der Alltagssprache, die in Aromunisch mit lateinischer Schrift geschrieben und mit deutscher und griechischer Übersetzung versehen sind. Charakteristisch für das Kodifizierungssystem Bojadschis, der zahlreiche andere Werke verfasste, darunter auch eine griechische Grammatik und eine serbische Fibel, ist die Einbezie- 17 Dem 200-jährigen Jubiläum des Erscheinens der Grammatik wurde im Oktober 2013 in Wien an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ein internationales wissenschaftliches Symposium gewidmet. 18 Die Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf die Ausgabe von Papahagi (1915) und entsprechen damit dem Nachdruck 1988. <?page no="65"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 51 hung ungarischer Graphemkombinationen, wie gy und cs. Er unterscheidet zwischen den Zentralvokalen [ ǝ ] und [ ɨ ] nicht. Es ist wichtig, der Intention Bojadschis nachzugehen. Laut Dahmen (1988, I/ 15) ist Bojadschi „von den latinisierenden Tendenzen seiner Zeit beeinflußt, ohne sich in dem Maße zu versteigen, wie es noch wenige Jahre zuvor G. C. Rosa getan hatte. Er betont den romanischen Charakter des Aromunischen, faßt auch Dakorumänisch und Aromunisch als Einheit auf, will aber nicht eine gemeinsame Schriftsprache schaffen, sondern eine möglichst klare und eindeutige aromunische Schriftsprache“. Konträr dazu erscheint die Interpretation Pericle Papahagis (1915, XIV): „Nu urmăreşte crearea unei limbi a parte pentru Aromâni, acest învăţat, pătruns de sigur de ideea, că toţi Românii trebuie să se servească de o singură limbă literară” („Dieser Gelehrte strebt keine eigene Sprache für die Aromunen an, sicher weil er der Meinung ist, dass sich alle Rumänen einer einzigen Schriftsprache bedienen müssen)”. Bojadschis innovative Wahl einiger Grapheme zur Wiedergabe von auch im Dakorumänischen vorkommenden aromunischen Phonemen und die - teilweise sogar etwas forcierte - Hervorhebung zahlreicher lexikalischer und grammatischer aromunischer Besonderheiten deuten auf eine Autonomi sierungstendenz des Aromunischen hin, die sich zum einen in der Abgrenzung dem griechischen Sprach- und Kultureinfluss gegenüber und zum anderen in der Romanisierung bzw. Latinisierung fassbar machte. Mitte des 19. Jahrhunderts wird durch die rumänische Nationalbewegung und die Etablierung der aromunischen Diaspora in Österreich-Ungarn, insbesondere in Bukarest, eine Rumänisierungstendenz des Aromunischen immer deutlicher. Es verbreiten sich allmählich sogenannte aromunische Schulen 19 , in denen jedoch auf Rumänisch unterrichtet wird, und die, wie Dahmen mit Recht hervorhebt (1991, 33), zum Ziel hatten, das Aromunische näher an das Rumänische zu führen. Als Grundlage für die Alphabetisierung in diesen Schulen diente die rumänische Orthographie, die sich in der Serie von Fibeln und Grammatiken widerspiegelte, die während dieser Phase entstanden. Die erste aromunische Schule geht auf das Jahr 1863 in Trnovo (bei Monastir/ Bitola) zurück. Laut Dahmen (1991, 32) stieg im Jahre 1889 die Zahl der Schulen auf 32 bzw. auf 118 im Jahre 1912. Dimitrie Atanasescu, Gründer der ersten aromunischen Schule, ist auch der Autor einer Serie von Fibeln (1864, 1867, 1882), denen weitere verschiedene Autoren folgten, die auch als Lehrer in diesen Schulen tätig waren (Dahmen 1991, 33). Parallel 19 Als „Schule“ wurden gewöhnlich Zusammensetzungen von ca. 5-30 Schülern unterschiedlicher Altersgruppen bezeichnet, die Lesen und Schreiben lernten. - <?page no="66"?> Thede Kahl - Elton Prifti 52 dazu entwickelte sich auch eine aromunische Presse, die ausschließlich in Bukarest gedruckt wurde und rumänisches Alphabet und Orthographie verwendete. Zu den aromunischen Zeitungen dieser Phase, die in der Regel sehr kurzlebig waren, zählen Albina Pindului (1868), Frăţilia întru Dreptate (1880), Macedonia (1888), Peninsula Balcanică (1893) und Gazeta Macedoniei (1897) (nach Dahmen 1991, 34). Diese Tendenz setzte sich weiter bis zum Zweiten Weltkrieg fort. 3.3 Dritte Phase Die Unterscheidung der dritten Kodifizierungsphase (ca. 1940-1990) ist vorrangig durch politische und außersprachliche Faktoren bedingt, die ebenfalls eine innere, räumlich basierte, vierfache Differenzierung erforderlich machen. 3.3.1 Griechenland Während dieser Phase sind in Griechenland keine nennenswerten Kodifizierungsversuche zu verzeichnen. Die dort vorherrschende, ablehnende Haltung gegenüber Minderheiten förderte keinerlei endemische Entwicklungen im Kodifizierungsprozess. Gegen Ende dieser Phase ist allein die Veröffentlichung von Liedern und Märchen der Aromunen Griechenlands von Παδιώτης (1988; 1991) und Πα̟αζήση-Πα̟αθεοδώρου (1985; 1996) zu erwähnen, wobei das lateinische Alphabet genutzt wurde. Dadurch wurde eine nahezu 300jährige Tradition gebrochen, was auch für scharfe Kritik in der Öffentlichkeit sorgte (Kahl 2015, 140). 3.3.2 Albanien und Ex-Jugoslawien In den Jahrzehnten des Regimes in Albanien und in Ex-Jugoslawien (Makedonien) lagen für die Fortführung des Kodifizierungsprozesses keine günstigen Bedingungen vor. Das Aromunische wurde in keiner Form gefördert. Der aromunischen Gemeinschaft zuzugehören und Aromunisch zu sprechen waren keine günstigen Faktoren für die soziale Mobilität (Prifti (im Druck), Kap. 5). Im Hinblick auf die Verschriftungsdynamik des Aromunischen während dieser Phase in Albanien und Ex-Jugoslawien (in Makedonien) ist eine weitere Differenzierung notwendig. Die Philologen, die sich nur in geringem Maße mit dem Aromunischen befassten, orientierten sich an der Tradition der rumänischen Aromunistik, die stark dakorumänisch geprägt ist. Die Aromunen selbst benutzten das Aromunische im schriftsprachlichen Gebrauch nur gelegentlich. In jenen Fällen der Verschriftlichung des Aromunischen lag natürlicherweise das Alphabet- und Orthographiesystem der <?page no="67"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 53 Sprache zugrunde, in der der Schreiber alphabetisiert wurde. Die Aromunen der Republik Makedonien haben vom kyrillischen Alphabet Gebrauch gemacht, jene Albaniens vom lateinisch basierten Alphabet, welches auf das Jahr 1908 in Manastir zurückgeht (z. B. Prifti 2009). Es sind uns keine aromunischen Publikationen bekannt, die dieser Phase entstammen. Aromunische Blätter und Zeitungen sind nicht erschienen bzw. waren verboten. 3.3.3 Rumänien Die aromunische Gemeinschaft Rumäniens ist hauptsächlich im 19. Jahrhundert der politisch-wirtschaftlichen Migration der Aromunen Griechenlands zufolge entstanden. Die dort weitestgehend vorherrschende traditionelle Wahrnehmung des Aromunischen ist durch eine untergeordnete hierarchische Beziehung zum Rumänischen gekennzeichnet. Auch wegen außenpolitischer Interessen, die eingangs skizziert wurden, ist das Interesse am Aromunischen während dieser Phase ständig höher gewesen als in den weiteren Ländern Südosteuropas. Ein hoher Stellenwert wurde dabei der Verwendung des rumänischen Alphabet- und Orthographiesystems bei der Verschriftlichung des Aromunischen beigemessen. In allen staatlich geförderten aromunischen Fibeln, Grammatiken, Lesebüchern u. ä. spiegelt sich die rumänische Tradition wider, wie auch die Verschriftlichung des Aromunischen seitens der Sprecher selbst dieser Tradition folgte. 3.3.4 Westeuropa und USA Der Migration zufolge haben sich in einigen westeuropäischen und Überseezentren kleine aromunische Enklaven herausgebildet, die einen wichtigen Beitrag zum Kodifizierungsprozess des Aromunischen geleistet haben. In den in der dritten Phase von Exilaromunen unternommenen Verschriftlichungsversuchen finden sich alle Traditionen wieder, wobei die am stärksten vertretene die sogenannte „Autonomisierungs“-tendenz war. Weitgehend frei von kulturellem und politischem Assimilierungsdruck und als Ausdrucksform der Reaktion des in Südosteuropa auf das Aromunische ausgeübten Druckes entfaltete und konsolidierte sich allmählich eine aromunische Identität, die durch die bewusste Distanzierung von Rumänien, Griechenland sowie - nur in geringem Maße - Albanien gestärkt wurde. Als Marker dieses neuen Identitätsbildungsprozesses dient die Verschriftlichungstradition, der man sich beim schriftsprachlichen Gebrauch des Aromunischen bedient. Die Autonomisierungstendenz stellte eine konvergierende, plurizentrische Entwicklung dar. Es soll an dieser Stelle die Tätigkeit der aromunischen Gemeinschaft Südwestdeutschlands hervorgehoben werden, die in der Zeit zwischen 1984 und 2003 die Zeitschrift Zborlu a nostru <?page no="68"?> Thede Kahl - Elton Prifti 54 herausgab. Der Gründer der Zeitschrift, Vasile Barba, erarbeitete gemeinsam mit Nicolae Saramandu, Tiberius Cunia und Apostol Caciuperi 1985 ein Alphabet- und Orthographiesystem für das Aromunische, welches auf der lateinischen Alphabettradition und auf dem Prinzip der Einfachheit basiert und anfänglich in Zborlu a Nostru V/ 3, 123-128 vorgestellt wurde. Charakteristisch für dieses Kodifizierungssystem sind die Digramme sh, ts, die Kennzeichnung der Palatalität durch j (lj, nj) sowie das Graphem -, welches für den Zentrallaut steht. 3.4 Vierte Kodifizierungsphase: seit ca. 1985 Der Fall des Eisernen Vorhangs schuf neue, günstige Voraussetzungen für eine neue Dynamik im Kodifizierungsprozess des Aromunischen. Die Öffnung der zentralistisch geführten Staaten des Ostblocks nahm den Druck weg, dem das Aromunische ausgesetzt war. Das Aromunische gewann graduell an Prestige 20 , insbesondere in Albanien. Bei der Betrachtung der neuen aromunischen Literatur fällt eine starke Zunahme gedruckter Werke in Aromunisch auf, was auf die Konsolidierung und Manifestierung einer aromunischen Identität hindeutet (Dahmen 2005). Seit drei Jahrzehnten erscheinen Romane, Gedichtbände, Übersetzungen der Weltliteratur und Biographien in beeindruckender Geschwindigkeit und weniger beeindruckender Qualität. Die digitalen Massenmedien, insbesondere die sozialen Netzwerke, geben wichtige Impulse im Kodifizierungsprozess des Aromunischen. Auch für diese Phase ist eine räumlich differenzierte Beschreibung der Kodifizierungsdynamiken erforderlich. 3.4.1 Griechenland Im Vergleich zur vorausgehenden Phase haben sich im Kodifizierungsprozess des Aromunischen kaum Unterschiede ergeben. Wenn überhaupt das Aromunische schriftlich gebraucht wird, dann auf der Grundlage des griechischen Alphabets. Dahmen (1991, 36) beschreibt treffend den kausalen Zusammenhang wie folgt: „es gibt wohl kaum einen zweiten Staat in Europa, wo der Gebrauch einer anderen Schrift als der der Staatssprache als größerer Bruch der Loyalität gegenüber diesem Staate empfunden würde als gerade in Griechenland.“ Die Intoleranz gegenüber der auf dem lateinischen Alphabet basierten Verschriftung des Aromunischen und überhaupt das Interesse an der Sprache werden in Griechenland in der Regel mit rumäni- 20 Cf. hierzu auch Dahmen (2005, 74-76) <?page no="69"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 55 scher Propaganda assoziiert, auch wenn man sich eindeutig um die Erhaltung des Aromunischen bemüht. In jenen sporadischen Fällen des schriftsprachlichen Gebrauchs des Aromunischen seitens der Sprecher werden ausnahmslos die griechischen Alphabet- und Orthographiesysteme verwendet, wie anhand der Abbildung 1 21 illustriert wird. Im Hinblick auf die Kodifizierung des Aromunischen seitens der Philologen, die sich in Griechenland mit dem Aromunischen beschäftigen, wird regelmäßig das griechische Alphabet verwendet, wobei die für das Griechische fremden aromunischen Phoneme gewöhnlich mittels Diakritika wiedergegeben werden, wie es beispielsweise Καραΐσκος (1999, 10-11) handhabt. Bei der Durchsetzung der graphematischen Lösungen bei Verschriftlichungsinitiativen auf griechischer Grundlage fehlt es manchmal an Konsequenz 22 . Gelungene Beispiele stellen hingegen das Lexikon Προκόβας 2006 oder Πλατάρης-Τζήµας 1997 dar, welches zehn Jahre später in erweiterter Form veröffentlicht wurde, wobei der Autor interessanterweise nun vom lateinischen Alphabet Gebrauch macht. Solche Initiativen kommen allerdings nur sehr sporadisch vor. Ein weiteres Beispiel dafür ist die auf Griechisch verfasste Grammatik des Aromunischen (Κατσάνης 1990). Das dort genutzte Alphabetsystem richtet sich weitgehend nach dem von Weigand verwendeten und an slawische Traditionen angelehnten Orthographiesystem, wobei die Grapheme dž, š, tš, ž, δ, γ und θ jeweils für die Phoneme [ʤ] , [ʃ] , [ʧ] , [ʒ] , [ ð ] , [ɣ] und [ θ ] stehen. Für den Sprachunterricht des Aromunischen, der vom Aromunischen Kulturverein in Veria fakultativ angeboten wird, findet das Lehrbuch Γεωργίου 2009 Gebrauch, das parallel in lateinischer und griechischer Schrift gehalten ist. In Griechenland erscheint gegenwärtig keine - gänzlich oder teilweise - auf Aromunisch verfasste Zeitschrift. 3.4.2 Albanien Der Kodifizierungs- und Standardisierungsprozess des Aromunischen in Albanien während der vierten Phase kann als besonders dynamisch und vielseitig bezeichnet werden. Generell ist eine Steigerung des Prestiges des Aromunischen festzustellen, obwohl das Albanische seine Dominanz beibehält (Prifti, im Druck, Kap. 6). Die Gründe für das steigende öffentliche Ansehen des Aromunischen sind sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Art. Albanische Staatsbürger aromunischer Abstammung gelten für die 21 Cf. auch die Abbildungen in Kahl 2015, 139. 22 Cf. z. B. die Anmerkungen Kahls (Kahl 2015, 140) über das in Στεργίου 2001 genutzte Kodifizierungssystem. <?page no="70"?> Thede Kahl - Elton Prifti 56 griechische Innenpolitik als Exilgriechen und können als solche von erleichterten Bedingungen als Arbeitsmigranten oder, im Falle der Studierenden, als Stipendiaten in Griechenland profitieren. Diejenigen, die das Rentenalter erreicht haben, waren bis vor Kurzem sogar berechtigt, über die albanische Rente hinaus auch die griechische Mindestrente zu beziehen, die für mehrere 23 Familien eine sehr begehrte Einnahmequelle darstellt. Als praktischer Nachweis zur Erlangung des Status gelten gewöhnlich aromunische Sprachkenntnisse, die im Rahmen von Interviews überprüft werden. Beobachtungen zufolge führte dies zu einer „Reanimation“ des stark unter Druck geratenen Aromunischen, die jedoch kaum Auswirkungen auf dem Assimilationsfortschritt hat. Dadurch intensivierte sich aber der Austausch zwischen den Aromunen Griechenlands und denen Albaniens kaum. Fälle der Verwendung des griechischen Alphabets für die Verschriftlichung des Aromunischen Albaniens in dieser Phase sind keine bekannt. Während dieser Phase, insbesondere in den ersten 15-20 Jahren, zeichnete sich in der rumänischen Außenpolitik ein zunehmendes Interesse für die Aromunen Albaniens ab, das u. a. in der Förderung von jungen Aromunen durch Stipendien für rumänische Hochschulen oder in der Unterstützung von an Rumänien orientierten aromunischen Vereinen und Gesellschaften zum Ausdruck kamen 24 . Aromunische Publikationen und Zeitschriften wurden weitgehend in Rumänien veröffentlicht. Im Hinblick auf die Kodifizierung brachten diese Förderungsformen eine Verbreitung des rumänischen Orthographiesystems für die aromunische Literatur und die Periodika, die während dieser Phase in Albanien erschienen sind. Der Einfluss dieses Orthographiesystems ist auch bei den Publikationen einiger Autoren spürbar, die bei der Verschriftlichung des Aromunischen auf die Orthographie des Albanischen zurückgreifen. 25 Dasselbe ist auch in Fällen der Verschriftlichung des Aromunischen von Sprechern festzustellen, die auf Albanisch alphabetisiert wurden, wie die folgende Abbildung (Abb. 8) zeigt. Dabei handelt es sich um eine Seite eines aromunisch-albanischen Glossars, 23 Schätzungen der albanischen Presse (cf. u.a. TemaOnline, 24.05.2014) zufolge sollen ca. 23.000 Personen eine griechische Rente beziehen. Der aromunische Anteil beträgt dabei schätzungsweise ca. 60 %. 24 Cf. auch Dahmen 2005, 76. 25 Man beachte z.B. die Verwendung des Graphems c im folgenden Gedicht von Josif Doja (in Milosao, 27.10.2013, 16): „Di ahtënt anj vini qërou, Noi Sëruna nu shëdem, Ma ni strigë amereu, Mënë di mënë s-ni acëcëm, Sots cu sots u s-ni adunëm, Tuts pi trenu s-ëncëlcëm, Ojli, cëprë s-li vëndem, Tu Allvania noi s-nëdzem.“. <?page no="71"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 57 welches von einem 80jährigen Albaner aromunischer Abstammung für den eigenen Gebrauch erstellt wurde. Abb. 8: Auszug aus einem aromunisch-albanischen Glossar (Autor: I. Piperi, Korçë, 2002) Es ist auch eine dritte, jedoch schwächere Tendenz bei der Kodifizierung des Aromunischen festzustellen, für die die Verwendung des sogenannten „neuen“ aromunischen Alphabets charakteristisch ist, das sich bereits zuvor in der aromunischen Diaspora konsolidiert hatte. Die auf die Aromunen fokussierten, konkurrierenden außenpolitischen Interessen Griechenlands und Rumäniens brachten eine starke Politisierung und Spaltung der Aromunen Albaniens mit sich, was den Fortschritt des Kodifizierungssystems gebremst hat. Die Verwendung des rumänischen Orthographiesystems bzw. der typischen Grapheme fungiert als Marker der außenpolitischen Orientierung der Vereine, Schulen und Zeitungen an Rumänien. Seit der griechischen Krise und der Minderung der politischen Interessen Rumäniens an den Aromunen Albaniens ist in den letzten Jahren erneut eine Stärkung aromunischer Identität unter der Aromunen Albaniens festzustellen. Dies verleiht dem plurizentrischen Entwicklungsprozess des Aromunischen neuen Schwung. Die wichtigsten aromunischen Zeitschriften, die in Albanien erscheinen, sind die mit Hilfe des rumänischen Außenministeriums gedruckte Fraţia <?page no="72"?> Thede Kahl - Elton Prifti 58 Vëllazëria (seit 1996, Tiranë), die unabhängige Fârshârotu (seit 2004, Gjirokastër) und die an Rumänien orientierte Arumunët / Vllehtë (seit 2011, Durrës). 3.4.3 Rumänien Das rumänische Orthographiesystem ist bei der Verschriftlichung des Aromunischen in Rumänien nach wie vor dominant, trotz der dortigen zunehmenden Konsolidierung und Verbreitung des aromunischen Alphabets, welches nicht selten auf Ablehnung stößt. So nannte es der in Rumänien wirkende Schriftsteller aromunischer Herkunft Cândroveanu (1995, 71) bizarr und barbarisch. Entsprechend äußert er sich verächtlich über entsprechende Publikationen und jede aromunische Orthographie, die sich von der rumänischen abhebt (1995, 31). Der Verlag Editura Dimândarea hat mehrere aromunische Publikationen und Periodika herausgegeben, in denen das rumänische Orthographiesystem Gebrauch findet. Auch die Bukarester Editura Fundaţiei Culturale Aromâne verwendet in ihren Veröffentlichungen die rumänische Orthographie sowohl für das Rumänische als auch für das Aromunische. Die aromunische Presse Rumäniens erfuhr und erfährt teilweise staatliche finanzielle Unterstützung, wie im Falle von Deşteptarea - Revista Aromânilor bzw. von Dimândarea, die jeweils seit 1990 und 1994 monatlich bzw. vierteljährlich in Bukarest unter der Leitung von Hristu Cândroveanu erscheinen, oder von Almanah macedo-român (seit 1992, Bukarest). Im Gegensatz wird für die ebenfalls in Bukarest erscheinende Bana arm-neasc- das aromunische Alphabet auf Grundlage der Beschlüsse von Bitola 1997 verwendet, wobei gezielt versucht wird - oft alles andere als erfolgreich - rumänische Einflüsse zu verdrängen. 3.4.4 Republik Makedonien Die Vorreiterrolle bei der Publikation aromunischer Werke kommt im späten 20. Jahrhundert nicht mehr Rumänien, sondern der Republik Makedonien zu. Die Bücher von Ianachieschi-Vlahu hatten sprachreformierende Wirkung, die sich jedoch auf die Republik Makedonien beschränkte, wo sie im Schulunterricht eingesetzt werden. Das Lehrbuch (1997) und die Grammatik (1993) lösen das Problem der Orthographie einheitlich durch die Verwendung des in der Republik Makedonien und der Diaspora üblichen Alphabets, welches durch die Verwendung der typischen Grapheme -, dz, gh, lj, nj, ts und y gekennzeichnet ist. Die Publikationen der Biblioteca Natsional- Arm-neasc- aus Skopje erscheinen weitgehend im selben Alphabet, bei dem neben dem Graphem - auch â, à, è und ù verwendet werden, die offenbar Kürze der Vokale kennzeichnen sollen (z. B. in dauù-, dzuù-). Ihre Verwen- <?page no="73"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 59 dung ist jedoch inkonsequent und für den Leser weitgehend verwirrend. Grailu arm-nescu wird in Skopje vom Kulturverein Unia ti cultur--a Arm-njlor dit Machidunii herausgegeben. 3.4.5. Bulgarien Die rumänisch-orientierte Suţata Armâńilor Sofia (Assoziation der Aromunen Sofia) gibt die Zeitschrift Armânlu heraus, die erstmals 1998 erschien. Neben ihr erscheint in Bulgarien bei den Donau-Vlachen die Zeitschrift Timpul - Vreme. Weitere aromunische Vereine sind in Velingrad und Dupnica tätig, die vorwiegend Beziehungen zu den aromunischen Vereinen in Belgrad und Skopje haben. 26 Dabei sind keine relevanten Aktivitäten zu verzeichnen, die zum Kodifizierungprozess beitragen. 3.4.6 Serbien Das einzige aromunische Blatt Serbiens trägt den Titel Lunjina und wird vom Serbisch-Zinzarischen Freundschaftsverein (Srpsko-Cincarski Društva) herausgegeben. Im Hinblick auf die Verschriftlichung des Aromunischen ist dabei der Einfluss der Kodifizierungstendenz in der Republik Makedonien deutlich spürbar. 3.4.7 Diaspora Es lässt sich allgemein feststellen, dass sich das in der Diaspora entstandene aromunische Alphabet etabliert hat und zumindest dort den größten Zuspruch findet. Dennoch sorgt die Nutzung einiger weniger Grapheme für Diskussionen - manchmal sogar für Spaltungen - unter den aromunischen Organisationen und Individuen. Das besagte Alphabet wird für die Bücher der Editura Cartea Arom-n- in Syracuse benutzt, welches in der Einleitung eines jeden Werkes abgedruckt wird. Diakritische Zeichen des Rumänischen werden nicht verwendet (stattdessen ts, sh, nj, lj, dz), zwischen ă und â wird nicht unterschieden (stattdessen -). 27 Die Wahl dieses Alphabets signalisiert für manche Autoren auch eine Distanzierung von Rumänien. Die identitätsmarkierende Funktion der Wahl oder der Nicht-Wahl besonderer Grapheme wird beispielsweise bei der folgenden Aussage des aromunischschreibenden Dichters Dina Cuvata deutlich, in dem er die typischen rumänischen Grapheme ş und ţ jeweils als „s cu un cicior shcljiop pirghios“ („s 26 Weitere Angaben sind in Kahl 1999, 81-82 zu finden. 27 Eine bis 2005 vollständige Liste der Veröffentlichungen der Verlage Editura Cartea Arom-n-, Editura Fundaţiei Culturale Aromâne sowie der Biblioteca Natsional- Arm-neasc- ist in Kahl 2005 enthalten. <?page no="74"?> Thede Kahl - Elton Prifti 60 mit einem Humpelfuß drunter”) und als „t cu coada di lup“ („t mit Wolfsschwanz”) nennt, welches „statt unseres schönen ts“ verwendet wird (Cuvata 2001, 294). Abschließend gibt es auch die wissenschaftlichen Aktivitäten, die während dieser Phase von der aromunischen Diaspora initiiert wurden bzw. in Zusammenarbeit mit ihr stattgefunden haben. Dazu zählt vor allem die Reihe der Internationalen Kongresse der Aromunischen Sprache und Kultur, in denen es wiederholt auch um die Standardisierung bzw. um die Kodifizierung des Aromunischen ging. Diese Frage hat dabei regelmäßig auch für ideologische Spaltungen zwischen den aromunischen Organisationen gesorgt. Der Erste Internationale Kongreß für Aromunische Sprache und Kultur fand im September 1985 an der Universität Mannheim statt (Rohr 1987). Die vier darauffolgenden Editionen des Kongresses (2.-5.) fanden in Freiburg statt (jeweils im August 1988, im September 1993, im September 1996 und im Juni 1999) und gehen größtenteils, wie bereits erwähnt (3.3.4), auf das Engagement der Union für aromunische Sprache und Kultur (UASK) mit Sitz in Freiburg zurück. Obwohl der Frage der Kodifizierung bei den Kongressarbeiten zunehmend Beachtung geschenkt wurde, konnte im Hinblick darauf keine Einigung erzielt werden. Eine besondere Relevanz kommt dem Kongress zur Vereinheitlichung der Schreibweise des Aromunischen zu, der 1997 in Bitola stattfand, dessen Regeln bei Cunia (1999; 2011) nachzulesen sind. Tiberius Cunia, als einer der Organisatoren des Kongresses, ist ebenfalls Autor eines im Internet verbreiteten aromunischen Sprach- und Schreibkurses (Cunia 2013). Im Oktober 2013 fand in Wien ein weiterer Aromunistik-Kongress statt, dessen Anlass das 200-jährige Jubiläum des Erscheinens der Grammatik von Bojadschi war. Die Kodifizierung wurde im Rahmen einiger Vorträge problematisiert, wobei auch Perspektiven und Desiderata beschrieben wurden. 4 Fazit und Desiderata Die dreihundertjährige Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen ist durch eine ausgeprägte Dynamik gekennzeichnet. Sie ist räumlich und zeitlich stark differenziert. Der Kodifizierungsprozess des Aromunischen, der noch nicht zu einem vereinheitlichten Alphabet- und Orthographiesystem geführt hat, ist, wie auch die aromunische Identität, plurizentrisch. Dies ist auf den Einfluss vielfältiger außersprachlichen Faktoren zurückzuführen, die an erster Stelle (national)politischer und kulturgeschichtlicher Art sind. Aufgrund dieser Faktoren, die die Entwicklungsdynamik der Standardisierung des Aromunischen bedingt haben, lässt sich die Kodifizierungsge- <?page no="75"?> Geschichte der Kodifizierung des Aromunischen 61 schichte in vier ineinander greifende Phasen eingliedern (ca. 1730-1840, ca. 1820-1945, ca. 1945-1990 sowie seit ca. 1985). Dabei fallen drei stark rivalisierende Haupttendenzen auf. 1. Die Hellenisierungstendenz beruht auf der Nutzung des griechischen Alphabets. Ihre Dominanz ist weitgehend auf den griechischen Sprachraum und zeitlich auf die erste Kodifizierungsphase beschränkt. 2. Die auf die Nutzung des rumänischen Alphabet- und Orthographiesystem zurückgehende Rumänisierungstendenz dominierte vorrangig die zweite Kodifizierungsphase. Ihr Ausgangsraum ist Rumänien. Sie erreichte die größte Verbreitung bei den Aromunen Rumäniens und Albaniens. 3. Die dritte Tendenz, die sich gegenwärtig zunehmend konsolidiert, ist die der „Aromunisierung“ und Autonomisierung. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs findet diese Tendenz, die bereits auf die zweiten Kodifizierungsphase zurückgeht, auch in den Balkanstaaten zunehmend Verbreitung, wo Aromunen leben, insbesondere in der Republik Makedonien sowie ferner in Albanien. Räumlich entwickelte sie sich außerhalb Südosteuropas bei den Exilaromunen. Die starke Politisierung des Kodifizierungsprozesses neben der räumlichen Dispersität der Aromunen hemmt die Verbreitung eines vereinheitlichten Alphabet- und Orthographiesystems. Die Entschärfung des nationalistischen Denkens ist zur erfolgreichen Annahme eines allgemein akzeptierten Orthographiesystems unentbehrlich. Obwohl es bis dahin noch ein langer Weg ist, scheint die aromunische Kodifizierungstradition als Vorstufe eines sich noch in den Anfängen befindenden Standardisierungsprozesses eine erfolgreiche Alternative zu sein. Bibliographie Cândroveanu, Hristu: Aromânii ieri şi azi. Craiova, 1995. Caragiu Marioţeanu, Matilda: Liturghier Armînesc. Un manuscris anonim inedit. Bucureşti, 1962. Caragiu Marioţeanu, Matilda: Dicţionar aromân (macedo-vlah). Bd. 1 (A-D), Bucureşti, 1997. Cunia, Tiberius: On the Standardization of the Aromunian System of Writing. The Bituli- Macedonia Symposium of August 1997. Vorträge auf dem 5. Internationalen Kongress für aromunische Sprache und Kultur, 25.-26. Juni 1999, Freiburg. 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In: Jahresberichte des Instituts für Rumänische Sprache zu Leipzig 4 (1897), 136-227; 5 (1898), 192-297; 6 (1898/ 99), 186-173. <?page no="79"?> Lorenzo Filipponio (Zürich) Romanische Kleinsprachen gestern: Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung (mit einem Beitrag zur romanischen Vokallänge) Dieser Aufsatz besteht aus zwei Teilen: im ersten Teil (§1) werden die Situation der Vokallänge im Galloitalienischen, Zentralfriaulischen und anderen romanischen Varietäten und die Rolle der romanischen Diphthongierung in dieser Konstellation skizziert; im zweiten Teil (§2) werden angesichts der im ersten Teil festgelegten Grundlagen die Ergebnisse von lateinischen betonten Ĕ und Ŏ in neun altfriaulischen Texten analysiert. Anschließlich ist ein kurzes Fazit zu lesen. 1. Vokallänge und romanische Diphthongierung in den Romanischen Sprachen 1.1. Vokallänge in Norditalien In zahlreichen galloitalienischen 1 Mundarten sind die Längenunterschiede der betonten Vokale phonologisch relevant. Einige Varietäten (z.B. Emilianisch und Südlombardisch 2 ) zeigen diese Opposition sowohl in Paroxytona als auch in (sekundären) Oxytona. 3 (1) Cremonesisch (vgl. Rossini 1975): / ˈpa ː la/ ‚Schaufel‘ ~ / ˈspala/ ‚Schulter‘; / pa ː s/ ‚Frieden‘ ~ / pas/ ‚Schritt‘ In anderen Mundarten (z.B. Westlombardisch) ist die Opposition auf die (sekundären) Oxytona beschränkt (vgl. Sanga 1984, 60-64). 1 Der Begriff Galloitalienisch ist hier im Sinne von G.B. Pellegrini (1992) gemeint: die italoromanischen Mundarten nördlich der La Spezia-Rimini Linie (besser: Carrara-Fano) außer den Venezischen (und selbstverständlich dem Friaulischen: vgl. unten §1.2). 2 Die südlombardischen Mundarten von Cremona und Mantua zeigen viele Gemeinsamkeiten mit den benachbarten emilianischen Dialekten (vgl. Lurati 1988, 487). 3 Damit meine ich Paroxytona, die nach der Apokope des auslautenden unbetonten Vokals zu Oxytona geworden sind. <?page no="80"?> Lorenzo Filipponio 66 (2) Mailändisch: / ˈpala/ , / ˈspala/ 4 ; / pa ː s/ ~ / pas/ Diese Vokallängenunterschiede sind auf die spätlateinische Dehnung der kurzen betonten Vokale in offener Silbe zurückzuführen. 5 Dieses Phänomen kann als Endphase des Auflösungsprozesses der klassischen lateinischen Wortstruktur betrachtet werden. Die für das Lateinische charakteristische Unabhängigkeit zwischen Akzentstellung und Silbengewicht, die durch ganz normale Sequenzen wie z.B. ˈ RŎ $ SĀS erkennbar ist, wird erst durch die allmähliche Verschwindung langer unbetonter Vokale, 6 dann durch die oben erwähnte Dehnung eingestellt. Infolge dieses Phänomens ist die Länge der betonten Vokale silbisch bedingt und phonologisch nicht mehr relevant (ˈ LĂ $ TUS ‚Seite‘ ~ ˈ LĀ $ TUS ‚breit‘ > [ˈla ː tu(s)] = [ˈla ː tu(s)]). Es bleiben dann nur betonte Silben mit zwei Moren, und zwar mit langen Vokalen in offener Silbe ( $ ˈCV ː $ ) resp. mit kurzen Vokalen in geschlossener Silbe ( $ ˈCVC $ ). Ein neulateinisches rhythmisches Muster, in dem sich Akzentstellung und größeres Silbengewicht tendenziell überschneiden, ist dadurch entstanden. 7 In vielen romanischen Varietäten, wie z.B. das Toskanische, bleiben die vom Spätlatein geerbten silbisch bedingten Längenunterschiede in betonten Vokalen phonetisch erhalten: (3) [ˈpa ː la], [ˈspal ː a]; [ˈka ː ro] ‚lieb, teuer‘, [ˈkar ː o] ‚Wagen, Karre‘ (aber / ˈpala/ ~ / ˈspal ː a/ ; / ˈkaro/ ~ / ˈkar ː o/ ) In einem nördlichen Teil der Romania sind diese phonetischen Unterschiede wieder phonologisch relevant geworden: Durch die Reduktion der nachtonigen Geminaten ([ˈpa ː la], [ˈspal ː a] > / ˈpa ː la/ ~ / ˈspala/ ) wird dies sofort ablesbar. Es gilt auch für alle Varietäten Norditaliens, deren Zustand jenem 4 Im Wörterbuch von Cherubini (Bd. IV, 1843, 258) als <spalla> transkribiert, wobei die Konsonantenlänge keine phonologische Relevanz hat. 5 Siehe z.B. Haudricourt/ Juilland (1949), Lüdtke (1956), Weinrich (1958), Morin (2003), Loporcaro (2011a; 2015), Filipponio (2012a). 6 Ein Zeichen dafür sind die Quantitätsfehler bei den unbetonten Vokalen in den metrischen Inschriften, die bereits ab dem ersten Jahrhundert n.Chr. auftreten (vgl. Herman 1982). 7 Diese Entwicklung kann laut dem rhythmischen Modell von Bertinetto und Bertini (2010) als ein Durchgang von einer Kontrolle-Struktur, in der die Gewichtsverhältnisse zwischen betonten und unbetonten Silben beibehalten werden, zu einer Kompensation- Struktur, in der die betonten Silben Platz innerhalb der phonetisch-prosodischen Kette zu Ungunsten der Unbetonten allmählich gewonnen haben (vgl. die Skizze in Filipponio 2012b). Es muss behauptet werden, dass diese Tendenz mit extrem unterschiedlicher Stärke und verschiedenen Chronologien im Romanischen Sprachgebiet aufgetreten ist (vgl. unten §§1.3-1.4), und zum Teil zurückgegangen ist (vgl. unten N. 10). <?page no="81"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 67 e ntspricht, der in den Beispielen (1) und (2) gezeigt worden ist. 8 Die Einschränkung der Kontexte, in denen die Vokallängenunterschiede stattfinden können, liegt an einem Abflachungsprozess, dessen Stufen mit der Zahl der unbetonten Silben nach dem Akzent verbunden sind: Je mehr unbetonte Silben es nach der betonten gab, desto früher sind lange betonte Vokale verschwunden. Die Proparoxytona waren die ersten, die dadurch betroffen waren: Der frühen Chronologie entspricht in diesem Fall die Breite des Phänomens, das praktisch in allen galloitalienischen Varietäten jeden langen Vokal verdrängt hat. 9 (4) * CARĬCU > Genua [ˈkaregu]; Sottoceneri (Tessin) [ˈkareg]; Porretta Terme (Prov. Bologna) [karg] Die nächste Stufe des Abflachungsprozesses betrifft die Paroxytona (vgl. Bsp. (2)). Sie fand nach dem Ausfall der unbetonten auslautenden Vokalen außer -a statt, wie man durch den Vergleich zwischen Formen wie / ˈpala/ und / pa ː s/ erkennen kann: Wenn bei der Abflachung / pa ː s/ noch als */ ˈpa ː se/ aufgetreten wäre, hätte dieses Wort - sowie alle anderen mit / (…)ˈV ː CV (≠a) / Struktur - das gleiche Schicksal von */ ˈpa ː la/ > / ˈpala/ erlebt, d.h. > **/ ˈpase/ (und danach **/ pas/ ). Der Auftritt der Apokope hat 8 Die konservativen Mundarten des emilianischen Apennins zeigen, dass eine vollständige nachtonige Degeminierung nicht erforderlich ist, um die phonologische Vokallänge zu erkennen. Dafür reicht die Opposition zwischen langen und kurzen betonten Vokalen im Auslaut, und zwar in einer nicht durch den folgenden Konsonant bedingte Stellung. Die Mundart von Lizzano in Belvedere (Provinz Bologna, vgl. Malagoli 1930), zum Beispiel, in der sich Worte wie / kanˈta/ ‚gesungen‘ und / kanˈta ː / ‚(ihr) singt‘ in allen Kontexten unterscheiden (Loporcaro et al. 2006, Filipponio 2012a, 43-49), beweist eine distinktive Vokallänge, ohne dass die Degeminierung der nachtonigen Konsonanten vollzogen worden ist, z.B. [ˈpasˑo] / ˈpaso/ ‚verwelkt, trocken‘ (Malagoli 1930, §25; wie das lombardische / pas/ ‚Schritt‘ - s. oben Bsp. (1) und (2) - aus * PASSU , Partizip von PANDĔRE ). Es kann aber auch der Fall sein, dass eine phonologische Vokallänge durch die Degeminierung entsteht ohne dass es Längenunterschiede bei den betonten auslautenden Vokalen gibt. So verhält sich z.B. die benachbarte Mundart von Monte di Badi. Für eine detaillierte Diskussion vgl. Filipponio (2012a, 245-251). 9 Diese Dreisilbenkürzung (Filipponio 2012b) fand natürlich vor den Reduktionsprozessen des unbetonten Vokalismus wie Synkope und Apokope, welche die proparoxytonische Wortstruktur abgebaut haben (Filipponio 2012a, 56-66), statt. Abgesehen von sekundären Vokaldehnungen (von / a/ , / ɛ / , / ɔ / , vgl. unten die Tabelle 4, §1.3: * SILVATĬCU > Monte di Badi - BO, vgl. die vorherige Fußnote - / salˈvadego/ Bologna > / salˈva ː dg/ , siehe Filipponio 2012a, 151-154) gibt es emilianische Proparoxytona, die den langen betonten Vokal nie verloren haben (vgl. Filipponio 2010). Grund dafür ist die interne Konsonantensequenz ˈ(C)V ː C 1 [-Sonorant -Plosiv]VC 2 [+Sonorant]V, die aus rhythmischen Gründen, die in Filipponio (2012a, 298-301) erklärt werden, die Dreisilbenkürzung sperrt. <?page no="82"?> Lorenzo Filipponio 68 hingegen die Wortstrukturen von */ ˈpa ː la/ und */ ˈpa ː se/ unterschieden, und */ ˈpa ː se/ > / pa ː s/ der Abflachung entzogen. Die letzte Stufe des Prozesses, die schließlich die (sekundären) Oxytona betrifft, ist z.B. in den ostlombardischen Mundarten belegt. (5) Bergamo (vgl. Sanga 1987): / ˈpala/ , / ˈspala/ ; / kar/ , / kar/ Dieses definitive Verschwinden aller Vokallängenunterschiede soll ab Anfang des XIX Jahrhunderts entstanden sein: Im bergamaskischen (vgl. Bsp. 5) Wörterbuch von Tiraboschi ( 2 1873, 34; vgl. Sanga 1987, 37, N. 1) ist nämlich eine Längenopposition in den sekundären Oxytona mindestens für / a/ noch belegt (nâs ‚Nase‘ ~ nas ‚(er/ sie/ es) wird geboren‘). Das gesamte Bild kann wie folgt schematisiert werden 10 . 10 Vgl. Loporcaro (2005, 104; 2007, 330), Filipponio (2012a, 61). Diese allmähliche Abflachung, die auf dem ersten Blick wie eine homogene Welle aussieht, muss vermutlich auf zwei unterschiedliche Tendenzen zurückgeführt werden. Die Dreisilbenkürzung ist nämlich in einer - frühen - Phase, in der alle hier aufgeführten Varietäten ein kompensatorisches Rhythmusmuster hatten (vgl. oben N. 7), entstanden. Es mag irritierend sein, dass in einer rhythmischen Struktur, welche die Steigung des Ungleichgewichts zwischen betonten und unbetonten Silben auffordert, die Länge der betonten Vokale (und zwar ein Merkmal dieses Ungleichgewichts) reduziert wird. Eine Erklärung dafür ist, dass in einer ˈCV ː CVCV Wortstruktur die anziehende Kraft der betonten Silbe ˈCV ː , die aus dem starken Akzent sowie der nullen konsonantischen Stärke des Silbenreims besteht, eine Annäherung der unbetonten Silben -CVCV verursachen kann, die im Endeffekt zur Kürzung des betonten Vokals bringt. Es handele sich um eine auf der Wortebene interpretierte Variante von Vennemanns (1988, 61) Prinzip der attractiveness of rhymes. Es entsteht dadurch ein close contact (Martinet 1966) zwischen dem gekürzten betonten Vokal und dem nachtonigen Konsonant, der stärker wird (wenn auch nicht länger). Die weiteren Stufen der Abflachung sind eher später aufgetreten (erst nach dem Ausfall der unbetonten auslautenden Vokale) und betreffen Varietäten, die aus anderen Merkmalen zeigen, sich wieder in die rhythmische Richtung der Kontrolle umwandelt zu haben (Filipponio 2012a, 311-313; 2012b, 79-83). Dort ist das gewonnene Übergewicht der betonten Silben mittlerweile nicht mehr relevant gewesen, und die phonologisch langen Vokale (ein Merkmal, wie oben gesagt, dieses Übergewichtes) haben sich zurückgezogen. Dieser Rhythmuswechsel ist ein zentrales Ereignis in der historischen Phonologie des Lombardischen: es handelt sich allerdings um ein Thema, das nicht mehr zentral für die Zwecke dieses Aufsatzes ist, und wird deshalb fortan nicht weiter besprochen. <?page no="83"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 69 Emilianisch Westlombardisch Ostlombardisch Etymologische Proparoxytona ˈV ˈV ˈV Paroxytona ˈV ~ ˈV ː ˈV ˈV Sekundäre Oxytona ˈV ~ ˈV ː ˈV ~ ˈV ː ˈV Tab. 1: Vokallänge im Galloitalienischen Die Venezischen Dialekte, die keinen Beleg einer distinktiven Vokallänge zeigen (Zamboni 1974, 11), sind nicht Teil dieses Schemas. 1.2. Vokallänge im Friaulischen Zwischen dem Alpenkamm und der Carrara-Fano Linie gibt es jedoch eine nicht galloitalienische Varietät, in der eine distinktive Vokallänge belegt ist, und zwar das Friaulische. 11 Die phonologische Opposition betrifft hier nur die sekundären Oxytona (6) / la ː t/ ‚gegangen‘ (m.) ~ / lat/ ‚Milch‘, / mat/ ‚wahnsinnig‘ (m.); / ˈlade/ ‚gegangen‘ (f.), / ˈmate/ ,wahnsinnig‘ (f.) Angesichts dieser Situation könnte man das Friaulische in die oben gezeigte Tabelle 1 auf die gleiche Stufe des Westlombardischen stellen, wie Morin (2003, 128-129) und Loporcaro (2011a, 71; 2015, 140-141) vorgeschlagen haben. Andererseits könnte die Vokallänge des Friaulischen als von den galloitalienischen Dynamiken unabhängiges Phänomen betrachtet werden: das ist die Erklärung von Vanelli (1979, 1998), die sich insbesondere auf Zentralfriaulisches, und zwar die wichtigste Varietät, bezieht. 11 Bezüglich die Debatte über die Stellung des Friaulischen vgl. Heinemann (2003, 35-44). Im Rahmen der Unità ladina hatte Ascoli (1873, 476) bereits auf die Divergenzen zwischen dem Friaulischen und den anderen rätoromanischen Varietäten (Dolomitenladinisch und Bündnerromanisch) hingewiesen. G.B. Pellegrini, der die Unità ladina stets angefochten hat (vgl. 1991, in dem die Werke von Hans Goebl, der ein Jahr davor - vgl. Goebl 1990, 219 und 226 - die Legitimität der Klassifikation des Rätoromanischen im Sinne eines Geotyps verteidigt hatte, gar nicht erwähnt werden! ), trennt das Friaulische vom Rätoromanischen und betrachtet es als eine der italoromanischen Varietäten (G.B. Pellegrini 1977, 25). Die Rätoromanischen Sprachen können m.E. zusammen betrachtet werden, indem sie konservative Merkmale behalten, die z.B. im Rest Norditaliens verlorengegangen sind. Eine autonome Beobachtung des Friaulischen würde mich allerdings dazu führen, es als laterale Varietät des italoromanischen Panoramas zu betrachten, wo „lateral“ nicht automatisch konservativ heißt - da teils isolierte Varietäten in der Regel sowohl archaische Züge als auch durchaus unabhängige Innovationstendenzen zeigen, wie wir gerade sehen werden. <?page no="84"?> Lorenzo Filipponio 70 Laut Vanelli ist die phonologische Vokallänge des Zentralfriaulischen mit der Desonorisierung des infolge der Apokope auslautenden Konsonanten verbunden. Die ersten Etappen der phonetischen Entwicklung der Worte, die das Minimalpaar im Beispiel (6) bilden, könnte denn wie folgt beschrieben werden: (7) * LATU ; (* LACTE >) *latte > Lenition / Degeminierung *ladu; *late > Apokope *lad; *lat Nach diesen Etappen wird der Kontrast zwischen der Stimmhaftigkeit bzw. der Stimmlosigkeit der auslautenden Konsonante durch die Desonorisierung der Stimmhaften verdrängt. Dieses Phänomen löst allerdings die Dehnung der betonten Vokale, die sich vor dem stimmhaften Konsonanten befanden, aus, und führt zu einer neuen phonologischen Opposition. Nämlich wurden die Vokale, die sich vor einem bereits stimmlosen Konsonant befanden, keiner weiteren Änderung unterzogen. (8) *lad ~ *lat > / la ː t/ ~ / lat/ ; Keine Änderung sah man auch bei den betonten Vokalen in den Paroxytona mit auslautendem -a, das bloss geschwächt wurde, ohne gänzlich zu verschwinden: In diesem Fall wäre die Rolle der Vokallänge immer irrelevant gewesen. (9) * LATA , * MATTA > Lenition / Degeminierung *lada; *mata > Schwächung / ˈlade/ ; / ˈmate/ Eine Bestätigung der zentralen Rolle des Verhältnisses zwischen Desonorisierung und Vokaldehnung fände man laut Vanelli (1986) in einem morphonologischen Automatismus bei den Lehnwörtern aus dem Standarditalienischen: einem Maskulin mit auslautender ˈV ː C [stimmlos] # Sequenz entspricht immer ein Feminin mit der auslautenden Sequenz ˈVC [stimmhaft] V#. (10) (vgl. Vanelli 1998: 90-91) [ ɟ eneˈro ː s] ‚grosszügig (m.)‘ ~ [ ɟ eneˈroze] ‚grosszügig (f.)‘; [impjeˈga ː t] ‚Angestellte (m.)‘ ~ [impjeˈgade] ‚Angestellte (f.)‘ 12 Folgend stellt man sich die Frage, was passiere, wenn die nachtonigen Konsonanten keiner Desonorisierung unterzogen werden können, wie im Falle der Sonoranten. Erwartungsgemäss gibt es in vielen Kontexten keine Vokallängenunterschiede: Vor Nasalen ist die Dehnung des betonten Vokals ge- 12 Dieser Automatismus hängt nicht von der Akzentstellung ab, vgl. [preˈlje ː f] ‚Entnahme‘ ~ [preleˈva] ‚entnehmen‘ und umgekehrt (d.h. kurzer Vokal im Oxytonon und stimmloser nachtoniger Konsonant im Paroxytonon) [aˈfit] ‚Miete‘ ~ [afiˈta] ‚(ver)mieten‘. <?page no="85"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 71 sperrt (Benincà 1989: 567; vgl. die Diskussion in §2.4.); vor dem Vibranten [r](+ Konsonant) ist der Vokal hingegen immer lang. Vor Lateralen beobachtet man allerdings, dass phonologische Oppositionen entstanden sind. (11) (vgl. Benincà 1989: 567; Vanelli 1998: 85) VALE ( T ) > / va ː l/ ‚(es) gilt‘ ~ * VALLE > / val/ ‚Tal‘ Eine Erklärung dafür mag der spätere Auftritt der Degeminierung von [ll] sein (vgl. G.B. Pellegrini 1975): 13 Als die Vokallängenunterschiede infolge der Apokope entstanden sind, gab es noch einen Kontrast zwischen schwachem und starkem [l], der jenem zwischen stimmhaften und stimmlosen Obstruenten entsprach. 14 Eine weitere Ausnahme wird durch die nachtonigen Affrikata dargestellt: in diesem Fall löst die Desonorisierung keine Dehnung aus. (12) * MĔDJU > [ˈmjet ʃ ] ‚halb (m.)‘, * MĔDJA > [ˈmjed ʒ e] ‚halb (f.)‘ Vanelli (1998: 77) erklärt diesen Fall mit der Komplexität des konsonantischen Segments (vgl. Filipponio 2012a: 66-68, N. 105), welche die Dehnung verhindert hätte. Dies, sowie die anderen aufgeführten Beispiele ((6)-(11)), lassen erahnen, dass die Art des Anschlusses zwischen dem betonten Vokal und dem folgenden Konsonant als wichtiger Faktor zur Auslösung der Dehnung zählen könnte: Es wäre vorstellbar, dass auf der chronologischen Höhe der Apokope der Anschluss zwischen Vokal und folgenden stimmhaften Plosiven und Frikativen (sowie schwachem [l] und dem überall degeminierten [r]) lose war, und jener zwischen Vokal und stimmlosen Obstruen- 13 Im benachbarten Venezischen hat die späte Degeminierung von [ll] das auslautende -e vor dem Ausfall geschützt, wie in * MĔLE > mièl; MĪLLE > mie (vgl. Zamboni 1974, 26, N. 33). Benincà (1989, 567; 1995, 51) deutet an, in den Randgebieten seien Minimalpaare mit dem nachtonigen Vibranten zu finden, wie / car/ (< * CARRU ) / ca ː r/ (< * CARU , vgl. oben Bsp. (3)). Die Erklärung dafür könnte auch in diesem Fall die späte Degeminierung des Sonoranten -rrsein (vgl. unten N. 16 in Bezug aufs Altkastlische). 14 Allerdings hat diese Ausgangslage zu einigen Verwechslungen geführt, wie z.B. / ka ː l/ (It. callo) ‚Schwiele, Kallus‘ ~ / kal/ (It. calo) ‚Schwund‘, die laut Vanelli (1998, 85) dazu bringen sollten, diese Fälle lexikalisch zu handhaben. Die fehlende Palatalisierung von k vor a (eins der drei Hauptmerkmale des Friaulischen als „Rätoromanische“ Varietät, s. oben N. 11) zeigt jedoch, dass kâl und kal nicht zum friaulischen Wortschatz gehören, und aus dem Venezischen, in dem an einem gewissen Punkt die Degeminierung von [ll] stattgefunden hat (beide càlo im XVI Jhdt., vgl. Cortelazzo 2007, 260), übernommen worden sein könnten. Eine Kritik an die Häufung der Ausnahmefälle, die durch Vanellis Erklärung erzwungen werden, wird von Loporcaro (2015, 140) geübt. Abgesehen von der Möglichkeit, einen gemeinsamen Nenner für diese Ausnahmen zu finden (s. unten), halte ich die in §§ 1.4.-1.5. aufgeführten Argumente für genug solide, um die „klassische“ Rekonstruktion noch beizubehalten. <?page no="86"?> Lorenzo Filipponio 72 ten, starkem [l] und komplexen (tautosilbischen! ) Segmenten (= Affrikaten) hingegen fest; dieses allophonische Merkmal wäre infolge der Desonorisierung das einzige geblieben, um neu entstandene Wortpaare zu unterscheiden, und wäre dann durch die Vokaldehnung hervorgehoben worden - da der Anschluss zwischen einem betonten langen Vokal und dem folgenden Konsonant in der Regel lose ist (vgl. Martinet 1966). 15 Letztendlich hat man phonologisch lange betonte Vokale im Friaulischen nur in von der Apokope betroffenen (…C)ˈVCV etymologischen Strukturen: Diese Konfiguration wurde bereits von Francescato (1966) als starke Stellung gekennzeichnet, während alle anderen als Schwache Stellung gelten. Vorausgesetzt dass die oben skizzierte Rekonstruktion stimmt, kann man dann das Friaulische nicht zu den Varietäten zählen, deren Vokallänge mit der spätlateinischen Dehnung in offener Silbe verbunden ist. Dies ist ein zentraler Punkt: Man könnte sogar vermuten, dass die Dehnung im Friaulischen noch nie stattgefunden hat, und sich dadurch der Meinung derjenigen (Lüdtke 1956, 134; Weinrich 1958, 181; Lausberg 3 1969, §163) anschliessen, die zweifeln, dieses Phänomen sei gesamtromanisch, und es eher als zentralromanisch betrachten - insb. gallo- und italoromanisch, jedoch breiter als das von Lausberg bestimmte Gebiet (vgl. Loporcaro 2015, 29). 1.3. Vokalqualität als Indikator Diese Überlegungen betreffen auch das Kastilische, in dem keine bedeutenden (wenn auch nur phonetischen) Unterschiede der Länge der Betonten Vokale vorhanden sind. Man könnte natürlich vermuten, dass die ehemaligen Längenunterschiede, die durch die Dehnung in offener Silbe entstanden sind, mittlerweile abgeflacht wurden: dann würde man das Kastilische in der Tabelle 1 mit zusammen den Ostlombardischen Mundarten einstufen. Man könnte sich allerdings auch vorstellen, dass im Kastilischen keine 15 Bezüglich des Begriffs Anschluss bzw. contact siehe oben N. 10. Statt um eine kompensatorische Dehnung handele es sich hier mehr um eine Restrukturierung der phonetischen und phonologischen Merkmale (Benincà 1995, 51 hatte bereits vorgeschlagen, das distinktive Merkmal [±gespannt] zu berücksichtigen). Die experimentellen Messungen von Baroni und Vanelli (2000) haben gezeigt, dass bei den langen Vokalen der F0-Kontur durch einen frühen prosodischen Gipfel und eine darauffolgende absteigende Kurve gekennzeichnet ist, was mit einem losen Anschluss kompatibel wäre: Die Intensitätsmerkmale, die vielleicht weitere Hinweise hätten geben können, wurden allerdings nicht gemessen. <?page no="87"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 73 (deutliche) Dehnung der betonten Vokale in offener Silbe aufgetreten ist, und die aktuelle Lage von Anfang an besteht. 16 Ein behilflicher Beweis, um dieses Problem zu beleuchten, könnte die Lage der Vokalqualität sein. Bevor wir wieder auf das Kastilische eingehen (§1.4), muss dieser Aspekt nun kurz betrachtet werden. Viele romanische Varietäten, in den die Dehnung in offener Silbe aufgetreten ist, belegen silbenstrukturabhängige (bzw. längenabhängige) Ergebnisse der lateinischen betonten Vokale. Das Altfranzösische ist ein Paradebeispiel für diese Vokaldifferenzierung: Latein Ĭ Ē Ĕ Ā Ă Ŏ Ō Ŭ Spätlatein e ɛ a ɔ o Dehnung in offener Silbe e ː e ɛ ː ɛ a ː a ɔ ː ɔ o ː o Altfranzösisch ej e j ɛ ɛ ɛ ː a w ɛ ɔ ow o Tab. 2: Mittle und Offene Vokale im Altfranzösischen Auch viele süditalienische Dialekte der Adriaküste, in den die Vokallänge keine phonologische Relevanz hat, zeigen vergleichbare Ergebnisse. In der Tabelle 3 sieht man anhand der Beschreibung von De Gregorio (1939: 33) den betonten Vokalismus der Mundart von Bisceglie (Apulien, 35 km westlich von Bari; die ersten zwei Spalten der Tabelle 2 werden nicht mehr wiederholt). 16 Diese zweite Stellungnahme, die sich im Vergleich zur Ersten als wahrscheinlicher erweist (s. unten), ist alles andere als unumstritten. Selbst Weinrich scheint seine Aussage (vgl. §1.2.) leicht zu modifizieren, als er, drei Seiten nachdem er das Kastilische (zusammen mit dem Rumänischen) als Beispiel des Widerstandes gegen die Tendenz zur Vokaldehnung in offener Silbe genommen hat, diese Varietät als jene klassifiziert, in der „die durch die Degeminierung beförderte Einebnung der Konsonantenquantitäten […] zu einer entsprechenden Einebnung der Vokalquäntiten durch Normierung zu einer mittleren Länge hin[führt] (Isochronie)“ (1958, 184). Das heißt, es hätte auch im Kastilischen eine Phase vor der Degeminierung gegeben, in der die Länge der betonten Vokale doch silbisch bedingt war, wenn man den Fall ausschließt, dass Degeminierung und Vokaldehnung mehr oder weniger gleichzeitig aufgetreten wären. Dies impliziert auch, dass sich die betonten Vokale in den übrig gebliebenen geschlossenen Silben (in Worten wie z.B. * MŎR $ TU , ohne die gelegentlichen Wirkungen des von Pensado 1993 dargestellten phonetischen Widerstands der Sonoranten und Sibilanten, die im Mittelalter noch stark waren, zu vergessen - vgl. oben in §1.2. die Lage von -llim Venezischen und im Friaulischen) dieser Einebnung angepasst hätten. Eine alternative Erklärung mag sein, dass diese mittlere Länge dem Kollaps der lateinischen Vokalquantitäten unmittelbar gefolgt ist - ohne Rücksicht auf die Silbenstruktur. <?page no="88"?> Lorenzo Filipponio 74 Dehnung in offener Silbe e ː e ɛ ː ɛ a ː a ɔ ː ɔ o ː o Bisceglie (Apulien) 17 aj e ɛ e ɔ a o o̞ aw, ɛ w o Tab. 3: Mittle und Offene Vokale im Dialekt von Bisceglie Ähnlich gespaltete Bilder ergeben sich in vielen galloitalienischen Mundarten. In der Tabelle 4 wird der ostemilianische Dialekt von Vergato (Provinz Bologna; vgl. Filipponio 2012, 253-254) gezeigt: Dehnung in offener Silbe e ː e ɛ ː ɛ a ː a ɔ ː ɔ o ː o Vergato (Emilia) e ː ɛ e ː ɛ ː ɛ ː a ː o ː ɔ ː o ː ɔ Tab. 4: Mittle und Offene Vokale im Dialekt von Vergato Diese silbenstrukturbedingte Vokaldifferenzierung ist ein wichtiges Merkmal für die Rekonstruktion der vorherigen Situationen der galloitalienischen Mundarten, in den die phonologischen Vokallängenunterschiede abgeflacht worden sind. Dass zum Beispiel im Mailändischen die betonten Vokale von [ˈteved] (< * TĔPĬDU ) und [ˈp ɛ ten] (< * PĔCTĬNE ) gleich kurz aber von unterschiedlicher Farbe sind, liegt an der ehemalig verschiedenen Länge dieser Vokale, die durch die Dreisilbenkürzung verschleiert wurde. Vor diesem Phänomen hatten sich die Nachfolger von betontem Ĕ je nach Silbenstellung unterschiedlich entwickelt. Auf dieselbe Art kann man die heutzutage gleich kurzen Vokale von mailändischen Paroxytona [ˈnøva] (< NŎVA ) und [ˈk ɔ ta] (< * CŎCTA ) als Ergebnisse zwei verschiedener Silbenstellungen, d.h. verschiedener Längen, betrachten. Nicht anders scheint der Fall der Varietäten, in den jeder Vokallängenunterschied verschwunden ist, zu sein, wie die sekundären Oxytona [car] (< * CARRU ) und [c ɛ r] (< * CARU , vgl. oben Bsp. (3)) in der Tessiner Mundart von Airolo (vgl. Loporcaro 2005, 107) zeigen: Hier weist die Palatalisierung von a auf einen vorigen Zustand hin, in der dieser Vokal noch lang war. Die Dehnung der betonten Vokale in offener Silbe kann jedoch auch aufgetreten sein, ohne silbenstrukturbedingte Differenzierungen auszulösen: Wenn man annimmt, dass die phonologische Vokalquantität in den okzitanischen Randgebieten 18 als letzte Spur eines zuvor verbreiteteren Zustandes 17 Die gezeigten Ergebnisse beziehen sich auf nicht durch Umlaut bzw. Nasal konditionierte Kontexte. Die allophonische Vokallänge wird im Original nicht berücksichtigt. 18 Vgl. Valle Germanasca (Provinz Turin, Italien) / ˈpa ː lo/ ‚Schaufel‘ ~ / ejˈpalo/ ‚Schulter‘. <?page no="89"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 75 betrachtet werden muss (vgl. Morin 2003, 130-132; Loporcaro 2011b: 135-136; 2015, 106-108), wäre das Okzitanische, in dem der betonte Vokalismus in den mittelalterlichen Dokumenten sehr konservativ ist, 19 ein perfektes Beispiel dafür. Das gilt nochmals auch für die Varietäten, in den die Vokallänge sicherlich nie phonologisch relevant war. Im Sardisch trifft sogar die phonetische Länge der betonten Vokale in offener Silbe auf das archaischste Vokalsystem der Romania. 20 Bislang haben wir zwei Fälle betrachtet: Auf einer Seite silbenstrukturbedingte Vokaldifferenzierungen, die vermuten lassen, dass die (phonetische bzw. phonologische) Länge der betonten Vokale irgendwelche Rolle bei deren qualitativen Entwicklung gespielt hat; auf der anderen Seite, unveränderte Vokalismen, die sowohl unterschiedliche Vokallängen kaschieren können, als auch stabilen und flachen Quantitätslandschaften entsprechen können, wie z.B. im Falle des Portugiesischen (vgl. Lausberg 1969, §§163- 164) - was wir jetzt nicht weiter verfolgen werden. Es mag auch sein, dass es in einem betonten Vokalismus Änderungen gegeben hat, die durch die Silbenstruktur nicht beeinflusst wurden. Um diesen Fall zu erklären, muss die Romanische Diphthongierung in die Analyse mit einbezogen werden. 1.4. Romanische Diphthongierung und Vokallänge Die Romanische Diphthongierung (fortan: RD), d.h. die Entwicklung von spätlateinischen betonten halboffenen Vokalen [ ɛ ] (< Ĕ , AE ) und [ ɔ ] (< Ŏ ) zu Diphthongen ist in etlichen romanischen Varietäten belegt und kann - abgesehen von jeglicher vorgeschlagenen Chronologie - als das älteste qualitative Phänomen des neolateinischen Vokalismus gekennzeichnet werden. Die Debatte über ihre Entstehung ist zentral in der Geschichte der romanischen Philologie: Im zwanzigsten Jahrhundert standen sich zwei Theorien gegenüber. Auf der einen Seite behauptete Schürr (1936, 1950, 1970), die steigende Diphthongierung [ ɛ ] > [j ɛ ], [ ɔ ] > [w ɔ ] sei aus einem durch jod und waw sowie auslautende -i und -u ausgelösten Umlautprozess entstanden, und ihre Ausbreitung in offener Silbe müsse als sekundäre Entwicklung betrachtet werden; auf der anderen Seite beteuerte Von Wartburg (1950, 79-85), 21 es sei 19 Vgl. Ronjat (1930, §65): „Sauf le passage de ū a [ü] et la diftongaison conditionelle de ę, ǫ , notre langue dans un état ancien, va de pair avec le portugais] […] par ses tendances conservatrices“. Mit „diftongaison conditionelle“ werden Diphthongierungen gemeint, die durch den phonetischen Kontext verursacht wurden (§67, vgl. unten §1.4). 20 Vgl. [ˈka ː na] ‚grauhaarig‘(Feminin Singular); [ˈkan ː a] ‚Schilfrohr‘ (Loporcaro 2011a, 52). 21 Von Wartburg (1950, 85) macht das germanische Superstrat für die altfranzösische Dehnung der betonten Vokale in offener Silbe verantwortlich - was ich für unnötig halte (vgl. oben §1.1). Abgesehen davon, enthalten diese Seiten (insb. 80-81) eine noch <?page no="90"?> Lorenzo Filipponio 76 unmöglich, die steigende Diphthongierung des Altfranzösischen auf den Umlaut zurückzuführen. 22 Der von Castellani (1962, 498) gestellte Vergleich zwischen Florentinischem und Aretinischem im Mittelalter zeigt, dass die RD im Florentinischen in offener Silbe ohne Einfluss durch die Qualität der auslautenden unbetonten Vokale auftritt, während sie im Aretinischen auch in offener Silbe erscheint, allerdings nur wenn das Wort mit -i oder -u endet. Wenn der Ursprung der RD lediglich der Umlaut wäre, müsste man sich vorstellen, dass das mittelalterliche Arezzo Florenz sprachlich beeinflusst hätte. Das wäre theoretisch möglich, würde jedoch gegen alle historischen und soziolinguistischen Feststellungen sprechen. Da es im Florentinischen keinen Fall von AU > [ ɔ ] > [w ɔ ] gibt, hätte sich dieser Einfluss außerdem bereits in der Zeit der Monophthongierung AU > [ ɔ ], und zwar ab Anfang des VIII Jahrhunderts, zurückziehen müssen (Castellani 1961, 43-44; 1965, 960). 23 Die speziellen Bedingungen für die Erscheinung der RD im Aretinischen (Umlaut + offene Silbe, vgl. Castellani 1970, 315) wären hingegen darauf zurückzuführen, dass sich diese Stadt an einer Sprachgrenze befindet, die Varietäten mit RD in offener Silbe - wie das Florentinische - und Varietäten mit RD als Ergebnis eines von Silbenstruktur unabhängigen Umlautprozesses spaltet: zur zweiten Kategorie gehören die Umbrischen sowie die Romagnolischen Dialekte; es handelt sich auch um den bekannten Fall des Neapolitanischen. Was gerade oben skizziert wurde, könnte zur Annahme führen, die RD sei vielleicht als polygenetisches Phänomen zu betrachten, wie bereits Voretzsch (1900, 631-632) in einer „prophetischen“ Kritik an eine Hypothese „à la Schürr“ (Barbato 2013, 322 N. 7) betont hatte. Und, wenn es auch wahr wäre, dass die RD in den Romanischen Sprachen als Umlaut entstanden ist, und sich erst danach in offener Silbe ausgebreitet hat, wie z.B. Rohlfs, der Schürrs Rekonstruktion folgt, in Bezug auf etliche italoromanische Varietäten vermutet (z.B. 1966, §§ 96, 117), fiele sofort auf, dass sich bei der Ausbreiheutzutage fundamentale Skizze über Vokallänge und Vokaldifferenzierung in den romanischen Sprachen, auf die ich mich hier berufe. 22 Die Frage der Verhältnisse zwischen der Diphthongierung und den Vokalen im Auslaut wird von Sánchez-Miret (1998) umgedreht: Die RD sei eine spontane Entwicklung, die in manchen Varietäten bzw. Kontexte durch auslautende Vokale mit hohem Mundöffnungsgrad gesperrt wurde, damit die gesamte vokalische Stärke (je offener, umso stärker) innerhalb des Wortes nicht zu hoch wurde. 23 Anhand dieser Belege stellt Castellani (1961, 45) fest, dass die Diphthongierung bis Mitte des VII Jahrhunderts in offener Silbe auftritt, mit Schwankungen in den Proparoxytona, die nochmals zu rhythmischen Gründen zurückzuführen sind (vgl. oben §1.1 und N. 9). Selbstverständlich hängt im Florentinischen diese qualitative Differenzierung von einer phonetischen Quantität ab. <?page no="91"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 77 tung der RD zwei Sprachtypologien konfiguriert hätten: diejenigen, bei denen die Silbenstruktur die Kontexte bedingt hat, und jene, bei denen die RD überall aufgetreten ist. Wir haben oben kurz gesehen (§1.3), dass die vokalische Quantität im heutigen Kastilischen keine Rolle spielt. Wie gesagt, könnte diese Situation als Ergebnis eines kompletten Abflachungsprozesses - wie im Bergamaskischen (vgl. oben Bsp. (5)) - oder als direkte Konsequenz der Tatsache, dass die spätlateinische Vokaldehnung in offener Silbe noch nie stattgefunden hat, betrachtet werden. Das Kastilische gehört außerdem zu den Varietäten, bei denen sich die RD silbenstrukturunabhängig ausgebreitet hat, wie in der folgenden Tabelle, welche die anderen besprochenen Varietäten mit einbezieht, gezeigt wird. Florentinisch 24 Aretinisch 25 Neapolitanisch Kastilisch * NŎVU nuòvo nuòvo nuóv ə nuevo NŎVA nuòva nòva nòv ə nueva * MŎRTU mòrto mòrto muórt ə muerto MŎRTA mòrta mòrta mòrt ə muerta Kontext der RD Offene Silbe (kein Umlaut) Umlaut in offener Silbe Umlaut Überall Tab. 5: Ergebnisse von betontem Ŏ in vier romanischen Varietäten Die Abwesenheit jeglicher (phonetischen) Vokallängenunterschiede und die silbenstrukturunabhängigen Verteilung der RD könnten dann zur Feststellung führen, dass die Vokaldehnung in offener Silbe im Kastilischen nie aufgetreten ist; oder dass ihre Wirkung in der Zeit der Entstehung der Diphthongierung - wahrscheinlich später als im Florentinischen (vgl. Loporcaro 2015, 78-79) - bereits zurückgegangen war. 26 Dieser kurz skizzierte romani- 24 Bis Mitte des XVIII Jahrhunderts. Dann wurde uò im Florentinischen wieder monophthongiert (vgl. Ventigenovi 1993, 212). 25 Anhand von Texten aus der Mitte des XIV Jahrhunderts (vgl. Castellani 1970, 327). 26 Diese zweite Variante, die anscheinend auch von Weinrich angedeutet wurde (s. oben N. 16), wird von Loporcaro (2015, 79) vorgeschlagen. Grund dafür ist die Betrachtung der Vokaldehnung in offener Silbe als „protoromanisches“ (= gemeinromanisches) Phänomen, da Belege bereits vor dem Untergang des Weströmischen Kaiserreichs in manchen Regionen vorhanden sind. Es wäre allerdings durchaus legitim, solche Erscheinungen als regional zu betrachten, da die soziale und politische Lage des Römischen Reichs nach dem Erlass der Consitutio Antoniniana (212 n.Chr.) und insbesondere nach dem Herrschen der Soldatenkaiser (235-284 n.Chr.) als idealer Boden für die ersten Symptome der Ausgliederung des lateinischen Sprachgebiets hat wirken können. Zur Chronologie: Die Gebiete von Kantabrien und Burgos, die als Wiege des Altkastili- <?page no="92"?> Lorenzo Filipponio 78 sche Überblick kann auch der Klärung der Lage des Friaulischen, zu dem wir nun zurückkehren, dienen. 1.5. Diphthongierung im Friaulischen und Zusammenfassung Lassen wir uns jetzt die Ergebnisse von Lt. Ĕ und Ŏ im Friaulischen betrachten. Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Varietäten zusammen: Vgl. Francescato (1966) Starke Stellung Schwache Stellung Ĕ Ŏ Ĕ Ŏ Zentralfriaulisch (und Karnisch) [i ː ] [u ː ] [j ɛ ] [w ɛ ] Westfriaulisch (und Nordwestkarnisch) [ej] [ow] Erto [i ə ] [ew] Tab. 6: Ergebnisse von betonten Ĕ und Ŏ im Friaulischen Neben einer ziemlich bunten - und hier sehr vereinfachten - Palette von Ergebnissen in der starken Stellung, sieht man, dass in der schwachen Stellung eine steigende Diphthongierung überall belegt ist (vgl. Francescato 1959, 48). 27 Wenn wir uns nun wieder auf das Zentralfriaulische konzentrieschen gelten, belegen die allgemeine RD ungefähr ab dem zweiten Quartal des X Jahrhunderts (Menéndez Pidal 3 1950, §26.2: Ĕ > i ̯ e; §23.2: Ŏ > konkurrierende Formen u ̯ o/ u ̯ e - u ̯ a ist nur außerhalb des Kastlischens belegt -, dann nur u ̯ e, vgl. Lloyd 1987, 186); die Monophthongierung von AU ist - anders als im Florentinischen - nicht maßgebend, da sie etwa ein Jahrhundert später auftritt (Lloyd 1987, 189) und bis zu diesem Zeitpunkt eine Zwischenstufe ou ̯ aufweist (Menéndez Pidal 3 1950, §19): das Ergebnis ist vermutlich von Anfang an ein mittleres o, nachdem jedes / ɔ / durch die Diphthongierung getilgt wurde. Ein Punkt, der in Bezug aufs Kastilische nicht unproblematisch ist, betrifft die Umlautdiphthongierung: dass diese Varietät, wie das Florentinische, ein Beispiel für die Entstehung der RD ohne Umlautsvorfälle bildet, ist neulich von Barbato (2012) in Frage gestellt worden. Eine bedingte Diphthongierung wäre doch entstanden, und danach - vor der Entstehung der Unbedingten - monophthongiert. Aufgrund von Schürrs Argument, die steigende Diphthongierung sei nur bedingt, vertritt Hilty (1969) die Meinung, im kantabrischen Gebiet sei keine Diphthongierung - weder bedingt noch unbedingt - entstanden: Das Altkastilische hätte die Unbedingte durch den Einfluss vom vorarabischen Toledo, wo die bedingte Diphthongierung die Voraussetzung der Unbedingten gewesen wäre, entwickelt. Zusammengefasst haben wir für die Rekonstruktion des Kastilischen drei Möglichkeiten: nur unbedingte RD; bedingte RD, ihr Rückzug und danach unbedingte RD; unbedingte RD aus einer Varietät erhalten, in der sie ursprünglich bedingt war. 27 Laut Vanelli (1998, 70, N. 2) lassen diese verschiedenen Ergebnisse vermuten, dass der phonologische Kontrast der Vokallänge auch in Varietäten, die heute keine Opposition zeigen - wie das Westfriaulische -, vorhanden war. <?page no="93"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 79 ren, können wir angesichts des Vergleichs zwischen schwacher und starker Stellung vermuten, dass die langen hohen Vokale [i ː ] und [u ː ] eine Folge der der Dehnung (vgl. §1.2) von ursprünglichen Diphthongen ist (Iliescu 1965; Francescato 1966, 136; 28 Heinemann 2003, 56; vgl. oben die Beispiele in (7) und (8)). (13) * PĔDE ; * FŎCU (> Lenition *fogu) > Diphthongierung *piede; *fuego > Apokope *pied; *fueg > Desonorisierung ung Vokaldehnung / pi ː t/ ; / fu ː k/ Wenn man hingegen behaupten würde, [i ː ] und [u ː ] seien die regelmäßigen Folgen von Ĕ und Ŏ in offener Silbe, und die steigende Diphthongierung sei später aufgetreten, müsste man erklären, warum Paroxytona mit betonten Ĕ und Ŏ in offener Silbe, die nicht zu sekundären Oxytona geworden sind - wie PĔTRA und SCHŎLA -, ihr Schicksal mit allen anderen sogenannten schwachen Stellungen teilen. (14) PĔTRA > piere = * LĔCTU > liet > jet = FĔSTA > fieste = * MĔDĬCU > miedi = * PĔCTĬNE > pietin; SCHŎLA > scuele = * GRŎSSU > grues = PŎSTA > pueste = CŎCĔRE > cuei = TŎLLĔRE > tueli/ *tioli > / ˈc ɔ li/ 29 Es ist dann vielleicht besser mit Francescato (1966, 131) festzustellen, dass „[l]a prima modificazione che il sistema vocalico latino tardo ha subito nell’area friulana è senza dubbio la dittongazione di ę, ǫ , passate rispettivamente a i ̯ e, u ̯ o” - und dann zu u ̯ e. 30 Zu den Beispielen in (14) kann man die Paroxytona mit nachtoniger muta cum liquida Konsonantengruppe und auslautendem Vokal anders als -a hinzufügen. Wegen der phonetischen Schwierigkeit von muta cum liquida im Auslaut ist bei diesen Worten ein epithetischer Vokal (vgl. Benincà 1989, 568) entstanden, durch den die paroxytonische Wortstruktur behalten wurde: Die Ergebnisse von betonten Ĕ und Ŏ sind wieder diejenigen einer schwachen Stellung. 31 28 Für das Zentralfriaulische werden von Francescato die Reihenfolgen jĕ > jē > jēj > i ə i > î und wĕ > wē > wēw > u ə u > û rekonstruiert. Man könnte sich auch vorstellen, die Dehnung habe nach der Apokope eine Umstellung des Diphthongs, der von steigend zu fallend geworden wäre, verursacht, wie jè > í ə > î und wè > ú ə > û. 29 Vgl. Francescato (1966, 57-58); siehe unten §2.4. 30 Siehe unten §2.4. und die N. 197. Gleicher Meinung ist Menéndez Pidal ( 3 1950, §22.1) in Bezug aufs Kastilische (andere Hypothesen über eventuelle Vorstufen, die zum Ergebnis der steigenden Diphthongierung gebracht hätten, werden von Lloyd 1987, 116ff. zusammengefasst). Wichtig ist es hier hinzuzufügen, dass das Friaulische - wie das Florentinische (§1.4.) aber vielleicht anders als das Kastilische (N. 26) - keine Spur von Umlautsphänomenen aufweist (Barbato 2013, 323). 31 Dies gilt für den Grossteil des Zentralfriaulischen. Das gesamte Bild ist eher komplizierter (vgl. Francescato 1966, 31-33 und Heinemann 2007 für eine ausführliche Analy- <?page no="94"?> Lorenzo Filipponio 80 (15) *P ĔTRU > Pieri (**Pîr, vgl. NP 1808); * SPĔC ( Ŭ ) LU > spieli; ŎC ( Ŭ ) LU > voli 32 Über dieses Muster gehen die Diphthonge vor den Konsonantengruppen Nasal + Konsonant und [r] + Konsonant hinaus: Im ersten Fall schließt sich das silbische Element das Diphthongs; im zweiten hingegen öffnet es sich. (16) Ĕ +Nasal+C > [ji] > [i]: * TĔMPU > timp; Ŏ +Nasal+C > [wi]: * PŎNTE > puint Ĕ +[r]+C > [ja]/ [j ɛ ]: 33 TĔRRA > tiare/ tiere; Ŏ +[r]+C > [wa]: * ŎRBU > uarp Vorausgesetzt dass die hier vorgeschlagene Rekonstruktion stimmt, wäre dann das Friaulische mit dem Kastilischen vergleichbar: Die Diphthongierung von betonten Ĕ und Ŏ hat sich ausgebreitet, ohne durch die Silbenstruktur bedingt zu werden. Wie gesagt, spricht diese Tatsache für die Abwesenheit von relevanten (phonetischen) Vokallängenunterschieden, mindestens in der Phase der Entstehung der Diphthongierung. Der Unterschied zwischen diesen Varietäten besteht darin, dass im Friaulischen in einer späteren Phase - und zwar nach der Apokope - eine phonologische Vokallänge aufgetreten ist. Das Verhältnis zwischen Vokallänge und Vokaldifferenzierung in den romanischen Sprachen kann anhand der hier besprochenen Beispiele in der folgenden Tabelle zusammengefasst werden. se), da der Ausfall des Plosivs (vgl. die hier aufgeführten Beispiele) in manchen Varietäten sekundäre Dehnungen ausgelöst hat (Benincà 1989, 567; Heinemann 2007, 141- 142), die auch qualitative Änderungen verursacht haben (selbstverständlich verschwand der Plosiv nach der Entstehung des epithetischen Vokals, der ansonsten unnötig gewesen wäre: man hätte sogar eine starke Stellung erreicht! : *spieglo > **spielo > **spîl). Falls die durch die Dehnungen betroffenen Vokale aus Ĕ und Ŏ abstammen, sind allerdings die Ergebnisse im ganzen friaulischsprachigen Gebiet von denen in starker Stellung immer unterschiedlich (vgl. Heinemann 2007, 170). Für Fälle wie * SPĔC ( Ŭ ) LU und ŎC ( Ŭ ) LU muss man vielleicht feststellen, dass die Voraussetzungen der starken Stellung sowieso abhanden gewesen wären, weil die muta cum liquida Gruppe heterosilbisch war (vgl. Heinemann 2007, 175), wie auch die toskanischen Ergebnisse specchio, occhio zeigen (für einen Überblick über dieses Thema vgl. Filipponio 2013). 32 Aus u ̯ o mit Verhärtung von [w] im Silbenansatz (vgl. Francescato 1966, 34). 33 Ĕ +[r]+C > [ja] nur im südlichen Teil des zentralfriaulischen Sprachgebiets (vgl. Francescato 1966, 34-35). Der Vergleich zwischen diesen Belegen und der oben erwähnten (§1.2) allgemeinen Dehnung der betonten Vokale vor [r]+Konsonant zeigt, dass diese Dehnung als sekundär betrachtet werden muss. <?page no="95"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 81 Unterschiede zwischen offenen und geschlossenen Silben Quantitativ (phonologisch bzw. phonetisch) JA NEIN Qualitativ JA 1. Dehnung in offener Silbe 2. Vokaldifferenzierung 1. Dehnung in offener Silbe 2. Vokaldifferenzierung 3. Längenabflachung NEIN Ohne Änderungen Dehnung in offener Silbe 1. Dehnung in offener Silbe 2. Längenabflachung oder Keine Dehnung in offener Silbe Mit Änderungen 1. Keine Dehnung in offener Silbe 2. Entstehung sekundärer Längenunterschiede Keine Dehnung in offener Silbe Tab. 7: Konstellation der Verhältnisse zwischen qualitativen und qualitativen Merkmalen in den romanischen Sprachen (I) Füllt man die einzelnen Zellen mit Varietäten aus, sieht man, dass alle Kombinationen vertreten sind: Unterschiede zwischen offenen und geschlossenen Silben Quantitativ (phonologisch bzw. phonetisch) JA NEIN Qualitativ JA Emilianisch Ostlombardisch NEIN Ohne Änderungen Logudoresisch Okzitanisch? Mit Änderungen Zentralfriaulisch Kastilisch Tab. 8: Konstellation der Verhältnisse zwischen qualitativen und qualitativen Merkmalen in den romanischen Sprachen (II) Auf der Suche nach Bestätigungen wenden wir uns nun an die altfriaulischen Texte, zum überprüfen, wie die Ergebnisse von betonten Ĕ und Ŏ in starker sowie in schwacher Stellung verschriftlicht wurden. Dieser Überblick wird uns erlauben, den Stand der Kodifizierung des Friaulischen zwischen 1350 und 1450 zu betrachten. <?page no="96"?> Lorenzo Filipponio 82 2. Die Kodifizierung der Ergebnissen von betonten Ĕ und Ŏ in altfriaulischen Texten 2.1. Die Entstehung der altfriaulischen Texte Vor der venezischen Eroberung, die 1420 stattfand, stand Friaul unter dem Patriarchat von Aquileia als Teil des Heiligen Römischen Reichs. Bis 1251 hatten alle Patriarchen - die lokalen Gouverneure - germanische Wurzeln. Dass Friaul bis dahin durch den germanischen Einfluss kulturell geprägt war, wird von Figuren wie Tommasino di Cerclaria (1235 gestorben), der ein Lehrgedicht unter dem Titel Der welsche Gast auf Deutsch schrieb, gezeigt (vgl. R. Pellegrini 1987, 37-38). Der erste italienische Patriarch war Gregorio di Montelongo (1251-1269), über dessen Tod ein champlor auf Provenzalisch geschrieben wurde (vgl. D’Aronco 1992, 166): es war ein Zeichen der neuen kulturellen Orientierung Friauls, die einer stärkeren Unabhängigkeit vom Reich entsprach (R. Pellegrini 1987, 38-39). Udine wurde in dieser Zeit zur echten Stadt; der Handel blühte langsam - wobei deutlich später als im Rest Italiens - auf. Friaul wurde für lombardische und toskanische Händler eine Brücke zur germanischen Welt (vgl. Francescato/ Salimbeni 2 1977, 112-113). Zu der Zeit wuchsen auch die Kontakte nach Venedig. Eine neue bürgerliche Schicht entstand und versammelte sich in religiösen Vereinen, deren Verwalter, die für die Buchhaltung zuständig waren, aus demselben Umfeld kamen und von den Bürgern selber bestimmt wurden (Francescato/ Salimbeni 2 1977, 118). Angesichts der nach 1250 steigenden ökonomischen und kulturellen Einflüsse aus dem benachbarten Venedig und dem hervortretenden Florenz ist es nicht überraschend, dass die Sprache der Bildung der friaulischen Bourgeoisie außer dem Lateinischen ein Volgare mit starken toskanischvenezischen Zügen war. Selbst die Lehrer waren nicht friaulisch; und normalerweise absolvierte der bürgerliche Nachwuchs seine Studien (selbstverständlich auf Latein) im venezischen Padua. Das Friaulische war auch nicht die Amtssprache der Region, da das Parlament eine Form von Venezischen verwandte (Francescato/ Salimbeni 2 1977, 119-120). Sicherlich war das nicht die günstigste Ausgangslage für die Entstehung einer autonomen Skripta: 34 Ab 1350 gab es trotzdem eine Phase, in das Friaulische in den Texten häufi- 34 Geschweige, wenn man eine literarische Produktion erwartet: sie besteht nämlich aus zwei höfischen Gedichten aus der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhrunderts (Piruç myo doç inculurit und Biello dum(n)lo di valor, beide aus Cividale, vgl. D’Aronco 1992, 174-176; Biello dummlo vielleicht aus dem Anfang des XV. Jahrhunderts, vgl. R. Pellegrini 1994, 249) und aus einem anzüglichen Volkslied (E là four del nuestri chiamp oder Soneto furlan) aus der gleichen Epoche. <?page no="97"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 83 ger auftauchte. 35 Die Sprachdenkmäler kommen grundsätzlich aus drei Orten (R. Pellegrini 1987, 52). Cividale, aus dem die für uns ältesten friaulischen Belege kommen (vgl. Corgnali 1953, 1), und Standort einer Universität, die vom Patriarch Bertram von Sankt Genesius (1334-1350, ein berühmter Jurist aus Toulouse) gegründet wurde; 36 Udine, das dem toskanisch-venezischen Einfluss deutlich mehr als Cividale ausgesetzt war (Marchetti 1932a, 110; R. Pellegrini 1987, 47 - auch politisch: Francescato/ Salimbeni 2 1977, 114), und wo trotzdem das Friaulische in den Buchhaltungsregistern der religiösen Gemeinden auftauchte; schließlich Gemona, wichtiger Umschlagsort richtung Norden (R. Pellegrini 1994, 244), dessen Texte „strategie demunicipalizzanti“ verraten (R. Pellegrini 1987, 48). 2.2. Wegweiser zur Textanalyse Die erste Sammlung alter friaulischer Texte ist Joppi (1878) zu verdanken. Für die Analyse habe ich allerdings bevorzugt, mich auf modernere Editionen zu verlassen (siehe unten). Angesichts der unterschiedlichen Intensität des (tosko)venezischen Einflusses, habe ich entschieden, vier Texte aus Cividale und vier aus Udine zu analysieren; dazu einen Text aus Gemona. 37 Die Texte aus Cividale sind: I. das Register von Ospedale di S. Maria dei Battuti (1350-8, Hg. Frau 1971); II. das Heft von Odorlico da Cividale (1361-2, Hg. Vicario 1998); III. die Übersetzungsübungen einer Notarschule (Ende des XIV Jahrhunderts., Hgg. Benincà/ Vanelli 1998); IV. das Fragment von einem Volumen aus einer Familie von Cividale (1413- 20, Hg. Corgnali 1933). Aus Udine kommen: V. das Register von Ospedale di S. Maria Maddalena (1382-5, Hg. Vicario 1999); VI. das Register von Confraternita dei Pellicciai (1400-30, Hg. Vicario 2003); 35 Dies gilt solange die Durchsetzung des Toskanischen (spätestens in 1525 mit Pietro Bembos Prose della volgar lingua) und dessen Normierung nicht dazu führten, die lokalen bzw. Regionalsprachen bewusst zu verwenden (vgl. Marchetti 1932a, 111-113) - sicherlich ein Phänomen, das nicht auf Friaul beschränkt war. 36 Vgl. D’Aronco (1992, 174-175) und R. Pellegrini (1994, 243). In Cividale waren Notarschulen tätig, in der gelehrt wurde, lateinische Texte ins Friaulische zu übersetzen, um die Aussagen auf diese Sprache aufschreiben zu können (vgl. Francescato/ Salimbeni 2 1977, 121; siehe unten den Text am §2.3.III). 37 Aktuelle Überblicke zur Geschichte des toskovenezischen Einflusses auf das Friaulische sowie zu den Editionen alfriaulischer Texte werden von Cadorini (2015) und Vicario (2015) angeboten. <?page no="98"?> Lorenzo Filipponio 84 VII. das Heft von Fraternita di S. Maria di Tricesimo (1428-37, Hg. Vicario 2000); VIII. die Karten aus dem Archiv von S. Cristoforo (1425-51, Hg. Vicario 2001). Schließlich kommt aus Gemona: IX. das Heft von dem Cameraro (‚Schatzmeister‘) Muzirino (1380, Hg. Marchetti 1962). Die Reihenfolge I-IX gilt auch für die Analyse. Das Muster wiederholt sich bei jedem Text. Die erste Klassifikationsebene bezieht sich auf die Trennung zwischen starker (*.1) und schwacher (*.2) Stellung; dazu werden unter „Sonstiges“ (*.3) unerwartete Diphthongierungsfälle gesammelt. Die Worte mit betonten Vokalen in schwacher Stellung sind je nach Wortstruktur sortiert. Erst werden die betonten Vokale in offener Silbe (*.2.1) von denen in geschlossener Silbe (*.2.2) unterschieden. Dann werden unter der Bezeichnung „offene Silbe“ die Paroxytona mit nicht etymologischem Vokal im Auslaut - insbesondere Worte mit nachtoniger muta cum liquida Konsonantengruppe (vgl. oben Bsp. (15)) - (*.2.1.2) von den anderen Paroxytona (*.2.1.1) getrennt; die Proparoxytona bilden eine dritte Gruppe (*.2.1.3). Unter der Bezeichnung „geschlossene Silbe“ werden hingegen die Worte in vier Gruppen sortiert: Paroxytona (*.2.2.1), Proparoxytona (*.2.2.2) und die Spezialkategorien der Worte mit nachtonigen Nasal + Konsonant (Nasal+C, *.2.2.3) und [r] + Konsonant ([r]+C, *2.2.4) Gruppen, die normalerweise besondere Entwicklungen zeigen (vgl. oben Bsp. (16)). Für jede Kategorie ist es eine dreizeilige Tabelle vorhanden: in der Zeile, die mit [+] gekennzeichnet ist, sind alle Worte gesammelt, die im Text ausnahmslos eine Diphthongierung - bzw. eine Schließung in starker Stellung - belegen. Unter [±] sammeln sich die Worte, die Schwankungen zwischen Anwesenheit und Abwesenheit der Diphthongierung zeigen. Schließlich werden unter [-] alle Worte gesammelt, die nie mit einem Diphthong geschrieben sind. Unerwartete - z.B. Diphthongierung in starker Stellung bzw. Schliessung in schwacher Stellung - bzw. besondere (vgl. die Kommentare in §2.4) Ergebnisse werden in den Zeilen [+] oder [±] unter einer gestrichelten Linie eingetragen. In jeder Zeile werden erst die Worte mit Ĕ und anschließend diejenigen mit Ŏ aufgelistet. Alle Worte erscheinen in spitzen Klammern und werden immer mit der Etymologie versehen. Falls die Worte in ihrem Kontext gezeigt werden, wird die Nummer der Registerkarte in eckigen Klammern angegeben. Für ausführlichere Kommentare sind die Fußnoten zuständig. Die betrachteten Fälle gelten als types und nicht als tokens: manche Worte treten häufig auf, andere nur einmal; deren Auswahl liegt in erster Linie an den Glossaren, die an den Texteditionen gelegentlich angehängt sind, in <?page no="99"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 85 zweiter Linie an der Überprüfung des gesamten Textes. Obwohl ich mir der philologischen Probleme, die durch diesen Ansatz entstehen können, bewusst bin, habe ich trotzdem beschlossen, so weiter fortzugehen: Aufgrund der Natur dieser Buchhaltungstexte wäre ich dazu geführt worden, einige Worte unzählige Male wiederholen zu müssen. Was hier präsentiert wird, soll lediglich den Zweck dienen, einen gesamten Überblick über die Verschriftlichung der Diphthongierung im Friaul zwischen 1350 und 1450 anzubieten. 38 2.3. Textanalyse I. Ospedale di S. Maria dei Battuti in Cividale (1350-8) I.1. Starke Stellung [+] * MULJĔRE <mogli>, <mogly> 39 * CONSĬLJU +-ier (<- ARJU ) 40 <consiglir>, <cunsiglir>; Plur. <cunsiglirs> * AMBRŎSJU <brios> (Personenname) 41 [±] [-] * ŎVU Plur. <galinas cum ovis> [VII] I.2. Schwache Stellung I.2.1. Offene Silbe I.2.1.1. Paroxytona (allgemein) [+] DĔDIT 42 <die> [±] [-] 38 Für eine Skriptometrische Analyse des Altfriaulischen, die über die Zwecke dieses Aufsatzes hinausgehen würde, vgl. Videsott (2012). 39 Vgl. NP (627) muîr. 40 Für das Suffix -ier muss man nach Meyer-Lübke (1890, §486; vgl. Rohlfs 1969, §1113) einen französischen Ursprung annehmen. 41 Die Endung -ˈV SJ V [≠a] # > ˈV[z]V (vgl. Ascoli 1873, 510) gilt als Starke Stellung, wie in * BLASJU > Blâs [bla ː s] (NP, 1804); eine Form *Ambrûs ist allerdings nicht belegt (NP, 1803: Ambrôs, Ambrosi, Brôs); <Brios> könnte mit Venezischem Ambroso (dreimal in Cronica deli imperadori romani, von 1301¸vgl. Ceruti 1878) verbunden sein. Für Ŏ > [j ɔ ] siehe II.2.2.1, III.2.2.1, VI.2.1.1, VIII.2.1.1 und §2.4. 42 Der komplette Ausfall der letzten Silbe hat den betonten Vokal abgedeckt, und somit die Bedingungen für eine starke Stellung verhindert. <?page no="100"?> Lorenzo Filipponio 86 I.2.1.2. Paroxytona mit auslautendem nicht etymologischem Vokal [+] * MĔTRU <mieri> (Maßeneinheit) * VĔT ( Ŭ ) LU <viedris> *P ĔTRU <pieri> [±] * ŎLJU <olio>, 43 <vueli>, <ueli>, <coppo di ferro di poni oli> [III] [-] I.2.1.3. Proparoxytona [+] * MĔDĬCU <miedy> [±] *S TĔFĂNU <Stefin>, <Stiefin> * RŎTŬLU <ruodolo suluqual si scrive li nomi> [III]; Plur. <roduli di statuti> [III] [-] PRAEBYTER 44 <predi> * HŎMĬNI <de morti | omeny e femene> [XVI] I.2.2. Geschlossene Silbe I.2.2.1. Paroxytona (allgemein) 45 [+] ŎCTO <vot> [±] * MĔDJU <mieç>, <miec>, <meço>; * MĔDJA <meça>; Plur. <mieçis> Altfranzösisch coissin 46 (<* CŎXA + INU )+ ĔLLU <cusinelli>, <cusignelli> * FLUMICĔLLU <flumisel>, <flumisello>, <flumisiel> (Ortsname) * SILVĔSTRE <esalviestri>, <esalvestri> (Personenname) [-] * LIBĔLLU <nivel> ,Mietpreis‘ SŎLVIT <nunc solvit Iacobus guarbitus de | grupignano> [10 bis] I.2.2.2. Proparoxytona (allgemein) - 43 Diese Form erscheint eingerahmt am linken Seitenrand (Frau 1971, 196). 44 Vgl. REW (§6740.2). 45 Der Ortsname <çelo> (<* CĔLLA ) scheint mir schwierig einzuordnen, da <ç> [t ʃ ] das Ergebnis sowohl von * C + E als auch von *cje- ([t ʃ +j ɛ ]) zeigen könnte. Bezüglich der Varietät der Laute, die durch <ç> verschriftlicht werden, siehe Benincà/ Vanelli (1998, 54- 55), Vicario (1998, 61-62; 1999, 129). Für die Schreibweise der altfriaulischen Texte siehe auch Marchetti (1932b). 46 Vgl. REW (§2292: provenzalisch coisí). <-gnel-> = -[ ɲ ɛl]- < n+jè. <?page no="101"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 87 I.2.2.3. Nasal+C nach dem betonten Vokal [+] * PRATUM STĔNTUM 47 <Pristint> (Ortsname) * PŎNTE <puint> [±] [-] * FRŪMĔNTU <formento>, <furmenti>, <forment> 48 * CŎNGIU <conço>; Plur. <conç>, <congios vini> [VII] ,Bütte‘ (Maßeinheit) I.2.2.4. [r]+C nach dem betonten Vokal [+] * OFFĔRRE > offerta <ufiarto>, <ufiarta>, <uffiarto> PŎRTA <puarto> * ŎRBU + ĪTTU <guarbitus> (vgl. I.2.2.1) * ŎRPHĂNA <uarfino> [±] [-] * QUATĔRNU <quaderno> * FĔRRU <ferro> (vgl. I.2.1.2) * HŎRTU <ort> 49 * MŎRT - <ut post eius mortem> [III], <morti> (vgl. I.2.1.3.) * AD + CŎRDARE (< CŎR ) 50 <corda> <chorda> I.3 Sonstiges * PAULU > Venezisch Pòlo <pol> <puel> 51 * PRIŌRE > priòlo 52 <priul>; Plur. <priuli> <priugl>; priòla <priolo> 47 Frau (1971, 189; vgl. Frau 1978, 98) erwähnt pratum stentatum. Diese Form stammt allerdings aus dem Partizip ohne Suffix stentum ,unfruchtbar‘. 48 Ĕ wird im Toskanischen in der Gruppe - MĔNT geschlossen (vgl. Rohlfs 1966, §88; vielleicht liegt es an einer Analogie zum Adverbialsuffix -mente). In den hier analysierten Texten lässt die Abwesenheit von Diphthongierung (und Schließung: > *-mint) bei allen Formen mit dem Suffix - MĔNT - (vgl. das wiederkehrende Wort <testament>) vermuten, dass in dieser Beziehung das Friaulische dem Toskanischen entspricht. Deshalb wird fortan als Beispiel nur das meistbelegte * FRŪMĔNTU (NP, 336 formènt) erwähnt (vgl. III.-IV. und VI-VIII.2.2.3). 49 Vgl. NP (674) Ôrt. Aber westfriaulisch Uarsa (1231) ‚Beet‘, vermutlich aus * HŎRTJA (Zamboni 1973, 39). 50 Vgl. Migliorini/ Duro (1950, 6). 51 In anderen Karten findet man auch <pul> (Frau 1971, 193, N. 24). Pòlo erscheint im venezischen Dokument Designazione di terre nel ferrarese (von 1253; vgl. Stussi 1965, 1- 7). 52 Laut GDLI (XIV, 389) wäre die Form priòlo als sizilianisch anzunehmen. Im Venezischen erscheint sie als Nachname im Dokument Cedola di Filippa dei Prioli (von 1315; vgl. Stussi 1965, 141-144). <?page no="102"?> Lorenzo Filipponio 88 II. Quaderno di Odorlico da Cividale (1361-2) II.1. Starke Stellung [+] * PĔDE <pit> 53 Altfranzösisch oste (< * HŎSPĬTE ) 54 +-ier <vusty> * NŎVU <nuf> 55 FŎRIS 56 <fur> * RŎT ( A ) <arut> 57 [±] [-] MŎDO <mot> 58 HŎMO <om> II.2. Schwache Stellung II.2.1. Offene Silbe II.2.1.1. Paroxytona (allgemein) [+] DĔDI <diè>; DĔDIT <diè> 59 STĔTIT <stiè> STATĔRAS <stadieris> * STŎRJA <stuergo> 60 ĔRAT <jaro> 61 [±] [-] II.2.1.2. Paroxytona mit auslautendem nicht etymologischem Vokal [+] [±] *P ĔTRU <Piery>, <Petry> [-] 53 Erscheint in der Redewendung <da pit>, wörtlich, für den Fuß‘, denn ‚niedrig‘. 54 Vgl. REW (§4197). 55 Vgl. NP (392) gnûf. Die Palatalisierung der maskulinen Form ist analogisch aus der femininen gnove < *njòve (vgl. VI.2.1.1 <gnovys>, VIII.2.1.1 <gniova> und §2.4). 56 Vgl. REW (§3431). 57 Stammt vermutlich aus einer maskulinen Form ab (vgl. NP, 901 rôt ‚Mühlenrad‘). 58 Vielleicht ein Kultismus, wie auf Italienisch (DELI, 994). Im heutigen friaulischen mût (NP, 638). 59 Vgl. das Konjunktiv Imperfekt <dies>. 60 <g> = [j], vgl. Vicario (1998, 59). Vgl. NP (1142) stuèrie. 61 Gleiches Ergebnis wie bei ˈV+[r]+C (*.2.2.4; vgl. unten IV. und VIII.2.1.1). <?page no="103"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 89 II.2.1.3. Proparoxytona [+] *S TĔFANU <Stiefin> * SŎCERU <sueser> * HŎMĬNI <vuming>, <vming>, <umign> 62 [±] [-] II.2.2. Geschlossene Silbe II.2.2.1. Paroxytona (allgemein) [+] * GRŎSSU <grues> * PŎSSU (I Person) > *posse (III Person) <pues> * NŎSTRU <nuestry> * NŎCTE <gnot> 63 [±] [-] II.2.2.2. Proparoxytona (allgemein) - II.2.2.3. Nasal+C nach dem betonten Vokal 64 [+] PRAESĔNTJA <prisinço> * PŎNTE <puint> CŎNTRA <quintro> [±] [-] * DECĔMBRE <deçenbry> * SEPTĔMBRE <setenbry> * NOVĔMBRE <novenbry> 65 DIFFERĔNTIA Plur. <diferençis>, <diferençiis> 66 . 62 Zusammen mit * RŎTŬLU > rudul (in den hier analysierten Texten nicht belegt) „il solo pajo di esempj per u = *ue in penultima“ (Ascoli 1873, 495). Für rudul könnte man an eine analogische Form mit rut, <arut> (vgl. oben II.1 und die N. 57) denken. Für * HŎMĬNI > uhandelt es sich laut Vicario (1988, 67) um eine Schließung vor Nasal (vgl. III., V. und VII.2.1.3 sowie §2.4). 63 <gnot> = [ ɲ ɔt] < n+jò (vgl. oben die N. 41; siehe §2.4). 64 Die Form * CĔNTU <çient> könnte laut Vicario (1998, 66) auf einen Schreibfehler zurückgeführt werden. Man würde sich *<çint> oder <çent> (vgl. unten III.2.2.3) erwarten. In NP findet man (114) Cènt. 65 Die Abwesenheit der Diphthongierung könnte darin bestehen, dass die Monatenamen als Venetismus bzw. Toskanismus zu betrachten sind. Die friaulischen Namen für September, November und Dezember sind nämlich vendemis, tomùz und brume (NP, 593, 1265, 1197 und 77; vgl. unten IV.-IX.2.2.3). 66 Wahrscheinlich ein Kultismus. <?page no="104"?> Lorenzo Filipponio 90 II.2.2.4. [r]+C nach dem betonten Vokal [+] * COOPĔRTA <chuviarto> PŎRTA <puarto> [±] [-] * QUATĔRNU <choder>; Plur. <choders> II.3 Sonstiges * METĬPSIMU > Altfranzösisch medesme <midiesim> 67 III. Esercizi di versione dal friulano in latino in una scuola notarile cividalese (Ende des XIV Jhdt.) III.1. Starke Stellung [+] HĔRI <gir> 68 * PĔDE <pit> 69 ; Plur. <pis> * DĔCE <dis> 70 * MULJĔRE <mugli>, <muglir> * DĔXTER +-ier <çistrir> * LĔPORE +-ier <livri> * VOLUNTARJE > Altfranzösisch volentiers 71 <volantir>, <volontir> DŎLET <dul> * ŎVU Plur. <us> * CŎR <cur> [±] [-] *( AD ) MŎDU <a mot> MŎDO <mo> 67 Für den altfranzösischen Übergang vgl. Rohlfs (1968, §495). Die Form mediesimo mit unerwarteter Diphthongierung erscheint im Toskvenezischen Text Storia di Apollonio di Tiro (Mitte des XIV Jahrhunderts, vgl. Salvioni 1889, 41; Ascoli 1873, 453) und in Tristano Veneto (XIV Jahrhundert, vgl. Donadello 1994) und wird auch von Rohlfs (1966, §96) erwähnt 68 <g> = [j] (vgl. Benincà/ Vanelli 1998, 50). 69 Erscheint in der adverbialen Redewendung <d ʼ inpit> ‚anstelle von‘. 70 Über *djè[z]e. 71 Vgl. REW (§9437). <?page no="105"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 91 III.2. Schwache Stellung III.2.1. Offene Silbe III.2.1.1. Paroxytona (allgemein) 72 [+] SCHŎLA <scuelo>; Plur. <scuelis> * RUBĔŎLA <r[i]buelo> ,Ribolla‘ (Weinsorte) * MŎRJUNT <muerin> 73 BŎNA <buino> 74 [±] [-] III.2.1.2. Paroxytona mit auslautendem nicht etymologischem Vokal [+] * FĔBRE <fyero> 75 * ŎCŬLU <vogli> [±] [-] III.2.1.3. Proparoxytona [+] * MĔDĬCU <myedi>, <miedi> DĔCĬMA <dyesimo> ŎPĔRA <voro> * HŎMĬNI <umign> 76 [±] [-] 72 Im Text findet man die Formen <gllevar> ‚heben‘ (hier als Substantiv: <lu gllevar del soreli> ‚der Sonnenaufgang‘, [79]) und <gllevat> ‚gehoben‘ mit analogischer Palatalisierung von l-, die in den auf der Wurzel betonten Formen entstanden ist, z.B. LĔVAT > *ljèva > *[ˈ ʎɛ va] (vgl. Benincà/ Vanelli 1998, 67). 73 Vermutlich hat es im Friaulischen keine Phase gegeben, in der diese Verbform ein Proparoxytonon gewesen ist (vgl. Rohlfs 1968, §532). Vgl. unten (III.2.2.1) <puesgin>. 74 Für Ŏ > [wi] vor einfachem Nasal siehe oben N. 62 und vgl. VIII.2.1.1, VII.-VIII.2.1.3 und §2.4. 75 Regelmäßiger auslautender -o (vgl. §2.4) aus metaplastischer Form *febra. 76 Vgl. oben N. 62. <?page no="106"?> Lorenzo Filipponio 92 III.2.2. Geschlossene Silbe III.2.2.1. Paroxytona (allgemein) [+] * MĔLJU <myegll> * MĔDJU <myeç>; * MĔDJA <myeço> * ĔLMOS <glems> 77 NOVĔLLA <nuvyelo> * BĔLLU <byel>; BĔLLA <byelo> <bielo>; Plur. <byelis> * CŬLTĔLLU <churtyel> FĔSTA <fyesto> EXPĔCTET <spyet> (Konjunktiv) * FŎLJAS <fueglis> ,Jahre‘ 78 * VŎLJAT <ueglo> 79 (Konjunktiv) * HŎDJE <ue> * GRŎSSU <grues> (Gewichtsmaßeinheit) * PŎSSU <pues> * TŎSTU <tuest> NŎSTRA <nuestro> * VŎSTROS <uestris> PŎSSINT <puesgin> (Konjunktiv) * NŎCTE <gnot>; Plur. <gnoç> * NŎPTJAS 80 <gnoçis> [±] [-] * MANTĔLLU <mantel> * VASCĔLLU Plur. <vasegll> ‚Fässe‘ III.2.2.2. Proparoxytona (allgemein) [+] * ĔSSERE <gessi>, <gesi> TŎLLERE <tueli> 81 [±] [-] 77 Über *jelms > *ljems (Metathese; Benincà/ Vanelli 1998, 57, N. 17). 78 Speziell zu Wein (<Achest vin doç e di dos fueglis>, [16]), vgl. Benincà/ Vanelli (1998, 93); FEW s.v. fŏlĭum (III, 682). 79 Vielleicht mit Haplologie zwischen dem inlautenden Labiodentalen *v- und dem glide. Vgl. auch <uestris>. 80 Anstatt * NŬPT - (vgl. Rohlfs 1966, §68). Für <-gno-> < n+jò vgl. oben NN. 39 und 61. 81 Vgl. oben (§1.5) Bsp. (14). <?page no="107"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 93 III.2.2.3. Nasal+C nach dem betonten Vokal [+] * VĔNTU <vint> * TĔMPU <timp>, <tinp> * RĔNDITA <arindido>; Plur. <arindidis> 82 DESCENDĔNTES <disindinç> 83 COGNŌSCĔNDO <cugnusint> 84 [±] [-] * FRŪMĔNTU <forment> 85 * CĔNTU <çent> 86 III.2.2.4. [r]+C nach dem betonten Vokal [+] DIVĔRSAS <diviarsis>, <divyarsis> SUPĔRBIA <subiarbio> * CĔRTU <çiart> TĔRRA <tyaro> * COOPĔRTA <cuvyarto> * MŎRTE <mu[art]> * TŎRTU <tuart> * CŎRPU <quarp> * FŎRTJA <fuarço> [±] * FŎRTE <fuart>, <fort> [-] III.3 Sontiges * CŌMPTJANT <quincin> ,reparieren (VI Pers.)‘ IV. Frammento di rotolo di famiglia cividalese (1413-20) IV.1. Starke Stellung [+] MŬLJĔRE <moglly> VŎLIT <vul> NŎVU <nuf> [±] [-] 82 Vgl. REW (§7141.2). 83 Gleich verhalten sich die anderen Partizipien aller Konjugationen außer der ersten. 84 Gleich verhalten sich die anderen Gerundive aller Konjugationen außer der ersten. 85 Vgl. oben N. 48. 86 Trotz der Schwierigkeiten bei der phonetischen Interpretation von <ç>, ist es davon auszugehen, dass diese Form als nicht diphthongiert betrachtet werden kann: ansonsten hätte man <çint> (mit je > i vor Nasal+C) erwartet (siehe oben die NN. 45 und 64). <?page no="108"?> Lorenzo Filipponio 94 IV.2. Schwache Stellung IV.2.1. Offene Silbe IV.2.1.1. Paroxytona (allgemein) [+] DĔDIT <diè> ĔRAT <iaro>, <jaro>; ĔRANT <iarin> 87 [±] [-] IV.2.1.2. Paroxytona mit auslautendem nicht etymologischem Vokal [+] ŎLEU <volly>, <velly> [±] [-] IV.2.1.3. Proparoxytona [+] STĔFANU <Stiefin> DĔCĬMA <diesimo> [±] [-] IV.2.2. Geschlossene Silbe IV.2.2.1. Paroxytona (allgemein) [+] * FĔSTA <fiesto> SŎCJU <sueç> *čott 88 <zuet> ,Hinkefuss‘ (Spitzname) NŎSTROS <nuestris>; NŎSTRA <nuestro> [±] PORCĔLLU <purzel>, <purçiegl>, <purciel> [-] IV.2.2.2. Proparoxytona (allgemein) [+] TŎLLERE <tuelly> [±] [-] 87 Vgl. oben N. 61. 88 REW §2454 («Woher? »); vielleicht vorindogermanisch (vgl. DELI, 343, s.v. ciòttolo). Vgl. NP (1323) zuèt. Über die Schreibart dieses Spitznamens siehe R. Pellegrini (1987, 31). <?page no="109"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 95 IV.2.2.3. Nasal+C nach dem betonten Vokal [+] PRAESĔNTE <prisint>; PRAESĔNTJA <prisinzo>, <prisinco> * CŎNGII <quinç> [±] [-] * DECĔMBRE <decembri> * SEPTĔMBRE <setenbry>, <setenbri> 89 * FRŪMĔNTU <forment> 90 IV.2.2.4. [r]+C nach dem betonten Vokal [+] ŎRBA <varbo> ( EST ) MŎRT ( U ) A <emuarto> [±] [-] PŎRCU <por(cs)> PŎRTA <porta> IV.3 Sonstiges * METĬPSIMU > Altfranzösisch medesme <midiesim> 91 V. Quaderno dell’Ospedale di Santa Maria Maddalena (Udine, 1382-5) V.1. Starke Stellung [+] * MULJĔRE <moglì> * NŎVE <nuf> * ŎVOS <us> LINTJŎLU <lincul>; Plur. <lincugl> 92 [±] [-] VĔNIT <ven> * HŎMO <om> V.2. Schwache Stellung V.2.1. Offene Silbe V.2.1.1. Paroxytona (allgemein) [+] * MANARJŎLA 93 <manaruele> ,Wicke‘ [±] ĔRAT <era>; ĔRANT <jerin> [-] DĔDI <dey>; DĔDIT <dè> 89 Vgl. oben N. 65. 90 Vgl. oben N. 48. 91 Vgl. oben N. 67. 92 <c> = [ts]; <gl> = [ ʎ ] (vgl. Vicario 1999, 130). 93 MAN ( U ) ARIUS (REW, §5332) + - ÉOLU > - JÒLU (Rohlfs 1969, §1086). <?page no="110"?> Lorenzo Filipponio 96 V.2.1.2. Paroxytona mit auslautendem nicht etymologischem Vokal [+] * MĔTRU <miero di oglo> [1v] *P ĔTRU <Piero> 94 [±] * ŎLJU <oglo>, <ueli>, <olio> [-] * VĔT ( Ŭ ) LU 95 <veri> V.2.1.3. Proparoxytona [+] * CŎCĔRE <chuey>, <chuei> * HŎMĬNI <umign> 96 [±] * PŎS ( Ĭ ) TU <puest>, <sore un camp lu qual è post in porta> [4r]; PŎSĬTA <pueste>, <posta> [-] *S TĔPHĂNU <Stefan>, <Stefin> V.2.2. Geschlossene Silbe V.2.2.1. Paroxytona (allgemein) [+] * NĔPTIA <gneca> 97 [±] [-] * MĔDJU <mec>, <meço>, <meco> * AGNĔLLU <angelo>, <agnelo> * LIBĔLLU <nivel> * PORCĔLLU <purcelo>, <purcel>; Plur. <purcegl> * STĪPĔLLOS <stivelis> ,Halbstiefel‘ * VASCĔLLU <vasel> ,Fass‘; Plur. <vasegl> * LĔCTI <leti> * PĔTTJAS <pecis> ,Lappen‘ * FĔSTAS <festis> V.2.2.2. Proparoxytona (allgemein) [+] * ĔSSĔRE <gesir> 98 * TŎLLĔRE <tueli> [±] [-] TĔXĔRE <tesi> 94 Überall mit nicht friaulischem auslautendem Vokal (vgl. Vicario 1999, 177). 95 Kann nicht aus VĔTUS abstammen (so REW, §9292): denn hätte man *vît; wahrscheinlicher aus VĔTŬLUS (> *viedri > vieri; vgl. REW, §9291), während die Form vieli (NP, 1274) aus VĔCLUS (REW, §9291.2) kommen soll. 96 Vgl. oben N. 62. 97 <gn> = [ ɲ ] (vgl. Vicario 1999, 130) < njè- (vgl. oben N. 46). 98 <g> = [ ɟ ], [j] (Vicario 1999, 130); das auslautende <r> könnte ein „probabile correttismo“ (210) sein. Modernes Friaulisch: jessi (NP, 484-485). <?page no="111"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 97 V.2.2.3. Nasal+C nach dem betonten Vokal [+] [±] * CŎNGII <chonci>; <quinc> [-] * DECĔMBRE <decenbri> * NOVĔMBRE <novenbri> * SEPTĔMBRE <setenbri> 99 V.2.2.4. [r]+C nach dem betonten Vokal [+] * ŎRBU + ĪTTU <Uarbic> ,Orbetti‘ (Familienname); [±] PŎRTA <puarte>, <porta> (vgl. V.2.1.3) 100 [-] * TĔRTJA <terca> * OFFĔRRE > offerta <uferta> * FERRU <fero> * HŎRTU <ort> * MŎRTU <mort> DŎRMUNT <dormin> VI. Il registro della Confraternita dei Pellicciai di Udine (1400-1430) VI.1. Starke Stellung [+] DĔCĔM <dis> * MULJĔRE <moglì> * COEMETĔRJU <simidir> Altfranzösisch oste (< * HŎSPĬTE )+-ier 101 <hostir> 102 ,Wirt‘ * FĔRRU + JŎLU <Firugl> 103 (Personenname) SŎROR <sù> * LŎCU <in lu det lù>, <in lo dicto luogo> [1r] [±] * NŎVU <nuf>, <In Merchato novo> [35r-37v] (Flurname) [-] MŎDO <mo> *A MBRŎSJU <Ambrosy>, <Ambros> (Personenname) Germanisch -bert- (Personenname)+ JŎLU <Bratiol> ,Bertiolo‘ (Ortsname) 104 * PŬTĔU + JŎLU <veriores confines iuxta Dominicum de Pozolio> , Pozzuolo del Friuli ‘ [38v] (Ortsname) 105 *B ŎNU <Bon> (Personenname) 99 Vgl. oben N. 65. 100 Andererseits hat man <la qual è pueste in puarte> [1v]. 101 Vgl. REW (§4197) und Rohlfs (1969, §1113). 102 NP (676) ostîr, fem. ostère. 103 Mit Palatalisierung des Lateralen (Vicario 2003, 148). 104 Vgl. Frau (1978, 34), NP Bertiûl (1741). 105 Vgl. Frau (1978, 96), NP Puzzùi (1785). <?page no="112"?> Lorenzo Filipponio 98 VI.2. Schwache Stellung VI.2.1. Offene Silbe VI.2.1.1. Paroxytona (allgemein) [+] * CAL ( Ĭ ) DARJA > caldèra/ caldaria Plur. <caldiergi> 106 * MATTJŎLA 107 <Maçuela> ,Mazzola‘ 108 (Spitzname) NŎVOS <gnovys> 109 [±] [-] * FŎRAS <di fora> * RUBĔŎLA <Rabiolum de Utino> [23v] (Spitzname) 110 VI.2.1.2. Paroxytona mit auslautendem nicht etymologischem Vokal [+] *P ĔTRU <Pieri> * VĔT ( Ŭ ) LU <vieri>; Plur. <vieris>; <in lo ditto luogo li confini viechi sono aquesti> [4v]; * VĔCLA 111 <Iachum dalla Viella> (Personenname) [±] [-] DE RĔTRO <dredo> 112 VI.2.1.3. Proparoxytona [+] *S TĔFĂNU <Stiefin>, <Stiephin> (Personenname) DĔCĬMA <diesima>; Plur. <diesimis> * PŎS ( Ĭ ) TU <puest>; * PŎS ( Ĭ ) TA <puesta> [±] [-] * MŎNĂCA Plur. <Iachum dele Monege> 113 (Personenname) VI.2.2. Geschlossene Silbe VI.2.2.1. Paroxytona (allgemein) 114 [+] * MĔDJA <mieça> * SĔLLAS <sielis> * SILVĔSTRE <Silviestri> (Personenname) * CŎLLE + ALTU 115 <Quellat> ,Collatto‘(Ortsname) * AMANDJANU + ĔLLU 116 <Manzignello> ,Manzinello‘ (Ortsname) 106 Für caldèra vgl. GDLI (II, 534), für caldaria Piccini (2006, 129); NP (124) cialdèrie, ohne Diphthongierung (der Dissimilation halber? ); für <g> = [j] siehe Vicario (2003, 43). 107 Vgl. REW (§5452a). 108 Vgl. NP (585) mazzuèle ,grosser Hammer‘. 109 Vgl. oben NN. 41 und 63. 110 Der Spitzname heißt ,Trinker vom Wein Ribolla‘ (Vicario 2003, 111). 111 Vgl. oben N. 95. 112 „[C]hiaramente veneta“ (Vicario 2003, 81). 113 Venezische Form (Vicario 2003, 107). 114 Auch in diesem Text erscheint der Ortsname CĔLLA <çele> (vgl. N. 45). 115 Oder ,Collatto‘ ( CŎLLE + ATTU mit Pejorativsuffix, Vicario 2003, 53). 116 Vgl. Frau (1978, 78); NP (1767) Manzignèl. <?page no="113"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 99 * CŎLLE <Francesch di Quel> (Personenname) * SŎLJU <dal Suegl> 117 (Personenname) * PER + MĔDJU <parmìs> 118 ,entlang‘, ,neben‘ [±] TABĔLLA <taviegla>, <tavella>, <tavegla>, <taviela> 119 ,Landgut‘; Plur. <Tabelis> *čott <Çotto> 120 , <Çuet>, <Çot> ,Hinkefuss‘ (Spitzname) * POST + CŎLLE <Postcol>, <Posquollo> 121 , <Puscollo>, <Pusquel> ,Poscolle‘ (Ortsname) 122 [-] * NĔPTIA <neça> 123 * AD + PRĔSSUM <après> * LIBĔLLU <livello>, <nivel>, <livel>, <nivello> * PORCĔLLU <purçel> 124 *tul-/ t ə l-+ MĔDJU <Martino | pellipario de Tulmezio> 125 ,Tolmezzo‘ [6v] (Ortsname) TĔSTA <Testa> (Personenname) 117 <Suegl> heißt ,nicht tiefer Deich‘; NP (1147) suéi. 118 Vgl. REW (§5462). Wenn die hier vorgeschlagene etymologische Rekonstruktion stimmt, haben wir hier eine Entwicklung von * MĔDJU (siehe oben Bsp. (12)), die man in der Kategorie der starken Stellung einordnen müsste (vielleicht durch eine Stufe - ˈV[z]V, z.B. *miè[z]o). In NP (703) werden auch die Varianten parmiez (die unsere Etymologie bestätigen würde) und parmîs (in dem î einen langen Vokal bezeichnet) erwähnt. 119 Zweimal mit Palatalisierung des Laterals (Vicario 2003, 133). Die Palatalisierung könnte auch das Ergebnis einer Metathese sein (*tavièla > *tavèlja). NP (1178) tavièle. 120 Laut Vicario (2003, 47) „venezianeggiante“. Vgl. oben N. 88. 121 <Posquollo>, <Puscollo> und <Pusquel> erscheinen in der gleichen Karte [32r] (<posti in la tavella di Puscollo>; <In lo borgo di Posquollo di fora>; <mitut in la Taviela di Pusquel>: laut Vicario (2003, 140) handelt es sich hier um den ersten Beleg der rein volkstümlichen Form <Pusquel>; bemerkenswert sind auch die Wechsel <posti> ~ <mitut> und <tavella> ~ <Taviela>). 122 Vgl. Frau (1978, 95); NP (1785) Puscuèl. 123 In einem eindeutig venezischen Zusammenhang. 124 Mit dem Suffix *- ĔLLU sind in diesem Text auch etliche Personen- und Spitznamen, die keine Diphthongierung vorweisen, vorhanden: <Chacharellum> (vgl. NP 90 cagarèle; oder <Chacha[v]ellum> <* VĔLLU , vgl. Vicario 2003, 138), <Buçirel> ,der Schmächtige‘ (vgl. NP 87 bùzar ,Kind‘, ,schmächtiger Mensch‘; für die Etymologie siehe Vicario 2003, 92), <domini Martinelli> [31v] (lateinischer Genitiv), <Coradella> ,Corradina‘ und der ethnonymische Nachname <Garnel>, <Chiarnel> ‚aus Karnien‘. 125 Für die Etymologie vgl. Frau (1978, 116): tul (,Grenze‘), t ə l- (‚Erde‘, ‚Land‘) sind vorrömisch. NP (1796) Tulmièc’. <?page no="114"?> Lorenzo Filipponio 100 VI.2.2.2. Proparoxytona (allgemein) [+] [±] [-] PRAEBYTER <pre> VI.2.2.3. Nasal+C nach dem betonten Vokal [+] *L AURĔNTJU <Laurinç> (Personenname) [±] [-] * CONVĔNTU <convent> * FRŪMĔNTU <forment> 126 * SEPTĔMBRE <septembri> 127 VI.2.2.4. [r]+C nach dem betonten Vokal [+] * FĔRRU <Fiar> (Spitzname: <Pieri Fiar>, vgl. VI.2.1.2) * PATĔRNU <Padiarn> (Ortsname) * MĔR ( Ŭ ) LU <Myarli> (Spitzname) [±] PŎRTA <porta>, <puarta> [-] * QUATĔRNU <Quaderno> ,Coderno‘ (Ortsname) 128 * COOPĔRTA <coverta> * TĔRMĬTE <termit> VĔRSA <Versa> (Ortsname) 129 * PŎRTU <ala | misura di Porto Grevar> ,Portogruaro‘ [41r] (Ortsname) 130 VI.3 Sonstiges * METĬPSIMU > Altfranzösisch medesme <midiesim> 131 * MĬLJU <melg>, <mielg> 132 ,Hirse‘ VII. Quaderno della Fraternita di Santa Maria di Tricesimo (Udine, 1428-1437) Da sie besondere Sprachdenkmale enthalten, werden hier die Karten von Pieri Mian [48r-52v] und von Daniel Consolin [55r-68v] mit [PM] resp. [DC] gekennzeichnet (vgl. Vicario 2000). 126 Vgl. oben N. 48. 127 Vgl. oben N. 65. 128 Vgl. Frau (1978, 49); NP (1746) Codèr. 129 Vgl. Frau (1978, 122); NP (1798) Vièrse. 130 <Grevar> stammt vermutlich aus dem gallischen grava ‚(Kiesel)stein‘ (vgl. REW, §3851; Vicario 2003, 163). 131 Vgl. oben N. 67. 132 Vgl. NP (587) mèi. Für die Form <miegl> muss man eine sekundäre Diphthongierung annehmen (Vicario 2003, 117). <?page no="115"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 101 VII.1. Starke Stellung [+] * MULJĔRE <moglì>, <mulìr> [DC] * LŎCU <lù> * ŎVU Plur. <uç> * LINTJŎLU Plur. <linçuy> [PM] [±] * NŎVU <nuf>, <questis predicti denari hebbe el cameraro novo> [PM, 52v] [-] * FILJŎLU <fiol> 133 [DC] SŎROR <sor> 134 [DC] VII.2. Schwache Stellung VII.2.1. Offene Silbe VII.2.1.1. Paroxytona (allgemein) [+] * VĔT ( Ŭ ) LA <viera> [±] DĔDI <It(em) dedi d(omi)no p(re)sb(ite)ro> [22r], <dey>, <diey>; DĔDIT <diè> [-] * PĔTRA <pro petra ad salvandum oleum> [PM, 55v] * RUBĔŎLA <arybola> ,Ribolla‘ NŎTA <nota>, <note> 135 [DC] VII.2.1.2. Paroxytona mit auslautendem nicht etymologischem Vokal [+] * VĔT ( Ŭ ) LU <vieri> [±] *P ĔTRU <Pieri>, <Pero>, <Petri>, <Pire>, <Pyre> 136 * ŎLJU <vuely>, <vueli>, <olio>, 137 <holio>, <oleum> [PM] (vgl. VII.2.1.1), <ueli> [PM], <oly> [DC] [-] VII.2.1.3. Proparoxytona [+] * CŎCĔRE <quey>, <chuey> EXCŬTERE > * EXCŎTERE 138 <scuedi>, <squedi>, <schuedi>, <aschuedi> [PM] ŎPĔRAS <vuoris> [PM] ,Arbeiterinnen‘ 139 [±] *S TĔFĂNU <Stiefin>, <Steffin>, <Stefin> 140 * ALEMŎSYNA 141 <almuesine>, <almuesina>, <almusine>, <elimosina>, <elmuesine> 133 Als venezische Form zu betrachten (vgl. Vicario 2000, 186); NP (309) fi (<* FILJU ). 134 NP (1151) sûr. 135 Wahrscheinlich ein Kultismus bzw. ein Venezianismus; NP (656) nòte. 136 Vgl. Vicario (2000, 125). 137 <olio>, <vueli> und <vuely> erscheinen in der gleichen Karte [3r]. 138 Laut REW (§2998) It. Rum. [ ɔ ] „nicht erklärt“; laut DELI (1489-1490) italienisch scuotere aus QUATĔRE + EXCŬTĔRE . 139 Vgl. Vicario (2000, 183). 140 Vgl. Vicario (2000, 125). <?page no="116"?> Lorenzo Filipponio 102 * MŎNĂCU <monigo>, <muni>, <muini>, <muyni>, 142 <mony> [PM], <monich> [DC], <ex. S. xij per ij missis e j s. pro monigo> [DC, 60v] * HŎMĬNI <homini>, <humini> 143 [-] * SŎCERU <soser> [DC], <sozer> [DC] VII.2.2. Geschlossene Silbe VII.2.2.1. Paroxytona (allgemein) [+] * COLUMĔLLU Plur. <culumielg> ,kleine Balken‘; * COLUMĔLLAS <culum(ie)lis>? , <culum(e)lis>? ,Balken‘ 144 * VITĔLLU <vidiel>; * VITĔLLA <vidiela> * SŎCJU <sueç> ,soccida‘ 145 *čott <Çuet>, <Zuet> 146 ,Hinkefuss‘ (Spitzname) [±] * PORCĔLLU <purciel>, <purcel>, <portzel> [PM], <purtzel> [DC]; * PORCĔLLA <purcele> * VASCĔLLU <vasiel>, <vasschel> [DC]; Plur. <vaselg> *B ĔLLU <Bel>, <Biel> (Spitzname) 147 * MĔDJU <miez> [PM], <mez> [PM], <metz> [DC]; * MĔDJA <mieze>, <metza> [PM] [DC] [-] * FĔSTA <festa> * LĔCTU <Per un letto conperado> [PM, 51r] * FRATĔLLA <fradella> [DC] ,Bruderschaft‘ * CŎL ( LĬ ) GO , CŎLTA <colta> * NŎSTRA <nostre> [DC] VII.2.2.2. Proparoxytona (allgemein) - 141 Vgl. REW (§2839.2). 142 Vgl. oben N. 74. 143 Vgl. oben N. 62. 144 * COLUMĔLLU ist eine Diminutivform von COLUMNA (Vicario 2000, 109-110); die Feminine Form lässt vermuten, dass es sich um einen größeren Gegenstand der gleichen Art handelt (vgl. It. secchio ~ secchia; Tosk. coltello ~ coltella; Reg.It. von Bologna pallone ~ pallonessa ,größerer, nicht genug aufgepusteter [Basket]ball‘). 145 Art von landwirtschaftlichem Vertrag (Vicario 2000, 113; vgl. <insoçada>, zum Mitbesitz vergeben‘). 146 Vicario (2000, 128) lässt auch die Formen <Tzut>, <Tzutta> auf diesen Etymon zurückführen. Vgl. oben N. 88. 147 Vgl. Vicario (2000, 127). <?page no="117"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 103 VII.2.2.3. Nasal+C nach dem betonten Vokal [+] [±] * CŎNGIU <conço>, <quinc>, <quinz>; Plur. <quinz>, <congi>, <quynz> [PM] [-] * FRŪMĔNTU <forment>, <frument> 148 (auch [PM] [DC]) * NOVĔMBRE <novembri>, <novembris> [PM] * SEPTĔMBRE <setembri>, <septembro> 149 [PM] VII.2.2.4. [r]+C nach dem betonten Vokal [+] * CĔRTU Plur. <ciarç> [±] * OFFĔRRE > offerta <ufiarte>, <ufiarta>, <oferta>; Plur. <oferte> * TĔRMINE <tiarmin>, <termin>; Plur. <tiarmis>, <tiarmiç> 150 [-] * TĔRRA <soto terra> (12v) * COOPĔRTU <covert> [DC] ,Gedeck‘ 151 VII.3 Sonstiges * METĬPSIMU > Altfranzösisch medesme <midiesim> 152 VIII. Carte friulane del Quattrocento dall’Archivio di San Cristoforo di Udine (1425-1451) Die Edition besteht aus verschiedenen Registern, deren Verfasser sich bezüglich des Verhältnisses zwischen Venezianismen und Friaulismen deutlich unterscheiden. Ich folge der Nummerierung von Vicario (2001); [23] (Quaderno di ser Tony fornador, 1425-6); [24] (Quaderno di Iacum de Denel sartor, 1426-7); [25] (Quaderno di Denel fari di borch di Glemona, 1428-9); [27] (Quaderno di Cristoforo de Fazio, 1433-4); [36] (Il quaderno di Candido di ser Moyses e Rigo fornedor, 1439-40); [38] (Quaderno di Adamo cerdone, 1450-1). 148 Vgl. oben N. 48. 149 Vgl. oben N. 65. 150 Laut Vicario (2000, 163) aus *tiarmi mit epithethischem -t (wie * STŎMĂCU > stomit, vgl. Benincà/ Vanelli 1998, 65-66) + s (gegen REW, §8666 < * TĔRMĬTE ). 151 Vgl. Vicario (2000, 185). 152 Vgl. oben N. 67. <?page no="118"?> Lorenzo Filipponio 104 VIII.1. Starke Stellung [+] * HŎSPĬTE +-ier <ostir> [24] * DŬPLU +-ier Plur. <duplirs> [25], <dupliri> [36, 38], <dopliri> [36] ,Kandelaber für zwei Kerzen‘ FŎRIS <fur> [25] * NŎVU <nuf> [36] * FACIŎLU 153 <fazul> [24] Germanisch -bert- (Personenname)+ JŎLU <Bratiul> ,Bertiolo‘ (Ortsname) 154 [23, 24, 25, 27, 36] * MULJĔRE <muglir> [23, 36], <muglier> [25], <mogli> [25], <moier> [27], <muglig> [36] DĔCEM <diese> [24] * BARBA +-ier <barbiero> [24], <barbiro> [25 155 ], <barbier> [27], <barbir> [38] * BALLISTA +-ier <balistier> [27] * JŎCU <zuogo> [38] 156 [±] [-] MŎDO <modo> [24] * ŎVU Plur. <ovy> [23, 24, 27], <ovi> [27, 38] * FILJŎLU <fiol> [27, 36] * BŎNU <bon> [36] * QUARTU + ARJU + ŎLU <quartarolo> [27] ,ein Sechzehntel eines Scheffels‘ 157 Althochdeutsch latta+ ARJU + ŎLU Plur. <lataroli> [38] ,Nägel für Stangen‘ * TĔRTJU + ARJU + ŎLU Plur. <terceroli> [38] ,Nägel für Holzschuhe‘ 158 * HŎMO <homo> [38] 153 Vgl. REW (§3128a); laut Vicario (2001, 162) vielleicht über das Langobardische eingetreten. Vgl. toskanisches fazzoletto, mit -zwie lonza, calza und garzone (Rohlfs 1966, §275). 154 Vgl. oben N. 104. 155 Die Form ist in der gleichen Karte [6r], in der auch <formento>, <chonço>, <chonçi> (vgl. unten VIII.2.2.3) und <quaderno> (VIII.2.2.4) erscheinen, belegt. Da es sich um eine Rechenschaft handelt (suma sumarum), könnte es sein, dass der Verfasser - ein Denel aus Gemona, der normalerweise in seiner Skripta am meisten friaulische Züge auftauchen lässt - versucht hat, sich an die von ihm gefühlte Prestigevariante anzunähern. Vicario (2001, 134) redet in der Beziehung von toskovenezischem Einfluss. 156 Muss als Toskanismus betrachtet werden (Vicario 2001, 132). Vgl. unten (VIII.2.1.1) <fuora> und <schuola>. 157 Maßeinheit für Getreide (vgl. Vicario 2001, 182). 158 Vgl. NP latarûl (504; late ‚Stange‘, 505) tiarzarûl (1187). <?page no="119"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 105 VIII.2. Schwache Stellung VIII.2.1. Offene Silbe VIII.2.1.1. Paroxytona (allgemein) [+] * PĔTRA <piera> [23, 24, 38], <pietra> [38] * VĔT ( Ŭ ) LA <viera> [24, 25], <viere> [36] (vgl. VIII.2.1.2) FŎRAS <fuora> [27] ĔRAT <iara> [25], <iare> 159 [36] NŎVA <gniova> 160 [25] [±] DĔDI <dey> [23], <diey> [25, 36, 38], <dieg> [36]; DĔDIT <die> [25] SCŎLA <schola> [24], <schuola> [27], <scola> [38] * BŎNA <Fontana Bona> [24, 25, 38]; <Fontana Buina> ,Fontanabona‘ (Ortsname) 161 [25 162 ]; Plur. <Buinis> 163 [24] [-] * CAL ( Ĭ ) DARJA > caldèra/ caldaria <chaldera> [23] * VĔCLA <vechia> [27, 36 164 ]; Plur. <vechie> [38] * FILJŎLA <fiola> [27] VIII.2.1.2. Paroxytona mit auslautendem nicht etymologischem Vokal [+] * DE RĔTRO <driedo> [27] * MĔTRU <mieri> [23, 25, 36], <miero> [25, 38], <mieru> [36 165 ]; Plur. <mieri> [38] *P ĔTRU <Pieri> [23, 25, 36], <Piery> [24] * VĔT ( Ŭ ) LOS <vieris> [25] [±] * ŎLJU <expense oley> [23, 18r] (Genitiv), <olio> [23, 25, 27, 38], <olyo> [23], <oyo> [23], <oleo> [23], <oglo> [24, 36], <ollio> [24], <vueli> [25], <ueli> [25], <oio> [27, 36], <oiglo> [36]. <ogleo> [36], <oglio> [36 166 ], <oglu> [36] [-] 159 Vgl. oben N. 61. 160 Vgl. oben NN. 41 und 63. 161 Vgl. Frau (1978, 62); NP (1754) Fontanebuìne. 162 Erscheint zusammen mit <Fontana Bona> (eine Form, die auch in der oben erwähnten Karte [6r] belegt ist, vgl. N. 153) in der Karte [25r]. 163 Vgl. oben N. 74. 164 In der gleichen Karte [22v] mit <viere> (<zera viere>, <zera vechia> ‚alter Wachs‘). 165 Wie Vicario (2001, 133) merkt, erweist sich dieses unerwartete auslautenden -u als Eigenschaft eines einzelnen Heftes innerhalb der Sammlung, und zwar [36]. Vgl. unten <oglu> (VIII.2.1.2), <monigu> (VIII.2.1.3), <nostru> (VIII.2.2.1), <conzu> (VIII.2.2.3). 166 Diese ersten fünf belegten Varianten von [36] erscheinen einmal zusammen in der gleichen Karte [5v]. <?page no="120"?> Lorenzo Filipponio 106 VIII.2.1.3. Proparoxytona [+] [±] * SŎCĔRA <sosire> [23], <sosira> [24, 25], <suesira> [25 167 ] EXCŬTERE > * EXCŎTERE <schuedi> [36] * MŎNĂCU <muni> [36], <muini> [36], <monigu> [36], <monago> [38]; Plur. <muinis> 168 [25] [-] CŎCĔRE <coier> [36], <cozer> [38] * RŎTŬLU <rodul> [36] * HŎMĬNI <omeni> [36] VIII.2.2. Geschlossene Silbe VIII.2.2.1. Paroxytona (allgemein) [+] * PORCĔLLU <purçiel> [25] *bel/ *vel (‚weiss‘? ) > Fella (Flussname) 169 <Fielis> [25] (Ortsname) * CŎLLE + GALLU <Quelgallu> [36] ,Colgallo‘ (Ortsname) 170 ; * POST + CŎLLE <Pusquel> [38] (Ortsname) 171 [±] * FĔSTA <festa> [23, 27], <fiesta> [25] * NŎSTRU <nuestri> [25], <nostru> [36]; NŎSTRA <nuestra> [25], <nostra> [25 172 ] * MĔDJU <mezo> [24, 27, 38], <mieç> [25]; * MĔDJA <meça> [23], meza [24, 27] *C ARNIA + ĔLLU <Charnel> [23, 25], <carnello> [36], <cargnelo> 173 [38]‚ aus Karnien‘ (Personenbzw. Spitzname) * VASCĔLLU <vasigl> [36], <vasello> [38]; Plur. <vaselli> [38] [-] * LIBĔLLU <livelo> [23, 25], <nivel> [24, 25], <nivello> [24, 27], <nivelo> [25], <nivegl> [36], <livello> [38]; Plur. <niveli> [25], <livelli> [38] * FRATĔLLU <fradel> [23]; Plur. <fradeli> [27] * VITĔLLU <vidello> [27] * NOVĔLLU <novel> [24], <nuvelo> [24], <novelo> [24], <novello> [24]; NOVĔLLA <novella> [38]; Plur. <novelly> [24] * PRĔTJU <presi> [25] ,Salär‘ * CANTHUS +- ĪN -+- ĔLLA Plur. <chantinelle > 174 [27] ,Holzleisten‘ 167 Bezüglich des auslautenden -a schreibt Vicario (2001, 132) von „disordinat[i] e imprevedibil[i]“ Ergebnissen, auch in den nicht durch das Venezische geprägten Karten. 168 Vgl. oben N. 74. 169 Für die Etymologie (vorrömisch? ) vgl. Frau (1978, 60-61). 170 NP (1748) Cualgiâl. 171 Vgl. oben N. 122. 172 Nochmals in einer suma sumarum [24v]. 173 <gn> = [ ɲ ] < n+jè (vgl. oben N. 46). Das gleiche Phänomen lässt sich im Ortsname <Gnespolet> [25] (Vicario 2001, 198; vgl. NP, 1757), analogisch aus NĔSPĬLA (REW, §5540.2) > njè- (vgl. NP 391 gnéspul), erkennen. In [36] findet man auch den Spitzname <Buzirel> (siehe oben N. 124). 174 Für den Etymon vgl. REW (§1616.2). <chantinelle> wird von Vicario (2001, 148) als „it.“ gekennzeichnet. <?page no="121"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 107 * NĔPTIA <neza> [36] * NŬCĔLLA Plur. <noxelle> [27] * SILVĔSTRE <Salvestro> [27], <Salvestri> [36] (Personenname) * SŎL ( I ) DU <solt> [36] * BRŎCCU Plur. <brochi> [36] ,Zwecken‘ * CŎL ( Ĭ ) TA <cholta> 175 [24] ,Steuer‘ VIII.2.2.2. Proparoxytona (allgemein) [+] * TŎLLĔRE <tueli> [25] [±] VĔSPĔRI <vespori> [23, 27], <diespulg> [25] 176 , <vesperi> [38] [-] VIII.2.2.3. Nasal+C nach dem betonten Vokal [+] * PRATUM STĔNTUM <Pristint> [23, 24, 25] (Ortsname) *L AURĔNTJU <Laurinç> [24] (Personenname) [±] * PRAESĔNTE <prisint> [23, 25, 36, 38], <presente> [23, 24, 36 177 ], <prexente> [27] * PRAESĔNTJA <prisinçe> [23], <presenza> [27], <presencia> [36] * CŎNGIU <chonço> [25], <quinç> [25], <chonçio> [27], <chonzo> [27], <conzu> [36], <conzo> [38]; Plur. <conzi> [24, 36, 38], <chonci> [25], <conçy> [27] TRECĔNTI <Terzent> [27], <Tarzint> [36] ,Tarcento‘ (Ortsname) [-] * SEPTĔMBRE <setember> [23, 24, 27] <september> [25, 38] <setenber> [36] * NOVĔMBRE <november> [23, 24, 25] <novembrio> [25], <novenber> [24, 36], <novembri> [38] * DECĔMBRE <december> [23, 24, 36, 38], <deçember> [25], <dizember> [27]. <dezember> [36], <dezenber> 178 [36] * CONVĔNTU <chonvent> [24] * FRŪMĔNTU <forment> [23, 24, 25, 27, 36, 38], <formento> [25, 27, 26], <for.to> 179 [38] * TĔMPU <tenpo> [27] * CĔNTU <cento> [38] 175 Für COLLĬGO > * CŎLTU vgl. Rohlfs (1966, §312). NP (1594) racuète. 176 Vgl. NP diéspul (237), jéspui (484). 177 <prisint> und <presente> erscheinen in [23] und in [36] in der gleichen Karte ([26r] resp. [28v]). 178 Vgl. oben N. 65. 179 Vgl. oben N. 48. <?page no="122"?> Lorenzo Filipponio 108 VIII.2.2.4. [r]+C nach dem betonten Vokal [+] * PATĔRNU <Padiar> [36] (Ortsname) * MŎRTOS <muarç> [25] EXTŎRTA <st[u]arte> [36] [±] * FĔRRU <Fiar> [23] (Personenname), <fero> [27], <ferro> [36] * OFFĔRRE > offerta <uferta> [23, 36], <ufiarta> [25], <oferta> [27], <ufierta> [36]; Plur. <offerte>, <oferty> [24 180 ] * TĔRMĬNE <termine> [24], <tiarmit> 181 [25], <termene> [36] PŎRTA <puarta> [25], <porta> [27], <puarte> [38]; Plur. <porte> [38] [-] * QUATĔRNUS <quaderno> [25, 38], <chodern> [25], <choderno> [27], <coder> [36], <qaderno> [36] * CĔRTU <certo> [38] * PROFFĔRRE > profferta <proferta> * HŎRTU <orto> [23, 24, 27]; Plur. <orti> [23] * PŎRCU <porco> [24] <porcho> [27, 36, 38] * AD + CŎRDARE (< CŎR ) > accordo 182 <achordo> [27] * CONCŎRDJU <chonchordy> [27], <choncordi> [27] 183 HĔRBA <erba> [27] VIII.3 Sonstiges 184 * PSALTĒRJU <saltieri> 185 [25] * PRIŌRE > priòlo <priul> [25] IX. Quaderno del Cameraro Muzirino di Gemona (1380) IX.1. Starke Stellung [+] * MULJĔRE <moglir> BARBA +-ier <barbir> * QUARTU +-ier <Quartir> (vgl. IX.2.2.1) * PĔDE + ĪNU + ŎLU <pidignul> ,Stütze‘ * LINTJŎLU Plur. <linçugl> [±] [-] * ŎVU Plur. <ovi> 180 Erscheinen in der gleichen Karte (31r). 181 Vgl. oben N. 150. 182 Vgl. REW (§71a) und oben N. 50. 183 Vgl. REW (§2117). Laut Vicario (2001, 138) handelt es sich um einen Kultimus. 184 Die Infinitiven * CŌMPTJARE <conzar> [24, 27, 38], <conça> [25, 38], <chonzar> [27] sind mit der auf der ersten Silbe betonten Form <quincin> (vgl. oben III.3) zu vergleichen: die hier regelmäßige Diphthongierung hat sich analogisch ausgebreitet, wie das heutige Infinitiv cuinzâ (NP, 208) zeigt. 185 Vgl. die Form <saltierio>, zweimal in der venezischen Übersetzung (XIV Jhdt.) von Navigatio Sancti Brendani belegt (Grignani 1975). NP (920) saltèri, saltièri. <?page no="123"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 109 IX.2. Schwache Stellung IX.2.1. Offene Silbe IX.2.1.1. Paroxytona (allgemein) [+] ĔRAT <jera>, <gera> [±] ĔRANT <gerin> 186 , <erin> [-] DĔDI <dey> * CAL ( Ĭ ) DARJA > caldèra/ caldaria <caldera> IX.2.1.2. Paroxytona mit auslautendem nicht etymologischem Vokal [+] *P ĔTRU <Pieri> [±] [-] ŎLEU <oli>, <olio> IX.2.1.3. Proparoxytona [+] [±] [-] *S TĔFANU <Stefin> * RŎTŬLU <arodul> * MŎNĂCU <Moni> * SŎCĔRA <sosira> IX.2.2. Geschlossene Silbe IX.2.2.1. Paroxytona (allgemein) [+] [±] [-] * MĔDJU <Quartir di Mezo> (Flurname) * CASTĔLLU <Quartir di Castel> (Flurname) * CLAVĔLLU Plur. <claveli> ,Pflöcke‘ *C ARNIA + ĔLLU <carnel> ‚aus Karnien‘ (Personenbzw. Spitzname) AD + PRĔSSUM <apres> IX.2.2.2. Proparoxytona (allgemein) - IX.2.2.3. Nasal+C nach dem betonten Vokal [+] * PRAESĔNTE <prisint> [±] [-] * VINCĔNTJU <Vicenç> * SEPTĔMBRE <setenbri> * NOVĔMBRE <novembri> 186 <g> = [j]. <?page no="124"?> Lorenzo Filipponio 110 IX.2.2.4. [r]+C nach dem betonten Vokal [+] HĔRBAS <gerbis> * TĔRMĬNE <cermin> 187 Amborcio 188 <Ambuarč> (Ortsname) [±] [-] * QUATĔRNU <quaternus> (latino), <quaderno> CĔRTU Plur. <certi> * OFFĔRRE > offerta <oferta> TĔRRA <tera> 189 * MŎRTU <mort> * CŎRPU <corpo> * PŎRCU <porcho> * HŎRTU <ort> PŎRTAS <Portis> IX.3 Sonstiges * PRIŌRE > priòlo 190 <priul>; priòla <priola> 2.4. Kommentar zur Textanalyse Bei den Worten mit betontem Vokal in starker Stellung taucht das Friaulische in den aufgeführten Texten ziemlich regelmäßig auf. Dies gilt insbesondere für die Texte aus Cividale (I-IV), in den die Schließung des Vokals und die Apokope stabil verschriftlicht werden. Die einzigen Ausnahmen sind ein Latinismus im ältesten Text (<cum ovis>, I.1) 191 und die Ergebnisse von MŎDO / *- U (II.1, III.1; auch in den anderen Texten), während <om> (II.1) regelmäßig ist, weil der nachtonige Nasal den Prozess sperrt (vgl. §1.2). 192 Ähnliche Fälle findet man in den Texten aus Udine (<ven>, <om>, V.1; <Bon> VI.1; <bon> VIII.1), wobei sie (mit der Ausnahme von V) mehr Schwankungen zwischen friaulischen und toskanisch-venezischen Formen vorweisen. Diese lassen sich oft aus den Wortendungen erkennen, sowohl im Singular (<Pozolio>, <luogo>, VI.1; <novo> VII.1; <barbiero>, <zuo- 187 <c> = [ts], [t ʃ ] < tjèrmin. 188 Vgl. NP (1358). 189 Im Zusammenhang <peča di tera> (42v), in dem <peča> vielleicht < * PĔTTJA (vgl. oben V.2.2.1), wobei die Bedeutung ‚Landstück‘ für dieses Wort nicht belegt ist (vgl. NP, 752 pièzze). 190 Vgl. oben N. 52. In diesem Text * METĬPSIMU > Afrz. Medesme <midessim>, <midesi>, <midesim>. 191 Lateinische Formulierungen tauchen an manchen Stellen (I.2.2.1, I.2.2.4, VI.1, VII.2.1.3 usw.) neben (bzw. zusammen mit) friaulischen Formen auf. 192 Vgl. oben §1.2. <?page no="125"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 111 go>, 193 <quartarolo> und das Numerale <diese>, VIII.1) als auch im Plural (<ovy>, <ovi>, <lataroli>, <terceroli>, VIII.1). 194 Im Text aus Gemona, wo das Friaulische in starker Stellung gut belegt ist, kehrt der Plural <ovi> wieder (IX.1). Die Unterschiede zwischen Cividale und Udine sind bei den Worten mit betontem Vokal in schwacher Stellung deutlich grösser. Die Formen ohne Diphthong sind in den Texten aus Cividale eine Ausnahme: nur der älteste Text (I) weist merkwürdige Schwankungen vor. In II-IV lässt sich die Mehrheit der nicht diphthongierten Formen entweder als regelmäßig (die Ergebnisse von * FRŪMĔNTU ) oder als Lehnworte (aus dem Venezischen: die Namen der Monate) bzw. Kultismen erklären, die im Friaulischen keine Korrespondenz hatten (<diferençis>, <choder>, II); unter den anderen Formen ohne Diphthong zählt man drei Fälle von Worten mit dem Suffix *- ĔLLU (<mantel>, <vasegll>, III; <purzel>, IV). Ganz anders scheint die Situation in Udine zu sein: alle Texte weisen die massive Präsenz von nicht diphthongierten Formen vor, die sich manchmal als klar mehrheitlich erweisen, wie in V.2.2.1, V.2.2.4, VIII.2.2.1: in V sieht man sogar einen starken Kontrast zwischen friaulischen Schreibweisen in starken Stellung und nicht friaulischen in schwacher Stellung. Beeindruckend ist auch die Zahl der Worte, die mehrere Schreibweisen - die oft auf verschiedene Verfasser zurückzuführen sind - innerhalb des gleichen Textes zeigen (vgl. * TABĔLLA und * POSTCŎLLE in VI.2.2.1, * LIBĔLLU in V.2.2.1 und VIII.2.2.1, * ŎLJU in VII.2.1.2 und VIII.2.1.2, * MŎNĂCU und * ALEMŎSYNA in VII.2.1.3 usw.). Der im Text V beobachtete Kontrast zwischen starker und schwacher Stellung prägt auch den Text aus Gemona, in dem die Diphthonge rar vorkommen. Zu den einzelnen Kategorien der hier angewandten Klassifikation kann man folgendes beobachten. Bezüglich der Worte unter *.2.2.3 (Nasal+C vor dem betonten Vokal) sieht man, dass, wenn die friaulische Form auftaucht (seltener in den Texten aus Udine und Gemona als in denen aus Cividale), das silbische Element des Diphthongs in allen Texten ausnahmslos geschlossen ist. Die gleiche Entwicklung hat man auch wenn sich der nachtonige Nasal im Silbenansatz befindet, sowohl in Paroxytona, z.B. <buino> (III.2.1.1) als auch in Proparoxytona, z.B. <muini>, <muni> (VII.2.1.3; vgl. 193 Aufgrund der festgelegten Klassifikationskriterien (§2.2) sind Formen wie <luogo> und <zuogo> nicht in der Zelle [-] eingeordnet worden; sie sind allerdings durch eine gestrichelte Linie von den friaulischen Formen getrennt worden. 194 Als nicht friaulisch müssen auch die Formen mit Apokope <Bratiol> (VI.1), <sor> (VII.1), <fiol> (VII.1, VIII.1), <moglier>, <balistier>, <barbier> (VIII.1) betrachtet werden. <?page no="126"?> Lorenzo Filipponio 112 Francescato 1966, 36): Die Existenz dieses Wechels 195 trägt dazu bei, der betonte Vokal bei dei Pluralform <(v)umign> (II.-III. und V.2.1.3; <humini>, VII.2.1.3) auch als Reduktion eines Diphthongs zu erklären (* HŎMĬNI > *uimign > umign). 196 Andererseits haben wir oben gesehen, dass ein nachtoniger Nasal die Dehnung in starker Stellung sperrt. Zwei Erklärungen wären hier möglich: die Nasalen haben jede Entwicklung gesperrt, und die Diphthongierung vor Nasal in schwacher Stellung sei später aufgetreten; oder die Diphthongierung sei überall aufgetreten, dann habe es die Schließung des Vokals in schwacher Stellung gegeben, während in starker Stellung die Apokope den nasalen Auslaut verhärtet hat und den Rückzug der Diphthongierung verursacht hat: Tatsächlich ist das auslautende -n im heutigen Friaulisch velar (Benincà 1989, 570), wie in vielen Varietäten Norditaliens (Rohlfs 1966, §305), in den die Velarisierung manchmal Wirkungen auf die Länge der vorherigen betonten Vokale hat (wie z.B im Bolognesischen, vgl. Filipponio 2012a, 201-205). Vorausgesetzt dass die zweite Hypothese stimmt, dann könnten Formen wie <bon>, <om> außerdem besagen, dass der ursprüngliche Diphthong uo eher als ue war, wie Francescato betonte (§1.5). Der Diphthong io, der häufig als Ergebnis von Ŏ nach nauftaucht (<gnot>, II, III; <gnoçis> III; <gnovis>, VI und <gniova>, VIII; aber * NŎSTR - <nuestr->, II-IV, VIII und <brios> (! ) nach r-, I), könnte auch aus uo entstanden sein, was von Ascoli (1873, 499) kategorisch ausgeschlossen wird. 197 Im heutigen Friaulischen scheint dieser Diphthong nach n, t, s aufzutreten (Benincà 1989, 565, vgl. oben tioli im Bsp. (14)); im Venezischen nach jedem Koronal (vgl. Baglioni, im Druck): die ersten Belege gehen allerdings nur auf die erste Hälfte des XVI. Jahrhunderts zurück (Tomasin 2010, 88-89), und sind dann deutlich später als die friaulischen. 198 195 Für die heutige Verteilung von [u] und [wi] vor Nasal+C vgl. die Karte in Francescato (1966, 39). 196 Vgl. NP (665) und oben die N. 62. 197 Ascoli (1873, 482 und 494) betrachtet ue als Ausgangslage des friaulischen Diphthongs und uo als ausschließlich westfriaulisch (498). Francescato selber erwähnt nur einmal u ̯ o (vgl. Zitat in §1.5): danach ist die Rede nur von u ̯ e (vgl. 1966, 132ff.; dasselbe in Francescato 1959, 43ff.). In der synchronen Beschreibung (1966, 36) wird u ̯ o von ihm als komplett westfriaulisch - vielleicht aus venezischem Einfluss - gekennzeichnet. Aus einem chronologischen Gesichtspunkt müsste man annehmen, dass uo > jo resp. > o (vor Nasal nach der Apokope) vor uo > ue (dann > ui, ua) stattgefunden hätte, was nicht einfach zu demonstrieren ist. 198 Aus Venezischem könnten hingegen viele der Formen, die unter “Sonstiges” (*.3) gesammelt worden sind, abstammen. In dieser Varietät ist die Diphthongierung genug spät aufgetreten - wobei nur in offener Silbe (vgl. Loporcaro 2011b, 123) - um auch [ɔ] < AU aufzufangen (vgl. §1.4; dann hat sich im Venezianischen die Diphthongierung <?page no="127"?> Die Verschriftlichung des Altfriaulischen am Beispiel der Diphthongierung 113 Schließlich kann man beobachten, dass alle Diphthonge von [r]+C (*2.2.4) die Öffnung des Vokals zeigen (in II, IV, VIII auch in den Imperfekten von * ĔSSĔRE <iar->, <jar->). Die einzigen Ausnahmen mit Behaltung von ie (vgl. §1.5, Bsp. (16)) kommen aus Gemona (<gerbis>, <cermin>, IX). Viele weitere Merkmale könnten anhand von diesen Texten analysiert werden, wie z.B. das zum Teil schwierige Auftauchen der Apokope, die Ergebnisse vom auslautenden -a, das regelmäßig in Cividale als -o auftritt (vgl. Benincà 1995, 50-51), 199 oder die Schwankungen bei den Pluralendungen: Es ist jedoch die Aufgabe einer weitern Forschung. Wenn wir uns auf die Diphthongierung beschränken, können wir bestätigen, dass Cividale dank seiner isolierteren Position und seiner kulturellen Relevanz in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts (vgl. Pellegrini 1994, 246) sicher bessere Bedingungen gehabt hat, um das Friaulische in den Texten auftauchen zu lassen - und sogar absichtlich, wie z.B. in den Übersetzungsübungen! (III). 3. Schluss Ein zentrales Thema der Romanistik, und zwar das Schicksal von lateinischen betonten Ĕ und Ŏ , die im Friaulischen besondere Ergebnisse zeigen, hat sich in diesem Aufsatz zweimal als wichtiger Indikator erwiesen. Erstens, um das Verhältnis zwischen quantitativen und qualitativen Vokaländerungen zu beleuchten, und dadurch die Entstehung der phonologischen Vokallänge des Friaulischen als getrennt von derjenigen der galloitalienischen Varietäten zu betrachten (§1). Zweitens, um den Stand der Kodifizierung des Altfriaulischen (zwischen 1350 und 1450) zu überprüfen: Was wir gesehen haben, bestätigt das Bild von einer Region, in der eine diglossische Situation (Francescato/ Salimbeni 2 1977, 127) zwischen einer toskanisch-venezischen Schrift- und Amtssprache und dem gesprochenen Friaulischen überwiegend war (§2). Dieser Aspekt ist äußerst relevant: würde man ihn nicht betrachten, könnte man angesichts der hier analysierten Texte zur Feststellung kommen, die Diphthongierung sei nach der Entstehung der starken Stellung aufgetreten, und dadurch die hier vorgeschlagene Chronologie der Prozesse entkräften. Die schriftliche Unregelmäßigkeit dieses Merkmals, das in der gesprowieder zurückgezogen, vgl. Rohlfs 1966, §§94 und 115; Zamboni 1974, 33), und * PAULU <puel> (I) könnte ein Reflex davon sein. 199 Dies bestätigt unter anderem, dass das Friaulische auch damals keine einheitliche Varietät war (Francescato/ Salimbeni 2 1977, 122). Das auslautende -o ist heutzutage in Cividale verschwunden und wieder von -a ersetzt worden (vgl. Francescato 1966, 41- 43). <?page no="128"?> Lorenzo Filipponio 114 chenen Sprache regelmäßig vorhanden war (Marchetti 1932a, 111; Francescato/ Salimbeni 2 1977, 122), muss lediglich als Kodifizierungsproblem betrachtet werden. Das zeigt uns nochmals, wie wichtig ist, die interne und vergleichende Rekonstruktion mit der Betrachtung der externen (historischen, soziolinguistischen) Faktoren zu kombinieren. 200 Bibliographie Primärliteratur Benincà, Paola / Vanelli, Laura (Hgg.): Esercizi di versione dal friulano in latino in una scuola notarile cividalese (sec. XIV). Udine: Forum 1998. Corgnali, Giovanni Battista (Hg.): „Frammento di un «rotolo» di famiglia cividalese”. In: Ce fastu? 9, 1933, 67-71, 192-194 [auch in: Ce fastu? 41-43, 1965-1967, 130-141]. Frau, Giovanni (Hg.): „Carte friulane del secolo XIV (da un manoscritto inedito dell’Ospedale di Santa Maria dei Battuti in Cividale)”. 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Neben der Uneinigkeit bezüglich einzelner Lösungsvorschläge ist allerdings auch ein gewisser, ungelenkter Übereifer festzustellen, der nicht immer zielführend ist, als z.B. zwischen den einzelnen regionalen Organisationen zu selten klare Absprachen zu Einzelprojekten oder -maßnahmen erfolgen. Die Sprachgesetze stützen also vornehmlich den sprachlichen Ausbau und bestätigen den sprecherseitig ohnehin als solchen wahrgenommenen Status einer eigenständigen Sprache. Das Selbstverständnis der Sprecher und das Bewusstsein, das eigene Idiom als eigenständige Sprache zu betrachten (s. im Friaulischen die Bezeichnung als lenghe, wohingegen mit dialet auf den Lokaldialekt Bezug genommen wird), ist ein wesentlicher Faktor für die Umsetzung des (geförderten) Ausbaus des Idioms; gleichzeitig wirkt der Ausbau und die sprachpolitisch motivierte Förderung positiv auf das Sprecherbewusstsein zurück. 2. Merkmale des Friaulischen Die Abgrenzung des Friaulischen von den umgebenden Varietäten des Italienischen und vom Standarditalienischen ist v.a. der historischen Sonderstellung der Region geschuldet und weniger dem Sprecherbewusstsein oder dem sprachlichen Abstand. Bei Betrachtung der sprachlichen Entwicklungen <?page no="136"?> Sabine Heinemann 122 zeigen sich große Parallelen etwa zum benachbarten Venezischen. 1 Das Friaulische zeichnet sich dennoch durch einige Besonderheiten in der lautlichen und der morphologischen Entwicklung aus; genannt sei hier die phonologisch relevante Vokalquantität, unterschiedliche Typen der Diphthongierung (offene wie geschlossene Qualitäten der Mittelvokale, für die offenen Vokale auch in geschlossener Silbe), die Palatalisierung von lat. C vor A , 2 aber auch untergeordnete Phänomene wie die Behandlung von Nexus aus Muta cum Liquida (Längung des vorausgehenden Tonvokals bei Ausfall des Okklusivs, vgl. sorêli ,Sonne‘ (aber augm. soreglon), vôli ,Auge‘ (aber voglade ,Blick‘), mâri ,Mutter‘, vorêli ,Ohr‘ etc.), vokalische und konsonantische Epithesen (omp ,Mensch, Mann‘, stomit ,Magen‘ etc.) sowie unterschiedliche Verfahren der Anlautstärkung (Prothese, Konsonantisierung, s. das schon zitierte vôli). Für die Morphologie sei auf die sigmatisch und vokalisch erfolgende Pluralbildung verwiesen (frut ,Kind‘ - fruts vs. dint ,Zahn‘ - dincj; nordit. finden sich für frühere Stadien der Sprachentwicklung vergleichbare Ergebnisse (vgl. z.B. Zamboni 1988), s. aber der nachfolgende Ausfall von finalem -s) sowie auf die Ausbildung von Subjektsklitika (z.T. in ihrer Anzahl sekundär reduziert). Für den Wortschatz ist die große Anzahl Germanismen beachtenswert. 3 3. Friaulisch als Ausbausprache Das Friaulische lässt sich damit kaum als Abstandsprache im Sinne Kloss’ bezeichnen, der die rätoromanischen Idiome als „Ausbaudialekte“ charakterisiert (1978, 34). 4 Wendet man die Kriterien für einen Mindestgrad des Ausbaus, wie von Kloss formuliert, auf das Friaulische an, so war dieser bereits vor den massiven Bestrebungen der letzten Jahre gegeben. Neben diversen Periodika, die z.T. sogar vollständig auf Friaulisch erschienen sind und zum größten Teil immer noch erscheinen, wird das Friaulische seit geraumer Zeit 1 Für das Mittelalter setzt Pellegrini 1988 eine durch Parallelentwicklungen bedingte größere Ähnlichkeit der Idiome an. 2 Die Palatalisierung bzw. der Erhalt der Entwicklungsergebnisse wird in der Regel als Relikt einer alten Entwicklung angesehen, das Friaulische würde sich hier durch Konservation, nicht durch Innovation etwa vom Venezischen abgrenzen. 3 Vgl. hierzu z.B. Heinemann 2007, 131ff. 4 Auf die Problematik der questione ladina kann hier nicht eingegangen werden (hierzu sei auf die summarische Darstellung in Heinemann 2007, 29ff., verwiesen). Wesentlich für die Frage des Ausbaus des Friaulischen (wie des Dolomitenladinischen) ist allerdings, dass das fragliche Sprachgebiet nie eine politisch oder kulturell motivierte Einheit gebildet hat. Davon unberührt bleibt die Frage nach einem möglichen rätoromanischen Geotyp (s. hierzu v.a. Goebl 1990, 1995). <?page no="137"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 123 auch regelmäßig in Zusprachetexten gebraucht (s. hier v.a. in der Liturgie, 5 aber auch im Bereich der Massenmedien über friaulische Radio- und Fernsehsender). Als Unterrichtsfach und -sprache - und hiermit geht natürlich die Erstellung didaktischen Materials einher - war das Friaulische bis vor kurzem nicht in den Curricula vertreten - für die mit Blick auf den Ausbau zentralen Bereiche Schule und Rundfunk lag die Gesetzgebungskompetenz beim Staat. Als zentrale Aufgaben des Ausbaus sind zunächst die Vereinheitlichung der Rechtschreibung sowie die Regularisierung in Morphologie und Lexikon zu nennen (intensiver Ausbau, s. Koch/ Oesterreicher 1994); diese Normvarietät kann dabei prinzipiell auf einer mono- oder auf einer pluridialektalen Basis aufsetzen. 6 Im Bereich des extensiven Ausbaus geht es um die Erschließung der Anwendungsdomänen, wobei hier etwa bei der Schaffung von Fachterminologie ein Aufbau des Wortschatzes erfolgt. Neben ersten literarischen Werken wie dem Sonnett E là four del nuestri chiamp oder den Balladen Piruc myo doc inculuritund Biello dumnlo di valor sind für das 14./ 15. Jh. auch zahlreiche friaulisch verfasste Gebrauchstexte belegt, darunter v.a. Verwaltungstexte, die ein reges Notarwesen reflektieren. 7 Die frühen Texte zeigen vielfach eine Venezisierung des Friaulischen v.a. auf lautlicher und lexikalischer Ebene. 8 Ab dem 16. Jh. verwenden die Autoren das Friaulische bewusster, was sich in einer Abgrenzung zum Venezischen zeigt. Eine Italianisierung des Friaulischen ist im weiteren Entwicklungsverlauf v.a. durch die - zumeist auf Italienisch ausgebildeten - Priester bedingt, die sich eines möglichst wenig lokal geprägten Friaulischen bedienen (Turello 2007, 33). Interessant 5 S. hier auch die vollständige Bibelübersetzung auf Friaulisch; sehr modern erweist sich die Kirche durch Videos zu Lesungen aus dem Evangelium, die auf youtube abgerufen werden können (vgl. http: / / www.youtube.com/ user/ bibieglesiefurlane? feature=results_main (zuletzt aufgerufen am 21.10.2014). 6 Folgt man Marcato (1989, 611), lässt sich der Ausbau speziell mit Blick auf das Friaulische binden an die Etablierung einer verbindlichen Graphie, die Schaffung eines sprachpolitischen Organs, die Einführung des Friaulischen in den Schulen sowie die Verwendung in den Medien - die Basis stellt eine verbindliche Norm dar. Problematisch ist aber genau dieser Aspekt; weiter stellt sich auch die Frage nach dem Ausmaß des schulischen Unterrichts sowie des Gebrauchs in den Medien. 7 Der Umfang der spätmittelalterlichen Schriften kann derzeit noch nicht klar umrissen werden. Im Rahmen eines Projekts in Kooperation mit der Biblioteca Civica „Vincenzo Joppi“ werden seit einigen Jahren spätmittelalterliche Texte ediert. In diesem Kontext ist auch die Wiederaufnahme der Arbeit an einem etymologischen Wörterbuch sowie eine historische Grammatik angedacht (vgl. bereits das allerdings nur die Buchstaben A-E abdeckende DESF; vgl. Vicario 2008, 95). 8 S. auch die allgemeine Ausrichtung auf Venedig und die Einnahme des Friauls 1420 (Heinemann 2007, 164). <?page no="138"?> Sabine Heinemann 124 ist aber für die nachfolgende Ausbildung eines friulano comune die Untersuchung der Sprache Ermes’ di Colloredo (17. Jh.) durch Francescato (1957): Viele der für die friaulische Koiné typischen Merkmale finden sich offensichtlich bereits bei Ermes di Colloredo, was Francescato zufolge auf eine frühe Vereinheitlichung der Sprache hinweist. Das friulano comune (auch benannt als koiné friulana, was auf die Genese der Varietät verweist) basiert auf der Literatursprache des 18./ 19. Jhs. - prägende Autoren der Zeit sind insbesondere Pietro Zorutti und Caterina Percoto (Vicario 2008, 96). Die erwartbare Kritik an der Propagierung der koiné (bzw. eines friulano comune) als Standardvarietät bezieht sich auf die Diskrepanz zwischen Schriftvarietät und lokalem Dialekt, die Ablehnung lokaldialektaler Merkmale wird von Anfang an kritisch gesehen. Für die Grammatikographie ist mit Giuseppe Marchettis Werk (Lineamenti di grammatica friulana, 1952 erschienen) ein wichtiger Beitrag geleistet. Seine Grammatik wird als Referenzwerk in den Lehrerbildungskursen der Società Filologica Friulana verwendet. 9 Mit Blick auf die koiné friulana sieht Marchetti die Notwendigkeit der Annäherung an eine weit verbreitete friaulische Varietät: „deve avvicinarsi al tipo più largo di friulano centrale, anche senza essere precisamente la varietà d’una località identificabile“ (Marchetti 1955, zit. n. Turello 2007, 33). Das Gewicht der Società Filologica Friulana im Normierungsprozess wird auch sichtbar in der frühen Akzeptanz der koiné - die starke Ausrichtung an Zorutti kritisiert z.B. Pasolini, der eine Gegenposition bezieht, indem er die Varietät seiner Mutter (Codroipo, friulano occidentale) als von der koiné überlagert sieht, die eher auf das friulano centrale zurückgeht, wenngleich unter Aufgabe lokaldialektaler Merkmale. Pasolini begründet die Academiuta di Lenga Furlana und publiziert diverse Schriften in den 40er Jahren (Stroligut de cà da l’aga, quaderno romanzo N. 3). 10 Die Società Filologica Friulana bietet bereits seit 1948 (vom regionalen Schulamt anerkannt) Kurse zur friaulischen Sprache und Kultur an und hat seit den 50er Jahren diverse Initiativen angestoßen, vielfach mit Ausrichtung auf die Grundschule. In den vergangenen Jahren hat die SFF diverse didaktische Materialien publiziert. Die stärkere Ausrichtung hier auf die Schüler (neben den bekannten Lehrerfortbildungen, s. inzwischen auch online-Kurse) macht sich auch etwa in der Veröffentlichung des zweisprachigen Tagebuchs Olmis (,Spuren‘, Auflage 20.000), in der Abhaltung von Gesangswettbewerben und der auf DVD herausgegebe- 9 Die Società Filologica Friulana, 1919 begründet, ist heute als einzige Institution des Friauls vom Bildungsministerium offiziell anerkannt (Vicario 2011, 77f., Serena 2008, 200). 10 S. ausführlicher hierzu Heinemann 2011, 85f., Colussi 2009, 45f. <?page no="139"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 125 nen Serie Omenuts (,Männchen (pl.)‘) oder der Synchronisation der amerikanischen Serie Little people bemerkbar. Die Società Filologica Friulana gibt zwei Zeitschriften heraus, seit 1920 das Bollettino della SFF (kurz darauf umbenannt in Ce fastu? ) sowie Sot la Nape (gegründet 1949, stärker kulturell ausgerichtet); daneben publiziert sie jährlich di Numars Unics, Bände zu einzelnen Städten, ihrer Kultur, Geschichte und Sprache. 1991 wurde das Centro di toponomastica friulana gegründet, das seit 2008 ein Atlasprojekt (Atlante Toponomastico del Friuli Venezia Giulia) verfolgt. Die SFF war entsprechend auch am ASLEF, dem ersten Regionalatlas Italiens, maßgeblich mit Blick auf Konzeption und Finanzierung beteiligt und verfolgt mit der örtlichen Biblioteca Civica „Vincenzo Joppi“ das Ziel einer virtuellen Bibliothek (Bibliotheche furlane virtuâl). Die dort aufbewahrten (spät-)mittelalterlichen Handschriften werden seit 2003 ebenfalls von der SFF herausgegeben. Wie sich an der Publikationstätigkeit und den benannten Projekten zeigt, ist die SFF in den letzten Jahren immer mehr zur Referenzinstitution für friaulische Sprache und Literatur geworden und in dieser Funktion in der L.R. 29/ 2007 offiziell anerkannt worden (Vicario 2009, Turello 2007, 25). Wichtige politische Stationen mit Blick auf den Ausbau des Friaulischen stellen nun zum einen das Autonomiestatut 1963 (s. Artikel 3: „Nella Regione è riconosciuta parità di diritti e di trattamento a tutti i cittadini, qualunque sia il gruppo linguistico al quale appartengono, con la salvaguardia delle rispettive caratteristiche etniche e culturali.“ (zit. n. Serena 2007, 78)), zum anderen die Gründung der Universität Udine 1977 dar, in deren Statut (Artikel 26) die Förderung des Friaulischen fixiert ist: [...] l’obiettivo di contribuire al progresso civile, sociale ed economico del Friuli e di divenire organico strumento di sviluppo e di rinnovamento dei filoni originari della cultura, della lingua, delle tradizioni e della storia del Friuli [...] (zit. n. Vicario 2011, 79) Was die Normierung der Graphie betrifft, so ist die Diskussion mit der Ausarbeitung einer verbindlichen Norm abgeschlossen, die letztlich auch im L.R. 15/ 1996 als Referenzgraphie genannt ist. Wesentliche Problembereiche stellten v.a. die Realisierung etwa der postpalatalen Okklusive dar. Die Diskussion um die Graphie hat eine lange Tradition. So gab es schon früh Vorschläge von Seiten wichtiger Autoren, wie den bereits benannten Ermes di Colloredo, Caterina Percoto und Pietro Zorutti (Frau 2006, 1448). Eingang finden die mit der Herausbildung der koiné friulana verbundenen Graphievorschläge in das 1871 erscheinende Wörterbuch von Pirona. Die Frage wird in den Jahren der Gründung der SFF wieder aufgegriffen - wichtig ist hier etwa die Position Pellis’, der seinen Vorschlag im Sinne einer einheitsstiften- <?page no="140"?> Sabine Heinemann 126 den Varietät in der Neuauflage des Pirona (1935) formuliert, zuvor eine einheitliche, über die diatopischen Varietäten hinweggehende Graphie aber abgelehnt hat. 11 In der schon angesprochenen Grammatik wendet Marchetti seinen eigenen Vorschlag einer mit Diakritika arbeitenden Graphie um, die allerdings weitgehend auf Ablehnung stößt. Neuerlich aufgegriffen wird Marchettis Modell aber von Faggin 12 und Nazzi in ihren Werken (Faggin 1985, 1997, Nazzi z.B. 1977, 2003). Ein - im Weiteren von der SFF modifizierter - Vorschlag von Lamuela (1987) bildet letztlich die Basis für die 1998 endgültig per Dekret sanktionierte Graphie. Ungleich schwieriger gestaltet sich dagegen die Diskussion um eine Normierung der Grammatik, zumal, wenn die Diskussion um die Referenzvarietät als nicht abgeschlossen gelten kann. Sobald das friulano comune weitgehend akzeptiert ist, ist eine Kodifizierung möglich. Faktisch ist also eine Standardisierung nicht erfolgt, 13 aber: „è altrettanto innegabile che nella coscienza dei Friulani è presente (...) il concetto di un ,friulano comune‘ da usare quale lingua scritta“ (Frau 2006, 1449). Immerhin kann unter Berücksichtigung der Graphie und des Wortschatzes zumindest von einem - durch das Regionalgesetz 15/ 1996 gestützten - „processo di relativa ,standardizzazione‘ della lingua“ (Vicario 2008, 96) gesprochen werden. In diesem Kontext ist bei historischer Betrachtung wichtig zu berücksichtigen, dass das Friaulische über Jahrhunderte hinweg immer parallel zu einer Sprache mit höherem Prestige (Latein, Deutsch, Venez(ian)isch, Italienisch) bestanden hat und die Position einer L-Varietät (Nähebereich) eingenommen hat. Daraus ergibt sich nicht „zwingend“ die Ausbildung einer Schriftsprache - so war z.B. das Bürgertum in den Städten venez(ian)isch, d.h. die Städte, allen voran Udine, strahlten Venez(ian)ität, nicht Friulanität aus. Auch die Küstengebiete zeigen eine tiefgreifende Venez(ian)isierung, wie sich auch in den Stadtdialekten von Triest und Muggia zeigt (die friaulischen Varietäten sind aufgegeben worden). Die Dominanz des Venezi(ani)schen als lingua franca des nördlichen Adriaraumes war somit auch für das Friaul und das Friaulische prägend; es fehlten lange „gli stimoli di adeguati modelli linguistici da parte delle persone di ceto superiore, stimoli 11 Vgl. z.B. mit Blick auf eine Graphie für die SFF seine Äußerung von 1921: „Ognuno scriverà come si parla nel suo luogo natìo; non terrà conto della tradizione letteraria d’altri luoghi per la morfologia; non baderà all’etimo per la grafia.“ (zit. n. Turello 2007, 30). 12 So zieht Faggin eine Parallele zwischen friulano centrale und Koiné und weist diesem Modellfunktion zu - Marchetti habe das Friaulische weiter „perfektioniert“ (Faggin 1972, 15, s. zur Graphie allgemein auch 1980, vgl. Turello 2007, 36). 13 Die auf eine Normierung zielende grammatica friulana di riferimento ist aus unterschiedlichen Gründen nach zwei Heften nicht weitergeführt worden (Frau 2006, 1448). <?page no="141"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 127 che avrebbero suggerito delle modificazioni in senso italianeggiante.“ (Francescato 1982, 27). 14 4. (Sprach-)Gesetze Sind die anfänglichen Bestrebungen hinsichtlich des Ausbaus einer friaulischen Gemeinsprache noch relativ unkoordiniert und verschiedentlich auf individuelle Aktivitäten zurückzuführen, werden über die Gesetze zum Minderheitenschutz nicht nur die formalen Voraussetzungen für eine Forcierung des Standardisierungsprozesses und die Förderung des Ausbaus geschaffen. Die Maßnahmen werden gleichzeitig durch die Einsetzung regionaler Organe (zunächst O.L.F.) stärker gebündelt. Die offizielle Anerkennung des Friaulischen als Minderheitensprache ist in drei Gesetzen verankert, nämlich in dem Regionalgesetz 15/ 1996, dem staatlichen Gesetz 482/ 1999 sowie dem Regionalgesetz 29/ 2007, die im Folgenden genauer beleuchtet werden sollen (Del Pino 2008, 31). Eine erste regionale Anerkennung findet sich bereits in dem Regionalgesetz 68/ 1981 („Interventi regionali per lo sviluppo e la diffusione delle attività culturali“), in dem, wenngleich nachgeordnet, auch die Förderung und Anerkennung des Friaulischen angesprochen wird - der Schutz des Friaulischen wird aber erst mit dem Regionalgesetz 15/ 1996 ausgesprochen, mit dem weiteren Gesetz 29/ 2007 wird der rechtliche Status weiter aufgewertet (Cisilino 2009, 17). 15 14 Dem friulano udinese kommt trotz einer kontinuierlichen Abwertung des lokalen Venezischen keine Modellfunktion zu, es ist also nicht mit dem friulano centrale oder dem friulano comune gleichzusetzen - das zeigt sich z.B. in dem Verlust der palatalen Okklusive, die als typisch für das Friaulische gelten können, im friulano udinese allerdings eine Entwicklung hin zu palatalen Affrikaten durchlaufen haben (Turello 2007, 37). Ausgehend vom friulano centro-orientale hat allerdings ein Ausgleich bezüglich einiger Merkmale stattgefunden (s. z.B. Homogenisierung der Entwicklungsergebnisse in posizione forte, hier wurden die Diphthonge durch Monophthonge ersetzt; Heinemann 2007, 166). 15 Sämtliche für das Friaulische relevanten nationalen, internationalen und natürlich regionalen Gesetze können online auf den Seiten des ARLeF abgerufen werden (auch in friaulischer Übersetzung): http: / / www.arlef.it/ risorsis/ normative/ 3a (zuletzt aufgerufen am 21.10.2014). <?page no="142"?> Sabine Heinemann 128 4.1. L.R. 15/ 1996 („Norme per la tutela e la promozione della lingua e della cultura friulane e istituzione del servizio per le lingue regionali e minoritarie“) Das Regionalgesetz 15/ 1996, das dezidiert der Förderung der friaulischen Sprache und Kultur gewidmet ist, zeigt inhaltlich eine deutliche Ausrichtung auf die Charte européenne des langues régionales ou minoritaires von 1992 (der Ministerrat hat die Ratifizierung im März 2012 befürwortet, die Bestätigung durch das Parlament steht allerdings noch aus (Diskussion Januar 2013; Stand Oktober 2014). 16 Hier seien etwa die Artikel 3 und 4 genannt, mit denen einerseits die Anerkennung des Friaulischen als „Sprache“, andererseits die Möglichkeit des Friaulisch-Gebrauchs für lokale Ämter, in der Toponomastik und allgemeiner im öffentlichen Kontakt mit den Bürgern fixiert wird. 17 Mit der Verabschiedung des Regionalgesetzes und dem Druck seitens internationaler Organe (Europarat) sowie diverser Urteile des Verfassungsgerichts wird eine kontinuierliche Verbesserung der Situation in den Regionen erreicht. 18 Zentral ist insbesondere Artikel 2 zum Schutz des Friaulischen: 1. Il friulano è una delle lingue della comunità regionale. La Regione Friuli- Venezia Giulia considera la tutela della lingua e della cultura friulane una questione centrale per lo sviluppo dell’autonomia speciale. Wie in anderen regionalen Gesetzen zuvor wird über die Formulierung „Il friulano è una delle lingue della comunità regionale“ klar auf die regionale Mehrsprachigkeit abgehoben, gleichzeitig wird damit die offizielle Anerkennung des Friaulischen sichtbar (Cisilino 2008, 178). Hier schließen sich Probleme insbesondere in der Gesetzesvorlage des regionalen Gesetzes 29/ 2007 an, in dem der Status des Friaulischen gestärkt werden sollte. 19 In Artikel 15 des Gesetzes wird die Institutionalisierung des bis 2005 tätigen Osservatori pe lenghe e pe culture furlanis (O.L.F.) bestimmt - die Einrich- 16 Die Charte européenne ist 1998 in Kraft getreten. Die Minderheitensprachen profitieren von den europäischen Förderprogrammen wie alle anderen Sprachen. Seit 2007 gibt es einen Kommissar für Mehrsprachigkeit, der mit der Aufgabe der Förderung der sprachlichen Verschiedenheit innerhalb Europas betraut ist (Cisilino 2009, 16). 17 Artikel 3 zeigt hier eine Einbindung in den europäischen Kontext, Artikel 4 eine eindeutige Bezugnahme auf die Charte européenne (Frau 2010, 34). 18 Hier ist auch wichtig, dass Artikel 18 des nachfolgenden nationalen Gesetzes 482/ 1999 die in den Statuten und Regionalgesetzen fixierten Normen in ihrer Gültigkeit nicht einschränkt: „restano ferme le norme di tutela esistenti nelle regioni a statuto speciale“ (vgl. Cisilino 2008, 177f.). 19 Zur Ablehnung des Regionalgesetzes und den entsprechenden Kritikpunkten s.u. <?page no="143"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 129 tung eines einzigen Organs zur Koordination und Umsetzung sprachpolitischer Maßnahmen war äußerst innovativ. 1. È istituito l’Osservatorio regionale della lingua e della cultura friulane con sede nella città di Udine. 2. L’Osservatorio è lo strumento della Regione per il perseguimento, sulla base delle direttive formulate dall’Assessore regionale all’istruzione e cultura, degli obiettivi di cui al Titolo I. L’Osservatorio programma e coordina tutte le iniziative di competenza regionale per la tutela della lingua friulana. 3. Presso il Servizio per le lingue regionali e minoritarie della Direzione regionale dell’istruzione e della cultura, di cui all’articolo 25, è attivata un’unità inferiore al Servizio, con funzioni di segreteria dell’Osservatorio, composta da due dipendenti regionali di cui uno con qualifica funzionale non inferiore a consigliere e l’altro con qualifica funzionale di coadiutore dattilografo. Die Aufgaben im Einzelnen werden in Artikel 16 dargelegt; dazu gehören, entsprechend der bereits benannten Koordinationstätigkeit z.B. Untersuchungen zur soziolinguistischen Situation des Friaulischen, die Herausgabe didaktischer Materialien (in Zusammenarbeit mit der Universität Udine und anderen Institutionen), die Koordination von Forschungstätigkeiten im Kontext des fachsprachenbezogenen Ausbaus oder auch die Förderung des Gebrauchs des Friaulischen in den Massenmedien. Als Grundlage aller weiteren und auch der genannten Tätigkeiten kann allerdings v.a. die Aufsicht über eine einheitliche Graphie gelten, die darüber hinaus Eingang finden soll in Wörterbücher und weitere (didaktische) Instrumente. Wie bereits erwähnt, war das O.L.F. bis 2005 tätig - aufgrund verschiedener Probleme und der ambigen Struktur des O.L.F. erfolgte die Ablösung durch die Agjenzie regjonâl pe lenghe furlane (ARLeF), eine autonome Einrichtung öffentlichen Rechts, die sich aus Vertretern der Region, der Provinzen, der Universität Udine und des regionalen ANCI zusammensetzt (Cisilino 2008, 182). 20 Mit der Ablösung des O.L.F. wurde die Übertragung der Leitung aller sprachpolitischen Maßnahmen an eine externe Einrichtung abgegeben, der nun v.a. die Verwaltung der jährlichen Finanzmittel zusteht (hier stehen wissenschaftliche Studien, Buchpublikationen, Schule, Kultur und Toponomastik im Vordergrund). Das O.L.F. hatte im Gegensatz zur ARLeF die Aufgabe, die regionale Verwaltung hinsichtlich „technischer“ sprachpolitischer Entscheidungen zu stützen, während die Leitung selbst richtigerweise bei der Region selbst lag (Vicario 2010a, 73f.). Problematisch ist natür- 20 Die Ablösung des O.L.F. durch den ARLeF war bereits für das Jahr 2002 geplant (Turello 2007, 27). <?page no="144"?> Sabine Heinemann 130 lich auch die Reduktion der Fördermittel und die Finanzierung des Verwaltungsapparats der ARLeF - ungefähr die Hälfte der zur Verfügung stehenden Gelder fließen in die Administration. Die Kompetenzen der ARLeF sind mit dem Regionalgesetz 29/ 2007 auf überwiegend konsultative Funktionen eingegrenzt worden - so etwa ist der wichtige Aufgabenbereich Schule/ Bildung wieder an die Region abgegeben worden (s. auch die in diesem Kontext erfolgte Bildung einer Commissione permanente per l’insegnamento della lingua friulana, Vicario 2010a, 74, Cisilino 2008, 183). Gerade für den Bereich der Bildung (neben dem des Rundfunks) zeigte das Regionalgesetz erste vorsichtige Maßnahmen auf - seine Grenzen findet das Gesetz aber im Autonomiestatut: Die Region hat 1996 noch keine gesetzgebenden Kompetenzen in den fraglichen Bereichen, d.h. die Förderung kann hier nur im Rahmen einer Unterstützung von außen erfolgen (vgl. Cisilino 2008, 177ff.). Artikel 1 des Gesetzes fordert entsprechend „una politica attiva di conservazione e sviluppo della lingua friulana“. Das Gesetz räumt den Schulen großen Raum ein, v.a. hinsichtlich des Unterrichts in der Vorschule, der Grundschule und der Mittelschule (scuola secondaria di primo grado). Seit einigen Jahren wird in ca. 10 weiterführenden Schulen - auch unabhängig von der gesetzlichen Situation - Friaulischunterricht angeboten. 21 Besondere Bedeutung erhält das Gesetz weiter durch die bereits angesprochene Festlegung der Graphie - nach jahrzehntelanger Diskussion wird mit der Annahme des geringfügig geänderten Vorschlags von Lamuela 1987 auf der Basis der Graphie der SFF ein Schlusspunkt gesetzt. Das O.L.F. ergänzt die zur Norm erhobene Graphie um Bestimmungen zu den diatopischen Varietäten („Norme per la grafia delle varietà della lingua friulana“, D.P.Reg. 41/ 2013). 4.2. L. 482/ 1999 („Norme in materia di tutela delle minoranze linguistiche storiche“) Das staatliche Gesetz 482/ 1999 stellt gewissermaßen die Umsetzung des in Artikel 6 der italienischen Verfassung formulierten Schutzes der sprachlichen Minderheiten dar. 22 Als Minderheiten wurden jahrzehntelang v.a. sol- 21 Vicario 2011, 80, Cisilino 2009, 18. Als didaktische Methode wird hier das Content and Language Integrated Learning angewandt. Zu unterschiedlichen Programmen zweisprachiger Erziehung unter Berücksichtigung der Lehrerfortbildungsmöglichkeiten s. Burelli 2009. 22 Vor der Fixierung des Minderheitenschutzes in der Verfassung wurden die sprachlichen Minderheiten bestenfalls im schulischen Kontext als Hilfsmittel zur Erlernung des Italienischen verwendet (s. die vornehmliche Aufgabe der Schulen im Königriech Italien, „fare gli italiani“; Serena 2008, 194ff.; allgemein zu Italien Selig 2011); im Fa- <?page no="145"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 131 che verstanden, die gleichzeitig Nationalsprachen angrenzender Staaten waren bzw. sind - also v.a. Französisch, Deutsch und Slowenisch; das Dolomitenladinische nimmt historisch bedingt eine Sonderrolle ein. 23 Artikel 6 der Verfassung bleibt diesbezüglich unspezifisch, benennt also nicht die fraglichen Minderheiten („La Repubblica tutela con apposite norme le minoranze linguistiche“); eine entsprechende Präzisierung erfolgt erst 1999 (s. Artikel 2): 24 1. In attuazione dell’articolo 6 della Costituzione e in armonia con i princípi generali stabiliti dagli organismi europei e internazionali, la Repubblica tutela la lingua e la cultura delle popolazioni albanesi, catalane, germaniche, greche, slovene e croate e di quelle parlanti il francese, il franco-provenzale, il friulano, il ladino, l’occitano e il sardo. Das Nationalgesetz erkennt die Friauler als Minderheit an und dehnt die Bereiche des Minderheitenschutzes aus, die bereits durch das Regionalgesetz definiert sind - das gilt insbesondere für den schulischen Unterricht und das generalisierte Recht zum Gebrauch der Minderheitensprache in der Verwaltung der Region. Entsprechend sind in den Ämtern sogenannte sportelli linguistici eingerichtet und Wegweiser (il vademecum degli sportelli linguistici) sowie fachsprachliche Wörterbücher erstellt worden - hier ist zu nennen das LE.AM (Lessic Amministratîf Manuâl, unter Mitwirkung des CIRF) sowie das Dizionario giuridico amministrativo und das Dizionari talian-furlan di dirit. 25 Bisher nicht angewendet wurden die Regelungen zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk (s. hier Artikel 2). Für den Bereich des öffentlichen Lebens sei hier schismus wurden die international anerkannten Sprachen nicht mehr in den Schulen gebraucht, die Wiederaufnahme der alloglotten Schulen war in der Nachkriegszeit eine der von den Alliierten auferlegten Maßnahmen. Die Gründe für die späte Umsetzung des Artikels 6 der Verfassung sind sehr komplex und sozio-kulturell verankert; als Minderheiten wurden zunächst weiterhin die südtirolerische, die französische und die slowenische betrachtet, deren Schutz als in der Kompetenz des Staates liegt, weshalb regionale Initiativen behindert wurden (Cisilino 2008, 176). 23 Vgl. zu einem historischen Abriss (von der Einheit Italiens bis 2003) zum Friaulischen in der Schule Serena 2007. 24 Das Gesetz zeigt dabei viele Analogien zu anderen Verfügungen internationalen Rechts (Cisilino 2008, 183). 25 Vgl. genauer Marcato 2008, 309ff. Beim Ausbau einer juristisch-administrativen Fachsprache wird bewusst eine Distanzierung vom italo-burocratese versucht, indem Elemente aus dem alltagssprachlichen Gebrauch herangezogen werden. Es soll nur dann eine Anlehnung an die italienische Fachterminologie erfolgen, wenn die fraglichen Lexeme oder Ausdrucksweisen in der Schriftsprache gebräuchlich sind. Ergänzend soll ein Vergleich mit juristisch-administrativen Texten früherer Jahrhunderte erfolgen. <?page no="146"?> Sabine Heinemann 132 auch auf die besondere Rolle der Toponomastik und die Straßenausschilderung verwiesen. 26 Was die Neuerungen im Schulbereich betrifft, so ist hier natürlich zu differenzieren zwischen der Minderheitensprache als Unterrichtssprache und als Unterrichtsfach. Während die Entscheidung über den Gebrauch der Minderheitensprachen im Kindergarten, der Grund- und Mittelschule als Unterrichtssprache organisatorisch betrachtet wenige Schwierigkeiten birgt, geht mit der Einrichtung als Unterrichtsfach eine Änderung der Curricula in den Grund- und Mittelschulen einher, die Probleme aufwirft: Die Schulen sind prinzipiell autonom - Unterrichtszeiten, Bewertungskriterien, die Nutzung oder Instituierung von Lehrerfortbildungen und die Methoden zur Sicherung des Friaulischunterrichts sind somit gänzlich in das Ermessen der Schulen gestellt. Lediglich die Pflicht zur Abhaltung von Friaulischunterricht wird durch das Gesetz geregelt (Artikel 4; vgl. Cisilino 2008, 184): 27 1. Nelle scuole materne dei comuni di cui all’articolo 3, l’educazione linguistica prevede, accanto all’uso della lingua italiana, anche l’uso della lingua della minoranza per lo svolgimento delle attività educative. Nelle scuole elementari e nelle scuole secondarie di primo grado è previsto l’uso anche della lingua della minoranza come strumento di insegnamento. 2. Le istituzioni scolastiche elementari e secondarie di primo grado, in conformità a quanto previsto dall’articolo 3, comma 1, della presente legge, nell’esercizio dell’autonomia organizzativa e didattica di cui all’articolo 21, commi 8 e 9, della legge 15 marzo 1997, n. 59, nei limiti dell’orario curriculare complessivo definito a livello nazionale e nel rispetto dei complessivi obblighi di servizio dei docenti previsti dai contratti collettivi, al fine di assicurare l’apprendimento della lingua della minoranza, deliberano, anche sulla base delle richieste dei genitori degli alunni, le modalità di svolgimento delle attività di insegnamento della lingua e delle tradi- 26 Del Pino 2008, 32. S. auch die Gründung des Centro di toponomastica friulana 1991; ein profundes wissenschaftliches Interesse wird auch sichtbar in der umfangreichen Publikationstätigkeit und dem bereits angesprochenen Atlasprojekt (Atlante toponomastico del Friuli-Venezia Giulia, s. http: / / www.toponomasticafriulana.it, zuletzt aufgerufen am 21.10.2014), das bereits in den 70er Jahren von Frau angedacht wurde (Vicario 2009, 167). 27 Dass hier eine Verpflichtung der Schulen besteht, wird auch durch den Gebrauch des Präsens im Gesetzestext sichtbar („è previsto l’uso della lingua di minoranza“), d.h. die Anfragen der Eltern sind nicht ausschlaggebend für die Einrichtung des Friaulischunterrichts, sie dienen lediglich der Orientierung im Hinblick auf die Organisation (s. die Formulierung „anche sulla base delle richieste“; Cisilino 2008, 185). Der Artikel verweist insbesondere auf Vor-, Grund- und Mittelschule, eine Ausdehnung auf den Gymnasialbereich ist aber prinzipiell möglich (s. auch Serena 2008, 205ff.). <?page no="147"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 133 zioni culturali delle comunità locali, stabilendone i tempi e le metodologie, nonché stabilendo i criteri di valutazione degli alunni e le modalità di impiego di docenti qualificati. Zeitlich nachgeordnet ist das 2002 per Dekret (D.P.R. 345/ 2001) gemachte Zugeständnis an den regionalen Gesetzgeber insbesondere im Bereich des Rundfunks. Die RAI hat damit den Auftrag zur Programmgestaltung erhalten, allerdings hat der Vertragsentwurf von 2003 keine weiteren Folgen gehabt, bis 2007 konnte kein Abkommen getroffen werden. Seitens der RAI wurden bis zuletzt Rundfunksendungen nur für Minderheiten produziert, die vor 1999 als solche anerkannt waren. Mit dem Vertrag von 2007 werden nun die Sendungen ausgedehnt auf die Slowenen der Provinz Udine und die Ladiner in den Provinzen Trento und Bolzano - für alle anderen sprachlichen Minderheiten wird der Programmauftrag seitens der RAI weiterhin abgelehnt. Offiziell ist die RAI sowohl über den Vertrag wie durch eine Vereinbarung mit der Region Friuli-Venezia Giulia gebunden, Programme auf Friaulisch auszustrahlen, kommt dieser Pflicht aber nicht nach - die geringfügigen Strafen nimmt die RAI offensichtlich in Kauf. Möglicherweise wird die RAI für die Minderheitensprachenprogramme auf die Spartenkanäle ausweichen. 28 Zur Überwachung der Umsetzung des Gesetzes wurde 2002 schließlich das Comitât 482/ Comitato 482 gegründet, das sich aus Mitgliedern der friaulisch-, slowenisch- und deutschsprachigen Vereinigungen zusammensetzt. 4.3. L.R. 29/ 2007 („Norme per la tutela, valorizzazione e promozione della lingua friulana“) Das zweite für die Normierung und den weiteren Ausbau des Friaulischen interessante Regionalgesetz ist aus dem Jahre 2007 und ist stärker sprachlich ausgerichtet als dasjenige von 1996, das insgesamt einen eher kulturpolitischen Schwerpunkt hat. Die Notwendigkeit dieses neuen Regionalgesetzes liegt partiell in den Grenzen des Vorgängergesetzes begründet, die durch die Zuweisung weiterer Kompetenzen für die Region aufgehoben worden sind. Diese Veränderungen setzen auf der Reform des Artikels V der Verfassung sowie das Dekret 223/ 2003 auf, das den einzelnen Regionen mit Blick auf die Minderheiten ein größeres Maß an Autonomie zuweist (Cisilino 2008, 186). 28 Der zuvor geschlossene Vertrag von 2005 bis 2007 hat keinerlei Ergebnisse gezeitigt. Zu einer Diskussion der Situation 2007 s. http: / / www.lapatriedalfriul.org/ wpcontent/ uploads/ maggio.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.10.2014). <?page no="148"?> Sabine Heinemann 134 Das Gesetz enthält eine Großzahl Bestimmungen zum Bereich Schule und Lehrerfortbildung, erweist sich jedoch in diversen Artikeln als zu progressiv, in Teilen ist es als diskriminierend interpretierbar, weshalb das Verfassungsgericht Überschreitungen der regionalen Befugnisse angemahnt hat und einige Artikel angefochten wurden. Dennoch zeigt das Gesetz eine wichtige Ausdehnung der Anwendungsbereiche des Friaulischen (s. Artikel 3). 2011 folgte ein weiteres Dekret zu den wichtigen Bereichen Unterricht und Rundfunk (vgl. Vicario 2011, 81f.). 29 Wie bereits erwähnt, ist mit der Ablösung des O.L.F. 2005 die ARLeF zum zentralen sprachpolitischen Organ geworden (s. Artikel 28). Interessant sind hier die in Artikel 25 formulierten Fünfjahrespläne. Neben der ARLeF wird gleichzeitig die SFF als Organ „di primaria importanza“ anerkannt und erhält jährlich Mittel zur Wahrung ihrer Aufgaben. Unklar ist mit Blick auf die ARLeF allerdings die Position der ANSAS (Agenzia nazionale per lo sviluppo dell’autonomia scolastica, Vicario 2011, 87). Wichtig ist natürlich prinzipiell die Förderung der Mehrsprachigkeit in der Region - auch in früheren Gesetzen wird die Parität in der Behandlung der Bürger, die den unterschiedlichen Minderheiten angehören, festgelegt (s. L.R. 31/ 1997, zu den deutschen und slowenischen Minderheiten s. z.B. L.R. 20/ 2009 oder 38/ 2001 sowie 26/ 2007) - schließlich gelten lediglich ca. 80% des regionalen Territoriums als friaulischsprachig. 30 5. Normierung und Ausbau Wie gesehen, ist die Diskussion um die Graphie, die für die Standardisierung eines Idioms von größter Bedeutung ist, durch die gesetzliche Fixierung beendet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Normgraphie auf allgemeine Akzeptanz stößt. V.a. militante Verfechter der Varietätenvielfalt 29 Das Gesetz (Artikel 12) hat auch hier wieder eine bindende Formulierung („sono assicurate condizioni per la tutela“) - die in einem Dekret (D.P.R. 345/ 2001) erfolgte Festlegung, dass die RAI dem Auftrag der Programmgestaltung nachkommen muss, wird von der RAI, wie bereits angesprochen, nicht befolgt (Cisilino 2008, 186). 30 S. zur Begrenzung des Territoriums auch Artikel 5 des Regionalgesetzes 15/ 1996, weiter die Artikel 11 und 11 bis mit Blick auf die lokale Autonomie hinsichtlich der sprachlichen Rechte. Hier wird gleichzeitig für die 80% der Kommunen, die als friaulischsprachig gelten können, die Benutzung des Friaulischen im schriftlichen wie mündlichen Gebrauch in den Räten geregelt (Cisilino 2008, 179ff.). Die regionale Mehrsprachigkeit ist schließlich auch im Autonomiestatut verankert (Artikel 3: „Nella Regione è riconosciuta parità di diritti e di trattamento a tutti i cittadini, qualunque sia il gruppo linguistico al quale appartengono, con la salvaguardia delle rispettive caratteristiche etniche e culturali.“). <?page no="149"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 135 lehnen eine Standardisierung des Friaulischen allgemein und damit verbunden auch eine Einheitsgraphie ab, durch die das Friaulische „illeggibile“ würde. Das Friaulische könne nur über die Varietäten bewahrt werden, die „avevano diritto di vivere e di essere scritte [...] soprattutto nelle aree delicate di confine“ (Tirelli 2008, 57). 31 V.a. Schriftsteller sind immer wieder gegen die Normierungspolitik des O.L.F. und in der Folge der ARLeF vorgegangen (Turello 2007, 44ff.). So wurden Gedichte in Standardgraphie publiziert, die dadurch eine gewisse Verfremdung erfuhren, da die diatopische Variation ausgeblendet wurde. Auch die SFF sprach sich zunächst gegen die generelle Anwendung der Normgraphie aus, so dass Frau, damaliger Präsident des O.L.F., mehrfach erläutern musste, dass der Gebrauch der offiziellen Graphie nicht mit der Durchsetzung der Koiné oder dem friulano comune im Sinne einer Standardsprache gleichzusetzen sei. Problematisch ist dennoch die Verwendung der Graphie für die karnischen wie die westfriaulischen Varietäten, da bei der Lektüre eine Anpassung in der lautlichen Realisierung entsprechend dem Zentralfriaulischen erfolgt - das Lexikon bleibt allerdings, entsprechend der Intention, unverändert, so dass das Ergebnis eher hybrid wirkt. Als problematisch erweist sich auch das Verhältnis zwischen Friaulisch und Italienisch, was sich zum einen in der Ausbildung eines „Hyperfriaulisch“, zum anderen in der Italianisierung des Friaulischen zeigt (vgl. Carrozzo 2008). Im Falle des Hyperfriaulischen zielen die Sprecher auf eine stärkere Abgrenzung zum dominierenden Italienisch ab, d.h. der sprachliche Abstand zwischen Friaulisch und Italienisch wird künstlich vergrößert. Dies wird etwa im Bereich der Lautung dadurch erreicht, dass Langvokale oder Diphthonge oder im Konsonantismus Palatale genutzt werden, die historisch in den fraglichen Lexemen und Kontexten unbegründet sind (s. avocât statt avocat, scuelastic statt scolastic, scjarpe statt scarpe). Denkbar sind auch „Reelaborierungen“ im Sinne einer Relatinisierung oder Verwendung mittlerweile ausgefallener Elemente (s. z.B. contrâr statt contrari). Lexikalisch von Interesse sind weiter pseudovolkssprachliche Etymologien, die die Grundlage für hyperfriaulische „Varianten“ bilden, wie bei fevelament (statt parlament, s. hier it. parlare vs. friaul. fevelâ); daneben werden gelehrte Lehnelemente oder Übernahmen (und Adaptionen) aus anderen Sprachen 31 Nach Cadorini (2008, 156) sind hier zwei hauptsächliche Zentren auszumachen, so die Carnia, wo das Friaulische noch weit lebendiger ist als in den anderen Gebieten des Friauls, sowie institutionell betrachtet der Clape Culutrâl Acuilee, der in großem Umfang Romane und lexikographische Werke publiziert. Durch die Fülle an friaulischen Publikationen, die unterschiedliche Anwendungsbereiche abdecken und eine große Verbreitung (auch Internet) zeigen sowie vielfach institutionell gefördert sind, und die darin verwendete Normgraphie werden diese kontinuierlich weniger wichtig. <?page no="150"?> Sabine Heinemann 136 gebraucht (constituzion statt costituzion) oder regionale Varianten, wie in crompâ statt comprâ oder puisie statt poesie. Diese Art der lautlichmorphologisch-lexikalischen Verfremdung findet sich bereits bei Nazzi, der dem Modell Faggins folgt, der wiederum in Graphie (aufsetzend auf Marchetti und Pirona) und Wortschatz z.T. hyperpuristisch vorgeht. 32 Sichtbar wird in solchen Bestrebungen eine „negative“ Interferenz bei der Emanzipation des Friaulischen vom Italienischen als Dachsprache - ähnlich wie dies für die frühen romanischen Sprachen mit Blick auf das Lateinische gegolten hat -, die sich in der bewussten Ablehnung von Elementen aus einem anderen sprachlichen System äußert. Es steht hier also der Wunsch im Vordergrund, Eigenes zu schaffen, wobei verschiedentlich eine Identifikation von Elementen als der Kontaktsprache zugehörig geleistet und dabei übersehen wird, dass diese Elemente auch im eigenen System über eine Tradition verfügen (Kabatek 1994, 181f.). Gleichzeitig hat das Italienische in gewisser Weise Modellcharakter für das Friaulische - für die romanischen Sprachen des Mittelalters hatte diese Funktion das Lateinische inne, und wie der Kontakt zwischen dem Lateinischen und den romanischen Sprachen zu Relatinisierungen der romanischen Idiome geführt haben, so ist für das Friaulische eine (partielle) Italianisierung ebenso erwartbar (s. Raible 1996). Neben der „kontrollierbar“ erscheinenden Hypercharakterisierung des Friaulischen ist die Gefahr der „Italianisierung“ aber wohl größer, da im Zuge des Ausbaus vielfach morphologische und v.a. syntaktische Muster z.B. bei der Übersetzung von Texten aus dem Italienischen übernommen werden. Für den Bereich der Morphologie/ Morphosyntax sei das Beispiel der Adverbbildung angeführt. So gibt es zum einen die Möglichkeit, Kurzadverbien zu bilden: I omps a lavorin dûr. ,Die Männer arbeiten hart.‘ Daneben lässt sich ein Adverb über eine Präpositionalphrase ausdrücken: Tu fevelis a stupit vie, Tu fevelis di stupit. ,Du redest dumm.‘; letztlich besteht auch im Friaulischen die Möglichkeit der Bildung von Adverbien auf -mente (friaul. Variante -mentri), allerdings handelt es sich hier um eine literate Variante, die klar distanzsprachlich markiert ist. Im 14. Jh. war dieser Bildungstyp -mentri durchsichtig und produktiv, Beispiele sind certamentri, solamentri, veramentri. Auf der Basis des italienischen Einflusses ist der „alte“ Bildungstyp wiedereingeführt worden, gleichzeitig wurden früher belegte Adverbien „neu gebildet“, und zwar ausgehend von den neufriaulischen Adjektivformen - dies hat entsprechend zu den „modernen“ Varianten ciertementri (< cierte), solementri (< sole), verementri (< vere) geführt (Melchior 2012). Syntaktisch ist für das Friaulische 32 S. zur Gruppe Risultive (Bezug auf Marchetti) sowie weitere Organisationen wie Scuele librare furlane oder Clape Culturâl Aquilée (Nazzi) Cescutti 2007, 339. <?page no="151"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 137 beispielsweise die Vermeidung relationaler Adjektive auffällig - stattdessen wird eher auf Relativsätze oder Präpositionalphrasen zurückgegriffen (s. italianisierendes stradâl vs. genuin friaulisches de strade). In beiden Fällen, also sowohl bei der Hypercharakterisierung des Friaulischen als auch bei der Italianisierung friaulischer Strukturen - stärker aber im erstgenannten Fall -, wird sichtbar, dass eine Autorität oder Instanz für das Friaulische fehlt und eine verbindliche Norm notwendig ist. Zu den weitgehend normierten Bereichen gehört neben der Graphie der Wortschatz. Wie bereits mit Blick auf die frühen Normierungsbestrebungen angeführt wurde, liegt mit Pirona bereits Ende des 19. Jhs. ein umfangreiches Definitionswörterbuch vor, das 1935 in überarbeiteter Fassung erschienen ist und um Publikationen zu diatopischen Varietäten ergänzt und mittlerweile - wie das 1985 erschienene Wörterbuch von Faggin - digitalisiert wurde. 33 2011 wurde schließlich das Grant Dizionari Bilengâl Talian Furlan publiziert, das bereits 1996 durch den O.L.F. initiiert wurde und auf den Ausbau des Friaulischen und seine Anwendbarkeit in unterschiedlichsten Kontexten ausgerichtet ist. Herausgeber des zweisprachigen Wörterbuchs ist das CFL2000, ein Konsortium aus Mitgliedern der Universität, der SFF und anderen Institutionen, das durch den O.L.F. begründet wurde und als Organ für die Vorbereitung von Hilfsmitteln und für die Festlegung von Normierungskriterien für das Friaulische fungiert hat (die Nachfolgeorganisation des CFL2000 ist das CLAAP (Centri di linguistiche aplicade)). Als Referenzwerk für das GDBTF gilt das Grande Dizionario dell’Uso von De Mauro (1999 erschienen). 34 Die Basis für das sechsbändige Wörterbuch bildet der in den Wörterbüchern von Pirona und Faggin verzeichnete Wortschatz, wobei natürlich eine Adaption an die Normgraphie geleistet wurde. Ergänzend seien hier das Dizionari Ortografic Furlan (DOF) sowie der Coretôr Ortografic Furlan (COF) genannt, die beide ebenfalls gänzlich durch die Region finanziert wurden. Bei den vielfältigen Bemühungen stellt sich die Heterogenität der Institutionen als problematisch dar - neben der SFF, der ARLeF und dem CFL2000 sind weiter das Consorzio Universitario del Friuli (CUF, Ende 2013 aufgelöst) 35 33 Eine integrative Neuauflage des Wörterbuchs von Pirona ist 1992 erschienen. 34 Das Wörterbuch ist als Printversion und auf CD-Rom erhältlich sowie als online- Version unter http: / / www.arlef.it/ struments/ grant-dizionari-talian-furlan (zuletzt aufgerufen am 21.10.2014) verfügbar. 35 Das CUF hat in der Vergangenheit v.a. lokale Initiativen im Unterrichtsbereich gefördert (vgl. hier online- und Printmedien, v.a. die Datenbank Gold. Archivi Lingue minoritarie neben Gold. Le migliori pratiche della scuola italiana). Daneben hat die Institution in größerem Rahmen neben europäischen Gesetzesvorgaben auch periodisch publizierte Empfehlungen zu befolgen (s. die Einrichtung des Comitato sulla Convenzione-quadro per <?page no="152"?> Sabine Heinemann 138 zu berücksichtigen, das regionale Schulamt, die Provinzen und die teilweise lokal agierenden Institutionen: [...] tutti hanno l’impressione o la presunzione di fare cose molto importanti, che loro soli sanno fare nel modo giusto, senza curarsi, il più delle volte, di andare a guardare quello che fa il vicino, cautela questa che eviterebbe, tra l’altro, di ripeterne gli errori o anche solo di riproporre iniziative già fatte [...] (Vicario 2010b, 20) Die Probleme des networking werden noch deutlicher, sobald unterschiedliche Sprechergemeinschaften eingebunden sind - eine Zusammenarbeit ist hier v.a. wegen möglicher Synergieeffekte sinnvoll: „uno dei primi ostacoli è certamente costituito dal salto di qualità che le singole comunità devono compiere per aprirsi al confronto con le altre e per cominciare ad investire sulla condivisione delle buone pratiche“ (Vicario 2010b, 24). Infolge der Wirtschaftskrise ist der kontinuierliche Rückgang der Fördermittel zu beklagen. Ungünstig hat sich aus den benannten Gründen auch die Ablösung des O.L.F. durch die ARLeF erwiesen. Ein zentrales Anliegen ist natürlich, die Abnahme der Sprecherzahl zu stoppen, was zum einen durch Werbekampagnen wie die des CIRF durchgeführten (s.u.) erreicht werden könnte, zumal so auch eine stärkere Einbindung der Sprechergemeinschaft erzielt werden kann, was wiederum eine Verbesserung des Sprecherbewusstseins bedeuten würde. D.h. das Friaulische muss auf allen Ebenen, v.a. aber in der Schule, präsent sein, damit einem weiterem Schwund entgegengewirkt werden kann (Vicario 2010a, 72ff.). 36 5.1. Schule/ Lehrerfortbildung/ Universität Mit dem Regionalgesetz 15/ 1996 wurde im Grunde schon der Schulunterricht für Vor-, Grund- und Mittelschule behandelt, wenngleich eine staatliche Regelung diesbezüglich (s. Kompetenz) erst mit dem Gesetz 482/ 1999 kommt. Wesentlich für die gesetzlichen Bestimmungen ist die Einbindung der Eltern in die Planung. Eine Umfrage im Winter 2001/ 2002 hat einen hohen Prozentsatz an Zustimmung (60-65% im Durchschnitt mit Bezug auf die gesamte Schülerschaft) zur Einführung des Friaulischunterrichts gela protezione delle minoranze nazionali), die auch auf eine Förderung des Sprecherbewusstseins ausgerichtet waren (Frau 2010, 35ff.). 36 Seit mindestens zwei Jahrzehnten lässt sich, v.a. bei jüngeren Sprechern, eine Abnahme der Friaulischkompetenz ausmachen (Frau 2006, 1446). <?page no="153"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 139 zeigt. 37 Die Schulen sind in jedem Fall zur Abhaltung von Friaulischunterricht verpflichtet - mangelnde Zustimmung bei den Eltern bedeutet keine Entbindung von dieser Pflicht. Dennoch sei auch auf die Skepsis einiger Eltern gegenüber der Einführung des Friaulischunterrichts verwiesen, da hier eine Einschränkung des Englischunterrichts befürchtet wird (Serena 2008, 213). Hierin zeigt sich eine grundsätzliche Problematik, die gewissermaßen die Ausrichtung nach außen, auf den sozialen Aufstieg, der regionalen Tradition und damit unterschwellig der Sinnhaftigkeit sprachpflegerischer Maßnahmen gegenüberstellt. Die Bedeutung, die v.a. dem Schulunterricht bei der Bewahrung des Friaulischen beigemessen wird, zeigt sich nicht zuletzt in dem Regionalgesetz 29/ 2007. Es wurde bereits angesprochen, dass einige der Artikel wegen Kompetenzüberschreitung angefochten wurden. Betroffen waren hier etwa die Artikel zum Umfang des Friaulischunterrichts (die angestrebte Festlegung von mindestens auf eine Stunde pro Woche widerspricht dem Autonomiekonzept der Schulen; aktuell wird ein Stundenausmaß von 30 Stunden pro Jahr diskutiert), zur Einbindung der Eltern (so war geplant, dass Eltern angeben müssen, wenn sie nicht möchten, dass ihr Kind am Friaulischunterricht teilnimmt - so aber müssen Eltern nach wie vor aktiv werden, wenn ihr Kind am Friaulischkurs teilnehmen soll) sowie zum flächendeckenden Unterricht (die Zurückweisung ist hier durch eine unterstellte Diskriminierung bedingt; das Friaulische ist lediglich in 80% der Kommunen der Region verbreitet). Günstig wäre für die Schulbücher die Bindung eines Verlages sowie eine klarere formale Abstimmung hinsichtlich Koordination und Programm, um eine gewisse Vergleichbarkeit unter den Schulen zu erreichen (Vicario 2011, 83). 38 Für die Abhaltung des Friaulischunterrichts bedarf es gezielter Lehrerfortbildungen, die von unterschiedlichen Institutionen angeboten werden, so von der SFF, 39 seit 1999 parallel von der Universität, wobei hier eine Differenzierung in unterschiedliche Niveaus erfolgt. Daneben gibt es mit dem 37 Vicario 2011, 80ff., Serena 2008, 212. Der höchste Prozentsatz für den Friaulischunterricht entfällt auf die Vor- und Grundschule, für die Mittelschule war der Anteil geringer. 38 Vgl. zum Osservatorio per le lingue, das mit Blick auf die Konzeption von Unterrichtsmaterialien begründet wurde, auch Serena 2007, 82. Zu den in den letzten Jahren erschienenen Sprachlehrwerken und Grammatiken unterschiedlichen Niveaus vgl. die entsprechenden Rubriken in Heinemann/ Melchior 2011. 39 Hier seien auch Bewegungen wie die seit den 50er Jahren bestehende Scuele libare friulane genannt; daneben gibt es weitere Initiativen, gerade für den Grundschulbereich, die sich auch in Form von Publikationen wie Cjantutis pai fruts oder dem bereits genannten Olmis niederschlagen (Vicario 2011, 78). <?page no="154"?> Sabine Heinemann 140 Centro Internazionale sul Plurilinguismo (CIP) und Centro Interdipartimentale di ricerca sulla cultura e la lingua del Friuli (CIRF) zwei Zentren, die vorrangig der Förderung der Mehrsprachigkeit dienen (das CIRF wurde 1995 begründet und zunächst vom CUF unterstützt; es leistet seit 2001 die Koordination der Forschungsaktivitäten zum Friaulischen; Serena 2008, 216). Gerade im universitären Bereich ist der Gebrauch des Friaulischen auch im wissenschaftlichen Kontext von Bedeutung. Neben einem didaktisch ausgerichteten Masterstudiengang „Insegnâ in lenghe furlane“ (unterstützt durch den ARLeF; Vicario 2011, 82, Burelli 2009, 172) und den bereits angesprochenen Kursen zu Literatur, Kultur, Sprache und Didaktik ist hier die Gründung der Societât Sientifiche e Tecnologjiche Furlane 2001 hervorzuheben, die auf den fachsprachlichen Gebrauch des Friaulischen abhebt. In die gleiche Richtung weist die „Imagekampagne“ des CIRF „F = mc2“ („Furlan = mieç di comunicazion al cuadrât“) von 2006 - im Vordergrund standen Kino- und Radiospots, parallel wurde das Friaulische auf großen Plakaten (z.B. auf Bussen) beworben, zusätzlich wurden Gadgets verteilt (vgl. De Agostini 2007). 40 Die in diesem Kontext durchgeführte soziolinguistische Studie zur Einschätzung der Ausbaufähigkeit des Friaulischen hat durchweg positive Ergebnisse gezeigt: So halten knapp 70% der Befragten (knapp 400 Personen, die Umfrage ist aufgrund der Einbindung unterschiedlichster Bevölkerungsschichten repräsentativ) die Förderung des Friaulischen für positiv, ähnlich groß ist der Prozentsatz derjenigen, die der Ansicht sind, dass das Friaulische unterschiedlichste Konzepte ausdrücken kann; auch die Einrichtung von Friaulisch als Unterrichtsfach halten mehr als 80% für sinnvoll. Lediglich ca. 30% beurteilen das Friaulische als überwiegend der Vergangenheit und Tradition verhaftetes lokales Idiom (vgl. Picco 2007). 41 5.2. Medien Der Bereich der Massenmedien, insbesondere das Internet, ist für die Minderheitensprachen eine wichtige Möglichkeit, eine gewisse Verbreitung zu finden, zumal so eine kostengünstige Publikation im jeweiligen Idiom gege- 40 In der Vergangenheit hatte es bereits Kampagnen gegeben, die aber auf den Gebrauch des Friaulischen allgemein ausgerichtet waren oder v.a. Kinder und Jugendliche ansprechen sollten („Dopre la tô lenghe“, „Dimal par furlan“); vgl. hierzu ausführlicher die Ausgabe der Zeitschrift La Patrie dal Friûl vom Mai 2007 (auch online: http: / / www.lapatriedalfriul.org/ wp-content/ uploads/ maggio.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.10.2014)). 41 In einer vergleichbaren Umfrage aus dem Jahre 1998 haben sich ca. 93% aller Befragten für den Schutz des Friaulischen ausgesprochen, auch 1986 sprachen sich ca. 90% dafür aus (vgl. Frau 2006, 1447). <?page no="155"?> Zum aktuellen Stand der Normierung des Friaulischen 141 ben ist und Sprecher auch außerhalb der Region erreicht werden können. 42 Entsprechend umfangreich fallen die Aktivitäten im Internet aus, das partiell auch von den Printmedien genutzt wird. Für den Zeitungs-/ Zeitschriftensektor können mehrere Organe genannt werden: 43 So erscheint Il Diari alle zwei Wochen, La Patrie dal Friûl monatlich (seit 1946, s. hier auch die Internetpräsenz www.friul.net) 44 sowie Ladins dal Friûl (seit 1997). Mittlerweile eingestellt ist die Zeitschrift INT (zweisprachig friaulisch/ italienisch), die nach ihrer Gründung 2001 drei Jahre später ins Internet verlegt wurde (www.lenghe.net), 2010 aber dann aufgrund mangelnder finanzieller Unterstützung und der Nachrangigkeit in der Förderung der Medien eingestellt wurde. 45 Neben diesen rein friaulischen Publikationsorganen finden sich regelmäßig auf Friaulisch verfasste Beiträge etwa in den Wochenzeitschriften Il Friuli, La Voce isontina, La Vita Cattolica (jeweils eine Seite; La Vita Cattolica ist monatlich das Kindermagazin Alc&cè beigefügt). In der Tageszeitung Il Messaggero Veneto erscheint monatlich eine Seite auf Friaulisch (angekündigt auch durch den newsletter der SFF), im Gazzettino del Friuli finden sich häufiger Beiträge auf Friaulisch. Für den Rundfunk sei auf die Radiosender Radio Onde Furlane und Radio Spazio 103 verwiesen, wobei ersterer fast ganz auf Friaulisch sendet, letzterer im Durchschnitt mehr als drei Stunden pro Tag. Ergänzt wird das Angebot durch das Regionalprogramm der RAI, das täglich Sendungen anbietet. Die privaten TV-Kanäle wie Telepordenone und Telefriuli bieten einige Übertragungen an, im Weiteren gibt es verschiedentlich Sendungen auf dem Regionalsender der RAI, so in der Vergangenheit etwa Synchronisationen von Kindersendungen (Berto Lôf (it. Lupo Alberto), La Pimpa). Die Geschichten der gnognosaurs, durch das Kindermagazin Alc&cè bekannt geworden, sind inzwischen in Form vierer Comicbücher erschienen; ergänzend gibt es eine eigene Internetseite (http: / / gnognosaurs.blogspot.co.at/ ). Ein schöner Erfolg für den Zeichner Andrea Dree Venier ist mit der Übersetzung des friaulischen Comics ins Sardische gegeben, zumal wenn man bedenkt, 42 Für das Friaulische sei auf die fogolârs verwiesen, ca. 400.000 Personen aus dem Friaul sind zwischen 1870 und 1970 emigriert. 43 Vgl. Cisilino 2009, 18. Eine tagesaktuelle Presseschau (auch Archiv) findet sich auf den Seiten des ARLeF: http: / / www.arlef.it/ comunicazion/ stampe-par-furlan (zuletzt aufgerufen am 21.10.2014). 44 Im Hinblick auf die Normgraphie ist auffällig, dass La Patrie dal Friûl seit 2006 einige Orthographieregeln (z.B. den Gebrauch des Apostrophs) nicht befolgt (vgl. Carrozzo 2008). 45 S. hierzu den Brief der früheren Herausgeberin Anna Bogaro auf der nach wie vor zugänglichen Internetseite. <?page no="156"?> Sabine Heinemann 142 dass auf übergeordneter Ebene bei der Koordination und Kooperation einzelner Projekte zur Förderung der Minderheitensprachen vielfach Probleme auftreten. Für das Internet wurden schon einige Quellen genannt - vielfach handelt es sich um die online-Version von Periodika. Daneben sind aber auch blogs auf Friaulisch zu nennen, die allerdings vielfach nicht aktuell gehalten oder z.T. schon wieder eingestellt worden sind (wie z.B. „Il Furlanist“; s. aber auch www.lenghe.net o.ä.) 46 , weiter ist auf die friaulischen Fassungen von Firefox und Wikipedia (Vichiedie) zu verweisen (vgl. Segrada 2007). 6. Ausblick Auf der Grundlage der Gesetze wird das Friaulische immer häufiger in der öffentlichen Verwaltung, den Räten der lokalen Ämter und im Regionalrat verwendet. Auch in Musik, im Theater, bei Kinoproduktionen 47 sowie in der Kirche wird immer öfter eine Rückbindung an das Friaulische sichtbar. Daneben werden etwa mit dem Gesundheitswesen, der regionalen Wirtschaft und dem wissenschaftlichen Bereich neue Anwendungskontexte erschlossen (Cisilino 2009, 18); die wesentlichen Ziele sind hier eine Standardisierung und der fachsprachliche Ausbau (vgl. hierzu Finco 2009, 103f.). Als wesentliche Desiderata verbleiben die stärkere Einbindung der Sprecher mit Blick auf eine Nutzung des Friaulischen im Alltag sowie die Standardisierung im grammatischen Bereich. 46 S. zu einer Übersicht der Internetpräsenzen http: / / www.digjitaitfurlan.wordpress.com/ la-ret-par-furlan/ (zuletzt aufgerufen am 21.10.2014); als blogs seien hier z.B. diejenigen des Comitât 482 oder des Radiosenders Radio Onde Furlane genannt. 47 S. hier neben der entsprechenden Rubrik auf den Seiten des ARLeF („la lenghe furlane“) auch die Seiten http: / / www.fvgfilmcommission.com und http: / / www.cinetecadelfriuli.org (beide zuletzt aufgerufen am 21.10.2014). 2007 wurde eine Vereinbarung zwischen dem ARLeF, der Associazione FVG Film Commission- Fondo regionale per l’audiovisivo und der Region hinsichtlich der Zusammenarbeit zur Förderung des Friaulischen in den audiovisiven Medien (s. auch Kino) getroffen, vgl. 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Mentonaskisch ist weder Ligurisch (westliches Küstenligurisch, etwa das von Ventimiglia oder Sanremo) noch Nizzardisch; aber es vermittelt zwischen beiden; das ist jedenfalls die klassische Meinung, die im ausgehenden 19. Jh. aufgekommen war, vor allem mit Andrews (1892) und De Tourtoulon (1890). Eine vergleichende Analyse - mit Nizzardisch und Küstenligurisch - drängt sich von daher auf. Die Theorie eines „Mischdialekts“ wurde in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts modifiziert, vor allem von Jules Ronjat (1930): Derselbe Grad von Mischung definiere auch den Dialekt von Fontan / Saorge im Royatal: Der okzitanische Anteil sei aber bei beiden Mundarten weniger das südöstliche Okzitanische (Provenzalisch oder Nizzardisch), sondern das alpine Nordokzitanische. Der so definierte okzitanische Anteil habe in beiden (Menton UND Roya 1 ) das Übergewicht gegenüber dem ligurischen Anteil. Daraus ergibt sich für die vergleichende Analyse eine weitere Achse: Zu dem ‚horizontalen’ Vergleich mit den Nachbarn im Küstenbereich kommt eine ‚vertikale’ Achse hinzu, ein Vergleich mit den ‚alpinen’ Nachbarn, speziell denen des Royatals. Royaskische Dialekte sind (von Nord nach Süd) die Dialekte von Tenda, Briga (mit sieben weiteren Orten), Saorge (mit Fontan), 1 Den ebenfalls royaskischen Dialekt von La Brigue (bzw. Satelliten), das damals noch dem italienischen Staatsgebiet angehörte, klassifizierte er kurioserweise als „deutlich italienisch“, obwohl die strukturelle Ähnlichkeit mit der Mundart von Saorge-Fontan ins Auge springt. <?page no="164"?> Werner Forner 150 Breil, Olivetta (mit Penna, Libri) und Fanghetto. Die folgende Karte (1) illustriert das Untersuchungsgebiet. (1) Menton zwischen den Arealen Nizzardisch / Küstenligurisch / Alpenligurisch Eine dritte Erkenntnis ist bestimmend für den Untersuchungsbereich: Ronjats Klassifikation des Royaskischen als überwiegend Alpenprovenzalisch war durchaus umstritten. Endgültig korrigiert wurde sie durch eine Thèse von 1984 über alle Dialekte der Alpes-Maritimes, also auch mehrere Royadialekte (Dalbera 1994): Dalbera dokumentiert, dass die Royadialekte von den alpennizzardischen (und nizzardischen) Dialekten durch ein kompaktes Isoglossenbündel getrennt sind: Royaskisch ist also eine vom Alpennizzardischen abweichende Sprache. Gleichzeitig wurde nachgewiesen, dass diejenigen royaskischen Merkmale, die vom Alpennizzardischen divergieren, in den ligurischen Dialekten der östlich benachbarten oberen Talschaften präsent sind 2 , und zwar vor allem im Pignaskischen (im oberen Nerviatal, drei Orte, u.a. Pigna), in Teilen auch im Trioraskischen (im oberen Argentinatal, Triora mit sechs weiteren Orten). Diese drei Dialektgruppen - Royaskisch, Pignaskisch und Trioraskisch - definieren sich also als EIN Sprachgebiet; es trägt den Namen: Alpenligurisch. Alpenligurisch ist von den küstennahen Varianten des Ligurischen deutlich unterschieden. 2 Dazu z.B. Forner (1986, 1989). <?page no="165"?> Das mentonaskische Verbalsystem 151 Für unseren multifaktoriellen Vergleich haben wir also vier denkbare Alternativen zu bieten: Menton könnte einem der drei benachbarten Dialektgebiete angehören, also dem Nizzardischen oder dem Küstenligurischen oder dem Alpenligurischen, oder aber es könnte eine Mischung aus Ingredienzien sein, die der einen oder anderen dieser Sprachen in zu definierender Dosierung entborgt sind. Ein derartiger Vergleich wurde zu mehreren Bereichen des Mentonaskischen schon gemacht, nämlich zur Phonologie und zur Nominalmorphologie 3 . Hier beschränke ich mich daher auf das Verbalsystem, und zwar weitgehend auf die Formen des Präsens. Das Präsens-System soll zunächst ‚makroskopisch’ betrachtet werden; dabei geht es um die Organisation des Systems, nicht um die Endungen (Teil I, §§ 3-5). Erst danach (Teil II) werden die einzelnen Endungen vergleichend untersucht (§ 6). Grundlage der Analyse ist natürlich das Konjugationssystem des Mentonaskischen; das wird im folgenden Abschnitt dokumentiert (2). Die zitierten Formen zu den einzelnen Dialekten entstammen - soweit nicht anders vermerkt - meinen Enquêtes aus den 80er Jahren. 2 Konjugationsklassen Menton Das Mentonaskische verfügt über zwei Konjugationstypen: eine polysyllabische und eine monosyllabische Konjugation. Die monosyllabische Konjugation ist einerseits durch die banale Eigenschaft gekennzeichnet, dass die stammbetonten Formen des Indikativ Präsens nur eine Silbe besitzen (a), und andererseits (b) durch ein abweichendes Endungsschema (Personalendung „P“). Beides zeigt das folgende Schema (2): (2) Zwei Konjugationstypen (Menton) 3 Zur Klassifikation des Mentonaskischen: s. Dalbera (1989 u.a.), Forner (1993 u.a.) und Anm. 32. Revest (2011) versucht, das Mentonaskische an das „Vivaro-alpin“ anzuschließen, dazu s. Forner (2013). Polysyllabische Flexion Monosyll. Flexion A Nicht-A P P P1 kántu sɛntu feníʃu -u -g-u fágu P2 kánte sɛnte feníʃe -e ɹ > -l fal (faɹ) P3 kánta sɛnte feníʃ e -a/ -e -Ø fa P4 kantéma sɛntéma feniʃéma -éma (-éma) fazéma P5 kanté sɛnté feniʃé -é (-é) fazé P6 kántaŋ sɛntaŋ feníʃaŋ -a ŋ ŋ faŋ <?page no="166"?> Werner Forner 152 Zur „monosyllabischen Flexion“: (a) Stammreduktion: Wie Schema (2) zeigt, verwendet die monosyllabische Flexion in den vier stammbetonten Formen einen gekürzten Stamm, in P4- P5 hingegen den vollen Stamm: Der volle Stamm / faz+/ wird zu / fa+/ gekürzt (Subtraktion des stammauslautenden Konsonants). (b) Endungsschema: Bei den 4 gekürzten Stämmen weichen die Personalendungen von den Endungen des polysyllabischen Modells ab. Die Abweichung des Endungsschemas hat einen banalen historischen Grund: Die Flexion trifft die einzige Silbe, und die ist natürlich betont; während bei den Polysyllaba die Silbe mit der Personalmarkierung unbetont ist: [sɔ-sáz-sá] gegenüber [kántu-kántaz-kánta]. Die historische Ursache der Abweichung ist phonetischer Natur, der Effekt ist morphologisch: ein eigenes Paradigma. In Bezug auf die „polysyllabische Konjugation“ (im Indikativ Präsens) zeigt Schema (2), dass die vier klassischen Konjugationen auf nur einen Endungstyp reduziert sind, außer in P3, wo die alte A-Konjugation distinkt blieb (/ +a/ vs. / +e/ ). Alle anderen lateinischen Konjugationen sind in der „Nicht-A“-Gruppe vereinheitlicht: Die lateinische konsonantische Konjugation (z.B. REDDERE) ist in den flektierten Formen völlig identisch mit den Typen SENTIRE und FINIRE (P3: rɛnd+e = sɛnt+e = feníʃ+e). Diese drastische Reduktion der lateinischen Vielfalt bei den Polysyllaba wird im Folgenden mit den Verhältnissen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Mentonaskischen verglichen (s. § 3). Anschließend (§ 4) soll dasselbe mit dem nicht-antiken Flexionstyp, der monosyllabischen Konjugation, geschehen. Teil I: Vergleich der Konjugationsklassen 3 Die Polysyllaba Das Lateinische unterschied - basierend auf dem stammauslautenden Themavokal - vier Konjugationen: A- / E- / I-Konjugation und eine athematische, dh. konsonantische Konjugation, Typ: CANTARE / DEBERE / FINI- RE, SENTIRE / REDDERE („singen-müssen-beenden-fühlen-zurückgeben“). Diese Typologie setzte sich in der romanischen Sprachwelt meist fort, trotz zahlreicher, auch früher Konjugationswechsel, auch trotz diverser Stammerweiterungen, von denen die Erweiterung durch -ISCfür unser Gebiet relevant ist (P1: FINIO > FIN+ISC+O > fenIʃu, gegenüber SENTIO > sɛntu). Die I-Konjugation mit dieser Erweiterung nenne ich „I ISC “, die andere, Typ SENTIO, heißt „I Ø “ Die E-Konjugation ist praktisch verloren: ihr sind nur <?page no="167"?> Das mentonaskische Verbalsystem 153 fünf Verben und nur im Infinitiv treu geblieben: ventim. „avé, savé, duvé, vurré, purré“ („haben-wissen-müssen-wollen-können“), die ohnehin ‚unregelmäßig’ sind. Wie hat sich diese Klassenunterscheidung in unserem Gebiet entwickelt? 3.1 Polysyllaba: Küste Im westlichen Küstenligurisch ergibt sich folgendes Bild: (3) Polysyllabische Konjugationen Riviera Es geht hier um den Erhalt oder den Verlust von Flexionsklassen- Unterschieden; diese sind in Schema (3) durch die senkrechten Striche gekennzeichnet. Es ist deutlich, dass wir eine Klasse I haben (A-Konjugation), die durch die Personalendungen (und auch durch Tempus-Markierungen) klar von den übrigen Klassen abgehoben ist; und wir haben eine Klasse II, die für P3 (und weitere P) ein und dieselbe Personalendung hat, während nur P4-P5 zwischen zwei Personalendungen (ému / -ímu bzw. -éj / -í) differenziert. Die I ISC -Klasse unterscheidet sich von der I Ø -Klasse nur durch die Stammerweiterung ISC; diese ist auf die stammbetonten Formen (wie im Italienischen) beschränkt. Die Labilität der Unterschiede innerhalb der Klasse II ist deutlich: Es genügt, die ISC-Erweiterung zu generalisieren, dann würde der Stamm nicht / fini/ lauten sondern / finiʃ/ , und der würde nach dem Schema II-a flektiert, also / finiʃému, finiʃéj/ wie / rɛ ŋ dému, rɛ ŋ déj/ ); und wenn diese Personalendungen P4-P5 (/ -ému, -éj/ ) dann noch auf Klasse I Ø verallgemeinert würden, dann wären alle Unterschiede innerhalb der Klasse II aufgehoben. So, wie wir das in Menton beobachten konnten. Genau diese Generalisierung ist auch im Nizzardischen (Nizza und Umgebung) passiert, jedenfalls in den flektierten Tempora: A E K I Ø I ISC Latein - INF CANTARE DEBERE REDDERE SENTIRE = FINIRE SRemo-P3 u káŋta u déve = u rɛŋde u sɛŋte u finíʃe SRemo-P4 kaŋtámu duvému = rɛŋdému sɛŋtímu = finímu SRemo-P5 kaŋtáj duvéj = rɛŋdéj sɛŋtí: = finí: I II-a II-b II-c <?page no="168"?> Werner Forner 154 (4) Polysyllabische Konjugationen Nizzardisch Also nur zwei Flexionsklassen (“I, II“), wobei die Unterschiede durch die drei zitierten Personen des Präsens (P3-P4-P5) markiert sind, übrigens auch durch das Tempusmorphem des Imperfekts, / -áv-/ vs. / í/ : P3 [kantáva] vs. [rɛndía]. Einen analogen Befund liefern auch die nizzardischen Dialekte des Hinterlandes. Wenn wir nun die drei Systeme vergleichen, ist deutlich, dass Menton zwar von der sanremaskischen Flexion nicht weit entfernt ist, aber dem nizzardischen System insofern deutlich näher steht, als dort die Vereinheitlichung innerhalb der Klasse II, die sich in Sanremo nur andeutete, zu Ende geführt ist. Allerdings ist der Unterschied zwischen den zwei Hauptklassen I, II im Nizzardischen deutlicher als in Menton signalisiert, denn diese Unterscheidung ist in Nizza durch drei Personalendungen markiert (P3-P4-P5, s.o.), während in Menton nur eine einzige Unterscheidung (nur P3) erhalten ist. Unterschiede zu beiden Nachbarn ergeben sich auch aus der Form der Personalmarkierungen: Darauf komme ich später (§ 5) zurück. 3.2 Polysyllaba Alpenligurisch Auch die alpenligurischen Dialekte kennen die Gleichschaltung der klassischen Konjugationen (außer Briga und Breil, die für die schmale Klasse I Ø in P4/ P5 eigene Endungen erhalten haben, Saorge nur in P4); wir haben also dort - wie in Menton und Nizza - zwei polysyllabische Konjugationen, nämlich Klasse I = „A“ und Klasse II = „Nicht-A“. Ich reproduziere im Folgenden nur das Endungsschema dieser beiden Klassen und nur für vier Dialekte, im Vergleich zu Menton: A K I Ø I ISC Nizza-P3 kánta rɛnde sɛnte finíse Nizza-P4 kantáŋ rɛndéŋ sɛntéŋ finiséŋ Nizza-P5 kantás rɛndés sɛntés finisés I II <?page no="169"?> Das mentonaskische Verbalsystem 155 (5) Polysyllaba im Alpenligurischen Diese vier alpenligurischen Varietäten zeigen deutlich die Tendenz, die nicht-A-Flexionen in einer Klasse (Klasse II) zu vereinen: Diese Tendenz ist in Tenda und Pigna, mit einer Einschränkung (P4) ebenfalls in Saorge, an demselben Punkt angelangt wie in Menton. Menton geht - wie gezeigt - darüber insofern hinaus, als dort auch die Unterscheidung zwischen I vs. II fast aufgehoben ist: Eine völlige Gleichschaltung der beiden Hauptklassen scheitert dort nur an P3. Im Alpenligurischen scheitert sie darüber hinaus an P4 und P5, also gleiche Diagnose wie im Nizzardischen. Die „Ø“-Endungen von Saorge (und übrigens auch im Brigaskischen) ergeben sich aus der Apokope, die die auslautenden unbetonten Vokale außer -a tilgt; bis auf diesen Unterschied ist Saorge (außer P6, und außer P4 = -ím) identisch mit Pigna und Tenda. Die Apokope gilt im Alpenligurischen nicht generell: im Royatal ist sie beschränkt auf die zentralen Dialekte, nicht betroffen sind die zwei Randdialekte Tenda und Fanghetto; in den Tälern Nervia-Argentina hat sie sich nicht durchgesetzt. Für unseren Vergleich ergibt sich der Befund, dass die Reduktion der Verbalklassen bei allen Nachbarn als Tendenz nachweisbar ist, und dass diese Reduktion in einigen alpenligurischen Dialekten ebenso weit gediehen ist wie im Nizzardischen. Das mentonaskische System ist Frucht derselben Tendenz, realisiert diese aber konsequenter. 3.3 Polysyllaba: die ISC-Erweiterung in allen ’Tempora’ Einen erheblichen Anteil an der Reduktion innerhalb von Klasse II hat die Infigierung von / +ISC+/ : Dieses Infix ist ursprünglich auf die stammbeton- 4 Ende des 19. Jh. war das auslautende -a von P4 noch fakultativ, vgl. Andrews (1875: 32): „On omet souvent la voyelle finale à la première personne du pluriel ...“: anén = anéma. Eine neue Schulgrammatik (Ansaldi 2009) nennt nur die volle Form. R o y a s k i s c h Pigna Menton Tenda Saorge Breil I II I II I II I II I = II P1 -u -u -Ø -Ø -i -i -u -u -u P2 -a -e -a -Ø -e -e -a -e -e P3 -a -e -a -Ø -a -Ø -a -e -a -e P4 -ámu -ému -ám -ém / -ím -ám(a) -ém(a) / -ím(a) -ámu -ému -ém(a) 4 P5 -áj -éj -áj -éj -é -é (/ -í) -áj -éj -é P6 -a -e -aŋ -uŋ -u -u -a -e -a ŋ <?page no="170"?> Werner Forner 156 ten Formen eingeschränkt, z.B. im Genuesischen und im Küstenligurischen. Im Alpenligurischen wurde die Infigierung auf viele oder alle Flexionsformen ausgeweitet. Diese Ausweitung ist für unsere Fragestellung insofern relevant, als / +ISC+/ die Flexion der konsonantischen Konjugation nach sich zieht. Wenn also / +ISC+/ auch auf die endungsbetonten Formen generalisiert wird, etwa auf FIN+ÍMUS, so switcht die Endung um auf +EMUS: (6) FINIMUS + ISC = *FIN+ISC+EMUS. So ergibt sich Pignaskisch [feɹiʃému] statt Sanremo [finímu]. In Dialekten, wo die Infigierung auf das gesamte I ISC -Paradigma ausgeweitet wird, haben die spezifischen Endungen der I-Konjugation nur geringe Überlebenschancen, denn sie sind dann auf die schmale I Ø -Klasse eingeschränkt. Die ISC- Erweiterung ist also Auslöser der bislang beobachteten Reduktionstendenzen. Es lohnt sich daher, das gesamte I ISC -Paradigma auf die Verallgemeinerung des Infixes zu testen, in allen uns interessierenden Dialekten, um so Areale mit besonderer Intensität zu entdecken. Wir benötigen dazu eine Liste der Verbformen, die im Küstenligurischen die Infigierung NICHT zulassen, und genau diese Formen müssen wir in den verschiedenen Orten abfragen. Die Antwort für jede Form ist entweder „ja, die Infigierung findet statt“, oder „nein“; also plus oder minus; das ergibt für die kartographische Erfassung die zwei Seiten einer Isoglosse. Die Ergebnisse sind publiziert (Forner 1986: 50 s.); es genügt daher hier eine Kurzfassung. Das Schema (7) nennt zunächst die Nummer der Isoglosse (ab N° 6), dann die flektive Kategorie, dann je ein Beispiel für jede der beiden alternativen Formen, für „plus“ bzw. für „minus“. Die Karte (8) nennt die Orte, in denen die Enquête durchgeführt wurde und zeigt die Ergebnisse. (7) Infigierung ja / nein N° Kategorie Ohne Infix Mit Infix 6 PR. Ind. P4 fenímu feniʃému 7 IPF. Ind. P1 feníva, fenía feniʃéva 8 IPF. Konj. P1 feníse feniʃése 9 FUT P3 feni(ɹ)á feniʃəɹá 10 INF mit Clitic fenirla feɹi’ʃøɹla 11 INF ohne Clitic feɹíe *feníʃe Alle in (7) genannten Formen (und natürlich viele mehr) sind belegt, außer der letzten Form („*..“ ) in N° 11: Der reine Infinitiv endet überall auf / -iɹ/ . Die areale Verteilung zeigt die folgende Karte: Bei jeder Isoglosse bedeutet „+“: „mit Infigierung“. <?page no="171"?> Das mentonaskische Verbalsystem 157 (8) Präsenz des Infixes ISC Wie die Karte zeigt, ist das Pignaskische gewissermaßen das Epizentrum der Infigierung: Dort erfährt selbst der Infinitiv die Infigierung, sofern er durch ein Clitic erweitert ist 5 . Auch Saorge und Triora liegen gut im Rennen. Völlig außerhalb liegt die Küste mit ihren ‚urbanen’ Dialekten. Einen analogen Befund liefert die Prüfung der Übergänge der I Ø - Endungen in die Endungen der konsonantischen Konjugation (Forner 1986: 48s.), die ich hier nicht wiederholen möchte: Auch hier bildet Pigna mit Saorge und Tende das Epizentrum. Bei dieser Klasse ist auch der Infinitiv ausgewechselt, und Ventimiglia partizipiert an diesem alpinen Merkmal: Vent. meist [dɔrme, sɛnte] statt SRemo [durmí: , sentí: ]; und die Imperfekt- 5 Dasselbe Phänomen hat Massaioli (1996: 51) auch im Brigaskischen gefunden: INF. [akutríi, rəfrəníi, akybaníi], aber mit enklitischem -se: [akutriʃuɹsé, rəfrəniʃuɹsé, akybaniʃuɹsé] (fakultativ). Dasselbe ist jetzt auch für das Tendaskische attestiert (Guido 2011). <?page no="172"?> Werner Forner 158 Endung / -íva/ ist nur in den urbanen Zentren der Küste erhalten, schon die frazioni haben / -ía/ (urban [durmí: va] vs. rural [durmía], genauso wie [rendía]). In beiden Parametern - und übrigens in vielen anderen - weichen die Küstendialekte deutlich vom Hinterland ab. Die Küste ist vom Genuesischen - als Modell einer ‚urbanen’ Sprachform - seit einem Jahrtausend stark beeinflusst. Dieser ‚urbane’ Geschmack hat sich auf die unteren Talschaften allmählich ausgeweitet; die oberen Talschaften und insbesondere das Royatal blieben gegen diese Einflüsse relativ immun. Auch das macht die Karte (8) deutlich: Etwa im Nerviatal reicht der Küsteneinfluss bis Isolabona, kaum bis ins benachbarte Apricale, das abseits der Verkehrswege in einem Nebental der Nervia liegt, und das fast pignaskisch geblieben ist. Analoge Einflüsse - und zwar aus dem maritimen Provenzalischen sind auch an der Küste des Comtat de Nissa angebrandet, z.T. bis zu dem Alpenkamm, der Menton von Ventimiglia abriegelt (Dalbera 1989a): Die meisten Merkmale, die Nizza vom Hinterland trennen, sind diesem westlichen Einfluss geschuldet. Allerdings ist die Divergenz Küste vs. Hinterland dort erheblich zaghafter als auf ligurischer Seite. Für unsere Suche nach Verwandten des Mentonaskischen bedeutet dies: Diese sind weniger an der Küste zu erwarten als im Hinterland; denn das Hinterland hat die Sprachformen in etwa konserviert, die in unmittelbarer Nachbarschaft Mentons in Gebrauch gewesen waren, bevor die ‚urbanen’ Einflüsse einsetzten. Welches Hinterland - Alpennizzardisch oder Alpenligurisch? Das ist bis jetzt noch unentschieden. Denn die Reduktion der Flexionsklassen betrifft beide Regionen in ähnlichem Umfang, übrigens auch das Piemontesische. 4 Die Monosyllaba Dieser Terminus meint nicht etwa Verben mit nur einer Silbe (in den stammbetonten Formen) - die gibt es überall -, sondern diese Verben weisen eigenständige, von der monosyllabischen Flexion abweichende, Flexionsendungen auf. Nur die Abweichung soll uns hier interessieren: Auf die einzelnen Personalendungen selbst komme ich anschließend zurück. 4.1 Die Monosyllaba: Menton Schema (9) nennt die betroffenen Verben von Menton. Kursiv und eingerückt sind die Formen gedruckt, die nicht monosyllabisch sind. Für P4/ 5 gilt das <?page no="173"?> Das mentonaskische Verbalsystem 159 immer; ich nenne daher dort nur den Stamm; auf diesen folgt immer die polysyllabische Endung: / +éma; +é/ . (9) Monosyllaba, Menton: a) mit / +g+/ in P1 INF aná fa sta tra ** di ve vení = tení PR P1 vágu fágu stágu trágu dígu végu vɛŋgu tɛŋgu P2 * val fal stal tráe díze vée véne téne P3 va fa sta tráe di ve vɛ̃ ŋ tɛ̃ ŋ P4/ 5 an+ faz+ staz+ trá+ diz+ ve+ ven+ ten+ P6 vaŋ faŋ staŋ traŋ dizaŋ véaŋ vénaŋ ténaŋ Stamm: ...., kurz: / va/ / fa+/ / sta+/ / tra+/ / di+/ / ve+/ / vɛ̃+/ / tɛ̃+/ ...., lang: (an) / faz+/ / staz+/ =/ tra+/ / diz+/ =/ ve+/ / ven+/ / ten+/ „gehen, machen, bleiben, ziehen, sagen, sehen, kommen, halten“ * Andrews (1875) transkribiert noch: „vaɹ, faɹ, staɹ, ..“, etc. ** Attestiert bei Andrews (1875: 30), heute außer Gebrauch. b) ohne / +g+/ INF sabé avé vuré puré PR P1 saj aj vjɛju pjɛʃu P2 * sal al vwáre pwáre P3 sa a vúe púe P4/ 5 sab+ av+ vur+ pur+ P6 saŋ aŋ vwáraŋ pwáraŋ Stamm: ...., kurz: / sa+/ / a+/ / vɔ+/ / pɔ+/ ...., lang: / sab+/ / av+/ / vɔr+/ / pɔr+/ „wissen, haben, wollen, können“ <?page no="174"?> Werner Forner 160 Die ‚Grammatik’ der Monosyllaba ist an (9) ablesbar: (10) Grammatik der monosyllabischen Flexion (Menton): 1. Der stammauslautende Konsonant (soweit vorhanden) ist zu tilgen mit zwei Einschränkungen: nur im Indikativ Präsens, und dort nur in P1-2-3- 6; 2. Der gekürzte Stamm erhält die monosyllabischen Endungen: / +g+u/ , / +l/ , Ø, / +ŋ/ ; 3. Der ungekürzte Stamm erhält die polysyllabischen Endungen: Dasselbe gilt für alle übrigen Flexionsformen (incl. andere Tempora / Modi) 6 . Die beiden zuletzt genannten Modalverben haben im gesamten Paradigma den Langstamm, nur in P3 den Kurzstamm auf [-úe]. Diese Form ist die spezifisch mentonaskische Realisierung des (ursprünglichen) Diphthongen [wɛ] in finaler Stellung, der sich vor Konsonant zu [wa] entwickelt hat: (11) vɔ+Ø > vwɛ > vúe (cf.: kɔɹ > kwɛɹ > kwɛ > kúe „Herz“); ABER: vɔr+e > vwɛre > --- > vware 4.2 Monosyllaba: Die intemelische und die nizzardische Küste An der westligurischen Küste ist die monosyllabische Flexion präsent, aber die spezifische Ausprägung der Endungen ist weniger auffällig: In der zweiten Person gilt die polysyllabische Endung P2=/ +i/ auch für die Monosyllaba; eine auffällige Endung ist heute nur P6=/ + ŋ / , denn bei den Polysyllaba wurde die ursprüngliche Endung P6 durch P3 substituiert: P3 „u ká ŋ ta“, P6 „i ká ŋ ta“ 7 . Monosyllabisch verhalten sich an der Küste bei einigen Verben auch weitere Formen: P4-P5, Imperfekt, Partizip Perfekt. 6 Einige Partizipien Perfekt haben: Kurzstamm + Endung / +tʃ/ : fatʃ, statʃ, tratʃ, ditʃ. Von dem Stamm DARE, der im Okzitanischen durch DONARE ersetzt ist, blieb in Menton nur das Partizip bestehen: datʃ (lt. Andrews 1875: 28, neben donátʃ). 7 Dieser rezente Ersatz ist eine sehr allgemeine Tendenz: Er betrifft die meisten ingaunischen und intemelischen Dialekte ab Loano, auch die gesamte östliche Poebene (Simon 1967). Dialekttexte des 17. Jh. (aus Ventimiglia, Taggia) haben P6=/ +ŋ/ (Azaretti 1982: 196). Entgegen einer weit verbreiteten Meinung handelt es sich hier nicht (jedenfalls nicht notwendig) um eine phonetische Evolution, sondern um einen „Ersatz“: um den Ausgleich einer syntaktischen Variation des Verbs bei einem Subjekt im Plural. Die Rhematisierung des Subjekts geschieht durch dessen postverbale Stellung. Diese Stellung unterbindet die Kongruenz: Das Verb wird nicht an Genus/ Numerus des post- <?page no="175"?> Das mentonaskische Verbalsystem 161 (12) Monosyllaba: Ventimiglia, Sanremo 8 P1: Ø/ a+ dagu-stagu-tragu-fagu-vagu -vegu-digu (satʃu, paréʃu, vœju, pɔʃu) (P2: ) ti+ daj-staj-traj-faj-vaj -vej-di-sa-pa-vø-pø/ pɔ. P3: u+ da-sta-tra-fa-va -ve-(diʒe)-sa-pa-vø-pø/ pɔ. P6: i+ daŋ-staŋ-traŋ-faŋ-vaŋ -veŋ-(diʒe)-saŋ-paŋ-vœŋ-pœŋ/ pɔŋ. P4~5: dámu~de, stámu~ste, trámu(~traé), fámu~fe. --- Imperf. Ind.: dáva, stáva, tráva, fáva. --- Imperf. Konj.: dése, stése, -- , fése. --- Part. Perf.: daw, staw, --, faw („do, sto, traggo, faccio, vado, vedo, dico, so, paio, voglio, posso“) Die ‚Grammatik’ der küstenintemelischen Monosyllaba ist weniger restringiert als in Menton: Sie ist nicht auf die Kondition Präsens plus Stammbetonung eingeschränkt. Die Verben teɲí-veɲí (tenere, venire) verhalten sich eher polysyllabisch (nur P3 und P6: te ŋ , ve ŋ ). Der „monosyllabische“ Charakter wird durch die / +g+/ -Erweiterung etwas gestört: Denn P1 wird dadurch zweisilbig. Außerhalb der urbanen Zentren der intemelischen Küste hat sich in einem küstennahen Areal eine Alternative für P1 (unterschiedlich extensiv) ausgeweitet: Endung P1 = / +ɔ ŋ / (ohne Infix). Diese Endung wurde vermutlich von / su ŋ / SUM 9 zunächst auf das zweite Hilfsverb HABERE übertragen: / ɔ ŋ / , und damit auf alle Futurformen - das ist übrigens der Stand in Ventimiglia - und in einem weiteren Schritt auf weitere Monosyllaba: (13) Monosyllaba P1 - Küstenintemelisch: rurale Variante, z.B. Ceriana P1: a + dɔŋ-stɔŋ-trɔŋ-fɔŋ-vɔŋ und: ɔŋ, suŋ („ho, sono“) ponierten Nomens angeglichen, es steht dann mit einem numerus- und genusneutralen Clitic (meist u oder a oder Ø) und in P3. Es besteht daher Variation P3~P6 bei demselben Subjekt, in Abhängigkeit von dessen syntaktischer Position bzw. Funktion (cf. Forner 1976). Beispiel (nach Azaretti 1982: 223; Bottini (2010: 109)): Ventimiglia: Ø g e j kaj / i kaj i ge suŋ (Da sind die Hunde) / Sanremo: u g e j kaj / i kaj i ge suŋ / Airole: a g e j kaj / i kaj i ge suŋ. 8 Formen nach Azaretti (1982: 198-200; 221: zu Ventimiglia) bzw. zu Sanremo: Bottini (2010: 134-151); „tra“ ist in Sanremo nicht belegt. Divergierende Formen sind durch „/ “ getrennt: vent./ SR. 9 Es entspricht allerdings zugleich der küstenintemelischen Tendenz, einsilbige vokalisch endende Wortkörper durch einen Nasal künstlich zu verlängern: peŋ < pɛ < PE- DE, u.a. <?page no="176"?> Werner Forner 162 Bei den okzitanischen küstennahen Nachbarn ist der Tisch weniger reich gedeckt: In Nizza ist ein monosyllabisches Paradigma nur bei zwei Verben nachweisbar: far und anar. Dieses grenzt sich von den Polysyllaba nur durch P1=/ +u/ ab - die Polysyllaba haben in Nizza und Umgebung P1=/ +i/ ; alle übrigen Endungen sind identisch mit denen des polysyllabischen Systems. Wenige archaische Varianten mit P1=/ +u/ in Nizza sowie monosyllabische Formen im Hinterland (Dalbera 1994: 601) suggerieren, dass die schwache Präsenz der Monosyllaba im heutigen Nizzardischen rezent ist. (14) Monosyllaba: Nizza Nur: faw - fas - fa || feŋ - fes -faŋ vaw - vas - va || ( anaŋ - anás ) -vaŋ P1 = / +u/ : estáw, vew (auch: vej); djew (a. díi) 10 (cfr. sjew „je suis“) Zusammenfassend können wir festhalten: Das monosyllabische System ist auf nizzardischer Seite als eigenständige Klasse nicht (mehr) ausgeprägt. Hingegen ist es in den westligurischen Küstendialekten umfangreicher vertreten als in Menton; allerdings weicht dort die Personenmarkierung weniger deutlich vom polysyllabischen System ab, da insbesondere P2=/ +i/ mit diesem identisch ist. 4.3 Monosyllaba: Alpenligurisch Die Monosyllaba sind auch in allen alpenligurischen Dialekten verbreitet. In Pigna (s. Schema 15) sind die Kurzstämme - wie in Menton - auf das Präsens eingeschränkt, aber die Einschränkung der Stammkürzung auf die stammbetonten Formen gilt hier nicht - im Gegensatz zu Menton: Auch P 4/ 5 haben in Pigna oft den Kurzstamm. In Schema (15) sind die Abweichungen von Menton fett gedruckt. Das Verb / daɹ/ „geben“ ist in allen 10 Die Paradigmen entnehme ich meist Compan (1965); Ronjat (1930, vol. III: 311) attestiert darüber hinaus: riéw (statt *ríi) „ich lache“; Toscano (1998: 126) nennt für sáwpre („können, wissen“) die Präsens-Nebenformen: saj-sas-saw (neben: sábi-sábes-saw). Ich halte P1=/ +u/ bei diesen wenigen Verben - mit Dalbera (1994: 264-266; 267 Karte; 601) - für ein Relikt der gleichlautenden lateinischen Endung; denn P1=/ +u/ konnte sich nur als betonter Vokal halten, sonst fiel es ja der Apokope zum Opfer. Ausführlicher s.u. § 6.1. Sütterlin (1896: 404-406) glaubt hingegen an eine analogische Übertragung von estáu aus. <?page no="177"?> Das mentonaskische Verbalsystem 163 (alpen-)ligurischen Idiomen sehr geläufig; in Menton 11 ist es ungebräuchlich geworden. Zum Verb gehören im (Alpen-)Ligurischen auch die Subjekt- Clitics (s. letzte Zeile): „ich gehe“ heißt: „e vágu“. (15) Monosyllaba, Pigna(kursiv: ≠ Mono; fett: ≠ Menton) Inf. andáɹ faɹ staɹ da ɹ savéɹ avéɹ di: e veɹ vuréɹ puréɹ P1 vágu fásu stágu dágu saj aj dígu végu vɛʎu péʃu P2 vaɹ faɹ staɹ da ɹ saɹ aɹ dí: e veɹ vej pej P3 va fa sta da sa a di ʒ e ve vɔɹ pɔ P4 andámu fámu stámu dámu sámu ámu dímu ? ? vurému purému P5 andáj faj staj daj sáve áve dej vej vuré puré P6 vaŋ faŋ staŋ da ŋ saŋ aŋ di ʒ e ve ŋ v ɔŋ p ɔŋ Clitics: (P1 - P6) e - ti - u~a || e - e - i~e Das monosyllabische System ist in allen Roya-Dialekten präsent. Im Brigaskischen (La Brigue und östlich angrenzende brigaskische Orte) finden wir dieselben Verben 12 , wobei die Anwendung noch weiter gilt: Die Stammkürzung betrifft hier nicht nur das gesamte Präsens-Paradigma (s. 16a), sondern kann bei bestimmten Verben fakultativ auch im Indikativ und Konjunktiv Imperfekt (s. 16b-c) angewendet werden. Auch hier gehören die Subjekt-Clitics zur Flexion (s. 16a, letzte Zeile). (16a) Brigaskisch: Monosyllaba, Präsens Ind. (kursiv: ≠ Mono; fett: ≠ Pigna) Inf. əndáa faa ʃtaa daa savée avée -véjɹu vuɹée purée P1 vag fag=fas ʃtag dágu sag aj vég vœʎ pœʃ P2 vaa faa ʃtaa daa saa aa véjɹu vœj pœj P3 va fa ʃta da sa a véjɹu vɔɔ pɔ P4 13 əndáma fáma ʃtáma dáma sáma áma víma vuɹéma péma M P5 əndáj faj ʃtaj daj savé avé vi vuɹé pé M P6 vaŋ faŋ ʃtaŋ daŋ saŋ aŋ véjɹu vɔɹu pɔru 11 DARE ist im (fast) gesamten okzitanischen Bereich durch den Stamm DONARE suppletiert und verdrängt worden, cfr. Schmid (1949: 117, 122s.). 12 außer [dii] „sagen“: P1 besitzt zwar die g-Infigierung ([e dig], aber alle übrigen Formen haben den Langstamm / diʒ+/ . 13 P4 / -áma/ : im Brigaskischen von Verdeggia / Realdo auch / -ám/ . <?page no="178"?> Werner Forner 164 Clitics: (P1 - P6: ) e - ti - ə~a || e - e - i~e (16b) Brigaskisch: Monosyllaba, Imperfekt Ind. (Formel: / Stamm +ía|+íŋ|+ía||+iáma / |+iáj | +íŋ) P1 -vía pía P2 viŋ piŋ P3 vía pía P4 viáma piáma P5 viáj piáj P6 viŋ piŋ neben: əndáva = əndadʒía fadʒía ʃtadʒía dadʒía savía avía --vuría puría, .. (16c) Brigaskisch: Monosyllaba, Imperfekt Konj. (Formel: / Stamm +és | +ésu | +és || +esáma | +esáj | +ésu ) P1 fes ʃtes des M -vis M pes M 14 P2 fésu ʃtésu désu vísu pésu P3 fes ʃtes des vis pes P4 fesáma ʃtesáma desáma visáma pesáma P5 fesáj ʃtesáj desáj visáj pesáj P6 fésu ʃtésu désu vísu pésu neben: əndés = əndəgé fagés .. --dagés savés avés vəgés vurés purés Die monosyllabische Konjugation ist in allen alpenligurischen Dialekten vorhanden; meist sind die Konditionen von Menton paradigmatisch erweitert. Darüber hinaus finden wir in den stammbetonten Formen des Präsens allenthalben - wenn man von bloß phonetischen Varianten absieht (dazu s.u. § 6) - dasselbe Endungsschema. Das Mentonaskische gliedert sich in dieses Schema ein. 14 „.. M “ = nur in: Massaioli (1996). <?page no="179"?> Das mentonaskische Verbalsystem 165 5 Morphologische Klassen: Zusammenfassung Wir haben die zwei Flexionstypen des Mentonaskischen bei den drei Nachbarn untersucht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in puncto Polysyllaba alle hier diskutierten Areale dieselbe Tendenz aufweisen, nämlich die Tendenz, die Vielfalt der geerbten fünf Konjugationen zu reduzieren auf nur zwei. Hier waren das Nizzardische und das Alpenligurische ungefähr gleich erfolgreich, Menton übertrifft beide. Das wurde anhand der Präsenskonjugation nachgewiesen. Aussagekräftiger ist die monosyllabische Konjugation: Diese ist zwar überall vorhanden, aber sie ist im Alpenligurischen ebenso wie im Mentonaskischen mit einem eigenen Endungssystem ausgestattet; das Endungssystem ist dort identisch, zumindest in den stammbetonten Formen. Typologisch gesehen entspricht Menton daher eher dem alpenligurischen Typ als den beiden anderen Nachbarn. Die einzelnen Flexionsendungen kamen bislang nur am Rande zur Sprache. Sie sollen im Folgenden behandelt werden. Teil II: Die Personalendungen 6 Personalendungen Die Personalendungen der beiden Flexionstypen wurden schon in 2 (Schema 2) ermittelt: (17) Personalendungen Menton Polysyllaba: / +u/ , / +e/ , / +a/ ~/ +e/ || / +éma/ , / +é/ , / +aŋ/ Monosyllaba: / +g+u/ , / +ɹ/ [l], Ø || ( / +éma/ , / +é/ ), / +ŋ/ Diese sollen im Folgenden einzeln mit den jeweiligen ‚Amtskollegen’ der Umgebung verglichen werden. 6.1 Personenmarkierung und Apokope Die Personalendung P1=/ +u/ scheint auf den ersten Blick antikes Erbe zu sein: lat. CANT+O = ment. / ka ŋ t+u/ , genauso wie im Ligurischen und Italienischen. Aber vom Ligurischen und Italienischen unterscheidet sich Menton dadurch, dass in Menton alle unbetonten Auslautvokale außer / -a/ apokopiert sind, wie in allen galloromanischen und auch in den meisten galloitalischen Dialekten. Das heißt: aus lat. CANTO hätte [*kant] werden <?page no="180"?> Werner Forner 166 müssen, mit P1 = Ø. Die Frage lautet also: Wie kommt Menton trotz Apokope zu der vokalischen Endung / +u/ ? Mit diesem Problem steht das Mentonaskische nicht allein: Auch der nördliche Nachbar Sospel hat / +u/ . Die nordokzitanischen und die piemontesischen Dialekte haben ebenfalls P1 = / +u/ , trotz Apokope. Die übrigen okzitanischen Dialekte haben - trotz Apokope - nur sehr selten die lautgerechte Form [kant]; stattdessen haben sich andere vokalische Endungen durchgesetzt, und zwar / +i/ oder / +e/ : kánti (Nizza und maritimes Provenzalisch, u.a.); kánte (Rhone-Provenzalisch, u.a.). Auch im norditalienischen Areal finden wir kurioserweise denselben Dreiklang mit P1 = entweder / +u/ (Piemont), oder / +i/ (Lombardisch), oder / +e/ (Nordosten) 15 . Völlig entsprechend hat auch im Altfranzösischen die Form [k-ntə] (mit P1 = / +ə/ ) die ältere Form [k-nt] (mit P1 = Ø < -O) verdrängt. Schuld an all diesen Ersatzformen ist natürlich der morphologische Bedarf: Das Verb muss zwischen verschiedenen Personen-Tempora-Modi unterscheiden. Da, wo diese Unterscheidungen verloren 16 sind, etwa durch die Apokope, braucht man Ersatz. Als Ersatz stand in unseren riesigen Arealen (Okzitanisch und Norditalien) offenbar die Lösungs-Trias / +i, +e, +u/ zur Verfügung -. Woher stammen diese Vokale, die doch eigentlich alle drei der Apokope keinen Widerstand entgegenbringen konnten? Nun, es gibt - wie Dalbera (1994: 601-603) gezeigt hat - Verbformen P1, in denen sich sowohl -i als auch -u lautgerecht erhalten hat, nämlich da, wo sie betont sind und daher vor der Apokope geschützt sind. Das trifft zu auf die Monosyllaba: Und zwar werden HABEO, SAPIO regelhaft zu [aj, saj], und DO bleibt [do]. Die entsprechenden Paradigmen selbst suggerieren den auslautenden Vokal als Personenmarkierung P1: aj-az-a, bzw. do-daz-da. Beide stehen nicht allein (-aj erscheint auch als Futurendung), sie sind daher als Ersatz geeignet. Unsere Apokopen-Dialekte hatten die Qual der Wahl. Die zitierten (Schema 14) Monosyllaba von Nizza suggerieren, dass dort zumindest die Monosyllaba P1=/ +u/ hatten, oder auch, dass / +u/ dort gegenüber dem Vormarsch der Endung / +i/ besonders resistent war. Konjugationsklassen-Wechsel sind in den verschiedenen Sprachgeschichten gang und gäbe; und eine wichtige Spende-Institution - auch für die Polysyllaba - ist gerade die monosyllabische Flexion. In den ligurischen und in den meisten alpenligurischen Dialekten stellt sich dieses Problem nicht, denn dort hat die Apokope nicht stattgefunden: P1=/ +o/ ist dort die geradlinige Fortsetzung der antiken Endung. Aber die 15 Rohlfs (1968: 246s.), mit analogischen Erklärungsmodellen. 16 Ronjat (1930: §554) glaubt, dass P1 = / +u/ „date des origines mêmes de la langue et continue lat. -O (...)“ - diese Annahme trifft vermutlich nicht zu. <?page no="181"?> Das mentonaskische Verbalsystem 167 zentralen Roya-Dialekte haben die Apokope; sie müssen folglich mit denselben Problemen kämpfen, sie haben dieselbe „Qual der Wahl“ und kommen - je nach Dialekt - zu denselben Lösungen: Das lautgerechte Ergebnis P1 = Ø finden wir im Brigaskischen und in Saorge; die Endung P1 = / +i/ finden wir in Breil 17 , die Endung P1 = / +u/ gilt (allerdings regelhaft) in Tenda und im Pignaskischen. Die mentonaskische Endung P1 = / +u/ hat also vielseitige Entsprechungen; sie hat daher für sich genommen keinen diagnostischen Wert. 6.2 Zwei / +g+/ -Infigierungen In den westligurischen und alpenligurischen Varietäten - das haben die Schemata (12, 15, 16) gezeigt - wird bei fast allen monosyllabischen Verben (manchmal incl. véɲe, téɲe) in P1 ein unetymologisches / +g+/ eingefügt. Der Konjunktiv Präsens übernimmt diesen erweiterten Stamm. / +g+/ ist somit Signal für zwei Funktionen: für P1 und Konjunktiv. Die Konjunktiv- Funktion wird oft auf den Konjunktiv Imperfekt übertragen: Sanremo hat beide Varianten, mit und ohne / +g+/ : [dagése,-i,-e = dése,-i,-e], etc.; ähnlich auch Brigaskisch: [dagés = des; fagés = fes; vəgés = vis], sogar: [ə ŋ dəgés = ə ŋ dés] 18 ; in Castelvittorio (Pignaskisch) habe ich notiert: [stagesému]. Eine zusätzliche Erweiterung bietet der Dialekt von Saorge: Dort hat sich das / +g+/ -Infix bei einigen Monosyllaba im Konjunktiv Imperfekt in P4-5 eingenistet (P1~P4: [stésa~stagesáma; fésa~faghesáma]); von dort ist es in den Indikativ Imperfekt weitergewandert, wo es das gesamte Paradigma okkupiert: [stagía~stagavám; fagía~fagavám]. Das / +g+/ -Infix hat im ligurischen Westen seine Standorte und damit zugleich seine morphologischen Funktionen vervielfacht. (18a) Das ligurische Infix / +g+/ SRemo stágu stáge stagése stagavám (Saorge) (P1 PR-Ind) > (PR-Konj.) > (IPF-Konj.) > (IPF-Ind. P4-5) Das Infix ist in allen ligurischen Dialekten in der monosyllabischen Flexion verbreitet, darüber hinaus auch in allen norditalienischen Varianten. Im Italienischen existiert ein ähnliches, aber nicht gleiches Phänomen 19 . Der 17 und in den übrigen südroyaskischen Dialekten, selbst in Fanghetto, obwohl dort die Apokope nicht gewirkt hat. 18 cf. Bottini (2010: 116) bzw. Massaioli (1996: 58-60). 19 Typ accorgo, scelgo, u.a. Diese Erweiterung ist viel weiter definiert (auch nach bestimmten Konsonanten, nicht beschränkt auf Monosyllaba, neben P1 auch P6, u.a.); sie muss <?page no="182"?> Werner Forner 168 wahrscheinlichste Ursprung dieser norditalienischen Erweiterung ist die Flexion von DICERE: DICO~DICIS~DICIT > [dígu~díʒi~díʒe]. Bei diesem Paradigma konnte - aufgrund des Unterschieds zwischen der ersten und den übrigen Personen - [-gu] (statt [-u]) als Flexiv erscheinen und in dieser Funktion auf weitere Verben desselben Flexionstyps übertragen werden (s. Dalbera 1994: 614). Ein Infix / +g+/ kennen auch alle okzitanischen Dialekte, aber dieses weicht sowohl funktional als auch distributionell von dem ligurischen Infix ab. Beispiel: (18b) Das okzitanische Infix / +g+/ Nizza ajgéri ajgési ájgi ajgyt (awg-) HABUI HABUISSEM --- --- (Perfekt) (IPF-Konj.) > (PR-Konj.) > Part. Perf > ... 20 Diese okzitanische Infigierung geht vom lateinischen u-Perfekt aus, das wie germanisch [w] als [gw] rezipiert wurde. Dieses Infix blieb nicht bei den ursprünglichen Funktionen und nicht bei den Verben mit u-Perfekt; für das literarische Provenzalisch attestiert Ronjat (1930 III p.303 ss) 45 Verb(-typ)en (aber nicht die alte A-Konjugation). Das Infix zerteilt - so Dalbera (1994: 594) - die okzitanische Verbalflexion in „zwei Hauptklassen“: „thèmes à infixe -g- / thèmes sans infixe -g-“. Für die Klassifikation ist die Unterscheidung zwischen den beiden Infix- Typen ein „Hauptmerkmal“ 21 : Die ligurischen / alpenligurischen Dialekte kennen nicht das okzitanische Infix, die nizzardischen Dialekte kennen nicht das ligurische Infix. Zwar überlappen sie im Funktionsbereich der beiden nicht unbedingt - trotz Rohlfs (1968: 259s.) mit dem zitierten norditalienischen Infix gleichgesetzt werden. 20 In vielen lengadokischen Mundarten ging die „colonisation du système verbal par l’infixe / -g-/ “ noch viel weiter: auf zusätzliche Bereiche der Flexion (Part. Perf., Gerundium, Infinitiv) und auf zusätzliche Verben, s. Casagrande (2011: 80-104 und 2012 : 351-360). 21 Für Dalbera (1994: 294) ist das Infix einer der „traits différentiels majeurs“: „L’architecture du système [verbal] occitan réside, pour l’essentiel, dans la fonction de pivot assurée par l’infixe -g-, qui constitue une innovation partagée des parlers d’oc; cet infixe joue d’une part le rôle de marqueur de classe, d’autre part organise les tempsmodes de manière originale, opposant les tiroirs à -g- (subj. pst, subj. impft, prétérit, participe passé) à l’ensemble des autres. Le ligurien, royasque compris, ignore cette innovation mais fait usage d’un autre -g-, qui lie Ind. prés. pe1 au présent du subjonctif. De telle sorte que l’écart est nettement tranché entre occitan et ligurien sur ce point.“ (Dalbera 2005: 139).- Für eine Rekonstruktion der beiden Infix-Typen s. Dalbera (1994: 592-597 vs. 611-614). <?page no="183"?> Das mentonaskische Verbalsystem 169 Konjunktive - diese haben also für eine Klassifikation keinen diagnostischen Wert. Aber die verbleibenden Funktionen und insbesondere die betroffenen Verbtypen (nur Monosyllaba gegenüber ca. 40 oder mehr weiteren Verben) machen die Unterscheidung möglich. Zurück zum Mentonaskischen: Dort findet sich nur das ligurische Infix (auch im Konjunktiv Imperfekt), das okzitanische Infix ist nicht vorhanden. 6.3 Die zweite Person Das Mentonaskische kennt im Indikativ Präsens zwei Personalendungen P2: / +e/ für die polysyllabischen Flexionen ([kánte, sɛnte, feníʃe]), und / +l/ für die Monosyllaba ([fal]). Die polysyllabische Endung / +e/ dürfte aus der E- Konjugation generalisiert sein. Es liegt nahe - wenn man weiß, dass die Pluralendung der Nomina ebenfalls / +e/ lautet, und dass diese einen sigmatischen Plural auf / +es/ fortsetzt -, auch diese Personalendung auf / +es/ zurückzuführen. Das wären exakt nizzardische Verhältnisse, mit einem banalen, bloß phonetischen Unterschied, nämlich Tilgung des finalen [-s]. (19) P2 im Vergleich (Rückblick) Menton Nizza Breil Alpenlig. Riviera Polys. -e -es -e -a ~ -e -i Monos. fal, faɹ fas ti faa ti faɹ=faa=faə ti faj Die zweite mentonaskische P2-Endung, / +l/ , verweist auf eine andere Herleitung und auf andere Verwandtschaften: Wir wissen aus der frühen mentonaskischen Grammatik von Andrews (1875), dass im 19. Jh. die Aussprache noch [faɹ] war. Um die Entwicklung zu verstehen, müssen wir einen Überblick gewinnen über die vielfältigen Realisierungen des Phonems / -ɹ/ : Das implosive palatale / -ɹ/ , besonders im Auslaut, hat in den verschiedenen Dialekten sehr unterschiedliche Allophone: Mal lautet es im Auslaut ebenso schwach-konsonantisch wie in intervokalischer Stellung (Saorge: [ti faɹ], auch [ti fáə]), mal wird es noch weiter abgeschwächt zur Schwa (Pigna: / ti faɹ/ = [ti fáə]), oder sogar zu einer Ersatzdehnung des vorausgehenden Vokals (u.a. Tenda-Briga / ti faɹ/ = [ti faa]); nach / í, ´y/ kennen manche Dialekte (Pigna, Triora) eine Sonderentwicklung zu [e], im mentonaskischen Castellar zu [ə]. Mal wird implosives / -ɹ/ umgekehrt verstärkt, sei es zu „rgrasseyé“, aber nicht als P2 (im Brigaskischen von Verdeggia und in Breil, auch in Sospel) oder präkonsonantisch zu palatalem [-ʎ] (Ormea, Pignaskisch von Buggio) (Schema s.u. 20-a). Letzteres war offenbar auch die Aus- <?page no="184"?> Werner Forner 170 sprache in Menton, und [-ʎ] wurde dann entpalatalisiert zu [-l]. Genau dieses Phonem / -ɹ/ , mit den genannten Allophonien, finden wir als Endung für P2 in den Monosyllaba aller alpenligurischen Dialekte wieder. Und auch die Polysyllaba haben im alpenligurischen Bereich - wie in Menton - die P2- Endung / +e/ (in Breil für beide Konjugationen, I und II), bzw. meist die Allomorphe / +a/ , / +e/ . Wir haben also in alpenligurischen Dialekten dieselbe Variation (/ +e/ ~ / +ɹ/ ) wie in Menton, und dieselbe materielle Realisierung. Wie erklärt sich P2 =/ +ɹ/ historisch? Nun, / +ɹ/ ist der Nachfolger von lateinisch [-z]: DA+S > / da+ɹ/ . Den Rhotazismus -z > -ɹ finden wir in präkonsonantischer Position sporadisch in ganz Ligurien, im Alpenligurischen häufiger, z.B. [zderná, karerma] < (ex+)desinare, quaresima („essen, Fastenzeit“). Dieser Rhotazismus 22 resultiert aus einer Allophonie von intervokalischem / -z-/ , die in einigen alpenligurischen Dialekten erhalten geblieben ist: / -z-/ wird [-ɹz-] ausgesprochen in Tenda und im Pignaskischen von Castelvittorio (/ názu/ = [náɹzu] „Nase“), bzw. palatalisiert zu [-ɹʒ-] in Saorge ([náɹʒə]), bzw. es wird - genauso wie die Realisierung des Phonems / ɹ/ - verstärkt zu [-ʎz-] im Pignaskischen von Buggio [náʎzu], bzw. nach / i/ zu [-eʎz-]: [ríeʎzu] = / rizu/ „Gelächter“ (s.u. 20-c). In all diesen Dialekten tritt also [ɹ] (in der jeweils lokal gültigen Realisierung) als bloß allophonischer Begleiter zu dem stimmhaften / -z-/ hinzu. Um zu der zweiten Person zurückzukommen: die Realisierung von DAS = / ti+da+z/ lautete folgerichtig: *[ti daɹz]. Der tatsächliche Output [ti daɹ] erklärt sich dadurch, dass der allophonische Begleiter [ɹ] die morphologische Funktion des Phonems / -z/ übernahm - eine nicht ganz ungewöhnliche Karriere: Der Begleiter des Chefs wird zu dessen Stellvertreter, und der Stellvertreter des Chefs wird zum Chef, gewissermaßen. Dies ist die ‚Karriere’ von lat. P2 = / +S/ bei den alpenligurischen Monosyllaba. In Menton herrschte dieselbe Mechanik, sogar über die Endung P2 hinaus: Wir werden den Rhotazismus bei der Diskussion über P5 wiederfinden (s. Anm. 29). (20) Allophonien a) von implosivem / -ɹ/ : / ’Vɹ/ = [´Vɹ, Və, VV, Vʀ, Vʎ]; / ’iɹ/ = [íe, íeɹ] (Pigna-Triora) - bzw. - [íə] (Castellar). b) / ´_Vɹ #/ = [-V] ~ / ´_Vɹ C/ = [-VɹC]: [stéɲe ~ steɲ´øəlu] (Pigna) (EXTINGUERE) Briga: / ´_eɹ #/ = [-u] ~ / ´_eɹ C/ = [uɹ C]: [stéɲu ~ steɲuɹlú] (INFIN.) 22 Zum ligurischen Rhotazismus s. Forner (1993a: 242-245). <?page no="185"?> Das mentonaskische Verbalsystem 171 c) von intervokal. / -z-/ : / názu/ = [náɹzu, náɹʒə, náʎzu]; / rízu/ = [ríeʎzu] (Pigna). Die Polysyllaba zeigen einen anderen Output: den bloßen Themavokal (-a-~-e-, oder nur -e-). Dabei wurden die lateinischen Vorlagen ebenfalls mit / +S/ gebildet. Beispiel: lat. EXTINGUIS („du löschst“) heißt in fast allen Dialekten unseres Areals ti stéɲe, mit P2 = / +e/ . Wenn die Evolution, die bei den Monosyllaba gilt, auch hier anwendbar wäre, sollten wir stattdessen erwarten: *ti stéɲeɹ. Wie erklärt sich also die Form ohne / -ɹ/ ? - Die Erklärung ist banal: / -ɹ/ ist nur nach betonten Vokalen - irgendwie, s.o. (20-a) - hörbar, nach unbetonten Vokalen ist das Phonem regelmäßig stumm: Deshalb enden die Proparoxytona regelmäßig auf Vokal, Typ ÁRBORE > árbu_, nicht: *árbuɹ; und der Infinitiv EXTÍNGUERE ergibt regelmäßig stéɲe_, nicht *stéɲeɹ (s.o. 20-b). Angesichts dieser regelhaften Tilgung des auslautenden / -ɹ/ gibt es kein empirisches Hindernis gegen die Annahme, dass / +ɹ/ ursprünglich die Endung P2 auch bei den Polysyllaba gewesen war: NIHIL OBSTAT. Plausibler als diese doppelte Negation wäre ein positiver Hinweis auf die - ggf. frühere - Präsenz der Endung / +ɹ/ auch bei den Polysyllaba. Diesen Nachweis gibt es tatsächlich. Im Brigaskischen wird das unbetonte / e/ als [ə] realisiert, aber für die Stellung vor / -ɹ/ besitzt es ein spezifisches Allophon, nämlich [u]: Der Infinitiv EXTÍNGUERE lautet dort [stéɲu]; die Infinitivendung lautet / +ɹ/ , wie man an den pronominalen Verbformen ablesen kann: [steɲuɹsé]. Die zweite Person lautet im Brigaskischen ebenfalls [ti stéɲu]. Wir können schließen: Auch bei den Polysyllaba liegt für P2 die Endung / +ɹ/ zugrunde, zumindest im Brigaskischen. Das Alpenligurische zeigt also folgende Grammatik für P2: Sowohl die Monosyllaba als auch die Polysyllaba haben P2 = / +ɹ/ . Diese Endung ist bei den Polysyllaba stumm. Bei den Monosyllaba zeigt sie exakt diejenigen lokalen Realisierungen, die das Phonem / -ɹ/ dort jeweils im betonten Auslaut auch zeigt. Das Mentonaskische besitzt dieselbe P2-Grammatik. 6.4 Die dritte und sechste Person Die dritte Person Indikativ Präsens ist für den Sprachvergleich unerheblich: Sie lautet in Menton nicht anders als bei allen Nachbarn: / -a/ versus / -e/ bei den Polysyllaba ([kánta] versus [sɛnte, feníʃe]), und Ø bei den Monosyllaba ([fa]). P3 ist - wie schon gezeigt - die letzte Bastion der klassischen Konjugationsunterschiede. Diese Gleichschaltung der klassischen Konjugationen gilt übrigens nicht nur für das Präsens, sondern auch für die übrigen Tempora-Modi, außer dem Indikativ Imperfekt für die A-Konjugation / +áv+/ versus für die Nicht-A-Konjugation / +í+/ (/ kant+áv+a/ versus <?page no="186"?> Werner Forner 172 / sɛnt+í+a, fen+í+a = fen+iʃ+í+a/ ). Überall sonst sind im Mentonaskischen die beiden Klassen (A / Nicht-A) homogenisiert. Ähnlich uninteressant scheint auch P6 zu sein, mit / +a ŋ / bzw. / + ŋ / für alle Flexionsklassen ([kánta ŋ , sɛnta ŋ , feníʃa ŋ , fa ŋ ]), auch für alle Tempora- Modi. Man könnte vermuten, dass / +a ŋ / der Nachfolger von lat. / -ANT/ ist (CANTANT), und dass diese Endung von der A-Konjugation auf alle Nachbarn übertragen wurde. Eine einheitliche Endung für die A- / Nicht-A- Konjugation bietet auch das Nizzardische, nämlich / +u ŋ / , das analog aus lateinisch / +UNT/ übernommen sein könnte. Das Saourgin differenziert zwischen zwei Endungen / +a ŋ / vs. / +u ŋ / ([ká ŋ ta ŋ ] vs. [sɛ ŋ tu ŋ , feníʃu ŋ ]); das wären dann entsprechend die Nachfolger der lateinischen Endungen / +ANT/ , / +UNT/ . Dieselbe Unterscheidung könnte übrigens auch in Menton der einheitlichen Lautung P6 = [-a ŋ ] zugrunde liegen, denn dort würde auch / -u ŋ / als [- ŋ ] realisiert, z.B. BONU~BONA wird zu [b- ŋ ~bu: na]; und „Menton“ lautet im Dialekt [mɛnt- ŋ ]. Es besteht Anlass, dieser simplen Herleitung aus -ANT/ -UNT zu misstrauen, zumindest im Alpenligurischen und Westligurischen. Dort ist die nasale Endung P6 auf die Monosyllaba eingeschränkt. Die Polysyllaba hingegen zeigen - außer in Saorge - zwei Endungstypen: entweder auf -u, oder die Gleichstellung mit P3: (21) P6 = / +u/ versus P6=P3 P6 = / +u/ : i káŋtu, i rɛŋdu: Breil, Olivetta, Fanghetto P6 = P3: i káŋta, i rɛŋde: Briga, Tenda, Pigna; intemelische Küste. Beide Endungstypen sind auch über unser Areal hinaus weit verbreitet: P6 = / +u/ gilt im Piemont und in allen marginalen Dialekten des ligurischen Hinterlands 23 . Die Gleichung P6 = P3 betrifft die meisten ingaunischen und intemelischen Dialekte ab Finale Ligure, auch die gesamte östliche Poebene (Karte s. Simon 1967: 317). - Wie erklären sich diese Endungen historisch? Bei der Verwendung von P3 in der Funktion von P6 handelt es sich - entgegen einer weit verbreiteten Meinung (im Kielwasser von Rohlfs 1968: 256) - nicht (jedenfalls nicht notwendig) um eine phonetische Evolution (Tilgung des finalen - ŋ ), sondern um einen Ersatz: um den Ausgleich einer syntaktischen Variation des Verbs. Denn die Stellung des Subjekts ist funktional: Sie markiert den Focus, postverbale Stellung rhematisiert das Subjekt. Diese rhematische Position hinter dem Verb unterbindet die Kongruenz: Das Verb wird nicht an 23 Es handelt sich um ein durchgehendes Gebiet, bis hin zur Provinz La Spezia, unterbrochen nur von den - allerdings umfangreichen - Gebieten mit genuesischem Einfluss; Beschreibung und Karte s. Forner (2008: 134-136). Eine Rekonstruktion des ligurischen Areals vor der genuesischen Expansion müsste die Endung P6 = / +u/ für den ganz überwiegenden Teil Liguriens postulieren. <?page no="187"?> Das mentonaskische Verbalsystem 173 Genus/ Numerus des postponierten Nomens angeglichen, sondern es steht dann mit einem numerus- und genus-neutralen Clitic (meist u oder a oder Ø) und in P3. Es besteht daher Variation P3~P6 bei demselben Subjekt, in Abhängigkeit von dessen syntaktischer Position bzw. Funktion. Beispiel: (22) Kongruenz-Variation und Fokalisierung Ventimiglia: Ø g e j kaj / i kaj i ge su ŋ (Da sind die Hunde) Sanremo: u g e j kaj / i kaj i ge su ŋ Airole: a g e j kaj / i kaj i ge su ŋ . Variation drängt zu ihrer Auflösung; hier: P3 statt P6. Der generalisierte Ersatz von P6 durch P3 ist (vermutlich) rezent: Westligurische Dialekttexte des 17. Jh. (aus Ventimiglia, Taggia) haben P6=/ + ŋ / 24 . Die zweite - ebenfalls sehr frequente - Endung für P6 lautet / +u/ . Dies ist in vielen Dialekten - auch im Alpenligurischen - zugleich der Output der Proparoxytona. Um P6 = [-u] analog herleiten zu können, müsste als Etymon statt SENT(I)UNT *SENTONO postuliert werden, wie im Toskanischen. (23) Proparoxytona IÚVENE, ÁLBERO, MÍSPULU > dʒú: vu (auch: dʒú: ve), árbu, nɛ́spu ´_ENE, ´_ONO, ´_OLO > ´_eɹ, ´_uɹ *SÉNTONO, *CANTONO > séŋtu , káŋtu Wenn diese proparoxytone Explikation korrekt ist, dann sind umgekehrt die Dialekte mit nasaler P6-Endung erklärungsbedürftig: Wie kommt z.B. Genua und das gesamte genuesierte Areal zu der Einheitsendung / +a ŋ / ? Dieselbe Frage stellt sich für Menton (und Saorge). Schlüssel sind die Monosyllaba: Der monosyllabische Auslaut mit Nasal - der ja auch die Hilfsverben (HABERE und meist auch ESSE), und vor allem die Futurformen aller Konjugationen betrifft - wurde Modell für die polysyllabische Flexion, mit der üblichen Analogie-Proportion: fa zu fa ŋ wie ká ŋ ta zu X / X = ká ŋ ta ŋ . Wir haben also zwei P6-Endungs-Typen: nasale P6 versus P6 = / +u/ : - Leitet sich / +u/ aus / +uŋ/ her? Dann müssten wir für ein riesiges Areal die Tilgung des finalen / -ŋ/ postulieren, und zwar meist beschränkt auf genau diese Position P6. 24 Auf die älteren intemelischen Texte verweist Azaretti (1982: 196). Auch frühe Texte aus der östlichen Poebene schwanken noch (Simon 1967: 204-216). Zur Fokalisierung in genuesischen Dialekten s. Forner (1976). <?page no="188"?> Werner Forner 174 - Oder ist umgekehrt / +u/ die archaischere Form? Dann wären die nasalen Varianten nachträglich implantiert worden. Die erstgenannte Lösung verlangt eine phonetische ad-hoc-Regel, die proparoxytone Lösung hingegen ist explikativ. Deshalb halte ich diese Lösung für die bessere. Der Austausch zwischen äquivalenten Teilsystemen - hier zwischen der polysyllabischen und der monosyllabischen Konjugation - ist keine Einbahnstraße: Wir finden auch die umgekehrte Übertragung, nämlich von P6 = / +u/ auf die Monosyllaba. Die südroyaskischen Dialekte (Breil-Penna-Libri- Olivetta-Fanghetto) haben bei zwei ursprünglichen Monosyllaba die Endung P6 = / + ŋ +u/ , also eine Doppelung 25 der beiden äquivalenten Endungstypen (s. 24). Saorge zeigt dieselbe Logik: Die lokale Endung / +u ŋ / wurde an die Endung der Monosyllaba angehängt, und zwar ohne Einschränkung: (24) Südroya P6: i vɔ́nu, i pɔ́nu („sie wollen, können“) / i v-ŋ-st-ŋ-f-ŋ / i stéɲu, i k-ŋtu Saorge P6: i vɔ́nuŋ-pɔ́nuŋ = i vánuŋ-stánuŋ-fánuŋ-sánuŋ = i stéɲuŋ / i k-ŋtaŋ (auch: ánuŋ neben aŋ, súnuŋ neben suŋ) Zurück zu Menton: Ich tendiere zu dem proparoxytonen Erklärungsmodell: Die polysyllabische Endung P6 = [-a ŋ ] wäre dann der rezente Ersatz für eine vorausgegangene Endung P6. Über diese vermutlich vorausgegangene Endung kann natürlich kein kritisches Urteil gefällt werden. 6.5 Die vierte Person Die Endung P4 lautet in Menton konjugations-unspezifisch / +éma/ (s. Schema 2). Die für den Vergleich erforderlichen Daten fasse ich in (25) zusammen: (25) Vergleich P4 Menton Riviera Pigna Briga Nizza A / +éma/ / +ámu/ / +ámu/ / +áma/ / +áŋ/ 25 Dasselbe Phänomen beschränkt auf dieselben Verben ist auch an der entgegengesetzten Ecke Liguriens passiert: In den Cinqueterre finden wir: [pɔ́nuŋ, vɔ́nuŋ]. Eine Kumulation von zwei äquivalenten Endungen kann sich auch aus Sprachkontakt ergeben: Die Monosyllaba des ruralen Trioraskischen haben die ‚Doppelendung’ / +z+i/ : [ti éziázi-fázi-sázi-stázi-vázi]. Diese resultiert aus dem Kontakt der alpinen Endung P2 = / +S/ (+S = / +ɹ #/ ~ / +s +Clitic/ : [ti faɹ ~ fástu]) mit der rivierasken Alternative / +i/ . <?page no="189"?> Das mentonaskische Verbalsystem 175 Nicht-A / +éma/ / +ému,+ímu/ / +ému/ / +éma,+íma/ / +éŋ/ Monos. / +éma/ / +mu/ / +mu/ / +ma/ ( / +ŋ/ ) Dass in Menton die P4-Endung der Nicht-A-Klasse auf alle Konjugationen verallgemeinert wurde, ist aus 3 schon bekannt. Der nizzardische velarisierte Nasal (nizzardisch / ŋ / statt / -m/ in Menton und überall sonst) ist regelhaft: Er ist eine der Folgen, die die Apokope im Okzitanischen - aber nicht in Alpenligurisch/ Piemontesisch - auf den sekundär auslautenden Konsonantismus hat 26 . Der Auslaut auf / -u/ in den ligurischen Dialekten (incl. Pigna, Tenda, Fanghetto) ist natürlich der Tatsache geschuldet, dass dort die Apokope nicht stattgefunden hat. Im Imperfekt (Indikativ und Konjunktiv, auch Konditional) lautet P4 [´_a ŋ ] (unbetont): Hier wurde die Betonungs-Varianz bereinigt, die endungsbetonten Formen (P4-P5) wurden stammbetont, wie der Rest des Paradigmas: [kantáva ŋ , kantésa ŋ , kantería ŋ ], statt [kantavám], etc. Diese Tempus-Modus-spezifische Endung suggeriert, dass auch Menton eine Flexionssensible Varianz / +ém ~ +ám/ besessen haben könnte. Wirklich auffällig ist in Menton nur das auslautende / -a/ . Dasselbe Phänomen - also P4 mit auslautendem -a - finden wir sporadisch in den Royadialekten: In Breil ist das / -a/ fakultativ, in Briga selbst wird P4 in der Regel mit dem auslautenden / -a/ verwendet, aber in der - etwas archaischeren - ‚Terra brigasca’ im obersten Argentinatal lautet die Endung P4 meist / +ám, +ém, +ím/ , ohne / -a/ . Auslautendes / -a/ ist auch typisch für die meisten piemontesischen Dialekte (im piemontese illustre: / +úma/ ). Der erste Teil der Endung P4 ist problemlos: Von den ligurischen Endungen / +ámu/ , / +ému/ bleibt nach der Apokope / +ám/ , / +ém/ übrig. Hingegen herrscht über den historischen Ursprung des auslautenden / -a/ wenig Gewissheit 27 . Ich glaube, für unser Areal bietet Saorge den Schlüssel der Explikation: Dort finden wir in allen Tempora für den Indikativ die Endungen / +ém/ , / +ám/ ; aber die Konjunktive haben dieselbe Endung mit zusätzlichem / -a/ : 26 Auslautendes -m > -ŋ im Nizzardischen: Sütterlin (1896: 326 s.); in Menton nur im unbetonten Auslaut. Weitere Folgen der Apokope: Der sekundäre Auslaut unterliegt im Okzitanischen incl. Nizzardischen der Auslautverhärtung, hingegen sind stimmhafte Auslaute in Menton und in den apokopierenden alpenligurischen Dialekten erhalten. Wahrscheinlich ist die Apokope dort rezenter als im Okzitanischen. 27 D’Ovidio & Meyer (1888: § 125) diagnostizieren / -a/ als „verkümmertes Pronomen“; gemeint ist vermutlich die Enklise eines Klitikons / a/ , die u.a. in der Frageform regelhaft ist und in vielen galloitalischen Dialekten zu einer Personalendung umfunktionalisiert worden ist. Einwand: Das Klitikon P4 lautet zwar in einigen Dialekten / a/ , z.B. in Sanremo, aber weder im Alpenligurischen noch im Standardpiemontesischen! <?page no="190"?> Werner Forner 176 (26-a) Saorge, Indikativ vs. Konjunktiv P4 Präsens Imperfekt Indik. Konj. Indik. Konj. A kaŋtám(-ə) kaŋtáma kaŋtavám(-ə) kaŋtesáma Nicht-A steɲém(-ə) steɲáma steɲavám(-ə) steɲesaváma Monos. sam(-ə) sagáma saviavám(-ə) savesáma Das auslautende / -a/ ist also in Saorge Funktionsträger, die Konjunktiv- Endung P4 / +ám+a/ besteht dort aus zwei Morphemen, eins für die Person, und / +a/ für den Konjunktiv, und zwar in dieser ungewöhnlichen Reihenfolge. Ungewöhnlich ist noch eine zweite Beobachtung: Die Konjunktiv- Markierung ist in der Nicht-A-Klasse schon im ersten Teil der Endung ausgedrückt: Die Indikativ-Endung von / stéɲe/ lautet / +ém/ , die Konjunktiv- Endung lautet nicht */ +ém+a/ , sondern / +ám+a/ ; der Konjunktiv ist also doppelt ausgedrückt. Wie ist das möglich? Das angefügte zusätzliche Konjunktivmorphem / +a/ gehorcht der üblichen Analogie-Gleichung. Das zeigt ein Blick auf die Paradigmen P1-P4: (26-b) Saorge, Indikativ vs. Konjunktiv P 1-4 Präsens Indikativ Präsens Konjunktiv P 1-3 P4 P 1-3 P4 Nicht-A steɲ(-ə) steɲ+ém(-ə) stéɲ+a steɲ+ám+(? ? ) Gleichung: steɲ+Ø zu steɲém+Ø wie stéɲ+a zu steɲ+ám+( X ) X=+a Das auslautende / -a/ erklärt sich also in Saorge als Generalisierung der finalen Konjunktivmarkierung: Die Singularformen der E-Klasse enden im Konjunktiv immer auf / +a/ ; das gilt nicht nur für den Konjunktiv Präsens, sondern auch für den Konjunktiv Imperfekt: P1-3 / +esa/ in allen Flexionen. Aber die Generalisierung erreichte bei der E-Klasse nicht P5 und P6 des Präsens: Diese lauten im Indikativ: steɲéj-stéɲu ŋ , im Konjunktiv: steɲájstéɲa ŋ , und nicht etwa: * steɲája-*stéɲana. - Hingegen wurde das Konjunktivmerkmal / +a/ auf das Präsensparadigma der A-Klasse verallgemeinert, obwohl / +a/ dort historisch als Indikativmerkmal fungiert. Die historisch zu erwartende Form, die sicher Opfer der Verdrängung durch / a/ ist, habe ich in der letzten Zeile von (26-c) vermerkt; es ist die Lautung, die in den Nachbardialekten - mutatis mutandis - erhalten ist. <?page no="191"?> Das mentonaskische Verbalsystem 177 (26-c) Saorge, Indikativ vs. Konjunktiv P 1 P2 P3 P4 P5 P6 A : PR-Ind. k-ŋt(-ə) k-ŋt+a k-ŋt+a k-ŋt+ám(-ə) k-ŋt+áj k-ŋt+aŋ A: PR-Konj. k-ŋt+a k-ŋt+a k-ŋt+a k-ŋt+ám+a k-ŋt+áj k-ŋt+aŋ (statt: ) *k-ŋt(-ə) *k-ŋt(-ə) *k-ŋt(-ə) *k-ŋt+ém+a *k-ŋt+éj *k-ŋt+əŋ Die Markierung des Konjunktivs durch / +a/ in der Nicht-A-Klasse galt im Alpenligurischen allgemein; sie kann daher in diesem Bereich die Verallgemeinerung auf P4 verursacht haben: P4 = / +ém/ > / +éma/ , zunächst eingeschränkt auf den Konjunktiv der E-Klasse, dann auf alle P4 der E- Klasse, dann auf P4 = / +ám+a/ der A-Klasse. Dieses Modell setzte sich durch in Briga-Saorge-Breil. Dasselbe Modell finden wir auch in Menton. 28 Aber dieser auslösende Faktor ist in Menton nicht - nicht mehr? - gegeben: Dort ist das Konjunktiv-Paradigma der E-Klasse - heute - identisch mit dem Konjunktiv-Paradigma der A-Klasse (P1-3 Konj. PR: kánt+e = sɛnt+e). Ob diese Identität wohl die Frucht der in Menton besonders fruchtbaren Vereinheitlichungstendenz sein könnte? Dann dürften wir auch für das Ur- Mentonaskische zwei flexions-spezifische Konjunktiv-Paradigmen 29 ansetzen: kánt+e ≠ ? sɛnt+a. Und das auslautende / -a/ der Endung / +éma/ würde sich genau so erklären wie in den drei Roya-Dialekten. Aber unabhängig von dieser Hypothese besteht - wieder mal - Identität zwischen Menton und (drei) Royadialekten, diesmal in Bezug auf die Erweiterung von P4. 6.6 Die fünfte Person Diese lautet in Menton für alle Konjugationstypen im Präsens (Indikativ und Konjunktiv): / +é/ ([kanté], [fazé]). Im Imperfekt (Indikativ und Konjunktiv) und Konditional wurde die Betonung vereinheitlicht - wie schon bei P4 gesehen - auf Stammbetonung 30 : / +e/ [kantáve, kantése, kanteríe]. 28 Die Explikation der P4-Erweiterung findet sich jetzt detaillierter in Forner (2014). 29 Die vermuteten divergierenden Konjunktiv-Paradigmen finden wir in der näheren Umgebung: Castillon und Sospel haben P3 Konjunktiv: kánte / fenísa - asénda (Barroi 1998: 161-166; Desfontaine 1983: 148ss.); Roquebrune und Castellar, Ste Agnès unterscheiden nicht - wie Menton - zwischen den beiden Konjunktiv-Paradigmen (Vilarem 1998: 146ss.; Pagliano 1998: 20, 66). 30 Andrews (1875: 24ss.) und Dalbera (1994: 293) attestieren eine spezifische Endung / +aɹ/ , ebenfalls unbetont, für Imperfekt (Indik. und Konj.) und Konditional. Die Variante / +aɹ/ ist ungebräuchlich geworden, Ansaldi (2009) erwähnt sie nicht einmal. Die Herleitung dieses Allomorphs folgt demselben evolutiven Pfad wie P2 der Monosyllaba (‚ligurischer’ Rhotazismus: -áz > áɹz > áɹ > Akzentverlagerung, s.o. 6.3). Ein nahezu identisches Variationsmuster von Modus- oder Tempus-abhängigen Allomorphien <?page no="192"?> Werner Forner 178 Im Nizzardischen haben wir im Präsens das Endungsschema / +ás/ ~ / +és/ ~ / +és/ , sowohl bei den Polysyllaba als auch bei den - wenigen - Monosyllaba. Auf ligurischer Seite müssen wir zwischen Monosyllaba und Polysyllaba unterscheiden: Bei den Polysyllaba finden wir sowohl in küstenligurischen als auch in alpenligurischen Mundarten meist einen Diphthong: / +áj ~ +éj ~ +íj/ . Nur Ventimiglia und Breil und Briga 31 haben dort / +é ~ +é ~ +í/ . Ganz anders ist der Befund bei den Monosyllaba: Alle alpenligurischen Dialekte 32 haben dort im Präsens P5 = / +é/ . Auch Ventimiglia, nicht jedoch Sanremo und die restliche Küste. (27) Vergleich P5 Menton Ventim. Riviera Pigna Breil-Briga Roya Nizza A / +é/ / +é/ / +áj/ / +áj/ / +é/ / +áj/ / +ás/ Nicht-A / +é/ / +é/ / +éj,+íj/ / +éj/ / +é/ / +éj/ / +és/ Monos. / +é/ / +é/ / +áj, +éj/ / +é/ / +é/ / +é/ / +ás/ és/ Weitere Allomorphe für P5 existieren auf ligurischer Seite, aber diese spielen für den Vergleich mit Menton keine Rolle. Das Südroyaskische hat für die A- Klasse die Endung / +ájd/ , in Breil besteht Variation zwischen [ka ŋ té] und [ka ŋ tájd(ə)]. Im mittleren Nerviatal ist / -ve/ verbreitet 33 . Etwas verkürzt gesagt, verfügen die Dialekte auf ligurischer Seite über zwei P5-Alternativen: / +áj/ und / +é/ . Diese werden gern in einem Filiationsverhältnis gesehen: -áj > é (Monophthongierung: Rohlfs, Azaretti, Dalbera). Gegen diese simple Hypothese spricht einerseits die Tatsache, dass beide Alternativen in demselben Dialekt auftauchen (-áj wurde also nicht durch findet sich bei den drei Nachbarn; die Akzentverlagerung hingegen ist typisch für die benachbarten ligurischen Küstendialekte (cf. Forner 1993). 31 Beim Indik. Präsens der A-Klasse besteht in Briga freie Variation zwischen / +áj/ und / +é/ , Konj. Präsens immer / +é/ , Imperfekt (Ind. und Konj.) und Konditional aller polysyllabischen Klassen immer / +áj/ ([-aváj/ -iáj, -əsáj, -əɹjaváj]). 32 Das rurale Trioraskische hat / +é/ in Spuren erhalten: Corte: sevé-avé; savé, puré, vuré; aber: andéj, fej, stej. 33 cf. Apricale: I Ø,ISC : P5 immer -íve; auch: sámu~sáve, ámu~áve, sému~séve (sein), andáve, stáve, fave - sonst: -áj, -éj, aber: vurè, purè . - Isolabona: analog. - Perinaldo: -áve/ -éve/ íve (= Varianten von áj, -éj); séve-áve-dáve-sáve-fáve-andáve (sonst: -ɔj, -éj); dorméj=dormíve, veɲéj=veɲéive, kantɔj=kantáve. Der Ursprung dieser Endung ist entweder Enklise des Subjektclitics -ve, oder HABETIS plus Akzentverlagerung nach dem Modell der Imperfekte: avé > áve (wie kantavé > kantáve), dann Futur und ESSE (kanteráve, séve): Das ist übrigens der Stand in Pigna; Tiora hat avé, sevé, ohne Akzentverlagerung. Das Piemontesische kennt denselben Endungstyp. <?page no="193"?> Das mentonaskische Verbalsystem 179 -é abgelöst), und vor allem, die Distribution in Pigna und den (restlichen) Roya-Dialekten: / +é/ ist dort eingeschränkt auf die Monosyllaba. Ich vermute, dass / +é/ zunächst eine spezifisch monosyllabische Endung war und dann (über das Futur) in Konkurrenz zu / +áj/ getreten ist, mit unterschiedlicher Fortüne, wie am Schema (27) ablesbar ist: In manchen Dialekten blieb dieser ursprüngliche Zustand erhalten (Pigna, restliche Roya), in anderen Arealen setzte sich / +áj/ durch (Riviera außer Ventimiglia-Stadt), in einer dritten Gruppe wurde / +é/ Sieger, nämlich in Breil-Briga, in Ventimiglia, und eben auch in Menton. Diese Hypothese setzt eine zweifache Herleitung der zwei Morpheme voraus (statt der Filiationshypothese). Gerade bei den Monosyllaba ist es nicht unplausibel, eine verkürzte Variante der lateinischen Endung +ETIS, nämlich +ETE, zu postulieren: HABETE CANTATU statt HABETIS CAN- TATU, aber: CANTATIS. +ETE wurde / +é/ , +ATIS wurde / +áts, +as/ im Okzitanischen, bzw. / +áj/ im Ligurischen. 7 Zusammenfassung Die Darstellung hat gezeigt: Die mentonaskische Verbalmorphologie ist mit der alpenligurischen in hohem Maße kompatibel oder sogar identisch, mit den Dialekten der ligurischen Küste weniger, noch weniger mit dem Nizzardischen (Küste und Hinterland). Diesen impressionistischen Befund möchte ich in der folgenden Synopse etwas präzisieren. Identische oder fastidentische Ergebnisse kennzeichne ich dort mit „=“; Abweichungen, die sich nur evolutiv unterscheiden (die also historisch gar keine Abweichungen sind), werden durch „<“ bzw. „>“ markiert; Abweichungen hingegen, die einem anderen historischen Ast geschuldet sind, gelten als ungleich („≠“). Auf eine Gewichtung der Abweichungen verzichte ich. (28) Synopse der grammatischen Verwandtschaften Menton Alpenligurisch Küstenligurisch Nizzardisch Monosyllaba Subtraktion / -K+/ Restriktion: Präs. Indik., stammbetont = < Restriktion: sehr gering = < Restriktion: geringer > (≠: nur fossil) Hinterland P-Endungen: spezifisch Restriktion: wie vorher = < ≠ P wie Poly’s ≠ P wie Poly’s Umfang: 12 Verben = 10 Verben = 11 Verben ≠ 2 Verben „ligur.“ / +g+/ = = ≠ Polysyllaba <?page no="194"?> Werner Forner 180 Klassenunterscheidung: I ≠ II nur bei P3 u. IPF < < I ≠ II: Pi,Te I≠IIa≠IIb bei P3-4-5: < I≠IIa≠IIb bei P3-4-5 < I≠IIa≠IIb bei P3-4-5 Endungen P1 +u (Ersatz statt +Ø, nach Apokope) < < +Ø +u (original) (≠: +i Breil ) < +u(original) ≠ ( = : Gavot) +i Lig. / +g+/ = = ≠ P2 - +ɹ (Mono’s) - +e(ɹ) (Poly’s) = = (+eɹ ~ +aɹ) ≠ +i ≠ +es P3 +a ~ +e = = = P4 +éma: = em-a ém-: Flexionsreduktion; Apokope < +ámu~+ému < +ámu~+ému ≠ +áŋ ~ +éŋ (-ŋ, nicht -m) -a: = Breil-Briga, Saorge ≠ ≠ P5 +é = (≠ Pi-Tr-Te-Sa : +áj ~+éj ) (sonst: ) +é; +é ~+í ≠ = SR+passim: +áj ~+éj (=: +é~+í: nur Ventim.) ≠ +és ( ~ +ás) P6 [-aɲ] (Ersatz aus Monos; vorher: +u ? ) ? +u +aŋ~+uŋ: Sa P6 = P3 P6 = P3 ? +uŋ SUMMA = 10 5 1 < , > 7 4 2 ≠ -- 4 8 Das Fazit ist am letzten Abschnitt des Schemas unmittelbar ablesbar: Die alpenligurischen Dialekte liefern - alle oder ein wesentliches Segment - Ergebnisse, die mit den mentonaskischen Dialekten (quasi-) identisch sind; und die wenigen Abweichungen divergieren nur oberflächlich: Sie gehören zu demselben evolutiven Strang. Das Küstenintemelische zeigt ein paar Eigenentwicklungen. Die nizzardischen Daten sind meist einer anderen Evolution geschuldet. Ein völlig analoges Bild liefert die Nominalmorphologie - die Verwandtschaft Mentonaskisch und Alpenligurisch ist dort sogar noch deutlicher. Auch die phonologische Entwicklung haben beide Gruppen gemeinsam - wenn man von ein paar rezenten provenzalischen Einflüssen und ein paar Eigenentwicklungen absieht, die die historische Gestalt Mentons etwas opakisiert haben. Das ist in der wissenschaftlichen Literatur längst beschrieben 34 . Es ist also nicht korrekt, das Mentonaskische als „Mischung“ zu klas- 34 Dalbera (1989, 1994, 1995); Forner (1993, 1993a, 2001, 2012, 2013). <?page no="195"?> Das mentonaskische Verbalsystem 181 sifizieren oder die Ähnlichkeit auf Einflüsse zurückzuführen 35 . Sondern das Mentonaskische IST der mediterrane Vorposten der Dialektgruppe, die im alpinen Bereich ihre ligurische Archaizität hatte bewahren können. Ein leicht abweichendes Bild liefern die Subjekt-Klitika: Diese sind in allen norditalienischen Dialekten von alters her vorhanden, auch da, wo - wie im Ligurischen - die Personenmarkierung eindeutig ist. Im Mentonaskischen fehlen sie. Ist es denkbar, dass sie unterwegs verloren gegangen sind? Ja: Auch der westligurische Dialekt auf der Roca von Monaco hat sie verloren; umgekehrt haben die okzitanischen Dialekte der obersten Talschaften des westlichen Piemont sie übernommen. Die Clitics sind zwar ein wichtiges Merkmal, aber kein unveräußerliches. 8 Postscriptum: Verschriftung, Normierung Jede der hier besprochenen Varianten des alpenligurischen Verbundes besitzt ihr eigenes Verschriftungsmodell. Besonders etabliert - aber dennoch nicht immun gegen Alternativen - sind die Modelle des Mentonaskischen, des Brigaskischen und des Pignaskischen. Für das alpenligurische Gesamtsystem gibt es keine Lobby und folglich - zum Glück - keine graphische oder normative Vereinheitlichung. Es gibt aber durchaus Versuche der Integration in Nachbaridiome. 8.1 Verschriftung Der Ausbau des Mentonaskischen ist heute 36 ein Hauptanliegen der lokalen Société d’Art et d’Histoire du Mentonnais (SAHM), gegründet 1975. Diese ist Mitglied des Felibrige. Das Verschriftungssystem des Felibrige wurde sinnvoll adaptiert, die Graphie ist phonetisch exakt und leicht erlernbar. Seit 30 Jahren wird Mentonaskisch in dieser graphischen Form als schulisches Wahlfach und in Kursen für Erwachsene 37 gelehrt, mit wachsender Akzep- 35 „Infiltrazioni“ durch Händler oder transhumierende Hirten u.a., wie Scarsi (1980: 136) meint. 36 Die heutige ‚provenzalische’ Ausrichtung des mentonaskischen Sprachausbaus bedeutet eine Kehrtwendung: Die Autoren der 30er bis 60er Jahre hatten die „intemelische“ Graphie der Zeitschrift A Barma Grande (s.u.) verwendet. 37 Mentonaskisch-Kurse für Erwachsene: seit 1984, durch die Scora Felibrenca mentounasca de la SAHM; seit 1986 gibt es beim BAC die Option „Langue et Culture Régionales“ am Lycée P.M.Curie in Menton, seit 1993 zusätzlich in Roquebrune-Cap Martin am Lycée St. Joseph das Fach „Langue d’oc (Mentonasc e Roquebrunasc)“ <?page no="196"?> Werner Forner 182 tanz 38 . Zahlreiche mentonaskische Texte, auch Wörterbücher, auch didaktische Materialien, wurden von der SAHM publiziert. Eine success-story! Dennoch gibt es von okzitanistischer Seite den Vorwurf des Partikularismus und sporadisch alternative Verschriftungsvorschläge (dazu s.u. 8.2). Die brigaskische Sprachgemeinschaft wurde 1983 aus dem Dornröschenschlaf erlöst, durch eine gute ethnographische Arbeit (Massaioli 1984) mit umfangreichem, gut observiertem lexikographischem Anteil; ferner - seit 1983 - durch eine halbpopuläre Zeitschrift desselben Autors: R Ni d’Aigüra („Der Adlerhorst“), die auch brigaskische Texte enthält, als Ausdruck der brigaskischen Associazione A Vastera („Der Pferch“), gegründet ebenfalls 1983. Die von Massaioli kreierte Graphie wurde 1984 durch eine Kommission der Vastera bestätigt; sie wurde in den weiteren Arbeiten Massaiolis verwendet, und in seinem vergleichenden Wörterbuch von 2008 auch auf die anderen Royadialekte übertragen. Mit minimalen Modifikationen (/ ʒ, ʃ/ = < ž , š>) wird sie in einem weiteren Dizionario della Lingua Brigasca (Bologna 1991) übernommen, ferner wurde sie für den Dialekt von Tenda adaptiert (Guido 2011). Diese Graphie ist etwas komplex, mit zahlreichen diakritischen Zeichen, aber sie ist immerhin wortphonetisch weitgehend korrekt; hingegen bleibt die - komplexe - satzphonetische Variation des Brigaskischen unberücksichtigt. Eine vereinfachte Variante derselben Graphie verdanken wir D. Lanteri (1996); diese findet auch in dessen brigaskischen Wörterbüchern (2006; 2011) Verwendung, auch in einer zweiten populären Zeitschrift (A Vastera), die der o.g. gleichnamige Verband seit 1988 herausgibt, übrigens unter reger Beteiligung der Brigasken selbst. Diese revidierte Variante der Massaioli-Graphie erleichtert den Einheimischen die Verwendung, allerdings unter Verzicht auf bestimmte Distinktionen des Sprachsystems 39 . Die Bevölkerung der Tera Brigasca spricht, liest, schreibt, singt 40 , liebt ihren Dialekt; über die Sprache und Kultur wissen wir aus zahlreichen Publikationen mehr als über die meisten anderen Dialekte. Was sich dort in den 38 „1.400 élèves ont suivi les cours depuis leur création il y a 22 ans! Cette année, plus de 100 inscrits (109) sur les deux établissements (Lycée Curie, Institut St. Joseph), c’est un record! Les cours pour adultes, créés en 1985, ont toujours lieu au siège ...“, schreibt J.L. Caserio im ansprechenden Bulletin de la SAHM n° 105 vom März 2008. 39 Etwa die - auch in der Flexion relevanten - Oppositionen e/ ɛ und r/ ɹ; Motto: „Der Leser wird die korrekte Aussprache schon selbst wissen“ (D. Lanteri 1996: 47). Ein neuer Vorschlag von Carlo Lanteri (2012), verstanden als Beitrag zu einem künftigen „sistema ‚ufficiale’“ der Vastera, retabliert die wortphonetische Treue, aber auch die diakritischen Zeichen von Bologna (1991). 40 Der brigaskische Chor I Cantaúu (geleitet von Carlo Lanteri) zählt mehr als 50 Mitglieder. <?page no="197"?> Das mentonaskische Verbalsystem 183 letzten 30 Jahren getan hat, ist eine beachtliche Aufbauleistung, die letztlich durch Massaioli motiviert wurde. Auch diese breite volkstümliche Bewegung ist nicht ungefährdet: Die Vastera hat das Brigaskische des obersten Argentinatals als „okzitanische“ Minderheit - wider besseres Wissen 41 - anerkennen lassen, sie profitiert daher von den staatlichen Zuschüssen aufgrund des italienischen Minderheitengesetzes von 1999. Sie hat sich damit aber in den Einflussbereich des okzitanistischen Konzepts von Sprachausbau eingereiht, das im benachbarten Piemont (u.a.) die lokalen dialektalen Individualitäten einer überregionalen „Referenz-Norm“ opfert (s.u. 8.2). Pigna und Triora haben seit langem eine funktionierende Schrifttradition. Diese folgt eng den orthographischen Prinzipien, die von der Academia Ventemigliusa und im gesamten intemelischen Bereich verwendet wird, mit z.B. <ü, ö, x> oder <ü, œ, j> für / y, œ, ʒ/ . Sie ist - ähnlich wie die Graphie Mistrals - auf alle Dialekte anwendbar, ohne die lokale Phonetik zu verletzen: In Pigna, wo / y, œ/ zu / i, ɛ/ wurde, kommen die Grapheme <ü, ö> nicht vor. Diese Graphie ist die leicht modifizierte Fortsetzung der ‚intemelischen’ Graphie, die Azaretti in den frühen 30er Jahren für sein Konzept von „Intemelisch“ 42 entwickelt hatte, und die in der auf Dialektliteratur spezialisierten Jahreszeitschrift A Barma Grande (I, 1932; XII, 1972) auf zahlreiche Dialekte (Monaco, Ventimiglia, Sanremo, Taggia, Pigna, Triora, etc.) angewandt wurde, auch auf die von Menton und Sospel. Marcel Firpo, einer der fruchtbarsten mentonaskischen Autoren, blieb dem Intemelia-Konzept auch nach 1947 verbunden: Er publizierte noch in den 60er Jahren in der Barma Grande; 1968 gehörte er zu den Gründern - und mentonaskischen Beiträgern 41 Die Legge di tutela n° 482/ 99, art. 2, enthält einen Katalog der förderbaren Minoritäten; Okzitanisch gehört dazu, Alpenligurisch - wie die übrigen galloitalischen Dialekte - gehört zufällig nicht dazu. Diese Praxis erzeugt überall in Italien in den Randgebieten der „Minoritäten“ eine Gier auf den Minoritätenstatus. Die kritischen Stellungnahmen dazu füllen Bände. Zusammenfassungen zur Situation im alpenligurischen Bereich s. z.B. Toso (2008) und Forner (2010). 42 Es handelt sich um ein antikisierendes Konzept (ähnlich Lamboglia 1946, in der „Introduzione“): Gemeint ist das Gebiet der antiken Intemelii, also das Dreieck zwischen La Turbie (Côte) - Taggia (intem. Riviera) und Cuneo (südl. Piemont). Natürlich hatte die orthographische Einheitlichkeit auch persuasive Funktion. Das linguistische Konzept von „Intemelisch“, bestehend aus einem „groupe mentonnais“ und einem „groupe vintimillois“, hat Azaretti noch 1978 vertreten. Das genannte Dreieck wurde 1946 zu einem politischen Konzept: Azaretti war es gelungen, seine Idee einer „Zona Franca“ sowohl in den betroffenen Gemeinden als auch bei den Alliierten durchzusetzen. Die Realisierung scheiterte am Veto von Charles De Gaulle. Dieselbe territoriale Idee besteht in neuem Kontext wieder seit Ende der 70er Jahre, als Projekt einer künftigen région transfrontalière (Alpazur: "Alleanza Ligure-Piemontese Azione Unità Regionale"). <?page no="198"?> Werner Forner 184 - des Festival della Poesia e della Commedia Intemelia, das seitdem ununterbrochen und sehr erfolgreich jährlich in Pigna zelebriert wird 43 ; der Groupe Théâtral Mentonnais mit Jausolet Maccari war bis 1983 regelmäßig mit dabei. Das Festival machte Pigna zum Emblem des intemelischen Verbundes, ohne Normierung, und es generierte ein umfangreiches literarisches Schaffen, von dem nur ein winziger Teil veröffentlicht ist. - Die intemelische Schrifttradition inspirierte auch die Graphie des - in etwa küstenligurischen - Monegassischen (Frolla 1960: 3-7), ferner die halb-phonetische Schrift des vergleichenden panligurischen Wörterbuchs VPL. Also drei verbreitete Schriftsysteme - Felibrige, Massaioli, Intemelisch -, die die spezifische Physiognomie der jeweiligen Lokaldialekte getreu spiegeln, die gut verwurzelt sind und die Früchte tragen. Die Autoren sollten ungestört ihre Arbeit verrichten dürfen! Fruchtbare Ansätze gibt / gab es auch in den übrigen Royadialekten: in Saorge 44 , in Breil und Olivetta 45 . 43 Katalog der ersten zwei Jahrzehnte des Festivals: I.I.S.L.(1987). Der Katalog zeugt von einem riesigen Arsenal schriftlich gefasster Dialekttexte (Komödien, Poesie, Lieder), die meist nicht publiziert sind. Unabhängig vom Festival sind die qualitativ beeindruckenden Texte (Erzählprosa und Lyrik) im pignaskischen Dialekt von Buggio entstanden, von Don Guido Pastor, die dieser in drei Bänden gesammelt hat, u.a. Pastor (1990) (mit einem „vocabolario“). 44 Für Saorge wurde eine Graphie entwickelt (Botton et all. 2000), die die Funktion hat, französischen Nicht-Natives die Aussprache des Dialekts nahe zu bringen, z.B. <saoueudjinn>, zu sprechen zunächst in vier Silben: sa-ou-eu-djinn = [sa-u-ø-dʒiŋ] für / sauɹdʒiŋ/ „Bewohner / Sprache von Saorge“. Durchaus phonetisch getreu ist auch die Graphie, die Jean-Pierre Aiperti seit 2009 in Texten verwendet, die auf der Homepage des IEO-Provence (http: / / ieo06.free.fr) abrufbar sind („Ribon-Ribanha“). Aiperti leitet seit November 2011 einen Saorgin-Kurs in Saorge. Er verwendet Elemente der IEO-Graphie, aber ohne etymologisierende Abweichungen: / y-u-o/ = <u-o-ó>, / j, ɲ/ = <lh, nh>, / tʃ ≠ ʃ/ = <ch ≠ sh>, / ɹ/ = <ȓ>; und <ë> steht für [ø, œ, ə, ɹ vor K]. Die Phoneme / dʒ/ und / ʒ/ werden beide durch <j> wiedergegeben.- Schon 1983-84 hatte in Saorge eine Gruppe versucht, den Dialekt wieder zu beleben, mit Begegnungen und einem hektographierten Bulletin „Lo Mesclun“ („lo“ ist nicht saourdjin! ). Einer der damaligen Animatoren, Paul Icard, hat zwischen 2002 und 2005 durch das Office Municipal d’Animation des Traditions Populaires Saorgiennes mehrere Texte herausgeben lassen, in einer Broschüre und zusätzlich gesprochen auf CD (eine lobenswerte Initiative! ). Die Graphie ist mit der von Aiperti nicht ganz identisch, aber nicht inkompatibel. 45 Für Breil hat Joséphine Sassi in ihrer Souĉeta briienca eine ‚ein-eindeutige’ Schrift verbreitet (z.B. <c> immer = [k]; [k] immer = <c>: <cer ĉucatun> = [keʀ tʃukatúŋ] = „cet ivrogne“); in gemeinsamer Anstrengung der Souĉeta kam es u.a. zum Anfang eines Wörterbuchs: Sassi (2004-06), zu einer schönen Sammlung der lokalen Toponyme (Souĉeta briienca 2013), ferner zu zwei dialektalen Publikationen (Gedichte - mit CD; Kochrezepte). Weitere Publikationen sind in Arbeit. - In Olivetta hat in den 90er Jahren Giuseppe Limon Texte in seinem Dialekt verfasst und in mehreren Broschüren - u.a. an die Gemeinde - verteilt. <?page no="199"?> Das mentonaskische Verbalsystem 185 8.2 Normierung „Un dialecte est occitan si, dans une écriture commune, il peut être lu d’un bout à l’autre de l’espace; (..)“, schreibt der ehemalige Theologieprofessor Jean Ansaldi (2008: 19) 46 . Ansaldi ‘beweist’ auf diese Weise den okzitanischen Charakter des Mentonaskischen und des Brigaskischen. Die normierte Graphie - hier die sogen. „klassische“ des IEO - ist für ihn nicht nur Instrument für grenzüberschreitende schriftliche Kommunikation, sondern sie besitzt zusätzlich die Rolle, eine linguistische Klassifikation zu suggerieren. Beide Rollen einer normierten Graphie gehen weit über die bislang diskutierte Zielsetzung der lokalen Graphien hinaus, die ja ‚nur’ die Fixierung des jeweiligen Dialekts anstreben. Als ‚Beweis’ für Okzitanität dient Ansaldi ein einfacher Test: Eine mentonaskische und eine brigaskische Übersetzung derselben Textvorlage wurde Okzitanischsprechern aus Toulouse in der „klassischen“ Graphie des Institut d’Etudes Occitanes (IEO) vorgelegt; beide schriftlichen Übersetzungen wurden verstanden. Conclusio: „Au niveau de l’écriture, l’Occitan est bien cohérent de Menton à Bordeaux et de La Brigue à Limoges.“ (ib., 17). Jedem Linguisten ist die Trivialität dieser Schlussfolgerung selbstverständlich 47 . Aber es ist wichtig, diesen Typ von Logik zu dokumentieren, denn Ansaldi ist sicher nicht der einzige Intellektuelle, der dieser écriture-Logik bewusst oder unbewusst anhängt, von weniger gebildeten Sprachnutzern ganz zu schweigen. Gilt diese „Kohärenz“ auch außerhalb der écriture? Würde ein Languedoc- oder Provenzalisch-Sprecher den Text verstehen, wenn er vorgelesen würde? Die Antwort gibt Ansaldi (2008: 18) selbst: „Sans disposer ici du moindre test, on peut sans trop de risque parier que non.“ - Die Schrift- Norm täuscht: Sie erweckt einen Anschein von Kohärenz, obwohl diese in der sprachlichen Realität gar nicht existiert. Die „klassische“, „okzitanische“ Schriftnorm erreicht ihren über-lokalen bzw. über-regionalen Charakter dadurch, dass sie in die Sprachgeschichte abtaucht: Wer in der sommerlichen Provence einen bescheidenen Mittags- Imbiss wünscht, wird vielleicht ein [pam baɲá] (wörtlich: „pain baigné“) wählen, oder auch zwei [pam baɲá]; weiter westlich wäre es ein [pa baɲát]; die IEO-Graphie lautet: <pan banhat>, Plural <pans banhats> (für beide - 46 Jean Ansaldi ist Sohn eines mentonaskischen Vaters und einer brigaskischen Mutter; Mentonaskisch ist seine erste Sprache, Brigaskisch ist ihm von Kindheit an geläufig. Er liest und schreibt auch Provenzalisch und Lengadokisch. 47 Die normierte Graphie wurde zu diesem Zweck entwickelt, ohne diesen Kohärenzeffekt hätte sie ihren Beruf verfehlt; den „espace occitan“ könnte man mit diesem Argument ziemlich beliebig ausweiten, z.B. diatopisch bis Lissabon, diachron bis Caesar, cf. Forner (2009). <?page no="200"?> Werner Forner 186 und weitere - Lautungen). Das leuchtet ein. Aber der Sprachnutzer von Narbonne muss lernen, dass er an das ihm bekannte Wort [pa] beim Schreiben ein <n> anhängen muss, der Provenzale muss lernen, dass er dem [baɲá] ein <t> hinzufügen muss, aber nur, wenn es sich um ein Partizip Perfekt handelt, denn wenn [baɲá] Infinitiv ist, muss er ein <r> anhängen; ferner muss er lernen, dass im Schriftbild ein <s> dazu kommen muss, wenn es mehrere Exemplare sind. Der Sprachnutzer muss also zusätzliche Kenntnisse u.a. grammatischer Art erwerben; seine Sprachkenntnisse als native speaker reichen nicht aus, um seine eigene Sprache zu schreiben. Normierte Orthographiesysteme sind mühsam. Sie sind darüber hinaus auch abschreckend: Denn unser native speaker wird vermutlich, sofern er nicht Romanist ist, lieber darauf verzichten, seinen Text zu Papier zu bringen. Linguisten haben Anlass, von der Kohärenz des Systems begeistert zu sein, etwa von der einheitlichen Kongruenz Morphem~Graphem: Das Partizip Perfekt endet grundsätzlich (unabhängig von der lokalen Realität) auf <-t>, der Plural auf <-s>, ferner: der bestimmte Artikel enthält immer ein <l->, selbst in solchen Dialekten, deren Artikel gar kein lbesitzt; die zweite Plural (P5) wird grundsätzlich durch auslautendes <-tz> signalisiert, auch in Dialekten, in denen diese Form auf Vokal auslautet, etc.: Diese und einige mehr sind graphische Embleme, die vor dem Auge Zeugnis ablegen (sollen) für Okzitanität. Ein geniales Konstrukt, diese graphische Okzitanität! Aber für den Sprachnutzer ist es ein Ärgernis. Es wäre nützlich, meine ich, wenn die Norm-Konstrukteure die Bedürfnisse der Sprachnutzer im Blick hätten. Diese prometeische Genialität wächst natürlich mit dem Abstand von der zentral-okzitanischen Idealsprache. Der Abstand ist relativ groß in den westpiemontesischen Alpentälern. Die normierenden Materialien wurden dort mit beeindruckender Geschwindigkeit erstellt, etwa das genormte Wörterbuch von Lamuela (2008). Ich entnehme dort das folgende Beispiel für die genormte Graphie: „Die Bäume“ heißt im dortigen Alpenprovenzalisch meist [j árbu]; Graphie: <lhi arbols>! Der Romanist kommt damit zurecht, der pastre nicht! Das Beispiel piemontesischer Okzitanismus ist auch insofern erwähnenswert, als sich dieser nicht mit der graphischen Normierung begnügt: Es wurde auch eine neue „Referenzsprache“ erschaffen. Diese künstliche Sprache wird im westlichen Piemont in verschiedenen Institutionen eifrig gelehrt. Folge: Die native speaker-Generation sieht ihren „patouès“ mit dem Referenzmodell der Enkel konfrontiert. Einige resignieren angesichts dieser Verfremdung („Okzitanisch - das können wir nicht“), die meisten - insbesondere die sprachpflegerischen Vereine - protestieren, protestieren laut und nutzlos: Giampaolo Giordano von Valados occitanos sagt im Jahr 2003 über die Neo-Okzitanisten: „Non hanno consultato nessuno, non si curano della <?page no="201"?> Das mentonaskische Verbalsystem 187 sensibilità della gente, tirano dritto come ‘bulldozers’“ 48 . Analoge Reaktionen sind fast überall bezeugt, wo Normierung stattfindet. Normierung, auch wenn sie technisch ‘gut’ gemacht ist, ist nicht automatisch ein gutes Werk: Sie kann auch entfremdende und unterdrückende Gestalt annehmen. Und die Konfrontation mit der neu geschaffenen Norm kann den Sprachtod der Minderheit bewirken, deren „Schutz“ („tutela“, im Rahmen des italienischen Minoritätengesetzes) durch die Normierung gewährleistet werden sollte. Zurück zu unseren alpenligurischen Dialekten! Die genannten Okzitanitäts-Embleme sind dort realiter natürlich nicht vorhanden; sie sind dort auch nicht Teil der historischen Evolution: Das brigaskische Plural-Morphem lautet / +i~+e/ (manchmal Ø); der bestimmte Artikel lautet / ɹ~a/ , Pl. / i~e/ , aus älterem / əɹ-ɹə~ɹa~ɹi~ɹe/ (mit / ɹ/ , nicht mit / l/ ), die Subjekt-Clitics lauten in etwa gleich; das Partizip Perfekt endet auf betonten Vokal, z.B. CAN- TATU > [kaŋtá], Pl. [kaŋtái] - die Auslautstellung des Tonvokals ergibt sich nicht etwa aus der Tilgung des auslautenden Dentals (nicht aus *kantát), sondern aus der rezenten Apokope des auslautenden Vokals (kaŋtá < kaŋtáu). Die o.g. écriture-Probe 49 in dem zitierten Test von Ansaldi ignoriert diese phonetischen und historischen Realitäten. Wir finden dort z.B.: (29) < LA mai que LA cuna E ̈ L se fantet; .. _ L ’a chòuv UT > für: [ a maj k a kyna ɹ se faŋtét; .. əɹl a tʃuvy ]. („Die Mutter, die ihr Kind wiegt; es hat geregnet“) Die Hervorhebungen (Majuskeln) zeigen: Die normierte Graphie lügt. - Nicht nur die Graphie: auch die okzitanistische Missionierung, auch die Propaganda der Associazione A Vastera. Häufigstes Argumentationsmittel ist das Ausschlussverfahren (Exklusion): Die nächsten Verwandten des Brigaski- 48 Zitiert nach Pla-Lang (2008: 172). Das Buch enthält Interviews mit Vertretern aus allen sprachpflegerischen Institutionen der okzitanischen Täler. Die Ablehnung ist allgemein und verzweifelt. Das Buch enthält auch Interviews mit den Vertretern der okzitanistischen Militanz: Die Beiträge bestätigen deren jacobinistische Einstellung und den Anlass der Verzweiflung. 49 Die - übrigens noch relativ moderate - graphische Umsetzung stammt von Didier Lanteri. Ob diese Graphie als Modell einer künftigen Graphie intendiert war, ist nicht sicher: In seinem bei Redaktionsschluss erschienenen Buch bietet derselbe Autor (D. Lanteri 2012) eine längere Erzählung auf Brigaskisch, die er in seiner traditionellen brigaskischen Graphie transkribiert; das Buch enthält darüber hinaus 7 Übersetzungen (Französisch - Italienisch - Nizzardisch - Piemontesisch - ferner aus dem Argentinatal: Taggia und Agaggio (Trioraskisch) - aus dem Royatal: Tenda); diese sind alle in der jeweiligen traditionellen Graphie geschrieben (nur Nizzardisch in der „graphie neoclassique“). Verdienstvoll ist auch, dass das Buch drei CDs für drei der Texte (Brigaskisch, Tendaskisch, Nizzardisch) enthält. <?page no="202"?> Werner Forner 188 schen (Pigna, Triora, Roia) werden verschwiegen, statt dessen wird - um den Abstand zu vergrößern - ein weit entfernter ligurischer Verwandter, nämlich der Dialekt von Genua, ins Feld geführt 50 . Die Homepage der Vastera (regelmäßig auch die vierte Umschlagseite der Zeitschrift) bietet eine Karte und benennt die Sprachgebiete: Das Gebiet südlich und östlich der Tèra Brigasca - z.B. Triora, so die Karte - sei „gënuès“ („Genuesisch“ 51 ). Brigaskisch ist trotz der oben skizzierten Sprachbegeisterung der Einheimischen besonders gefährdet, da es ja den legalen Status einer okzitanischen Minorität erlangt hat - so etwas geht in Italien mit den Mehrheiten der Interessierten und ohne linguistische Gutachten. Dieser Status bedeutet nicht nur staatliche Zuschüsse, sondern auch Pflichten. Zu den Pflichten gehört der Sprachausbau. Ob dieser ohne die ‘Hilfe’ der benachbarten okzitanistischen Glaubensbrüder durchführbar ist, ist nicht sicher. Zu dem Bereich, in dem die neue alpenokzitanische „Referenz“ gelten soll, zählt ausdrücklich auch das Brigaskische 52 . Zurück zu Menton: Dort gibt es - sporadisch und weniger eindringlich - ähnliche Tendenzen nach demselben argumentativen Muster (Exklusion). Die Schulgrammatik des Mentonaskischen von Ansaldi (2009) enthält trotz des schmalen Umfangs dennoch Raum für missionarische (für das Sprachtraining der Schüler nicht förderliche) Abschnitte: Die Schüler lernen zunächst Ansaldis persönliche Sicht der Sprachentwicklung (Mischung aus Archäo-Ligurisch und Latein bis zum 14. Jh., danach massive Okzitanisierung: S. 12-14; dieselbe Entwicklung postuliert Ansaldi auch für die Royadialekte). Danach wird der Graphie Mistralienne die Graphie Classique gegenübergestellt (obwohl die Schüler die erstere benutzen werden). Es folgt die Grammatik (pp. 17-41), mit Erklärungen, die immer wieder auf okzitanische Realitäten referieren (obwohl diese den Schülern unbekannt sind). Gegen Ende werden sieben „formes idiomatiques“ (Abweichungen vom okzitanischen Standard) diskutiert: Schuld an diesen Abweichungen seien die paläo- 50 Eine ausführliche ideologiekritische Diskussion der Argumentationsstrategien zur Okzitanität des Brigaskischen findet sich in Forner (2010). 51 Historisch war zwar Triora (übrigens mit dem brigaskischen Verdeggia; auch das pignaskische Castelvittorio) einmal der äußerste Punkt der politischen Präsenz der Superba. Aber sprachlich hätte jeder Genuesisch-Sprecher Schwierigkeiten, Trioraskisch (etc.) zu verstehen. 52 Lamuela (2008: 10). Mit den piemontesischen Okzitanisten besteht seit 2009 ein gemeinsames Projekt auf Provinz-Ebene (Turin & Imperia): „Le Lingue Madri: occitana, francoprovenzale, francese“; bislang einziges - und unschädliches - Resultat ist ein viersprachiger Katalog geographisch-touristischer Informationen zu den einzelnen Minoritäts-Gemeinden: cf. Chambra d’oc (2012: 9-11; 44-47); ferner besorgt jede dieser Gemeinden einen „sportello occitano“ - im brigaskischen Bereich in dem neu geschaffenen Museum Ca di Brigaschi, in Realdo, das am 2.Sept. 2012 inauguriert wurde. <?page no="203"?> Das mentonaskische Verbalsystem 189 ligurischen Sprechgewohnheiten, die der o.g. Okzitanisierung des 14. Jh. entgegenstanden; es handelt sich also um schlecht rezipiertes Okzitanisch. Dass dieselben Abweichungen bei den östlichen Nachbarn auch vorliegen, wird nicht verraten. So sei z.B. mentonaskisch [ʃygá] („abtrocknen“) eine falsche Rezeption aus okzit. <eissugar> (p. 44), es hat nicht etwa denselben Ursprung wie das gleichlautende panligurische [ʃygáa]. Die italienische Staatsgrenze wirkt wie eine Mauer: was dahinter passiert, wird ausgeschlossen und darf nicht reflektiert werden. Als „conclusion provisoire“ (pp. 49- 51) der Grammaire folgt erneut ein Vergleich der beiden Graphien, diesmal anhand eines Textes, desselben Textes, der die Grundlage für den Graphie- Vergleich des Brigaskischen bildete; ich gebe daher hier denselben Textausschnitt: (30) [ a majɹe brésa u pitʃán; a piugy ]; graphie mistralienne: <a maire bressa ou pichan; a piougù>; graphie classique: <LA maire breça LO pichan; a piogUT>. Es muss betont werden, dass diese Adaptation der graphie classique relativ moderat ist. Ansaldi empfiehlt für Menton die Beibehaltung der mistral’schen Graphie als Hauptgraphie, da diese eingebürgert sei und „s’est avéré fécond“ (p. 14) - eine sinnvolle Empfehlung! Ebenfalls der Exklusion verpflichtet ist die Argumentation eines jungen Forschers, Laurenç Revest, der in einem kürzlich erschienenen Artikel 53 das Mentonaskische klassifikatorisch dem „Vivaro-alpin“, also dem Alpennizzardischen, zuweisen möchte; das wird nur dadurch argumentativ machbar, dass er die Royadialekte methodisch ausschließt. Im zweiten Teil (pp. 161- 305) desselben Artikels bietet Revest aus dem weitläufigen Areal - nördlich und östlich von Nizza - zahlreiche Ethnotexte, die alle in derselben vom IEO-Prinzip inspirierten Graphie transkribiert sind. In dieser graphischen Form sind die transkribierten Texte natürlich geeignet, dem Auge eine sprachliche Einheit zu suggerieren. Der folgende Textausschnitt aus Menton illustriert das; zum Vergleich setze ich die vermutete Aussprache des Informanten daneben, auch die traditionelle Verschriftung: 53 Revest (2011). Es handelt sich um einen Auszug aus seiner noch unveröffentlichten thèse de doctorat 3e cycle, Nizza 2009, die ich nicht kenne. Eine grundlegende Kritik am linguistischen Teil des Artikels von 2011 ist Forner (2013). <?page no="204"?> Werner Forner 190 (31) Text aus Menton Normierte Orthographie Aussprache Graphie mistralienne „E pi s’es mettu T a p LH aure, ’ U ovrie RS s’an 54 tote S scapa TS . An p LH anta T ’ O magalh, (..) e san parti TS . (..) [ e pi s ez mety_ a pjówre, y uvrié_ san túte_ skapá_. am pjantá u magaj, e sam partí_ ] E pi s’es metu a pióure, u ouvriè san toute scapà. An piantà ou magalh, e san partì. Analyse: part. p. : pl. : best. Art.: lat. KL-: <-Vt> <-s> <’o ~ ’u / ’a ~ ’e> („art. simplifié“) <plh-, clh-> [ -V ] [ -e; -Ø ] [ u ~ y / a ~ e ] ( < ɹu ~ ɹy / ɹa ~ ɹe) [ pj, kj ] Die Analyse zeigt - bezogen auf den kurzen Ausschnitt - die Abweichungen von der sprachlichen Realität; diese sind z.T. schon bekannt: Wir finden die obligatorische konsonantische Endung für Plural und Partizip wieder. Beim best. Artikel verzichtet Revest auf das emblematische <l->, aber nicht ganz: Das okzitanische anlautende lfehlt, ist also ausgefallen, und diese Elision wird durch den Apostroph signalisiert. Im linguistischen Teil seines Beitrags (p. 126) erklärt er die Artikel [u~a / y~e] als „article issu de ILLUM [lu], simplifié en [u] ..“; also okzitanisch, allerdings „vereinfacht“. Der Vorgänger von [u] lautet aber nicht *[lu], sondern [ɹu]! Schließlich: Das postkonsonantische lwird - wie in Italien - palatalisiert zu [j-]. Lamuela (2008) kaschiert für das Piemont-Okzitanische diese italoromanische Realität, indem er [pjantá, pjóure] durch <plantat>, <plòure> transkribiert; Revest verfolgt mit weniger rigorosen Mitteln offenbar dasselbe Ziel. Die in diesem Abschnitt kurz präsentierten Normierungen - das lässt sich zusammenfassend sagen - haben nicht das Ziel, die jeweilige lokale Realität zu spiegeln und den Sprechern ein möglichst einfaches Instrument zur Verschriftung der eigenen dialektalen Textproduktion an die Hand zu geben. Sondern diese Normgraphien wollen eine sprachliche Einheit, die auf der Ebene der Einzel-Sprachen nicht mehr erkennbar ist oder sogar nie existiert hat, wenigstens auf der Ebene der Schrift generieren. Das bedeutet: Abweichung von der wahrgenommenen Realität der Lokalsprache, und daher - für den Sprachnutzer - Verwirrung, Lernprobleme, Entfremdung. 54 die Graphie <s’an scapats> beruht auf falscher Segmentierung, statt: <san scapats>: Ginge es hier um das reflexive Verb scapá-se, dann müsste es heißen: [se saŋ skapá] = / se suŋ skapá/ . Was hier vorliegt, ist intransitives scapá. <?page no="205"?> Das mentonaskische Verbalsystem 191 Diese praktischen Probleme für die User, deren tatsächliche Bedarfe, und auch die möglichen Folgen für die Lokalsprachen selbst (Sprachtod), sind in diesem Wertesystem nachgeordnet. Es ist angebracht, den Wert dieses Wertesystems in Frage zu stellen. Die ethische Problematik geht noch einen Schritt weiter: Hinter der Normierung verbirgt sich oft der Ehrgeiz, die Rollenverteilung der am Ort gebräuchlichen Sprachen zu verändern: Die Rolle der jeweiligen Nationalsprache gilt dann als „normal“, die Rolle der dominierten Sprache ist folglich „unnormal“ und bedarf der „Normalisierung“. Die katalanische „normalitzazió“ steht hier Pate. Der Begriff „normal“ garantiert, so scheint es, die moralische Rechtfertigung. Aber: Was ist „normal“? 8.3 Diglossie n’y touchez pas! Sprachgemeinschaften mit Mehrsprachigkeit sind die Regel, Einsprachigkeit ist die Ausnahme (Weinreich 1968). In zweisprachigen Gesellschaften beherrschen die Sprecher zwar zwei Sprachen, aber sie wenden sie in unterschiedlicher Weise an: in Abhängigkeit von den Komunikationsfaktoren (die beiden Gesprächspartner, Gesprächsgegenstand, Situation, Medium: Fishman 1965) besitzen die Sprachen divergierende Rollen. Dabei besteht zwischen den Rollen eine hierarchische Komplementarität: Die eine Sprache ist zuständig für vertraute Gespräche in der Familie oder unter Freunden über alltägliche Gegenstände, die zweite für förmliche, vor allem schriftliche Äußerungen gegenüber Fremden oder Behörden oder Autoritäten oder über distante Inhalte. Wenn wir die Rollen-Hierarchie auf einer vertikalen Skala abbilden, dann ist die Sprache der „vertrauten Gespäche“ in der unteren Hälfte der Skala angesiedelt, die „förmliche Sprache“ im oberen Teil; im Rahmen dieser Skalen-Metapher hat sich für die förmliche Sprache der Terminus „high variety“ eingebürgert, die vertrauliche Sprache ist entsprechend die „low variety“, bzw. „H“ versus „L“. Das Wechselspiel zwischen „H“ und „L“ heißt Diglossie. Die zentrale Funktion von Sprache ist die Übermittlung von Informationen. In zweisprachigen Gesellschaften leistet der Verbund der beiden Sprachen mehr: Jeder Satz, jedes Wort in einer diglossischen Situation bietet zusätzlich zur bloßen Information eine Einordnung in die jeweilige Rollen- Hierarchie: Wenn der Sprecher „L“ verwendet, dann zeigt er, dass sein Gesprächspartner nicht ein Fremder bzw. eine Autoritätsperson ist, oder von ihm nicht so bewertet wird; und er zeigt, dass der Gegenstand nicht förmlich ist oder nicht förmlich wirken soll. Verwendet hingegen der Sprecher einem Freund gegenüber die „H“-Variante, wird der Freund zu einer Autorität metamorphisiert, und/ oder analog der Inhalt oder die Situation werden <?page no="206"?> Werner Forner 192 spielerisch „hochgejubelt“. Diese Einordnung in eine Rollen-Hierarchie, diese kommunikative Metamorphose, ist ein Mehrwert der (diglossischen) Zweisprachigkeit. Dieser Mehrwert macht Spaß: Man kann mit den Varianten ‚spielen’: Ein und derselbe Gesprächsgegenstand (etc.) kann mal als „H“, mal als „L“ präsentiert werden; ebenso das Verhältnis der beiden Gesprächspartner, ebenso die Situation. Die enkomiastischen Attribute, die Dialekten von ihren Sprechern immer wieder zuerkannt werden (Typ: in meinem Dialekt kann man nicht lügen, u.ä.) sind Früchte des diglossischen ‚Spiels’. Es hat den Anschein, dass Sprecher einsprachiger Gesellschaften unbewusst diese Variation vermissen und einen von der Norm abweichenden Code entwickeln (z.B. in Frankreich das Argot). Junge Leute in einsprachigen Gesellschaften, die das diglossische Wechselspiel nur aus der Froschperspektive kennenlernen konnten (bei ihren Großvätern), wünschen sich in vielen Umfragen die Einführung des Lokaldialekts in den Schulunterricht (zB. im ligurischen Areal: Gallea 1993). Schließlich: Warum eigentlich haben sich die Dialekte so lange und so hartnäckig neben der Normsprache gehalten? Wenn es nur um die Informationsvermittlung ginge, wären die Normsprachen seit mindestens fünf Generationen ausreichend gewesen. Ich bin überzeugt, dass der kommunikative Mehrwert die Ursache ist, die Freude an dem Spiel, mit seiner Mitteilung mehr zu leisten als nur eine Mitteilung. Nun scheinen manche Sprachpfleger, auch Linguisten, die „low-variety“ nicht als Metapher, sondern als moralischen Makel zu werten: Das Idiom X ist eine anständige Sprache, deswegen muss es durch Normierung zu einer anständigen Sprache gemacht werden und in denselben Domänen verwendet werden wie die Hochsprache. Das Vorhaben kann sogar gelingen, sofern eine politische Macht und sehr viel Finanzkraft eingesetzt werden (Paisos Catalanos). Aber wenn es denn wirklich gelingt, ist nichts gewonnen: Der spielerische Charakter, der Mehrwert durch die Diglossie, die sind verloren. Die Diglossie ist eine Wippe: Das wechselnde Auf und Ab sind Ziel des Spiels. Wenn man den „Low“-Balken der Wippe auf derselben Höhe fixierte wie den „High“-Balken, wer wollte dann noch wippen? <?page no="207"?> Das mentonaskische Verbalsystem 193 Bibliographie Andrews, James Bruyn: Essai de Grammaire du dialecte mentonnais avec quelques contes (…). Nice: Niçoise 1875. (Reprint durch die SAHM, Nice : Niçoise 1981). Andrews, James Bruyn: „Il dialetto di Mentone, in quanto egli tramezzi ideologicamente tra il provenzale e il ligure“. In: AGI XII, 1892, S. 97-106. Ansaldi, Jean: „Les parlers archéo-ligures selon W. Forner“. In: A Vastera 45, 2008, 15-19. Ansaldi, Jean: Gramàtica dou Mentonasc. Menton: SAHM 2009. Ansaldi, Jean: Brandi mentonasc - Farandole mentonnaise. Menton: SAHM 2010. Azaretti, Emilio: „Les parlers intéméliens trait d’union entre le Ligurien et l’Occitanien“. In: 3e Colloque de Langues Dialectales (1978), Monaco: Comité National des Traditions Monégasques 1978, 43-49. 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Darstellung des frankoprovenzalischen Sprachgebiets Das französische Territorium lässt sich in zwei große Sprachräume, einerseits in das nördliche Gebiet der langue d’oïl und andererseits in das südliche Gebiet der langue d’oc, unterteilen. Zwischen diesen beiden Gebieten befinden sich des Weiteren zwei kleine intermediäre Sprachräume: der sogenannte croissant, in dem sich sprachliche Charakteristika der langue d’oïl und der langue d’oc miteinander verbinden, und das im Osten Frankreichs gelegene frankoprovenzalische Sprachgebiet. Diese aire francoprovençale liegt im Dreiländereck Frankreich - Schweiz - Italien und umfasst das Gebiet des Dauphiné mit Grenoble, Savoyen, den Lyonnais, die Franche-Comté, die Westschweiz (Genf, Neuchâtel, Waad, die frankophonen Gebiete der Kantone Wallis und Fribourg), jedoch ohne den Kanton Jura und ohne den Berner Jura, das Aostatal und den an dies angrenzenden Nordwesten des Piemonts bis zur Valle di Susa. Abb. 1: Das frankoprovenzalische Sprachgebiet [www.arpitania.eu] <?page no="212"?> Heike Jauch 198 2. Zur Charakterisierung des Frankoprovenzalischen Im Jahr 1873 wurde das Frankoprovenzalische als eine Gruppe galloromanischer Raumvarietäten von G. I. Ascoli in seinen Schizzi franco-provenzali zu einer von dem Französischen unabhängigen Sprache ernannt und folgendermaßen definiert: Chiamo franco-provenzale un tipo idiomatico, il quale insieme riunisce, con alcuni suoi caratteri specifici, più altri caratteri, che parte son comuni al francese, parte lo sono al provenzale, e non proviene già da una tarda confluenza di elementi diversi, ma bensì attesta la sua propria indipendenza istorica, non guari dissimile da quella per cui fra di loro si distinguono gli altri principali neo-latini. 1 Das Frankoprovenzalische ist demnach laut Ascoli eine von der langue d’oїl und der langue d’oc unabhängige Sprache mit einer eigenständigen Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexik. Ascolis These basiert auf folgendem sprachlichen Phänomen: Das betonte lateinische a in offener Silbe bleibt in der langue d’oc stets erhalten und wird in der langue d’oїl zum Palatalvokal e. Geht dem betonten a ein Palatalvokal oder -konsonant voraus, wird es im Frankoprovenzalischen zu e. Das Frankoprovenzalische ist näher am Lateinischen geblieben als die langue d’oïl: Von ihr unterscheidet es sich durch den Erhalt der unbetonten Auslautvokale und somit auch der Paroxytona. Latein Okzitanisch Französisch Frankoprovenzalisch pratu (m) pra pré prâ capra (m) cabro, ciabro chèvre tsevra, tchcane (m) portare can portà(r) chien porter tseun, tchpurtà manducare mangià(r) manger mingé (Cf. Stich (1998, 27-31); cf. Tuaillon 1967, 292-295)) Die Definition Ascolis stieß bei zahlreichen Linguisten auf geteilte Meinungen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich weitere Bezeichnungen für den Terminus Frankoprovenzalisch finden ließen: Hermann Suchier führte im Grundriss der romanischen Philologie (1888) die Bezeichnung Mittelrhônisch ein, die jedoch den frankophonen Teil des Wallis nicht in das frankoprovenzalische (mittelrhônische) Sprachgebiet einbezog. Wilhelm Meyer-Lübke schlug in seiner Einführung in die romanische Sprachwissenschaft (1901/ 1909) 1 Ascoli (1878, 61 ff.). <?page no="213"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 199 den Terminus Südostfranzösisch vor, um somit zwar das Wallis in das Sprachgebiet wieder miteinzubeziehen, jedoch gleichzeitig dem Frankoprovenzalischen den Status eines Dialektes zuzusprechen, indem er stets von dialectes français du Sud-Est oder von groupe linguistique français du Sud- Est sprach. Pierre Gardette hingegen schloss sich der These Ascolis an und schrieb in seinem Artikel En marge des Atlas linguistiques du Lyonnais, du Massif Central, du francoprovençal du centre. Les influences des parlers provençaux sur les parlers francoprovençaux (1964): Le francoprovençal a des caractéristiques phonétiques, un vocabulaire propre, qui permettent de le mettre à part des dialectes d’oїl comme des dialectes d’oc, en sorte qu’on peut parler d’une langue francoprovençale et dire que trois langues se partagent le domaine gallo-roman: la langue d’oїl, la langue d’oc et le francoprovençal. 2 In Anlehnung an Meyer-Lübkes Aussage, „[…] daß die fragliche Dialektgruppe sich ziemlich genau mit dem altburgundischen Reiche, wie es sich unter Boso I. ausbildete, genauer, mit der Burgundia superior und der Burgundia cisjurana des 9. Jahrhunderts deckt“ 3 , führte Eugen Herzog den Terminus Burgundo-Französisch ein. Meyer-Lübke bereitete mit dieser Formulierung den Auftakt für die Burgunder-Theorie, die u.a. von Walther von Wartburg in seinem Werk Die Ausgliederung der romanischen Sprachräume (1950) stark vertreten wurde. In Anbetracht der Historie lässt sich das Frankoprovenzalische als Protofranzösisch 4 definieren, d.h. es handelt sich um ein sich in der Entwicklung befindendes, recht primitives (vorzeitliches) Französisch, dessen Ausbildung unabhängig von der langue d’oïl in frühester Zeit vonstatten ging und welches gewisse Neuerungen - vom Norden kommend - nicht übernommen hat. Die Herausbildung und die Abspaltung von der langue d’oïl, in deren Richtung es sich zunächst entwickelt hatte, lässt sich zwischen dem 7. und 8. Jahrhundert ansiedeln, folglich Ende der Merowinger-Zeit, Anfang der Karolingischen Epoche. 5 Das Frankoprovenzalische ist demzufolge eine Gruppe lokaler, markierter Varietäten aus drei Nationen, die rein der gesprochenen Sprache angehören, ohne Schreibtradition und ohne koïné: Es ist eine Sprache, die 2 Gardette (1964, 69). 3 Meyer-Lübke (1909, 22). 4 Tuaillon (1994, 64). 5 Cf. Favre (1996, 5 f.). <?page no="214"?> Heike Jauch 200 lediglich in ihren Dialekten besteht, „[…] une langue qui se présente sous la forme d’une myriade de parlers, qui est […] à l’état dialectal parfait“ 6 . Non è ben chiaro se esista qualche forma di vera e prorpia [sic] koiné francoprovenzale non marcata localmente e di uso pan-regionale; sembra comunque che esista una forma media con eliminazione delle varianti più difformi e dei tratti più rustici o fortemente locali, adoperata per es. ad Aosta. 7 3. Schriftkultur und Tradition des Frankoprovenzalischen Die literarische Tradition des Frankoprovenzalischen hat ihre Anfänge bereits im 12. und 13. Jahrhundert. Bei diesen Schriftstücken handelt es sich in erster Linie um religiöse und juridische Texte, wie z.B. Les Légendes en prose und La Somme du code (1250), die vorwiegend aus der Gegend von Lyon, Grenoble und Fribourg stammen - es sind vorwiegend Übersetzungen aus dem Lateinischen. 8 Das einzige Werk, das zu dieser Zeit im Original im patois lionese geschrieben wurde, sind die Méditations von Marguerite d’Oingt. Das 16. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des wahren Auftaktes der literarischen Tradition des Frankoprovenzalischen mit Schriftstellern wie Nicolas Martin und Laurent de Briançon: Um 1530 erscheint der erste gedruckte Noël, auf den eine Sammlung von acht Noël und 14 Liedstücken im Jahr 1555 folgen. 9 Jedoch wurde das Französische zunehmend zu dominant - ab dem 15. Jahrhundert war es die Verwaltungssprache in Savoyen und existierte vier Jahrhunderte neben dem Frankoprovenzalischen (1500 - 1900) -, als dass sich eine wahre Schreibtradition hätte herausbilden bzw. etablieren können. Die relativ spärliche literarische Tradition und das Stagnieren der Weiterentwicklung der Sprache selbst haben die Kodifizierung einer einheitlichen Graphie und damit die Herausbildung eines übergeordneten Standards, einer koïné, nicht ermöglicht. Im Gegensatz zu Frankreich und zur Schweiz, wo das Frankoprovenzalische heutzutage als Kommunikationsmedium, d.h. als funktionelle Sprache 10 , fast vollständig aus dem alltäglichen Leben verschwunden ist - 1% der Bevölkerung der Region Rhône-Alpes spricht noch Frankoprovenza- 6 Favre (1996, 6). 7 Berruto (1983, 83 f.). 8 Cf. Favre/ Gorris (1988, 40 f.). 9 Cf. Favre/ Gorris (1988, 41). 10 Coseriu (1988, 25 ff.). <?page no="215"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 201 lisch, wobei Savoyen die Gegend mit der größten Vitalität darstellt; in der Schweiz kristallisiert sich seit ca. 1930 ein starker Rückgang der aktiven Sprecher heraus - und höchstens traditionshalber auf eine folkloristische Art und Weise aufrechterhalten wird, hat es in der Valle d’Aosta einen hohen Stellenwert: Es finden sich ca. 55% - 70% aktive Sprecher. Aufgrund der regionalen Verwaltungsautonomie und des Französischen als ursprünglicher Dach- und Kultursprache, spielt das Frankoprovenzalische nach wie vor eine aktive Rolle unter den Valdostanern. In der Schweiz - insbesondere im Wallis - gibt es neue Tendenzen: Das Frankoprovenzalische soll (erneut) Einzug in den Alltag der Menschen halten - die langue des ancêtres soll wieder erlernt werden. Dies geschieht nach dem Vorbild des Aostatals: 1995 wurde die École populaire de patois (EPP) vom Assessorat de l'Education et de la Culture gegründet mit dem Ziel, das Frankoprovenzalische zu verbreiten. Der Assessorat kümmert sich des Weiteren um die Anwerbung und Ausbildung von Lehrpersonal (momentan gibt es 56 ausgebildete Lehrer) und um die Lehrmaterialien, wie z.B. das Werk Patois à petits pas. Die Sprachkurse von 20 Wochen à zwei Stunden sind an ein breites, heterogenes Publikum gerichtet und beinhalten unterschiedliche Niveaustufen. Es werden die folgenden Kurse angeboten: cours d’expression orale, cours de graphie et reflexion sur la langue, cours de théâtre. Hinzu kommen die dreimal pro Jahr stattfindenden bains de langue, sogenannte Intensivkurse, die jeweils ein ganzes Wochenende dauern. Der Président du Conseil du patois (Wallis), Bernard Bornet, will dieses System nun auch im Wallis einführen. In den Gemeinden Évolène und Nendaz finden bereits wöchentlich Frankoprovenzalisch-Stunden auf freiwilliger Basis in den Schulen statt. Des Weiteren werden Sprachkurse für die breite Öffentlichkeit in Zusammenarbeit mit der Université populaire in den Orten Nendaz, Val d’Hérens, Crans-Montana und Conthey angeboten. Der patois valdôtain z.B. wird erst im Jahre 1855 mit Jean-Baptiste Cerlogne zur Sprache der valdostanischen Literatur. Cerlogne gilt als ihr Begründer, als genius loci, als Meister des epos alpino, der seinem patois valdôtain literarische Würde und eine Graphie verlieh. 11 Er war ein einfacher Mann, ein Mann aus dem Volk, er gehörte nicht der frankophonen Elite an; der patois war die einzige Sprache, die er kannte, in der er sich mit Präzision und Wortgewandtheit ausdrücken konnte. Seine ersten großen Poesien schrieb er in der Zeit von 1855 bis 1866: L’infan prodeggo, Marenda a Tsesalet, La bataille di vatse a vertozan, Megnadzo de Monseur Abonde. All diese Gedichte erschienen 1889 in dem Sammelband 11 Cf. Zoppelli (2009, 51 ff.). <?page no="216"?> Heike Jauch 202 Poésies en dialecte valdôtain, dem die Petite grammaire (1893), der Dictionnaire (1907) und sein erstes historisches Werk Le patois valdôtain. Son origine littéraire et sa graphie (1909) folgten. Im Folgenden sollen nun die jeweiligen Graphien des Frankoprovenzalischen vorgestellt und anschließend die Frage beantwortet werden, ob man im Falle des Frankoprovenzalischen von einer Normierung und einer Kodifizierung sprechen kann. 4. Die (Ortho)Graphie des Frankoprovenzalischen in Italien, in Frankreich und in der Schweiz: fünf Ansätze Da das Frankoprovenzalische im Laufe seiner Geschichte weder eine historische noch eine kulturelle, politische oder geographische Einheit erfahren hatte - Lyon, Grenoble und St-Étienne gehörten zum französischen Königreich; Chambéry, Annecy, Susa und Aosta zu Savoyen; Genf, Lausanne, Sion, Fribourg und Neuchâtel zur Eidgenossenschaft -, steht man einer Sprache gegenüber, die lediglich in ihren patois existiert, ohne dass sich jemals eine koïné und eine einheitliche Graphie herausgebildet hat. Der letzte historische Zeitpunkt, zu dem dies möglich gewesen wäre, war das zweite Burgunderreich. Damals bildeten die frankoprovenzalischen Gebiete eine politische Einheit, jedoch bereits um 990 n.Chr. schwand die politische Macht des Reiches. Es lässt sich sagen, dass es so viele patois gibt wie Gemeinden. Im Aostatal sind es allein 82, und der patois einer jeden Gemeinde ist homogen, er bildet eine Einheit und kann somit, vor allem in Bezug auf sein Phonemsystem, genauestens beschrieben werden. Décrire le francoprovençal est une entreprise difficile, car cette langue n’existe nulle part à l’état pur, elle existe dans tous les patois francoprovençaux, mais partout associée à d’assez fortes particularités locales. C’est cela une langue dialectale, une langue qui n’existe que sous la forme de l’infinie variation géolinguistique : le francoprovençal est une langue de ce type. 12 Jeder patoisant einer Gemeinde befolgt dieselben Regeln der Lexik, Grammatik und Phonetik, und lange Zeit galt die Devise: patois sprechen, aber Französisch schreiben. Scaliger äußerte sich im Jahr 1595 folgendermaßen: A Genève, au sénat on parle en patois savoyard. 13 12 Tuaillon in Bétemps (2004, 15 f.). 13 Tuaillon (1997, 75). <?page no="217"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 203 Die erste Beschreibung eines patois roman erfolgte im Jahr 1956 durch André Martinet in seinem Werk La Description phonologique du parler francoprovençal d’Hauteville (Savoie). Folglich lässt sich sagen, dass aufgrund einer fehlenden koïné und somit einer einheitlichen Graphie jeder patois anders geschrieben wird, was bedeutet, dass für ein- und dasselbe Wort mehrere Schreibweisen existieren. Hierauf wird im Folgenden - bei der Darstellung der jeweiligen Graphien - nochmals genauer eingegangen werden. 4.1. Das Aostatal 4.1.1. Die Graphie bei Cerlogne (1907): Die erste schriftliche Fixierung und die erste Grammatik Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts besitzt der patois valdôtain eine Schriftkultur und eine literarische Tradition, deren Anfänge bei Abbé Jean-Baptiste Cerlogne (1826-1910) liegen. Im Jahr 1893 veröffentlichte dieser seine Petite grammaire du dialecte valdôtain, auf die im Jahr 1907 sein Dictionnaire du patois valdôtain folgte. In der Préface sind seine genauen Absichten zu lesen: Je me propose donc de composer une petite grammaire du dialecte valdôtain; non tant pour en donner des règles, que pour le faire mieux connaître à ceux qui y prennent intérêt. Et dans ce but il y aura, le plus souvent, la traduction française de pair avec le dialecte. Quant à l’orthographie à adopter, j’ai cru devoir suivre l’exemple de ceux qui écrivent en d’autres dialectes, et n’employer que des lettres nécessaires pour rendre le son des mots. 14 […] Je veux seulement exposer notre dialecte le plus général, tel que je le connaîs [sic], après l’avoir toujours parlé et étudié depuis plus de 50 ans; je veux en favoriser l’unification en le faisant pratiquer d’une manière plus uniforme par sa lecture; car, à quoi servirait de traiter scientifiquement du dialecte si le vulgaire venait, peu à peu, à l’oublier faute de langage écrit! 15 Er sah die patois valdôtains als Dialekte des Französischen an, als ein français corrompu 16 . Daher lässt sich die franzisierte Schreibweise in seinem Dictionnaire erklären: Die Orientierung an der Orthographie des Französischen war die beste und die eleganteste Lösung, um die patois valdôtains zu verschriftlichen, da sie laut Cerlogne französische Dialekte seien und man auf diese Weise ihre francité besser zum Ausdruck bringen könne. 14 Cerlogne (1907, 1). 15 Cerlogne (1907, Préface). 16 Telmon (1999, 22). <?page no="218"?> Heike Jauch 204 Cerlogne führt zu Beginn seiner kleinen Grammatik die Grapheme des patois und die règles pour la prononciation an: - Es gibt 23 Grapheme: sechs Vokale (a, e, i, o, u, y) und 17 Konsonanten. - Besonderheiten: ë, ts, dz, ll, h aspiré. - aa / â: langes a (= tsaat, frz. chaud / tsat, frz. chat). - e: Es handelt sich um kein richtiges e muet, sondern es entspricht eher dem italienischen prendere. - ë: Es ist ein sehr geschlossenes e, das in Richtung i tendiert. - ts: Es kann sowohl für [ts] als auch für [t ʃ ] stehen. - dz: kann für [dz] (te rendzè, frz. tu rendais) stehen und für [d Ʒ ] (dzoyé, frz. jouer). - ll: [ ʎ ] wie in ital. gli. - ch: [ ʃ ] officho, frz. office. - q: Es wird für [k] verwendet, wenn das französische Wort mit cai-, co-, cou-, cu-, cuibeginnt: qésse, frz. caisse. Hier ist das q nötig, da c vor e im Frankoprovenzalischen als [s] ausgesprochen wird. - qu: [k], wenn das französische Wort ebenfalls mit qu beginnt: quan, frz. quand. - s: [s] stimmlos nach Konsonant (sensa, frz. sens); [z] stimmhaft intervokalisch (case, frz. presque). - c: Es taucht auf, wenn das französische Wort mit ca- und mit caibeginnt. Hier ist q nicht nötig, da c vor a im Frankoprovenzalischen immer als [k] ausgesprochen wird. Alle französischen Wörter mit cabeginnen im Frankoprovenzalischen ebenfalls mit ca-. <?page no="219"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 205 Abb. 2: Ausspracheregeln nach Cerlogne Als Kritik in Bezug auf die Graphie bei Cerlogne lässt sich anführen, dass aufgrund der starken Orientierung an der französischen Orthographie nicht jeder existierende Laut und somit die diversen patois nicht angemessen wiedergegeben werden. 4.1.2. Die Graphie bei Chenal / Vautherin Im Jahr 1967 erscheint der erste Band des Nouveau dictionnaire de patois valdôtain. Das System, das die Autoren in Bezug auf die Graphie verwenden, kann man als traditionell bezeichnen, d.h. sie orientieren sich an Cerlogne. Als Basis dienen auch hier - wie bei Cerlogne - die Orthographieregeln des Französischen. Folgende Besonderheiten lassen sich im Nouveau dictionnaire de patois valdôtain festhalten: - aa: langes a (tsaat, frz. chaud / tsat, frz. chat). <?page no="220"?> Heike Jauch 206 - e: Es ist kein richtiges e muet, sondern entspricht eher dem italienischen prendere. - ë: Es ist ein sehr geschlossenes e, das in Richtung i tendiert. - ts: Es kann sowohl für [ts] als auch für [t ʃ ] stehen. - dz: kann für [dz] (te rendzè, frz. tu rendais) stehen und für [d Ʒ ] (dzoyé,frz. jouer). - ll: [ ʎ ] wie in ital. gli. - ch: [ ʃ ] officho, frz. office. - q: Es wird für [k] verwendet, wenn das französische Wort mit cai-, co-, cou-, cu-, cuibeginnt: qésse, frz. caisse. Hier ist das q nötig, da c vor e im Frankoprovenzalischen als [s] ausgesprochen wird. - qu: [k], wenn das französische Wort ebenfalls mit qu beginnt: quan, frz. quand. Das d entfällt in der Graphie, da es nicht ausgesprochen wird. Dasselbe Phänomen findet sich bei Cerlogne. - s: [s] stimmlos nach Konsonant (sensa, frz. sens); [z] stimmhaft intervokalisch (case, frz. presque). - c: Es taucht auf, wenn das französische Wort mit ca- und mit caibeginnt. Hier ist q nicht nötig, da c vor a im Frankoprovenzalischen immer als [k] ausgesprochen wird. Alle französischen Wörter mit cabeginnen im Frankoprovenzalischen ebenfalls mit ca-. - in: Es wird wie frz. un realisiert und nicht wie die eigentliche lautliche Realisierung der Grapheme in. Diese Schreibung wurde aus etymologischen Gründen beibehalten. - en: wird nicht als französisches [-] realisiert, sondern als [ ɛ͂ ], was der Graphemkonstellation in im Französischen entspricht. Auch hier wurde die Schreibung aus etymologischen Gründen beibehalten. 4.1.3. Ernest Schüle: Comment écrire le patois? Principes et conseils pratiques (1980/ 1992) In neuerer Zeit war es der Schweizer Linguist Ernest Schüle, der in seinem Beitrag Comment écrire le patois? Principes et conseils pratiques (1980/ 1992) wichtige Richtlinien zur Schreibweise der patois valdôtains gab. Diese Schreibweise sieht von der Verwendung der API ab und schlägt die Umsetzung mittels signes orthographiques des Französischen vor, da der patois eine leicht zu lesende und leicht zu schreibende Graphie benötige: Les patois valdôtains appartiennent à la famille des parlers galloromans. Comme les autres patois francoprovençaux, ils ont bon nombre de structures en commun avec le français (les voyelles nasales, par exemple). Dès lors, nous recommandons d’utiliser le code de l’orthographe française pour transcrire des textes en patois valdôtain. […] Il est évident que l’orthographe française ne permet pas toujours de rendre les nuances subtiles des sons patois. <?page no="221"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 207 Nous recommandons d’en retenir l’essentiel et de renoncer à des détails d’importance mineure. 17 Das Prinzip ist, von einer etymologischen Orthographie abzusehen und stattdessen so einfach wie nur möglich zu schreiben: Es soll folglich nur das geschrieben werden, was auch definitiv ausgesprochen wird. Es wird demzufolge frét/ frèit frz. froid geschrieben, wenn das t gesprochen wird, fré/ frèi, wenn es nicht gesprochen wird. 18 Dieses entwickelte System dient dazu, jeden patois lesen und auch schreiben zu können, da besondere Graphemkonstellationen hinzugefügt wurden, die das Französische nicht besitzt, z.B. tch und dj. Die gesprochene Sprache kann mittels der Graphie wiedergegeben werden. Bei dieser Graphie handelt es sich folglich um eine phonetische Graphie. Diese Richtlinien wurden vom B.R.E.L. umgesetzt und ergaben jene Graphie, die im nächsten Kapitel vorgestellt wird. 4.1.4. Die Graphie nach dem Centre d’Etudes Francoprovençales René Willien in Kollaboration mit dem B.R.E.L. (Bureau Régional pour l’Ethnologie et la Linguistique) Im Jahre 1976 stellte Joseph Henriet in seinem Werk La lingua arpitana sein Graphiesystem bezüglich des Frankoprovenzalischen, der langue arpitane, vor. Auch er betrachtete die Schaffung einer koïné als notwendig, um die Varietäten des Frankoprovenzalischen vital zu halten und um eine gemeinsame Verständigungssprache für den domaine francoprovençal zu kreieren. Da seine Graphie jedoch zu künstlich, zu unflexibel und in der Umsetzung zu schwierig war, entwickelte der Centre d’Etudes Francoprovençales René Willien in Zusammenarbeit mit dem B.R.E.L. auf Basis der Vorschläge Schüles eine weitere Graphie. 19 La "philosophie" de ce système consiste à simplifier, dans les limites du possible, la lecture et l’écriture sans pour autant renoncer à représenter toutes les nuances de la myriade des variétés du patois parlé [sic] en Vallée d’Aoste. Il utilise les automatismes de la langue française et quelques graphèmes particuliers pour n’écrire que ce qu’on prononce ; tous les symboles employés sont présents sur un clavier normal d’ordinateur. […] le système B.R.E.L. permet en revanche de rendre dans l’écrit la langue parlée, consentant ainsi 17 Schüle (1980/ 1992, 7 f.). 18 Cf. Schüle (1980/ 1992, 8). 19 Cf. http: / / espritvaldotain.org/ sito/ pag/ notrepays/ patois3.htm <?page no="222"?> Heike Jauch 208 d’utiliser son propre patois tout en pouvant lire correctement celui des autres. 20 Die Neuheiten in Bezug auf Chenal/ Vautherin: - tch: Es steht für [tʃ]. - ts: Es steht für [ts]. - dj: Es steht für [dj]. - dz: Es steht für [dz]. - c: Es steht für [k] vor a, o, u, ou. - qu: Es steht für [k] vor i, e, eu. - s/ ss: Sie stehen für stimmloses [s]. - z: Es steht für stimmhaftes [z]. - â: Es steht für ein langes [a: ]. - in und en bleiben mit derselben lautlichen Realisierung wie bei Cerlogne und Chenal/ Vautherin erhalten. Die Betonung wird in der hier dargestellten Graphie mittels eines accent grave wiedergegeben. Die nachfolgenden Abbildungen stellen die Graphieregeln und die Neuerungen nach dem B.R.E.L. und dem Assessorat de l'Education et de la Culture dar: 20 Cf. http: / / espritvaldotain.org/ sito/ pag/ notrepays/ patois3.htm <?page no="223"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 209 Abb. 3: Die Konsonanten nach dem B.R.E.L. und dem Assessorat de l'Education et de la Culture [www.patoisvda.org] <?page no="224"?> Heike Jauch 210 Abb. 4: Die Konsonanten und Halbkonsonanten nach dem B.R.E.L. und dem Assessorat de l'Education et de la Culture [www.patoisvda.org] <?page no="225"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 211 Abb. 5: Die Vokale nach dem B.R.E.L. und dem Assessorat de l'Education et de la Culture [www.patoisvda.org] <?page no="226"?> Heike Jauch 212 4.2. Frankreich: La graphie de Conflans Abb. 6: Titelblatt der Graphie de Conflans [projetbabel.org] Im Jahr 1983 wurde im Centre de la Culture Savoyarde unter der Regie von Gaston Tuaillon die Graphie de Conflans entwickelt. <?page no="227"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 213 Diese ebenfalls vereinfachte phonetische Graphie soll dazu dienen, alle spezifischen Laute der einzelnen patois in der Schrift wiedergeben zu können; sie soll zu einer homogenen Schreibweise führen und dem Leser den Zugang zu allen existierenden patois ermöglichen. 21 Ihre Richtlinien besagen, dass nur das geschrieben werden soll, was auch wirklich ausgesprochen wird, sprich, es ist keine etymologische Schreibung zu verwenden. Die graphischen Konventionen des Französischen dienen der Graphie de Conflans als Grundlage. Diese Graphie ermöglicht es dem Leser, den dargestellten/ transkribierten patois sofort zu identifizieren und ihn der jeweiligen Herkunftsregion zuzuordnen. Die Unterschiede in Bezug auf die Graphie des B.R.E.L. sind folgende: - Die Betonung wird mittels eines Unterstriches dargestellt. - Der accent circonflexe deutet hier nicht die Länge des Vokals an, sondern einen velaren Vokal. - Das Graphem k wird für den Laut [k] benutzt. - Es findet sich niemals das Graphem c für den Laut [s]. - sh: Steht für das englische [θ] in think: shantâ, frz. chanter. - zh: Steht für das englische [ð] in this: zhanbèta, frz. jambon. Die nachstehende Graphik zeigt einen Auszug aus der Graphie de Conflans: 21 Cf. Groupe de Conflans (1983, 2). <?page no="228"?> Heike Jauch 214 Abb. 7: Auszug aus der Graphie de Conflans [projetbabel.org] <?page no="229"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 215 4.3. Das Wallis: Graphie commune pour les patois valaisans Die Fondation du patois hat im Jahr 2009 unter der Leitung von Raphaël Maître und Gisèle Pannatier die Graphie commune herausgebracht. Diese Graphie ermöglicht es, alle patois des Wallis zu schreiben und zu lesen. Auch ihr liegt das Graphiesystem des Französischen zugrunde. Nachfolgend sollen ein paar Neuerungen und Gemeinsamkeiten in Bezug auf die vorangehenden Graphien genannt werden - wie es auch in den folgenden Grafiken zu sehen sein wird. - th: Es steht für den Laut [θ] wie in think. - dh: Es steht für den Laut [ð] wie in this. - ç: Es steht für den Laut [ç]. - x: Es steht für den Laut [x]. - â: Es steht für den Laut [a: ]. - ë: Es steht für das e muet. Graphie commune pour les patois - Consonnes Consonnes simples Description Notation Exemples / t/ final après voyelle -tt (Saint-Jean) fouètt, fouet (Bagnes) pœutt-ître, peut-être / k/ comme dans le français quatre k (Bagnes) kèrí, (aller) chercher (Granges) krètre, croître / g/ comme français gué ; aussi devant e, i et y g (Vernamiège) gèrra, guerre (Miège) fìgîr, figuier / s/ entre voyelles -ss- (Vionnaz) koûsse, cuisse / s/ final après voyelle -ss (Saint-Léonard) dríss, droit / z/ comme en français zèle ; aussi entre voyelles z (Montana) zoùzo, juge (Port-Valais) roúza, (la) rose / θ/ (interdentale sourde), comme dans l'anglais thing th (Morgins) làthe, glace (Bourg-Saint-Pierre) thôr, fleur (Saint-Martin) fenîthra, fenêtre / ð/ (interdentale sonore), comme dans l'anglais the dh (Vouvry) fëdhe, fille (Val-d'Illiez) fâbdha, fable / ʒ / (chuintante sonore), j (Hérémence) brâja, braise <?page no="230"?> Heike Jauch 216 comme dans le français jeu ; aussi devant e, i et y (Vens) fajó, haricot (Daillon) jènèpí, génépi / ç/ (palatale sourde), comme dans l'allemand ich ç (Vérossaz) làçe', glace / χ/ (gutturale sourde), comme dans l'allemand Buch h (Venthône) hortsyè, écorcher (Chalais) èhràcho, déchirure / h/ (aspiration), comme dans l'allemand haben hh (Chermignon) rîhha, filasse de chanvre (Montana) hhâtt, haut / ɬ / (latérale sourde: l dévoisé avec fort bruit de friction) çhl (Ardon) çhlànma, flamme (Bagnes) dàçhle, glace / ɫ / (latérale vélarisée), comme dans l'anglais well lh (Grimentz) konchèlh, conseil (Chippis) pàlhe, paille (Saint-Luc) lhapèk, éboulis (Chandolin) blha, blé r dental à un battement de langue / ɾ / , comme dans l'italien mare r (Vercorin) fîbra, fièvre (Les Haudères) fêre, faire (Arbaz) fòr, four r dental à plusieurs battements / r/ , entre voyelles (italien terra) -rr- (Grône) tèrra, terre r uvulaire / ʁ / comme en français, entre voyelles -rr- (Vissoie) Chîrro, Sierre (Chandonne) ènrradjyà, enragé / n/ final -nn (Veyras) fann, ils font / n/ entre voyelle et consonne -nn- (Randogne) fènnda, fente (Montana) bónntà, bonté <?page no="231"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 217 Consonnes affriquées Les consonnes affriquées se notent par la juxtaposition des consonnes qui les forment. Ainsi : Description Notation Exemples t s ts (Charrat) tsan, champ d z dz (Vernayaz) gràndze, grange t ch tch (Orsières) tcherí, chercher d j dj (Orsières) dja, déjà Abb.8 : Die Konsonanten und Affrikaten nach der Graphie commune pour les patois valaisans [www.wikivalais.ch] Graphie commune pour les patois - Voyelles Voyelles orales accentuées (ou précédant l'accent) Si elle porte l'accent du mot, une voyelle fermée est notée par l’accent aigu ; une voyelle ouverte, par l’accent grave, à l'exception de / œ/ qui se note œ. Dans la mesure du possible, une voyelle longue porte l’accent circonflexe ; alternativement, la voyelle est redoublée ; œ long se note eù. Une voyelle centrale (dite "sourde") porte le tréma ; c'est le cas du "u des Bagnards", ainsi que du son correspondant à celui de e dans le français brebis, parfois dit "e muet" (qui en patois peut porter l'accent du mot). Quand il est accentué, a bref est surmonté d'un accent grave. <?page no="232"?> Heike Jauch 218 Ces signes diacritiques sont optionnels dans les syllabes précédant l'accent du mot, ainsi que dans les mots d'une seule syllabe. Ainsi : Description Notation Exemples / a/ comme dans le français patte à (Les Agettes) fàdha, brebis / ɑ : / (long) comme dans le français pâte â (Bagnes) fâva, fève / e/ comme dans le français thé é (La Bâtiaz) tsâté, château (Chippis) féss, (le) fils / e: / (long) comme dans le français année ou l'allemand Schnee éé (Bovernier) tsééna, chaîne / ɛ / comme dans le français fillette è (Premploz) fanè, fenouil (Finhaut) filyèta, fillette / ɛ : / comme dans le français air, fête ê (Bagnes) ê, air / ə / comme dans le français brebis (parfois dit "e muet") ë (Ayent) chënndre, cendres (Martigny-Bourg) Rëva, Revaz (nom de famille) (Mex) komouëna, commune / i/ comme dans le français pris í (Ayent) aína, avoine / i: / comme dans le français bise î (Nax) galyoupî, rhododendron (Lens) fîre, foire / ɪ / (i relâché) ì (Les Agettes) bìss, bisse / ɪ : / (long) ìì (Lens) fììre, faire / o/ comme dans le français numéro ó (Massongex) thartó, cellier (Mase) farók, crâneur / o: / (long) comme dans le français pôle ô (Martigny-Ville) klô, clé (Finhaut) gôtse, gauche / ɔ / comme dans le français botte ò (Leytron) fargò, fagot (Collonges) bòta, soulier / ɔ : / comme dans le français bord òò (Hérémence) Zòòrzo, Georges / ø/ comme dans le français bleu eú (Dorénaz) fleú, fleur <?page no="233"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 219 / ø: / (long) comme dans le français jeûne eû (Le Broccard) feûra, dehors / œ/ comme dans le français œil œ (Le Châtelard) prœ, assez / œ: / comme dans le français heure eù (Champéry) fœrmyeù, biseau / u/ comme dans le français loup oú (Arbaz) boú, bois / u: / comme dans le français lourd oû (Salins) Roûda, Rudaz (nom de famille) / ʊ / (ou relâché) où (Hérémence) fortoùna, fortune / y/ comme dans le français lu ú (Liddes) fodú, feuillu / y: / comme dans le français mûr û (Sembrancher) mû, mûr / ʏ / (u relâché) ù (Trient) lùna, lune (Évolène) rébùna, carotte (Lens) koùrtù, jardin / ʉ / (intermédiaire entre u et ou) ü (Nendaz) dzüdzo, juge (Veysonnaz) dezü, jeudi Abb. 9: Die Vokale nach der Graphie commune pour les patois valaisans [www.wikivalais.ch] 5. L’orthographe de référence B (ORB): l’orthographe supradialectale (2003) Zunächst muss die Frage gestellt werden, was überhaupt unter der supradialektalen Graphie zu verstehen ist und aus welchem Kontext heraus sie entstanden ist. Für jede Minderheitensprache/ kleinere Sprache existiert eine supradialektale Orthographie. Für das Frankoprovenzalische gibt es lediglich die oben präsentierten phonetischen Graphien sowie viele einzelne Grammatiken für jeden patois. Jedoch fehlt dem Frankoprovenzalischen eine übergeordnete Norm, ein Standard. Die Literatur ist mittlerweile zahlreich, aber es findet sich oft eine französische Übersetzung neben dem frankoprovenzalischen Ausgangstext, sodass man nicht von einer eigenständigen Literatur sprechen kann. <?page no="234"?> Heike Jauch 220 Um das Frankoprovenzalische dem Status eines patois zu entheben und es mit den großen Dachsprachen gleichwertig zu machen, benötigt es eine einheitliche Graphie für alle Sprecher, jedoch soll die Aussprache davon unberührt bleiben. Jeder patois hat seit dem Lateinischen seinen eigenen phonetischen Wandel vollzogen, sodass man nun eine gemeinsame Form finden muss, die sich bereits vom lateinischen Etymon unterscheidet, aber noch nicht in die unterschiedlichen patois „zerbröckelt“ ist. 22 Die ORB stellt keine exakte phonetische Beschreibung aller existierenden patois dar, mit all ihren Besonderheiten, sie ist an keine Varietät des Frankoprovenzalischen angelehnt. Die ORB ist eine représentation référentielle: Sie stellt vor allem die Etymologie dar. 23 Sie soll als Bindeglied zwischen den zahlreichen Varietäten fungieren, ohne ihre Vielzahl zu berühren: Man vereinbart somit die unité de la langue mit der pluralité de ses dialectes 24 . Man muss bei der Schaffung einer supradialektalen Orthographie einen gesunden Mittelweg finden, sodass alle typischen Charakteristika, die sich in der Mehrheit der patois wiederfinden, vorhanden sind. Ziel war es, eine romanische Orthographie zu schaffen, die sich zwischen dem Französischen und dem Okzitanischen ansiedeln lässt. 25 Das Frankoprovenzalische ähnelt stark dem Französischen in Bezug auf das phonetische System und die Silbenstruktur - dasselbe betrifft die Morphologie, also die grammatischen Formen. Deshalb stellt die ORB keine Imitation des Französischen oder des Okzitanischen dar, sondern repräsentiert ein eigenes System, das nicht anders wiedergegeben werden kann: 26 Französisch: La chèvre semblait manger de la paille claire et des épines dans notre champ jaune. ORB: La chiévra semblâve megiér de palye cllâra et des èpenes dens noutron champ jôno. In seinem Werk Parlons francoprovençal. Une langue méconnue (1998) präsentiert Dominique Stich die erste Version einer supradialektalen Graphie: Orthographe de Référence A (ORA). Der Gedanke, der hinter dieser einheitlichen Graphie steckt, ist der, „de donner une forme unique à des mots qui ont la même étymologie mais des réalisations phonétiques différentes.“ (Aliance Culturèla Arpitanna) 22 Cf. Stich (2003, 412). 23 Cf. Stich (2003, 414 f.). 24 Cf. Stich (2003, 414 f.). 25 Cf. Stich (2003, 415). 26 Cf. Stich (2003, 415). <?page no="235"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 221 Die supradialektale Graphie ermöglicht es, eine Literatur in Frankoprovenzalisch zu verfassen, die überregional, d.h. im gesamten Sprachgebiet gelesen und verstanden werden kann. Mit dem Dictionnaire Francoprovençal/ Français, Français/ Francoprovençal (2003) hat Dominique Stich die überarbeitete und somit perfektionierte Version der supradialektalen Graphie ORA herausgebracht: die Orthographe de Référence B (ORB). Hierzu muss gesagt werden, dass es sich bei der ORB in keinster Weise um eine prononciation supradialectale handelt, die die phonetischen Realisierungen eines jeweiligen Wortes standardisieren soll: Die phonetischen Varianten eines jeden Sprechers sollen und müssen beibehalten werden. Ein großer Kritiker der orthographe supradialectale ist der französische Linguist und Dialektologe Gaston Tuaillon. Er vermutet, dass durch die ORB die lokalen Autoren schlussendlich vollständig auf das Verfassen von Texten verzichten werden, wenn sie nicht mehr so schreiben können, wie sie sprechen: Les patoisant qui rédigent des textes dans leur propre langue de ville n’écriront plus du tout, s’ils ne lisent pas sous leur propre plume les mots qu’ils prononcent, dans la forme même qu’ils utilisent quand ils parlent. […] On pourra trouver sous des plumes de Savoyards cinq ou six façons d’écrire le mot lait. […] Aucun d’eux n’acceptera que sa plume écrive un autre mot que celui que sa bouche prononce quand il parle. […] Chacun se dit en luimême, « si j’écris en patois, je veux que ce soit le patois de chez moi » et toutes les forces supradialectales du monde ne pourront rien contre cette détermination, bien compréhensible d’ailleurs. 27 Zur Veranschaulichung sei ein Beispiel genannt: Laut der ORB muss lacél für frz. lait geschrieben werden. Nun gibt es aber patois, in denen zu frz. lait lafé, laèl, lé oder la gesagt wird. Für die beiden letzten Fälle gibt das Wörterbuch die Option lat an - mit etymologischem -t. Jedoch wird kein patoisant je etwas anderes schreiben als das, was er wirklich sprachlich realisiert. Wieso sollte auch etwas geschrieben werden, das völlig von dem abweicht, was ausgesprochen wird? Die ORB stellt folgende Graphem-Laut-Entsprechungen vor: - <ch> für [ts], [θ], [st], [s], [h], [f], [t ʃ ], [ ʃ ]. - <ç> für [s], [çl], [θ], [f], [ ʃ ]. - <cll> für [k ʎ ], [kj], [c], [çl], [ç ʎ ], [ç], [tl], [θ], [ ʎ ], [ ʃ ]. - <ê> für [ ɛ : ], [ ɛ j], [aj], [a]. - <s> wieder für stimmlose und stimmhafte Variante. 27 Tuaillon (2004, 7 f.). <?page no="236"?> Heike Jauch 222 An dieser Stelle lässt sich die ORB bestens mit den Worten Tuaillons beschreiben: Pourquoi faire simple, puisqu’on peut faire compliqué ? 28 Des Weiteren ist auch nicht genau ersichtlich, wie Stich auf diese Wörter kommt und woher er sie bezieht. Wenn man sich die ORB genau betrachtet, könnte man auch dazu übergehen, das Französische in Zukunft als koïné des Frankoprovenzalischen anzusehen und es auch als offizielle Orthographie zu verwenden - so wie es im 16. Jahrhundert bereits der Fall war. 29 Auch wenn Stich es nicht explizit äußert, präsentiert er nicht ein neues Graphiesystem, sondern eine wahrhaftige koïné. Ist eine koïné tatsächlich noch von Nöten für eine Sprache, die fast nicht mehr existiert? Man sollte eher mehr an der Bewahrung und der Verschriftlichung der einzelnen Varietäten arbeiten. 30 Und wenn es schon um das Kreieren einer koïné geht, dann sollte es eine sein, mit der sich jeder Sprecher identifizieren kann. Da das Frankoprovenzalische niemals den Status einer offiziellen bzw. Nationalsprache erreichen wird, braucht es im Endeffekt auch keine koïné. Des Weiteren können nur die wenigsten patoisants überhaupt ihren jeweiligen patois schreiben oder auch lesen, da er seit jeher lediglich eine gesprochene Sprache war. Wenn schon die phonetischen Graphien für den jeweiligen Sprecher/ Schreiber zu schwer sind, wo soll es dann bloß mit der ORB enden? 6. Schlussbetrachtung Das Frankoprovenzalische als eine Sprache, die lediglich in ihren Dialekten besteht, wurde lange Zeit ausschließlich mündlich gebraucht. Erst seit dem 19. Jahrhundert bestehen die Tendenzen, den jeweiligen patois des Frankoprovenzalischen zu verschriftlichen. Sowohl in Frankreich als auch in Italien und in der Schweiz wurden unterschiedliche phonetische Graphien entwickelt, um so gut wie möglich einem jeden patois bezüglich seiner Phonetik gerecht zu werden. Das Prinzip lautet: Es wird nur das geschrieben, was auch wirklich ausgesprochen wird. Die phonetischen Graphien sind vor allem in der Hinsicht nützlich und gut gelungen, als dass jeder patoisant nun die Möglichkeit erhält, einen ihm unbekannten patois lesen zu können. Mit der orthographe de référence A und mit der darauf folgenden und weiterentwickelten orthographe de référence B wurde der Versuch unternommen, 28 Tuaillon (2004, 10). 29 Cf. Bétemps (2004, 20). 30 Cf. Bétemps (2004, 21). <?page no="237"?> Zur Normierung und Kodifizierung des Frankoprovenzalischen 223 eine einheitliche und übergeordnete Orthographie für das Frankoprovenzalische zu kreieren. Bei genauerer Betrachtung der ORB lässt sich feststellen, dass es sich im Grunde genommen um eine koïné handelt, auch wenn der Autor dies bestreitet bzw. nicht explizit äußert. Braucht eine Sprache, die sich à l’état dialectal parfait befindet, überhaupt eine koïné? Das Frankoprovenzalische hat es - vor allem im Aostatal - bis zum heutigen Tage geschafft, auch ohne einen übergeordneten Standard zu überleben und sich (mehr oder weniger) vital zu halten. Anstatt einen artifiziellen Standard zu schaffen und den patoisants diesen „aufzuzwingen“, sollte vielmehr dahingehend gearbeitet werden, dass die Vielzahl der patois des Frankoprovenzalischen erhalten bleibt und dass der jeweilige patois einer Gemeinde von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dies ist u.a. mit Hilfe der phonetischen Graphien möglich, da sie jedem den Zugang zu dem eigenen und auch zu einem anderen patois ermöglichen. Denn diese Vielzahl ist es, die das Frankoprovenzalische auszeichnet und ihm einen ganz besonderen Stellenwert unter den Minderheitensprachen zukommen lässt. Bibliographie Alliod, Pierre-Joseph: Grammaire du patois d‘Ayas. Aoste: DUC 1998. Ascoli, Graziadio Isaia: „Schizzi franco-provenzali”. In: Archivio glottologico italiano 3, 1878, 61-120. 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Introduction Le picard est une langue romane dont l’identification extrême remonte au IXème siècle. A cette époque, les attestations ne sont que des textes en latin vulgaire où l’on identifie des formes qui deviendront picardes. Cette langue a une partie de son vocabulaire et de sa grammaire qui ont des caractéristiques germaniques, par exemple la position des mots dans la phrase. Le picard est une des langues d’oïl, langues romanes du nord de la France et du sud de la Belgique. Le picard est reconnu depuis une vingtaine d’années dans la qualité de langue de France. Depuis la Révolution française, il a été la plupart du temps appelé « patois », comme tous les parlers régionaux français, du gascon à l’alsacien, au corse et au breton. Jusqu’à l’institution de l’instruction publique obligatoire, la seule langue de communication des régions était leur patois. Dès l’école publique obligatoire, les Français deviennent plus ou moins bilingues, mais le français n’est que la langue de l’école et des administrations. Les patois étaient interdits à l’école. Pour les hommes, le service militaire est une longue période d’apprentissage de l’expression française, même si les jeunes gens sont en général affectés dans des régiments de leur région. La première guerre mondiale a certainement ajouté des coups aux patois. Au début de la guerre, les soldats étaient encore dans des régiments régionaux et continuaient à s’exprimer dans leur langue régionale ; mais les nombreux morts ont amené la constitution de régiments mêlant des Français de régions diverses. La langue commune de tous ces soldats était le français. C’est de cette époque que date le mot « chtimi », terme de moquerie à l’égard des soldats originaires du nord de la France. L’identité des Picards n’a été traditionnellement revendiquée que par les habitants de l’actuel département de la Somme, du Vermandois, et du Boulonnais. Les autres habitants étaient artésiens, hennuyers, thiérachiens, arrageois, etc. essentiellement de langue picarde sans qu’ils se revendiquent eux-mêmes picards. C’est à la fin du 20 ème siècle que les mouvements picardisants ont fait prendre conscience aux habitants de la Picardie administrative et du Nord-Pasde-Calais qu’ils parlaient des variantes de picard. <?page no="242"?> Jean-Marie Braillon 228 En ce qui concerne les Picards de Belgique, l’évolution a été différente. Non pas que l’école ait enseigné leur langue, mais il n’y a pas eu cette volonté de détruire les parlers locaux, même si le français a été jusqu’au début de la deuxième moitié du 20 ème siècle la seule langue du pays. Depuis le néerlandais officiel est devenu langue de la Flandre, ce qui n’empêche pas les variantes flamandes de s’y maintenir, quant à la région Wallonie, l’ouest parle le picard et l’est le wallon. Le picard s’est mieux maintenu dans cette région qu’en Picardie administrative, surtout dans les régions sud, influencées depuis longtemps par le français. 2. L’usage écrit du picard Pendant toute cette histoire, il a existé une littérature que l’on nommera « picarde » à la fin du 20 ème siècle, et qualifiée de patoisante auparavant. Notre propos n’est pas de parler des textes picards médiévaux, considérés comme de l’« ancien français » dans le cursus scolaire et universitaire français. Néanmoins, ils sont nombreux, riches et utiles à la connaissance du picard. Au 15 ème siècle apparaissent les textes qui se veulent picards ou patoisants. Ce que Louis-Ferdinand Flutre appelle « moyen picard 1 » qu’on peut certainement considérer comme du picard moderne, a été prolifique en textes de toutes factures. Comme le dit Flutre, ces textes sont en réalité des textes franco-picards, plus ou moins riches en vocabulaire picard. Ils nous donnent cependant une très bonne indication de l’état de la langue picarde à ces périodes, notamment lorsqu’il s’agit de dialogues. Ces textes étaient imprimés, le plus souvent de façon clandestine, car il s’agissait pour certains d’écrits satiriques. « On y sent le frémissement de l’action, le jeu des désirs et des passions, le heurt des intérêts et des tempéraments, les inflexions de la tendresse ou de la colère » 2 . Voici un extrait de la Suite du mariage de Jennain (graphie Flutre) … Quan je fu dedans no courti A coellir dé chou je me mi, Pour foaire le poerée Pour hémé men poarin Phlipo Qui avoi le têtée… 1 Flutre, Louis-Ferdinand : Le moyen picard d’après les textes littéraires du temps (1560-1660) , Amiens, 1970. 2 Flutre, ibidem . <?page no="243"?> Usage écrit et standardisation du picard 229 Traduction: …Quand je suis allée dans notre/ mon jardin je me mis à cueillir des choux pour faire une étuvée afin que mon parrain Philippot l’avale, lui qui avait la migraine… Au 18 ème siècle, le nombre des textes publiés augmente et s’ajoutent aux œuvres poétiques, dramatiques, satiriques, les chansons dont les textes étaient imprimés et vendus. C’est aussi au 18 ème siècle que paraît le premier dictionnaire picard-français 3 . L’époque révolutionnaire connaîtra entre autres les pamphlets de Lili (Louis) Gausseux, un quasi homonyme prendra sa relève au 19 ème siècle, qui est celui du grand âge de l’écriture picarde. Les dictionnaires se succèdent, Delmotte 4 , Hécart 5 , Corblet 6 , Sigard 7 , Jouancoux 8 , Vermesse 9 , Edmont 10 , Legrand 11 , Ledieu 12 , etc. Ils concernent les différentes régions picardophones. Les publications de toutes sortes fleurissent, la poétesse francophone Marceline Desbordes-Valmore 13 a écrit quelques textes en picard, dont voici un extrait de Dialogue (vers 1838), extrait de La Forêt invisible, Anthologie de littérature picarde : …Chl’infant vient : vite ! in s’ met in leitte Tout sitôt un li donne el tette Un l’ fait bager à sin mon père Tchit ! Tchit ! une tiote rise à s’ mémre ; Et, chin qu’tout cha vous importeune, Un treuve à dire chent cosses pour eunne… 3 Daire, Père Louis-François : Dictionnaire picard, gaulois et françois , mis en ordre d’après le manuscrit par Alcius Ledieu, et édité en 1911, Paris. 4 Delmotte, Philibert : Essai d’un glossaire wallon (NB le mot wallon désignait indistinctement le wallon et le picard de Belgique), Mons 1812. 5 Hécart, Gabriel : Dictionnaire rouchi-français , quatre éditions dont deux posthumes, Valenciennes 1834. 6 Corblet, Abbé Jean-Baptiste : Dictionnaire étymologique et comparatif du patois picard ancien et moderne , Amiens 1851. 7 Sigard, J. : Glossaire étymologique montois et Dictionnaire du Wallon de Mons et de la plus grande partie du Hainaut , Bruxelles 1870. 8 Jouancoux, J.-B. : Études pour servir à un glossaire étymologique du patois picard , 2 vol., Amiens, 1880-1890. 9 Vermesse, Louis : Dictionnaire du Patois de la Flandre française ou wallonne , Douai 1867. 10 Edmont, Edmond : Lexique saint-polois , Saint-Pol-sur-Ternoise - Mâcon 1897. 11 Legrand, Pierre : Dictionnaire du patois de Lille , Lille 1856. 12 Ledieu, Alcius : Petit glossaire du patois picard de Démuin , Paris 1893. 13 Desbordes-Valmore, Marceline : Dialogue (vers 1838), La Forêt invisible, Anthologie de littérature picarde (partie réalisée par Pierre Ivart), Amiens 1985. <?page no="244"?> Jean-Marie Braillon 230 Traduction: …L’enfant arrive : vite ! il se place dans l’âtre Bien vite on lui donne le sein On le fait embrasser par son père Guili-guili ! un petit sourire à sa grand-mère Et, sans que tout cela vous gêne, On trouve à se dire cent choses pour une… Les almanachs fleurissent comme celui de Mons en Belgique (qui existe encore en 2012), des hebdomadaires plus ou moins satiriques, entièrement écrits en picard, ont un grand succès telle La Vaclette à Lille, suivie plus tard de l’Nouvielle Vaclette . Aux 20 ème et 21 ème siècles, la publication de livres écrits en picard a continué, beaucoup de recueils de poésie, de toutes factures, des livres de contes, des nouvelles et même des romans, ainsi que des éditoriaux en picard dans des journaux de langue française. Pendant ce temps, un recensement de la langue orale est effectué partout dans la région picardophone. De nombreux dictionnaires, comme celui de Haigneré 14 pour la région de Boulogne-sur- Mer et glossaires sont édités, René Debrie 15 a étudié tout le département de 14 Haigneré, Daniel : Le patois boulonnais comparé avec les patois du nord de la France , 2 vol., Boulogne-sur-Mer 1903. 15 Debrie, René : 1- Lexique picard des parlers ouest-amiénois, Amiens 1975. 2- Lexique picard des parlers du Vermandois, Amiens 1987. 3- Glossaire du Moyen picard , Amiens 1984. 4- Lexique picard des Parlers du Ponthieu, Amiens 1985. 6- Le secret des mots picards (recherches étymologiques), Amiens 1989 . 7- Lexique picard des parlers du Santerre, Amiens 1986. 8- Lexique picard des parlers est-amiénois, Amiens 1983. 9- Recherches sur les noms d’oiseaux dans les parlers de la région, Amiens. 10- Recherches sur les noms de plantes dans les parlers de la région d’Amiens, Amiens 1964. 11- Recherches sur les noms d’insectes dans les parlers de la région d’Amiens, Amiens. 12- Lexique français-picard, élaboré à partir des parlers de l’Amiénois, Amiens 1989. 13- Lexique picard de l’hortillon, Amiens 1968. 14- Contribution à l’étude des jeux picards traditionnels , en collaboration avec René Gaudefroy et Paul Louvet, Amiens. 15- Moeurs épulaires picardes , en collaboration avec Jeannine Debrie, Amiens. 16- Lexique picard des parlers sud-amiénois, Amiens 1979. 17- Lexique picard des parlers nord-amiénois, Arras 1961. 18- Supplément au Lexique picard des parlers nord-amiénois, Abbeville 1965. 19- Lexiques picards du cidrier et du meunier, Amiens 1967. 20- Lexique picard des parlers du Vimeu, Amiens 1981. 21- Lexique picard du Pêcheur à pied d’Auguste Charlemagne, Saint-Valéry-sur-Somme 1966 . 22- Lexique du Berger, Abbeville 1977. 23- Terminologie picarde du tissage domestique Amiens 1975. 24- Lexique picard du poissonnier , essentiellement réalisé avec Roger Verdy, Amiens 1973. 25- Onomasiologie : Les noms qui désignent l’espace entre deux maisons dans les parlers de la Somme , Amiens 1974. 26- Supplément au lexique picard du poissonnier , Amiens 1974. 27- Terminologie picarde se rapportant au tourbage, Amiens 1978. 28- Lexique picard du planteur de tabac , avec Jean Druelle, Boisle , Amiens 1972. 29- Terminologie picarde se rapportant à un ancien jeu consistant à porter quelqu’un sur deux mains croisées, Amiens 1980. 30- Lexique picard du <?page no="245"?> Usage écrit et standardisation du picard 231 la Somme, Gaston Vasseur 16 a publié un dictionnaire des parlers du Vimeu ; Guy Dubois s’est attaché au picard du Pas-de-Calais 17 ; les zones de contact de l’est de l’Aisne et le sud de l’Oise ont été étudiées dans une quarantaine de glossaires, lexiques et dictionnaires par Jean-Marie Braillon. Concernant la créativité littéraire et poétique, il faut citer en premier Pierre Garnier et Pierre Ivart (sous le pseudonyme Ivar ch’Vavar). Ils ont créé en langue picarde une expression moderne de la poésie. Les formes modernes poétiques sont associées, surtout pour ch’Vavar avec une liberté sémantique jusque là inconnue. Il n’hésite pas à prendre les mots picards hors de son vocabulaire berckois d’origine, à modeler des mots sur des bases picardes. Il aide à ce que se crée la langue picarde du 21 ème siècle, riche et pétillante. Ses formes poétiques sont originales. (sans titre) Ch’tenp y’ét si bleuw qu’i nn’àrtchule ch’monne i së nn’alardjit-ti ? fœroét qu’ej wèche, mi, à-rvér tchi à ‘b bassèye, pi qu’jë m’voèche gayant à grann’z éganbèyes. Chés fàrn: ètes i vièntë noértes chés vilaches i lù déleunm’t’ n-ëm’ vlaù in rake din ch’lét-print j’a.oui ch’wérouy’mint d’edmàny. (…) Traduction: Le ciel est si bleu qu’il recule le monde s’en trouve-t-il élargi ? il faudrait que j’aille à reculons jusqu’à l’horizon, et me voie géant, à grandes enjambées. Les fenêtres deviennent noires les villages éteignent leurs lumières bourrelier , Amiens 1979. 31- Petit lexique du parler de Beauquesne (Somme) , Grandvilliers (Oise) 1966. 32- Complément au Lexique des parlers du Vimeu , Amiens 1987 . 33- Lexique picard du maréchal-ferrant , Amiens 1987 . 34- Essai d’orthographe picarde , Amiens 1966. 35- Lexique picard de trois anciens métiers du Doullennais : boutonnier, cerclier, cloutier , Doullens 1967. 16 Vasseur, Gaston : Dictionnaire des parlers picards du Vimeu (Somme), édition augmentée, Fontenay-sous-Bois 1998. 17 Dubois, Guy : 2000 mots du patois de chez nous , Lillers 1981. <?page no="246"?> Jean-Marie Braillon 232 me voilà embourbé dans le lait caillé j’entends le remuement de demain. (…) Il a, de plus, fondé une revue culturelle, l’Invention de la Picardie, où se mêlaient des essais littéraires, à des analyses d’œuvres anciennes, cette revue étant ouverte aux créateurs picards, francophones ou picardophones, ainsi qu’à la poésie étrangère. Il continue à être le moteur de la culture picarde moderne. Cependant, persiste majoritairement une littérature picarde considérée comme populaire qui ne transcende pas les différences locales, et donc l’expression reste pauvre, mâtinée de français, ou d’argot. La motivation principale des gens qui écrivent ce type de littérature, est tout à fait louable : être compris, et par suite être lus. Ils pensent que s’ils écrivent une langue picarde riche, dont la transcription est différente du français, plus personne ne les lira. Ils se font même parfois violence car leur connaissance de la langue est plus grande que ce qu’il n’y paraît. A l’oral, ces auteurs peuvent avoir le meilleur picard qui soit, mais à l’écrit, ils ne cherchent pas la cohérence de la langue. Combien de ces auteurs confessent qu’ils écrivent les mots comme en français pour être compris, mais précisent qu’ils ne se prononcent pas de la même façon. Un exemple classique est la transcription du son [ε ̃ ]. L’article indéfini français « un » se transcrit habituellement « ein » en picard, mais certains auteurs l’écrivent comme en français pour ne pas choquer le lecteur. Toujours pour le même son, « in- » en picard correspond le plus souvent à « en- », qui continue à être transcrit « en- » dans les écrits populaires picards. Le redoublement des consonnes « l », « t » dans les formes françaises « elle » et « ette », sont transcrits en picard moderne « éle » ou « èle », « éte » ou ète », mais cela gênerait ( ? ) la lecture des mots, alors ils continuent à propager cette forme française. Parmi ces auteurs, beaucoup de personnes qui se targuent d’écrire en picard pensent que le picard sert d’abord à exprimer ce qu’ils sont sans doute, le vulgaire. Pendant des décennies, parler picard était le résultat d’un manque d’éducation. A l’école, un élève qui formulait un mot ou une tournure picarde, s’entendait dire, dans le meilleur des cas : « tu ne sais même pas parler français », et même : « tu ne sais même pas parler ». Le picard véhiculait l’image de l’inculture. Comment s’étonner alors que les seuls textes publiés ne soient pas grossiers, pour faire « peuple ». Dans le journal « La Thiérache » 18 , un feuilleton, prétendument patoisant utilisait beaucoup de termes français argotiques, et de rares mots picards. Quand j’ai commen- 18 La Thiérache est un journal basé à Vervins (Aisne), mais deux autres éditions de ce journal avaient dans les pages communes ce feuilleton « Les Ploucs » : le Courrier , d’Hirson et la Sambre, d’Avesnes-sur-Helpe. <?page no="247"?> Usage écrit et standardisation du picard 233 cé à enseigner le picard au lycée d’Hirson, des parents ont été circonspects, car leur seule référence était ce feuilleton délicatement intitulé « Les Ploucs ». Les éditorialistes en langue picarde dans des journaux francophones sont en général porteurs d’un picard de qualité, mais ils s’adressent à un public local et n’ont nul besoin de faire appel à du vocabulaire « extérieur » à la zone de lecture de l’édition du journal dans lequel ils écrivent. Ils traitent de sujets d’actualité ou de société, cela nécessite parfois des néologismes comme le « nitchab » dans les chroniques dominicales de Jacques Dulphy 19 originaire du Vimeu. Jean Wattelet, dit Jean d’Sin, signe des éditos en picard dans la Voix du Nord 20 . Sa plume est très riche, bien adaptée à la grande région du Nord-Pas-de-Calais relativement homogène pour son parler picard connu sous le nom de chti ou chtimi. Les textes de Jean Wattelet sont très attendus des lecteurs. L’existence de journaux édités entièrement en picard est en jeu. Ils étaient encore nombreux à l’approche de l’an 2000. Citons « Ch’lanchron » (le pissenlit), journal du Vimeu, « Urchon-Pico » (le Hérisson piqueur), journal satirique de Thiérache à vocation supra-régionale, « Ches Vints d’Artois », (les vents d’Artois) journal du Pas-de-Calais, qui a évoqué la vie des habitants de la zone houillère, « L’Arnitoile » (la toile d’araignée), journal du Hainaut français, région de Valenciennes, « Chtipicar », éphémère parution de la région de Saint-Amand-les-Eaux, « Eklitra » (cœur de Marie) d’Amiens, avec vocation supra-régionale, etc. La plupart de ses journaux ont disparu, essentiellement par manque de relève dans la rédaction, mais aussi par l’augmentation continue des tarifs postaux. Ch’lanchron est actuellement le seul qui a une diffusion papier régulière, Urchon-Pico adresse ses parutions uniquement à ses abonnés via Internet. L’avenir économique n’est pas encourageant pour les parutions imprimées sur papier ; mais la forme écrite subsiste sur la toile. Ainsi sont apparus de nombreux sites et blogs qui colportent plus ou moins bien la culture et la langue picardes. Nous en citons quelques uns, sans les juger, mais en sachant bien qu’il en existe qui ne font pas progresser la cause picarde. 1- Le Blog du patois, du picard et du Chti 21 , 2- Le patois du Nord-Pas-de-Calais 22 , 3- Les Blagues en Chti. Cie Euch cat dins l’horloche 23 , 19 Jacques Dulphy tient une chronique intitulée ch’ Dur et pi ch’Mo (le Dur et le Mou), sous forme d’un dialogue, chaque semaine dans Le Courrier picard , journal de la Somme, de l’Oise et d’une partie de l’Aisne. 20 La Voix du Nord , journal du Nord et du Pas-de-Calais. 21 Références : s263176304.onlinehome.fr/ wordpress/ patois-picard-chti/ 22 Références : www.nordmag.fr/ culture/ patois/ patois.htm 23 Références : euchcatdinslhorloche.free.fr/ nk/ index.php ? file=Page&name <?page no="248"?> Jean-Marie Braillon 234 4- Patois cambrésien. Chblog, le blog chti 24 , 5- Mes écrits : poèmes et patois picard 25 . Ce n’est qu’un infime aperçu de ce qui existe. L’apparition d’Internet est, contrairement à ce qu’on aurait pu craindre au départ, une façon extraordinaire de diffusion de l’écrit picard. Chaque personne qui écrivait dans son coin peut désormais offrir aux autres picardisants la lecture de ses œuvres ou réflexions. Il semble que ce soit un moment fondamental pour la diffusion de l’écrit picard, condamné par les problèmes de l’édition, difficile mais encore en vie. L’édition picarde a longtemps été contrainte à n’être qu’une annexe de l’édition française. Les associations de défense de la langue picarde ont commencé par publier des glossaires, lexiques, dictionnaires, liés à un village ou une petite région. Sur ce territoire, elles trouvaient les lecteurs et surtout acheteurs de leurs productions. Souvent les associations n’ont eu que ces ventes pour vivre. Là aussi, ce qu’on appelle la révolution numérique est passé par là et a apporté des solutions à peine imaginées vingt ans plus tôt. Plusieurs éditeurs picards et nordistes publient des livres en picard, sur le picard, ou bilingues. Cette dernière formule remporte un beau succès. Relevons pour le Nord-Pas-de-Calais, les éditions Nord Avril , à Bouvignies dans le Nord, Engelaere éditions à Douai, Nuit Myrtide éditions à Lille-Wazemmes, etc. Pour la Picardie, Université picarde libre de Thiérache à Lemé, Ch’Lanchron , déjà cité, à Abbeville, les Éditions Librairie du Labyrinthe à Amiens, La Vague verte à Inval-Boiron. Citons pour la Belgique picardophone, la Société de langue et de littérature wallonnes de Liège, et micRomania de Charleroi, qui publient à la fois des œuvres en wallon et en picard, l’Association des Montois Cayaux de Mons, la Maison de la Culture de Tournai. Au niveau des bandes dessinées, des albums de Tintin, et d’Astérix ont été publiés en langue picarde. Il existe aussi des bandes dessinées typiquement locales, publiées par les éditeurs cités ci-dessus ( Nord Avril , Ch’lanchron , Université picarde libre de Thiérache , etc.). Ces éditeurs ont de nombreux livres à leur catalogue et arrivent, pour certains, à reverser des droits aux auteurs édités. Les maisons d’édition du domaine picard sont un soutien incomparable à la création en langue picarde. Pour valoriser l’écriture en picard ont existé successivement un prix de la nouvelle en picard, dont le maître d’œuvre était Jean-Pierre Semblat, écrivain, enseignant et conteur en picard. Ce concours a ensuite été repris de façon abrupte par l’Agence pour le picard 26 . Il s’appelle maintenant Prix 24 Références : www.chblog.com/ tag/ Patois%20Cambrésien 25 Références : geoecrits.blogspot.com/ 26 A.P.A. : Organisme fonctionnant sous le régime des associations, mais lié de fait au Conseil régional de Picardie qui est son seul bailleur de fonds. <?page no="249"?> Usage écrit et standardisation du picard 235 européen de littérature picarde. En 2012, il se subdivisait en plusieurs catégories, le prix de la nouvelle et du conte, le prix du théâtre et le prix de la fable. Plus de cinquante auteurs y ont participé. La remise des prix s’est faite en trois temps, une première au théâtre de Saint-Amand-les-Eaux (Nord), puis une lecture publique des textes primés à la Maison Jules-Verne à Amiens (Somme) et enfin une lecture des textes à Tournai (Belgique). En ce qui concerne le prix de la fable, il a donné lieu à une remise de prix supplémentaire dans le fief de La Fontaine à Château-Thierry (Aisne). De plus tous les ans en juin, se déroulent à Trefcon (Aisne), dans l’Eschole Pérluète, les épreuves du Chértificat d’Études picard, organisé par Jean-Pierre Semblat 27 . Il s’agit d’un examen ouvert à tous les Picardisants, calqué sur l’ancien Certificat d’Études primaires français. L’essentiel des épreuves se passe à l’écrit. Ces épreuves couvrent l’ensemble de la culture générale, l’arithmétique, la dictée, la lecture, l’histoire, la géographie, etc. jusqu’à une épreuve dans un sport picard. Les personnes reçues reçoivent un diplôme qui est remis officiellement par l’Inspecteur d’Académie. Les candidats qui se présentent sont de tous âges, de 7 ans à plus de 80 ans. Le repas de midi se passe en groupe dans un restaurant proche de Trefcon. L’ambiance y est bon enfant, et nombreux sont ceux qui reviennent passer l’Chértificat, pour le plaisir. L’enseignement du picard, même s’il insiste sur l’oral, s’appuie beaucoup sur l’écrit. Cet enseignement qui repose pour une grande part sur le bénévolat, commence à prendre une certaine importance dans toutes les régions picardophones. Il n’existe pas d’enseignement uniformisé, car les problématiques sont différentes selon les lieux. Les interventions des enseignants picards ont lieu de l’école élémentaire, au collège, au lycée, à l’université et dans des cours pour adultes. Dans les établissements scolaires, il s’agit tantôt de classes complètes, tantôt de clubs d’élèves volontaires. La création du concours du picard dans les collèges, initié en 1989 par l’Université picarde libre de Thiérache, a été un événement majeur de l’enseignement du picard. Ce concours est actuellement géré par l’Agence pour le picard d’Amiens. Il propose tous les ans des épreuves à faire par les classes ou les clubs de picard dans les collèges. La majorité des exercices à réaliser se fait à l’écrit, et les élèves doivent lire et écrire en picard. 27 Jean-Pierre Semblat, écrivain, conteur et pédagogue picard, Président de Tertous Gadrus, créateur du concours de la Nouvelle en picard. <?page no="250"?> Jean-Marie Braillon 236 3. La standardisation de l’écriture picarde Comme nous l’avons vu précédemment, la plupart des auteurs picards écrivent dans une graphie personnelle, souvent calquée sur la graphie française, ou plus ou moins expérimentale. Ces expériences ne correspondent en général qu’à des détails, notamment à des prononciations inexistantes en français. Nous citerons un exemple : Roland Dussaussoy 28 du Pas-de-Calais, qui écrit de façon progressive « watèiowe » (gâteau), quand il continue à écrire « voïette » (sentier, ruelle), où il aurait pu écrire « voïète » sans que cela fût incompréhensible. Pourtant il y a eu depuis près de deux cents ans des tentatives intéressantes pour essayer d’établir une orthographe picarde. Cette question de l’écriture du picard se pose à toute personne tentant d’écrire en cette langue. Comment écrire une langue qu’on n’a pas apprise à l’école et qui n’a pas de règles imposées d’orthographe? Une des plus importantes du 19 ème siècle est sans conteste celle d’Édouard Paris d’Amiens. En 1863, il publie « S’sint Evanjil s-lon 29 Sin Matiu ». Il édicte une règle unique 30 . « Le picard s’écrit comme il est prononcé ; en d’autres termes, chaque son picard se représente par le signe spécial et invariable qui lui est affecté. Cette méthode à la fois simple et rationnelle, au lieu de s’égarer dans un dédale de fantaisies soi-disant étymologiques et le plus souvent de pur caprice, fournit le seul moyen de pouvoir comparer les divers dialectes picards et d’en fixer la prononciation à l’endroit et à l’époque que l’on a en vue. « Elle permet ainsi à deux Picards parlant le même dialecte d’avoir la même orthographe. « Elle présente en outre l’avantage d’indiquer aux savants, aux Linguistes étrangers la seule chose qu’ils ne puissent savoir en étudiant un écrit picard, la prononciation de cet idiome. « Elle est d’ailleurs d’une application on ne saurait plus facile. Dès que l’on connait les sons et les signes de notre Alphabet, il suffit de savoir parler le picard ou de l’entendre prononcer pour l’écrire sans faire de faute ; et réciproquement, il suffit de savoir lire, pour prononcer correctement le Picard (sic) écrit, quand bien même on ne le comprendrait pas. 28 Dussaussoy, Roland : L’héritache èd’ min père , en trois volumes, 3 ème édition, Herfaut 2011. 29 Graphie manuscrite, utilisée sur un tapuscrit de 1863 annoté de la main d’Édouard Paris, du Saint Evangile selon saint Mathieu. 30 Les explications se trouvent dans l’introduction à « S’ sint évanjil slon Sin Matiu » sic graphie du texte définitif imprimé. <?page no="251"?> Usage écrit et standardisation du picard 237 « A un point de vue plus général, cette méthode, si on l’étendait à l’écriture de tous les idiomes, serait certainement aussi d’un très-grand secours pour l’étude des langues et les travaux de linguistique comparative. » Nous présentons ci-dessous quelques courts extraits de « S’ Sint Evanjil slon Sin Matiu »: « Liv dé l’jéhalôji éd Jézu-Kri, fiu d’ David, fiu d’Abranham. 2. Abranham ô injindrè Izak. Izak ô injindré Jakob. Jakob ô injindré Judô pi sé frèr. (…) Chapit XIX (…) 3. Ché farizyin a leu tour on vnu a li pour él tinté pi li on di : ch’é jout i permi a inn onm éd rinvouéyé s’ fanm n’inportét i pour kouè ? (…) » Edouard Paris résolvait le problème de la palatalisation des sons « k » et « g » en les transcrivant « ky » et « gy ». A cette époque, le phénomène n’était pas terminé à Amiens, il n’avait donc pas à se heurter à la problématique des sons extrêmes rencontrés actuellement en picard, exemple pour chien . Le mot de base se prononce [kjε ̃ ], qui a évolué en [k’ε ̃ ] (ce que note Paris « ky »), et puis en [t∫jε ̃ ], et même [t∫ε ̃ ]. Ces mots sont transcrits de façon anarchique par quien , kien , tchien , tchin . Félix Fabart, alias Ch’Tahont (le taon), dans ses « Contes gaulois en picard de Montdidier 31 » utilise le « gh » pour transcrire ce phénomène, mais son apport à une standardisation n’est que très partiel. Au début des années 1980, plusieurs écoles s’opposent. La Fédération « Chti qu’i pinse » (litt. : celui qui pense), inscrit dans ses statuts que la graphie utilisée en son sein serait la graphie Feller, élaborée pour le wallon. Cette graphie a une base phonétique, supprimant les doubles consonnes non sonores, introduisant la lettre « k », dans les mots qui ne sont pas d’origine française, mais maintenant beaucoup. Fernand Carton adaptera cette graphie wallonne aux spécificités picardes. A. Lévèque, Président de Chti qu’i pinse 32 , ajoutera une phase fondamentale pour la standardisation de l’orthographe picarde. D’une part en s’éloignant de la méthode Feller proprement dite, en supprimant toutes les lettres non prononcées, notamment les marques du pluriel, les « t » des participes présents, en créant quelques graphèmes particuliers. Son but est d’obtenir une graphie supra-dialectale « uniformisante » 33 dite néo-latine, permettant d’exprimer par une seule graphie des sons différents. Il reprend le « gh » de Fabart et crée le « qh ». Il fallait que ces graphèmes n’existent pas 31 Montdidier 1903. 32 Chti qu’i pinse , éphémère tentative de fédérer les associations de défense de la langue picarde. 33 « uniformisante » : néologisme pour qui unformise. <?page no="252"?> Jean-Marie Braillon 238 en français pour ne pas apporter de confusion. La façon d’écrire d’A. Lévèque a varié de nombreuses fois, si bien qu’il a été impossible de trouvé un texte en écriture néo-latine qui comporte tous les élèments définis par lui. Voici une transcription en graphie néo-latine picarde d’un extrait de texte de Léopold Simons: -Tyin, atrape ! Cha ‘t ramintuvra ! Aïe ! Aïe ! Aïe ! ‘J in tran.ne lé fiéfe ! Mé pouvé-z oche ! on pouro préparer min lincheu et min luijo ! ‘J su bon pou lé mouque ! A la fin du conte, ‘j é di tou chin qu’i-z on volu : Qu’j’éto médicin, docte ét rbouteu, apotiquère, èrbié, ‘j sé pa tou qwa… ‘J vou jure, i a ‘d qwa brère a tahu lé-z i déhor ! Traduction: -Tiens, attrape ! Tu t’en souviendras ! Aïe ! Aïe ! Aïe ! J’en tremble de fièvre ! Mes pauvres os ! On pourrait préparer mon linceul et mon cercueil ! Je suis bon pour les mouches ! En fin de compte, j’ai dit tout ce qu’ils ont voulu que je dise : que j’étais médecin, que j’étais docteur et guérisseur, pharmacien, herboriste, je ne sais plus exactement, quoi… Je vous jure, il y a de quoi pleurer en sanglots, les yeux exorbités ! Tout en gardant les formes spécifiques d’André Lévèque, Jean-Marie Braillon est retourné aux fondamentaux de la méthode Feller-Carton. Voici exposés de façon précise les grands principes de la graphie supra-dialectale picarde qui a fini par être appelés par certains picardisants « méthode Feller- Carton-Braillon » (F.C.B.) après avoir été nommée par son initiateur « méthode Feller-Carton-Fipéq » 34 . Non seulement l’écriture site spontanée des patoisants n’est pas unique pour une même prononciation, mais elle est souvent ambigüe et imprécise, voire trompeuse. Dans l’encadré ci-dessous sont indiquées les formes rencontrées pour représenter la terminaison des verbes du premier groupe (terminés en er ), à la troisième personne du pluriel, soit en français « -ent ». En picard cette terminaison fait sonner le « t » et y adjoint le plus souvent un « e », plus ou moins accentué, évoluant de [e] à [ ə ], mais très court. La méthode F.C.B. donne comme graphème « ë » pour ce cas. Le verbe canter (chanter) donnera à la troisième personne du pluriel, au présent de l’indicatif : is canttë , le radical étant cant- , et la terminaison de cette personne të , à noter que les deux « t » s’entendent) ; à la même personne mais à l’imparfait de l’indicatif : is cantòtë , la terminaison étant òtë . 34 FIPÉQ : acronyme de Franque In·niviérchitèie picàrte éd Qhiérache / Université picarde libre de Thiérache, association créée par Jean-Marie Braillon en 1987. <?page no="253"?> Usage écrit et standardisation du picard 239 Voici les formes rencontrées. Le numéro qui suit renvoie à des auteurs dont les noms figureront en fin de texte. On remarquera que le même auteur peut avoir plusieurs façons d’écrire la même chose, d’où l’urgence de simplifier et d’unifier : ent 42,44,50,56,61,62. ▲ ent’ 52. ▲ ent’e 45. ▲ ‘nt 24,28,31,49,52 ▲ ‘nt-é 60. ▲ t 66. ▲ ‘t 7,16,19,22,33,40,52,58. ▲ ‘t’ 103,107. ▲ t’ 3,4,18,52,53 ▲ te 15,18,56. ▲ ‘té 33,40,58,59. ▲ ‘-té 10. ▲ t’é 18,47. ▲ t-è 67. ▲ të 25,64. ▲ ‘të 19. ▲ tent 2,4,11,17,24,34,42,43,52,61,65. ▲ ‘tent 4,8,9,13,65,105. ▲ tent-te 70. ▲ ‘tnt 14. ▲ t’nt 17,12,23,46,49,57,72.▲ ‘t’nt 53,54 ▲ t’n-té 23 ▲ tt 69,73 ▲ ’tt 14 ▲ t’t 13,16,19,29,33,38,40,41,48▲ ‘t’t 68 ▲ tt’ 4,52,58,73. ▲ ‘tt’ 71 ▲ t’te 1,23,100. ▲ tté 57. ▲ ‘tté 6. ▲ t’té 5,23. ▲ ttë 18. ▲ t’të 5,19. ▲ ttent 2,4,8,11,13,17,21,23,26,34,47. ▲ ttent-té 50. ▲ t’tnt 14. ▲ tt’nt 13,23,53,57,61. ▲ tt’nté 32. ▲ tt’n’-té 23. ▲ tt’t 52 ▲ t.nt 71. ▲ .nt 74. ▲▲ Le tableau ci-dessus montre quelle est la première difficulté que l’on rencontre pour lire un texte picard d’un auteur qu’on ne connaît pas, c’est-àdire déchiffrer son code. Sur 76 auteurs étudiés, nous avons relevé 45 graphies différentes. Dans le cas où l’auteur utilise la graphie française (ent ), ce qui est systématique dans les textes antérieurs au 18 ème siècle, cela semble logique, puisque le « t » final était aussi prononcé en français. En revanche, en ce qui concerne les auteurs contemporains, il est particulièrement regrettable qu’ils n’indiquent pas leur façon de prononcer dans leur transcription. A cela, on ne trouve que trois explications, soit ils ne se sont pas posé la question, soit ils estiment que cela va de soi qu’en « patois » le « t » final se prononce, soit encore, ils craignent de ne pas être lus car il s’agit d’une graphie inexistante en français. Dans le cas où l’auteur essaie d’indiquer que le « t » est sonore ( t’ , te , të , etc.), il est souvent délicat de savoir comment le prononcer. Il peut alors s’en tenir à la prononciation ( t , ‘t , t’ , te , té , ‘té , ‘-té , t’é , t-é , të , ‘të , ‘t’t , tt’ , ‘tt’ , t’te , tté , ‘tté , t’té , t’t é , ttë , tt’t ), ce qui représente vingt-deux façons d’écrire, mais ces transcriptions sont lisibles et leur prononciation est garantie juste. Mais il peut également ajouter à ces graphies un rappel de la terminaison française, en ajoutant « -ent ». En ajoutant cet élément « aidant », du moins le considère-t-il, il pense indiquer qu’on prononce le « t ». Cela donne les formes suivantes, outre « ent » déjà vu : ent’ , ent’e , ent-té , tent , ‘tent , tent-te , <?page no="254"?> Jean-Marie Braillon 240 ttent , ttent-té . La lecture devient déjà délicate. Cette écriture relève d’une affection française de laisser un témoin plus ou moins vrai de l’étymologie. Les langues néo-latines comme l’italien, le roumain, etc. ont fait le choix contraire. Dans ce type de graphies, il est impossible de savoir si l’ « n » se prononce 35 . La dernière des graphies est particulièrement pernicieuse car elle suggère qu’on prononce deux fois le groupement. Exemple, si l’on écrit « is cachttent-tés » (ils chassent) : prononce-t-on [ika∫té], [ika∫tté], [ika∫t ə té], etc. ? Partant de la démarche précédente, mais faisant le constat qu’on ne prononce pa l’ « e », il le supprime, tout en gardant un « n étymologique », et nous trouvons : ‘nt , ‘nt-é , ‘tnt , ‘t’nt , t’n-té , tt’nt , tt’nté , tt’nt-té . Ces transcriptions sont illisibles à qui n’a jamais lu un texte picard. Les constats ayant été faits, il a fallu trancher 36 pour une transcription facile à lire et qui puisse évoquer les différentes variantes. Pourquoi ne pas avoir adopté la formule employée par la majorité des écrivains picards, « tent » ? Cette façon de transcrire ce trait de conjugaison typiquement picard mêlait la double volonté d’indiquer que le « t » était sonore, et celle de ne pas effrayer le lecteur, en gardant la terminaison française. Cela conduisait à une ambigüité au niveau de la prononciation, de plus cela ne permettait pas d’y trouver les petites variantes ( t’ , te , té ). C’est de plus ne pas avoir compris pourquoi le « t » se prononce ; il ne s’agit pas d’une lettre supplémentaire, mais simplement du « t » de « ent » français. Dans la transcription F.C.B. cette forme s’écrit « të », où le « ë » peut être muet, un « ə » très court (plus court que le « e » des de , je ou le en français, un « ø » de deux , ou enfin le « é ». Chacun, selon son parler local, pourra prononcer à sa façon. Dans l’exemple déjà vu ci-dessus, « ils chassent » devient « is cachtë ». 3.1. Utilité d’avoir une transcription unique pour diverses formes de prononciation Nous prendrons comme exemple la terminaison des verbes du premier groupe, à la troisième personne du singulier de l’imparfait de l’indicatif. 35 Notre propos n’était pas à évoquer ici cette forme de prononciation qui subsiste dans le Hainaut, notamment dans la région d’Avesnes-sur-Helpe, où la transcription F.C.B. sera « ntë » (ex. is palntë : ils parlent, ailleurs : is paltë ). 36 Braillon, Jean-Marie : La graphie F.I.P.Q. du picard , Lemé 1991. <?page no="255"?> Usage écrit et standardisation du picard 241 éot 5. ▲ eut 65. ▲ o 26,85. ▲ ó 5. ▲ ò 5, 64. ▲ ô 32. ▲ oait 35,40. ▲ oè 28. ▲ oet 30,58. ▲ oèt 73. ▲ oët 108. ▲ oi 105. ▲ oit 27,104. ▲ ot 24,33,34,53,61,62,72. ▲ òt 14. ▲ ôt 1, 32 ▲ ouait 20,38. ▲ oué 39,50,69. ▲ ouit 18. ▲ ouot 12. ▲ oeye 96. ▲ wèt 38. ▲ wó 19. ▲ Le tableau ci-dessus rassemble les principales graphies correspondant aux prononciations différentes de cette terminaison. Une première remarque permet de nous débarrasser du problème précédent, en relevant les doublons d’écriture, comme par exemple « o, ô, ot, ôt », d’une part, « oè, oait, oet, oèt, ouait, wèt » d’autre part. Restent les « ò, ó, òt, ót, wó » qui sont à expliciter, et enfin les « éot, eut, oit, oué, ouit, oeye » qui sont des formes indépendantes. Il aurait donc été envisageable de retenir sept transcriptions correspondant aux groupes de « o », de « oè », « eut », « oué », « oit », et « ouit ». Cela impliquerait au plan de la lecture et de la pédagogie une complexité conduisant à l’asphyxie rapide des candidats lecteurs ou élèves en langue picarde. D’autant que ces formes ne sont pas liées obligatoirement à des zones précises ; on trouve « eut » dans le Ternois 37 (ouest du domaine picard), et aussi en Thiérache (est du domaine picard). La méthode d’écriture F.C.B. réunit sous un même signe d’écriture ces différentes prononciations. Le graphème retenu a été « ò ». Son choix a été lié au fait que la forme la plus rencontrée dans la quasi-totalité du Nord-Pasde-Calais, de la Wallonie picarde et du nord-ouest de l’Aisne, est [o]. L’accent grave qui couvre l’ « o » indique qu’il peut englober des prononciations différentes : wé , wè , wi , wa , wo , éo , eu . A chacun alors, selon l’endroit où il est d’attribuer la valeur qui lui correspond à ce « ò ». Le deuxième avantage est qu’un lecteur ignorant le picard le lira [o] qui est une des prononciations picardes les plus courantes. Ce système a été expérimenté en milieu scolaire dans les zones de transition et a donné d’excellents résultats, permettant d’avoir une graphie commune à un public composite d’élèves. En écrivant « ale étò» (elle était), on pourra lire : ale éteu(t) , ale étwa , ale étwi , ale étwé , ale éteo , ale étéo , ale étwo et bien sûr ale étò . Il ne nous a pas paru utile de conserver les terminaisons de la conjugaison française, puisqu’elles ne s’entendent presque jamais (on peut alors éventuellement ajouter « -t » par exemple dans « éj chu-t al-coure » : je suis dehors ). A la troisième per- 37 Accart, André : Conte un peu ! Histoires d’animaux, légendes du Pays d’Artois , autoédition, date non-indiquée (vers 1995), Thérouanne. <?page no="256"?> Jean-Marie Braillon 242 sonne du pluriel, compte-tenu de ce qui a été décrit plus haut, cela donnera « as étòtë » ( elles étaient ), qui remplace les multiples combinaisons de « të » et de « ò », soit un choix mathématiquement immense ! 3.2. Nécessité de démarquer la transcription écrite du picard de celle du français Il est apparu rapidement qu’utiliser la même « orthographe » pour des mots picards et français qui ne sont que des faux amis, menait à une incompréhension totale. Les confusions de sens, les difficultés pour des élèves à établir la différence entre ces mots sont nombreuses. La graphie spécifique au picard aide à éviter ces ennuis. La phrase suivante, écrite volontairement en graphie « francisante », est une de celles qui illustrent bien le problème : J’ai fait exprès de lui arracher son jupon en entassant des clous dedans. Ce qui donne, lorsque la prononciation est un peu plus picardisée : J’ai fait spré dé yi arracher sin jupon in intassant des clous d’dins. Dans cette phrase, « exprès » ( spré ) signifie « semblant », « arracher » signifie « déchirer », « jupon » signifie « veste », et « entasser » ( intasser ) signifie « enfoncer ». La formulation française donnerait : J’ai fait semblant de déchirer sa veste en y enfonçant des clous et la transcription picarde F.C.B. donne : `J èi fé spré `d éy-yi àracher sin jupon in intassant dés cloes n-dins dans laquelle « èi » peut se prononcer [e], [εj], [aj], [a], et « oe » correspond à l’alternance [o] - [ø]. Le lecteur sait que lorsqu’il lit « àracher », c’est à son acception picarde qu’il a affaire, et don de « déchirer en français ». Lors des cours de picard, une bonne partie du temps est occupé à la traduction de phrases en francopicard, ce qui permet l’identification des faux amis. L’élève picard ne connait pas le sens français d’« entasser », mettre en tas , tandis qu’il dit en picard « ramonchler ». Entasser en franco-picard est utilisé dans tous les cas d’ enfoncer en français, « Intassez-vos chå dins vo cabu ! » ( Enfoncez-vous cela dans la tête ! ). Afin de ne pas créer de confusions pour d’autres mots, la graphie française est abandonnée dans la transcription du picard, sauf dans les mots dont l’écriture en français est proche de la phonétique. Exemple, le verbe <?page no="257"?> Usage écrit et standardisation du picard 243 « dire » qui existe de façon similaire en picard et en français sera transcrit en picard de façon identique. En revanche le verbe picard « brére » ( pleurer ) sera écrit différemment de verbe français « braire » ( crier en parlant de l’âne ), etc. 3.3. Utilité d’avoir une transcription proche de la prononciation Ceci peu paraître a priori en contradiction avec l’utilisation d’une transcription unique pour des sonorités différentes. En fait, il s’agit ici d’affirmer la démarcation de la transcription française, lorsque celle-ci est ambigüe. Cette transcription ne peut se faire que si les auteurs picards connaissent la prononciation centrale du français et ont l’oreille aiguisée à la façon dont se parle le picard. L’exemple le plus flagrant est celui de l’article indéfini masculin français « un ». La quasi-totalité des locuteurs picards (et beaucoup d’autres en France) ne prononcent pas « un » [œ ̃ ], mais [ε ̃ ]. En revanche, ils ne disent pas pour « une » [yn], mais [ε ̃ n] (et marginalement [œ ̃ n]). Une graphie déjà ancienne fait que beaucoup d’auteurs écrivent « ein » pour « un », ce qui entraîne dans ces cas une forme logique au féminin. Dès lors, comment concilier phonétique et logique ? En considérant le féminin de l’article indéfini, on constate qu’il évolue autour de « in.ne, ène, éne » etc. Une transcription médiane, permettant facilement d’englober les variantes a été choisi sous la forme « ein·ne », qu’on pourra lire [ε ̃ n] ou [εn]. ain/ aine 85. ▲ ein/ ène/ ein.n’ 80. ▲ ein/ eine 13,93,101. ▲ ein/ ein·ne 64. ▲ ein/ einne 67,103. ▲ ein/ enn’, ènne 105. ▲ en/ enne 76. ▲ eun/ in.ne 95. ▲ eun/ eunne 25. ▲ in/ eine 91. ▲ in/ eùne, in.ne 19. ▲ in/ ène 1,11,32,71,99. ▲ in/ in-ne 42. ▲ un/ un’ 30. ▲ un/ une 75. ▲ un/ un-ne 23,33 ▲ un/ un.ne 92. ▲ un/ eine 78 ,83,97. ▲ un/ einne 18. ▲ un/ ène 40. ▲ un/ eun’ 86,87,88,89. ▲ un/ eune 34,50,52,58,84,90. ▲ un/ eunne 72. ▲ un/ un’ 53. ▲ un/ ûnne 97. ▲ un/ unne 96. ▲ un, in/ enne, unne 77. ▲ un/ in ne 26. ▲ un/ inne 94. ▲ un/ inn’ 79,81,102. ▲ On constate, à la vue de ce tableau, qu’il est bien délicat d’avoir un avis sur la prononciation de ces graphies. On pourrait supposer que lorsque le féminin se fait en « aine, ein.n’, eine, einne, ène, enne, in.ne, in-ne, inn’, inne » etc. le masculin est « in » et non pas « un » ; mais le doute subsistera. En revanche on pourrait croire que les transcriptions « eune, eunne, eùne, ûnne, <?page no="258"?> Jean-Marie Braillon 244 un.ne » sont les féminins logiques d’ « un » ; hélas ! la présence de la graphie « eùne’ » face à « in » sème le doute… Nous donnons ci-dessous un exemple de transcription F.C.B. : CÒRE TOUDI 38 In foeque chés jon·nes al wérre Chés jins z-z acouttë wére In foeque fourt, déjéte ju Ét pi al-fosse in rue Pi in foeque, pi in tue Pi pu rin, foque ein·ne mouque Qu’ale bruhi, fin au lòn Ein clàron trisse qu’i corne Ein lhiutnant qu’in adorne Pi in raque sin filé équ’ ch’é oute, équ’ ch’é oute ! Défini, tous chés wérres ! Pi in rfoeque còre dés jon·nes Al wérre... dés jon·nes ... al wérre, Pyids dins ioe, né in `l ér. Traduction TOUJOURS ET TOUJOURS On fauche les jeunes à la guerre le monde ne les écoute guère on fauche violemment, on jette par terre puis au tombeau on les précipite Puis on fauche, puis on tue Plus rien, seule une mouche qui bourdonne, tout au loin un clairon triste qui crie un lieutenant qu’on décore puis on jure que c’est terminé, que c’est terminé ! Finies toutes les guerres ! Puis on fauche de nouveau des jeunes A la guerre, des jeunes… A la guerre, des jeunes, Pied dans l’eau, nez en l’air 38 Texte de Jean-Marie Braillon (en graphie FCB), dit par Julie Braillon, CD n°1 de l’Association Achteure, groupe de Philippe Boulfroy. <?page no="259"?> Usage écrit et standardisation du picard 245 4. Conclusion Notre propos était de faire un très rapide aperçu de l’existence du picard écrit à travers les âges et sa réalité d’aujourd’hui. Il semble que le nombre d’écrivains de toutes catégories qui ont choisi de s’exprimer en picard soit en augmentation. Internet permet à ceux qui n’avaient pas de possibilités de publier leurs écrits, de le faire facilement. Mais il ne suffit pas d’écrire, il faut être lu. Je suis très optimiste sur ce point, les lecteurs sont plus nombreux que les auteurs. En revanche, en ce qui concerne la standardisation de l’écriture, je crains que les graphies à la française réduisent les tentatives d’offrir à la langue picarde un outil performant. On préfère faire dans la facilité, ce qui ne relève pas le niveau culturel ; mais le principal n’est-il pas qu’on écrive en picard ? C’est ce que l’on entend. Un exemple édifiant est l’ouverture à toutes les graphies du Prix européen de littérature picard, les statistiques font qu’il est nécessaire d’écrire « à la française », en n’hésitant pas à forcer le trait, pour espérer figurer au palmarès. Pour retourner aux penseurs de la graphie picarde, Édouard Paris a reçu en son temps des critiques acerbes, mais c’était au 19 ème siècle. Près de cent ans plus tard, Louis Seurvat, écrivain picard, comparera l’œuvre de Paris à une volonté de germanisation, à cause de la présence de la lettre « k ». Cette lettre n’est pas utilisée en graphie F.C.B. car elle paraît inutile, mais elle figure souvent des les textes picards du moyen âge. Malgré deux réunions concernant la graphie du picard, présidées par Fernand Carton, chacun continue d’écrire comme il l’entend, sans même chercher à une transcription qui uniformiserait a minima notre langue. Bibliographie Accart, André: Conte un peu! Histoires d’animaux, légendes du Pays d’Artois . autoédition, Thérouanne, date non-indiquée (vers 1995). Braillon, Jean-Marie: La graphie F.I.P.Q. du picard . Lemé 1991. Corblet, Abbé Jean-Baptiste: Dictionnaire étymologique et comparatif du patois picard ancien et moderne . Amiens 1851. Daire, Père Louis-François: Dictionnaire picard, gaulois et françois . mis en ordre d’après le manuscrit par Alcius Ledieu, Paris 1911. Debrie, René: 1] Lexique picard des parlers ouest-amiénois. Amiens 1975. 2] Lexique picard des parlers du Vermandois. Amiens 1987. 3] Glossaire du Moyen picard . Amiens 1984. 4] Lexique picard des Parlers du Ponthieu. Amiens 1985. 5] Le secret des mots picards (recherches étymologiques). Amiens 1989 . 6] Lexique picard des parlers du Santerre. Amiens 1986. 7] Lexique picard des parlers est-amiénois. Amiens 1983. 8] Recherches sur les noms d’oiseaux dans les parlers de la région. Amiens. 9] Recherches sur les noms de plantes dans les <?page no="260"?> Jean-Marie Braillon 246 parlers de la région d’Amiens. Amiens 1964. 10] Recherches sur les noms d’insectes dans les parlers de la région d’Amiens. Amiens. 11] Lexique français-picard, élaboré à partir des parlers de l’Amiénois. Amiens 1989. 12] Lexique picard de l’hortillon. Amiens 1968. 13] Contribution à l’étude des jeux picards traditionnels . en collaboration avec René Gaudefroy et Paul Louvet, Amiens. 14] Moeurs épulaires picardes . en collaboration avec Jeannine Debrie, Amiens. 15] Lexique picard des parlers sud-amiénois. Amiens 1979. 16] Lexique picard des parlers nord-amiénois. Arras 1961. 17] Supplément au Lexique picard des parlers nordamiénois. Abbeville 1965. 18] Lexiques picards du cidrier et du meunier. Amiens 1967. 19] Lexique picard des parlers du Vimeu. Amiens 1981. 20] Lexique picard du Pêcheur à pied d’Auguste Charlemagne. Saint-Valéry-sur-Somme 1966 . 21] Lexique du Berger. Abbeville 1977. 22] Terminologie picarde du tissage domestique. Amiens 1975. 23] Lexique picard du poissonnier . essentiellement réalisé avec Roger Verdy, Amiens 1973. 24] Onomasiologie: Les noms qui désignent l’espace entre deux maisons dans les parlers de la Somme . Amiens 1974. 25] Supplément au lexique picard du poissonnier . Amiens 1974. 26] Terminologie picarde se rapportant au tourbage. Amiens 1978. 27] Lexique picard du planteur de tabac . avec Jean Druelle: Boisle . Amiens 1972. 28] Terminologie picarde se rapportant à un ancien jeu consistant à porter quelqu’un sur deux mains croisées. Amiens 1980. 29] Lexique picard du bourrelier . Amiens 1979. 30] Petit lexique du parler de Beauquesne (Somme) . Grandvilliers (Oise) 1966. 31] Complément au Lexique des parlers du Vimeu . Amiens 1987 . 32] Lexique picard du maréchal-ferrant . Amiens 1987 . 33] Essai d’orthographe picarde . Amiens 1966. 34] Lexique picard de trois anciens métiers du Doullennais: boutonnier, cerclier, cloutier . Doullens 1967. Delmotte, Philibert: Essai d’un glossaire wallon (NB : le mot wallon désignait indistinctement le wallon et le picard de Belgique). Mons 1812. Desbordes-Valmore, Marceline: Dialogue (vers 1838), La Forêt invisible, Anthologie de littérature picarde (partie réalisée par Pierre Ivart). Amiens 1985. Dubois, Guy: 2000 mots du patois de chez nous . Lillers 1981. Dussaussoy, Roland : L’héritache èd’ min père . en trois volumes, 3 ème édition, Herfaut 2011. Edmont, Edmond: Lexique saint-polois . St-Pol 1897. Flutre, Louis-Ferdinand): Le moyen picard d’après les textes littéraires du temps (1560- 1660) . Amiens 1970. Haigneré, Daniel: Le patois boulonnais comparé avec les patois du nord de la France . 2 vol., Boulogne-sur-Mer 1903. Hécart, Gabriel: Dictionnaire rouchi-français . quatre éditions dont deux posthumes, Valenciennes 1834. Jouancoux, J.-B.: Études pour servir à un glossaire étymologique du patois picard . 2 vol. parus (A à M), Amiens 1880-1890. Ledieu, Alcius: Petit glossaire du patois picard de Démuin . Paris 1893. Legrand, Pierre: Dictionnaire du patois de Lille . Lille 1856. Sigard, J.: Glossaire étymologique montois et Dictionnaire du Wallon de Mons et de la plus grande partie du Hainaut . Bruxelles 1870. Vasseur, Gaston: Dictionnaire des parlers picards du Vimeu (Somme) . édition augmentée, Fontenay-sous-Bois 1998. Vermesse (Louis): Dictionnaire du Patois de la Flandre française ou wallonne . Douai 1897. <?page no="261"?> Usage écrit et standardisation du picard 247 RÉFÉRENCES DES AUTEURS CITÉS DANS LES TABLEAUX <?page no="263"?> Carolin Patzelt (Bremen) Chacho, hagamus gramática? ! - Kodifizierungsansätze der hablas de transición in Westspanien 1. Asturleonesisches Erbe und ‚hablas de transición’ in Westspanien Die historische Expansion des Asturleonesischen bzw. seiner Dialekte hat im Nordwesten Spaniens zu aus varietätenlinguistischer Sicht sehr interessanten Konstellationen geführt: War das reino astur-leonés bereits zu Zeiten der Reconquista kein sprachlich homogenes Gebiet, so erstrecken sich die dem ‚Asturleonesischen’ zugerechneten Varietäten heute 1 neben Asturien auch über Teile Santanders, Leóns, den Westen der Provinzen Zamora und Salamanca sowie Teile der Provinz Cáceres in der Extremadura (vgl. Lapesa 1999, 482ff.). Die sprachlichen Grenzen stimmen dabei häufig nicht mit den politischen überein: So reichen Varietäten des im Westen angrenzenden Galicischen bis nach Asturien, León und Zamora hinein, in einigen Dörfern Zamoras werden Varietäten des Portugiesischen gesprochen, und in Miranda do Douro findet sich mit dem Mirandesischen 2 eine asturleonesische Sprache auf portugiesischem Boden. Die fließend verlaufenden Sprachgrenzen zum Gallego-Portugués im Westen und zum Kastilischen im Südosten führen dazu, dass neben dem Asturischen, Leonesischen und Mirandesischen auch verschiedene Übergangsvarietäten, sog. hablas de transición, zum asturleonesischen Varietätenkomplex zählen, die im Gegensatz zum Asturischen, Galicischen oder Mirandesischen 3 zwar über keine offizielle Kodifizierung verfügen, deren hybrider Charakter aber eine Betrachtung vorhandener Kodifizierungsvorschläge und ihrer Basis lohnt: 1 Die heutige ‚asturleonesische’ Sprachzone ist dabei nicht zu verwechseln mit der historischen leonesischen Sprachlandschaft, die nur noch in Resten existiert und überwiegend vom Kastilischen überlagert worden bzw. in regionalen Varietäten des Kastilischen aufgegangen ist. 2 Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Aurelia Merlan (2009, 2011, 2012). 3 Für das Galicische und Asturische werden jeweils zumindest drei Dialektgruppen unterschieden: das Bable oriental, central und occidental (vgl. Born 1991, 217), bzw. analog dazu das Gallego oriental, Gallego central und Gallego occidental. Die Kodifizierungsbasis stellt jeweils das Zentralasturische bzw. -galicische dar. <?page no="264"?> Carolin Patzelt 250 1.) das Cántabro (Abb. 1, Nr. 8), auch bekannt als Montañés, wird häufig als „dialectu oriental de la llingua asturiana” 4 bezeichnet und gilt als Übergangsvarietät zwischen dem Asturleonesischen und dem Kastilischen. 5 Präsent sind diese Dialekte neben Kantabrien auch noch im östlichen Zipfel Asturiens sowie im Westen von Vizcaya. 2.) das Eonaviego (Abb. 1, Nr. 4), auch bekannt als Gallego-Asturiano, das in den asturianischen Concejos zwischen den Flüssen Navia und Eo gesprochen wird und als Übergangsvarietät zwischen dem Asturleonesischen und Galicischen gilt. 6 3.) das Extremeño (Abb. 1, Nr. 9), das sich in drei Subdialekte gliedert 7 und vor allem im Nordwesten bzw. nördlichen Zentrum der Provinz Cáceres (Extremadura) sowie in einigen südlichen Dörfern der Provinz Salamanca gesprochen wird. Es gilt als Mischung aus Asturleonisch und meridionalen Varietäten des Kastilischen. 4.) A Fala de Jálama (Abb. 1, Nr. 10), gesprochen in Eljas, Valverde del Fresno und San Martín de Trevejo im Valle de Jálama (Provinz Cáceres). Die sprachliche Zusammensetzung der Fala ist sehr komplex und enthält vorwiegend Elemente des Portugiesischen, Galicischen, Kastilischen und Altoextremeño. Hinzu kommt, dass jedes der drei genannten Dörfer wiederum seine eigene Varietät der Fala 8 kultiviert. 4 Vgl. z.B. ‚L´idioma asturianu en Cantábria’, El Diario Montañés vom 24.08.2009. 5 Dabei referiert ‚cántabro’ in der Regel als Oberbegriff auf kantabrische Dialektgruppen, die noch einen vergleichsweise deutlichen Abstand vom Kastilischen haben. Gerade im Südosten des alten leonesischen Gebiets wurden die typischsten Phänomene des leonesischen Dialekts nämlich früh verdrängt und vom Kastilischen überlagert (vgl. Lapesa 1999, 492). 6 Für nähere Ausführungen zum sprachlichen Übergangsgebiet vgl. u.a. Menéndez Pidal (1906). 7 Alto-, Medio- und Bajoextremeño, wobei die sprachpflegerischen Aktivitäten in der Extremadura in der Regel die Varietät des Altoextremeño besonders berücksichtigen (vgl. Viudas Camarasa 1976). 8 Das Valverdeiru in Valverde del Fresno, Manhegu in San Martín de Trevejo und Lagarteiru in Eljas. <?page no="265"?> 251 Abb. 1: sprachliche Varietäten in Spanien [http: / / www.proel.org/ index.php? pagina=lenguas] 2. Voraussetzungen einer Kodifizierung der hablas de transición Bei den hablas de transición gestaltet sich eine Kodifizierung zunächst einmal deshalb schwierig, weil sie sprachliche Elemente aus unterschiedlichen Varietäten und deren Subdialekten vereinen. Eine Übergangsvarietät wie die Fala beispielsweise zeigt eine sehr heterogene sprachliche Zusammensetzung 9 , mit u.a.: 9 Die folgende Übersicht stellt nur einen exemplarischen Ausschnitt dar und erhebt keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit. Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="266"?> Carolin Patzelt 252 - Gemeinsamkeiten mit dem Gallego-Portugués, z.B.: Gebrauch des Auxiliars teñer für zusammengesetzte Tempora, Relativpronomen cuais/ quen (quien, quienes), Reduktion der Geminaten -llzu -l-, Ausfall intervokalischen -l- und -netc. - Gemeinsamkeiten mit dem westlichen Asturleonesischen: Häufigkeit der Diphthonge ei und oi, Ausfall des intervokalischen -d- (boiga = bodega), auslautendes -iim Imperativ (eitai) etc. - Gemeinsamkeiten mit dem westlichen Asturleonesischen UND dem Gallego-Portugués: Genusdifferenzierung bei Possessivpronomen und Numeralia (sei/ sua, dois/ duas), Lautkombination lj wird zu -ll- (concellu, muller) etc. - eigenen Charakteristika: Personalpronomina ei / elis, Possessivpronomen auf -ei (mei, sei, tei) etc. [vgl. Viudas Camarasa 1982, 71] Hinzu kommt, dass die Übergangsvarietäten ihrerseits wiederum zahlreiche Subdialekte ausbilden: Das Extremeño beispielsweise wird nicht nur in die drei Varietäten Altoextremeño, Medioextremeño und Bajoextremeño unterteilt, sondern diese splitten sich ebenfalls in zahlreiche Subvarietäten auf, darunter die Habla del Rebollar 10 (vgl. hierzu Iglesias Ovejero 1982), das Altoextremeño hurdano (vgl. Requejo Vicente 1977), das Altoextremeño serragatino (Marcos 1996, de Sande Bustamante 1997), das Chinato (Catalán 1954) oder das Altoextremeño meridional (Montero Curiel 1997). Die Art der sprachlichen Einordnung hängt dabei maßgeblich von der jeweiligen Subvarietät ab. So wird das Altoextremeño z.B. als ‚habla de transición’ zwischen dem Asturleonesischen und dem Kastilischen betrachtet - mit asturleonesischer Basis -, während die beiden anderen Varietäten des Extremeño in der Regel als Übergangsvarietäten zwischen dem Kastilischen und dem Leonesischen - mit kastilischer Basis - beschrieben werden (vgl. Viudas Camarasa 1976). Auch im Falle der Fala herrscht bis heute große Uneinigkeit über die sprachliche Zusammensetzung der Varietät und somit auch über die Grundlage einer möglichen Normierung. Gingen die ersten Untersuchungen noch von einem Dialekt des Portugiesischen aus, so gibt es inzwischen sehr unterschiedliche Klassifikationen: Clarinda de Azevedo Maia (1977) etwa geht von einem alten galicisch-portugiesischen Dialekt mit Leonesismen aus; Gargallo Gil (1996) von einem dritten Sprachzweig, der neben dem Portugiesischen und Galicischen aus dem Gallego-Portugués hervorgegangen sei, Martín Durán (1999) spricht von einem leonesischen Subdialekt und Viudas Camarasa (1982) von einem Übergangsdialekt. Darüber hinaus ist nach wie vor umstritten, ob nun das Portugiesische, das Galicische 10 In der Provinz Salamanca gesprochen und dort auch als ‚palra’ bekannt. <?page no="267"?> 253 oder das Valverdeiru als Subdialekt mit der höchsten Sprecherzahl die Grundlage für eine zu etablierende Norm bilden sollen. Dass die Hybridität der hablas de transición bei einer Kodifizierung nicht einfach außer Acht gelassen werden darf, zeigt u.a. eine soziolinguistische Umfrage der Academia Asturiana (vgl. Academia de la Llingua Asturiana 2006): Der Großteil der Bevölkerung sieht sich demnach zwar als Asturier, nicht als Galicier, gleichzeitig aber beschreiben die meisten Sprecher ihre Varietät weder als Asturisch noch als Galicisch, sondern als Mischvarietät („a fala”), und auf diese sind sie nach eigenen Angaben sehr stolz. Bei einer Kodifizierung ist dieser hybride Charakter also auf jeden Fall zu berücksichtigen, wenn die zu etablierende Norm auf breite Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung stoßen soll. Die Situation verkompliziert sich allerdings dadurch weiter, dass sich in der dialektalen Übergangszone von Westen nach Osten unterschiedliche Isoglossen verzweigen (vgl. hierzu Penny 2007) und dadurch zwischen den Dialektgruppen des Galicischen, Asturleonesischen und Kastilischen häufig keine klare Grenzziehung möglich ist. Diskussionen, welche Bestandteile der hablas de transición welcher Basis zuzuschreiben und entsprechend zu kodifizieren sind, sind dadurch natürlich Tür und Tor geöffnet. Vor diesem Hintergrund drängen sich verschiedene Fragen auf: Von wem stammen vorhandene Kodifizierungsvorschläge? Wie gehen diese mit den zahlreichen Subdialekten der hablas um? Wird sich an bereits kodifizierten Nachbarvarietäten bzw. Regionalsprachen wie dem Asturischen orientiert? Welche Argumente werden für oder gegen die Aufnahme bestimmter sprachlicher Elemente in einen Kodifizierungsvorschlag vorgebracht? Die Frage nach dem Verhältnis zu Nachbarvarietäten ist deshalb eine zentrale, weil die bereits kodifizierten Varietäten für die hablas de transición nur sehr bedingt als Vergleichsbasis brauchbar sind: So steht beispielsweise für das Eonaviego auf asturischer Seite nur das Zentralasturische als kodifizierte Vergleichsvarietät zur Verfügung - relevant ist hier aber gerade nicht ein Vergleich mit dem Zentral-, sondern mit dem Westasturischen als unmittelbarer Nachbarvarietät. Die Voraussetzungen für eine Kodifizierung erweisen sich somit als doppelt schwierig: Zum einen gilt es, sich von vielen verschiedenen, häufig allenfalls ausschnittartig dokumentierten Nachbarvarietäten abzugrenzen, um eine eigenständige sprachliche Identität zu sichern. Gleichzeitig aber muss auch auf der Grundlage zahlreicher Dialektgruppen eine für alle verbindliche Basisnorm gefunden werden. Neben diesen Überlegungen auf der ‚Makroebene’ gilt es auch auf der ‚Mikroebene’ zwischen mehreren richtungsweisenden Optionen abzuwägen: Mit welchen Mitteln will man innerhalb des aufgezeigten Spannungsfeldes eine sich durchsetzende Kodifizierung etablieren? Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="268"?> Carolin Patzelt 254 Angesichts der Vielzahl vorhandener Subdialekte sind hier prinzipiell zwei Möglichkeiten denkbar: a) Man zielt auf Vereinheitlichung ab, indem beispielsweise Phoneme unterschiedlicher Varietäten unter ein Graphem subsumiert werden. Das sorgt für Übersichtlichkeit und erleichtert den Sprechern prinzipiell den Zugang zur Kodifizierung, birgt gleichzeitig jedoch die Gefahr, dass Sprecher Charakteristika ihres eigenen Subdialektes vermissen und sich mit der Kodifizierung nicht identifizieren können. b) Alternativ kann die Vielzahl vorhandener Subdialekte bewusst integriert werden, was einerseits sicherstellt, dass sich keine Sprechergruppe übergangen fühlt, andererseits aber auch bedeutet, dass mit sehr heterogenem sprachlichen Material gearbeitet werden muss, bei dem die Übersichtlichkeit unter der Variation leidet. Regionen, die sich für einen derartigen Kodifizierungsansatz entscheiden, können diesen wiederum auf dreierlei Weise umsetzen: 1.) durch eine Mischung aus verschiedenen Subdialekten, 2.) durch Auswahl des Subdialekts mit der größten Sprecherzahl als Basis, 3.) durch Auswahl des Subdialekts mit dem größten Abstand vom Kastilischen als Basis. Die Art des jeweils gewählten Kodifizierungsansatzes und damit verbundene Chancen und Probleme sollen im Folgenden anhand der genannten hablas de transición untersucht werden. 3. Der Fall des Extremeño 3.1. Soziolinguistischer Hintergrund der Kodifizierungsansätze Die Extremadura war bekanntlich schon immer von vielfältigen Sprachkontakten gekennzeichnet. Gegen Ende der Reconquista wurde der Westen vom Königreich León, der Osten von Kastilien wiederbesiedelt; auf dialektaler Ebene weist der Süden gemeinsame Merkmale mit dem Andalusischen auf, wogegen der Osten überwiegend kastilisch, der Westen wiederum leonesisch geprägt ist. Hinzu kommt noch portugiesischer Einfluss. Das Kastilische ist Muttersprache von weniger als 80% der Bevölkerung, wird aber von praktisch jedem beherrscht, da es als offizielle Landessprache ein höheres Prestige genießt und im öffentlichen Bereich verwendet wird [vgl. http: / / www.proel.org/ index.php? pagina=lenguas/ extremeno]. Nicht zuletzt durch den Einfluss der Universität Salamanca im Norden und der wirtschaftlichen Bedeutung von Badajoz im Süden wurde die Extremadura im Zuge der Reconquista sehr schnell kastilianisiert, das Extremeño wurde infolgedessen zur Verkehrssprache der Ungebildeten herabgestuft. Es entwickelte sich eine klare Diglossiesituation, in der das Extremeño lange Zeit dem mündlichen, informellen Bereich vorbehalten blieb. Ab dem <?page no="269"?> 255 15. Jh. gehörte die Extremadura zunächst zur Provinz Salamanca, erst 1983 wurde die heutige Comunidad Autónoma gegründet. Dies wiederum hatte natürlich sprachliche Auswirkungen: Erst Ende des 19. Jh. gab es durch den Poeten Gabriel y Galán wieder schriftliches Extremeño, das allerdings sehr nah an die kastilische Norm angelehnt war, d.h. das Extremeño in seiner ursprünglichen Form blieb auch weiterhin der Mündlichkeit vorbehalten. Bis heute gibt es seitens der Regierung keinerlei Interesse an einer Normalisierung des Extremeño, dessen Anerkennung als eigenständige Sprache - denn als solche wird es bei der UNESCO offiziell geführt - in der Extremadura selbst offenbar umstritten ist: „Para algunos esta modalidad lingüística es un dialecto, para otros un habla de tránsito y para otros una lengua (...).” (www.extremaduraprogresista.com) Von offizieller Seite überwiegt seit jeher die Behandlung als Dialekt, seit 1983 entstandene Initiativen zur Normalisierung wurden konsequent abgeschmettert. 11 Maßnahmen zum Erhalt des Extremeño kommen folglich aus dem Volk, und hier vor allem aus von Philologen und Professoren initiierten Vereinigungen. Eine wichtige Gesellschaft ist etwa die APLEx (Asociación Cultural „Estudio y Divulgación del Patrimonio Lingüístico Extremeño”), die unter dem Slogan „No pierdas su herencia, es parte de ti” seit 2003 die Sprache und Kultur Extremaduras zu befördern versucht. Angeführt wird diese Initiative v.a. von Antonio Viudas Camarasa, einem Professor der Filología Hispánica in Cáceres, auf den sich in der Debatte um die Zukunft des Extremeño allgemein häufig berufen wird. Camarasa war es auch, der 2005 das Projekt des „Mapa interactivo del patrimonio lingüístico extremeño” ins Leben rief. Über das Projekt heißt es auf der Homepage der APLEx: El proyecto de investigación denominado Archivo Sonoro de las Hablas Extremeñas (ASHE) surge de la necesidad de recopilar muestras del habla rural de Extremadura para perpetuarlas en el tiempo y ponerlas a disposición de los investigadores que deseen profundizar en el conocimiento de las peculiaridades dialectales de la región. [www.aplexextremadura.com] Der kursiv gesetzte Teil 12 dieser Ankündigung verdeutlicht, dass das Interesse des Projekts vor allem ein wissenschaftliches ist; die Dokumentation des Extremeño rural dient weniger seinem aktiven Erhalt in der Region als den Forschungszwecken von Linguisten. Die APLEx appelliert im Zuge ihrer Arbeit häufig und offen an ‚Hilfe von außen’ bzw. das Interesse aus- 11 Als Zugeständnis an die Bürger, die hartnäckig den Erhalt des sprachlichen Erbes der Region forderten, wurde zwischenzeitlich lediglich die Erhebung südkastilischer Dialekte (! ) zu ko-offiziellen Sprachen vorgeschlagen. 12 Kursivsetzung hier und in allen weiteren Beispielzitaten, soweit nicht anders angegeben, C.P. Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="270"?> Carolin Patzelt 256 wärtiger, vor allem auch ausländischer Dialektologen, um das Extremeño zu erhalten. Zu diesem Zweck werden wissenschaftliche Tagungen zum Extremeño veranstaltet; es ist auch regelmäßig in den lokalen Medien präsent. In einem Interview definierte Viudas Camarasa die Bedeutung des ‚patrimonio lingüístico’ und die damit verbundenen Ziele der APLEx wie folgt: [el patrimonio lingüístico] consiste en las lenguas que se hablan en Extremadura. El portugués […], la fala, del valle de Xálima y luego las variedades regionales del extremeño: el altoextremeño y el bajoextremeño y además el español de España que es el español de Extremadura, con el que usted escribe. [...] unidad en la diversidad, pero la diversidad de dos lenguas en territorio extremeño. [http: / / www.dialectus.com/ realacademiadeextremadura/ diario/ 20040401] Es geht der APLEx also nicht um die Durchsetzung einer puristischen Norm, sondern in erster Linie um den Erhalt der Vielfalt lokaler Varietäten, die allerdings eher deskriptiv erfasst und nicht künstlich normalisiert werden sollen, wie Viudas Camarasa ebenfalls deutlich macht: (…) cuando esa habla familiar en Acehuche se transforma en escritura se genera el escándalo. Escándolo ninguno. Están ejerciendo un derecho de la modalidad lingüística de Acehuche, de Pozuelo de Zarzón o de donde sea. […] la falta de conciencia, buena conciencia lingüística de los extremeños ha hecho que muchas variedades se hayan perdido prácticamente. Hay por ejemplo el chinato de Malpartida de Plasencia que está extinguido, cuando realmente en los años cuarenta cincuenta allí existía un dialecto. Pero si su población ha decidido perderlo nosotros no vamos a querer recuperar nada. [http: / / www.dialectus.com/ realacademiadeextremadura/ diario/ 20040401] Der Wunsch nach Aufwertung und Erhalt des Extremeño muss demnach aus dem Volk kommen, die APLEx versteht sich nicht als Motor, sondern lediglich als unterstützende Instanz bei der Umsetzung der Sprecherinteressen. Auch wenn sie häufig als normalisierende und revitalisierende Instanz für den Erhalt des Extremeño genannt wird, wird bei näherem Hinsehen deutlich, dass die APLEx eigentlich vor allem dokumentierende Arbeit leistet und nicht sprachpolitisch aktiv ist. Die Dominanz der deskriptiven Komponente zeigt sich auch in den zum Extremeño vorhandenen Kodifizierungsvorschlägen. Im Vorwort der 2009 erschienenen Morfología extremeña von Carmona García heißt es z.B.: „Y sin más intención que la de dar a conocer al público interesado la gramática del extremeño para su estudio y consulta.” (Carmona García 2009, 8) Obwohl es an Normierungsversuchen nicht fehlt - mittlerweile existieren verschiedene Orthographien, Grammatiken, eine <?page no="271"?> 257 Morphologie und mehrere Wörterbücher 13 -, finden diese unter den Sprechern nur eingeschränkte Akzeptanz, da sie nicht von offizieller Stelle kommen. Im Diskussionsforum ‚El estremeñu, idioma atarugá’ (www.alkonetara.org/ node/ 11412) etwa äußert sich ein Sprecher wie folgt: (1) […] ¿donde tenemos nosotros una Institución oficial u oficiosa que sea sobradamente reconocida que se preocupe de estos menesteres? [...] ¿Quién no nos dice que mañana no surge otro ente o entidad y nos coloca otra gramática diciendo que es la buena? (CAT, 20 Diciembre 2007 - 20: 46) Als Grundlage für eine erfolgreiche Normierung und Normalisierung fehlt es dem Extremeño also vor allem an gezielt und von offizieller Stelle operierenden Instanzen, die als präskriptive Autorität fungieren und es im offiziellen Bereich vorantreiben. 14 3.2. Richtung und Problematik der Kodifizierungsansätze Im Folgenden soll am Beispiel der Gramática estremeña von Carlos Quiles (2004b) untersucht werden, welche konkrete Richtung die Kodifizierungsansätze bzgl. des Extremeño verfolgen. Schon im Vorwort zur Grammatik wird deutlich, dass ein zentrales Ziel die Abgrenzung vom Kastilischen ist. Explizit heißt es diesbezüglich zur Ausrichtung der Grammatik: „[cuyu] ohetivu é la cunservación y la conocencia de tolus rahus que lu diferencian del castillanu.”(Quiles 2004b, 2) Getreu diesem Motto favorisiert die Grammatik ältere Sprachzustände und beruft sich dabei vor allem auf das leonesische Erbe sowie die Nähe zur asturleonesischen Sprachgruppe als Grundlage des Extremeño. Konkret heißt es zu dessen Kodifizierungsgrundlage: „Deseábamus utilizal una palra ocidental, cercana a l´asturleonés, imprenná de castillanu antigu y meridiunal y de purtugués (…).” (Quiles 2004b, 2) Obwohl die Basis des Kodifizierungsvorschlags also keine homogene ist, ist die Orientierung am Asturleonesischen unübersehbar, wie beispielsweise folgender Kommentar zur Orthographie deutlich macht: Preferimus mantenel nel estremeñu ascritu la mayoría de las des ente palabra, si bien ciertas terminacionis nu se hazin enhamás nel astur-leonés cola de, y polu tantu tampocu s´escribin n´estremeñu. (Quiles 2004b, 4) 13 Die meisten davon sind online verfügbar, wie z.B. der Brevi Izionariu Castillano- Estremeñu von Carlos Quiles (2004a) oder der Diccionario Castellano-Extremeño von Ismael Carmona García (2007). 14 Im Jahr 2011 wurde der Órgano de seguimiento y coordinación del extremeño y su cultura (OSCEC) gegründet. Ziel dieser Vereinigung ist die Normalisierung des Extremeño - es bleibt also abzuwarten, ob sich hier entscheidende Impulse zum Erhalt des Extremeño ergeben. Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="272"?> Carolin Patzelt 258 Als Vergleichsbasis für die Kodifizierung des Extremeño dient also nicht in erster Linie das Kastilische, sondern das Asturleonesische. Es hat den Anschein, dass Letzteres hier gezielt als Gegengewicht zum Kastilischen inszeniert und das Extremeño dem Asturleonesischen angegliedert werden soll. Dieser Eindruck erhärtet sich in zahlreichen Passagen der Grammatik, z.B. wenn es heißt: El mantenimientu de la eñi ena pronunciación de ciertas palabras enas qu´el castillanu tiei una ‘n’ u una ‘m’ é un rahu el leonés antigu qu´aún pervivi´n cierta midía nel estremeñu. (Quiles 2004b, 6) Angesichts der Vielfalt existierender Subdialekte des Extremeño scheint Quiles die Notwendigkeit des Verzichts auf prägnante Merkmale einzelner Dialekte sehr wohl bewusst zu sein. Bereits im Vorwort rechtfertigt er daher das Projekt einer vereinheitlichenden Grammatik damit, dass das Extremeño sehr rückläufig und nur durch vereinte Kräfte zu retten sei, d.h. er beschwört das Motto ‚gemeinsam gegen die Verdrängung durchs Kastilische’. In der Grammatik liest sich das folgendermaßen: Tolas uñificacionis estropean siempri una variá lingüística rica. A pesal dellu, por nu vel dessapaecel la nuestra palra, qu´oi se cunserva solo ´n pequeñus restus (...), creamus esta gramática pa los que, comu nusotrus, quiein aún sentil palral assina. (Quiles 2004b, 1) Um den Sprechern die sprachliche Eigenständigkeit des Extremeño zu verdeutlichen, ist in der Grammatik immer wieder die Rede von „carahterísticas propias que lu separan del asturianu y del castillanu.” (Quiles 2004b, 9) Unklar bleibt allerdings, welche „carahterísticas propias” die Grammatik denn konkret aufnehmen soll, denn explizit heißt es hier, man orientiere sich weder an der am häufigsten gesprochenen Varietät (der meridionalen), noch sollten sämtliche existierende Subdialekte des Extremeño berücksichtigt werden: „No tuvimus en cuenta la palra de tolus estremeñus, nin nus decantamus polas palras mayoritarias (las sureñas).” (Quiles 2004b, 1) Mit anderen Worten soll zwar eine Auswahl getroffen werden, diese sich jedoch nicht auf eine einzige Varietät als Kodifizierungsgrundlage beschränken. Tatsächlich entpuppt sich die konzeptionelle Ausrichtung bei näherer Betrachtung der Grammatik als wenig stringent. So werden etwa vom Kastilischen abweichende Strukturen häufig sprachhistorisch erläutert: Nel estremeñu pervivi cun gran intensiá l´antigu genitivu partitivu latinu: una poca d´agua… (Quiles 2004b, 17) Dies und die im Vorwort proklamierte Annäherung an altleonesische Sprachstände werden jedoch nicht konstant durchgehalten. Stattdessen ver- <?page no="273"?> 259 fällt Quiles immer wieder in eine Mischung aus traditionsbewusstpräskriptiven und quantitativ begründeten deskriptiven Merkmalen, etwa wenn es über zusammengesetzte Verbformen im Indikativ heißt: „L´estremeñu toma abondo aussiliaris comu dil o tenel, comu es tradicional, peru tamién usa con frecuencia l´aussilial típicu castillanu abel.” (Quiles 2004b, 33) Letztlich wird hier keine präskriptive Norm präsentiert; unter den Subdialekten des Extremeño wird keine systematische Auswahl getroffen, wie etwa folgender Kommentar zur Vokalrepräsentation zeigt: „En cualisquiel casu nu representamus las distintas vocalis ena escritura, sinon que ca lehtol lu pronunciará comu lu haga abitualmenti o comu creya oportunu.” (Quiles 2004b, 6) Es erhärtet sich der Eindruck, dass durch die Grammatik die Sprecher weniger auf eine puristische Norm festgelegt, als vielmehr für Besonderheiten der eigenen Varietät - einmal mehr in Abgrenzung zum Kastilischen - sensibilisiert werden sollen. Zu diesem Zweck werden Abweichungen vom kastilischen System in der Regel kontrastiv erläutert, wie etwa im Falle des H ASTUR, zu dem es heißt: „La razón de que se usi ésta en vezi de la tradicional -h é que ésta ya tiei otru valol n´estremeñu (…).” (Quiles 2004b, 4) Die Adressatengruppe der Grammatik wird im Vorwort eingegrenzt auf „tolus que buscan uniá nesta forma de palral.” Die Sprecher selbst müssen also Interesse an einer Kodifizierung des Extremeño haben, von ihnen soll der Anstoß jedweder Normierungs- und Normalisierungsbestrebungen ausgehen. Und tatsächlich wird dieses Thema in diversen Internetforen 15 intensiv diskutiert. Dabei zeigt sich, dass sowohl eine Assimilation an bereits kodifizierte Varietäten, als auch vor allem die Bedrohung durch das Kastilische tatsächlich eine große Angst in der Bevölkerung darzustellen scheinen, wie etwa folgende Aussage zeigt: (2) Habrá que unifical. ¿Peru a vel si al final acabamus hablandu el bable, o el gallegu, o quizá el ladinu? . [evaristo, 15 Diciembre 2007 - 01: 28] Eine einheitliche Norm wird scheinbar grundsätzlich begrüßt, geht aber einher mit der Angst vor Konvergenzprozessen, die in der Assimilation an eine bereits kodifizierte Sprache gipfeln könnten. Der notwendige Abstand von solchen Sprachen wird dabei in der Regel am Lexikon festgemacht, wie folgender Beitrag zeigt: (3) [...] podemos encontrar despertador como dispeltadol en nuestra "palra". [...] En el caso del catalán, yo recuerdo allá por los años 80 había quien decía que era un simple dialecto del castellano por tener palabras como ele- 15 Die im Folgenden zitierten Aussagen stammen, soweit nicht anders angegeben, aus dem Forum ‚El estremeñu, idioma atarugá’ (http: / / alkonetara.org/ node/ 11412). Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="274"?> Carolin Patzelt 260 fant=elefante, gat=gato, meló=melón, bastó=bastón, avió=avión. Y como ves para nada es un dialecto como muchos lo entendían , aunque si un dialecto del latín, eso si lo es, igual que nuestra palra, igual que el gallego, el bable, el castellano, etc. (balbanchu, 22 Diciembre 2007 - 21: 16) Dass der Abstand zum Kastilischen ein großes Thema in der Bevölkerung ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass für die Sprecher die Kriterien für eine zu etablierende Basisnorm relativ klar zu sein scheinen. Sie soll vor allem großen Abstand vom Kastilischen haben, wie etwa folgender Forenbeitrag deutlich macht: (4) Pal estremeñu, qué varianti sedria la comenienti apuchal? Está craru que sedria el artu-stremeñu, pol sel la varianti dialeutal con mas rahus astulionesis, en otru sintiu, la menus castellanizá. (Fraili, 5 Diciembre 2007 - 08: 26) Das klingt zunächst einmal danach, als ob die auf Abgrenzung vom Kastilischen bedachte Quiles-Grammatik den Bedürfnissen der Sprecher Rechnung tragen und regen Zuspruch erfahren müsste. Es ergeben sich aber zwei zentrale Probleme, die eine breitere Akzeptanz der hier vorgeschlagenen Kodifizierungsbasis verhindern: 1.) Generell wird eine Normierung durch Philologen, Dialektologen und vor allem ‚Außenstehende’ von den Sprechern überwiegend kritisch gesehen, wie etwa folgende Äußerung im Forum verdeutlicht: (5) Tolos que tocan el estremeñu son dialeutulogus nuevus que ven la muestra palra cola emoción dun arqueulogu ena hallaura dun cachinu e vasiha, i. e., dendi un longol própiu dun meicu con el su pacienti. Cuántus cumu falantis nativus án tiniu riañus pa izil: "Chacho, hagamus gramática"? (Fraili, 9 Diciembre 2007 - 19 : 26) Den Verantwortlichen wird fehlende emotionale Bindung zum Extremeño vorgeworfen, die Planung einer präskriptiven Norm wird daher als künstlich erzwungen betrachtet. 2.) Speziell auf Quiles (2004b) bezogen, führen zudem die Berücksichtigung verschiedener Dialektgruppen sowie Vergleiche mit benachbarten Varietäten zu Konflikten: Der Versuch, den hybriden Charakter des Extremeño in einer Kodifizierung widerzuspiegeln, führt zu einer Fülle von Erläuterungen, warum eine bestimmte Auswahl sprachlicher Charakteristika getroffen wurde, wie verbreitet diese innerhalb verschiedener Dialektgruppen sind und welche Varietäten sich in welcher Hinsicht ähneln. Dieses Vorgehen sorgt für ein bisweilen unübersichtliches Sammelsurium an aufgeführten Merkmalen und macht deutlich, wie schwierig sich die Suche nach einer klaren Kodifizierungsbasis in den hablas gestaltet. Der folgende Aus- <?page no="275"?> 261 schnitt aus der Gramática cántabru-estremeña (Quiles 2006), in dem variationsspezifische Anmerkungen fett unterlegt sind, verdeutlicht das Dilemma: Amás d'enos ahetivus (rahu que sólu dassi nel cántabru), el neutru de materia puei escuchassi tamién nel estremeñu (y nel asturianuleonés lindanti cul cántabru) d'una horma más sutil, por mé los pronombris, aquellas paravras qui tan 'por el nombri', en sustituyéndulu). L'estremeñu sirragatinu (la variá más cunsirvaora de l'estremeñu), á diferencia del leonés cercanu á la frontera del cántabru, sólu mantién el neutru enos pronombris: […]. (Quiles 2006, 22) Zum Vergleich: Die von der Academia Asturiana herausgegebene Grammatik des Asturischen (Academia de la Llingua Asturiana 2001) weist kaum explizite Hinweise auf unterschiedliche Varietäten auf, da hier das Zentralasturische bereits als Norm etabliert ist. Im Falle des Extremeño dagegen wird ein buntes Gemisch an Dialektgruppen präsentiert, innerhalb dessen für die Sprecher häufig nicht mehr erkennbar ist, inwiefern es sich um ein allgemein gebräuchliches, nur in einem bestimmten Subdialekt gebräuchliches oder gar ein von Dialektologen erfundenes Merkmal zur Vereinheitlichung handelt. In den betrachteten Foren äußert sich diese Unsicherheit etwa so: (6) [...] una vez escriben Extremadura con X y al reglon siguiente con S, si cuando fuera de mi tierra he reconocido a un ehtremeño ha sido precisamente porque ahpiramos lah S y lah X. [...] Insisto si por las prisas de darnos un diccionario y una ortografia se van a inventar palabras a diestro y siniestro en detrimento de nuestras palabras autenticas no me parece serio. (Dotoljoskin, 23 Diciembre 2007 - 00 : 22) Weitaus seltener sind dagegen Beiträge wie der folgende, in dem der Verfasser nicht nur Kenntnis von, sondern auch eine gewisse Sympathie gegenüber den vielfältigen existierenden Subdialekten zeigt: (7) [...] cada palabra que se escribe, es utilizada o muy utilizada en algun pueblo de la alta extremadura. Baste poner el ejemplo de la palabra charco, para nosotros "chalcu" y para Navas del madroño "chavarcón". Para ellos "chalcu" puede ser inventada y para nosotros lo mismo con "chavarcón", sin embargo ninguno de los dos tendríamos razon, pues las dos existen, se utilizan, y son palabras que llenan el global del alto extremeño. (balbanchu, 23 Diciembre 2007 - 01: 50) Insgesamt betrachtet suggerieren die Forenbeiträge, dass Bestrebungen, im Rahmen einer Kodifizierung möglichst alle bekannten Subdialekte zu berücksichtigen, bei den Sprechern Misstrauen wecken. Man befürchtet, dass durch Kodifikation ‚von außen’ Grapheme um ihrer selbst willen erfunden Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="276"?> Carolin Patzelt 262 und die Sprache entfremdet werden könnte, ohne dass die Sprecher dies bemerken, denn bei der Vielzahl berücksichtigter Subdialekte ist nicht immer nachvollziehbar, inwieweit es sich um ein tatsächlich existierendes oder erfundenes Merkmal handelt. 3.3. Die Grammatik des Cántabro (Quiles 2006) Ähnlich wie in der Extremadura liegen auch in Kantabrien zwar einzelne Vorschläge zur Kodifizierung des Cántabro vor, Ansätze einer systematischen Normalisierung dagegen sind praktisch nicht vorhanden. Um die Kodifizierung des Cántabro kümmern sich kurioserweise zum Teil dieselben Personen, die auch die Kodifizierung des Extremeño voranzutreiben versuchen. Eine dieser Personen ist Carlos Quiles, der 2006 die bereits zitierte, im Internet kostenlos herunterladbare Gramática cántabru-estremeña veröffentlichte. Als Ziel dieser Grammatik gibt Quiles aus, das Cántabro als eigenständige Varietät neben dem Kastilischen und Asturleonesischen zu etablieren. So heißt es in der Grammatik explizit über deren Ansatz: (…) toma´l cántabru-estremeñu cumu variá propia y diferenciá del castillanu y de l´asturianu-leonés (…) rilacionáu peru cun regras diversas di las d´aquéllus. (Quiles 2006, 2) Als Vorbild der Kodifizierung dienen dabei laut Vorwort der Grammatik vor allem die bereits erfolgreich kodifizierten Regionalsprachen Mirandesisch und Asturisch, die im Laufe der Grammatik auch immer wieder zum Vergleich herangezogen werden. Wie bei der Gramática Extremeña spielt auch hier die quantitative Verwendung sprachlicher Charakteristika eine entscheidende Rolle für deren Aufnahme in die Grammatik. Die allen oder zumindest den meisten Dialekten des Cántabro gemeinsamen Merkmale sollen nach Quiles den Grundstein einer entsprechenden Kodifizierung bilden. So soll offenbar sichergestellt werden, dass sich kein Sprecher eines bestimmten Subdialekts benachteiligt fühlt, eine mögliche Zersplitterung in lokale ‚Minidialekte’ soll unbedingt vermieden werden. 16 Zu diesem Zweck werden explizit die gemeinsamen Wurzeln des ‚cántabru-estremeñu’ plus benachbarter Varietäten im Asturleonesischen beschworen, etwa in folgendem Abschnitt: […] una derivación dun troncu común asturleonés (ó asturcántabru) antigu - del qu´avríen surdíu tres dialeutus principalis autualis: l‘asturleonés uciden- 16 Wörtlich plädiert Quiles dafür, „evitandu las especificiais regionalis qui diferencian ca havla.” (Quiles 2006, 2) <?page no="277"?> 263 tal ú „llïonés”, l´asturleonés central ú asturianu, y l´asturleonés oriental ó cántabru-estremeñu […]. (Quiles 2006, 7) Dieser Ausschnitt stärkt zum einen den asturleonesischen Sprachzweig als Gegengewicht zum Kastilischen. 17 Er zeigt allerdings auch auf, dass parallel zum gemeinsamen Ursprung im alten Asturleonesisch das Cántabruestremeñu als vom Asturischen und Leonesischen abzugrenzende, eigenständige Varietät betrachtet werden soll. Die Darstellung oszilliert also zwischen der Betonung der Eigenständigkeit des Cántabro einerseits und der Einbettung in den ‚schützenden’ Kontext des Asturleonesischen andererseits, das der kleinen Übergangsvarietät offenbar den Rücken stärken soll im Kampf gegen eine Ablösung durch das Kastilische. In diesem Zusammenhang wird auch die Schreibweise in literarischen Texten Kantabriens und der Extremadura kritisiert und auf die dort offenbar zunehmende Kastilianisierung aufmerksam gemacht: Vien siendu tradición enos escritus (essencialmenti poéticus regionalis), tantu cántabrus cumu estremeñus, l´usu de la j castillana pa ripresentá-las aspiracionis, jacer/ jadel, jierru, jigu, etc., pussivlementi pa nu aparentar rutura cul castillanu. Dellus escritoris, especialmenti n´Estremadura, optarun pur una grafía más fonética, n´escrivendu tolas aspiracionis cumu « h », seyan de la s, de la / x/ , de la g, de la f latina ó cualisquier otru suníu camuáu d´antigu. (Quiles 2006, 3) Deutlich zu beobachten ist in der Grammatik ein permanentes Spiel mit Assimilation und Abstand. Mal ist in der Gramática vom Cántabro-extremeño die Rede, dann wiederum nur vom Cántabro in Abgrenzung zum Extremeño: En cántabru-estremeñu (…) los sustantivus puein presentar el llamáu neutru de materia. Ésti é un rahu que cumparti´l cántabru cul asturianu ó asturianuleonés central y oriental, peru no cul leonés ú asturianu-leonés ucidental. Anque nel estremeñu y ne leonés nu se dé esti fenómenu´n tola su entiá cumu agora veremus, nel estremeñu sirragatinu (…). (Quiles 2006, 20) Da die Beschreibung des Cántabro permanent zwischen Assimilation ans und Abgrenzung vom Extremeño oszilliert, finden die Sprecher keine stringente Orientierung zur Klassifikation beider Varietäten. Das Thema Abstand ist jedoch ein ganz zentrales in den Internetforen; so schreibt z.B. ‚Llobetu’ im ‚Foru Cantabria’: 17 Kastilianismen werden, ähnlich wie in der Grammatik des Extremeño, rigoros abgelehnt. So schlägt Quiles (2006, 3) etwa vor, das <j> im Cántabro systematisch als <h> zu realisieren, da das <j> aus dem Kastilischen stamme und im Cántabro „nin tradicional nin apropiáu” erscheine. Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="278"?> Carolin Patzelt 264 (8) La verdá es que aunque l'estremeñu se paezca al cántabru por escritu, parlau cambia bastanti pues el acentu estremeñu es bien distintu del cántabru. (Llobetu, 16 Enero 2009 - 10: 59) Während einige User für die Existenz zweier eigenständiger Varietäten plädieren, relativiert z.B. ‘Arquetu’ die sprachlichen Unterschiede zwischen Cántabro und Extremeño und hält beides ‚für dasselbe’: (9) No es que haya similitud, es que es lo mismo. Porque tienen acento de por allí sino diría que es el lenguaje cántabro. (Arquetu, 16 Enero 2009 - 11: 52) Ausschlaggebend für die von den Usern vorgenommenen Klassifikationen sind dabei aktuelle dialektale Variationen, vor allem im phonetischen und lexikalischen Bereich. Die in den kodifizierenden Werken so zentralen sprachhistorischen Argumentationen dagegen finden wenig Zuspruch: (10) Ahí teníais a Carlos Quiles con su "cántabro-extremeño" (algo esperpéntico, pero en fin) o su curiosa teoría de que cántabro y extremeño forman una especie de tronco "leonés oriental" o "cántabro-extremeño" [...]. (Sigurón, 16 Enero 2009 - 11: 40) 4. Der Fall des Eonaviego 4.1. Sprachpolitischer Hintergrund der Kodifizierungsansätze Während in der Extremadura die fehlende Unterstützung offizieller Institutionen einen zentralen Problempunkt darstellt, sind die Voraussetzungen im galicisch-asturischen Grenzgebiet andere, denn das Eonaviego ist die Varietät mit der meisten institutionellen Aufmerksamkeit unter den hablas de transición. Es ist als einzige der hablas de transición in einem Normalisierungsplan verankert (Plan para la normalización social del asturiano 2005-2007). Bereits 1998 war zudem ein entsprechender Passus ins Autonomiestatut aufgenommen worden. In Ley 1/ 98, §2 heißt es bezüglich einer Normalisierung des Eonaviego: „El réxime de protección, respetu, tutela y desenvolvimentu establecíu nesta Llei pal bable (...) ha estendese (...) al gallego-asturianu nes zones onde tien calter de modalidá llingüística propia.” (http: / / www.asturias.es/ Asturias/ descargas/ imagen_institucional/ estatuto.pdf) Das asturianische Autonomiestatut stellt allerdings in Paragraph 10.1.21 auch klar, welcher Status dem Eonaviego zugewiesen wird, nämlich der einer <?page no="279"?> 265 ‚modalidad lingüística’. 18 Somit steht diese Varietät nicht mit dem Asturischen als Regionalsprache auf einer Stufe. Hinzu kommt, dass die Formulierungen im Plan de Normalización teilweise recht vage und undifferenziert sind. Unter ‚Política lingüística municipal’ wird beispielsweise das Ziel ausgegeben: „Potenciar en el ámbito municipal estudios en o sobre el asturiano y el gallego-asturiano.” (http: / / www.asturnews.com/ publicidad/ plan_ normalizacion.pdf) - Dass zwischen ‚estudios en’ und ‚estudios sobre’ ein beträchtlicher Unterschied besteht, wird dabei offenbar ausgeblendet. Auch die finanzielle Unterstützung für eine Normalisierung des Eonaviego ist deutlich rückläufig, wie beispielsweise folgender Ausschnitt aus einem Zeitungsbericht über die Subventionen für das Jahr 2012 verdeutlicht: A Conseyeiría de Cultura y Deporte publicóu nel BOPA del xoves 24 de mayo a convocatoria conxunta de subvencióis prá normalización social del asturiano y el galego-asturiano pral 2012, con un importe total de 245.600 euros, el que supón 316.000 euros menos que nas del ano anterior. […] A partida máis recortada é a dos medios de comunicación: 160.000 euros, en comparanza colos 373.500 euros da convocatoria del 2011. El importe másimo que pode recibir cada proyecto baxa dende os 51.000 euros del ano pasao hasta os 30.000 d’esta convocatoria. A novedá é que s’incluyen us criterios de valoración que dan preferencia a os medios qu'usen el asturiano y el galegoasturiano de xeito normal y non en seccióis aparte. (25.05.12, http: / / falaviva.net/ index.php? n=modules/ news&p=2) Wie aus dieser Meldung hervorgeht, sind die Kürzungen vor allem im für die Verbreitung einer Sprache innerhalb der Bevölkerung so wichtigen Medienbereich drastisch. Die Normalisierung erscheint also bei näherer Betrachtung wenig effektiv; 2008 fand sich das Eonaviego bezeichnenderweise in dem vom ‚Comité de Ministros del Conseyu d´Europa’ turnusmäßig veröffentlichten Bericht über die Förderung der Regional- und Minderheitensprachen Spaniens 19 mit dem Vermerk „parecen haberse tomado muy pocas medidas en beneficio de esta lengua desde el último ciclo de supervisión.” (www.coe.int/ t/ dg4/ education/ minlang/ report/ EvaluationReports/ Spain ECRML2_es.pdf, 151) 18 Konkret ist im Autonomiestatut die Rede von „el fomento y protección del bable en sus diversas variantes que, como modalidades lingüísticas, se utilizan en el territorio del Principado de Asturias”. 19 In diesen Berichten wird in regelmäßigen Abständen die Umsetzung der europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen in den einzelnen Ländern Europas untersucht, und es werden Empfehlungen zur Förderung konkreter Regional- und Minderheitensprachen ausgesprochen. Der neueste Bericht zu Spanien (12/ 2011) wird in Kürze online einsehbar sein. Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="280"?> Carolin Patzelt 266 Wie verhält es sich mit Normierungs- und Kodifizierungsbestrebungen? Diesbezügliche Aktivitäten sind relativ zahlreich vorhanden, u.a. in Form der Proposta de normas ortográficas y morfolóxicas del gal(l)ego-asturiano (Conseyería d´Educación, Cultura, Deportes y Mocedá 1993), einem Pilotversuch des Faches ‚Gallego-asturianu’ in den Schulen, der Einrichtung einer ‚Secretaría Llingüística del Navia-Eo’ innerhalb der Academia de la Llingua Asturiana, oder der seit 1996 von eben jener herausgegebenen Zeitschrift Entrambasauguas, mit deren Hilfe eine schriftliche Tradition des Eonaviego entwickelt werden soll. 1997 gab es bei den asturischen Xornaes d´Estudiu zahlreiche Beiträge zur Region Navia-Eo, die ein Jahr später in einem Tagungsband mit dem Titel ‚Estudios das Terras del Navia-Eo’ publiziert wurden. An schriftlichen Zeugnissen des Eonaviego mangelt es in der Region durchaus nicht; spätestens seit der Jahrtausendwende bringt beispielsweise die Reihe ‚Os llibros d´Entrambasauguas’ auch verstärkt Kinder- und Jugendliteratur heraus. Die Einhaltung der 2007 erschienenen Normas ortográficas del gallego-asturiano (Academia de la Llingua Asturiana) wird u.a. durch den ‚Premio Xeira de Narracióis Curtias’ der Asociación Cultural Xeira befördert, dessen Verleihung laut Homepage der Asociación voraussetzt: „Os relatos teinse qu´axustar às Normas ortográficas del gallego-asturiano.” (http: / / www.xabielxeira.e.telefonica.net/ que_femos/ narraciois_curtias.html) Darüber hinaus war bereits 2001 von Xavier Frías Conde eine ‚Gramática eonaviega’ auf galicischer Grundlage vorgelegt worden - an Kodifizierungsbestrebungen mangelt es also offenbar nicht. Allerdings liegt genau hier auch das Problem, denn die Aktivitäten der asturischen Sprachakademie kollidieren mit denen der galicischen, die das Eonaviego auf galicischer Basis kodifizieren will. 20 4.2. Politisierung als Problem der Kodifizierung Die Kodifizierung des Eonaviego nach galicischem oder asturischem Modell wird zunehmend zu einem sprachpolitischen Machtkampf zwischen beiden Comunidades; die Presse ist voll von Meldungen wie: «A fala» del Navia-Eo causa de un «grave desencuentro» entre Galicia y Asturias (http: / / www.lavozdegalicia.es/ hemeroteca/ 2002/ 11/ 27/ 1340170.shtml) 20 Für eine galicische Ausrichtung des Eonaviego plädieren vor allem das ILG (Instituto da Lingua Galega), die RAG (Real Academia Gallega), PROEL (Promotora Española de Lingüística) sowie Persönlichkeiten wie Dámaso Alonso. <?page no="281"?> 267 Dieser Machtkampf, der maßgeblich über die Sprachakademien Asturiens und Galiciens bzw. ihre jeweiligen Publikationen ausgetragen wird, schlägt sich in Debatten um die Klassifikation sprachlicher Merkmale nieder. Exemplarisch für dieses Vorgehen ist etwa die Interpretation der morphologischen Endung -ín des Eonaviego (GE), die Frías Conde (2000) mit den Deklinationen des Portugiesischen Portugals (PP), des Galego comun (GC), des Portugués brasileiro nordestino (PN) und des Asturischen (AS) vergleicht: PP GC PN GE AS sobrinho sobriño sobrim/ sobrĩo sobrín sobrín sobrinha sobriña sobrĩa sobría (sobrĩa) sobrina sobrinhos sobriños sobrins/ sobrĩ sobríos (sobrĩos) sobrinos sobrinhas sobriñas sobrĩas sobrías (sobrĩas) sobrinas Tab. 1: Flexionsmorphologie im Vergleich (Frías Conde 2000, 99) Tab. 1 nach zu urteilen erscheint die Deklination von sobrín als Paradebeispiel für die sprachlichen Charakteristika einer Übergangsvarietät: Es zeigen sich sowohl Übereinstimmungen mit dem Asturischen als auch mit den (galicisch-)portugiesischen Formen. Allerdings reklamieren die Sprachakademien das Eonaviego jeweils komplett für sich: Die Asturier stützen sich dabei natürlich maßgeblich auf die übereinstimmende Endung des Maskulinum Singular, während die Galicier für einen gemeinsamen Ursprung aller in Tab. 1 aufgeführten Varietäten im Gallego-Portugués argumentieren. Demnach hätten die lateinischen Morpheme -inu/ -ina in den betreffenden Varietäten zunächst eine desconsonantización erfahren, gefolgt von einer Nasalisierung des Hiats. 21 In diesem Zusammenhang verweist Frías Conde (2000, 98ff.) auch auf die starke Ähnlichkeit des Eonaviego mit dem Português nordestino, das zeitlich versetzt denselben sprachlichen Entwicklungsprozess durchlaufen habe, nämlich den Verlust der konsonantischen Verbindung ‚nh’ als graphischer Repräsentation des Nasals / ɲ / - was im Übrigen den Unterschied zum ‚nh’ erhaltenden europäischen Portugiesisch erklärt -, durch den Entwicklungen wie die der Diminutivendung -inho über - ĩo zu -ĩ abliefen. Somit wird das im Eonaviego und Asturischen heute identische sobrín mit unterschiedlichen Entwicklungswegen begründet, die eher zufällig im selben Ergebnis gipfelten: Während als Grundlage des heutigen Eonaviego das mittelalterliche nasalisierte -ĩ angeführt wird, hat vom sobrinu des 21 Nach Clarinda de Azevedo (1986, 599) sind die bei Frías Conde (2000) genannten Endungen auf ĩo/ ĩa tatsächlich bereits in schriftlichen Belegen des Gallego-Portugués aus der ersten Hälfte des 14. Jh. zu finden. Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="282"?> Carolin Patzelt 268 mittelalterlichen Asturisch nach Frías Conde (2000, 102) lediglich der Ausfall des finalen Vokals zum heutigen sobrín geführt. Neben einem sprachhistorischen Schwerpunkt argumentiert Galicien vorzugsweise auf der Basis ausgewählter Isoglossen und versucht die Dominanz galicischer Elemente im Eonaviego nachzuweisen. Asturien bringt seinerseits v.a. das territoriale Kriterium vor und kontert sprachliche Argumente mit dem Hinweis auf andere Isoglossen oder mit alternativen diachronen Herleitungen eines Phänomens. Als Beispiel für derartige Debatten sei hier auf die Diskussion um die Realisierung der lateinischen Konsonantengruppen -lj-, -c´l- und -g´lin der Comarca Navia-Eo verwiesen: Während der Südwesten mit der galicischen Realisierung / ʎ / konform geht, verwendet der Nordosten analog zum Asturischen / ʝ / . Dies wird jedoch nicht als natürliche, kontaktbedingte Variation innerhalb einer Übergangsvarietät betrachtet, sondern beide Comunidades plädieren für die Korrektheit ihrer Realisierung. Während also Asturien darauf verweist, dass / ʝ / bereits in mittelalterlichen Texten vorzufinden sei und somit zur Tradition der Region gehöre, argumentiert man in Galicien, dass das / ʝ / in Wörtern wie ‚muyer, abeya’ auf den kastilischen Yeísmo zurückgehe und nicht mit dem mittelalterlichen / ʝ / für die lateinischen -lj-, -c´l- und -g´lverwechselt werden dürfe. 22 In derartigen Streitfällen kritisiert besonders die asturische Seite gerne Galiciens Fokussierung auf einzelne sprachliche Merkmale und verweist auf geographisch-politische Fakten: Es cierto que el gallego-asturiano o fala comparte rasgos con el gallego, pero también es cierto que dispone de otros muchos que lo diferencian. [...] El profesor de Lengua y escritor en fala, Ignacio Vares, explica: «No se puede negar que compartimos rasgos con Galicia, pero también es cierto que el gallego no es unitario porque no es igual lo que se habla en las Rías Bajas a lo que se habla en Ribadeo. La unidad la marca una decisión política». Vares reprocha a Ferrín que se fije en la diptongación decreciente (ei y ou) que el gallego-asturiano comparte con el gallego en palabras como «ferreiro», y no se fije en otros como la ele intervocálica. [...] «Que no pretendan decir que por fenómenos lingüísticos esto es gallego. Creo que si Galicia llegara hasta Navia no tendríamos que renunciar a las diferencias, pero no es así y por eso aquí no hay voluntad de renunciar a estas características propias». En la misma línea se expresa el investigador, filólogo y escritor, Xosé Miguel Suárez, quien explica que desde un punto de vista filológico «lo que se habla en el Navia-Eo es gallego-portugués, pero otra cosa es el plano sociopolítico, identitario o como se le quiera llamar. Eso explica que en Galicia no se usen las normas del portugués y que en Asturias no se quieran usar la normativa del gallego». Dice Suárez que los habitantes del Navia-Eo son 22 Für die vollständige Diskussion vgl. Suárez Fernández (2000). <?page no="283"?> 269 «asturianos y por circunstancias histórico-políticas no comparten su destino con Galicia». (http: / / www.lne.es/ occidente/ 2010/ 02/ 02/ filologos-sostienengallego-asturiano-diferencias-lengua-vecina/ 867574.html) Gemeinsamkeiten des Eonaviego mit dem Galicischen werden also nicht grundsätzlich abgestritten, es wird aber gerne und häufig auf die verschiedenen galicischen Dialektgruppen verwiesen und argumentiert, dass Gemeinsamkeiten lediglich das Ost-, nicht das Zentralgalicische beträfen. Diesbezüglich wird wiederum argumentiert, dass es sich um ein sprachliches Kontinuum handle und eine Entweder-Oder-Diskussion um Ähnlichkeit mit dem kodifizierten Galicisch oder Asturischen daher nicht sinnvoll sei. Vor allem aber wird von asturischer Seite das Argument angeführt, dass die politischen Grenzen dieses sprachliche Kontinuum unterteilten. Somit wird das Eonaviego bereits ohne jede Analyse sprachlicher Merkmale, allein aus territorialen Gründen zu Asturien gezählt. 23 Zur Entkräftung der von galicischer Seite gerne angeführten sprachhistorischen Argumente verweisen die Asturier zudem darauf, das Portugiesische sei schließlich auch nicht offizielle Sprache Galiciens - trotz einer gemeinsamen historischen Basis im Gallego-Portugués. Wie zahlreiche Sprecherzitate aus entsprechenden Diskussionsforen zeigen 24 , ist das Resultat derartiger Debatten, dass viele Sprecher a) von der sprachpolitischen Debatte generell genervt sind und die sprachliche Dreiteilung Galicisch-Asturisch-Eonaviego als künstlich und unsinnig empfinden: (11) Os aseguro que lo que habla en el occidente asturiano acabará siendo una lengua distinta al gallego y al bable y no por razones linguisticas, sino a consecuencia de las políticas de los reinos de taifas llamados comunidades autónomas. (#51 konisberg, 19 Junio 2007 - 13: 53) b) in den Normierungs- und Kodifizierungsbestrebungen eine Spaltung der benachbarten Regionen sehen und deshalb dagegen sind: (12) En Estados Unidos no hay lengua oficial, aqui que somos tan listos tenemos cinco de momento. El lenguaje, la lengua es un elemento para la comunicación y el entendimiento sin embargo algunas gentes alegando seña de identidad cultural lo ven como un elemento de separación o aislamiento 23 Möglicherweise als Reaktion auf dieses Standardargument von asturischer Seite verspricht z.B. Frías Conde (2000, 93) explizit „insistir sobre a galeguidade lingüística do eonaviego con argumentos claramente lingüísticos.” 24 Die im Folgenden angeführten Zitate stammen, soweit nicht anders angeführt, aus den Kommentaren zum online-Artikel ‚Historia de la evolución de la lengua hablada en el Eo Navia’ (http: / / www.celtiberia.net/ articulo.asp? id=2702&pagina=2#ixzz24bAHp 4rm). Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="284"?> Carolin Patzelt 270 que pena, que vergüenza. (#61 usuario no identificado, 01 Febrero 2010 - 09: 30) oder c) eifrig Partei für die eine oder andere Seite ergreifen, wobei Galicien hierbei meist das Nachsehen hat: (13) ! Ya ta bien de querer mandar en una casa ajena ! No tienen derecho a hacer en Asturias, lo que ellos denuncian del castellano. Nos niegan la libertad que para sí, reclaman. Además, creo que antes que Galicia fué el Reino de Asturias. Quiero pedir desde aquí, que en los carteles de trafico que hay en Asturias, se escriba el artículo femenino " la ", 'a" es gallego, antecediendo al nombre de Coruña, y esto no es Galicia. (#275 usuario no identificado, 01 Febrero 2010 - 22: 59) Die vorherrschende Meinung in den Foren ist, dass man zwar geographisch bedingt - man lebt schließlich in einer Grenzregion -, eine Mischvarietät spricht, dass diese aber letztlich aus territorialen Gründen zum Asturischen gehöre, wie die beiden folgenden Zitate verdeutlichen: (14) El occidente asturiano es como su propio nombre indica de Asturias, porque van a tener que hacer el gallego oficial en esa zona? que estamos locos? ? En Asturias somos asturianos y en cada parte de ella por desgracia se habla de una manera diferente pero somos asturianos y nos entendemos perfectamente. (#8 usuario no identificado, 01 Febrero 2010 - 02: 43) (15) Home claro, y al sur de galicia se habla portugues, q lo hagan lengua oficial, no te jode. Aqui se mira pa un mapa, y donde ponga asturies se habla asturiano, y donde ponga galicia se habla gallego. Y punto. (#20 usuario no identificado, 01 Febrero 2010 - 08: 22) Universell ist in den Foren das Misstrauen, Politiker könnten die Debatten um eine Kodifizierung der hablas für ein politisches Kräftemessen missbrauchen; von außen herangetragene Pseudodebatten sowie die Einmischung von Politikern, aber auch Sprachakademien oder Linguisten werden für das Eonaviego, ebenso wie in der Extremadura, von vielen kategorisch abgelehnt, so etwa in folgender Reaktion: (16) La cooficialidad del gallego deben pedirla los habitantes de esas zonas, no la Academia Galle-ga. Ademas como va a ser oficial el gallego en Asturias si no lo es el asturiano. ¡En fin cosas de políticos que viven centraos en su ombligu! (#236 usuario no identificado, 01 Febrero 2010 - 19: 29) <?page no="285"?> 271 4.3. Ausrichtung und Problematik der kodifizierenden Werke Ein weiterer zentraler Problempunkt scheint in der Ausrichtung der vorhandenen kodifizierenden Werke zu liegen. Ein Großteil der User in den Foren lehnt zwar eine Kodifizierung auf galicischer Basis aus territorialen Gründen ab, vermisst aber von asturischer Seite einen klaren Gegenpol zu den galicischen Vorschlägen, die immerhin auf eine präskriptiv-einheitliche Basisnorm abzielen. Angekündigt wird eine normierende Ausrichtung prinzipiell auch im asturischen Vorschlag, der eine Neuauflage der bereits seit 1993 existierenden Orthographie (‚Proposta’) darstellt und in dessen Vorwort 25 es heißt: Ben entidades y escritores eonaviegos vían reclamando à Secretaría Llingüística del Navia-Eo que publicara, xa con carácter normativo, el documento. (Academia de la Llingua Asturiana 2007, 9) Die hier lancierte Norm speist sich laut Vorwort zum einen aus dem galicisch-asturischen Erbe, das beide Sprachen und ihre Tradition berücksichtigt, zum anderen werden Idiolekte respektiert, indem es über die Auswahl der Grapheme im Text heißt „As que s´usaron […] son máis variantes de falantes que de zonas xeográficas.” (Academia de la Llingua Asturiana 2007, 12) Es scheint, als versuche die Academia Asturiana mit dieser Herangehensweise ihrer erwähnten soziolinguistischen Umfrage Rechnung zu tragen, laut derer sich die meisten Sprecher zwar kulturell als Asturier fühlen, jedoch stolz darauf sind, eine Mischung aus Asturisch und Galicisch zu sprechen. Folglich wird im asturischen Vorschlag auch nicht gegen das Galicische argumentiert, sondern es heißt sogar im Vorwort explizit: „(…) sin perder de vista as soluciòis normativas del gal(l)ego y tamén del asturiano.” (Academia de la Llingua Asturiana 2007, 12) Darüber hinaus soll auch kein konkreter lokaler Dialekt die Kodifizierungsbasis bilden, sondern diejenigen sprachlichen Merkmale, die im Sprachgebrauch der Sprecher die gängigsten sind. Mögliche Alternativen werden dabei als Fußnoten ergänzt. 26 Die Problematik der vielen verschiedenen Dialektgruppen wird weitgehend ausgeblendet, und wenn eine Auswahl der einen oder anderen Variante doch einmal unumgänglich ist, werden beide Varianten aufgeführt und mit dem Hinweis versehen, der Sprecher solle die für ihn 25 Die hier angeführte Berufung auf ‚entidades y escritores’, die von der Academia Asturiana eine normierende Orthographie gefordert hätten, stellt im Übrigen eine geschickte Legitimation des Werkes dar. 26 „Recoyéronse muitas das formas, destacando as máis usadas anque anotando outras posibilidades a pé de páxina.” (Academia de la Llingua Asturiana 2007, 12) Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="286"?> Carolin Patzelt 272 zutreffende auswählen: „Han ser os usuarios individuales os que, según el sou gusto ou procedencia xeográfica, escoyan (…).” (Academia de la Llingua Asturiana 2007, 12) Die im Vorwort ausgerufene normative Konzeption ist somit hinfällig; die möglichst allen Dialektgruppen gerecht werden wollende Ausrichtung erinnert stattdessen an die Grammatik des Extremeño. Gerade in einer Region wie der Comarca Navia-Eo, in der die Bevölkerung ganz bewusst und mit Stolz eine Mischvarietät kultiviert, müsste eine für Variation offene und tatsächlich mehr deskriptive als präskriptive Darstellung eigentlich gut ankommen. Ein Blick in die Diskussionsforen zeigt aber, dass dies nicht der Fall ist, im Gegenteil. Die vorherrschende Meinung hier scheint zu sein: Wenn schon kodifiziert wird, dann soll auch eine präskriptive, verbindliche Norm fixiert werden, und die bleibt die asturische Akademie weitgehend schuldig. Ganz anders der galicische Kodifizierungsansatz, denn hier wird bereits zu Beginn der Grammatik eine klare Basis für die Kodifizierung des Eonaviego ausgerufen: A súa posta por escrito (…) pensamos que debe basearse na da lingua gałega, onde é preciso facer uha adaptación da norma del gałego común para el gałego eonaviego. (Frías Conde 2001, 2) Herausgestellt werden die charakteristischsten Elemente des Eonaviego, im Vergleich zum Galicischen und in scharfer Abgrenzung vom Kastilischen. Kastilianismen werden strikt und explizit abgelehnt: „El masculino / neutro singular pode ser el ou o segundo un uso de máximos ou mínimos. El neutro nunca é *lo, que é castelanismo.” (Frías Conde 2001, 12) In der asturischen Kodifizierung kann das Neutro dagegen sehr wohl lo / el sein, hier werden in erster Linie die gebräuchlichsten Varianten wertneutral aufgezählt (vgl. Academia de la Llingua Asturiana 2007, 21). Auch an anderen Stellen zeigt ein Vergleich des asturischen und des galicischen Orthographievorschlags, dass Letzterer deutlich verbindlichere Regeln setzt, vor allem was die Abgrenzung vom Kastilischen betrifft. So heißt es zur orthographischen Realisierung des Phonems / b/ im galicischen Vorschlag: Fronte al caste≈ao, en eonaviego úsase <b> en: rebentar, dobeło, marabilla, beira, baleiro. (Frías Conde 2001, 4) Im asturischen Vorschlag wird auf eine derartige kontrastive Darstellung verzichtet; grundsätzlich werden hier sowohl <b> als auch <v> als Grapheme akzeptiert und ohne Vergleich mit dem Kastilischen entsprechende Regeln aufgestellt: a) Escríbese b ou v condo el étimo da palabra lo aconseye (...). b) Escríbese b delantre das consonantes r y l (...). c) (…) (Academia de la Llingua Asturiana 2007, 14) <?page no="287"?> 273 Auch was die Akzentsetzung betrifft, wird in der galicischen Kodifizierung in erster Linie die Nähe des Eonaviego zum Galicischen betont. Erst in zweiter Instanz wird dann auch auf das Kastilische - das Asturische kommt hier als Vergleichsnorm überhaupt nicht vor - verwiesen, z.B. wenn es heißt: As regras de acentuación en eonaviego son igual que en galego, que basicamente coinciden côas del castełano. (Frías Conde 2001, 5) Angesichts der Tatsache, dass das Galicische und das Kastilische systematisch als Vergleichsnormen angeführt werden, während das Asturische in der Regel gar nicht zur Disposition steht, wäre durchaus anzunehmen, dass die Leser der Grammatik eher für eine Eingliederung ins Galicische als ins Kastilische votieren. Dennoch findet der Kodifizierungsvorschlag von Frías Conde kaum Akzeptanz bei den Sprechern, da das Eonaviego ihrem Empfinden nach als Subdialekt des Galicischen präsentiert wird. Der eine Kodifizierungsvorschlag (Asturien) ist also zu wenig präskriptiv, der andere ist zwar präskriptiver angelegt (Galicien), aber auf einer den Sprechern fremden Basis. 27 Diese Basis entfremdet sich den Sprechern wohl vor allem auch durch ihre orthographische Linie. Anders als der asturische plädiert der galicische Vorschlag nämlich für eine Vereinheitlichung der Graphie und schlägt dabei auch teilweise komplett neue Schreibweisen vor: El acento circunflexo ou chapeu <^ > úsase con <ê> e <ô> para marcar duas pronuncias. Nuha parte del eonaviego sôan / e/ e / o/ respeitivamente, mentres que nel outra sôan / i/ e / u/ . Desta maneira, evitamos el emprego de grafía dobres del tipo chea ~ chía, boa ~ búa e unificámola con chêa e bôa, que tein dobre pronuncia. (Frías Conde 2001, 5) 27 Ein ähnliches Problem verhindert in der Extremadura eine erfolgreiche Kodifizierung der Fala, denn Domingo Frades Gaspar, der Präsident der 1992 gegründeten Gesellschaft ‚Fala i Cultura’, die die Fala erhalten und der drohenden Kastilianisierung entgegenwirken soll, ist gleichzeitig Mitglied der Real Academia Gallega und setzt sich für eine Kodifizierung auf galicischer Grundlage ein. Diese verhindert trotz regen Interesses der Bevölkerung am Erhalt der Fala eine offizielle Kodifizierung und sorgt dafür, dass wohl auch die 2001 erfolgte Erhebung der Fala zum ‚Bien de Interés Cultural’ eher kulturell-symbolischen Wert hat. Die spracherhaltenden Maßnahmen beschränken sich jedenfalls auf gelegentliche wissenschaftliche Kongresse zur Fala sowie die Publikation einzelner literarischer Werke wie dem 1998 erschienenen Seis sainetes valverdeiros (Isabel López Lajas). Gerade bei einer geographisch so begrenzt verbreiteten Varietät wie der Fala erscheint eine anerkannte Fixierung jedoch wichtig, da ansonsten wohl schon bald eine Varietät des Kastilischen mit einzelnen Elementen der Fala die derzeit zumindest von der älteren Generation noch aktiv gesprochene Fala ablösen wird. Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="288"?> Carolin Patzelt 274 Diese Kombination aus galicischer Basis plus komplett neuen Graphemen wird von der Mehrheit der Bevölkerung als sprecherfern und künstlich empfunden und daher abgelehnt. 4.4. Die Perzeption des Eonaviego als Subdialekt Sowohl die Expertenals auch die Laiendebatten zum Eonaviego unterscheiden sich in einem zentralen Punkt von den Debatten zum Extremeño: Aus sprachlicher Sicht geht es hier nicht um die Frage, welche Charakteristika die eigene habla einzigartig machen und von sämtlichen Nachbarvarietäten abheben, sondern es geht fast ausschließlich um Nähe und Distanz zum bzw. vom Galicischen oder Asturischen. Dabei sind die Referenzpunkte auffälligerweise auch immer das Standardgalicische und Zentralasturische; das Bewusstsein für die eingangs erwähnte Existenz von Subvarietäten des Galicischen und Asturischen sowie die Existenz eines möglichen Kontinuums vom Ostgalicischen über das Eonaviego bis zum Westasturischen scheint bei denjenigen, die sich in Foren zur Normierung des Eonaviego äußern, nicht vorhanden zu sein. Ironischerweise werden Kontinua und Mischvarietäten nur von denjenigen thematisiert, die sich gegen eine Normierung aussprechen. Normierung erscheint offenbar gleichbedeutend mit Verlust der traditionellen lokalen Identität und einer künstlichen Übernahme eines von außen herangetragenen Standards. Das Bewusstsein für eine eigenständige Varietät, die hybrid aber trotzdem kodifizierbar sein kann, scheint bei den Sprechern dadurch - im Gegensatz zur Extremadura - sehr wenig ausgeprägt zu sein. Man macht sich in den Foren sogar lustig über die Vorstellung einer eigenen Sprachakademie und Kodifizierung oder wechselt angesichts der vielen lokalen Dialekte und aus Gründen der Okönomie demonstrativ zum Kastilischen, wie die beiden folgenden Kommentare zeigen: (17) Pues nada, si los eonaviegos piensan que hablan una lengua propia diferente a las de sus vecinos, pues ya saben, a crear una Academia de la Lengua Eonaviega, una Provincia Eonaviega o una pequeña comunidad autonoma eonaviega, porque lo normal es que un territorio con lengua propia tenga sus instituciones propias. (#2 Renglón Torcido, 27 Diciembre 2007 - 00: 55) (18) Tiene narices que en una comunidad donde hay tanto subdialectos se moleste la gente al leer la noticia. Toda mi vida alli donde voy me llaman gallego y el dicho de luarca pa'lla sois gallegos estoy harto de escucharlo. Hipocresia y demagogia barata es lo que veo en la mayoria de los comentarios cuando despues de incluso llegar a denigrarnos por nuestro acento, ahora se molestan por que se quiera oficializar en gallego en el occidente. Cuando yo <?page no="289"?> 275 voy por el centro u oriente de Asturias hablo castellano que es el unico idioma legal de Asturias y sin embargo a mi segun sean de una parte u otra de Asturias a mi me hablan en una pseudo lengua que ni normas escritas tiene. Sin embargo yo no puedo decir ni tan siquiera un 'eu" 'ali" "llonxe" "de noite" por que se me tacha de gallego y sin embargo las diferentes versiones de asturiano si son politicamente correctas menos la nosa fala. Cada con los suyos que hable como quiera pero a mi que no me oficialicen ningún idioma que nadie hablaria perfectamente. Señores la unica lengua oficial es el castellano y por lo tanto no hay que darle mas vueltas, en Asturias solo se debe hablar de forma oficial en castellano. ¿Acaso seria facil inventar y oficializaer un idioma cuando hay tantos dialectos? ¿Estaria todo el mundo contento? Dejemos las cosas como están y como españoles que somos hablemos y escribamos en castellano. Firmado un ASTURIANO de occidente (#271 usuario no identificado, 01 Febrero 2010 - 22: 19) Das Problem ist, dass letztlich beide Comunidades das Eonaviego, jede auf ihre Weise, zu einem Subdialekt abstempeln: Galicien vor allem durch die Ausrichtung der kodifizierenden Werke, Asturien durch entsprechende Formulierungen in den Normalisierungsplänen. In der sprachlichen Manifestation ihrer lokaler Identität unterstützt fühlen sich die Sprecher offenbar weder durch Galicien noch durch Asturien, mehr noch: Durch den permanenten Konflikt zwischen Galicien und Asturien in punkto Kodifizierungsbasis scheinen sogar immer mehr Bürger genervt zum Kastilischen zu wechseln. 5. Fazit Die Ausführungen haben gezeigt, dass die Ausgangsposition der einzelnen hablas de transición zwar recht unterschiedlich ist, dass die untersuchten Varietäten aber einige grundlegende Gemeinsamkeiten hinsichtlich vorhandener Normierungs- und Kodifizierungsansätze aufweisen. So dient die Einleitung aller kodifizierenden Werke offenbar dazu, sich zu positionieren, nach welchem Muster und auf Basis welcher Varietät kodifiziert werden soll. Ebenfalls gängig sind permanente Rechtfertigungen, warum Variante A und nicht B gewählt wurde. Dieses Vorgehen resultiert natürlich aus dem Fehlen einer einheitlichen Kodifizierungsbasis, auf die man sich innerhalb der jeweiligen habla stützen könnte. Durch die Vielfalt der vorhandenen Subdialekte, die nun jeder Kodifizierungsvorschlag anders gewichtet, sowie durch das Fehlen einer offiziellen Instanz, die die Kodifizierung steuert, ist eine solche Basis wohl auch weiterhin nicht in Chacho, hagamus gramática? ! <?page no="290"?> Carolin Patzelt 276 Sicht. Dies hat Auswirkungen auf die Konzeption kodifizierender Werke und deren Akzeptanz bei den Sprechern. Die permanente Angst, eigene lokale Charakterzüge zu verlieren bzw. sich nicht deutlich genug von Nachbarvarietäten abzuheben, macht den Verzicht auf einzelne lokale Subdialekte bzw. Merkmale offenbar sehr schwer. Dies wiederum führt dazu, dass Grammatiken und Orthographien zu unübersichtlichen Ansammlungen dialektaler Merkmale werden und mehr deskriptiv als präskriptiv 28 angelegt sind. Die Mehrheit der Sprecher empfindet solche Werke als wenig hilfreich, wie deutlich wurde. Die hablas de transición befinden sich also, was ihre mögliche Kodifizierung angeht, in einem permanenten Kampf zwischen zwei Polen: Zum einen muss der Abstand zu Nachbarvarietäten gewahrt werden, was die Berücksichtigung möglichst vieler lokaler Charakteristika nahe legt, gleichzeitig ist aber auch eine gemeinsame Basis, bestehend aus einem festen, überschaubaren Gerüst an sprachlichen Charakteristika vonnöten, was wiederum die Festlegung auf eine Auswahl erzwingt. Auffällig ist in den vorliegenden Kodifizierungsvorschlägen immer wieder das permanente Abwägen, welche Varietäten in welchem Maße in eine präsentierte Norm aufgenommen werden sollen, wie weit sich an einzelne Varietäten und ihre Charakteristika assimiliert werden soll und an welcher Stelle man sich von welchen Varietäten distanzieren oder Subdialekte fallen lassen soll. Permanente Abgrenzungsbestrebungen von höhergestellten Nachbarvarietäten sind in allen Kodifizierungsvorschlägen zu beobachten: Während es etwa in der Extremadura primär ums Kastilische geht, normiert das Cántabro gleichzeitig gegen die Übermacht des Kastilischen und Asturischen an, und das Eonaviego muss sich zwischen den bereits kodifizierten Regionalsprachen Asturisch und Galicisch behaupten. Zu Inkonsequenzen zu führen scheint dabei die Tatsache, dass sich teilweise dieselben Personen um die Kodifizierung verschiedener hablas kümmern, wie beispielsweise Carlos Quiles mit seiner Gramática cántabru-estremeña. Am Beispiel dieser Grammatik wurde aufgezeigt, wie die hablas de transición in einem permanenten Spannungsfeld zwischen Assimilation und Abstand bezüglich der Nachbarvarietäten präsentiert werden. Die beiden Hauptprobleme sind also einerseits die Gefahr der Konvergenz, die permanent von benachbarten Varietäten ausgeht, andererseits aber auch die unübersichtliche Vielfalt eigener Subdialekte, die die Einigung auf eine verbindliche Kodifizierungsbasis erschwert. Hinzu kommt das Problem der entweder fehlenden oder ‚übereifrigen’ 28 Dieser Anspruch wird häufig im Vorwort der betreffenden Werke proklamiert, im Werk selbst dann jedoch nicht eingelöst. <?page no="291"?> 277 Unterstützung von offizieller Seite: Während in der Extremadura und in Kantabrien das staatliche Interesse an einer offiziellen Kodifizierung der lokalen Varietäten fehlt, erweist sich im Falle des Eonaviego und auch der Fala das häufig als ‚imperialismo gallego’ kritisierte Engagement Galiciens als kontraproduktiv, da eine galicische Kodifizierungsgrundlage von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Bibliographie Academia de la Llingua Asturiana: Estudios das Terras del Navia-Eo. 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Am Titel ihres Beitrags Probleme bei der Orthographienormierung des Galizischen lässt sich bereits ablesen, dass der Kodifizierungsprozess in den 80er und 90er Jahren des 20. Jh. von Konflikten geprägt war. Die Zukunft der seit 1983 offiziellen Normas ortográficas e morfolóxicas do idioma galego der Real Academia Galega und des Instituto da Lingua Galega schien zum damaligen Zeitpunkt offen. Im Rückblick lässt sich feststellen, dass die offizielle Orthographie seit nunmehr 30 Jahren in den Schulen Galiciens unterrichtet und grundsätzlich von der Mehrheit der Bevölkerung nicht in Frage gestellt wird. Jedoch gibt es immer noch Spannungen, aber auch Annäherungsversuche unter Vertretern unterschiedlicher normgebender Institutionen und Vereinigungen, auf die ich im ersten Teil meines Beitrags eingehen werde. Daran schließt sich eine Vorstellung der lexikographischen Inventare des Galicischen an, die aktuell zur Verfügung stehen. Eng verflochten mit der Korpusplanung ist nach Heinz Kloss (1969) der Prozess der Statusplanung, d.h. der Einführung der galicischen Sprache in möglichst viele Kontexte des öffentlichen Lebens 2 . Gerade in den letzten Jahren, seit der Wiederwahl des Partido Popular im Jahr 2009, wurde die 1 Im vorliegenden Beitrag werden die graphischen Varianten Galicien und Galicisch verwendet, die näher am galicisch-spanischen Original Galicia von lateinischem G ALLAECIA sind. Darüber hinaus erscheint es empfehlenswert, zwischen der spanischen Region Galicien und der Landschaft Galizien im Westen der Ukraine und im Süden Polens (ukrainisch Галичина, polnisch Galicja) mit den dazugehörigen homophonen Bezeichnungen Galicisch und Galizisch zu unterscheiden, vgl. Tagliavini 1973, 359. 2 In Spanien wird seit Publikationen zur soziolinguistischen Situation des Katalanischen in den 60er-70er Jahren die Korpusplanung als normativización, die Statusplanung als normalización bezeichnet. Der letzte Begriff, der die Annahme eines ‚normalen‘ Sprachgebrauchs voraussetzt, wurde in mehreren Publikationen kritisch hinterfragt, vgl. Kabatek 1995, 25; Del Valle 2000, 121; O’Rourke 2011, 69-70. <?page no="296"?> Lidia Becker 282 Frage der Präsenz des Galicischen im Schulunterricht zu einem zentralen Thema politischer Auseinandersetzungen. Problemen des Galicischen als Schulfach und Unterrichtssprache werde ich mich im zweiten Teil des Beitrags widmen. An einem bekannten Beispiel der Nichtverwendung offizieller Ortsnamen im öffentlichen Kontext möchte ich außerdem den andauernden sprachpolitischen Konflikt innerhalb der galicischen Bevölkerung verdeutlichen. 2. Korpusplanung des Galicischen von 1991 bis 2012 2.1 Orthographische und morphologische Norm Die im Großen und Ganzen heute noch gültigen Normas ortográficas e morfolóxicas do idioma galego (NOMIG) wurden im Jahr 1982 von der Real Academia Galega und dem Instituto da Lingua Galega vorgelegt. Im Jahr 1983 hat sie die Xunta im Decreto de Normativización da Lingua Galega für offiziell erklärt. Wie Michaela Luyken (1991, 248) bereits gezeigt hat, ist die Anlehnung dieser Norm an das Spanische vor allem im Bereich der Orthographie augenscheinlich. Die Ähnlichkeit der phonologischen Systeme des Spanischen und des Galicischen hat die Wahl der Sprachnormierer begünstigt (Monteagudo 2003, 77). Abgesehen von einigen Unterschieden in der Akzentuierung und in der Verwendung des Bindestrichs sind die einzigen Grapheme, die Galicisch und Spanisch deutlich voneinander unterscheiden, <x> und der Digraph <nh> für die im Spanischen fehlenden Phoneme / ʃ / (vgl. xoves, Xurxo, xeito, desexo) und / ŋ/ (vgl. unha, algunha). Mit dem anti-etymologischen Graphem <x> für / ʃ / in allen Positionen wurde eine eigenständige Lösung für das Galicische bevorzugt (vgl. dagegen die etymologischen Vorschläge <g>, <j> und <x> der lusophonen reintegracionistas, im Folgenden Reintegrationisten genannt). Graphem Name Phonem(e) A a / a/ B be / b/ C ce / θ/ (oder / s/ ), / k/ D de / d/ E e / e/ , / ɛ / F efe / f/ <?page no="297"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 283 Tab. 1: Zuordnung der Grapheme und Phoneme im Galicischen (nach Real Academia Galega (ed.) 2012, 13-14) G gue / g/ (oder / h/ ) H hache - I i / i/ , / j/ L ele / l/ M eme / m/ N ene / n/ Ñ eñe / ɲ / O o / o/ , / ɔ / P pe / p/ Q que / k/ R erre / ɾ / , / r/ S ese / s/ T te / t/ U u / u/ V uve / b/ X xe / ʃ / , / ks/ Z zeta / θ/ (oder / s/ ) Digraph Name Phonem(e) CH ce hache / t ʃ / GU gue u / g/ (oder / h/ ) LL ele dobre / ʎ / (oder / j/ ) NH ene hache / ŋ/ QU que u / k/ RR erre dobre / r/ <?page no="298"?> Lidia Becker 284 Unter den Prinzipien der NOMIG werden in den meisten Auflagen folgende genannt: der heutige mündliche Sprachgebrauch des „galego común supradialectal“, die mittelalterlichen und modernen Traditionen des literarischen Galicisch sowie die Kohärenz mit dem Portugiesischen und mit den anderen Kultursprachen, wobei der „diferencialismo radical“ im Vergleich zum Spanischen vermieden werden soll (Monteagudo 2003, 72; Real Academia Galega (ed.) 2012, 9-10). Neben dem praktischen Grund der „leichteren Erlernbarkeit“ (Luyken 1991, 251) ist die Loyalität gegenüber der spanischen Staatssprache dafür verantwortlich, dass die normativa autonomista von der Mehrheit der galicischen Bevölkerung akzeptiert wurde 3 . Ein bedeutender Teil der Galicier steht nämlich dem Ausbau des Galicischen skeptisch gegenüber, wie im Folgenden dargelegt wird. Im Jahr 1995 wurden die NOMIG 1982 in Übereinnstimmung mit dem aktuellen Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung leicht modifiziert (Sánchez Vidal 2010, 72). Die Auflage von 1995 enthält einige Korrekturen und Ergänzungen, die folgende Strukturebenen und grammatische Kategorien der galicischen Sprache betreffen (in Auswahl) und keine Neuorientierung mit sich bringen: • Namen von Buchstaben (zeta statt ceta); • Artikel: Kontraktion des Artikels und der Präposition, wenn der bestimmte Artikel Teil eines Ortsnamens ist (fun á Coruña und nicht fun á A Coruña); • Demonstrativpronomina: Neben den kontrahierten Formen (estoutro(s)) sind volle Formen (esto(s) outro(s)) zugelassen, wobei die Kontraktion der Pronomina isto, iso und aquilo mit dem Indefinitpronomen outro nicht möglich ist; • Numeralien: cero und quiñentos neben cincocentos / cincocentas werden zugelassen; • Verben: Die Formen auf -ra (cantara) erhalten den doppelten Wert des antepretérito und pretérito de subxuntivo; die Verben wie consumir und muxir werden nach dem Muster fuxir und nicht partir konjugiert; bendicir und maldicir werden wie regelmäßige Verben konjugiert; die Imperativform des Verbs ser wird zu sé mit graphischem Akzent (se ohne Akzent in den NOMIG 1982); • Adverbien und adverbiale Bestimmungen: nada, dabondo, alomenos, gratis usw. werden zugelassen; dediante, eis, a desmán nicht empfohlen; enfrente wird zu en fronte korrigiert; 3 Die Vertreter der offiziellen Norm, die Galicisch als eine vom Portugiesischen und Spanischen unabhängige Sprache betrachten, werden im Folgenden Autonomisten genannt. <?page no="299"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 285 • Adverbien und Präpositionalphrasen: con respecto a, de par de, a causa de, a par de werden zugelassen; dediante de, embaixo de, quitado, sinte und acerca de nicht empfohlen; • Konjunktionen und Konjunktionaladverbien: temporale Konjunktionen asemade, tan pronto, ó que und tan presto, die kausale Konjunktion como queira que, konsekutive Konjunktionen de aí que und entonces werden zugelassen (Sánchez Vidal 2010, 69-72). Die alternativen Normen der heute noch aktiven Reintegrationisten zielen darauf ab, die Gemeinsamkeiten des Galicischen und des Portugiesischen im Schriftbild hervorzuheben. Eine Schlüsselrolle spielt z.B. die Wiedergabe der palatalen Phoneme / ʎ / und / ɲ / mit <lh> und <nh>. Innerhalb des Reintegrationismus gibt es im Wesentlichen drei Richtungen: die Associaçom Galega da Língua (AGAL), die in ihrer Orthographie Lösungen aus dem Portugiesischen, dem mittelalterlichen und modernen Galicisch vereint, die Comissao para a integraçao da lingua da Galiza no Acordó da Ortografía simplificada (seit 2008 Academia Galega da Língua Portuguesa), die für die Verwendung der portugiesisch-brasilianischen Orthographie für das Galicische plädiert, sowie den gemäßigt lusophonen reintegracionismo de mínimos der Asociación Sócio-Pedagóxica Galega (AS-PG). Der Reintegrationismus genießt eine gewisse Verbreitung in nationalistischen Kreisen 4 . Die Graphie der Associaçom Galega da Língua wird z.B. gegenwärtig vom Gemeinderat von Corcubión im Landkreis Fisterra auf seiner offiziellen Homepage neben der standardgalicischen, der spanischen und der englischen Version verwendet, und zwar unter der Bezeichnung „português“ 5 . Auch außerhalb Galiciens sind Anhänger des Reintegrationismus vertreten: Auf dem Foto unten ist eine Ankündigung der Galicischkurse auf der Grundlage der reintegrationistischen Norm im Museo de la Emigración Gallega en la Argentina in Buenos Aires (Mai 2012) zu sehen, wo seit der Mitte des 19. Jh. eine große galicische Gemeinde besteht. Die Galicischkurse werden von Mitgliedern der im Jahr 1988 gegründeten Associaçom Civil „Amigos do Idioma Galego“ regelmäßig durchgeführt (Associaçom Civil „Amigos do Idioma Galego“ (ed.), Quem somos). 4 Vgl. die Internetpräsenz der Associaçom Galega da Língua unter der Adresse http: / / www.agal-gz.org (17.07.2013). 5 S. http: / / www.corcubion.info/ pt (17.07.2013). <?page no="300"?> Lidia Becker 286 Abb 1: Schwarzes Brett im Museo de la Emigración Gallega en la Argentina in Buenos Aires (Mai 2012), Foto L. B. <?page no="301"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 287 Eine von Henrique Monteagudo (2003, 104) erstellte Tabelle verdeutlicht die Unterschiede zwischen den NOMIG 1995, dem reintegracionismo de mínimos und der Norm der AGAL: Tab 2: Unterschiede zwischen den NOMIG 1995, dem reintegracionismo de mínimos und der Norm der AGAL (Monteagudo 2003, 104) <?page no="302"?> Lidia Becker 288 Der reintegracionismo de mínimos befindet sich zwischen den beiden Polen der castelhanistas und lusistas, wie die beiden Parteien der Autonomisten und Reintegrationisten gegenseitig pejorativ bezeichnet werden, wobei die meisten Lösungen mit der offiziellen Norm übereinstimmen und nur wenige Varianten als lusophon angesehen werden können: povo, levá-lo, muito, leitor, espazo, mao/ s, fáceis, dicer, estábel/ estável, canzón. Die Diskussion zwischen den Autonomisten und Reintegrationisten wurde häufig in einem provokativen Ton geführt. Ein Beispiel dafür liefert das folgende Zitat: Respecto do léxico é unha auténtica falacia a afirmación que demagóxicamente se fai de que os antirreintegracionistas pretenden elevar á norma castelanismos tan aberrantes como huevo, Dios ou muela. Isto é tan falso como se eu dixese que tódolos reintegracionistas ,gostan da omeleta com presunto‘ e do ,chá en chávena‘, e hesitan entre viaxar en carro ou en comboio. (Monteagudo/ Fernández 1982, zit. nach Sánchez Vidal 2010, 69) Nach Jahrzehnten der mehr oder weniger polemischen Auseinandersetzung wurde am Anfang des 21. Jh. ein Versuch der Annäherung der NOMIG an den moderaten Reintegrationismus (de mínimos) unternommen. Im Jahr 1999 wurde in der inzwischen eingestellten Wochenzeitung A Nosa Terra ein Forum galicischer Schriftsteller erwähnt, das sich eine Reform der offiziellen Orthographie mit dem Ziel einer Annäherung an das Portugiesische zur Aufgabe gemacht hat. Unter den Mitgliedern des Forums befand sich Carlos Casares (1941-2002), ein renommierter Schriftsteller in galicischer Sprache, der im Jahr 1996 Präsident des Consello da Cultura Galega war und lange Jahre die NOMIG verteidigte sowie in seinen Büchern benutzte (Associaçom Civil „Amigos do Idioma Galego“ 1999). Der ‚Kurswechsel‘ von Casares hatte eine weitreichende Wirkung: Auf Initiative der Asociación Socio- Pedagóxica Galega wurde eine Diskussion zwischen den Reintegrationisten, vertreten durch ebendiese Asociación sowie das Institut der galicischen Philologie der Universidade da Coruña, und den Autonomisten, vertreten durch das Institut der galicischen Philologie der Universidade de Santiago de Compostela sowie das Instituto da Lingua Galega, angestossen (Monteagudo 2003, 106). Das Ergebnis dieser Diskussion wurde in der neuen Auflage der NOMIG im Jahr 2003 von der Real Academia Galega präsentiert. In der Presentación á edición de 2003 sprach der Präsident Xosé Ramón Barreiro Fernández die Hoffnung aus, dass die neuen Normas, die Vorschläge anderer Kodifizierungstraditionen akzeptierten, aber keine radikalen Änderungen mit sich brachten, die Gunst der Gesellschaft erlangen würden: <?page no="303"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 289 O modelo lingüístico proposto baséase fundamentalmente na lingua viva falada polo noso pobo, limpa dos elementos alleos que non son necesarios, tratan de seguir a mellor tradición histórica, buscan que nel se sinta representada a maioría dos falantes, e procura ser coherente coas demais linguas de cultura. A busca da concordia lingüística explica que se introducisen aspectos asumibles doutras propostas normativas. Esta é a razón da inclusión de solucións dobres, algunhas das cales xa estaban presentes nas normas anteriores pero quizais non formuladas coa suficiente claridade. Estamos seguros de que as Normas que hoxe presentamos, que non supoñen cambios radicais con respecto ás anteriores, terán unha acollida social favorable e mesmo entusiasta. Esperamos que sexan un punto de encontro para todos, o que nos permitirá avanzar decididamente no proceso de normalización da nosa lingua. (Barreiro Fernández 2012, 7) Die Modifikationen der normativa de concordia von 2003, die mittlerweile in der 23. Auflage der NOMIG von 2012 vorliegt, wurden von Henrique Monteagudo (2003, 111-112) in einer Tabelle wie folgt dargestellt: <?page no="304"?> Lidia Becker 290 <?page no="305"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 291 Tab. 3: Modifikationen der normativa de concordia von 2003 (Monteagudo 2003, 111- 112) <?page no="306"?> Lidia Becker 292 Folgende Neuerungen der NOMIG 2003 gehören u.a. zu den emblematischen Kennzeichen einer leichten lusophonen Annäherung: die obligatorische Verwendung der Frage- und Ausrufezeichen nur am Satzende, neue Wörter mit der Endung <-zo> oder <-za> anstelle von <-cio>, <-cia> wie espazo, servizo, diferenza und Galiza sowie die Tilgung von <c> in den Kombinationen <-ct-> und <-cc-> nach <i> oder <u> wie in ditado oder produción. Viele der vorgeschlagenen Änderungen sind im Übrigen mögliche Varianten neben bereits bestehenden Formen („solucións dobres“), so findet die alte Form Galicia (und nicht Galiza) im offiziellen Kontext weiterhin Verwendung, wie auf dem Internetportal der Xunta de Galicia 6 . Die Aufnahme der normativa de concordia war entgegen der Erwartung ihrer Autoren im Vorwort zur neuen Auflage nicht unbedingt „enthusiastisch“. Negative Reaktionen gab es sowohl auf der Seite der Autonomisten, die das Zugeständnis gegenüber den lusophonen ‚Streitstiftern‘ nicht begrüßt haben, als auch auf der Seite der Reintegrationisten, die keine bedeutsame Umorientierung in Richtung des Portugiesischen verspüren konnten (Monteagudo 2003, 109). Dennoch scheint dieser wichtige Versöhnungsversuch zur Entspannung des Konflikts zwischen den castelhanistas und lusistas in den letzten Jahren beigetragen zu haben. 2.2. Lexikographische Werke Die Auseinandersetzung um die geeignete Norm für das Galicische fand im Bereich der Lexikographie kaum statt (vgl. Lauria 2008, 16). Es gibt wenige Beispiele für reintegrationistisch geprägte einsprachige Wörterbücher des Galicischen, vgl. das Dicionário da Língua Galega von I. Alonso Estravís (Santiago 1995) mit einer Online-Version. Aber auch dieser Autor versucht zumindest, den Schein der Neutralität zu bewahren und verwendet die Orthographie des reintegracionismo de mínimos: É válido para aqueles que se dicen seguidores de unha norma „oficial“ […]. É válido tambén para os que defenden a chamada normativa de concordia 7 ; é válido, outrosi, para os que defenden, con critério mais racional, unha ortografía histórico-etimolóxica […]. (Alonso Estravís 1995, zit. nach Lauria 2008, 11) Die Mehrheit der einsprachigen Wörterbücher folgt der Linie der Real Academia Galega. Das richtungsweisende Dicionario da Real Academia Galega (DRAG) wurde 1997 neu aufgelegt, mit 25.000 Einträgen (die Auflage von 6 S. http: / / www.xunta.es (17.07.2013). 7 Unter „normativa de concordia“ meint der Autor die Norm des reintegracionismo de mínimos, vgl. Lauria 2008, 16. <?page no="307"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 293 1990 enthielt 12.000 Einträge). Die Online-Version des DRAG enthält inzwischen 50.000 Einträge (Real Academia Galega (ed.), Características do Dicionario). Umfangreichere einsprachige Wörterbücher liegen mittlerweile vor, z.B. das Dicionario Xerais da Lingua von X. M. Carballeira Anllo et al. mit über 100.000 Einträgen (Vigo 2000, 2 2005). Unter den zweisprachigen Wörterbüchern stehen das Dicionario inglés-galego (Universidade de Vigo) und das Dicionario italiano-galego (Centro Ramón Piñeiro para a Investigación en Humanidades) online zur Verfügung. Am Dicionario galego-alemán (Real Academia Galega) sowie am Vocabulario galego-catalán (Universitat de Barcelona) wird gearbeitet. Mit dem Dicionario de dicionarios do galego medieval (DDGM) liegt seit 2006 ein wichtiges lexikographisches Korpus des mittelalterlichen Galicisch mit einer digitalen Version vor. Das Projekt wurde 2000 von Ernesto González Seoane in Zusammenarbeit mit María Álvarez de la Granja und Ana Isabel Boullón Agrelo (Universidade de Santiago de Compostela) ins Leben gerufen und wird ständig erweitert und aktualisiert. Massenhaft sind in den letzten zwei Jahrzehnten terminologische Wörterbücher und Glossare des Galicischen erschienen. Unter den besonders ambitionierten Projekten der Erfassung fachspezifischer Terminologie sind folgende zu nennen: • Diccionario galego de termos médicos der Real Academia de Medicina e Cirurxía de Galicia mit 20.000 Einträgen (Santiago de Compostela 2002) • Diccionario tecnolóxico de electricidade e electrónica von E. Rodríguez Portabales, mit 8.000 Einträgen und Abbildungen (Vigo 2002) • Dicionario Visual da Construción des Colexio Oficial de Arquitectos de Galicia mit 6.000 Einträgen. Zu den Aufgaben des Servizo de Normalización Lingüística der galicischen Universitäten gehört u.a. die terminologische Beratung bei der Vorbereitung von Qualifikationsarbeiten in galicischer Sprache. Auf den Webseiten der Servizos in Santiago de Compostela und A Coruña wurden Listen von terminologischen Wörterbüchern und Glossaren zusammengestellt. Unter den Fächern, die Berücksichtigung finden, sind Agrarwissenschaft, Anthropologie, Kunstwissenschaft, Biologie, Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Informatik, Medienwissenschaft, Medizin, Sportwissenschaft usw. Referiert werden die gedruckten Quellen sowie Internet-Glossare. Einige Beispiele 8 : Galego.org (ed.), Terminoloxía do futbol; CNL da Facultade de Xeo- 8 S. Universidade de Santiago de Compostela, Servizo de Normalización Lingüística (ed.), Andel de traballos terminográficos do SNL für weitere terminologischen Wörterbücher und Glossare. <?page no="308"?> Lidia Becker 294 grafía e Historia (ed.), Léxico de xeografía (castelán-galego), 1996; Nieto Alonso, A./ Rodríguez Río, X. A. (edd.), Termos esenciais de dereito civil (galegoespañol), 2013; Universidade de Santiago de Compostela, Servizo de Normalización Lingüística (edd.), Termos esenciais de matemáticas para a economía e a empresa (galego-español-inglés), 2009; Padín Romero, A., Glosario da arte contemporánea inglés-galego-español: unha achega baseada en córpora comparables á terminoloxía da arte relacionada coa actividade museística, 2006; Rodríguez Río, X. A. (ed.), Vocabulario de medicina (galego-español-inglés-portugués), 2008; Guitián Rivera, Xoán (ed.), Vocabulario de química (galego-español-inglés), 2002; Candocia Pita, P. et al., Vocabulario de historia (castelán-galego), 1994. Ein weiterer Bereich der regen lexikographischen Tätigkeit ist die Namenforschung. Im Jahr 2003 wurde von der Xunta ein umfangreiches Inventar der galicischen Ortsnamen Nomenclátor de Galicia: Toponímia oficial das provincias, concellos, parroquias e lugares mit einer digitalen Version herausgegeben (Xunta de Galicia (ed.), Nomenclátor de Galicia). Im Rahmen des Projekts Toponímia de Galicia, das von der Comisión de Toponímia durchgeführt wird, entsteht ein umfangreiches Corpus der Mikrotoponymie Galiciens (Xunta de Galicia (ed.), Toponímia de Galicia). Die Finanzierung des Projekts wurde allerdings kürzlich eingestellt. Darüber hinaus steht das Inventario Toponímico da Galicia Medieval (ITGM) zur Verfügung (Universidade de Santiago de Compostela, Instituto da Lingua Galega (ed.), Inventario Toponímico da Galicia Medieval). Was die Personennamen anbelangt, wurde das von Xesús Ferro Ruibal 1992 herausgegebene Diccionario dos nomes galegos im gleichen Jahr von der Real Academia Galega zum Referenzwerk erklärt (Universidade de Santiago de Compostela, Servizo de Normalización Lingüística (ed.), Como galeguizar o teu nome e apelidos). Das Projekt Cartografía dos apelidos de Galicia (CAG) wird vom Instituto da Lingua Galega sowie der Universidade de Santiago de Compostela realisiert und widmet sich der regionalen Verteilung und Verbreitung der Nachnamen Galiciens (Universidade de Santiago de Compostela, Instituto da Lingua Galega (edd.), Cartografía dos apelidos de Galicia). 3. Statusplanung des Galicischen: eine aktuelle Bestandsaufnahme 3.1. Schulbildung Der normative Streit zwischen den Autonomisten und Reintegrationisten hat in den letzten Jahren keine bedeutende Rolle im öffentlichen sprachpolitischen Diskurs gespielt. Der wichtigste Grund dafür ist allerdings nicht eine gelungene Versöhnung durch die normativa de concordia, sondern die politi- <?page no="309"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 295 sche Situation Galiciens. Nach 15 Jahren der Regierung von Manuel Fraga Iribarne (Partido Popular de Galicia, 1990-2005) und einem Intermezzo von Emilio Pérez Touriño aus dem Partido dos Socialistas de Galicia (2005-2009) kam 2009 erneut der Partido Popular mit Alberto Núñez Feijóo mit neuen sprachpolitischen Programmpunkten an die Macht. Der Madrid-freundliche mitterechts-konservative Partido Popular sammelte in dieser Wahl 47% der Stimmen, die mittelinks-autonomistisch gesinnte Opposition 46,5% (davon der Partido dos Socialistas de Galicia 29,9% und der Bloque Nacionalista Galego 16,6%), die restlichen 6,5% der Stimmen wurden für 16 weitere Parteien abgegeben (RTVE (ed.): Elecciones Galicia 2009: Los resultados). Somit ist Galicien aktuell politisch zweigeteilt, mit einer knappen Mehrheit der Madridorientierten Zentralisten. Die überwiegende Mehrheit der Zentralisten spricht sich in der Regel gegen den expansiven Sprachausbau des Galicischen aus, während die Galicisten und die Mehrheit der Linken die Ausbausmaßnahmen befürworten 9 . Die politische Polarisierung Galiciens scheint demgemäß in den sprachpolitischen Einstellungen der Bevölkerung einen beinahe unmittelbaren Niederschlag zu finden: Im Jahr 2006 stimmten beispielsweise 43% der Leser der digitalen Tageszeitung La Voz de Galicia für und 56% gegen Galicisch als alleinige Unterrichtssprache in der Schule (Alén Garabato 2009, 124-125). Die Debatte zwischen den Galicisten und Zentralisten spitzt sich gerade im Bereich der Schulbildung zu. Nachdem die in den Jahren 2007 und 2008 in der Regierungszeit des Sozialisten Touriño erlassenen Dekrete eine erweiterte Förderung des Galicischen im Schulsystem vorsahen, wurden mehrere Schlüsselpunkte dieser Regelungen durch die neue Regierung zurück korrigiert, und zwar noch bevor sie in die Praxis umgesetzt werden konnten. Die Dekrete 130 und 133 von 2007 sowie 126 von 2008 beziehen sich auf den Art. 14 des Gesetzes 3/ 1983, der die gleiche Kompetenz in den beiden Amtssprachen Spanisch und Galicisch beim Abschluss der Schulausbildung garantiert. Da die Ergebnisse dieser Regelung von der sozialistischen Regierung für bescheiden gehalten wurden, hat sie den Beschluss gefasst, mindestens 50% der Fächer in der Grundschule und in der Sekundarschule, Stufe I und II (educación secundaria obrigatoria und bacharelato) auf Galicisch unterrichten zu lassen. Dabei wurde festgelegt, dass die Unterrichtssprache in den naturwissenschaftlichen Fächern Mathematik, Physik, Biologie und Geogra- 9 Eine umfassende soziologische Untersuchung der sprachpolitischen Einstellungen bei den Wählern der wichtigsten Parteien Galiciens, die eine differenzierte Zuordnung politischer und sprachpolitischer Präferenzen liefern würde, liegt meines Wissens nicht vor. O’Rourke (2011, 138-141) stellte beispielsweise fest, dass Galicisch als Kommunikationssprache unter jüngeren Sprechern mit der Sympathie für den Bloque Nacionalista Galego assoziiert wird. <?page no="310"?> Lidia Becker 296 phie Galicisch sein sollte. In den Fächern Kastilische Sprache und Literatur und Galicische Sprache und Literatur musste die gleiche Zahl an Unterrichtsstunden angeboten werden. Angehende Schullehrer wurden verpflichtet, im Rahmen eines Praktikums Kurse der galicischen Terminologie, Fachsprachen und der Soziolinguistik zu besuchen. Die Zahl der Unterrichtsstunden im Fach Galicische Sprache und Literatur ist seit der Erlassung dieser Dekrete unverändert geblieben: 4 Wochenstunden in der Grundschule (mit Ausnahme der 6. Klasse mit 3 Stunden), 3 Stunden in der Sekundarschule, Stufe I (mit Ausnahme der 1. Klasse mit 4 Stunden), und 3 Stunden in der Sekundarschule, Stufe 2 (persönliche Mitteilung des Centro de Documentación Sociolingüística de Galicia - Consello da Cultura Galega vom 28.05.2012). Im Jahr 2010 trat das Dekret 79 „para o plurilingüísmo no ensino non universitario de Galicia“ in Kraft. Es stützt sich u.a. auf Umfragen in der galicischen Bevölkerung und auf Forderungen der Organisationen wie Galicia bilingüe, welche die Zukunft des Spanischen in Galicien als gefährdet ansieht und sich dessen Förderung in der Schulbildung zu einer Aufgabe gemacht hat 10 . Die wichtigsten Neuerungen des Dekrets 79 im Vergleich zum Stand von 2008 sind die Folgenden: • Im vorschulischen Bereich wird die Kommunikationssprache durch die Mehrheit der Eltern bestimmt. • In der Grundschule sollen das Fach Coñecemento do medio natural, social e cultural in galicischer und Mathematik in spanischer Sprache unterrichtet werden. • In der Sekundarschule, Stufe I (educación secundaria obrigatoria) sollen die Fächer Ciencias sociais, Geographie, Geschichte, Ciencias da natureza, Biologie und Geologie in galicischer; Mathematik, Tecnoloxías, Physik und Chemie in spanischer Sprache unterrichtet werden. • Der Unterricht in Fremdsprachen, vor allem auf Englisch, wird gefördert, so dass einzelne Schulen progressiv und freiwillig bis zu einem Drittel ihres Curriculums in entsprechenden Fremdsprachen anbieten dürfen. Dies ermöglicht eine gleichmäßige Verteilung der Unterrichtssprachen mit jeweils 33% für das Galicische, Spanische und für Fremdsprachen (Xunta de Galicia (ed.) 2010). Es kommt keineswegs überraschend, dass das so genannte „decretazo contra o galego“ (s. Text O galego, o noso existir unten) eine heftige Protestwelle in den galicistischen Kreisen ausgelöst hat. Die aktuelle Regierung wird als „o primeiro Goberno autonómico belixerante contra o galego“ beschimpft (Pé- 10 S. http: / / galiciabilingue.es (17.07.2013). <?page no="311"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 297 rez-Lema s.d.). Besonders umstritten sind die Bestimmung der mehrheitlichen Kommunikationssprache im vorschulischen Bereich, die Verbannung des Galicischen aus den naturwissenschaftlich-technischen Fächern und die eventuelle Reduzierung des Anteils des Galicischen als Unterrichtssprache von 50% auf 33%. Am 17. Mai 2010 fand eine Protestkundgebung der Plattform Queremos Galego 11 gegen die Sprachpolitik des Partido Popular in Santiago de Compostela statt. Im Manifest O galego, o noso existir wird die Existenz der autonomen Regierung in Galicien an die galicische Sprache geknüpft und die Legitimität der aktuellen Regierung wegen ihres Umgangs mit Galicisch in Frage gestellt. Die Asociación Sócio-Pedagóxica Galega, Verfechterin des reintegracionismo de mínimos, hat eine zentrale Rolle in der Organisation der Kundgebung gespielt. Die Teilnahme der AS-PG erklärt die Wahl der lusophonen, seit der normativa de concordia von 2003 kooffiziellen Form Galiza des Regionsnamens im Manifest, das im Folgenden in Originalform und als Zitat aufgeführt wird. Abb. 2: Manifest O galego, o noso existir der Plattform Queremos Galego (Asociación Sócio-Pedagóxica Galega (ed.) 2010) O idioma é para a inmensa maioría das galegas e dos galegos un patrimonio propio, único, insubstituíbel. Sentimos o galego como algo noso, independentemente da lingua que empreguemos no noso día a día. É a nosa creación máis valiosa e perténcenos. 11 S. http: / / www.queremosgalego.org (17.07.2013). <?page no="312"?> Lidia Becker 298 Poucas dúbidas hai de que se Galiza ten hoxe un certo grao de autogoberno, cunhas institucións propias é, nunha parte fundamental, debido a termos unha lingua e unha cultura propias. Lamentabelmente, desde hai un ano temos un presidente e un goberno da Xunta que parecen non decatarse de que se están aí é grazas a termos un idioma de noso. Incumpren de forma incívica o mandato estatutario de promover o galego e andan ás patadas con el. O mellor exemplo desta política tan lesiva é o decretazo contra o galego, que, por exemplo, varre a nosa lingua da educación infantil nas cidades e prohibe ao profesorado o seu uso nas materias do ámbito científico-técnico. A sociedade galega está a responder mobilizándose contra a extinción da nosa lingua e reclamando ás institucións que cumpran coa súa obriga de promovela, para garantir a igualdade de coñecemento, a igualdade de dereitos e a igualdade de oportunidades. A plataforma Queremos Galego, impulsada e coordinada pola Mesa pola Normalización Lingüística e integrada por máis de 700 entidades de todo tipo, chama con ese obxectivo á mobilización social o vindeiro 17 de maio, o Día das Letras, nunha manifestación que partirá ás 12 h da Alameda de Santiago de Compostela e se fechará na praza do Obradoiro. Ademais, Queremos Galego anima ao conxunto da cidadanía a que apoie coa súa sinatura unha proposición de lei de garantía dos dereitos lingüísticos, sobre a que existe máis información na páxina web www.queremosgalego.org. Gañar unhas eleccións non significa poder exercer o poder de maneira absoluta. Merecemos uns gobernantes responsábeis que non estean a xogar co noso existir. Sen o galego, Galiza non ten futuro. (Asociación Sócio-Pedagóxica Galega (ed.) 2010) 3.2. Fallbeispiel: Verwendung des Toponyms A / La Coruña im politischen Kontext Ein Fallbeispiel aus dem Bereich der Statusplanung soll nun exemplarisch ein verwandtes Thema der aktuellen sprachpolitischen Diskussion in Galicien verdeutlichen. Im Juni 2011 hat Carlos Negreira aus dem Partido Popular die Bürgermeisterwahlen in der Stadt A Coruña gewonnen. Sein Wahlspruch lautete Ayer por Galicia, ahora por La Coruña. Negreira selbst erklärte ihn durch eine sprachpolitische Inkonsequenz: Während die Galicisten seit 2003 zwischen zwei Formen Galicia und Galiza wählen dürfen, ließen sie den Bürgern seiner Stadt keine Wahl zwischen A Coruña und La Coruña, da in Galicien allein die galicischen Formen von Toponymen offiziell sind: „Dar máis liberdade é o que pretendemos. Algúns que non queren isto, logo eles para si mesmos utilizan Galicia ou Galiza, pero ós demais non nos deixan utilizar a denominación que entendemos correcta“ (Negreira, zit. nach EuropaPress.es (ed.) 2011). <?page no="313"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 299 Abb. 3: Carlos Negreira, Bürgermeister von A Coruña seit Juni 2011, mit dem Wahlspruch Ayer por Galicia, ahora por La Coruña (Nebreda s.d.) Die Entscheidung Negreiras, beide Formen als kooffiziell zuzulassen, die er, falls erforderlich, im galicischen Parlament zu verteidigen bereit war, wurde vom Regierungsoberhaupt Feijóo unterstützt: „hai moitísimos máis coruñeses a favor do topónimo bilingüe A Coruña-La Coruña que galegos a favor de chamarlle Galiza a Galicia“ (Feijóo, zit. nach Lorenzo 2010). Auf diese Weise wurde die alte Debatte um die Kooffizialität der spanischen und galicischen Formen des Stadtnamens A Coruña / La Coruña wiederbelebt. Die Versuche, im offiziellen Kontext die spanische Form La Coruña zu verankern, sind in dieser traditionell spanisch geprägten Stadt zahlreich gewesen, so dass die Mesa pola Normalización Lingüística, eine unabhängige sprachpolitische Kontrollplattform, Anfang der 90er Jahre eine Werbekampagne A Coruña, así a queremos gestartet hat (A Mesa pola Normalización Lingüística (ed.), A Coruña, así a queremos! ). <?page no="314"?> Lidia Becker 300 4. Schlussbemerkungen • Die offiziellen Normas ortográficas e morfolóxicas do idioma galego von 1983 wurden seit 1991 zweimal modifiziert. Während die Neuauflage von 1995 nur wenige unwesentliche Änderungen enthält, stellt die normativa de concordia von 2003 einen Annäherungsversuch an die gemäßigt lusophone Norm des reintegracionismo de mínimos dar. Äußerungen von Carlos Casares zugunsten einer Orthographiereform haben dem Reformprojekt einen entscheidenden Impuls gegeben. Ein Schriftstellerforum vermochte somit die Verteidiger der offiziellen, überwiegend spanisch orientierten Norm zu überzeugen. Die normativa de concordia scheint jedenfalls den normativen Konflikt entspannt, aber nicht endgültig gelöst zu haben. • Die lexikographische Korpusplanung des Galicischen, die vom Normenstreit zwischen den Autonomisten und Reintegrationisten weitgehend unberührt geblieben ist, hat in den letzten 20 Jahren einen regelrechten Boom erlebt, vor allem in den Bereichen der zweisprachigen Wörterbücher, des historischen Wortschatzes, der Terminologie und der Namenforschung. • Die sprachpolitische Diskussion wird aktuell infolge der aufeinanderfolgenden Machtwechsel von 2005 und 2009 nicht von Fragen der Korpusplanung, sondern von politisch brisanten Themen der Statusplanung wie der Präsenz des Galicischen im Schulunterricht beherrscht. Die Akteure sind dabei die politischen Gruppierungen der Galicisten und der Zentralisten, die jeweils mehrheitlich als Befürworter und Kritiker des expansiven Sprachausbaus auftreten. Dabei fällt auf, dass, obwohl mit dem Ziel des Bilinguismus, also der gleichmäßigen Verwendung des Galicischen und des Spanischen in allen Funktionsbereichen, argumentiert wird, tatsächlich allein die Vormachtstellung der jeweiligen Referenzsprache sowohl von den Galicisten als auch von den Zentralisten verfolgt wird (vgl. Del Valle 2000). Dies wird am Beispiel des Jonglierens mit Unterrichtssprachen in den naturwissenschaftlich-technischen Fächern je nach Konstellation der Machtinhaber deutlich, die sich bekanntlich an der Spitze des Sprachausbauprozesses befinden (vgl. Kloss 1978, 47-48). Die Wiederbelebung der Diskussion um die Kooffizialität spanischer Ortsnamenformen durch Vertreter der Zentralisten liefert ein weiteres Beispiel für die traditionell enge Verknüpfung politischer und sprachpolitischer Fragen in Galicien. <?page no="315"?> Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen 301 Bibliographie A Mesa pola Normalización Lingüística (Ed.): A Coruña, así a queremos! http: / / www.amesanl.org/ gl/ zonas/ corunha (17.07.2013). Alén Garabato, Carmen: Langues minoritaires en quête de dignité. Le galicien en Espagne et l’occitan en France. Paris : L’Harmattan 2009. Asociación Sócio-Pedagóxica Galega (Ed.): O Galego, o noso existir. Boletín Nº 22 maio de 2010. http: / / www.as-pg.com/ resources/ ebulletins/ pdfs/ 1273679375016 Folleto%2017%20maio%20O%20Galego%20O%20Noso%20Existir.pdf (17.07.2013). Associaçom Civil „Amigos do Idioma Galego“ (Ed.): Boletim: Julho - Setembro 1999, http: / / www.adigal.org.ar/ set99.htm (17.07.2013). 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Außereuropäische Romania <?page no="321"?> Julia Kuhn (Jena) - Rafael Matos (Jena) Estudio de la vitalidad de la lengua indígena pemón, en el sureste de Venezuela: el caso de la comunidad de Santo Domingo de Turacén Los pemón son un grupo indígena que habita la región sureste de Venezuela (Estado Bolívar), extendiéndose hasta zonas vecinas de Guyana y de Brasil (Estado de Roraima), aunque la mayor parte de la población habita en Venezuela. Los territorios comprenden dos zonas ecológicas: a) de sabana, que va desde 550 a 1500 metros sobre el nivel del mar, con una precipitación anual de 1100 a 2200 mm., una temperatura media anual de 18 a 24° y donde predomina una topografía ligeramente ondulada, interrumpida por montañas abruptas cubiertas de bosque y lechos de ríos y caños; y b) de selva fluvial, que va de 500 a 1700 metros sobre el nivel del mar, con una precipitación anual de 2000 a 4000 mm. y una temperatura media anual de 18 a 24°. La zona de sabana alberga el grueso de la población. Ilust. 1: Mapa de Venezuela indicando la localización del grupo indígena pemón, enel estado Bolívar (tomado de Rojas López y Tovar Z., 2011, 116) <?page no="322"?> Julia Kuhn - Rafael Matos 308 La ocupación de los diversos territorios se realizó entre el siglo XVIII y comienzos del siglo XX. Hasta principios del siglo pasado, fueron mínimos los contactos continuos y directos con los pemón, tanto con venezolanos, brasileños, guyaneses y europeos. El relativo aislamiento fue roto en ese entonces con la instalación de misiones religiosas (capuchinos y adventistas) y la llegada de mineros a las zonas diamantíferas. Los capuchinos crearon diversas misiones, la primera en Santa Elena, en 1931, y luego en otras regiones como Kavanayén (1942) y Kamarata (1954). Las primeras incursiones de las misiones adventistas comenzaron en 1911, siendo más importantes las que sucedieron entre 1927 y 1930, cuando se establecieron en Santa Elena. La influencia de la minería, que se limita mayormente al siglo XX, es considerable a partir de 1945, año a partir del cual se intensifica (Thomas 1983). Este pueblo habla una lengua de la familia caribe que se conserva sin mayores alteraciones lingüísticas, con la excepción de algunos individuos muy criollizados (Benavides 2000). La palabra “pemón” significa gente y el término se utiliza para designar a quienes pertenecen a este grupo étnico, diferenciándolos de criollos > otros indígenas. Tradicionalmente, se distinguen tres dialectos mutuamente inteligibles: el kamarakoto, el arekuna, y el taurepán (Thomas 1983, 310). Estos dialectos se ubican en territorios relativamente bien delimitados: si se traza una línea en dirección este-oeste, a través del río Mauruk, afluente del Karuai, se encontraría que el arekuna se ubica al norte, el kamarakoto en el centro-oeste (en las zonas de Kamarata y Urimán) y el taurepán al sur. Sin embargo, y dadas las considerables similitudes entre el taurepán y el arekuna, algunos autores (véase Benavides 2000) consideran que debe hablarse de sólo dos variantes geográficas, el kamarakoto y el taurepán-arekuna, agregando que el primero se ha ido aproximando al segundo en las últimas generaciones. En esta región se observa un rápido crecimiento demográfico desde que se realizan registros. Se estimaron 1600 habitantes del pueblo pemón, en 1937, llegando a los 4000, en 1970 (Thomas 1983). El censo indígena del 2001, registró 24119 habitantes (INE 2010) y las estimaciones del censo correspondiente al 2011 1 prevén unas 39000 personas (INE 2013). En el 2001, se censaron 296 comunidades de este pueblo y se encontró que un 51,9% de las personas eran bilingües 2 , con una tasa de alfabetismo 3 en castellano del 1 Para el momento de la redacción, aún no se han publicado los resultados oficiales del censo indígena 2011. 2 En castellano y pemón. 3 Personas mayores de 15 años que saben leer y escribir. <?page no="323"?> Estudio de la vitalidad de la lengua indígena pemón 309 74,6% y del 52,2% en pemón (INE 2010). Según este mismo censo, el 65,5% de los pemón habita en el municipio Gran Sabana. En Brasil, el pueblo pemón es conocido como taurepang y se emplea preferentemente esta última denominación. Se ubican en la parte norte de la región de campos y sierras del estado de Roraima, en la frontera con Venezuela y Guyana. Las comunidades se encuentran en las Tierras Indígenas ‘Raposa Serra do Sol’ y ‘S-o Marcos’, donde también habitan otros grupos indígenas. Para el 2010, la población se estimaba en 673 personas (Andrello 2013). Del lado de Guyana, son identificados como amerindios del grupo lingüístico arekuna y se ubican mayormente al norte de la Sierra de Pacaraima, en la Aldea de Paruima, cerca al área gran sabana de Venezuela. Para el 2002, la población se estimaba en 500 personas (UNICEF 2009, 411). En Venezuela, donde se localiza la mayor parte de la población, la distribución de las comunidades en el territorio es heterogénea. En algunos casos, la comunidad se ubica en un contexto suburbano de fácil acceso, contando con carreteras asfaltadas y transporte público. En otros, la comunidad se localiza en un contexto rural de difícil acceso, dándose el caso de comunidades que cuentan sólo con acceso fluvial o aéreo. En este mismo sentido varían la variedad de los servicios públicos y el acceso a los medios de comunicación. La comunidad de Santo Domingo de Turacén, o simplemente Turacén como la denominan los habitantes, está ubicada en el municipio Gran Sabana del Estado Bolívar. Se encuentra a unos 20 km. de la capital del municipio, Santa Elena de Uairén, al borde de una carretera asfaltada que continúa luego de los terrenos del aeropuerto. Así, el acceso a la comunidad no presenta dificultades y está conectada con el centro de la ciudad a través autobuses regulares, con una frecuencia aproximada de uno cada hora. La comunidad alberga unas 50 casas, la mayoría construida en colectivo, siguiendo los planos y los materiales aportados por el gobierno central en los años 90. La población ronda los 400 habitantes, según informaciones del capitán de la comunidad. La mayoría de las familias vive de la minería, por lo cual es frecuente que alguno o varios de sus miembros estén ausentes durante largos períodos al año. La mayoría de las personas pertenece a la Iglesia Adventista del Séptimo Día, cuyo culto se celebra en la escuela comunal. <?page no="324"?> Julia Kuhn - Rafael Matos 310 Datos empíricos Para conocer la situación actual de la lengua pemón se ha realizado una investigación de campo en Venezuela. Allí se han encuestado a un grupo de habitantes de tres comunidades de habla pemón: Turacén, Maurak y Manakkrü. En este artículo sólo tratará de los habitantes de la comunidad de Turacén. La metodología, incluyendo la construcción del cuestionario, se realizó siguiendo las consideraciones y lineamientos de Terborg y García Landa (2011). El cuestionario de aplicó oralmente, en español, visitando las casas de la comunidad. A los habitantes se les preguntó según los siguientes criterios: conocimiento tanto del pemón como del español, el uso de la lengua en el hogar y su utilización en diferentes dominios: la familia, los amigos, la tienda, la escuela, la iglesia, la asamblea comunitaria y con el Estado. La muestra quedó constituida por 92 aplicaciones, correspondientes a 48 mujeres y 44 hombres, con edades comprendidas entre los 3 y 69 años. Género Total Femenino Masculino Grupos de edad menos de 12 14 6 20 12-19 11 12 23 20-35 14 12 26 36-49 5 8 13 50 o más 4 6 10 Total 48 44 92 Tabla 1: Género y grupos de edad de la muestra En cuanto a la competencia lingüística, se pidió a los entrevistados que valoraran su conocimiento tanto del pemón y como del español (¿habla pemón/ español? : sí, poco, sólo entiende, nada). En las tablas 2 y 3 se muestran los resultados a estas preguntas. 78 (84,8%) personas indicaron hablar bien el pemón, contra 47 (51,1%) el español. Sin embargo, hay que destacar que más del 90% de las personas dicen hablar bien o poco cada lengua (93,5% para el <?page no="325"?> Estudio de la vitalidad de la lengua indígena pemón 311 pemón y 91,3% para el español). Esto señala un alto nivel de bilingüismo en la comunidad. Lengua: Pemón Total Bien Poco Sólo entiende Nada Grupos de edad menos de 12 14 2 4 0 20 (21,7%) 12-19 18 4 1 0 23 (25,5%) 20-35 24 1 0 1 26 (28,3%) 36-49 12 1 0 0 13 (14,1%) 50 o más 10 0 0 0 10 (10,9%) Total 78 (84,8%) 8 (8,7%) 5 (5,4%) 1 (1,1%) 92 Tabla 2: Lengua pemón por grupos de edad Lengua: Español Total Bien Poco Sólo entiende Grupos de edad menos de 12 8 8 4 20 (21,7%) 12-19 18 5 0 23 (25,5%) 20-35 14 12 0 26 (28,3%) 36-49 5 5 3 13 (14,1%) 50 o más 2 7 1 10 (10,9%) Total 47 (51,1%) 37 (40,2%) 8 (8,7%) 92 Tabla 3: Lengua español por grupos de edad Hay que destacar que si vemos el resultado de los que dicen hablar bien pemón, la proporción crece linealmente a medida que aumenta la edad. Así, pasan del 70% (14) para los menores de 12 años, al 78,3% (18) para el grupo de 12 a 19 años, llegando al 92,3% (24 y 12) para los grupos de 20 a 35 y de 36 <?page no="326"?> Julia Kuhn - Rafael Matos 312 a 49 años, terminando con el 100% (10) en los mayores de 50 años. La relación inversa, para los que dicen hablar bien español, parece cumplirse salvo en la primera categoría, menores de 12 años, con valores de 40% (8), 78,3% (18), 53,8% (14), 38,5% (5) y 20% (2), respectivamente. Esta relación se muestra en el gráfico 1. Gráf. 1: Proporción de competencia lingüística por grupo de edad Combinando las respuestas anteriores, podemos conocer qué nivel dijeron tener los encuestados en cada una de las lenguas. Este resultado aparece en la tabla 4. Como vemos, 36 personas (46,2%) dijeron hablar bien ambas lenguas, mientras que 35 (44,9%) dijeron hablar bien pemón y poco español. 0 50 100 menos de 12 12-19 20-35 36-49 50 o más Grupos de edad (en años) Bien pemón Bien español <?page no="327"?> Estudio de la vitalidad de la lengua indígena pemón 313 Lengua: Español Total Bien Poco Sólo entiende Lengua: Pemón Bien 36 35 7 78 Poco 5 2 1 8 Sólo entiende 5 0 0 5 Nada 1 0 0 1 Total 47 37 8 92 Tabla 4: Cruce de lenguas pemón y español En cuanto al uso de la lengua en el hogar según la edad del interlocutor, como se puede observar en la tabla 5, la proporción del uso del pemón aumenta linealmente según la edad de la persona con quien se habla. niños adolescentes adultos ancianos P A E P A E P A E P A E <12 5 7 1 5 6 2 6 5 2 8 4 1 12-19 10 9 3 8 11 3 11 9 2 20 2 0 20-35 10 11 3 14 8 2 18 6 0 20 4 0 36-49 6 1 4 4 5 2 7 4 0 10 1 0 >50 7 1 1 9 0 0 9 0 0 9 0 0 Total 38 29 12 40 30 9 51 24 4 67 11 1 in % 48,1 36,7 15,2 50,6 38,0 11,4 64,6 30,4 5,1 84,8 13,9 1,3 Tabla 5: Lengua hablada en el hogar según la edad del interlocutor por grupos de edad Así, el 48,1% de las personas dijeron hablar pemón con los niños, 50,6% con los adolescentes, 64,6% con los adultos y 84,8% con los ancianos. Inversamente, la proporción del uso del español disminuye a medida que aumenta la edad: 15,2% con niños, 11,4% con adolescentes, 5,1% con adultos <?page no="328"?> Julia Kuhn - Rafael Matos 314 y 1,3% con ancianos. Salvo con los ancianos, ambas lenguas se utilizan en cerca de un tercio de los casos. Esta relación se observa mejor en el gráfico 2. Gráf. 2: Proporción de lengua hablada en el hogar según el interlocutor Observando los resultados en cuanto a los grupos de edad, notamos que los menores de 35 años dijeron hablar con los niños sólo en pemón o utilizando ambas lenguas, indistintamente. A partir de los 20 años se utiliza preferentemente el pemón con adolescentes, adultos y ancianos y, a partir de los 36 años, también con niños. Sólo 5 personas, todas ellas menores de 20 años, dijeron hablar sólo en español con adultos y ancianos. En cuanto a la lengua utilizada con la familia, el pemón es dominante (68,4%), mientras que el 20,3% utiliza ambas lenguas. Con los amigos, se encontró una proporción ligeramente mayor en la utilización de ambas lenguas (45,6%) que en el pemón solo (41,8%). Los resultados se muestran en la tabla 6. 0 20 40 60 80 100 niños adolescentes adultos ancianos Pemón Ambas Español <?page no="329"?> Estudio de la vitalidad de la lengua indígena pemón 315 Familia Amigos Pemón Ambas Español Pemón Ambas Español menos de 12 8 3 2 4 7 2 12-19 15 5 2 5 13 4 20-35 16 5 3 12 10 2 36-49 6 3 2 5 4 2 50 o más 9 0 0 7 2 0 Total 54 16 9 33 36 10 68,4% 20,3% 11,4% 41,8% 45,6% 12,7% Tabla 6: Lengua hablada con la familia y los amigos por grupos de edad Como vemos en la tabla 7, en la tienda el pemón parece jugar un rol marginal. La gran mayoría (90,5%) utiliza sólo el español en la tienda. En la escuela, predomina el uso de ambas lenguas, como dijo el 70,4% de las personas. En la iglesia, la mayoría dice utilizar el pemón (67,6%), mientras que un 29,6% utiliza ambas lenguas. Tienda Escuela Iglesia Pemón Ambas Español Pemón Ambas Español Pemón Ambas Español menos de 12 2 1 5 1 11 1 8 3 0 12-19 0 1 21 0 20 1 12 7 1 20-35 0 1 23 6 12 3 14 7 0 36-49 0 2 9 3 5 3 5 4 1 50 o más 0 0 9 3 2 0 9 0 0 Total 2 5 67 13 50 8 48 21 2 in % 2,7 6,8 90,5 18,3 70,4 11,3 67,6 29,6 2,8 Tabla 7: Lengua hablada en la tienda, la escuela y la iglesia por grupos de edad En la asamblea comunitaria, la mayoría de las personas dijo hablar pemón (67,3%) o ambas lenguas (28,8%). En cuanto a las relaciones con el Estado, el <?page no="330"?> Julia Kuhn - Rafael Matos 316 español domina mayoritariamente (97,6%). Los resultados se muestran en la tabla 8. Asamblea Estado Pemón Ambas Español Pemón Ambas Español 12-19 5 5 1 0 0 17 20-35 16 6 0 0 2 22 36-49 6 4 1 0 0 10 50 o más 8 0 0 0 0 9 Total 35 15 2 0 2 58 67,3% 28,8% 3,8% 0,0% 3,3% 96,7% Tabla 8: Lengua hablada en la asamblea y con el gobierno por grupos de edad Estos resultados por dominio se pueden apreciar más claramente en el gráfico 3. Gráf. 3: Resultados por dominio 0% 20% 40% 60% 80% 100% Familia Amigos Tienda Escuela Iglesia Asamblea Estado Pemón Ambas Español <?page no="331"?> Estudio de la vitalidad de la lengua indígena pemón 317 Conclusión En la comunidad de Turacén se observó una gran competencia en la lengua indígena. Más de las tres cuartas partes de las personas dijeron hablarla bien y otro 9% un poco. En cuanto al español, la mitad dijo hablarlo bien y otro 40% un poco. Esto describe una comunidad altamente bilingüe, donde casi el 90% de las personas habla bien o poco tanto el pemón como el español. Sin embargo, se encontró una relación lineal entre la edad y el dominio de la lengua indígena. A medida que aumenta la edad crece la proporción de personas que hablan bien el pemón. Inversamente, parecieran ser los más jóvenes quienes mejor dicen hablar el español. En el hogar y según con quien se hable, la lengua indígena se utiliza mucho más según aumenta la edad del interlocutor. Al contrario, se utiliza más el español frente a los más jóvenes. Aunque hay que matizar este último resultado, considerando que la proporción más importante, con los niños, fue de 15%. En la vida privada, con la familia, casi dos tercios de las personas dijo hablar en pemón, frente a un 20% de ambas lenguas. Con los amigos, la situación parece equilibrada entre el uso del pemón (42%) y ambas lenguas (46%). En ambos casos, sólo poco más del 10% dijo hablar sólo en español. En la vida pública la utilización de la lengua es completamente diferente en comparación con la vida privada y varía fuertemente según el dominio. Mientras en la asamblea comunitaria y en la iglesia, la lengua indígena domina con cerca del 70% del uso y el español es hablado por pocas personas, la utilización de las dos lenguas es dominante en la escuela, en la misma proporción. Completamente diferente es la situación en la tienda, donde sólo el 3% utiliza el pemón y el 7% ambas lenguas. En los intercambios con el Estado, el español domina marcadamente y el pemón prácticamente no es utilizado. Referencias Andrello, Geraldo: Taurepang. Enciclopédia dos Povos Indígenas no Brasil. Instituto Socioambiental. Disponible en línea: http: / / pib.socioambiental.org/ es/ povo/ taurepang/ print consultado el 01.07.2013. Benavides, Basilio: „Pemón”. In: Mosonyi, Esteban Emilio / Mosonyi, Jorge Carlos (Ed.): Manual de las lenguas indígenas de Venezuela. Caracas: Fundación Bigott 2000, 493-543. INE (2010): Síntesis estadística: Bolívar. Instituto Nacional de Estadística. Disponible en línea: http: / / www.ine.gov.ve/ documentos/ see/ sintesisestadistica2011/ estados / Bolivar/ index.htm, consultado el 19.06.2013. <?page no="332"?> Julia Kuhn - Rafael Matos 318 INE (2013): Primeros Resultados de Población Indígena. Instituto Nacional de Estadística. Disponible en línea: http: / / www.ine.gov.ve/ index.php? option=com_content &view=category&id=95&Itemid=9#, consultado el 19.06.2013. Rojas L., José / Tovar Z., Frank (2011): „Lectura etnogeográfica del territorio Pemon- Taurepan en la frontera sureste de la Guayana Venezolana”. In: Revista Venezolana de Ciencia Política (39), 113-134. Disponible en línea: http: / / www.saber.ula.ve/ bitstream/ 123456789/ 35353/ 1/ articulo6.pdf, consultado el 16.03.2013. Terborg, Roland / García Landa, Laura: Muerte y vitalidad de lenguas indígenas y las presiones sobre sus hablantes. México, DF: Univ. Nacional Autónoma de México 2011. Thomas, David J.: „Los Pemón”. In: Lizarralde, Roberto / Seijas, Haydée (Ed.): Los Aborigenes de Venezuela. Caracas: Fundación La Salle de Ciencias naturales- Instituto Caribe de Antropología y Sociología (Monografía / Fundación La Salle, 29) 1983, 303-379. UNICEF (2009): Atlas sociolingüístico de pueblos indígenas en América Latina. 2 Tomo. Disponible en línea: http: / / www.unicef.org/ lac/ media_17194.htm, consultado el 01.07.2013. <?page no="333"?> Annegret Bollée (Bamberg) Sibylle Kriegel (Aix Marseille Université, Laboratoire Parole et Langage, UMR 7309 du CNRS) Kodifizierung und Ausbau des Kreolischen der Seychellen 1. Die Verschriftlichung des Seychellenkreols Im Oktober 2012 feierte das Lenstiti Kreol der Seychellen den 25. Jahrestag seiner Gründung mit einem internationalen Kolloquium unter dem Titel „Kiltir Kreol - Lakademi Kreol“, das ein wichtiger Programmpunkt im Rahmen des seit 1985 alljährlich stattfindenden Festival Kreol war. Das Festival und das Kolloquium, dessen Beiträge und Diskussionen fast ausschließlich auf Kreolisch stattfanden, machten anschaulich, welche Bedeutung das Seychellische im öffentlichen und insbesondere im kulturellen Leben erlangt hat, und dass Kodifizierung und Sprachausbau seit den ersten Versuchen der Verschriftlichung in den 1970er Jahren, über die im Rahmen des Romanistischen Kolloquiums V berichtet wurde, große Fortschritte gemacht haben. Es stellt sich bei einer von nur etwa 87.000 Sprechern verwendeten Sprache die grundsätzliche Frage, ob sich der Aufwand ihrer Kodifizierung überhaupt lohnt, bzw. welche Rolle sie in der heutigen Situation der Globalisierung in ihrer Schriftform spielen kann. Ihr Nutzen ist naturgemäß begrenzt, wenn in einer Diglossie- oder Triglossie-Situation bereits Schriftsprachen von internationaler Reichweite, zumeist als Erbe der Kolonialzeit, zur Verfügung stehen, die den lokalen Bedarf an Schriftlichkeit in der Vergangenheit offenbar decken konnten. Zu definieren ist allerdings, worin genau der Bedarf besteht. Die Seychellen, von 1772 bis 1810 französische, danach bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1976 englische Kolonie, sind seit 1979 offiziell dreisprachig: kreolisch - englisch - französisch. Der Bedarf an einer Verschriftlichung des Kreolischen wurde zuerst von der anglikanischen Kirche gesehen, der allerdings nur etwa 6,4% der Seychellois angehören. 1974 erschien eine Übersetzung des Markusevangeliums in der traditionell verwendeten etymologischen Schreibweise, deren Problematik nicht zuletzt bei der Drucklegung dieses ersten kreolischen „Buches“ deutlich wurde (Bollée 1991, 379-382). In <?page no="334"?> Annegret Bollée - Sibylle Kriegel 320 den 1980er Jahren schlossen sich die Kirchen der Seychellen zur Seychelles Bible Society zusammen, diese veröffentlichte 1999 das gesamte Neue Testament, nunmehr in der inzwischen etablierten phonemischen Orthographie; die ersten 7.000 Exemplare waren binnen weniger Wochen vergriffen. Danach wurde die Übersetzung des Alten Testaments begonnen, 17 Bücher liegen bereits vor, und bei einer Buchpräsentation im Rahmen des Festival Kreol wurde am 29.10.2012 die Übersetzung des Buchs Jesaja (Liv Ezaí) vorgestellt. Dringender war aber sicher der Bedarf für das Erziehungswesen. Bis in die 1980er Jahre lag die Analphabetenrate noch über 30%, und einer der Gründe dafür war, dass die Kinder nicht in ihrer Muttersprache Lesen und Schreiben lernten. Danielle de St Jorre (1941-1997), deren Verdienste um die Förderung des Kreolischen im Rahmen des o.g. Kolloquiums gewürdigt wurden, war damals Staatssekretärin im Erziehungsministerium und die treibende Kraft bei der Einführung des Kreolischen in der Grundschule. Sie hatte zusammen mit A. Bollée 1978 unter dem Titel Apprenons la nouvelle orthographe einen ersten Vorschlag für eine „orthographe rationnelle“ gemacht, die sich allerdings wegen einiger unglücklicher Konzessionen an die traditionelle Graphie „à la française“ (z.B. <oi> für [wa], weil der Buchstabe w als inakzeptabel galt) bald als reformbedürftig erwies. Die Reformen, die auch die Schreibung der Nasale betrafen (s.u.), näherten die seychellische Graphie der offiziellen Orthographie des Haitianischen an, was gewiss nicht von Nachteil ist, zumal diese - mit wenigen Modifikationen - auch vom GEREC auf den Antillen übernommen wurde. Das modifizierte Schreibsystem wurde durch das erste kreolisch-französische Wörterbuch von Danielle de St Jorre und Guy Lionnet verbreitet, das 1982 rechtzeitig zur Einführung des Kreolischen in der Grundschule und 1999 in zweiter Auflage erschienen ist. Das Heranwachsen einer Generation von Schülern, die auf Kreolisch alphabetisiert wurden, führt natürlich zu der Frage, was sie mit dieser Fertigkeit anfangen können, m.a.W. ob sie genügend kreolischen Lesestoff in Form von Büchern oder Printmedien vorfinden. Diese Frage ist eher zu verneinen. Das Lenstiti Kreol hat sich nach Kräften um die Publikation von Büchern bemüht, aber doch mit eher bescheidenen Erfolgen (s.u.) 1 , und die Printmedien haben sich dem Kreolischen bisher nur zögerlich geöffnet. Dies hat verschiedene Gründe: Es musste erst einmal eine Generation von Journalisten und Lesern herangewachsen sein, die Kreolisch lesen und schreiben 1 Einige der Print-Publikationen des Lenstiti Kreol finden sich in der online-Zeitschrift Creolica (http: / / creolica.net/ Corpus-de-creole-seychellois) in der Rubrik “Corpus” in elektronischer Form. <?page no="335"?> Kodifizierung und Ausbau des Kreolischen der Seychellen 321 gelernt hatten - davon ist inzwischen auszugehen -, und es ist zu bedenken, dass viele Nachrichten von den internationalen Agenturen auf Englisch oder Französisch übernommen werden, die ins Kreolische zu übersetzen eine zusätzliche Mühe darstellt. Es ist aber zu beobachten, dass viele Reportagen über lokale Ereignisse sowie auch Kommentare und Leserbriefe 2 inzwischen auf Kreolisch abgefasst sind. Die einzige Tageszeitung, Seychelles Nation, die auch in einer Online-Version publiziert wird (http: / / www.nation.sc/ ), enthält vor allem Artikel auf Englisch, das Französische und das Kreolische sind weit weniger vertreten. Unsere Auszählungen für alle Ausgaben in den Monaten Oktober 2012 bis Januar 2013 haben ergeben, dass 8,5% aller Artikel in kreolischer Sprache verfasst sind. Dabei ist zu beobachten, dass der Anteil der kreolischen Artikel rund um das jährliche Festival Kreol am 28.10. jeden Jahres erheblich ansteigt (11,7% für Oktober 2012), um dann wieder abzufallen (knapp 7% für die Monate Dezember 2012 und Januar 2013). Auszählungen für einen vergleichbaren Zeitraum im Jahr 2004 haben ergeben, dass die Anzahl der kreolischen Artikel seit neun Jahren ungefähr konstant ist 3 . Nach unserem Eindruck decken die kreolischen Zeitungsartikel nicht einen wirklichen Bedarf, da die Printmedien, verglichen mit Radio und Fernsehen, nur eine sehr marginale Rolle spielen und jeder potentielle Zeitungsleser in der Schule genügend Englisch (und vielleicht auch Französisch) gelernt hat. Man sollte den Nutzen der Alphabetisierung in der Muttersprache aber auch unter einem anderen Blickwinkel sehen: Sie ist auf jeden Fall ein großer Vorteil, wenn Kinder auf dieser gesicherten Grundlage eine Zweit- oder auch Drittsprache erlernen. Alle seychellischen Kinder lernen heute Lesen und Schreiben, und die Schulreform von 1982 hat zu deutlich besseren Erfolgen auch in allen anderen Fächern geführt. Es sei jedoch nicht verschwiegen, dass ein Teil der Gesellschaft dem Kreol in der Schule nach wie vor ablehnend gegenüber steht und dass viele Familien, die es sich leisten können, ihre Kinder auf „kreolfreie“ Privatschulen schicken. 2 Vor allem in The People, der Wochenzeitung der Regierungspartei Parti Lepep. Dort finden sich u.a. auch Berichte über Anfragen und Beiträge von Abgeordneten in Sitzungen der Nationalversammlung (Lasanble Nasyonal), deren Debatten in kreolischer Sprache geführt werden. Auch in der Tageszeitung Nation betreffen die kreolischen Artikel fast immer lokale Ereignisse, insbesondere Kleinkriminalität, kulturelle Veranstaltungen, vor allem rund um das Festival Kreol sowie Artikel über Sozialarbeit mit Senioren. 3 Zum Vergleich siehe die Zahlenangaben für das Ende der 1980er Jahre in Bollée 1993/ 2007, 11 f. <?page no="336"?> Annegret Bollée - Sibylle Kriegel 322 2. Orthographie Die Einführung des Kreolischen ins Schulwesen war und ist Grundpfeiler der prokreolischen Sprachpolitik der sozialistischen Partei, die 1977 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen ist und eine Einparteienregierung etabliert hat. Seit 1993 sind andere politische Parteien wieder zugelassen und die sozialistische Parti Lepep sowie ihr Vorsitzender, Präsident James Michel, sind durch demokratische Wahlen legitimiert. Diesen politischen Gegebenheiten ist es zu verdanken, dass die Kodifizierung ein offizielles Anliegen der Regierung ist, wenn sie auch vielleicht nicht immer die Aufmerksamkeit und die finanzielle Unterstützung erfährt, die nötig wären. Es wurden Norminstanzen geschaffen, denen man ohne Zögern erfolgreiche Arbeit bescheinigen kann, obwohl (noch) nicht alle gesteckten Ziele erreicht wurden. Rückblickend kann gesagt werden, dass bis heute vor allem das Orthographie-Problem mehr Kräfte gebunden hat, als erforderlich gewesen wäre, und dass andere dringende Desiderate wie Grammatik und Lexikographie zu kurz gekommen sind. Für Maßnahmen der Kodifizierung und die Festlegung der Orthographie wurde 1979 ein Komite Kreol gebildet, dessen Aufgaben ab 1987 vom Lenstiti Kreol übernommen wurden (Bollée 1993/ 2007, 13-16). Zu dessen Zielen gehörten u.a.: Erarbeitung einer deskriptiven Grammatik sowie eines einsprachigen Wörterbuchs, Produktion von Büchern für Kinder und Erwachsene, Etablierung einer terminologischen Datenbank, Produktion von Informationsmaterial über Gesundheit, Hygiene, usw. In Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien hat das Lenstiti eine Reihe von Broschüren publiziert, darunter 1989 die Straßenverkehrsordnung. Es ist eine große Zahl von Büchern erschienen: Kinderbücher, Romane und Kurzgeschichten, Kriminalromane, Science Fiction, Übersetzungen (darunter Pti Prens, Alis dan pei mervey, Pipi Gransoset), griechische Mythologie, neun Bände mit kreolischen Kont ek lezann. Im Mittelpunkt der linguistischen Arbeit des Instituts sollte die Lexikographie stehen, die frühere Direktorin, Marie-Thérèse Choppy, nahm ein einsprachiges Wörterbuch in Angriff, das jedoch nicht in wünschenswertem Tempo vorankam. Es traten daher gegenüber der Notwendigkeit, dem kreolisch schreibenden Publikum einen „Duden“ zur Verfügung zu stellen, andere Ziele in den Hintergrund, und man entschloss sich in Zusammenarbeit mit dem Erziehungsministerium zu einer vorläufigen Notlösung, einem Leksik, das die kreolischen Wörter ohne Bedeutungs- oder sonstige Angaben auflistet. Es erschien 1999 mit etwa 13.000 Einträgen und einer sehr kurzen Einleitung, die auf gewisse Probleme der Orthographie hinweist, die auch danach noch weiter diskutiert oder - etwa das der Nasalvokale - als gelöst <?page no="337"?> Kodifizierung und Ausbau des Kreolischen der Seychellen 323 betrachtet wurden. 2006 wurde eine auf ca. 17.400 Stichwörter erweiterte Neuauflage notwendig, in deren Einleitung die Regeln der Orthographie ausführlicher erläutert werden, insbesondere Getrennt- oder Zusammenschreibung bei Komposita, z.B. lafen di mwan ‚Monatsende‘ vs. tranblemandter ‚Erdbeben‘ oder kokodmer 4 < coco de mer ‚Seychellennuss‘, wofür die Autonomie der Konstituenten maßgebend ist: ter und mer kommen allein nicht vor, sondern later und lanmer. Das Problem der Nasalvokale scheint kein Thema mehr zu sein, obwohl in der Berücksichtigung der allenthalben zu beobachtenden Variation (jedes / a/ , / e/ , / o/ ist vor Nasalkonsonant mehr oder minder stark nasaliert) aus linguistischer Sicht eine der (wenigen) Schwächen der seychellischen Orthographie liegt (Bollée 1991, 385f.). Nasalvokale werden <an, en, on> geschrieben, folgt ein gesprochener Nasalkonsonant, schreibt man <ann, enn, onn>: kan ‚quand‘ vs. kann ‚canne‘; auch vor <m> und <ny> wird ein eigentlich überflüssiges <n> eingefügt; fanm ‚femme‘, ganny < gagne. Steht der Nasalkonsonant im Silbenanlaut, wäre die Doppelschreibung nicht notwendig: koman ‚comment‘, konesans ‚connaissance‘. In diesen Fällen ist die kombinatorische Nasalierung aber schwächer bzw. variabel, und nach wiederholten Diskussionen ist man schließlich zu dem Ergebnis gekommen, die Wörter seien entweder mit oder ohne zusätzliches <n> zu schreiben; lannwi ‚nuit‘ vs. lanaliz ‚analyse‘, lanmer ‚mer‘ vs. laminorite ‚minorité‘. Eine Durchsicht des Leksik von 2006 zeigt, dass man sich in den allermeisten Fällen für eine der Varianten entschieden hat, nur bei einer sehr kleinen Minderheit von Wörtern sind beide Varianten zulässig, wobei jeweils nur die nicht empfohlene mit (v) als solche gekennzeichnet wird. Schaut man die Beispiele genauer an, so entsteht der Eindruck, die Entscheidung sei nicht gänzlich arbiträr: tendenziell wird bei traditionellen Wörtern die Nasalierung durch Doppelkonsonant notiert, während bei vielen Wörtern des modernen technischen Wortschatzes einfache Nasalkonsonanten vorgeschrieben werden (vgl. die o.g. Beispiele). Ein Vergleich mit dem Haitian Creole-English Bilingual Dictionary (Valdman 2007), in dem bei entsprechenden Wörtern unzählige „überflüssige“ Varianten registriert sind, zeigt deutlich, dass die Seychellois das Problem besser gelöst haben. Der Eindruck von Bollée (1991, 386), dass „das jetzige System trotz der Unsicherheiten im Bereich der Nasalkonsonanten in der Praxis recht gut funktioniert“, kann aus heutiger Sicht bestätigt werden, man kann sogar sagen, dass es sehr gut funktioniert: Wir haben in Zeitungsartikeln kaum „Fehler“ dieser Art gefunden. 4 Diese und andere Komposita wurden vorher mit Bindestrich geschrieben: tranblemand-ter, koko-d-mer. <?page no="338"?> Annegret Bollée - Sibylle Kriegel 324 3. Grammatik Im Jahr 1977 sind die beiden ersten grammatischen Beschreibungen des Seychellenkreols erschienen. Es handelt sich in beiden Fällen um sprachwissenschaftliche Arbeiten, herausgegeben von zwei deutschen Verlagshäusern (Niemeyer Verlag und Narr Verlag): Die Grammatik von Chris Corne (1977), einem australischen Kreolisten, ist in englischer Sprache verfasst, während die umfassendere Beschreibung von Annegret Bollée (1977), die eine „esquisse d‘une grammaire - textes - vocabulaire“ enthält, in französischer Sprache erschienen ist. Die erste und einzige grammatische Beschreibung einer seychellischen Autorin, herausgegeben vom Lenstiti Kreol, ist die Gramer Kreol Seselwa von Marie-Thérèse Choppy (2009). In der Einleitung dieses knapp 100 Seiten umfassenden und in kreolischer Sprache verfassten Bändchens bezieht sich Choppy explizit auf die Darstellungen von Bollée und Corne, präzisiert jedoch, dass sich ihre Arbeit an seychellische Lehrer und ein breites, am Seychellenkreol interessiertes Publikum richtet. Sa gramer i annan pour bi ed bann ansennyan langaz ensi ki lezot dimoun ki annan lentere spesyal dans lalang Kreol Seselwa (Choppy 2009, 5). Es ist zu beobachten, dass durch die Verschriftlichung verschiedene Grammatikalisierungsprozesse weiter fortgeschritten sind. Einige davon wollen wir mit Korpusbeispielen belegen, teilweise werden diese Entwicklungen auch in den erwähnten grammatischen Beschreibungen angesprochen und sind Thema detaillierter sprachwissenschaftlicher Aufsätze. Vorausgeschickt sei allerdings, dass wir in den Korpora auf eine sehr starke Variation treffen und dass die Grammatikalisierungsprozesse bei weitem nicht abgeschlossen sind, zumindest nicht im Sinne eines obligatorischen Gebrauchs. (1) Pluralmarkierung mit bann Die Pluralmarkierung mit bann (< bande) existiert in allen Frankokreolsprachen des Indischen Ozeans und ist bereits in den ersten Texten des Seychellenkreols belegt (siehe Young 1983 5 ), allerdings erscheint die Form dort nur zwei Mal als nominaler Pluralmarker, man kann also kaum von einer Grammatikalisierung sprechen (Bollée 2000). Wie Bollée (2000) detailliert aufzeigt, ist der Grammatikalisierungsprozess heute sehr weit fortgeschritten. Der anfänglich auf zählbare Lebewesen beschränkte Gebrauch von bann hat sich auf unbelebte und nicht-zählbare Referenten ausgedehnt, was auf eine fortgeschrittene Desemantisierung schließen lässt. 5 Die Fables de La Fontaine wurden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von Rodolphine Young übertragen und 1983 von A. Bollée und G. Lionnet ediert. <?page no="339"?> Kodifizierung und Ausbau des Kreolischen der Seychellen 325 Rede des Präsidenten in Praslin, Nation 22.10.2012, 1: „Nou’n pas enpe lo bann progranm travay e bann proze ki zot annan, e anmenmtan nou’n diskite e vwar dan ki fason nou kapab enplimant sa bann proze dan en fason pli vit posib, pour benefis bann zabitan sa de distrik,“ Prezidan ti dir. „Nous avons abordé un peu les programmes de travail et les projets qu’ils ont, et en même temps nous avons discuté et vu dans quelle mesure nous pouvons implémenter ces projets le plus rapidement possible, pour en faire bénéficier les habitants de ces deux districts,“ a dit le Président. „Sa ki pli enportan se ki fason ki lakominote ek bann dimoun ladan i benefisye atraver bann proze ki distrik i annan e osi bann servis ki ganny ofer. E avek bidze ki pe al ganny prepare, bann distrik ava kapab ganny finansman neseser pour bann proze dan zot distrik.“ Ce qui est le plus important, c’est la façon dont la communauté et les gens impliqués bénéficient des projets que le district développe et aussi des services qui sont proposés. Et avec le budget actuellement en préparation, les districts seront capables d’obtenir le/ les financement(s) nécessaire(s) pour réaliser les projets dans leur district. Zusammenfassend können wir sagen, dass der Gebrauch von bann in konzeptionell schriftlichen Texten sehr frequent geworden ist. Allerdings weisen alle grammatischen Beschreibungen (Bollée 1977, Choppy 2009, Corne 1977) auf den nicht-obligatorischen Charakter der bann-Markierung hin, was auch unsere Korpusanalysen bestätigen (siehe Beispiele in Bollée 2000). (2) Passivmarkierung mit ganny Das Seychellenkreol ist die einzige Frankokreolsprache, in der ein morphologisch merkmalhaltiges Verfahren zur Passivbildung produktiv verwendet wird. Erste Belege in semantisch sehr eingeschränkten Kontexten finden sich in den ersten Texten des Seychellenkreols (siehe Stein 2007). Der Ausbau dieses Verfahrens hängt ganz eindeutig mit der massiven Verschriftlichung des Seychellenkreols zusammen (siehe z.B. Kriegel 1996). Das Passiv mit dem Marker ganny (< frz. gagner) ist sehr weit grammatikalisiert und speziell in den Printmedien hochfrequent. Nachdem zuerst vom Lenstiti Kreol ein vergeblicher Versuch gemacht wurde, es auf belebte Referenten zu beschränken, ist ganny in seinem Gebrauch als Passivmarker heute völlig desemantisiert. Im Regierungsbulletin The State House Newsletter erklärt Präsident Michel der Korruption den Kampf: <?page no="340"?> Annegret Bollée - Sibylle Kriegel 326 Mon dir zot klerman: dan sa Nouvo Sesel, koripsyon ki swa dan domenn piblik ouswa prive pa pe ganny tolere. I pa en fenomenn ki repandi dan nou ladministrasyon ek nou pei an zeneral, me kot i egziste mon oule koup son latet en fwa pour tou. Kot nou konnen ek nou annan laprev ki koripsyon pe kas anba nou, aksyon ferm pou ganny pran san pitye (1/ 6, Juni 2011, 4). Je vous le dis clairement: dans ces nouvelles Seychelles, la corruption, que cela soit dans le domaine public ou privé, n’est pas tolérée. Il ne s’agit pas d’un phénomène qui soit répandu dans notre administration et notre pays en général, mais là où elle existe je veux lui couper la tête une fois pour toutes. Là où nous le savons et que nous avons la preuve que la corruption sévit, des actions fermes seront prises sans pitié. Bei beiden Passivformen mit ganny in diesem Passus sind unbelebte Referenten in der Subjektrolle kodiert: koripsyon und aksyon ferm. Das traditionelle unmarkierte Passiv ist jedoch keineswegs außer Gebrauch gekommen, vgl. einen kritischen Artikel über das Bauwesen aus Weekly (26.10.2012, 7): Lendistri konstriksyon dan sa pei i Ø totalman kontrole par etranze. Tou sa bann legliz kin Ø fer dan distrik avan kou deta ti Ø fer par Seselwa. L’industrie de la construction dans le pays est entièrement contrôlée par des étrangers. Toutes les églises qui ont été construites dans le district avant le coup d’état ont été faites par des Seychellois. Häufig finden sich morphologisch merkmalloses und morphologisch merkmalhaltiges Passiv innerhalb eines Paragraphen, ohne dass sich funktionale Motivationen ausmachen ließen: Pri Antoine Abel ti Ø orizinelman lanse an 1997 koman en konkour rezyonal pour promouvwar lekritir ek ekriven Losean Endyen. […] Edisyon 2011-2012 in ganny prolonze ziska Avril 2013 kot remiz pri pou ganny fer pandan Lasemenn Lekritir. (Broschüre zur Ausschreibung des Prix Antoine Abel 2013) À l’origine, le Prix Antoine Abel a été lancé en 1997 comme concours régional pour promouvoir l’écriture et les écrivains de l’Océan Indien. L’édition 2011- 2012 a été prolongée jusqu’à avril 2013 où la remise de prix se fera pendant la „Semaine de l’écriture“. In den wenigen Beispielen mit Agensanschluss wird häufig nach französischem Modell die Präposition par (s.o.) verwendet, es finden sich allerdings auch mit avek angeschlossene Agentes. […] resaman en zanfan dan sa fanmiy ti ganny morde severman avek lisyen dan sa vwazinaz. (Nation 22.10.2012, 2) <?page no="341"?> Kodifizierung und Ausbau des Kreolischen der Seychellen 327 […] récemment un enfant de cette famille a été sévèrement mordu par un chien du voisinage. (3) Präposition sorti (Ersatz für de) Eine weitere interessante neuere Entwicklung ist der Gebrauch von sorti (< sortir) als Entsprechung der hochfrequenten und völlig desemantisierten französischen Präposition de, die bei der Kreolisierung entfallen ist. Sorti wird bei weitem nicht nur in konkret ablativen Kontexten gebraucht, sondern von manchen Journalisten/ Autoren konsequent als Kopie von französisch de. Lafyerte dan son lizye kan i ti pe dir mwan orevwar ankor en fwa ti donn mwan plis konfyans dan mon lekor ki en santenn konpliman sorti kot bann madanm legliz (MS Penda Choppy, 26). La fierté dans ses yeux quand elle me disait au revoir une nouvelle fois m’a donné plus de confiance en moi-même qu’une centaine de compliments des femmes de l’église. Mon ti santi mwan flate byensir par en tel latansyon sorti en oter koumsa (MS Penda Choppy, 55). Bien sûr, je me suis sentie flattée par une telle attention de la part d’un auteur de cette envergure. In konkret räumlichen Kontexten findet sich sorti ebenfalls häufig zur Markierung der Herkunft. In folgendem Beispiel sieht man sehr schön, dass die Präposition dan (< frz. dans) alleine den Ort ( PLACE ) angibt, während sorti die räumliche Orientierung ( PATH ) bezeichnet, in diesem Fall die semantische Kategorie Ablativ (siehe dazu ausführlich Michaelis 2008, 238f.). Spektak mizikal Lakadans sa lannen in en lot sikse, kot plizyer pei sorti dan la rezyon in aport zot soutyen pour fer sa Festival Kreol vreman en melanz kiltir kreol sorti dan Losean Endyen. (Nation 2.11.2012, 6) Le spectacle musical Lakadans était un autre succès cette année, auquel plusieurs pays de la région ont apporté leur soutien pour faire du Festival Kreol un vrai mélange des cultures créoles de l’Océan Indien. (4) Reflexivmarkierung Die Markierung von echten Reflexiva (Referenzidentität von Subjekt und Reflexivmarker) wird im Seychellenkreol durch zwei verschiedene Techniken geleistet. Entweder dient das Objektpronomen als Reflexivmarker oder es wird - wie in vielen Kreolsprachen - das Konzept des menschlichen Körpers in <?page no="342"?> Annegret Bollée - Sibylle Kriegel 328 Zusammenhang mit einem Possessivdeterminanten verwendet. Beide Techniken sind bereits in den ersten Texten (s.o.) des Seychellenkreols belegt. Vor allem die zweite Technik wird in den letzten Jahren immer häufiger verwendet, auch wenn die Variation noch immer stark ist. So findet man zuweilen im gleichen Zeitungsartikel im Zusammenhang mit dem gleichen Verb beide Techniken, ohne dass sich funktionale Unterschiede ausmachen lassen: Prezidan James Michel in met son lekor azour avek bann devlopman ki pe deroule e ki pou deroule dan le fitir lo Praslin […] I ti osi dir ki in met li azour avek bann proze […] (Nation 22.10.2012, 1) Le Président James Michel „s’est mis à jour“ avec les développements qui sont en train de se dérouler et qui se dérouleront dans le futur sur l’île de Praslin […] Il a aussi dit qu’il „s’était mis à jour“ avec les projets […] (5) poudir als complementizer Bereits Bollée (1977, 84) weist darauf hin, dass sich poudir recht häufig in der Funktion von Französisch que findet. Kriegel (2004) untersucht ein Korpus vor allem gesprochener Texte (Bollée & Rosalie 1994) und kommt zum Schluss, dass poudir in diesen Texten ki (bzw. Ø) speziell nach Verben des Sagens, Wissens und der Wahrnehmung, ersetzen kann. Eine Korpusanalyse konzeptionell schriftlicher Texte ergibt, dass das Verfahren in schriftlichen Registern marginal bleibt. Allerdings haben wir es in einem noch nicht publizierten Roman von Penda Choppy (Pti piman for) konsequent als Ersatz von ki (bzw. Ø) als complementizer gefunden (76 Fälle). Mon ti bezwen dir li poudir nou ti’n aste de boutey diven (MS P. Choppy, Pti piman for). Je devais lui dire que nous avions acheté deux bouteilles de vin. Von einer Grammatikalisierung und Ausbreitung von poudir als complementizer kann jedoch nicht die Rede sein, der Roman von Penda Choppy dürfte eher einen ideolektalen Gebrauch reflektieren. 4. Lexikon Das Diksyonner kreol-franse von D. de St Jorre und G. Lionnet (1999) ist seit langem vergriffen, es ist also zur Zeit kein Lexikon des Seychellenkreol verfügbar (nicht einmal das o.g. Leksik, das 2013 in 3. Auflage erscheinen soll). Eine erheblich erweiterte Neubearbeitung des Wörterbuchs von St Jorre/ Lionnet durch Colette Gillieaux, vermehrt um viele Beispiele und mit <?page no="343"?> Kodifizierung und Ausbau des Kreolischen der Seychellen 329 französischen und englischen Glossierungen, hat seitens der zuständigen Stellen leider nicht die Unterstützung erfahren, die sie verdient hätte. Die Drucklegung soll jetzt in Zusammenarbeit mit dem Lenstiti Kreol vorbereitet werden. Für das geplante einsprachige Wörterbuch wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, was methodisch sicher von Vorteil ist, die Fertigstellung aber nicht beschleunigt. Unter diesen Umständen ist es schwierig, sich von den Fortschritten des lexikalischen Ausbaus ein Bild zu machen. Der Vergleich der ersten Auflage des Leksik mit 13.000 und der zweiten mit 17.400 Einträgen lässt nicht den realen Zuwachs erkennen, weil bei allen Verben jetzt auch immer die Partizipform auf -an als eigenes Stichwort erscheint. Stichproben machen aber schnell deutlich, dass sich in der Erweiterung der Nomenklatur vor allem der Ausbau der Fachwortschätze niederschlägt 6 . Quellen dafür sind die beiden Kontaktsprachen Englisch und Französisch, wobei in vielen Fällen gar nicht zu entscheiden ist, welches die Gebersprache ist (nicht zuletzt wegen der fehlenden Bedeutungsangaben im Leksik), z.B. ekskirsyon, eksklamatif, ekskreman, ekspedyan, eksperimantal, ekzekite, ekzekitif, ekzekitive. Im Prinzip werden Entlehnungen aus dem Französischen bevorzugt, und bei englischen Wörtern wie z.B. computer wird durch die Aussprache konpiter statt konpyouter vermieden, dass das Wort wie ein Fremdkörper wirkt. In den Zeitungstexten fanden wir sehr wenige ad-hoc- Entlehnungen aus dem Englischen, die durch Kursivdruck kenntlich gemacht wurden, z.B. Se ler en pep i pran ownership en desizyon […] (Nation 2.11.2012, 3) […] akoz avek plis channel nou pou definitivman bezwen plis progranm […] (Nation 22.10.2012, 3) Prezidan i dir ki avek son nouvo younit ki deal avek bann krim pli vitman […] (Nation 2.11.2012, 3) Das Verb deal avek ‚to deal with‘ findet sich schon sehr häufig mit der Schreibung dil, auch im Leksik, und younit ‚Einheit, Abteilung‘ steht schon im St Jorre/ Lionnet 1999. Eines der in den 1980er Jahren formulierten Ziele der Norminstanzen war, der sich anbahnenden Überfremdung des Wortschatzes durch Anglizismen Einhalt zu gebieten, und man kann heute sagen, dass dies durchaus gelungen ist. Die meisten Anglizismen sind in das kreolische Sprachsystem gut integriert, z.B. legzibisyon, gidans, enplimante, enterakte oder […] i fer sans pour nou annan en tel fasilite lo Praslin (Nation 22.10.2012, 3) it makes sense for us to have such a facility on Praslin 6 Die terminologische Datenbank des Lenstiti Kreol ist verfügbar und wird von den Behörden auch nachgefragt, online ist sie aber leider nicht zugänglich. <?page no="344"?> Annegret Bollée - Sibylle Kriegel 330 Eher störend finden wir die Unsicherheit bei Adjektiven auf -if, die häufig in der vom Englischen beeinflussten Form -iv erscheinen: bann rezilta positiv, tou travay i devret prodiktiv, kwizinyen egzekitiv neben sef egzekitif. Die Beschreibung des Phänomens in der Grammatik von M.-T. Choppy (2009, 22) zeigt, dass der Ursprung des Problems - englischer Einfluss, der zu einer ungeregelten Variation führt - nicht erkannt wurde und eine Lösung gegenwärtig nicht zu erwarten ist. 5. Ausblick Anlässlich des Festival Kreol im Oktober 2012 gab der seychellische Minister für Tourismus und Kultur, Alain St. Ange, der Zeitung Le Mauricien (Mauritius) ein Interview, in dem er erklärte: Le peuple Seychellois est fier de son histoire et se sent très créole, il est très uni. Vivre sa créolité est un atout majeur pour le Seychellois. Nous sommes un peuple multiracial, une diversité ethnique. La créolité nous a unis dans le passé. Quand on a un atout aussi fort que ça, nous devons faire valoir cette force qui nous rassemble comme un peuple, comme une nation. Das in den Worten des Ministers angesprochene einigende Band der „créolité“ manifestiert sich in erster Linie in der kreolischen Sprache, die von allen Seychellois beherrscht und als mündliches Kommunikationsmittel in den allermeisten Situationen des täglichen Lebens verwendet wird, auch in halboffiziellen und offiziellen wie etwa den Parlamentsdebatten. Lokale Produktionen im Radio und Fernsehen verwenden mit wenigen Ausnahmen das Kreolische. Als schriftliches Medium konnte es sich jedoch neben der „Weltsprache“ Englisch, die zu erlernen Ziel des Schulunterrichts sein muss, nur einen bescheidenen Platz erobern, diesen aber wohl dauerhaft behaupten. Das Französische ist, so wie in früheren Untersuchungen beschrieben, weiterhin im Rückgang, dürfte aber doch auf absehbare Zeit noch präsent bleiben, beispielsweise in der Tageszeitung Nation. Unbestreitbar hat das Kreolische durch die gelungene Kodifizierung an Prestige gewonnen. Während es noch bis in die 1970er Jahre von den Sprechern als ein minderwertiges „patois“ ohne Orthographie und Grammatik angesehen wurde, hat es heute den Status einer lalang (‚Sprache‘) erreicht, auf die man stolz sein kann wie auf die eigene Kultur. Es erscheint uns daher nicht mehr angemessen, die seychellische Zwei- oder Dreisprachigkeit mit den Ausdrücken Diglossie oder Triglossie im Sinne von Ferguson und das Kreolische als low variety zu bezeichnen. Zwar ist die soziolinguistische Situation nach wie vor durch eine weitgehend komplementäre Verteilung <?page no="345"?> Kodifizierung und Ausbau des Kreolischen der Seychellen 331 der drei Sprachen gekennzeichnet, aber man kann wohl sagen, dass die Hoffnung, „eine Situation des Sprachkonflikts in ein wohlgeordnetes und harmonisches Nebeneinander gleichrangiger und gleichwertiger Sprachen“ 7 zu überführen, sich erfüllt zu haben scheint. Bibliographie Bollée, Annegret: Le créole français des Seychelles. Esquisse d’une grammaire - textes - vocabulaire. Tübingen: Niemeyer 1977. Bollée, Annegret: „Der Stand der Kodifizierung des Kreolischen der Seychellen“. In: Dahmen, Wolfgang, u.a. (Hgg.): Zum Stand der Kodifizierung romanischer Kleinsprachen. Romanistisches Kolloquium V, Tübingen: Narr 1991, 377-389. Bollée, Annegret: „Language policy in the Seychelles and its consequences“. In: International Journal of the Sociology of Language 102, 1993, 85-99. Wiederabgedruckt in: Beiträge zur Kreolistik, Hamburg: Buske 2007, Kreolische Bibliothek, 5-17. Bollée, Annegret: „La restructuration du pluriel nominal dans les créoles de l’Océan Indien“. In: Études créoles 23/ 2, 2000, 25-39. Bollée, Annegret: „Le développement du démonstratif dans les créoles de l’Océan Indien“. In: Creolica 17 mai 2004, http: / / www.creolica.net. Bollée, Annegret / D’Offay, Danielle: Apprenons la nouvelle orthographe. Proposition d’une orthographe rationnelle pour le créole des Seychelles, avec six contes créoles seychellois. Köln / Mahé, 1978. Bollée, Annegret / Rosalie, Marcel: Parol ek memwar. Récits de vie des Seychelles. Hamburg: Buske 1994, Kreolische Bibliothek. Choppy, Marie-Thérèse: Gramer Kreol Seselwa, Mahé: Lenstiti Kreol 2009. Choppy, Penda: Pti piman for, unveröffentlicht. Corne, Chris: Seychelles Creole Grammar, Tübingen: Narr 1977. Kriegel, Sibylle: Diathesen im Mauritius- und Seychellenkreol, Tübingen: Narr 1996, ScriptOralia. Kriegel, Sibylle: „Juste pour dire que pourdir existe toujours“, in: Creolica. 16 décembre 2004, http: / / www.creolica.net. Leksik Kreol Seselwa, 2enm Edisyon (2006), Mahé: Lenstiti Kreol 1999. Michaelis, Susanne: „Valency patterns in Seychelles Creole: Where do they come from? “. In: Michaelis, Susanne (Hg.): Roots of Creole Structures. Amsterdam etc.: Benjamins 2008, Creole Language Library 33, 225-252. St Jorre, Danielle de / Lionnet, Guy: Diksyonner kreol-franse. Dictionnaire créole seychellois-français. Bamberg / Mahé, 1999. Stein, Peter: „Le créole seychellois en 1882: les textes récoltés par Hugo Schuchardt“. In: Brasseur, Patrice / Véronique, Georges Daniel (Hgg.): Mondes Créoles et Francophones. Mélanges offerts à Robert Chaudenson. Paris: L’Harmattan 2007, 129-140. Valdman, Albert: Haitian Creole-English Bilingual Dictionary. Bloomington: Indiana University 2007. 7 Bollée 1991, 388. <?page no="346"?> Annegret Bollée - Sibylle Kriegel 332 Young, Rodolphine (1983): Fables de La Fontaine traduites en créole seychellois. Hamburg: Buske, Kreolische Bibliothek. <?page no="347"?> Peter Stein (Bremen) Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni Kreolisch schreiben, aber wie? Die Anfänge. Im vorliegenden Beitrag geht es um die Kreolsprache der Insel Mauritius und ihre Verschriftung, damit verbunden auch um ihre Standardisierung und ihre Propagierung als Schriftsprache. Dies alles ist nicht neu, hat jedoch in den letzten zwanzig Jahren eine aus der vorausgehenden Erfahrung nicht unbedingt zu erwartende Entwicklung genommen. 1 Zu einem besseren Verständnis und zur Bewertung dessen, was hinsichtlich der Suche nach einer einheitlichen Orthographie hier passiert ist, möchte ich diese Entwicklung in einen größeren Rahmen stellen und einleitend über den Tellerrand von Mauritius hinausschauen, diatopisch auf andere kreolsprachige Gebiete und diachron in der Zeit zurück bis ins 18. Jahrhundert, als man begann, über den schriftlichen Gebrauch einer Kreolsprache nachzudenken. Dafür möchte ich die Gunst des Ortes dieses Romanistischen Kolloquiums nutzen und einen ehemaligen Jenenser Studenten 2 zu Wort kommen lassen: Christian Georg Andreas Oldendorp verbrachte 1767/ 68 siebzehn Monate auf den damals dänischen Jungferninseln St. Thomas, St. John (Jan) und St. Croix, um die Geschichte der ersten Jahrzehnte der Herrnhuter Mission unter den dortigen Sklaven zu schreiben. 3 Sein Interesse ging weit über den 1 Zum Stand 1988 und einer Vorstellung und Diskussion der vorgeschlagenen (und rivalisierenden) Schriftsysteme siehe Stein 1991, 2002, 2006. 2 “In meinem 20ten Jahr wurde ich auf die Universität Jena geschickt, wo mein ältester Bruder studirt hatte und wo sich mein dritter Bruder Joh. Siegfried schon ins 6te Jahr aufhielt, u. mit den dasigen Brüdern [der Unitas Fratrum oder Herrnhuter Brüdergemeine, PS] in Verbindung stand, auch dem H (errn? ) Grafen v. Zinzendorf nicht unbekannt war. [...] Bey meiner Ankunft in Jena im May 1740 zog ich zu meinem Bruder in das Krausische Haus. Dieses war das Haus, wo der junge H(err) Graf Renatus v. Zinzendorf gewohnt hatte, u. worinn viele gesegnete Versam(m)lungen von seinem H(errn) Vater waren gehalten worden.” (aus dem Lebenslauf von Christian Georg Andreas Oldendorp, abgedruckt in Meier/ Stein/ Palmié/ Ulbricht, Hgg., 2010, S. 1-8, hier S. 2). 3 Diese war zuerst 1777 in einer stark gekürzten von Johann Jakob Bossart bearbeiteten Fassung erschienen. Das Manuskript Oldendorps wurde zum ersten Mal 2000/ 2002 vollständig herausgegeben und damit zugänglich gemacht: Oldendorp 2000/ 2002. <?page no="348"?> Peter Stein 334 eigentlichen Auftrag hinaus und betraf auch die Sprachen und ihre Rolle in der Mission. So stellte er zum schriftlichen Gebrauch des auf den Inseln gesprochenen (niederländischen) Kreolisch fest: Es ist aber ganz natürlich, daß eine solche neue oder in eine neue Form gegossene Sprache die Rechtschreibung derjenigen, von welcher sie die meisten Wörter hat und von der sie also zunächst herkommt, nach Möglichkeit beibehält [...] Die holländische ist aber um deswillen vorzuziehen [...] weil im Criolischen eine Menge holländische Wörter sich befindet, welche ganz verunstaltet werden und sich nicht mehr ähnlich sehen würden, wenn man sie anders schriebe, hauptsächlich aber deswegen, weil die Schwarzen, welche lesen lernen, es holländisch lernen; die man also billig durch eine andere Schreibart, sonderlich durch andere selbstlautende Buchstaben nicht irre und ihnen das Lesen, wozu sie ohnedas wenig Zeit haben, nicht noch schwerer macht und sie in Verwirrung setzet, wenn sie in einer criolischen Schrift holländische Wörter sehen, die ihnen nach der holländischen Orthographie gleich bekannt, aber in einer veränderten Gestalt ganz fremd sind. [...] Überhaupt würde eine seltsame Verwirrung und Unordnung entstehen, wenn ein jeder das Criolische nach seiner Muttersprache, nach seiner Einbildung, nach dem bloßen Gehör [...] schreiben wollte. Es ist notwendig, daß bei der Rechtschreibung dieser Sprache, so wie bei allen, etwas Gewisses und Unveränderliches zum Grunde gelegt werde [...] Und dazu schickt sich aus den angeführten Ursachen die holländische Rechtschreibung am besten. (Oldendorp 2000, Bd. 1, S. 684) Im Grunde hat Oldendorp damit schon vor rund 250 Jahren die Probleme aufgezeigt, um die es bei der Verschriftung von Kreolsprachen wie überhaupt von ungeschriebenen Sprachen geht, und er hat eindeutig Position bezogen, indem er für ein etymologisches, also den Schreibenden und Lesenden vertrautes System votierte, den usage, nicht ohne die Möglichkeit einer eigenen, und das heißt wohl dem Lautstand mehr entsprechenden Orthographie, zumindest als Alternative in Erwägung zu ziehen. Gleichzeitig hatte er aber auch ein variantenfreies Graphiesystem, also eine Ortho- Graphie vor Augen, denn im zweiten Teil seiner Missionsgeschichte zeigt er uns zwei der frühen (1741) von den Sklaven geschriebenen Briefe, und zwar in einer korrigierten, normalisierten Fassung. 4 4 Da auch die Originale der Briefe erhalten sind, sei ein Auszug aus beiden Versionen hier vorgestellt, um die normalisierenden Eingriffe Oldendorps zu zeigen, zunächst das Original, dann der von Oldendorp bearbeitete Text. Die von Oldendorp vorgenommenen Änderungen habe ich kursiv gesetzt: “die liefte heijland a . nem . Jamer vor mi. grote Jam,¯er em . a . nem vor mi arme . Sondars. die bin grot vor mi die bardon. die de liefe hei- <?page no="349"?> 335 Bei Baissac, und damit sind wir in Mauritius, klingt es gut 100 Jahre später nicht sehr viel anders, obwohl sowohl seine Grammatik (1880) als auch die Erzählungen der Folklore de l’Ile Maurice (1888) 5 für ein ganz anderes Leserpublikum gedacht sind, einerseits die Franco-Mauriciens auf der Insel selbst, andererseits die Leser in Frankreich, für die das Kreolische fremd und exotisch war. Grundlage und Maßstab für die kreolische Orthographie war die diesen Lesern vertraute europäische Basissprache, und Ziel war es, dem Benutzer, d.h. dem Leser so weit wie möglich entgegenzukommen: Pour dérouter le moins possible l'œil habitué à la physionomie du mot français, nous la lui avons conservée partout où nous l'avons pu. (S. LIV) [...] Enfin, quoique le pluriel ne se manifeste jamais en créole dans la forme des mots, nous avons, pour guider l'œil du lecteur, conservé l's du français, mais au substantif seulement. (S. LVI) (Baissac 1880, S. LIV und LVI) Ähnlich auch Saint-Quentin 1872 in Guyana: je me suis donc résigné aux signes conventionnels consacrés par notre orthographe. Mais il y a des articulations créoles qui nont pas d'équivalent en français, [...] Que faire? Adopter des combinaisons et les expliquer tant bien que mal? C'est le parti que j'ai pris. (Saint-Quentin 1872, 108) jland.a . gi mi mi glof. dat de liefe heijland . a . stort sin blut üt vor mi, mi sal hor si worte. mi sal fasse die met mi rechte herte, mi dancke. die heijland dat mi . a . fin sie gebotte na mi harte as mi nu . a . fine die mi sal wes verlor na de düvel.” “Die lieve Heiland a neem jammer voor mi, groot jammer em a neem voor mi aerm sondarin. Die ben groot voor mi, die pardon, die die lieve Heiland a gie mi. Mi geloof, dat die lieve Heiland a stort si blad ut voor mi. Mi sal hoor si woord: mi sal vat die mee mi recht hert. Mi dank die Heiland, dat mi a vind si gebood na mi hert. As mi no a vind die, mi sal wees verloor na die Duvel.” (siehe den Text in Oldendorp 2000/ 2002, Bd. 2,1, S. 489ff.) Von dieser Erfahrung ausgehend stellt sich allgemein die Frage, wie original überhaupt die frühen uns überlieferten kreolischen Sprachdokumente, vor allem die gedruckten, sind und wie weitgehend sie dem europäischen usage angepasst sind. 5 Für Baissac 1888 gibt es einige neuere Ausgaben, in denen die Originaltexte in das jeweilige Graphiesystem übertragen wurden. Diese sind in der Bibliographie aufgelistet; die für die neue Graphie Verantwortlichen haben wir jeweils als zweite Autoren eingefügt. Zu diesen Systemen siehe weiter unten. Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="350"?> Peter Stein 336 Diese Position blieb lange Zeit gültig und ist bis in die Gegenwart zu finden, wie das folgende aktuelle Beispiel aus Mauritius zeigt: 6 Si PM en a fiel, ek li maintenir ki nou ki responsab, donn commission denket. Nu pa per, [...] Pei pe couler. Bizin sov nu pei. [...] Ouvert ou lizié, fer ou lesprit travay, guette ou lavenir. Compren ki bizin sansma pou ki pei progressé à nouvo [...] Nu pa per commission d'enquête, nu. Oui, nu finn mett bann slabs pou dimoun kapav traverser kot Rogers, mais jamais nu pa finn bouss drain [...] Si PM ena fiel, ek li maintenir ki nou ki responsab, donn commission denket. Nu pa per [...] Ici, ena catastrophes, pei dan bez, Rodrigues cyclone finn passé, mais Navin Ramgoolam, le London Boy, pa kapav résister, li b… li ale Londres. C'est honteux! [...] Moi si mo ti Premier minis, mo ti pou finn ale guette ki finn arrivé kot nou bann frer rodriguais [...] Navin Ramgoolam, cé enn lion en papier mousseline; souffler li tomber [...] Navin Ramgoolam, cé enn lion en papier mousseline; souffler li tomber. Mais nou bizin ou la fors avec nou pou fer li tomber." 7 Die Orthographie-Revolution und ihre Anfänge Das Umdenken in Bezug auf das Schreiben des Kreolischen, bzw. genauer eine Rückkehr zu Oldendorp und dessen Zielgruppe, die lesen- und schreibenlernenden Kreolsprecher, begann dann in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Haïti: Ormonde McConnell a été en Haïti, vers 1940, le premier inventeur d'une orthographe créole à mériter le qualificatif de système ou d'ensemble structuré et cohérent. L'auteur la désigne comme une « orthographe phonétique ». Ba- 6 Le Mauricien vom 20. April 2013. Die kreolischen Passagen stehen in einem ansonsten auf Französisch verfassten Artikel. Stein 1991, S. 365, liefert weitere Beispiele für diese am Französischen angelehnte Art, das Kreolische zu schreiben. 7 In der Grafi larmoni (dazu gleich mehr) würde der Text wie folgt aussehen: Si PM ena fiel, ek li mintenir ki nou ki responsab, donn komision danket. Nu pa per. [...] Pei pe koule. Bizin sov nu pei. [...] Ouver ou lizie, fer ou lesprit travay, get ou lavenir. Kompran ki bizin sanzman pou ki pei progrese a nouvo [...] Nu pa per komision danket, nou. Wi, nu finn met bann slabs pou dimoun kapav traverse kot Rogers, me zame nou pa finn bous drin [...] Si PM ena fiel, ek li mintenir ki nou ki responsab, donn komision danket. Nu pa per [...] Isi, ena katastrof, pei dan bez, Rodrigues siklonn finn pase, me Navin Ramgoolam, le London Boy, pa kapav resiste, li b… li ale Londres. C’est honteux! [...] Mwa si mo ti Premie minis, mo ti pou finn ale gete ki finn arrive kot nou bann frer rodrige, [...] Navin Ramgoolam, se enn lion an papie mouslinn; soufle li tonbe. [...] Navin Ramgoolam, se enn lion an papie mouslinn; souffle li tonbe. Me nou bizin ou la fors avek nou pou fer li tonbe (Transkription PS). <?page no="351"?> 337 sée sur l'A.P.I., elle le simplifie et le modifie pour faciliter le passage au français aux créolophones nouvellement alphabétisés. (Dejean 1980, S. 19) Was Oldendorp nur angedacht hatte, nämlich eine Wiedergabe des Lautstandes durch die Orthographie ohne Berücksichtigung der historischen Beziehungen der Sprache, wurde jetzt Programm, wobei wiederum der kirchlich-missionarische Hintergrund mit seinem Interesse an einer Alphabetisierung der Kreolsprecher eine wichtige Rolle spielte; unmittelbare Adressaten waren die anglophonen Missionare. In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen und dem Suchen nach adäquaten Lösungen, die in vielem die Diskussion in Mauritius vorwegnahmen. Der schwerwiegendste Vorwurf gegen das System war seine Ferne zum Französischen. Bei dem wichtigsten Opponenten, Charles Fernand Pressoir, lesen wir: 8 Cet alphabet Mc Connell-Laubach serait parfait, même avec l'accent circonflexe, si on l'employait chez les sauvages de l'Australie ou de quelque coin perdu. Il est mis en échec par le fait que le créole est une langue mixte, dans un pays à traditions françaises. (Pressoir 1947, S. 67) ... lisaient chez moi au moins aussi rapidement an, in, on que d'autres â, ê, ô dans les écoles dépendant de cette organisation. J'ai encore soutenu que le but ultime étant le français, il n'y avait pas d'hésitaion possible entre les graphies «pantalon» et «pâtalô». (S. 68) Aber Haïti ist nicht eigentlich unser Thema. Das folgende, die Diskussion dort (vorläufig) abschließende Zitat, eine Reaktion auf die letzte Orthographiereform, ist für uns jedoch wichtig, da es zeigt, dass man sich der Willkür der Auswahl eines bestimmten Systems bewusst wird, sowie der Möglichkeit, dies durch ein anderes zu ersetzen: 8 Auf die im Zitat angeführten technischen Details kommen wir später zu sprechen. Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="352"?> Ant lane 1951 ak 1979, Ayiti pa te bezwen pèsonn vini ak yon nouvo sistèm òtograf kreyòl. Te gen youn ki te la e ki te trè bon. Li te merite pou tout moun te aprann sèvi ak li byen vit, pou tout moun mete men nan alfabetizasyon mas pèp la. Chanjman pa te bezwen fèt nan bon sistèm sa a. Men, leta vin ankouraje preparasyon yon nouvo sistèm òtograf fonolojik ki trè trè bon tou, kwak li pa te nesesè, kwak li pa te bezwen parèt. Men, li parét, li la. Leta pran desizyon sèvi ak li lekòl. Leta pran desizyon fè l’tounen òtograf ofisyèl. Sitiyasyon an vin chanje. [...] (bon nouvèl. 206, Sektanm 1985 (19èm Ane) S. 9 zit. nach Strobel-Köhl 1994, S. 79) Entre les années 1951 et 1979, Haïti n'avait besoin que quelqu'un vînt avec un nouveau système orthographique. Il y en avait un qui était là et qui était très bon. Il méraitait que tous apprenaient à s'en servir très vite et que tous mettaient la main dans l’alphabétisation de la masse du peuple. Le changement n'avait pas besoin d’être fait dans ce système-là. Mais l'Etat est venu encourager la préparation d'un nouvau système d'une orthographe phonologique, qui, somme toute, est très très bon, bien qu'il ne fût pas nécessaire, bien qu'il ne fallût pas qu'il apparût. Mais, il a paru, il est là. L'Etat a pris la décision de s'en servir à l'école. L'Etat a pris la décision d'en faire l'orthographe officielle. La situation est devenue différente. (Versuch einer möglichst vorlagennahen Übersetzung durch PS) Die Orthographie-Revolution - Mauritius und le morisien Als in Mauritius die Diskussion um die Anerkennung und in diesem Zusammenhang auch um eine moderne, adäquate (Ortho-)Graphie des Kreolischen begann, fiel dies in die Zeit der Unabhängigkeit, 1968. 9 Maßgeblich für die Schreibung war jetzt nicht mehr die französische Vorlage, d.h. die Etymologie, sondern der Lautstand, also die Phonetik oder besser: die Phonologie. Dev Virahsawmy hatte in seiner Diplomarbeit in Edinburgh (Virahsawmy 1967) - also im anglophonen Raum - nach dem Vorbild von McConnell/ Laubach in Haïti seine Orthographie entwickelt, deutlich bevor auch in anderen Gebieten (außer eben Haïti) das Interesse an einer an der 9 Ein weiterer Zusammenhang zwischen politischen Ereignissen und dem Interesse für das Kreolische fällt hier auf: Die ersten gedruckten kreolischen kleinen Bücher erschienen ab 1822, nachdem 1815 die Isle de France in britischen Besitz übergegangen war. 33 8 Peter Stein <?page no="353"?> 339 Aussprache ausgerichteten Orthographie des Kreolischen entstand. Kennzeichen ist wie im System Mc Connell/ Laubach der accent circonflexe über dem Vokal zur Markierung der Nasalität (<â, ô, ê>). Nur wenige Jahre danach kam Philip Baker als Mitarbeiter des Mauritius College of the Air zum noch jungen Fernsehen nach Mauritius, lernte in diesem Zusammenhang die Sprachsituation und die Bedeutung des Kreolischen kennen und stellte - auch er ohne frankophonen Hintergrund und ohne Vertrautheit mit der französischen Sprache - seine Überlegungen für ein Schriftsystem des Kreolischen an. Dafür entwickelte er das System mit dem <h>: <ah, eh, oh> anstelle von Virahsawmys circonflexe. 10 Beides waren radikal phonologische Systeme ohne jegliche Berücksichtigung der Etymologie und des französischen usage, denn im Focus beider standen nicht frankophone, mit Schrift vertraute Leser, sondern Analphabeten, die über das Kreolische schreiben und lesen lernen sollen. Deren Stimme zählt, wenn es um Schriftlichkeit geht, nicht sehr viel, und so war die völlige Lösung beider Systeme vom französischen usage wohl ein nicht unwesentlicher Grund, dass sie schließlich scheiterten, denn offensichtlich findet nur ein System Akzeptanz, das die Nasalität des Vokals wie das Französische mit dem Vokal plus folgendem <n> markiert. Baker suchte nach einem Kompromiss, was zu dem <ṅ> führte, welches allerdings lediglich im Wörterbuch von Baker/ Hookoomsing 1987 Verwendung fand. Und auch Virahsawmy experimentierte mit verschiedenen Systemen, die aber alle keinen langen Bestand hatten, und gab schließlich ebenfalls den circonflexe zugunsten des <n> als Markierer der Vokalnasalität auf. Gleichzeitig versuchte er eine größere phonetische Differenzierung (Doppelschreibung <ss> am Wortende, Einfügung eines <j> bzw. <ch> nach <d> bzw. <t> vor i zur Markierung der assibilierenden Aussprache des vorausgehenden Konsonanten, auch wenn dies lediglich ein Allophon ist, kein Phonem, Gebrauch des accent aigu zur Markierung der Realisierung des <e> am Wortende, ...), von der er jedoch bald wieder abkam. Als Beispiel kann der folgende kurze Text aus dem Theaterstück Zeneral Makbef in der Originalgraphie von 1981 und einer nicht publizierten Bearbeitung durch den Autor von 1994 (Graphie consensuelle) dienen: Zeneral Makbef Grafi accent circonflexe (version 1982, neu gegenüber 1967 ist der accent aigu) Grafi consensuelle (ab 1990) 10 Baker 1972, S. 54ff., stellt sein System vor und begründet seine Entscheidungen. Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="354"?> Peter Stein 340 Sooklall : Pa présé mam. Mo koné u kôtâ mâz pistas get sinema ... Avâ sef la vini, avâ lekurs la largé, moena ên ti zafer pu dir zot. En sekré, Kuma mo ti dir zot talerla, lerwa fin· kaykun, mé ki manyer mo pa koné ... person pa koné. Afê mo kwar mo koné mé pa kapav dir zot. Tro sibversif. Mo sir zot fin fini deviné ... Wi, samem ki fin arivé ... Mé bizê kwar kominiké ofisiel. Dayer lerwa pa fin fer ên testamâ? Li pa fin dir ki li fin dégut so lavi? Li pa fin dir ki monarsi ên zafer dépasé? Ki bizê ên repiblik? Ki so éritié sé kapitên Makbef, pardô zeneral Makbef, so nuvo tit? Bizê fer kôfiâs kominiké ofisiel... Sa mazesté ti ên bô dimun, mé ki pu fer, lamor ekzisté, Apré sa listwar avâsé, Ler repiblik fin arivé, bizê aksepté. Ban lopozisiô tuzur mem kozé, zame zot satisfé, pé dir ki fin ena ên kudéta, ên kudefors, ên revolisiô-dé-palé, ek sipa ki été. Mwa mo napa kwar tu sa. Zistwar sa. Bizê aksepté kominiké ofisieI. Sa volôté Bôdié! (Zeneral Makbef, 1981, p. 10) Sooklall: Pa presé mam. Mo koné ou kontan manz pistass get sinema... Avan sef la vini, avan lekourss largé, mo ena enn tchi zafèr pou djir zot. Enn sekré. Kouma mo tchi djir zot talerla, lerwa finn kaykounn, mé ki mannyèr mo pa koné... personn pa koné. Anfen mo quar mo koné mé pa kapav djir zot. Tro sibversif. Mo sir zot finn fini deviné... Wi, samem ki finn arivé... Mé bizen quar kominiké ofisiel. Dayèr lerwa pa finn fèr enn testaman? Li pa finn djir ki li finn degout so lavi? Li pa finn djir ki monarsi enn zafèr depasé? Ki bizen enn repiblik? Ki so eritché sé Kapitenn Makbef, pardon Zeneral Makbef, so nouvo tchit? Bizen fèr konfianss kominiké ofisiel... Sa mazesté tchi enn bon djimounn, mé ki pou fèr, lamor ekzisté. Apré sa listwar avansé. Lèr repiblik finn arivé, bizen axepté. Bann lopozision touzour mem kozé, zamé zot satchisfé, pé djir ki finn ena enn koudéta, enn koudeforss, enn revolision-dé-palé ek sipa ki eté. Mwa mo napa quar tou sa. Zistwar sa. Bizen axepté kominiké ofisiel. Sa volonté bondjé! Erfolg hatte dagegen das von Ledikasyon pu Travayer entwickelte System mit <n> als Markierer der Nasalität des vorausgehenden Vokals und der Doppelschreibung <nn>, also: <an, on, en> (oder <in>) vs. <ann, onn, enn>, wenn der Nasalkonsonant ausgesprochen und der Vokal nicht nasaliert wurde; im Fall des [m] keine Doppelschreibung. Damit hatte das Schriftbild zumindest gewisse Ähnlichkeiten mit dem französischen. Verwendung fand es seit Ende 1976 in einer Monatsschrift (“For Private Use Only”) einer lin- <?page no="355"?> 341 ken politischen Gruppierung im Rahmen der Partei MMM (Mouvement Militant Mauricien). Auf diesem Hintergrund und durch seine Verwendung in den Schriften des bald gegründeten Verlages Ledikasyon pu Travayer, LPT wurde dieses System dann auch quantitativ dominierend. 11 Allen den genannten Systemen ist die Lösung von der Etymologie und damit vom Französischen und die Hinwendung zur (ahistorischen) Phonologie gemein, wobei sich als historische Reminiszenz schließlich der usage des <n> als Nasalierer gegenüber den anderen Vorschlägen durchgesetzt hat. Ein anderer Kandidat für Anlehnung an die oder Distanz zu der französische(n) Vorlage bietet das Phonem [u]: ökonomischer ist hier der Monograph <u>, vom Französischen her vertrauter der Digraph <ou>; das <ou> drückt Nähe zum Französischen aus, das <u> Distanz und Loslösung. 12 Weitere Diskussionspunkte sind die Verwendung des Buchstabens <k>, die Schreibung des nasalen Jod wie in [gaj̃]; <gagn, gayn, gajh, ...>, die Schreibung des Nasalvokals [ε̃] durch <en> oder <in>, die Verwendung der Akzente zur Markierung des Öffnungsgrades der Vokale / e/ und / o/ , im Fall des / e/ am Wortende auch, um es vom e muet des Französischen zu unterscheiden, ... Letztendlich, siehe das Zitat aus Haïti, ist die konkrete Auswahl (aus unserer Sicht) irrelevant, wichtig ist, dass es eine Entscheidung gibt, die in das gewählte System passt und die von allen akzeptiert wird. Die Grafi larmoni, eine mögliche Erfolgsgeschichte Als ich 1988 in Eichstätt auf dem Romanistischen Kolloquium V über die Verschriftung des Kreolischen in Mauritius referiert habe (Stein 1991), stand als Resümee am Ende meines Beitrages: Viel näherliegend[er sic! ] ist die Frage, wann man sich wieder mit dem Status des KrMau offiziell auseinandersetzen wird und ob man ihm dann den Status einer Schriftsprache zuerkennen wird. Erst dann wird auch die Diskussion um seine Orthographie wieder aktuell werden und den ihr zustehenden offiziellen Charakter bekommen. (Stein 1991, 374) Vier Jahre später nahm Vinesh Y. Hookoomsing, Professor an der Université de Maurice/ University of Mauritius das 7 e Colloque International des Études Créoles, das im Oktober 1992 in Mauritius stattfand und für dessen Organisation er verantwortlich war, zum Anlass für eine Proposition soumise au Mi- 11 Ich kenne die Publikation ab der Ausgabe 4 vom Februar 1977. Für eine Vorstellung und Diskussion des Systems siehe Ledikasyon pu Travayer 1981, 1989. 12 Zur Thematik von Nähe und Distanz siehe z.B. Stein 1999. Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="356"?> Peter Stein 342 nistre de la Culture et des Arts [...] Proposition pour la création d'un comité technique en vue de l'élaboration d'une graphie standard pour le créole mauricien, datiert auf den 17. August 1992: 13 La République de Maurice accueillera du 30 septembre au 5 octobre prochain le 7 eme Colloque International des Etudes Créoles. [...] Cela fera bientôt vingtcinq ans depuis que la langue créole mauricienne assume ce rôle si nécessaire de véhicule d'unité nationale dans une société indépendante et plurielle. [...] Aujourd'hui, la langue créole mauricienne est l'instrument par excellence du dialogue, de la communication et - par voie de conséquence - de la compréhension, entre le gouvernement et le peuple. [...] A l'heure des bilans, il est malheureux de constater que l'état n'a pas grand'chose à son actif à part quelques déclarations d'intention. [...] Par conséquent, et pour marquer en même temps de manière concrète la venue du Colloque International des Etudes Créoles, je voudrais réitérer ma proposition en faveur de la création d'un comité technique en vue de dégager un consensus autour d'une graphie standard pour le créole mauricien. Il est bon de rappeler que, dans ce domaine, Maurice a acquis au cours des dernières décennies une expérience considérable en matière de réflexions, de propositions et de pratiques. [...] Elle s'inscrit tout simplement dans la logique de l'évolution du créole mauricien. Cette langue est aujourd'hui parvenue à un point avancé de son développement : elle est mûre pour une graphie cohérente, standard et communément acceptée. [...] Ma proposition en vue d'une graphie standard tient compte de cette complexité. Elle porte sur la technicité de l'orthographe et ne touche pas au statut de la langue. Je dois aussi ajouter qu'en ce qui concerne la codification écrite, l'essentiel a déjà été fait. Il ne manque que des retouches et, surtout, le consensus autour d'une orthographe commune. Im September 2004 folgt seine programmatische Schrift A harmonized writing system for the Mauritian Creole Language. Grafi-larmoni, 14 in der sich auch der Text von 1992 als Anhang befindet. Hier lesen wir zum aktuellen Stand der Orthographiediskussion: Terms of reference In a letter dated 31 March 2004, the Ministry of Education and Scientific Research informed the University of Mauritius that the Government had agreed to “a proposal of this Ministry to entrust to the University of Mauritius and the Mauritius Institute of Education, under the responsibility of Prof. Vinesh Y Hookoomsing, Pro Vice-Chancellor of the University of Mauritius, the task of proposing a harmonized way of writing Mauritian Kreol with a view to making use of that language in the education of young Mauritians”. [...] 13 Siehe http: / / www.potomitan.info/ bibliographie/ harmonized.php. 14 Siehe http: / / www.potomitan.info/ bibliographie/ harmonized.php. <?page no="357"?> 343 The team met for the first time on 26 April 2004 to discuss procedural matters and more importantly matters related to the object of the assignment. [...] it was agreed that the formulation of a harmonized orthography would take into account the various standardized writing systems proposed for MCL [Mauritian Creole Language] and currently in use. The team was also of the opinion that it was empowered by its terms of reference as well as by its composition and institutional basis to give due attention to the implications of the immediate objective for which the proposed harmonized orthography would be used, namely its introduction in the school. Als Ergebnis ist dann im April 2011 unter dem Label der 2010 gegründeten Akademi Kreol Morisien das Ergebnis erschienen: LORTOGRAF KREOL MO- RISIEN. Rapor redize par Dr Arnaud Carpooran, Associate Professor, Liniversite Moris (UoM), Prezidan Komite Teknik lor Lortograf Kreol Morisien. 15 Das Buch beginnt mit der Message from the Minister of Education and Human resource / Mesaz Minis Ledikasion ek Resours Imin, auf Englisch, der offiziellen Sprache, und Kreolisch/ Morisien. Dort lesen wir unter anderem: This document represents the collective effort of a dedicated group that has for long been militating for the establishment of Kreol Morisien as an official language and for the introduction of Kreol Morisien into the classroom. The government in which I have the pleasure and honour to serve as a State Minister has made it a crucial part of its policy to give this language its legitimate place in the education system. This is not so much because it will merely help our pupils to better apprehend concepts and knowledge, but principally because a mother tongue needs to be ascribed its due credentials. [...] This first printed edition of “Lortograf Kreol Morisien” is a reference for all those who will further contribute to preparing the way for the introduction of the language as an optional subject in schools. The document will also help all of us to write a standardized Kreol Morisien. Sa dokiman-la reprezant zefor kolektif enn group dimounn devwe, ki pa finn aret milite pou ki Kreol Morisien vinn enn lang ofisiel e ki li rant dan lekol. Mo ena plezir ek loner fer parti enn gouvernman ki konsider introdiksion Kreol Morisien kouma enn priorite. Sa montre ki nou krwar ki sa langaz-la ena so plas lezitim dan lekol. Pa zis parski li pou donn enn koudme nou bann zanfan konpran bann konsep, me prinsipalman parski nou krwar ki li nou devwar donn tou rekonesans enn langaz maternel. [...] 15 Carpooran 2011b. Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="358"?> Peter Stein 344 Sa premie edision “Lortograf Kreol Morisien” la, li enn referans pou tou bann ki pou kontign kontribie pou tras sime pou fer Kreol Morisien rant dan lekol kouma enn size opsionel. Li ousi enn dokiman ki pou permet nou tou ekrir enn Kreol Morisen standardize. Es folgt, jetzt in den drei Sprachen, die Prefas Prezidan AKM [Akademi Kreol Morisien] / Preface from Chairperson, AKM / Préface du Président de l'AKM, Vinesh Hookoomsing: Deryer sa dokiman-la, li bon rapel ki ena enn travay konsiderab ki ti koumanse ver lafin bann lane 1960 e ki finn prodir plizier grafi standardize pou ekrir Kreol Morisien ziska tou resaman. An 2004, pou premie fwa, gouvernman morisien pran linisiativ pou etablir enn grafi standar komin. Enn komite Liniversite Moris-MIE plase sou mo responsabilite finn travay lor enn sintez bann diferan grafi standardize pou prodir Grafi-larmoni. It is worth keeping in mind that this document is also the outcome of the considerable work done since the late 1960s and which produced several standardized writing systems for Mauritian Kreol until recently. Then, in 2004, a first government initiative on this issue led to the setting up of a UoM-MIE committee under my responsibility in view of harmonizing these various standardized writing systems. Il est bon de rappeler que ce document est aussi l'aboutissement de tout le travail considérable sur la graphie de cette langue, initié dans les années 1960 et qui a donné lieu à plusieurs systèmes standardisés en vue d'écrire le Kreol mauricien. En 2004, une première initiative gouvernementale déboucha sur la formation d'un comité, placé sous ma responsabilité et composé de linguistes de l'Université de Maurice et du Mauritius Institute of Education, en vue d'harmoniser les diverses graphies en usage. Zum Ziel und Zweck des Buches lesen wir dann, jetzt nur noch auf Morisien: Li ti ena kouma obzektif prinsipal propoz enn kod grafik armonize pou Kreol Morisien apartir bann pratik ki ti deza existe, dan kad preparasion terin pou permet introdiksion formel Kreol dan lekol. 16 (S. 23) Das Ziel scheint erreicht. Es ist so weit, die Anerkennung des Kreolischen ist in Mauritius sehr nahe, die entsprechenden Arbeiten sind weit fortgeschritten, aus den unterschiedlichen (Ortho-)Graphiesystemen hat sich ein von allen akzeptiertes entwickelt, alle Beteiligten haben sich auf eine Orthogra- 16 Il y avait comme objectif/ but principal [l'idée] de proposer un code graphique harmonisé pour le créole mauricien à partir des pratiques qui existaient déjà, dans le cadre des préparations du terrain pour permettre l'introduction formelle du créole à l'école. (trad. PS). <?page no="359"?> 345 phie geeinigt, die Grafi larmoni; es gibt eine Akademi Kreol Morisien, die sowohl die Regeln der Orthographie als auch eine Grammatik des Morisien publiziert hat, 17 es gibt ein einsprachiges Wörterbuch des Kreolischen, das diese Orthographie verwendet und für das nach nur drei Jahren bereits eine zweite, überarbeitete Auflage erschienen ist. 18 Dazu hat The Bible Society of Mauritius / Sosiete Biblik lil Moris eine Übersetzung des Neuen Testamentes herausgegeben, 19 was bedeutet, dass auch die Kirche das Morisien als ihre Sprache adoptiert und die Entwicklung der Grafi larmoni unterstützt hat. Und, last not least, das Kreolische ist seit Anfang 2012 offiziell Unterrichtssprache in der Grundschule. 20 Auch in der sonst französisch- und gelegentlich auch englischsprachigen Presse findet die Grafi larmoni Verwendung, wenn auch (noch? ) nicht, wie wir gesehen haben, ausschließlich. Für die Verwendung in der Presse soll das folgende Beispiel aus Le Mauricien vom 10. November 2012 stehen, ein Auszug einer Rede von Dev Virahsawmy, einem der “Väter” der Grafi larmoni: mo papa ti enn militan Arya Samaj ki ti pe revolisyonn indoui s m. Mo ma ma ti plito krwar dan enn me ti s a z relizye. An 1945, kan polyo kokin. mo lebra gos, dan kiltir mo papa, sa ti fer parti so karma . Li ti pe pey pou erer ki li tinn fer. Mo ma ma , li, ti pe a l d e ma nn s ekour da n kovil, la s a pel ek l e gliz . Li ti pe tr e nn mwa da n tou la ndrwa s a kr e [. . .] San ki mo kone, enn lame invizib ti pe grandi dan mo latet. 21 In der gleichen Woche fand übrigens der X e Congrès créole in Mauritius statt, und es gab nicht wenige kreolische Beiträge dazu im Le Mauricien, alle in der Grafi larmoni oder vergleichbaren Systemen für andere Kreolsprachen. Also eitel Sonnenschein, bleibt nur noch die Offizialisierung der Grafi larmoni durch die staatlichen Organe und die Anerkennung des Kreolischen, des Morisien, als offizieller Sprache der Republik Mauritius. Als einziger? Zusammen mit dem Englischen? Aber in welcher Reihenfolge? Und wie ist 17 Police-Michel, Carpooran, Florigny 2011. 18 Carpooran 2011a. 19 Nouvo Testaman Dan Kreol Morisien, Port Louis: Bible Society of Mauritius 2009. 20 Für diejenigen, die sich näher mit der Grafi larmoni und dem Kreol Morisien vertraut machen möchten, sei auf Baissac/ Virahsawmy 2006 sowie die Übersetzung des Petit Prince hingewiesen. Beide sind im Verlag Tintenfass in Neckarsteinach erschienen. 21 Ganz nebenbei zeigt der Text die Problematik der Schaffung fester Orthographienormen: Wir finden hier den Halbvokal [j] als <y> geschrieben, im Wörterbuch von Carpooran dagegen als <i>, Beispiel: revolisyonn, polyo, Carpooran dagegen: revolisionn, polio. Beide haben dagegen pey, bzw. peye (“payer, paye/ paie”). Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="360"?> Peter Stein 346 es mit dem Französischen? Also drei offizielle Sprachen? 22 Und welchen Platz bekommen die langues des ancêtres in der neuen “Sprachlandschaft”? Wir sind damit bei den Problemen angekommen, die es mehr noch auf politischer als auf technischer Seite zu überwinden gilt. Kritische Stimmen Eine Erfolgsgeschichte also! Oder doch noch nicht ganz? Wir haben anfänglich gesehen, dass die Presse durchaus auch noch die traditionellen Schreibgewohnheiten beibehalten hat, es also noch eine gewisse Konkurrenz gibt. Und alte Gewohnheiten lassen sich nicht leicht ersetzen, gerade auch wenn es um das gewohnte “richtige” Schreiben geht. Für die Problematik auf politischem, ideologischem, vor allem aber kommunalistischem 23 Hintergrund (communalisme), auch wenn durch die Einigung auf die Grafi larmoni hier eine gewisser Konsens erreicht zu sein scheint, mögen zwei Zitate aus einem Text stehen, der kurz nach der Entscheidung zur Einführung des Kreolischen in den Unterricht verfasst und im Internet veröffentlicht wurde: 24 What a shame for a country which prides itself for its high level of literacy and education when, for purely political reasons to gain the votes of a few misguided (even racist) voters, the Mauritian government degrades the Mauritian education system by deciding to introduce to very young and vulnerable children in Standard 1 as an option from January 2012 a French-based spoken slave creole language (called 'Kreol Morisien') written in the most distorted phonetics to be considered pari passu with proper spoken and written languages such as Hindi, Urdu and Bhojpuri. Such a move can only debase the whole education system up to tertiary level as academic standard will have to be lowered to accommodate those who opted for the slave language, which may well be unconstitutional, at primary level failing which it would amount to discrimination. [...] 22 Während in der allgemeinen Diskussion die Nähe des Morisien zum Französischen diesem eine privilegierte Position zugesteht, optiert Virahsawmy für einen Bilinguismus Morisien-Anglais. Vgl. dazu Virahsawmy 2010. 23 Traditionellerweise und mit Einfluss auf die politische Kräfteverteilung wird die Bevölkerung von Mauritius in vier communautés aufgeteilt. Die Hindous, die Moslems, die Sino-Mauritianer und die Population générale. Da das sprachliche Zugehörigkeitsbewusstsein hier eine wichtige Rolle spielt, kann die größere Etablierung des Kreolischen leicht auf den Widerstand zumindest gewisser Kreise der Indo-Mauriciens stoßen. 24 Soormally 2011. Siehe http: / / www.kotzot.com/ news/ pm-navin-ramgoolam-forcesfrench-based-slave-creole-in-mauritian-education/ . Teilnehmer meines Seminars an der FU in Berlin im Sommersemester 2011 haben mich auf den Text hingewiesen. <?page no="361"?> 347 The linguist Dev Veerahsawmy embarked on a phonetic spelling which distorted properly spelt French (or English) words. L'éducation becomes 'ledykasyon', Mackbeth becomes 'Makbes'. He and his cohorts had no idea how slaves spoke or phonetically wrote, if only they could. They invented the spellings based on the Haitian model and decades later named the script « GrafiLarmoni » but still unable to explain which harmony between which scripts. This is what they are imposing on the Mauritian population with the acquiescence of the present government. (M Rafic Soormally, London, 23 May 2011) Wie viel Bedeutung einem solchen Text zuzugestehen ist, will und kann ich nicht beurteilen. Die Diktion wie auch eine Reihe sachlicher Fehler sollten uns hoffen lassen, dass es sich um den Versuch eines “Gestrigen” handelt, der nicht weiter beachtet werden wird. Es ist jedoch gut möglich, sogar wahrscheinlich, dass er nicht alleine steht. Die Systeme im Vergleich Nach so vielen Worten über die Geschichte der Schreibung des Kreolischen und die Orthographiekonkurrenzsituation, im Verhältnis dazu aber nur wenigen Worten zur Form der neuen (Ortho-)Graphie(n), fehlt noch ein praktischer Teil mit einem Blick auf das konkrete Aussehen der verschiedenen Systeme. In Carpooran 2011b finden wir, bevor das neue System vorgestellt und kritische Punkte diskutiert werden, eine Zusammenstellung der Charakteristika der vorausgehenden Systeme. Wir übernehmen hier diese Zusammenstellung, ändern aber die Reihenfolge zugunsten einer konsequenteren Chronologie: 25 Bann pratik grafik ki ti existe avan Grafi-larmoni (andeor pratik etimolozik) 26 1967 Dev Virahsawmy, Grafi aksâ sirkôflex 1972 Philip Baker, Grafi “ah” Konsonn “h” servi pou sinboliz nazalizasion bann vwayel: ah: “an”; eh: “ein”; oh: “on”; yh: “gn”. 1977 Ledikasyon Pu Travayer, « Grafi n/ nn » Ban/ bann; bon/ bonn; bin(ben)/ binn; pu; mwa; lerwa; gayn; byin. 1985 Dev Virahsawmy, Graphie d’accueil 1987 Philip Baker & Vinesh Hookoomsing, Lortograf-Linite Prezans enn pwin lor konsonn “n” ek “m” pou mark nazalizasion bann vwayel. Exanp: baṅ, laṁpul; boṅ, noṁ; 27 25 Siehe Carpooran 2011b, S. 24. 26 Les graphies qui étaient utilisées avant la Grafi larmoni (sans tenir compte des usages basés sur l'étymologie). Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="362"?> Peter Stein 348 absans pwin lor “n” ouswa “m” indike ki konsonn-la bizin prononse: ban, lam; bo, bon, bom. 1988 Dev Virasawmy, La sacrosainte graphie 1990-1998: Dev Virahsawmy, Graphie consensuelle -Sherif; kees; diil; diliit; horrni -Santere; lalimiere; pëi; zëan; loulou; axepte; quen; keess -Faktèr; kontribié; pratchik; kiltchirel; djinamik; metchiss. 1998 Legliz katolik an kolaborasion ek D. Virasawmy, Grafi legliz Pou; moi; leroi; gagne; bien. 2004 Grafi larmoni Es folgt die Vorstellung der Grafi larmoni, differenziert nach eindeutigen, unproblematischen Lösungen und solchen, die eine Entscheidung verlangen und diskutiert werden können. Wir übernehmen wieder die tabellarische Darstellung des genannten Werkes: 28 3.4 Propozision Grafi-Larmoni apartir armonizasion bann pratik ki ti existe avan 2004: TABLO 1: Konsonn ek vwayel sinp ki pa poz gran problem onivo lektir Konsonn Fonem Sinbol/ let Lexanp Remark p p pake, aprann, rap b b bato, kaba, rob m m mama, semenn, bom n n nam, zanana, yen Get vwayel nazal dan Tablo 2 t t tanto, later, zalimet 27 Eine Besonderheit dieses Systems ist auch die Beibehaltung der assimilierten Differenzierung von <ṅ> und <ṁ> zur Markierung der Nasalierung des graphisch vorausgehenden Vokals. 28 Carpooran 2011b, S. 25ff. <?page no="363"?> 349 d d dilo, ledo, larad k k koki, lakaz, lamok g g gidon, lagitar, grog s s sat, lasal, fos z z zako, biznes, baz f f fami, lafnet, bef v v volan, lavey, lagrev l l lavil, talan, bal r r ros, lartik, lamar Vwayel a a alert, balon, beta e e eskiz, egrer, dite o o oter, zoli, loto i i itil, plim, mari long i: diil ('deal') TABLO 2: Konsonn, vwayel ek semi-vwayel ki merit latansion e ki demann enn aprantisaz Fonem Sinbol/ let Lexanp Remark ɲ gn gagn, gagne, pagn, konpagne LPT 29 : gayn, ganye, payn, konpanye 29 Ledikasyon pu Travayer. Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="364"?> Peter Stein 350 ɳ ng long, lapang, miting, gounga, tʃ ch chak, koucha, chacha ba(t)ch, ma(t)ch? ʤ di/ j media, diab, diaman / baj, baja, joukal, jous h h haj, halim, dahi, hom, horl ks/ gz x/ xs exit, existe exsite, sex, taxi, axsidan DV: x/ ks used 30 freely ʃ sh shoping, ofshor, kash, shanti u ou koulou, louke, koul LPT: kulu, luke, kul e ̃ in fin, linz, rinte, rezin LPT: fin/ fen linz/ lenz, rinte/ rente, - an anz, larzan, lavantir ɔ ̃ on onz, konter, dekon ʌ œ bœrgœr, kompyutœr, gœrlfrenn, kœtœr This vowel is not part of MCL system j y/ i yer, vwayel, karay, lion, nasion LPT: lyon, nasyon 30 Offensichtlich wurde bei einigen remark die Übersetzung ins morisien übersehen. <?page no="365"?> 351 w w wit, labwet, lerwa Grafi Legliz: w/ ou Und schließlich zum guten Schluss sei neben die Theorie auch noch die konkrete Verwendung im Text gestellt. Um die Entwicklung abschließend noch einmal zu illustrieren, haben wir den Anfang der ersten Geschichte von Baissac in vier gedruckt verwendeten Varianten gegenübergestellt. Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="366"?> Peter Stein 352 Baissac 1888 Zistoire iève av tourtie dans bord bassin léroi Longtemps longtemps dans payi Maurice, ti éna éne léroi qui ti gagne éné grand bassin. Làdans même li té baingne so lécorps tous lé bomatins, à cause docteir ti commande li. Avlà éne zour li arrive dans bord bassin ; dileau sale, napas capave baigné. Léroi appelle gardien, bourre li. Lendimain, dileau sale. Troisième zour, dileau sale. Léroi pèse gardien dans licou, li sacouyé, li dire li: - Eh ! toi, to vlé mo trape lagale dans ça dileau là ? Quand dimain bassin napas prope, to va guété sipas mo ronflé toi Gardien peir. Asoir li prend fisil, li cacié dans feilles sonzes bord bassin; lanouite noir noir, napas laline. Lheire canon tiré, li tende doumoumde vini ; li couté : tac, tac, tac ; ça ti éne iève ! Avant gardien gagne létemps lève fisil, iève vine drette av li, li dire li: Virahsawmy 1967 Zistwar Yev ek Torti Biê bié lôtâ dâ pei Moris ti ena ên lerwa ki ti ena ên grâ basé. Ladâ mem li ti bêgne tu le gramaté, akoz dokter ti kôsey li. Ala ên zur li ariv dâ bor basê; dilo sal, li pa kapav bêgne. Lerwa apel gardiê, zur li. Lâdimê, dilo sal. Trwaziem zur dilo sal. Lerwa pez liku gardê, li sakuy li, li dir li: - «Eh! twa, to le mo trap lagal dâ sa dilo là? Kâ dîme sa basê la napa prop to a gete sipa mo pa rôfle twa.» Gardiê fin per. Aswar, li prâ fisil, li al kasiet dâ fey sôz kot bor basé; la nwit ti nwar, pa ti ena lalin. Ler canô fin tire, li tan dimun vini; li ekute; tak, tak, tak, sa bizê ên yev! Avâ gardiê gagn letâ lev fisi, yev vin drwtat lor li, li dir li: Baissac 1888 Le lièvre et la tortue au bord du bassin du roi Il y a bien bien longtemps, il y avait au pays de Maurice un roi qui avait un grand bassin. C'est là qu'il prenait son bain tous les matins comme son médecin le lui avait ordonné. Un jour il arrive au bord du bassin; l'eau est sale : impossible de se baigner. Le roi appelle le gardien et le gronde. Le lendemain, l'eau est sale. Le troisième jour, l'eau est sale. Le roi prend le gardien par le cou, le secoue et lui dit: <?page no="367"?> 353 LPT 1989 Zistwar yev av torti dan bord basin lerwa Grafi larmoni 2005 Zistwar yev ek torti dan bor basin lerwa Lontan lontan dan pei Moris, ti ena enn lerwa ki ti gayn enn gran basin. Ladan-mem li ti beyn so lekor tule bomatin, akoz dokter ti komann li. Avla enn zur li ariv dan bor basin; dilo sal, napa kapav beyne. Lerwa apel gardyen, zur li. Landime, dilo sal. Trwazyem zur, dilo sal. Lerwa pez gardyen dan liku, li sakuye, li dir li: Lontan lontan dan pei Moris, ti ena enn lerwa ki ti gagn enn gran basin. Ladan-mem li ti begn so lekor toule bomatin, akoz dokter ti komann li. Ala enn zour li ariv dan bor basin; dilo sal, napa kapav begne. Lerwa apel gardien, zour li. Landime, dilo sal. Trwaziem zour, dilo sal. Lerwa pez gardien dan likou, li sakouye, li dir li: - E! Twa, to ule mo trap lagal dan sa dilo la? Kan dime basin napa prop, to va gete sipa mo ronfle twa! - E! Twa, to ou’le mo trap lagal dan sa dilo la? Kan dime basin napa prop, to va gete sipa mo ronfle twa! Gardyen per. Aswar li pran fizi, li kasyet dan fey sonz bor basin; lannwit nwar nwar, napa lalinn. Ler kanon tire, li tann dimunn vini; li 'kute: tak, tak, tak; sa ti enn yev! Avan gardyen gayn letan lev fizi, yev vinn drwat ar li, li dir li: Gardien per. Aswar li pran fizi, li kasiet dan fey sonz bor basin; lannwit nwar-nwar, napa lalinn. Ler kanon tire, li tann dimoun vini; li 'koute: tak, tak, tak; sa ti enn yev! Avan gardien gagn letan lev fizi, yev vinn drwat ar li, li dir li: - Et toi, enfant de chien ! tu veux que j'attrape la gale dans cette eau-là ? Si demain le bassin n'est pas propre, tu verras quelle pile! Le gardien a peur. Le soir venu, il prend son fusil, il se cache dans les feuilles de songe au bord du bassin ; la nuit était noire, pas de lune. Au coup de canon, il entend qu'on vient : tac, tac, tac : c'était un lièvre. Avant que le gardien ait le temps de lever son fusil, le lièvre vient droit à lui et lui dit: Das Morisien und seine Verschriftung: auf dem Weg zur Grafi larmoni <?page no="368"?> Peter Stein 354 Bibliographie Baissac, Charles: Étude sur le patois créole mauricien. Nancy: Berger-Levrault 1880 (Reprint: Genève: Slatkine 1976) Baissac, Charles: Le folk-lore de l’île Maurice (Texte créole et traduction française). Paris: Maisonneuve & Larose (Les littératures populaires de toutes les nations, vol. XXVII) 1888, Nachdruck 1967 Baissac, Charles / Ledikasyon Pu Travayer: Sirandann Sanpek. Zistwar an kreol. 28 hundred-year-old Folk Stories in Kreol with English translation longside, Port Louis: LPT 1989. Baissac, Charles / Virahsawmy, Dev: „Le coin mauricien, Zistwar Yev ek Torti“. In Le Mauricien du 8 Sept. 1967 Baissac, Charles / [Virahsawmy, Dev], Märchen aus Mauritius / Ti-Zistwar Pei Moris, Zweisprachige Ausgabe, Deutsch und Kreolisch, hgg. u. übers. von Walter Sauer, Neckarsteinach: Tintenfaß 2006. Baker, Philip: Kreol. A description of Mauritian Creole, London: Hurst 1972. Baker, Philip / Hookoomsing, Vinesh Y.: Diksyoner kreol morisyen / Dictionary of Mauritian Creole / Dictionnaire du créole mauricien, Paris: L’Harmattan 1987. Carpooran, Arnaud: Diksioner Morisien. Premie diksioner kreol monoleng, St. Croix: A. Carpooran 2 2011. Carpooran, Arnaud: LORTOGRAF KREOL MORISIEN, Phoenix: Akademi Kreol 2011b. (http: / / ministry-education.gov.mu/ English/ educationsector/ Documents / Lortograf%20Kreol%20Morisien.pdf) Dejean, Yves: Comment écrire le créole d’Haïti, Outremont (Québec): Collectif Paroles 1980. Ledikasyon pu Travayer: alfa ennbuk, Port Louis: LPT 1981. Ledikasyon pu Travayer: How to write Kreol properly, Port Louis: LPT 1989. McConnell, Ormonde H. / Swan, Eugene jr.: You can learn Creole. A simple introduction to Haitian Creole for English Speaking people, Port-au-Prince: Impr. de l’Etat 1945, 2 1952, 4 1960. Meier, Gudrun / Stein, Peter / Palmié, Stephan / Ulbricht, Horst (Hgg.): Christian Georg Andreas Oldendorp, “Historie der caribischen Inseln Sanct Thomas, Sanct Crux und Sanct Jan”. Kommentarband. Herrnhut: Herrnhuter Verlag (“Beihefte der UNITAS FRATRUM” 19) 2010. Nouvo Testaman Dan Kreol Morisien, Port Louis: Bible Society of Mauritius 2009 Oldendorp, Christian Georg Andreas: Historie der caribischen Inseln Sanct Thomas, Sanct Crux und Sanct Jan, insbesondere der dasigen Neger und der Mission der Evangelischen Brüder unter denselben. Kommentierte Ausgabe des vollständigen Manuskriptes aus dem Archiv der Evangelischen Brüder-Unität Herrnhut, hgg. von Gudrun Meier, Stephan Palmié, Peter Stein und Horst Ulbricht von Berlin: VWB - Verlag für Wissenschaft und Bildung 2000 (“Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden” Band 51, Monographien 9,1 und 9,2, 2002), 4 Bde. Police-Michel, Daniella / Carpooran, Arnaud / Florigny, Guilhem: Gramer Kreol Morisien, Volim I: Dokiman Referans, Phoenix: Akademi Kreol Morisien 2011, <?page no="369"?> 355 (http: / ministry-education.gov.mu/ English/ educationsector/ Documents/ GRAMER%20KREOL%20MORISIEN%202211.pdf) Pressoir, Charles Fernand: Débats sur le créole et le folklore, Port-au-Prince: Impr. de l’Etat 1947. Saint-Quentin, Auguste de: Étude sur la grammaire créole, Antibes: Marchand 1872. Soormally, Rafic: „PM Navin Ramgoolam forces French-based slave creole in Mauritian education”, London, 23 May 2011, (http: / / www.kotzot.com/ news/ pmnavin-ramgoolam-forces-french-based-slave-creole-in-mauritian-education/ ) Stein, Peter: „Überlegungen zur Geschichte und zum aktuellen Stand der Verschriftung des Kreolischen auf Mauritius”. In: Dahmen, Wolfgang / Gsell, Otto / Holtus, Günter et al. (Hgg.): Zum Stand der Kodifizierung romanischer Kleinsprachen. Romanistisches Kolloquium V, Tübingen: Narr (TBL 348) 1991, 363-375 Stein, Peter: „Nähe oder Distanz? Zur Kreation und Integration von Neologismen beim Ausbau nicht verschrifteter Sprachen und Sprachvarietäten“. In: Döring, Brigitte / Feine, Angelika / Schellenberg, Wilhelm (Hgg.): Über Sprachhandeln im Spannungsfeld von Reflektieren und Benennen. Frankfurt etc.: Lang (“Sprache, System und Tätigkeit” 28) 1999, 275-291 Stein, Peter: „Pourquoi écrire les langues créoles: qui écrit quoi, pour qui et comment? “. In: Écrire les langues d'oïl. Actes du colloque organisé à Marcinelle les 27 et 28 septembre 1997. Charleroi: MicRomania 2002, 211-219 Stein, Peter: Nachwort zu: Charles Baissac: Märchen aus Mauritius / Ti-Zistwar Pei Moris, Zweisprachige Ausgabe, Deutsch und Kreolisch. hgg. u. übers. von Walter Sauer, Heidelberg: Tintenfaß 2006, 169-175 Stein, Peter & Kattenbusch, Dieter: „Pourquoi et comment élaborer une orthographe pour des langues romanes non encore codifiées? Quelques réflexions comparatives à propos de la codification du ladin des Dolomites et du créole mauricien”. In: Actas do XIX Congreso Internacional de Lingüística e Filoloxía Románicas, Universidade de Santiago de Compostela, 1989.vol. III, Lingüística Pragmática e Sociolingüística. A Coruña: Fundación „Pedro Barrié de la Maza, Conde de Fenosa” 1992, 183-197 Strobel-Köhl, Michaela: Die Diskussion um die “ideale” Orthographie. Das Beispiel der Kreolsprachen auf französischer Basis in der Karibik und des Französischen im 16. und 20. Jahrhundert. Tübingen: Narr (ScriptOralia 59) 1994. Virahsawmy, Narendraj [Dev]: Towards a Re-evaluation of Mauritian Creole. Diploma- Dissertation, Univ. of Edinburgh 1967. Virahsawmy, Dev: Zeneral Makbef, Rose Hill: Bukié Banané 1981. Virahsawmy, Dev: Bilengism Morisien ek Angle (Mauritian and English Bilingualism), Curepipe: BM Bookcenter 2010. 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Eine diachrone und synchrone Korpusstudie Wie in anderen (franko)kreolophonen Gebieten werden in Französisch- Guayana im Zuge der kreolischen Identitätsaffirmation ab den 1980er Jahren Bemühungen unternommen, den soziolinguistischen Status der Kreolsprache durch gezielte Normierungs- und Ausbaumaßnahmen zu verbessern. 1 Bei der Schaffung einer expliziten, präskriptiven kreolischen Norm, insbesondere einer orthographischen Norm, stellt sich dabei grundsätzlich die Frage nach dem gewünschten ‚Abstand‘ von der Lexifiersprache, insbesondere wenn die Kreolsprache wie in den französischen départements d’outremer bis heute mit dieser koexistiert. 2 Im vorliegenden Beitrag soll nun zunächst die Geschichte der Verschriftung des Créole guyanais anhand verschiedener Textdokumente von der Kolonialzeit bis heute nachgezeichnet werden. Die darin erkennbar werdenden kreolischen scriptae sowie konkret erfolgte Orthographievorschläge dienen in der Folge als Hintergrundfolie für die Diskussion der gegenwärtigen Normierungsbemühungen im Bereich der kreolischen Orthographie (mit einem kurzen Ausblick auf sprachinterne Ausbaumaßnahmen) und ihrer (Nicht-)Umsetzung durch die Sprecher in aktuellen kreolischen Schriftzeugnissen. 1. Kreolische Schriftlichkeit in Französisch-Guayana: 17. - 20. Jahrhundert 1.1. Jesuitenbriefe als Zeugnisse der Kreolgenese Wie in vielen kolonialen Kontexten sind auch in Französisch-Guayana die zur Missionierung aus Europa entsandten Geistlichen die ersten, die sich näher mit dem Sprachverhalten der unterdrückten Bevölkerung auseinan- 1 Vgl. Wiesinger (2014) zum externen Ausbau des Créole guyanais. 2 Vgl. z.B. Léglise/ Migge (2006; 2010) für einen Überblick über die noch wesentlich komplexere Vielsprachigkeit in Französisch-Guayana, wo das Créole guyanais mit ca. 30 weiteren Idiomen koexistiert. <?page no="372"?> Evelyn Wiesinger 358 dersetzen. Die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in der französischen Kolonie tätigen Jesuiten beschäftigen sich dabei nicht nur mit den indigenen Idiomen (v.a. dem Galibi), sondern beschreiben auch den sprachlichen Umgang mit den afrikanischen Sklaven, wie etwa Pater Jean de la Mousse im Jahr 1687: 3 Mais comme on leur défend de parler aucune autre langue que la française et qu’ils dépendent par toutes choses des Français, ils ont bientôt appris certain jargon français qui a cours parmi eux, que tout le monde sait, avec lequel nous leur parlons et les confessons. Ce jargon est toujours par l’infinitif du verbe, à quoi joignant le mot de toi et de moi, et quelques autres mots qui sont le plus en usage, on l’entend aussi bien que si l’on parlait dans les règles. Par exemple, quand nous leur demandons en confession s’ils ont dérobé, nous leur disons: Toi dérober? Ils répondent: Moi dérober six, moi dérober dix, c’est-à-dire j’ai dérobé tant de fois. Si on leur demande s’ils se sont mis en colère, on leur dit: Toi mauvais cœur? Ils répondront: Moi mauvais cœur, dix, douze, quinze, selon que cela leur est arrivé. (GBro102/ 4, f. 196; Hervorhebung im Original) Trotz der sicherlich nicht immer unverfälschten Wahrnehmung der Redeweise der schwarzen Sklaven im Ohr der französischen Jesuitenpatres stellen ihre Briefe mit die ältesten Zeugnisse der sich verändernden sprachlichen Situation und des Beginns der graduellen Herausbildung einer Frankokreolsprache auf der Île-de-Cayenne dar, die sich dort spätestens im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts als Muttersprache der in der Kolonie geborenen Kinder etabliert (vgl. Barrère 1743, 39f). Bereits in den frühen Jesuitenbriefen aus den 1680-90er Jahren scheinen bestimmte morphosyntaktische Züge einer entstehenden Kreolsprache durch, so etwa die Verwendung der betonten Personalpronomen (moi, toi), das Fehlen konjugierter Verbformen sowie der Verlust der Kopula (Toi mauvais cœur? ). 4 Selbst wenn die Jesuiten den ‚certain jargon français‘ bzw. die ‚langage Creol de Cayenne‘ (Barrère 1743, 40) zur Missionierung der schwarzen Sklaven verwenden und darin womöglich auch Kirchenlieder oder den Katechismus schriftlich nie- 3 In den französischen Kolonien schreibt ab 1685 der Code Noir die christliche Missionierung und Taufe der Sklaven vor. Auch wenn ihr missionarischer ‚Erfolg‘ von den Patres unterschiedlich eingeschätzt wird, so gehört der regelmäßige persönliche Kontakt zu den Patres, Beichte, Gebet und Messbesuch in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in jedem Falle zum Alltag eines Sklaven auf der Îlede-Cayenne (vgl. MLF 2002, 127-133; Verwimp 2011, 156f sowie Wiesinger 2013). 4 Vgl. dazu ausführlicher Wiesinger (2013). <?page no="373"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 359 derlegen, sind uns bis heute keine längeren Schriftzeugnisse des Créole guyanais aus der Zeit der Sklavenhaltergesellschaft überliefert. 5 1.2. ‚Revolutionäre‘ Sprachverwendung: das Créole guyanais in den proclamations Die Situation ändert sich erst im Kontext der gesellschaftlichen Umwälzungen im Zuge der Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien, die zunächst 1794 per Dekret beschlossen und nach der Wiedereinsetzung des Code Noir durch Napoleon endgültig 1848 umgesetzt wird. Aus dieser Zeit stammen mehrere proclamations, die als öffentliche Aushänge und durch zusätzliches Vorlesen den Bewohnern der Kolonien neue Verordnungen etc. mitteilen sollen. Um den ehemaligen Sklaven direkt ihren neuen Status als freie cultivateurs und citoyens der Französischen Republik auseinanderzusetzen, veranlasst die Kolonialverwaltung explizit die Übertragung der betreffenden französischen proclamations ins Kreolische. So heißt es am Ende der durch den commissaire civil Burnel gezeichneten proclamation von 1799: 6 La présente adresse sera imprimée, lûe, publiée, affichée, à la diligence du Commissaire du Directoire Exécutif, près l’Administration Départementale; elle sera traduite dans le langage créol, & envoyée pour être publiée sur toutes les habitations; des exemplaires en seront affichés dans tous les atteliers & dans les maisons des propriétaires. (CAOM C14/ registre 76/ f. 97; unsere Unterstreichung) Die zweite uns erhaltene kreolische proclamation vom 15. Juli 1848, gezeichnet Pariset, wird offenbar mehrmals und von verschiedenen Personen ins Créole guyanais übertragen, da uns drei unterschiedlich lange kreolische Versionen überliefert sind. 7 Auch wenn diese sich hinsichtlich der Reihenfolge der Argumente, der Wortwahl und der syntaktischen Strukturen un- 5 Vgl. Wiesinger (2013): A. de St-Quentin (1872b, 92) erwähnt „quelques essais de cantiques publiés, au milieu du siècle dernier, par les missionnaires jésuites“; Atipa (1980/ [1885], 143) parodiert einen „catéchissé nègue di longtemps“. Vgl. auch Verwimp (2011, 169ff) sowie G. Hazaël-Massieux (1991a, 465). 6 Wir zitieren hier die gedruckte zweisprachige Version dieser proclamation, die sich in den Archives d’outre-mer in Aix-en-Provence befindet. Laut M.-C. Hazaël-Massieux (2008, 187, 219f) existiert eine zweite Version in den Archives Nationales (sous-série D/ XXV/ 4-44); die von ihr zitierte Fassung weicht an 19 Stellen hinsichtlich der Akzentsetzung bzw. Interpunktion von unserer ab, entspricht jedoch (bis auf eine Graphie) der in Denis (1935, 365-359) abgedruckten Version. 7 Anders Sournia (1976, 3), der annimmt, dass die Texte ohne französische Vorlage „directement et seulement en créole pour un public particulier“ verfasst wurden. <?page no="374"?> Evelyn Wiesinger 360 terscheiden, transportieren sie doch weitgehend denselben Inhalt entsprechend der französischen Vorlage. 8 Durch den unvermittelten Einsatz des Créole guyanais in der stark distanzsprachlichen Diskursdomäne der amtlichen proclamations stehen alle kreolischen Versionen dem zeitgenössischen (administrativen) Französisch in Morphosyntax und Lexikon vergleichsweise nahe. 9 Zudem orientieren sie sich, wie in folgendem Auszug aus der proclamation von 1799 deutlich wird, auch orthographisch weitgehend am französischen Schriftmodell, das dem zwangsläufig zweisprachigen Verfasser bzw. scripteur einzig zur Verfügung steht: 10 D EJA cinq ans se sont écoulé, depuis l’époque de votre affranchissement. La République, notre Mère commune, a A vela déja cinq ans que liberté rivée pour toute negre; la Répiblique qui détruire l’esclavage, voyez moi dans pays ci pour baye 8 Die entsprechenden Versionen der proclamation Pariset sind in A. Horth (1948, 95-100), Sophie (1958, 11-19) sowie Sournia (1976) publiziert. Vgl. auch Carden (1989, 169) zu den Unterschieden zwischen Horths und Sournias Texten. Während Horth keine Quelle angibt, zitiert Sournia nach eigener Aussage den im Musée de Cayenne ausgestellten Text; Sophie bezieht sich auf einen Artikel aus der Zeitung Feuille de la Guyane vom 12.08.1848. Diese Ausgabe konnte leider nicht in den einschlägigen Archiven lokalisiert werden. 9 So finden sich beispielsweise in der proclamation Burnel (1799) die Konjunktionen envant qué, en condition qui, malgré que und der französische Ausdruck travaille à la tache ou à la journin, in der proclamation Pariset (1848) die adverbiale Wendung bien au contraire. Trotz der offensichtlichen Nähe zum (Amts)Französisch weisen die proclamations allerdings typische Merkmale des Créole guyanais auf, so z.B. das Fehlen bzw. die Defunktionalisierung der grammatischen Genera und des bestimmten Artikels des Französischen (z.B. oune grand l’honor), passé als Komparativform, invariable Verbformen, die Kopula ça oder kreolische Pronominalformen wie zautres ‚vous‘ (hier verwendet neben vou und vos) und li ‚il/ elle‘. Daher stimmen wir hinsichtlich der Authentizität der proclamations mit G. Hazaël-Massieux überein: „Nous avons […] étudié la fiabilité de textes qui visaient à être d’abord efficaces dans une situation de guerre civile: ce ne sont pas des exercices de style, les rédacteurs cherchent à utiliser ce qui dans la société de l’époque peut à la fois se faire reconnaître comme créole et bénéficier en même temps de l’autorité de l’État“ (G. Hazaël-Massieux 1991b, 77f; vgl. auch G. Hazaël-Massieux 1994). 10 Während M.-C. Hazaël-Massieux (2008, 185) generell eher einen blanc créole als Verfasser bzw. Übersetzer derartiger proclamations annimmt, verweist Patient (2008, 36) auf die mögliche Rolle der „classe des hommes de couleur libres et autres affranchis noirs ou mulâtres. Ceux-ci représentent, en 1847, une population de 6432 individus, soit plus de la moitié des 12333 esclaves recensés. Ils sont tous parfaitement bilingues“. Vgl. auch Jolivet (1985, 105), die gegen Ende des 18. Jahrhunderts einen gewissen Aufstieg eines Teils der gens de couleur konstatiert : „dès qu’elles en avaient les possibilités, ces familles s’attachaient à favoriser l’instruction de leurs enfants, les plus riches n’hésitant pas, même, à les envoyer séjourner en France pour parfaire leur éducation“. <?page no="375"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 361 brisé vos fers, & je viens, en son nom, vous assurer de nouveau qu’à jamais VOUS ETES LIBRES ET CITOYENS FRANÇAIS . C’est de ce glorieux Titre que découlent vos droits; c’e st aussi de la même source, qu’émanent les devoirs sacrés que vous avez à remplir & que vous impôsent la reconnaissance envers la Nation, votre propre intérêt & la prosperité de la Colonie. Rappellés-vous l’état horrible dans lequel vous étiez plongés, & que l’humanité des propriétaires de cette Colonie, allégeait cependant plus que dans toute autre; comparez cet état, avec celui dont vous jouissez maintenant, & appréciez dans toute leur étendue les bienfaits dont vous a comblé la France. Aux punitions arbitraires, à la facilité d’être vendus comme le bétail que vous élevez, a succèdé, pour vous, le régime de la LOI , devant laquelle toutes les couleurs sont égales; […] zautres courage, et pour répéter, que jamais liberté la, pas qu’a cassé, zautres ça C ITOYENS F RANÇAIS pour toujours. Ça oune grand l’honor pour vou. Ça la dans que vos droits et que vos devoirs fis cas; si vou pas ingrats vou a gagné grand profit, et la Colonie va devenir riche. Songés citoyens, misere di catibe. L’État la t’est bien triste, malgré que zautres maitres t’est bons passé habitans di autre Colonie; gardez a cet hore quelle difference! Misourez, si vou pouvez, toute bonté de la France. Li beaucoup, autrefois chacun té qu’a puni negre comme li voulé, yé té qu’a vendé zautres comme bœuf et comme cheval, jordi là ça la loi oune so qu’a commandé. Divant la L OI monde de toute coulor égal. […] CAOM C14/ registre 76/ f. 97. Dem französischen Vorbild folgt die graphische Darstellung der agglutinierten französischen Artikel (wie in l’esclavage, l’honor, L’État), des accent aigu und der lettres muettes, einiger konjugierter Verbformen (gardez, Misourez) sowie der Pluralmarkierung am (Pro)Nomen und Adjektiv (z.B. zautres, droits, ingrats etc.). Allerdings scheint zumindest an einigen Stellen, v.a. im Bereich des Vokalismus, eine vom Französischen abweichende kreolische Aussprache durch, wie etwa in vela, Misourez, divant, coulor. Der Schreiber ist auf der anderen Seite sichtlich bemüht, eigenständige kreolische Lexeme bzw. Morpheme zumindest graphisch mit französischen Formen in Verbindung zu bringen, so bei fis cas und den präverbalen Markern qu’a und t’est. 11 11 Ganz im Gegensatz zur durch die Schreibung suggerierten Etymologie zu frz. faire cas, handelt es sich bei fis cas nach Denis (1935, 357) um ein Verb iberoromanischer Prove- <?page no="376"?> Evelyn Wiesinger 362 1.3. Phonetik vs. Etymologie: Auguste de St-Quentins Graphievorschlag Trotz der Abschaffung der Sklaverei und der folgenden gesellschaftlichen Neuordnung bleibt die - auch in den anderen französischen Kolonien beobachtbare - ‚revolutionäre‘ Verwendung des Créole guyanais in administrativen Texten (und überhaupt in schrift- und distanzsprachlichen Domänen) als Ausnahme einzustufen: 12 Das im 19. Jahrhundert in Französisch- Guayana aufsteigende kreolische Bürgertum strebt nach der „assimilation la plus large possible des valeurs politiques, sociales et culturelles de la France“ (MLF 2002, 140), was den (schulischen) Erwerb des Französischen als alleinige Sprache des sozialen Aufstiegs impliziert. Zumindest in bürgerlichen, städtischen Haushalten wird das Créole guyanais dadurch stark stigmatisiert und sein Gebrauch z.T. auch im nähesprachlichen Bereich tabuisiert, etwa gegenüber der Kindergeneration (vgl. MLF 2006, 110). 13 Dennoch fällt in diese Zeit auch das Erscheinen des ersten lokalen philologisch-folkloristischen Druckwerks zum bzw. im Créole guyanais: 1872 publiziert Alfred de Saint-Quentin zusammen mit seinen Brüdern Édouard und Eugène sowie seinem Neffen Auguste eine Introduction à l’histoire de Cayenne suivie d’un recueil de contes, fables & chansons en créole avec traduction en regard notes & commentaires par Alfred de St-Quentin sowie die immerhin 168seitige, erste Étude sur la grammaire créole par Auguste de St-Quentin. 14 Die St-Quentins gehören zu einer der wenigen Mitte des 19. Jahrhunderts noch nienz (port./ span. ficar). Dieses wird im modernen Créole guyanais u.a. mit der Bedeutung ‚être, se porter‘ verwendet, v.a. in der Frage (A) Kouman to fika? ‚Comment vastu? ‘. Die in der Tat französischen Etymologien der kreolischen TMA-Marker werden in Fattier (2008) und Chaudenson (2003) nachgezeichnet. 12 Vgl. M.-C. Hazaël-Massieux (2008) für die proclamations aus den französischen Kolonien in der Karibik. 13 Vgl. Tichette (2007, 48), Patient (2008, 36) oder Brunelot (2011, 290) für entsprechende Zeitzeugenberichte. 14 Der Sammelband beinhaltet einen von Alfred verfassten „Avant-propos“, die „Introduction à l’histoire de Cayenne“ sowie einen „Épilogue“ und mehrere kreolische contes, die vermutlich ebenfalls von Alfred verschriftet wurden. Es folgen zwei dolos von Édouard, ein Wiegenlied und eine romance von Eugène (s. unten). Die „Notice grammaticale“ stammt von Auguste, gefolgt von Alfreds „Notes et commentaires“. Die Beiträge Édouard de St-Quentins gehören dabei zu den ältesten Elementen der Sammlung; ihre Entstehungszeit liegt (früher als von Carden 1989, 174, angenommen) bereits vor 1838: Clamorgam (1842, 293) berichtet in einem Brief von seinem Aufenthalt in Französisch-Guayana im September 1838, bei dem er Édouard kennenlernt, der ihm von seinem Studium des Créole guyanais erzählt: „il l’avait étudié dès l’enfance, et […] il songeait, Malherbe guyanais, à l’astreindre à des règles“. Nach Clamorgam hat Édouard zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere „fables créoles“ verfasst. Ein herzlicher Dank ergeht an dieser Stelle an den Direktor der Archives municipales in Cayenne, M. Philippe Guyot, der uns auf dieses Dokument aufmerksam gemacht hat. <?page no="377"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 363 in Französisch-Guayana verbliebenen „grandes familles de Blancs-Créoles à avoir fait souche en Guyane et dont les membres peuvent, de ce fait, prétendre au titre d’‚intellectuels guyanais‘“ (Fauquenoy 1989a, 20). Die Hauptsprache der St-Quentins ist daher sicherlich Französisch; Alfred, der 27 Jahre in der Kolonie lebt, hat dort allerdings genauso wie sein Bruder Édouard und sein Neffe Auguste seine Kindheit verbracht (vgl. Clamorgam 1842, 293; A. de St-Quentin 1872a, V; Aug. de St-Quentin 1872, 105), was auf deren fließenden Gebrauch des Kreols (bzw. zumindest einer kreolischen Varietät der Weißen) schließen lässt (vgl. dazu auch Fauquenoy 1989a, 20, 36 sowie Baker/ Winer 1999, 104). Insbesondere Alfred und Auguste de St-Quentin erstaunen nicht nur mit einer sehr philologisch-modernen Einstellung zum Créole guyanais, dem sie ohne Weiteres den Status eines „idiome nouveau […] possédant une organisation et une individualité propres, au moins élémentaires“ (Aug. de St-Quentin 1872, 104f; Hervorhebung im Original) und im Einzelnen auch vom Französischen unabhängige „règles de sa syntaxe“ (A. de St-Quentin 1872c, LIX) zugestehen. Alfred kündigt außerdem einen ersten konkreten Graphievorschlag für das Créole guyanais, ausgearbeitet durch seinen Neffen Auguste, an: Auguste de St-Quentin [...] adopte un système d’orthographe […] complet et […] rationnel […]. En l’absence de tout document écrit antérieur, c’était logique et c’était son droit. On devrait donc puiser là les règles pour écrire correctement le créole, si ce langage pouvait avoir de l’avenir. […] les amateurs de linguistique, à qui s’adressent [sic] plus particulièrement l’Étude sur la Grammaire, sauront gré à son auteur de son radicalisme hardi. (A. de St- Quentin 1872d, 99; Hervorhebung im Original; vgl. auch id. 1872c, LX) Auch wenn es hier noch nicht um eine ‚Standardisierung‘ des Créole guyanais im modernen Sinne gehen kann, ist es doch überraschend, dass Auguste sich konsequent von der in älteren und zeitgenössischen Dokumenten gegebenen starken Orientierung an der französischen Schreibtradition abwendet: 15 „Quant à l’orthographe étymologique, je l’ai supprimée compléte- 15 Dass es den St-Quentins nicht um konkrete Sprachplanung geht, zeigt auch die Position Édouards, der das Créole guyanais eindeutig in den Nähebereich verweist: „Employé par des êtres de mœurs simples et tout à fait ignorants, cet idiome, si l’on peut donner ce nom au créole, ne peut exprimer aucune idée se rapportant à une science, à un art quelconque, à rien de ce qui touche à la littérature, à l’histoire, à la géographie. Aucun rhythme, aucune règle ne lui ont été fixés; aussi ce n’est pas sans quelque peine que nous avons pu réussir à donner une sorte de forme poétique aux deux ou trois fables que nous présentons. Ce que nous lisons ici n’est pas pour nous faire un mérite de la difficulté vaincue, mais pour bien faire comprendre que le langage dont nous parlons ne doit être employé que dans la conversation familière, où son allure pleine de li- <?page no="378"?> Evelyn Wiesinger 364 ment. Elle donne trop à ce pauvre créole l’apparence d’un français corrompu et mal parlé“ (Aug. de St-Quentin 1872, 108; Hervorhebung im Original). Auguste optiert stattdessen für eine streng phonetische Schreibung und schlägt im Einzelnen u.a. folgende Phonem-Graphem-Entsprechungen vor: API Graphem Beispiel API Graphem Beispiel e é péy ‚pays‘ j y vyand ‚viande‘ ε è nèg ‚nègre‘ w w trwa ‚trois‘ ɔ ò im Auslaut sò ‚sœur‘ k k krab ‚crabe‘ u u chuval ‚cheval‘ vgl. Fußn. 17 qy qyembé ‚tenir‘ ɛ̃ en (em) rézen ‚raisin‘ ʒ j manjé ‚manger‘ ɑ̃ an ban ‚banc‘ s s poson ‚poisson‘ ɑ̃n ann banann ‚banane‘ z z kaz ‚case‘ Tab. 1 Im Bereich des Vokalismus nimmt Auguste de St-Quentin die Markierung des Öffnungsgrads der Vokale e und o (nur im Auslaut) durch accent aigu bzw. accent grave vor (z.B. péy vs. nèg); statt der französischen Schreibung <ou> für den Vokal [u] verwendet er im Kreolischen durchgängig <u>. Im Fall von Nasalvokalen markiert das <n> (bzw. <m> vor b und p) die Nasalierung, so etwa in ban und banann. 16 Besonders fällt außerdem auf, dass St- Quentin abweichend von den verschiedenen französischen Schreibweisen <in, ain, ein> etc. den Nasalvokal [ɛ̃] als <en> (bzw. <em>) verschriftet wie z.B. in rézen, eine Regelung, die sich heute auch in der GEREC-Graphie findet (vgl. 2.1.). Ebenfalls der heute üblichen Orthographie entsprechen die Grapheme <y> und <w> für die Halbvokale [j] und [w] sowie <k> und <j> für den Plosiv [k] bzw. den Frikativ [ʒ]; des Weiteren unterscheidet St- Quentin in der Graphie stimmloses und stimmhaftes s (<s> bzw. <z>). Im Französischen nicht existierende Palatalkonsonanten, die St-Quentin als „G et K mouillés“ (Aug. de St-Quentin 1872, 113) bezeichnet, verschriftet er zum einen <gy> wie in gyol ‚gueule‘ oder engyen ‚indien‘: „Le son qui en approche le plus est celui d’un G dur, suivi d’un Y consonne; le tout fondu en une seule émission de voix“ (id., 110f); für die „consonnance […] forte du GY berté le fait rivaliser, souvent avec avantage, avec le français“ (Édouard de St-Quentin in Clamorgam 1842, 293). 16 Im modernen Créole guyanais lautet die Aussprache [bɑ̃nɑ̃n]; da bei Auguste de St- Quentin die Schreibung <an> für den Nasal [ɑ̃] und die Schreibung <ann> für die Lautung [ɑ̃n] steht, müsste er konsequenterweise bannann schreiben. Möglicherweise steht St-Quentins Verschriftung aber auch für die Aussprache [bɑnɑ̃n]. <?page no="379"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 365 adopté plus haut“ (id., 113) verwendet er zum anderen die Schreibung <qy> wie in qyembé ‚tenir‘. 17 Mit seiner erstaunlich phonetischen Graphie zielt Auguste de St-Quentin vor allem darauf ab, den Status des Kreolischen als eigenständige Sprache zu betonen und es auch graphisch vom Französischen abzugrenzen. Sein Ansatz unterscheidet sich dabei stark von zeitgenössischen Graphien in Studien anderer Frankokreolsprachen, wie etwa bei Thomas zum Kreolischen von Trinidad (1869) oder bei Turiault zum Martinique-Kreol (1874), die eine weitaus etymologischere Schreibung vorziehen. Einen exemplarischen Eindruck von den enormen Unterschieden zwischen der in St-Quentin (1872) verwendeten und zeitgenössischen Schreibungen liefert die Gegenüberstellung der romance en créole, die vom französischen Besucher der Kolonie De La Landelle (1842) für ein europäisches Publikum und dreißig Jahre später im Werk der St-Quentins in ähnlicher Form veröffentlicht wird: 17 Nach der Beschreibung St-Quentins dürften die dargestellten Laute in jedem Falle eine palatale Komponente enthalten. Auch Contout (1974, 7, 13, 66f) macht noch einen Unterschied zwischen „le k et le g mouillés“ (bei ihm dargestellt als kiô ‚cœur‘, laguiè ‚guerre‘) und der palatalen Affrikate [tʃ] bzw. [dj], die er als tchô ‚cœur‘, ladjè ‚guerre‘ verschriftet. Contout hält dabei (in Übereinstimmung mit den Angaben bei St-Quentin) die erste Aussprache für die ältere, die in den 1970er Jahren bereits sehr stark durch die Affrikate verdrängt worden sei. 18 Die Verwendung des direkten Objektpronomens moa fällt hier auf; diese Form taucht - wenn man den dort verwendeten Schreibungen trauen kann - außer in den frühen Jesuitentexten, der proclamation Burnel (1799) und einem einzelnen kreolischen proverbe (Magasin pittoresque 1840, 27) in keinem der uns bekannten, im Créole guyanais verfassten alten Texte auf; dort wird wie im modernen Créole guyanais ausschließlich die Form mo verwendet. Aug. de St-Quentin (1872, 121) verweist lediglich auf twè, „[f]orme injurieuse et méprisante“. 19 Eine französische Übersetzung findet sich in De La Landelle (1842, 598) sowie bei E. de St-Quentin (1872, 94-96). Mo k’a parti, navir la k’a allé, Zamie aguié! zamie aguié! Laissez mo bô ou visag’, ou chivé, Zamie aguié! aie! aguié! Quand m’a là bas, oua chongé mo misèr, Pas blié moa, 18 pas blié ou compêr Loin di ou trop comment m’a fai rêté […] De La Landelle (1842, 598). Mo ka pati, navi-la ka-alé, Zami, aguié! (bis) Lésé mo bo ou lamen, ou chivé! Zami, aguié! (bis) Kan m’a laba wa chonjé mo mizè! Pa blié mo, pa blié ou konpè! Si lwen di ou kouman m’a fè rété? […] E. de St-Quentin (1872, 95). 19 <?page no="380"?> Evelyn Wiesinger 366 Auguste de St-Quentins phonetische Orthographie findet im ausgehenden 19. Jahrhundert in Französisch-Guayana letztendlich jedoch keine Nachahmer und selbst sein Onkel Alfred bevorzugt für die Verschriftung der contes, fables & chansons eine etwas etymologischere Graphie. 20 Damit möchte er vor allem seinem Lesepublikum, das nur die ausschließlich im Französischen alphabetisierte kreolische Oberschicht Cayennes bzw. ein philologischfolkloristisch interessiertes Publikum in Frankreich sein kann, die ungewohnte Lektüre des Kreolischen erleichtern (vgl. A. de St-Quentin 1872d, 99 sowie Confiant 1989, 203). 1.4. Atipa (1885) und Zeitgenossen Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist schließlich eine Zunahme der gedruckten kreolischen Texte zu verzeichnen. Dabei handelt es sich einerseits um folkloristische Publikationen von contes oder proverbes, die sich an ein kreolunkundiges Publikum wenden, aber auch um lokale Schrifterzeugnisse verschiedener Art, die sich an die (zweisprachigen) Leser in Französisch-Guayana selbst richten. 21 Am herausragendsten unter den lokalen kreolischen Werken ist sicherlich Atipa, das 1885 unter dem Pseudonym Alfred Parépou in Paris vollständig in kreolischer Sprache erscheint. 22 Der Autor wendet sich in der Préface explizit an die Kreolen Französisch-Guayanas: „Mo chè compatriote yé la, A pou zòte, oune so, mo fait Atipa. A pas francé non, a criole“ (Atipa 1980/ [1885], 5) [Mes chers compatriotes, Pour vous uniquement, j’ai écrit 20 Alfred übernimmt prinzipiell die Vorschläge seines Neffen (z.B. die Akzentsetzung auf den Vokalen e und o, die Grapheme <k> für [k], <j> für [ʒ], <z> für [z] und z.T. <w> für [w], <en> für [ɛ̃]), schreibt aber nach französischem Modell beispielsweise <ou> für [u], viand statt vyand, guen ‚avoir‘ statt gen, loin statt lwen etc. 21 ‚Exotische‘ folkloristische Texte sind damals in Frankreich sehr ‚à la mode‘ (vgl. Fauquenoy 1989c, 7). Sie finden sich für das Créole guyanais beispielsweise im Magasin pittoresque (1840), in Les Français peints par eux-mêmes (1842), im Almanach des traditions populaires (1883) und der Revue des traditions populaires (1893, 1897). Vgl. Baker/ Winer (1999, 103ff) zur Frage der Authentizität und Interpretation derartiger Texte. 22 A. Horth (1948, 7) und Contout (1974, 22) erwähnen daneben eine (bis heute unauffindbare) in Cayenne erschienene Ausgabe, in der als Autor ein gewisser Météran/ Méteyrand/ Mettérand genannt werde. Die Autorenschaft Atipas wird dementsprechend seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert (vgl. u.a. Fauquenoy 1989a; Bocage o.J.). Erst in jüngster Zeit scheint sich die Autorenschaft eines gewissen (farbigen) Météran zu bestätigen: Nach Chateau Conde Salazar (2010, Klappentext) ist Alfred Parépou das „pseudonyme [...] de Pierre Louis Athénodore Météran né en 1841. On le retrouve dans la composition du conseil général de la Guyane à la date du 30 janvier 1887 [...] noté comme homme de couleur, nuance politique Républicain Radical“ (vgl. Chateau Conde Salazar 2011 für eine umfassende Beweisführung). <?page no="381"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 367 Atipa. [Je l’ai rédigé] non pas en français [mais] en créole; ÜS von Fauquenoy in Atipa (1987/ [1885], 3)]. 23 Er bezeichnet sein Werk zwar als ‚roman guyanais‘, dieses besteht jedoch zu 80% aus Dialogen, in denen der Hauptprotagonist Atipa mit Angehörigen verschiedener Schichten der Kreolgesellschaft über gesellschaftspolitische Themen, Gerüchte und Anekdoten der Zeit diskutiert, versetzt mit Genres ‚oraler‘ Literatur wie kreolischen Sprichwörtern etc. (vgl. Confiant 1989, 202). 24 Seinem an die Lektüre im Französischen gewohnten kreolischen Publikum entsprechend wählt der Autor Atipas eine eher etymologische bzw. etymologisierende Verschriftung für das Créole guyanais. 25 Auch wenn er seinen Protagonisten Atipa im Verlauf des ‚romans‘ den prätentiösen und unkorrekten Gebrauch des Französischen durch seine Landsleute kritisieren und stattdessen für das Kreolische plädieren lässt, ist es folglich (anders als bei Auguste de St-Quentin) nicht sein Ziel, das Créole guyanais durch eine phonetische Schreibung auch graphisch maximal vom Französischen abzugrenzen. 26 Im Gegensatz zu Auguste de St-Quentin verwendet der Autor Atipas im Einzelnen zum Beispiel die französischen Schreibungen <in, ain, ein> etc. 23 Confiant (1989, 199-201) schätzt die Authentizität der Kreolvarietät Atipas als hoch ein; als Beleg nennt er u.a. das Fehlen der Vokale [y] und [œ], die Existenz der Palatalkonsonanten [tch] und [dj] sowie ‚basilektaler‘ syntaktischer Konstruktionen wie passé (statt plis ki) und lexikalischer „formes […] plébéiennes et ‚nègres‘“ wie cougine ‚cuisine‘, doujenein ‚déjeuner‘ etc. Angesichts mangelnder Kenntnisse über das ‚Diasystem‘ des Créole guyanais im 19. Jahrhundert ist dieser Vergleich zwischen Atipa und den Verhältnissen in modernen Frankokreolsprachen allerdings nicht unproblematisch. 24 Vgl. M.-C. Hazaël-Massieux (1989) und Jardel (1989) zur littérature orale in Atipa; Fauquenoy (1989a, 21-35) diskutiert die Gesellschaftskritik in Atipa. 25 Die uns heute vorliegende Faksimile-Reproduktion (1980/ [1885]) der Pariser Ausgabe enthält möglicherweise nicht immer die Originalgraphien des Autors, der sich folgendermaßen beschwert: „Limprimerie France yé la, pas savé écrit criole. Yé voyé live la, dé foai, Cayenne, baille-mo; mo rangé li; enwa, yé trompé toujou, oune tas côté“ (Atipa 1980/ [1885], 228) [Les imprimeurs de France ne savent pas écrire le créole. Ils m’ont réexpédié le livre à deux reprises à Cayenne. Je l’ai révisé. Rien à faire, ils ont continué à faire partout des erreurs; ÜS von Fauquenoy in Atipa (1987/ [1885], 3)]. 26 Vgl. Atipa (1980/ [1885], 11-16): „Ou ça criole, palé donc ou langue, passé ou massacré francé. […] Non, nous pas beinsoin pointi nous bouche, kou tambou crapaud, pou palé conça. Nous langue bon, kou li fica. […] Nous criole pi chouite, passé so langue. […] Lò nous ca causé conça; lò nous gain moune, pou dolo; est-ce li gain langue, qui millò, pou ça, passé criole? “ [On est Créole, qu’on parle donc sa langue plutôt que de massacrer le français! […] Non, nous n’avons pas besoin de parler la bouche pointue, comme un tambour crapaud. Notre langue est bien comme elle est. […] Notre créole est plus beau que leur langue. […] Lorsque nous parlons avec des dolos [et] que nous avons à qui les dire, est-ce qu’il y a une plus belle langue que le créole? “; ÜS von Fauquenoy in Atipa (1987/ [1885], 9-13)]. <?page no="382"?> Evelyn Wiesinger 368 für [ɛ̃] und behält die Graphie <ou> für [u] bei. Für den Plosiv [k] koexistieren in Atipa die Schreibungen <k>, <c> und <qu>: Während <c> und <qu> gemäß ihren französischen Entsprechungen verwendet werden, steht <k> sehr selten, überwiegend in Lexemen und Morphemen nichtfranzösischen (bzw. nicht auf den ersten Blick erkennbaren französischen) Ursprungs wie z.B. ké (TMA-Marker), kin, kiouboume (Onomatopoetika), kinguéyanga ‚mystère, charabia‘, kiwawa ‚cuite, accès d’ivresse‘ etc. Das ‚unfranzösische‘ Graphem <w> zur Darstellung des Halbvokals [w] wird tendenziell auf dieselbe Art gebraucht, so z.B. in wara, wacapou (Namen lokaler Bäume), wa (TMA- Marker), wlé (von frz. vouloir), wai (von frz. voir) (aber oueil ‚œil‘ und couillè ‚cuillère‘). Bei der Verschriftung von [s] und [z] ist in Atipa keine Einheitlichkeit festzustellen; sie folgt i.d.R. dem etymologischen Vorbild, so z.B. ça, moceau, savé, quichose, aussi. Die Stimmhaftigkeit wird zwar durchgängig im Wortanlaut markiert (vgl. zòte, zanmi, zòrè, zorange), im Inlaut aber nicht zwangsläufig, so etwa lamazòne, léza, mamzelle, aber auch zoseau. 27 Kreolische Aussprachebesonderheiten im Vergleich zum Französischen werden dennoch in gewissem Maße berücksichtigt, so etwa im Vokalbereich durch das Fehlen der gerundeten Vokale und die Akzentsetzung (vgl. vié ‚vieux‘, néyé ‚noyer‘, rougadé ‚regarder‘). Ein zusätzliches <n> wird zur Anzeige von Nasalisierungen verwendet (wie in pronmeinnein ‚promener‘, meinme ‚même‘, pronmié ‚premier‘ oder einconnonmie ‚économie‘) und die im Französischen nicht existenten Palatalkonsonanten werden ebenfalls graphisch markiert, so z.B. in quakié ‚quartier‘, kinbé ‚tenir‘, kiò ‚cœur‘ oder in guiabe ‚diable‘, laguiè ‚guerre‘, inguin ‚indien‘ (vgl. dazu auch Fauquenoy 1989a, 38 und Confiant 1989, 199f). Sehr ähnliche Verschriftungsweisen zeichnen sich Ende des 19. Jahrhunderts in Französisch-Guayana auch in anderen kreolischen Publikationen ab, so dass zu dieser Zeit durchaus von sich etablierenden Schreib- (und Lese-) Gewohnheiten bzw. scriptae gesprochen werden kann. Das Créole guyanais taucht ab den 1880er Jahren etwa in einzelnen Einsprengseln in den ersten, französischsprachigen Printzeitungen der Kolonie auf, insbesondere in Form humoristischer Dialoge. Diese greifen (ganz ähnlich wie Atipa) mit zahlreichen Anspielungen aktuelle gesellschaftspolitische Themen auf, so im rechten Beispiel unten den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Kolonie einsetzenden Goldrausch. Sie haben dabei auch eine subversive Funktion, wenn etwa, wie in den folgenden Auszügen, (evtl. nicht- 27 <z> im Auslaut erscheint selten und folgt dann dem französischen Vorbild, so etwa in quatòze oder quinze vs. quichose, bêtise. In Atipa werden außerdem viele lettres muettes weiterhin graphisch dargestellt, so auch <z> in douriz oder assez. <?page no="383"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 369 kreolophone) Autoritäten kritisiert werden. 28 Die präsentierten Ausschnitte aus den Zeitungen Le Réveil de la Guyane und Le Cri d’alarme machen die Nähe der darin verwendeten Graphie zu derjenigen Atipas deutlich: Variétés Conversations entre créoles. - Mo chè sô, bonjou, coument ou fica? - Mô bien moço, et ou mêmme? - Mô là conça, merci. - Ou ouè palô consa! ! es-ce ou connaite zafai qui rivé là? - Non! palé mô moço dont, qui sa qui rivé? - Ou pas savé chate ka enragé atò là ! oun chate enragé manqué dévoré chef di l’Imprimerie ahiè bon mantin! ou jin ouè zafai conça? dipi Cayenne sa Cayenne, es-ce nous jin ouè chiens ké chates ka enragés? Ça dipi ça Gouvernò là Cayenne! toute ki choses ka rivé nous, ça pa étonnant, pis li mêmme enragé! […] [- Ma chère Commère, bonjour, comment-allez vous? - Ça va un peu, et vous-même? - Ça va comme-ci comme-ça, merci. - Avez-vous vu pareille histoire! Est-ce que vous connaissez la dernière affaire qui est arivée? - Non! Racontez-moi donc un peu ce qui est arrivé? - Vous ne savez pas que maintenant les chats ont enragés! Un chat enragé a failli dévorer le LI KA BAILLE ÇA KA TRAVAILLE YÉ DROÈT, - Beau-frè, to pas oulé vine Pouague? Zaffè Pouague-la bon ouhome! Camarade-ya palé nous, yé trouvé oune grand crique qui guin travail pou cinq ans ké combien slouce! A nous donc? - An-oua beau-frè, mo pas blié ça chinin mo chinin à l’Awa pou bonquiô. Pendant huite mois, mo travaille couranment, nous té guin oune bon chantier, mo té ka descende pou mo part ké 3 kilos l’ô, kiô content! Mo té ka songé mo maman, mo pitite ké toute mo famille. Après ça misè yé té ouè pendant mo té loin la dans bois, pendant mo minme té ka prend mo compte misè, jigez si nous toute té ka compté a sous pti l’ô là! - Ebin! - Kan mo rivé à Poligoudou ess’yé pas sézi mo donc? Toute protesté mo protesté tout ça mo dit, an-oua, yé sézi mo 3 kilos! ! Aie! mo dit to, quand mo ka songé ça palô-la mo kio ka boulé! A ça la jistice là mo pas pouvé comprend’ là. […] [Elle [la justice] donne leurs droits à ceux qui travaillent. - Beau-frère, ne veux-tu pas venir à l’Approuague? L’affaire de l’Approuague est bonne Compère! Les camarades nous ont dit qu’ils ont trouvé une grande crique où il y a du travail pour cinq ans avec quelques sluices [technique d’orpaillage]! Allons-y donc? - Hélas beau-frère, je n’ai pas oublié tous mes 28 In den Printmedien werden zu dieser Zeit regelrechte politische Grabenkämpfe ausgetragen (vgl. Brunelot 2011, 143); die kreolischen Zeitungsdialoge wenden sich also ähnlich wie Atipa an ein durchaus gebildetes und zweisprachiges lokales kreolisches Publikum und stellen so relativ authentische „publications by insiders for insiders“ (Baker/ Winer 1999, 104) dar bzw. „des publications délibérément composées en créole, soit à des fins esthétiques, soit à des fins politiques, par des locuteurs réels, que nous pouvons considérer comme autorisés“ (G. Hazaël-Massieux 1994, 794). <?page no="384"?> Evelyn Wiesinger 370 chef de l’Imprimerie hier matin! On n’a jamais vu pareille affaire? Depuis que Cayenne existe, est-ce que nous avons déjà vu des chiens et des chats qui deviennent enragés? C’est depuis que ce Gouverneur est à Cayenne! Ce n’est pas étonnant, tout ce qui nous arrive, puisque lui-même est enragé! ÜS d. Verf.] Le Réveil de la Guyane. Journal politique hebdomadaire, 3 e année, n°109, 6 mars 1884, 3. efforts à l’Awa pour rien. Pendant huit mois, j’ai travaillé tout le temps, nous avions un bon chantier, je descendais, pour ma part avec 3 kilos d’or, le cœur content! Je pensais à ma mère, à mes enfants et à toute ma famille. Après toute cette misère qu’ils avaient vu pendant que j’étais loin dans les bois, pendant que moi-même, je supportais tant de misère, jugez si nous tous comptions sur ce petit peu d’or! - Eh bien! - Quand je suis arrivé à Poligoudou, est-ce qu’ils ne m’ont pas tout saisi ? Malgré toutes mes protestations, tout ce que j’ai pu dire, hélas, ils m’ont saisi mes 3 kilos! ! Aie! Je te dis, quand je songe à cette parole mon cœur se serre! C’est cette justice-là que je ne peux pas comprendre; ÜS d. Verf.] Le Cri d’alarme, 30 mars 1893, 35. 29 Auch in diesen Texten kann durchaus ein Bemühen festgestellt werden, den Öffnungsgrad der Vokale o und e zu markieren, dies geschieht jedoch nicht einheitlich. Während offenes e i.d.R. mit accent grave (z.B. chè, ouè, zaffè 30 ) und geschlossenes e mit accent aigu (z.B. rivé, blié, yé) gekennzeichnet wird, koexistieren für das offene o überwiegend Schreibungen mit accent grave (atò) und mit accent circonflexe (sô, palô, l’ô). 31 Analog zu Atipa wird für den Vokal [u] durchgängig die französische Graphie <ou> verwendet. Zudem findet der Nasalvokal [ɛ̃] auch in den vorliegenden Texten keine einheitliche graphische Darstellung, wobei sich etymologische Schreibungen (bien, combien, mantin, cinq) und eine generelle Verschriftung als <in> gegenüberstehen (jin, guin, chinin). Wie in Atipa wird in den kreolischen Zeitungsdialogen die Vokalnasalierung generell unter Zuhilfenahme eines <n> oder <m> dargestellt, auch um eine vom Französischen abweichende kreolische Aussprache zu kennzeichnen wie in mantin, couranment, mêmme/ minme, chinin, consa. Das 29 Wir bedanken uns an dieser Stelle herzlich bei Mme Virginie Brunelot, die uns auf die kreolischen Dialoge in Le Cri d’alarme aufmerksam gemacht hat sowie bei Mme Francine Chateau Conde Salazar für ihre äußerst hilfreichen Anmerkungen zu den französischen Übersetzungen der Verfasserin. 30 Alternativ koexistiert hier die etymologischere Schreibung zafai. 31 In Atipa wird der accent circonflexe dagegen bis auf wenige Ausnahmen v.a. ‚etymologisch‘ eingesetzt, so z.B. in côté, lhôpital, bintôt. <?page no="385"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 371 bereits in Atipa eher seltene Graphem <w> taucht in den Zeitungstexten mit einer Ausnahme (Awa) überhaupt nicht auf; stattdessen wird für den Halbvokal [w] die Schreibung <ou> verwendet (z.B. ouè, oulé, an-oua). 32 Im Bereich des Konsonantismus verschriften die vorliegenden Dialoge den Plosiv [k] i.d.R. nach etymologischen Kriterien (cinq, crique, compté, conça, manqué, kilo); wie in Atipa kommt v.a. für Lexeme bzw. Morpheme, die offenbar von den Schreibern nicht auf eine französische Etymologie zurückgeführt werden können, die Graphie <k> zum Einsatz (so beim TMA-Marker ka, bei ké ‚avec‘ sowie ki choses ‚ce que‘). Hinsichtlich der Schreibung der Sibilanten [s] und [z] ist ebenfalls noch keine klare graphische Festlegung auszumachen; ein relativ starker etymologischer Einfluss ist nach wie vor festzustellen, so finden sich etwa die Formen conça (aber auch consa), ça (aber auch sa), cinq, jistice, descende, moço. 33 Während die Stimmhaftigkeit im Anlaut i.d.R. markiert wird (zafai/ zaffè), ist dies in intervokalischer Position nicht immer der Fall (sézi vs. misè). Zur Darstellung der kreolischen Palatalkonsonanten sind in den Zeitungsdialogen die Graphien <ki> und <qui> zu beobachten (vgl. kiô/ kio, bonquiô), wobei sich letztere nicht in Atipa findet; 34 der stimmhafte Palatal [ʒ] wird schließlich wieder gemäß der französischen Etymologie verschriftet (enragé, bonjou, jistice). 1.5. Kreolische Verschriftung und Schriftdomänen im 20. Jahrhundert Auch wenn sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts schließlich durchaus bei einigen intellektuellen Einzelpersonen eine gewisse Veränderung der ansonsten ja eher despektierlichen Einstellung der Kreolgesellschaft zum Créole guyanais abzeichnet (vgl. MLF 2002, 156; 2006, 76), ändert dies nichts an den nach wie vor überwiegend etymologischen bzw. etymologisierenden Schreibgewohnheiten, so etwa im Falle des von Auguste Horth verfassten Le Patois Guyanais. Essai de systématisation, das 1948 in Französisch-Guayana erscheint: 35 Die Position des Lehrers Horth kann durchaus in die Tradition 32 An anderer Stelle findet sich gelegentlich auch die Schreibung <oè> wie in droèt ‚droit‘ (Le Cri d’alarme, 02.02.1893, 4). 33 Bei der Form moço wird eine Graphieregel des Französischen (ç vor a/ o/ u für [s]) auf das Kreolische übertragen. 34 Analog zu Atipa erfolgt die Verschriftung des stimmhaften Palatals als <gui>, wofür sich in anderen Zeitungsdialogen mehrere Beispiele finden, so z.B. guiole ‚gueule‘ (Le Cri d’alarme, 02.02.1893, 4), guiabe ‚diable‘, Bon guié ‚Dieu‘ (Le Cri d’alarme, 09.02.1893, 6). Vgl. dazu Fußnote 17. 35 Dieses Werk enthält Kapitel zu Wortetymologien und onomatopoetischen kreolischen Ausdrücken, zur Orthographie, Morphologie und Syntax; außerdem eine Sammlung an Stilmitteln, Phraseologismen und Sprichwörtern, thematisch geordnete Wortlisten sowie den Abdruck einer Version der proclamation von 1848. <?page no="386"?> Evelyn Wiesinger 372 der Négritude-Bewegung der 1930er Jahre eingeordnet werden, deren Ziel u.a. die Dekonstruktion des Assimilationsdiskurses der Kreolen ist (vgl. Ndagano 1994, 18). 36 Dementsprechend setzt sich Horth für eine grundsätzlich größere Wertschätzung des Créole guyanais ein und vertritt (als Lehrbeamter! ) sogar seinen Einsatz als ‚Hilfssprache‘, um den schulischen Französischerwerb zu erleichtern (vgl. A. Horth 1948, 7f). 37 Auch wenn er sich von seinen Vorgängern abgrenzen möchte, so optiert Horth dann doch wie der Autor Atipas und die Schreiber der Zeitungstexte für eine im Weitesten am Französischen orientierte Graphie, die gleichzeitig gewisse Aussprachebesonderheiten des Créole guyanais berücksichtigt: [...] le patois s’orthographiait trop librement, à l’avenant même. Tous nos devanciers ont semblé s’ingénier à en compliquer les difficultés jusqu’à la fantaisie, au point qu’il était fort malaisé de le lire. [...] Il nous a donc paru, pour cela plus rationnel d’adopter la morphologie française [...] quitte à créer [...] les sons et les articulations capables d’une plus exacte traduction des vocables propres à la race. (A. Horth 1948, 8) Dementsprechend verwendet Horth beispielsweise die Graphie <ou> für [u] (z.B. soutrille ‚citrouille‘, mouché ‚monsieur‘) oder gemäß der französischen Etymologie u.a. <eau(x)> für [o] (z.B. dileau ‚eau‘, crobeaux ‚corbeaux‘). Die Schreibung stummer französischer Grapheme ist bei ihm generell sehr häufig, so etwa auch in der (im Kreol ja inexistenten) Verbalmorphologie (z.B. li wa crait ‚il ou elle croira‘); Horth ergänzt zudem u.a. ein rein graphisches Plural-s (vgl. chouvals ‚chevaux‘, zorès ‚oreilles‘, grands-mounes-ya ‚les grandes personnes‘), wodurch seine Verschriftung noch ‚französischer‘ wirkt als diejenige der Zeitungstexte. Er verwendet des Weiteren <qu> bzw. <c> für [k] und <ç> bzw. <s>/ <ss> für [s] oder [z] (vgl. qué, conça, case, passabe, lég- 36 Der 1912 in Cayenne geborene Literat und Politiker Damas, der die Négritude- Bewegung mitbegründet, verficht u.a. die (intellektuelle) Beschäftigung mit dem Kreolischen als Teil der kulturellen Selbstfindung: „Ce dialecte qui s’éloigne du facile ‚petitnègre‘, mériterait de la part des intellectuels de couleur mieux qu’un haussement d’épaules. Je pense également qu’il ‚a droit à l’étude‘“ (Damas 2003/ [1938], 71). 37 Vgl. A. Horth (1948, 7f): „Il n’est pas de reniement plus stupide ni de plus monstrueuse ingratitude que le fait de feindre d’ignorer ou de laisser tomber en déshérence le langage qui nous a bercés et endormis sur le sein maternel; c’est aussi une manière de renoncement à la tâche commune de faire valoir ‚l’héritage reçu indivis‘. Pendant longtemps, il fut de bon ton, de mode même d’oublier le guyanais, et, de le désapprendre à ses enfants, dans le but de mieux leur faire parler le français. […] Il est en effet expérimentalement admis que pour parler correctement une autre langue il est indispensable de commencer par bien connaitre celle dans laquelle on est élevé. Apprendre donc, à l’enfant, à bien penser et à raisonner logiquement dans sa langue maternelle, y former solidement son cœur et son esprit, telle doit être notre première préoccupation“. <?page no="387"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 373 lise, sési ‚saisir‘, aber auch srèque ‚cercle‘ und auquine ‚aucune‘); die Graphie <z> für [z] ist eher selten, v.a. im Inlaut (vgl. zongue ‚ongle‘, aber auch zozo ‚oiseau‘, dizé ‚œuf‘). Ähnlich heterogen werden die Nasalvokale verschriftet, die Horth, z.T. anders als seine Vorgänger, u.a. mit den Graphien <in>/ <en> für [ɛ̃] (vgl. chien, indjin ‚indien‘, tchin ‚tenir‘ aber auch einhein ‚certes‘, plein, dipain ‚pain‘, promîn-nin cô ‚se promener‘, mînme ‚même‘), <ân> für [ɑ̃] (vgl. nânne ‚âne‘, nânme ‚âme‘) und <ôn/ m> für [õ] (vgl. péssônne ‚personne‘, frômmi ‚fourmi‘) wiedergibt. Im Gegensatz zu der in Atipa und den Zeitungstexten gebräuchlichen Verschriftung <ki> und <gui> für die kreolischen Palatalkonsonanten vewendet Horth die Graphien <tch> und <dj>, so z.B. in tchouler ‚reculer‘, lamatchè ‚matière‘, djocoti ‚s’accroupir‘, djéter ‚guetter‘ und djabe ‚diable‘ (vgl. Fußnote 17). Der kreolische Halbvokal [w] wird schließlich wie in den bisher besprochenen Texten entweder als <ou> oder (sehr selten) als <w> verschriftet. So finden sich z.B. ouè ‚voir‘, ouome ‚homme‘, caouca ‚se taire‘, assouè ‚soir‘, die Onomatopoetika ouichi-ouichi, woyo-woyo sowie der TMA-Marker wa; bisweilen tauchen auch etymologisierende Graphien wie in vouè ‚voix‘ auf. Verwendet Horth, der sich ja durchaus für eine gewisse Anerkennung des Créole guyanais stark macht, eine weitgehend am Französischen orientierte Schreibung, so gilt dies auch für andere Schriftdokumente der Zeit: Die skizzierten Schreibgewohnheiten finden sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in gesellschaftskritischen Zeitungsdialogen (vgl. z.B. La Guyane vom 28.09./ 05.10.1930) und Sprichwörtern (La Guyane, 16.09.1929); gleiches gilt für den in den 1950er Jahren sehr gängigen Abdruck kreolischer contes, dolos, blagues etc., so z.B. in der sozialistischen Wochenzeitung Debout Guyane oder der von Michel Lohier geleiteten Monatszeitschrift Parallèle V. 38 Auch der Lehrer und Dramaturg Constantin Verderosa verwendet in seinen zwischen 1928 und 1950 verfassten kreolischen bzw. kreolisch-französischen Theaterstücken eine weitgehend etymologisch-etymologisierende Schreibung (vgl. Blérald-Ndagano 1994, 196, für eine kurze Analyse). Erst in den 1970er Jahren erschließen sich dem Créole guyanais neue (auch schriftliche) Anwendungsbereiche. So entdecken insbesondere die verschiedenen aufkommenden nationalistisch-linken Gruppierungen die Verwendung der kreolischen Sprache als politisches bzw. identitäres Statement. 39 Insofern sie sich kritisch (und z.T. mit radikalen Methoden) mit dem 38 Michel Lohier betätigt sich auch als „folkloriste du département“ (Contout 1974, 22); 1960 erscheint die Erstausgabe seiner Légendes et contes folkloriques guyanais: en patois avec traduction française par l’auteur. 39 Die einzelnen Gruppierungen und Publikationsorgane tragen nun z.T. auch kreolische Namen, so z.B. die 1975 gegründete Gruppe Fo nou libéré la Guyane oder das Blatt Ròtbò-krik der Formation Guyane Démocratique Populaire (GDP). <?page no="388"?> Evelyn Wiesinger 374 Assimilationsdiskurs und dem politischen Status Französisch-Guayanas, das 1946 in ein département d’outre-mer umgewandelt wurde, auseinandersetzen, tauchen in ihren Publikationsorganen dementsprechend kreolische Wahlsprüche und Kommentare auf, was in den 1970er Jahren durchaus noch eine Provokation darstellt. 40 Den Nationalisten bzw. indépendantistes geht es dabei vor allem darum, das Créole guyanais plakativ für ihre politischen Forderungen einzusetzen; Fragen nach der kreolischen Graphie (oder, noch weiter gehend, nach pro-kreolischen sprachplanerischen Maßnahmen) stellen sich dabei nicht. In den einschlägigen Textzeugnissen dominiert - trotz der frankreichkritischen Haltung der Verfasser - eine stark am Französischen orientierte Schreibung des Kreolischen: SI ZOTES TE LE ALLE REGINA - KAW - OYAPOCK - SAUL - MARIPA- SOULA CE DERNIERS JOURS YA I PAS TE GAIN AVION I GAIN SOU- MAQUE POU ACHETE AVION POU L’ARMEE I PAS GAIN POU TRANS- PORTE CIVIL - SI ZOTES LÉ TÉLÉPHONÉ LA NUITE A L’OYAPOCK OU A RÉGINA PAS COMPTÉ A GENDARMES OUNSO KI POUVÉ PALÉ TOUTE TEMPS KÉ YE POSTE (Debout Guyane, 13.01.1973) [Si vous vouliez aller à Régina - Kaw - Oyapock - Saül - Maripasoula ces derniers jours, il n’y avait pas d’avion [mais] il y a de l’argent pour acheter des avions pour l’armée [et] il n’y en a pas pour le transport civil - Si vous voulez téléphoner pendant la nuit à l’Oyapock ou à Régina, il ne faut pas y compter, ce ne sont que les gendarmes qui peuvent parler tout le temps avec leur poste; ÜS d. Verf.] LE 4 MARS FAMM KOU OUOME TI MOUNE KOU GRAND MOUNE A VERT POU NOUS POTÉ. VERT COULEUR DI NOUS BULLETIN VERT COULEUR DI NOUS PAYS. (Debout Guyane, 03.03.1973) [Le 4 mars, les femmes comme les hommes, les enfants comme les grandes personnes, nous devrons nous habiller en vert. Vert, couleur de notre bulletin (de vote), vert, couleur de notre pays; ÜS d. Verf.] So wird u.a. der agglutinierte französische Artikel mit Apostroph (l’armee) dargestellt und es erscheinen in der Graphie zahlreiche ‚französische‘ lettres muettes (z.B. zotes, derniers jours, pas, achete etc.). Eine vom Französischen abweichende kreolische Aussprache wird z.B. in ouome [wɔm] markiert. 40 Vgl. zur politischen Situation Französisch-Guayanas in den 1970er Jahren MLF (2006, 159f, 208-213) sowie MLF (2002, 187): „Les formations indépendantistes firent toutes le même diagnostic quant à l’état de la société guyanaise: l’assimilation s’était traduite par l’émergence d’une société malade, souffrant de complexe d’infériorité, d’aliénation culturelle et de dépendance économique génératrice d’une mentalité collective ‚d’assistés‘“. <?page no="389"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 375 Letztendlich können sich die nationalistes politisch mit ihrer Forderung nach einer größeren bzw. vollständigen Unabhängigkeit Französisch- Guayanas nicht durchsetzen. 41 Auch wenn das Konzept einer „nation guyanaise“ (MLF 2006, 158) von der breiten Masse der Kreolen nicht angenommen wird, setzt dennoch eine bis dahin kaum gegebene Sensibilisierung für den Wert der kreolischen Sprache und Kultur ein: 42 [L]es Guyanais valident le discours nationaliste par le nouveau regard qu’ils portent sur leurs pratiques culturelles. À partir des années 1970, dans les milieux socioprofessionnels comme au sein des formations politiques et syndicales, on admet en effet l’existence de cultures propres au pays, sur lesquelles on envisage de plus en plus de fonder l’éducation et les divers modes d’expression de la vie guyanaise. (MLF 2006, 212) Dementsprechend schreibt etwa der Lehrer Auxence Contout (1974 221) in seinem bis heute in Französisch-Guayana sehr bekannten Werk Le patois guyanais: 43 „Qu’elle le veuille ou non, la société guyanaise a une double identité: elle est de culture française mais elle a une histoire propre, une tradition spécifique, un folklore local qui sont d’expression purement créole“. Contout geht zudem ähnlich wie bereits Horth gegen die vollständige Verbannung des Créole guyanais aus dem Schulunterricht vor: Il faut donc, à l’école, maintenir des liens permanents entre le français et le parler créole, des liens de complémentarité qui permettront de mieux appréhender les mécanismes de la grammaire française en se servant de la syntaxe créole et des verbes guyanais comme [...] points de comparaison. (Contout 1974, 222; vgl. auch id., 223). 41 MLF (2006, 158, 171, 211) identifiziert als Hauptgrund für ihr Scheitern den fortdauernden Einfluss des assimilationistischen Gedankenguts und das Zugehörigkeitsgefühl zur französischen Nation. 42 Es ist aber auch anzunehmen, dass die erstmalige Verwendung des Créole guyanais als Mittel der politischen Manifestation nicht unbedingt unmittelbar zu seiner allgemeinen Statusaufwertung führt: Die Instrumentalisierung des Kreolischen durch die nationalistes bewirkt gerade auch die Ablehnung dieser Form der sprachlichen Äußerung im gegnerischen Lager der großbürgerlichen gaullistes (vgl. zu einem ähnlichen Phänomen in der Gegenwart Hidair 2007, 223). 43 Contouts Le patois guyanais enthält ähnlich wie die Sammlung A. Horths (1948) orthographische, etymologische, lexikalische sowie grammatische Studien zum Créole guyanais, eine Sammlung an Sprichwörtern und Stilfiguren, Auszüge aus Atipa, St-Quentin und den proclamations, daneben (auch französische) historische und folkloristische Texte. Unter dem geänderten Titel Le parler Guyanais, der von der Abwendung vom Begriff ‚patois‘ zeugt, und mit einem zusätzlichen Vorwort des Autors („Le parler Guyanais. Pour une réparation historique“) wird das Werk 1996 noch einmal aufgelegt. <?page no="390"?> Evelyn Wiesinger 376 Von der tatsächlichen Verwendung des Kreolischen als Unterrichtssprache, wie sie in den 1980er Jahren gefordert werden wird, ist Contout allerdings noch weit entfernt: Das Créole guyanais ist für ihn nach wie vor ein „parler purement oral“ (Contout 1974, 11); Le patois guyanais konzipiert er zwar als an Lehrer gerichtete Sammlung von „documents nécessaires à l’enseignement“ (id., 223), deren Verschriftung ist für ihn jedoch nur ein Hilfsmittel zur Dokumentation des Kreolischen und nicht für einen systematischen kreolischen (Schrift)Spracherwerb gedacht. Auch ein Vierteljahrhundert nach Horth entscheidet sich Contout wieder für eine „graphie étymologique“ mit phonetischen Reminiszenzen an die kreolische Aussprache: La meilleure solution, nous semble-t-il, consiste à adopter une graphie étymologique, c’est-à-dire qui se rapproche le plus possible de l’orthographe française. [...] dès que l’orthographe française pourra prêter à confusion ou soulever un doute à propos d’une graphie créole, nous nous efforcerons de faire appel à la transcription phonétique que nous estimerons la mieux adaptée au caractère propre et distinctif du parler guyanais. (id., 11) Ohne auf alle Einzelheiten eingehen zu wollen, ist doch festzustellen, dass Contout insgesamt wieder in geringerem Maße als Horth eine etymologische Graphie anwendet, z.B. was die Schreibung von [o] und das Auftreten bestimmter lettres muettes betrifft; so verschriftet Contout beispielsweise crobo ‚corbeau‘, pov’ ‚pauvre‘ (aber auch crapaud, zozeau). Ansonsten stimmt seine Graphie in weiten Teilen mit derjenigen Horths überein: So übernimmt er z.B. von ihm die Graphien <tch> und <dj> für die palatalen Konsonanten (vgl. tchoué ‚tuer‘, tchô ‚cœur‘, djokoti ‚accroupi‘, djale ‚gueule‘) sowie die Schreibung der Nasalvokale mit <n> und (meistens) accent circonflexe (z.B. nân-me ‚âme‘, lan-mô ‚mort‘, grîn-ne ‚graine‘, péssôn-ne ‚personne‘); 44 insbesondere der Nasalvokal [ɛ̃] wird weiterhin uneinheitlich dargestellt (so finden sich u.a. plein, côn-mien ‚combien‘, dipain ‚pain‘ sowie ohne direktes französisches Gegenstück tournin ‚tourner‘, bingnin ‚baigner‘ etc.). Gleiches gilt für [k], [s] und [z]: Contout verschriftet nach etymologischem Vorbild calmin ‚calmer‘, cô ‚corps‘, plési ‚plaisir‘, rosé ‚arroser‘, cété ‚c’était‘, béqué ‚becqueter‘, aber markiert stimmhaftes s im Anlaut mit <z> wie in zéyant ‚géant‘, zouti ‚outil‘, bisweilen aber auch im Inlaut, so in lozi ‚œuf de caïman‘ oder zozeau ‚oiseau‘. Im Auslaut wird [k] manchmal als <k> verschriftet, so in tabak’, lestônmak’ ‚estomac‘ (dagegen aber sièc’ ‚siècle‘, cerc’ ‚cercle‘); in Elementen mit (für Contout) unklarer Herkunft wird überwiegend diese Graphie angewandt (vgl. die TMA-Marker ka, ké oder die Lexeme kalimbé ‚pagne‘, soukougnan ‚sorcier‘). Für den Halbvokal [w] alternieren weiterhin 44 Vgl. Fußnote 17 zur Unterscheidung Contouts zwischen <ki>/ <gui> und <tch>/ <dj>. <?page no="391"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 377 verschiedene Schreibungen, darunter <ou> (kaouka ‚se taire‘, coui ‚vase en calebasse‘, bouè ‚boir‘), <oi> (bois, zoilette ‚alouette‘), <ui> (huit, nui ‚nuit‘); Contout schlägt nun aber auch die Graphie <w> in Lexemen französischer Herkunft vor (so z.B. wit ‚huit‘, swiyé ‚essuyer‘, nwi ‚nuit‘). 45 2. Kreolische Sprachplanung seit den 1980er Jahren Ab den 1980er Jahren bedeuten der Wahlsieg der Sozialisten in Frankreich, die Dezentralisierungsgesetze sowie die folgenden Akademiegründungen in den DOMs für Französisch-Guayana eine generelle Beruhigung der politischen Situation. 46 Dennoch hat die nationalistische Bewegung der 1970er Jahre mit ihrer Instrumentalisierung des Kreolischen für die politische Sache den Grundstein für eine seit den 1980er Jahren v.a. im (zweisprachigen) kreolischen Bildungsbürgertum Cayennes stattfindende bewusste Verhandlung der kulturellen Identität bzw. guyanité und der Rolle des Créole guyanais in der Gesellschaft gelegt. 47 Die kreolische Identitätsaffirmation verlagert sich damit massiv vom politischen in den sprachplanerischen und kulturellen Bereich, wo die Zugehörigkeit zu Frankreich und die sprachlichkulturelle Eigenständigkeit nicht als zwangsläufiger Widerspruch empfunden werden; wie sich im Folgenden zeigen wird, zieht sich jedoch eine gewisse politische Komponente bis heute (zumindest unterschwellig) durch den sprachplanerischen Diskurs. Eine wichtige Rolle spielt dabei nicht nur die gewünschte Abgrenzung von der französischen Kultur und Sprache, sondern auch die Eigenständigkeit der Créoles guyanais und ihres Idioms gegenüber den frankokreolophonen Gebieten in der Karibik, so etwa die Soziologin Fauquenoy in ihrem Vortrag „Langue et identité en Guyane: à propos du concept de ‚guyanité‘“ anlässlich des VI e Colloque international des Études Créoles vom 29.09.-06.10.1989 in Cayenne: 45 Diese Feststellungen treffen weitgehend auch auf die in Contout (1987) für das Créole guyanais verwendete Graphie zu, jedoch nicht mehr auf die seiner späteren folkloristischen Werke, die sich in vielen Punkten der GEREC-Orthographie annähert (vgl. z.B. Contout 2006/ [1995], 1999). 46 Vgl. MLF (2006, 217): „Le discours a perdu de son radicalisme et s’est banalisé: le courant nationaliste n’étonne plus, n’effraie pas et s’est positionné sur la palette des expressions politiques guyanaises aux côtés des autres courants“ (vgl. auch MLF 2002, 200f). 47 Vgl. Wiesinger (2014) zur besonderen Situation der Kreolen in Französisch-Guayana, die dort seit den 1980er Jahren u.a. nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung darstellen. <?page no="392"?> Evelyn Wiesinger 378 Caractérisée [...] par la diversité ethnique et un pluralisme culturel, la société guyanaise doit faire face de nos jours au danger d’une double assimilation. Il s’agit d’un côté de l’attraction historique exercée par la culture française dominante, de l’autre, de l’amalgamation imminente au monde antillais avec lequel la société guyanaise partage de nombreuses caractéristiques. (Fauquenoy 1989b) 2.1. Die Debatte um die kreolische Orthographie Die kulturelle Identitätseinforderung der Kreolen in Französisch-Guayana wird nun erstmals auch vom Wunsch nach konkreter Normierung und externem wie internem Ausbau des Créole guyanais begleitet, so heißt es beispielsweise in Debout Guyane vom 21.06.1983: 48 Il est nécessaire de réfléchir à une nouvelle pédagogie pour mettre fin au conditionnement culturel par l’abandon de l’équation langue véhicule supérieur égale culture supérieure, ce serait mettre fin en même temps à une autre forme d’impérialisme: celle d’une langue. Werden Kreolsprachen u.a. aufgrund ihres Mangels an „long historical traditions and bodies of literature“ (Siegel 2005, 145) lange nicht als vollwertige Sprachen ernst genommen, orientieren sich die kreolischen Sprachplaner nun stark am europäischen (bzw. besonders rigiden französischen) Modell einer Standardbzw. Nationalsprache (vgl. Devonish 2008, 633; Blandfort/ Mancas/ Wiesinger 2013, 10). Obwohl das Kreolische ursprünglich gerade in der Mündlichkeit als Kulturträger fungiert, wird einer kreolischen Schriftlichkeit größeres Prestige zugeschrieben: „L’écriture du créole par ses locuteurs représente un enjeu considérable pour son évolution au sein d’une société dont l’enseignement et la tradition transite sans cesse de l’oral vers l’écrit“ (G. Horth in France-Guyane, 28.10.2003). 49 Die gewünschte Ausweitung der Anwendungsbereiche des Kreolischen in den Schriftbzw. Distanzbereich hinein sowie die Ausarbeitung entsprechender präskriptiver Gebrauchsgrammatiken und -wörterbücher erfordert dabei zunächst einen verbindlichen Graphiestandard: Die in Französisch- 48 Auf die Gefahr, ein (orthographisch) standardisiertes Kreol lediglich zur Tradierung volkstümlicher Textsorten zu verwenden, statt parallel zur Normierung auch den externen und internen Ausbau des Créole guyanais voranzutreiben, wird in Ròt kozé (31, mai/ juin 1993) hingewiesen. Kritiker der Kodifizierung des Créole guyanais befürchten u.a. seine Intellektualisierung, vgl. dazu z.B. Ndagano (1994, 29f). 49 Vgl. dazu auch Haarmann (²2004, 247) sowie Bartens/ Léglise/ Migge (2010, 5f). Es ist fraglich, ob eine generelle Hinwendung der Kreolgemeinschaft zur Schriftlichkeit tatsächlich im Kreolischen und nicht vielmehr in der Prestigesprache Französisch vollzogen wird (vgl. dazu Wiesinger 2014). <?page no="393"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 379 Guayana in den 1990er Jahren (und damit vergleichsweise spät) einsetzende Diskussion um die kreolische Orthographie ist eng verbunden mit den Aktivitäten des Groupe d’Études et de Recherches en Espace Créolophone (GEREC), der 1975 durch Jean Bernabé auf Martinique ins Leben gerufen wird. 50 Im Gegensatz zur zunehmenden akademischen Beschäftigung mit Kreolsprachen in den USA und Europa zeichnet sich dieser Zusammenschluss von kreolischen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Lehrern durch eine lokal verankerte linguistique native aus (vgl. Reutner 2005, 76ff). 51 Sein Ziel ist neben der Unterstützung der Korpus- und Spracherwerbsplanung v.a. die Kodifizierung des Kreolischen in den Bereichen Orthographie, Lexikon und Grammatik: 52 Bereits ab 1976 präsentiert der GEREC einen überwiegend phonetischen Graphievorschlag, der im Gegensatz zu den etymologischen Verschriftungsgewohnheiten steht und für alle französisch-basierten Kreolsprachen gedacht ist. 53 Diese Graphie wird nach einigen Modifizierungen als Standard GEREC 1 im antillanischen Schul- und Universitätswesen eingeführt (vgl. dazu Reutner 2005, 77ff; Mair 2010, 446). 54 50 Der GEREC wird 2001 in GEREC-F (Groupe d’Études et de Recherches en Espace Créolophone et Francophone) umbenannt, was aber keine wesentlichen konzeptionellen Veränderungen nach sich zieht (vgl. Reutner 2005, 76). 51 Die politische Orientierung der Mitglieder des GEREC ist dabei nicht einheitlich: „A number of the Guadeloupeans were unequivocably nationalist, even indépendantiste, whereas the Martinicans were steering the organization towards a more internationalist perspective […] and […] stressed pan-Caribbean Creole solidarity […]. […] Public opinion towards GEREC oscillated between two opposing positions. On the one hand, its members were labeled indépendantistes by assimilationists who considered the activities of GEREC to be overwhelmingly politically motivated. On the other, hard-line Guadeloupean nationalists countered that the group was compromised by its members’ allegiances to the French university system where they all had received academic training“ (Schnepel 2004, 97f). 52 Dem GEREC geht es zunächst um eine „déviance maximale par rapport au français“ (Bernabé 1983, 16) durch die Schaffung einer ‚literarischen‘ Norm nach dem Vorbild eines idealisierten basilektalen Kreols als Gegenpol zur Prestigesprache Französisch, womit v.a. ein pro-kreolischer „Bewusstseinswandel in Intellektuellenkreisen“ (Reutner 2005, 77) bezweckt wird. Vgl. Confiant (2001) für eine ausführliche Darlegung der Ziele des GEREC. 53 Für den GEREC ist die Verschriftung des Kreolischen von Anfang an immer auch ein Mittel der Selbstaffirmation: „Il n’y a pas de raison pour que le créole ne participe pas à la mission d’appropriation et d’approfondissement de l’identité (qui passe nécessairement par l’écrit), actuellement dévolue à la seule langue française“ (Bernabé 2001, 17). Diesen Zusammenhang identifiziert St-Hilaire (2011, 113) in den französischen DOMs als besonders ausgeprägt, v.a. im Vergleich zu unabhängigen kreolophonen Staaten wie St-Lucia. 54 2001 werden von Bernabé mit dem Standard GEREC 2 bzw. Nouveau Standard GEREC (NSG) verschiedene Neuerungen vorgeschlagen (vgl. Bernabé 2001). In Französisch- <?page no="394"?> Evelyn Wiesinger 380 In Französisch-Guayana selbst wird erst 1986 eine Sektion des GEREC eingerichtet (vgl. Robeiri 1998, 40); angestoßen durch die Ausarbeitung des ersten offiziellen Grundschullehrplans für das département und die Schaffung entsprechender kreolischer Lehrwerke wird v.a. in den Jahren 1993/ 94 die zukünftige Schreibung des Créole guyanais kontrovers diskutiert. 55 Insbesondere die Tatsache, dass das Martinique unterstellte Rektorat sich bei der Ausarbeitung der Materialien orthographisch am Vorschlag des GEREC orientieren möchte, stößt in Französisch-Guayana verschiedentlich auf Kritik: In der Presse wird u.a. eine stärkere Beteiligung der - allerdings bis dato wohl kaum an diesem Diskurs interessierten - Öffentlichkeit gefordert: 56 [...] en Guyane, la pratique montre que le public est ingorant [sic], et qu’il y a des avis contraires. Il faut donc en débattre, publiquement et franchir le cap afin qu’une forte majorité de connaisseurs se mettent d’accord. [...] il faut dire que nos linguistes et autres créolistes pèchent: par modestie quand ils ne publient pas largement leurs recherches ou se contentent de la journée du créole annuelle; 57 par technocratie quand ils réservent les discussions sur la langue au cercle fermé des doko, 58 ou puristes. (Ròt kozé 33, juillet/ août 1993) Nach den Vorstellungen des ungenannten Autors des Zeitungsartikels sollten demokratisch offizialisierte Normen auch eine konsequente Implemen- Guayana wird jedoch nach wie vor der Standard GEREC 1 in der Grundschule gelehrt; mittlerweile ist bis auf ältere Texte das gesamte verwendete Unterrichtsmaterial in dieser Rechtschreibnorm verfasst. Der NSG darf jedoch im kreolischen Abitur neben dem Standard GEREC 1 verwendet werden (vgl. Université des Antilles et de la Guyane 2009/ 10). 55 Vgl. Wiesinger (2014) zur kreolischen Spracherwerbsplanung in Französisch-Guayana; dort läuft u.a. seit dem Schuljahr 2008/ 09 an verschiedenen Grundschulen ein Pilotprojekt kreolisch-französischer classes bilingues. 56 Diese Kritik ist nicht ohne politischen Hintergrund: Die entsprechenden Zeitungsartikel der Jahre 1993/ 94 erscheinen v.a. in der Monatszeitung Ròt kozé. Dieses 1990 ins Leben gerufene Journal politique d’inspiration ouvrière ist das Organ der nationalistisch orientierten Partei MDES. Obwohl Ròt kozé 1993/ 94 Hiersos Gegenvorschlag zur GE- REC-Orthographie abdruckt, hat sich in den kreolischen Artikeln der aktuellen Ausgaben grundsätzlich die GEREC-Schreibung durchgesetzt, auch wenn diese nicht in allen Punkten (z.B. der Akzentsetzung) beachtet wird (vgl. unten). 57 Die Journée internationale du créole wird 1983 auf Anregung der Gruppe Bannzil Kréyòl ins Leben gerufen (vgl. Reutner 2005, 103; St-Hilaire 2011, 111f). Vgl. Wiesinger (2014) zu den entsprechenden Aktivitäten in Französisch-Guayana. 58 Das kreolische dòkò bedeutet ‚solide, puissant, important‘ (Dictionnaire 2007) und im Zusammenhang mit Personen auch ‚Dokteur ès qualité, expert en la matière, celui qui maîtrise une science, une technique‘ (Hierso o.J., 1). <?page no="395"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 381 tierung in der Bevölkerung auf allen zur Verfügung stehenden Kommunikationswegen erfahren: il faut que l’orthographe créole soit disponible pour tous ceux qui en ont besoin: stages, cours, brochures, cassettes; il faut un guide des principales fautes à éviter quand on entreprend une œuvre créole destinée au grand public. [...] Nous, populations, avons besoin d’explication, d’exemple. Les moyens modernes de communication écrit, audio, visuel permettent de vulgariser pour le maximum de guyanais et non-guyanais la façon d’écrire le créole. Le reste est une question institutionnelle: qu’une assemblée locale reconnue, compétente, adopte l’orthographe majoritairement retenue qui deviendra alors officielle en Guyane. (Ròt kozé 33, juillet/ août 1993) Noch weiter gehend wird der Orthographievorschlag des GEREC von Teilen der pro-kreolisch engagierten Créoles guyanais als Bedrohung ihrer (auch sprachlichen) Eigenständigkeit empfunden und als pan-créolisme bzw. exo-normative Überformung durch die antillanischen Sprachplaner zurückgewiesen: 59 - Nous ne renions pas qu’il existe un ‚FONDS KREYOL COMMUN‘ mais il doit être reconnu également que chaque ‚ethnie‘ a son IDENTITÉ, donc une graphie qui lui est propre. - Le GEREC propose une graphie. Nous, Guyanais, gérons personnellement notre ‚PATRIMOINE ORAL‘ et de ce fait proposons notre propre SYSTÈME GRAPHIQUE. (Ròt kozé 31, mai/ juin 1993) Zuallererst als politisches Statement ist der in diesem Presseartikel angekündigte lokale Orthographievorschlag Laklé-dôkô von Elie Honoré Hierso zu interpretieren, der ebenfalls in Ròt kozé (vgl. Fußnote 56) präsentiert wird und sich explizit gegen das GEREC-System wendet (vgl. Ròt kozé 31, mai/ juin 1993; 36, oct./ nov. 1993). 60 59 Der pan-kreolische Ansatz wird u.a. von Confiant (2001, 24ff) expliziert, so heißt es im Vorwort zu seinem Dictionnaire des Néologismes Créoles: „Notre optique est résolument pan-créole, c’est-à-dire que nous avons puisé des mots-racine dans tous les créoles à base lexicale française qu’ils soient d’Amérique ou de l’océan Indien. […] S’il existe […] des dialectes créoles, plus ou moins intercompréhensibles selon les zones considérées et surtout selon les locuteurs en présence, il n’en demeure pas moins que l’on a affaire à une seule et même langue. S’employer à rapprocher ces dialectes entre eux n’a rien d’incongru ni d’irréaliste, en particulier au plan de la construction d’une langue écrite qui est […] notre but premier“. 60 Nach Zeitungsinformationen beschäftigt sich Hierso „depuis quelques années“ mit einem „travail de recherche sur l’orthographe et la grammaire créole“ (Ròt kozé 31, mai/ juin 1993). Für ihn ist die kreolische Orthographie ebenfalls ein identitäres Statement: „L’écrit Guyanais devant, nécessairement, déboucher sur ce qu’il y a de meilleur pour notre Identité Culturelle et, par conséquent, sociale“ (Hierso o.J., 1). De- <?page no="396"?> Evelyn Wiesinger 382 Der etwa 70 (! ) Grapheme umfassende Orthographievorschlag Hiersos greift dabei z.T. etymologische Elemente und bisherige Schreibgewohnheiten auf (z.B. Nr. 3), macht aber auch Neuvorschläge (so Nr. 4), wie in folgendem Vergleich mit der GEREC-Orthographie und der im Dictionnaire créole guyanais - français (vgl. 2.2.) verwendeten Graphie deutlich wird: Nr. API Standard GEREC 1 Dictionnaire (2007) Laklé-dôkô 1 ε è bèl e/ è bel è bèl 2 ɔ ò zòt o/ ò zot ô zôt 3 ɛ̃ en tchenbé byen en tchenbé byen in tchinbé byin 4 in in farin in farin ïn farïn 5 j y pyé fiyòl y pyé fiyol i y pié fiyôl 6 w w wakapou pyébwa wè swèf w ou wakapou pyébwa wè souèf w oi ou 61 wakapou piéboi ouè souèf 7 s s siriz kasav s siriz kasav s, aber c häufig vor Vokal ciriz kacav Tab. 2 mentsprechend äußert er sich gegen eine gemeinsame kreolische Orthographie: „notre langue […] ne s’accorde pas systématiquement avec les autres variantes de la langue dite créole“ (Hierso im Interview mit G. Horth in France-Guyane, 28.10.2003). Teil der Debatte ist somit auch die bereits in der Négritude- und Créolité-Bewegung aufgeworfene Frage nach der grundsätzlichen kulturellen Orientierung der Kreolen (vgl. Bernabé/ Chamoiseau/ Confiant 1989). Für Hierso zählen hierbei die afrikanischen Wurzeln: „même si la base lexicale de la langue est française, la logique que nous employons pour la mettre en pratique est purement africaine“ (Hierso im Interview mit G. Horth in France-Guyane, 28.10.2003), womit er sich von den Vertretern der Créolité bzw. des GEREC abgrenzt. 61 Hierso insistiert hier auf unterschiedlichen Lautqualitäten: Er reserviert für die „sons doux guyanais“ die Schreibung <ou> (z.B. ouara, ouang), für die „sons durs guyanais“ die Schreibung <oi> (z.B. koik, koita). Das vom GEREC generalisierte <w> verwendet Hierso sehr eingeschränkt, so in den Baumnamen wapa und wakapou, in Onomatopoetika (z.B. wap), in Fällen lautlicher ‚Redundanz‘ (z.B. kiwawa) sowie im Inlaut von Komposita als „outil d’agglutination“ (Ròt kozé 42, avril/ mai 1994) (z.B. bouyonwara, dlowéy) (vgl. auch Ròt kozé 31, mai/ juin 1993, sowie Hierso 2003, 8). <?page no="397"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 383 Mitte der 1990er Jahre wird die kreolische Orthographie somit in Französisch-Guayana - wie zuvor bereits in anderen kreolophonen Gebieten - zum Politikum und durch verschiedene Zeitungsveröffentlichungen wohl auch einem breiteren Publikum zumindest in der Theorie zugänglich. Wenig zielführend ist dabei die Tatsache, dass regelrechte politisch motivierte Grabenkämpfe auf dem Terrain der kreolischen Rechtschreibung ausgetragen werden, bei denen sich Befürworter und Gegner der GEREC-Orthographie im Wortlaut gegenseitig eine „lourde responsabilité“ für die Zukunft des Créole guyanais zuschreiben. 62 In der Orthographiedebatte setzen sich schließlich - wohl auch aufgrund der institutionellen Organisation in Zusammenarbeit mit dem Rektorat - die Vertreter der GEREC-Orthographie durch (vgl. Fußnote 54). Um die normative Arbeit des GEREC in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, werden von 1993 bis 1995 sowie 1997 ähnlich wie auf den Antillen öffentliche kreolische dictées durchgeführt, unterstützt durch die lokale Organisation RAKA- BA (vgl. 2.2.). Die Teilnehmer können sich dabei im Vorfeld mit Materialien des GEREC auf das Diktat vorbereiten; beworben wird die von lokalen Firmen finanziell unterstützte dictée als „manifestation [qui] vise à sensibiliser les Guyanais à la culture et à l’écriture créole“ (La Semaine Guyanaise 582, 16.02.1995). Das erste Diktat findet am 5. Mai 1993 in den Räumlichkeiten der Industrie- und Handelskammer (CCIG) in Cayenne statt und wird im Lokalfernsehen übertragen, so dass sich auch eine breite Bevölkerung zu Hause an der Übung beteiligen kann. Die Reaktionen werden als gemischt beschrieben: Ein Zeitungsbericht von 1994 spricht zwar einerseits von einem gesteigerten Bewusstsein für eine kreolische Schreibnorm und einer gewissen Unterstützung der Aktion von Seiten der Bevölkerung: „Les réactions sont dans l’ensemble positives. Les candidats reconnaissent l’intérêt d’une telle manifestation et souhaitent qu’elle continue pendant plusieurs années encore“, berichtet aber auch von den Schwierigkeiten dieses sehr punktuel- 62 Den Verantwortlichen des GEREC wird vorgeworfen, das Créole guyanais zu ‚antillanisieren‘ bzw. ‚französisieren‘, ihnen komme quasi als ‚Landesverrätern‘ eine „lourde responsabilité pour l’avenir“ (Ròt kozé 36, oct./ nov. 1993) zu; umgekehrt wird von Mitgliedern des GEREC die Vereinnahmung eines (nicht normierten) Kreolischen durch die frankreichkritischen indépendantistes abgelehnt: „Les hommes politiques de gauche, les syndicalistes (en particulier les indépendantistes) qui, eux aussi, ont commencé à faire un large usage public du créole n’ont pas pris non plus conscience de la lourde responsabilité qui pesait - et continue de peser - sur leurs épaules. À leurs yeux, il suffisait simplement de vouloir parler créole, n’importe quel créole, pour démontrer qu’ils étaient proches du peuple et pour apparaître comme des défenseurs de la culture martiniquaise, guadeloupéenne ou guyanaise“ (Confiant 2001, 18). <?page no="398"?> Evelyn Wiesinger 384 len Versuchs, die Orthographie zu implementieren: „La grande majorité du public était un peu crispée et certains souhaitaient, alors qu’on était à peine à la moitié de la dictée, terminer très vite“ (France-Guyane, avril/ mai 1994). Auch die Sprachaktivistin Robeiri (1998, 41) konstatiert einen eher geringen Erfolg: [...] l’analyse des résultats et des réactions du public a montré une grande résistance au code mais surtout une insatisfaction au niveau de l’action pédagogique. En effet, il fallait reconnaître que la campagne de sensibilisation mise en place n’avait pas suffisamment insisté sur les éléments du système qui posaient problèmes et surtout le pourquoi de leur utilisation [...]. Zum Tragen kommt bei den Schwierigkeiten der Teilnehmer zum einen sicherlich die Tatsache, dass sich ihnen die französische Orthographie durch die lexikalische Nähe zum Kreol und die Dominanz einer im weitesten Sinne etymologischen bzw. etymologisierenden Schreibweise in den (allerdings seltenen) kreolischen Schriftzeugnissen der Zeit unweigerlich aufdrängt. Zum anderen wird das Créole guyanais ja von den wenigsten Kreolen im Alltagsleben verschriftet, womit den insgesamt 230 Teilnehmern der ersten dictée nicht unbedingt der über eine reine Identitätsaffirmation hinausgehende Sinn der Aktion klar werden dürfte. 63 Aufgrund der negativen Erfahrungen werden in den Folgejahren die Bemühungen um die Kenntnis und Akzeptanz der orthographischen Normen durch verschiedene Maßnahmen im Vorfeld der dictées verstärkt. 64 Auch von den Kritikern des GEREC werden die dictées créoles erwartetermaßen polemisch diskutiert: So bemängelt Hierso u.a. die fehlende Authentizität der Diktattexte, in denen typische Wörter und Wendungen fehlten bzw. falsch wiedergegeben seien, 65 und die von einer „francisation“ (z.B. bei der Präposition di oder dem Relativpronomen ki) bzw. „antillanisation“ zeugten (so etwa in lésanmdi statt samndi, bèf statt béf, pran vidé statt kouri vidé), worin sich wieder die Angst vor einer Überformung des Créole guya- 63 Nach Robeiri (1998, 41) ist die Teilnehmerzahl damit unerwartet hoch, die Teilnehmer bestehen jedoch zu 50% aus Lehrern und zu 20% aus Schülern. 64 Vgl. dazu Robeiri (1998, 41): „À l’édition de 1994, la démarche de production des textes était la même cependant un travail pédagogique a été fait au niveau médiatique. Un petit fascicule intitulé ‚Dikté Kréòl ’93‘ […] élaboré par la cellule pédagogique mise en place, avait été proposé aux concurrents à l’inscription. Des ateliers de préparation avaient été organisés gratuitement pour tout public par l’association RAKABA et des émissions pédagogiques réalisées à la radio et à la télévision“. 65 Daneben kritisiert Hierso den Wettbewerbscharakter der dictées: „le seul fait d’offrir des cadeaux aux guyanais pour les amener à prendre conscience de leur identité linguistique est proprement un scandale“ (Ròt kozé 42, avril/ mai 1994). <?page no="399"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 385 nais von außen spiegelt (vgl. Ròt kozé 31, mai/ juin 1993; 36, oct./ nov. 1993; 42, avril/ mai 1994). 66 Nachdem die dictée créole 1997 vorerst zum letzten Mal stattfindet, bleiben außerhalb des Schulsystems lediglich vereinzelte Kurse zur Vermittlung des orthographischen Standards an die breite Bevölkerung übrig: Öffentlich zugängliche Kurse werden 1997/ 98 durch den GEREC an der Universität abgehalten (vgl. Robeiri 1998, 40); heute gibt es noch gelegentliche Seminare von Seiten der association RAKABA, verschiedener Firmen (etwa für die Mitarbeiter von France Télécom) und seit 2011 auch an der Alliance Française in Cayenne. An deren Kursen nehmen v.a. (nicht-kreolische) Pädagogen, Sozialarbeiter oder Ärzte teil, es finden sich aber auch ältere einheimische Kreolen, die die GEREC-Orthographie erlernen wollen, sowie interessanterweise ebenso jüngere, überwiegend frankophone Kreolen, die häufig in Frankreich studiert haben und sich nun auf diese Weise dem Créole guyanais gewissermaßen als néo-locuteurs (Costa 2010; vgl. auch Rattier 1990, 84) annähern möchten. Angesichts der insgesamt eher zögerlichen und punktuellen Maßnahmen zur Implementierung der GEREC-Orthographie ist diese heute allerdings weit von ihrem Abschluss entfernt; vielen erwachsenen Guyanais ist die kreolische Schriftnorm bis heute nicht geläufig. De facto wird sie heute zwar im Schulunterricht verwendet, ansonsten folgt die Verschriftung des Kreolischen häufig keinen festen Regeln. Während sich in den raren kreolischen Zeitungstexten und in den Dokumenten sprachaktivistischer Kreise eine GEREC-nahe phonetische Graphie zu etablieren scheint, werden nach wie vor v.a. Werke volkstümlicher Natur oder Werbetexte mit eher etymologischen Schreibungen publiziert (vgl. Wiesinger 2014). 67 Dies lässt das Kreolische weiterhin mehr als nicht (oder nicht vollständig) normierte Sprache erscheinen, die jeder Sprecher nach seiner façon verschriften kann. Ein Blick in die aktuellere kreolische Textlandschaft legt offen, dass selbst Begriffe wie ‚kreol‘ oder ‚Guayana‘, bei denen man eine hohe identitäre Aufladung ver- 66 Auch um derartigen Vorwürfen vorzubeugen, ruft der GEREC ab 1995 die gesamte Bevölkerung dazu auf, für die dictée geeignete kreolische Texte selbst zu verfassen und einzusenden (vgl. La Semaine Guyanaise 582, 16.02.1995 sowie Robeiri 1998, 41). 67 Auf den noch wenigen Internetseiten im Créole guyanais (vgl. Wiesinger 2014) dominiert im Gegensatz zur spontanen, z.T. eher etymologischen Verschriftung des Kreolischen in den social media, die GEREC-Graphie, so auf der seit 1997 bestehenden Seite www.krakemanto.gf des Kulturvereins Krakémantò; auch die Graphie der Seite http: / / creoleguyane.centerblog.net/ , auf der seit 2008 Sprachübungen zum Créole guyanais gemacht werden können, nähert sich der des GEREC an, befolgt sie aber z.B. bzgl. der Akzentsetzung nicht durchgängig. <?page no="400"?> Evelyn Wiesinger 386 muten dürfte, keine einheitliche Schreibung erfahren: 68 Schlägt der Standard GEREC 2 die Schreibung kréòl vor, finden sich daneben (z.T. im selben Text! ) kréyòl (France-Guyane, diese Schreibung wird auch im Schulbuch Zété kréyòl neben kréòl verwendet), kréyol (France-Guyane) und creyol (Sagesse et Tradition Créole). Das einzige für das Créole guyanais existierende Dictionnaire (2007) schreibt dagegen kréol. Für ‚Guayana‘ finden sich lagwiyann (France-Guyane), Lagwiyann (Dibout; France-Guyane; Zété kréyòl), Lagwiyàn (Zété kréyòl), Lagwiyan (facebook; RAKABA), Lagwiyañ (facebook) und Gwiyann (Mail O.G.D.H.). Der Standard GEREC 2 empfiehlt dagegen die Schreibung Giyàn; im Dictionnaire (2007) findet sich überhaupt kein Eintrag, lediglich das Adjektiv Gwiyanè. Sondiert man die kreolischen Schriftzeugnisse über die unterschiedliche Schreibung einzelner Lexeme hinaus, kristallisieren sich vor allem im Bereich des Vokalismus einige neuralgische Punkte heraus, die den kreolischen (i.d.R. autodidaktischen) Schreibern offensichtlich größere Probleme bereiten. Diese decken sich mit den Graphemen, die in der Debatte der 1990er Jahre auch am kontroversesten diskutiert werden und bereits in den älteren kreolischen Texten eine besonders uneinheitliche graphische Darstellung erfuhren. Dazu gehört v.a. die Markierung des Öffnungsgrads der Vorderzungenvokale, so finden sich etwa die Schreibungen pep/ pèp, mem/ mém, fè/ fé/ fe bzw. rot/ ròt, dókó/ dòkò/ dôkô, òbò/ obò/ bô. In diesen Fällen kommen gleich mehrere Problematiken zum Tragen: Es kann zum einen v.a. die vom Französischen abweichende Akzentsetzung generell Schwierigkeiten bereiten wie in den Schreibungen têt (frz. tête, nach GEREC 1 tèt), dissel (frz. sel, nach GEREC 1 disèl), sigaret (frz. cigarette, nach GEREC 1 sigarèt). Zum anderen scheint auch über die Art der diakritischen Markierung (accent aigu/ grave bzw. circonflexe) keine Einigung zu bestehen, wenn etwa neben obò auch bô verschriftet wird. 69 Hinzu kommen Aussprachevarianten bzw. die Neutrali- 68 Untersucht werden hierfür die Ausgabe der Tageszeitung France-Guyane vom 28.10.2011, die Gewerkschaftsschrift Dibout vom Oktober 2011, verschiedene facebook- Einträge von 2011, Materialien der association RAKABA vom 27.10.2011, eine Rundmail der Organisation guyanaise des droits humains (O.G.D.H.) vom 23.03.2011, das Rezeptbuch Sagesse et Tradition Créole de Guyane (Saïbou 2010), das Dictionnaire créole guyanais - français (Barthèlemi 2007) sowie das momentan gebräuchliche Grundschullehrwerk Zété kréyòl (Armande-Lapierre/ Robinson 2004). 69 Während der Standard GEREC 1 die Markierung des Öffnungsgrads durch accent aigu bzw. accent grave vorsieht, hat der accent circonflexe auf offenem o in Französisch- Guayana eine gewisse Tradition: Er wird u.a. in St-Quentin (1872), A. Horth (1948) und Contout (1974) verwendet und in Laklé-dôkô wieder aufgegriffen. <?page no="401"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 387 sierung der phonologischen Distinktion im Bereich des Vokalöffnungsgrads, die ebenfalls zu verschiedenen Verschriftungsergebnissen führen können. 70 Auch hinsichtlich der graphischen Darstellung der Nasalvokale konkurrieren mehrere Schreibweisen. Während die meisten Verschriftungsvarianten das auch vom GEREC zur Markierung der Nasalität verwendete <n> aufgreifen, herrscht bzgl. der Darstellung der nasalen Vokalität des [ɛ̃] Uneinigkeit, so etwa lanmen/ lanmin, menm/ minm/ min-me, wobei sich die GEREC- Schreibung <en> schlussendlich durchzusetzen scheint. 71 In spontanschriftlichen Texten (wie in den social media und im Email-Verkehr) finden sich zudem Schreibvarianten, die das diakritische Zeichen <~> zur Markierung der Nasalität verwenden, so etwa in meñen, pésõn, põcõ, konpr-n oder añan. Derartige, in älteren Texten völlig abwesende Graphien können mit portugiesischen (õ, -) bzw. spanischen (ñ) Graphiezeichen in Verbindung gebracht werden, was allerdings voraussetzt, dass die betreffenden Sprachen und ihre Graphiesysteme den jeweiligen Schreibern bekannt sind. 72 Der Bereich der kreolischen Halbvokale [j] und [w] weist seit den frühesten Verschriftungsversuchen ebenfalls Varianzen in der graphischen Darstellung auf; in den aktuellen kreolischen Schriftquellen dominieren für den palatalen Halbvokal [j] die Schreibungen <i> und <y>, wobei letztere der Graphie GEREC 1 entspricht. 73 So finden sich beispielsweise sitiasyon/ sityasyon, pies/ piyès/ pyès, siel/ syèl, péi/ péyi/ péy, larivyé/ la riviè oder bondié/ bondyé; 74 daneben kursiert <iy> wie in sibstitisiyon, popilasiyon und miltipliyé. Für den Halbvokal [w] wird i.d.R. die bereits in St-Quentin (1872) vorgeschlagene Transkription <w>, die auch die GEREC-Orthographie vor- 70 Im Standard GEREC 2 wird generell empfohlen, den Öffnungsgrad nur mehr in offener Silbe zu markieren (vgl. Bernabé 2001, 34). 71 Auch die Schreibung <in> kann auf eine längere Tradition zurückblicken, v.a. in Lexemen, die auf ein französisches Wort mit der Schreibung <in> zurückgehen (vgl. u.a. A. Horth 1948; Contout 1974). Problematisch ist dabei die Tatsache, dass die Graphie <in> sowohl für den Nasalvokal [ɛ̃] als auch für die Lautfolge [in] stehen kann. 72 Legale und illegale Einwanderer aus Brasilien machen mittlerweile mehr als 10% der Bevölkerung Französisch-Guayanas aus; spanischsprachige Einwanderer aus verschiedenen südamerikanischen Ländern dagegen nur etwa 1%. Portugiesisch und Spanisch sind zumindest in bestimmten Teilen des Stadtbilds von Cayenne präsent, beide Sprachen werden als moderne Fremdsprachen in der Sekundarstufe unterrichtet (vgl. Launey 2007, 494, sowie Patzelt 2012b). 73 Bereits Aug. de St-Quentin (1872) schlägt das Graphem <y> vor, im Sammelband der St-Quentins wird es jedoch nicht durchgängig verwendet (so etwa vyand, aber auch vié). Der Nouveau Standard GEREC sieht eine Differenzierung zwischen <i> (im Silbeninlaut) und <y> (im Silbenan- und auslaut) vor (vgl. Bernabé 2001, 38). 74 Bei einigen Beispielen wie sitiasyon vs. sityasyon ist entweder eine tatsächlich unterschiedliche Aussprache oder eine Konfusion der Grapheme <i> und <y> anzunehmen. <?page no="402"?> Evelyn Wiesinger 388 sieht, verwendet. Daneben tauchen die z.T. etymologischen Varianten <oi>, <ui> bzw. <ou> auf, so etwa in tchwé/ tchoué, kwi/ koui, éstébékwé/ stébékoué, dwèt/ douat, danboi, loin, dotrui. Nicht ganz so vielfältig sind die verwendeten Schreibungen für die Affrikate [tʃ]. Neben der Standard GEREC 1- Schreibweise <tch> finden sich z.T. auch <ty> sowie die alte Schreibung <ki> (z.B. kiô statt tchò nach GEREC 1 oder kiou statt tchou nach GEREC 1; vgl. dazu Fußnote 17). Eine generell weiterhin starke Abhängigkeit der Schreiber von der französischen Schrifttradition zeigt sich u.a. auch an in der GEREC- Orthographie inexistenten Graphemen (etwa complo, prétex) sowie an ‚französischen‘ Doppelgraphien (z.B. sassé, léssé, pissé, allé, kassé) und e muets (garde a vi, otochtone). 75 Die Beeinflussung durch das Französische geht über Fragen der einzelnen Phonem-Graphem-Zuordnung hinaus sogar so weit, dass französische Konsonantencluster im Auslaut (zumindest im Schriftbild, möglicherweise aber auch in der Aussprache) in kreolischen Texten auftauchen, so etwa artikl, santr, sansibl oder kapitalist. Aus dieser nur ausschnittartigen Analyse aktueller kreolischer Schriftzeugnisse wird ersichtlich, dass die bisherigen Bemühungen nicht ausreichend waren, um eine einheitliche Orthographie für das Créole guyanais zu etablieren. Auch wenn sich die meisten Elemente der GEREC-Orthographie langsam durchsetzen, tauchen doch immer wieder alternative bzw. ältere, möglicherweise ‚vertrautere‘ Graphien auf. Bei nicht im Wörterbuch verzeichneten kreolischen Neologismen herrscht ebenso eine große Bandbreite an koexistierenden Graphien bzw. Lexemen (so finden sich etwa für die Begriffe ‚europäisch‘ und ‚Flughafen‘ nicht weniger als jeweils vier Varianten: éropéen, eropyen, éropéyén, éropéyen bzw. laréopor, laéropor, laéropòr, aéropor). Aus dieser Tatsache lässt sich ableiten, dass es den aktuellen Sprachpflegeinstitutionen (vgl. 2.2.) im Sinne eines intensiven Sprachausbaus auch nicht gelingt, in der Bevölkerung für neue Bezeichnungsnotwendigkeiten einheitliche kreolische Formen zu etablieren. 2.2. Kreolische Lexikographie und Grammatikschreibung Beschäftigte sich die Zweigstelle des GEREC in Französisch-Guayana in den 1980-90er Jahren v.a. mit der Implementierung der Orthographie und der 75 Ein weiteres Problemfeld stellt für die Schreiber des Créole guyanais die Zusammen- und Getrenntschreibung dar. V.a. im Zusammenhang mit Negations-, TMA- und Pluralmarkern, Determinanten und Pronomen wird wahlweise zusammen oder getrennt geschrieben (so z.B. pa/ ka, yé/ kò, so/ kò, nou/ kò, moun/ yan); auch bei der graphischen Darstellung von Sandhi-Phänomenen (z.B. kalé bzw. k’alé) sowie der Schreibung von Komposita (ti moun vs. timoun) treten häufig Unregelmäßigkeiten auf. <?page no="403"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 389 Einführung des Kreolischen in das lokale Schulsystem (vgl. Wiesinger 2014, sind die Bereiche der Lexikographie und Grammatikschreibung für das Créole guyanais bis heute vergleichsweise vernachlässigt worden. So entsteht erst 2007 ein umfangreicheres Wörterbuch: Das Dictionnaire créole guyanais - français von G. Barthèlemi mit ca. 5000 Einträgen orientiert sich als Gebrauchswörterbuch an der „fréquence d’emploi des mots“ (Klappentext). 76 Problematisch ist an diesem Werk u.a., dass es zwar weitgehend die phonetische Schreibweise des GEREC verwendet, aber dennoch Abweichungen feststellbar sind (z.B. im Bereich der Markierung des Vokalöffnungsgrads oder der Differenzierung zwischen <ou> und <w>; vgl. auch Tab. 2). Als bis heute einziges verfügbares Wörterbuch dürfte es damit die Implementierung der GEREC-Orthographie in bestimmten Punkten eher erschweren. 77 Im Bereich der Grammatikographie stammt die moderne linguistische Erstbeschreibung des Créole guyanais von der in den 1960/ 70er Jahren am Office de la Recherche Scientifique et Technique Outre-Mer (ORSTOM) in Cayenne beschäftigten Soziologin und Linguistin Marguerite Fauquenoy (1972). 78 Als Ergänzung entstanden bis heute lediglich die 2003 erschienene komparatistische Schulgrammatik des an der Université des Antilles et de la Guyane tätigen Martiniquais Robert Damoiseau sowie zwei Konversations- 76 Dieses Wörterbuch stellt eine erweiterte Ausgabe des vom selben Autor 1995 erschienenen Dictionnaire pratique créole guyanais - français dar. 77 Als weitere Kritikpunkte an Barthèlemis Wörterbuch können u.a. die knappen Bedeutungsangaben und Beispielsätze sowie die fehlende Trennung von Homonymen angeführt werden. Auch M.-C. Hazaël-Massieux bemängelt, das Werk bleibe „très lacunaire et n’est pas l’œuvre d’un lexicographe. L’absence d’un terme dans l’inventaire ne peut jamais signifier que ce mot n’existe pas en guyanais“ (http: / / creoles.free.fr/ Cours / dico.htm). Lokale Sprachpfleger geben zudem eine geringe Akzeptanz des Wörterbuchs in der Bevölkerung an. Grund hierfür sei die problematische Zusammenarbeit mit dem Autor sowie das Fehlen vieler ‚authentischer‘ bzw. ‚alter‘ kreolischer Wörter. 78 Am heute in IRD (Institut de Recherche pour le Développement) umbenannten ORSTOM wird seit 1997 das Programm Langues de Guyane verfolgt, das sich neben der Erforschung der amerindianischen und anglokreolischen Sprachen u.a. auch mit der soziolinguistischen Situation Französisch-Guayanas und der Mehrsprachigkeit im Schulbereich beschäftigt. Das Programm steht in Zusammenhang mit dem Rapport Cerquiglini, der erstmals 1999 (! ) im Kontext der Untersuchungen zu den im Sinne der europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen in Frankreich anzuerkennenden Idiomen die tatsächliche Sprachenvielfalt Französisch-Guayanas offenlegt, die bis zu diesem Zeitpunkt auch von offizieller Seite überwiegend als kreolisch-französische Diglossie angesehen wird. Vgl. für eine ausführlichere Darstellung Launey (2007, 485). <?page no="404"?> Evelyn Wiesinger 390 führer mit einem jeweils sehr kurzen Grammatikabriss (vgl. Jadfard 1997; Désiré 2006). 79 Ansonsten wird v.a. lexikographische Sprachpflege bzw. interner Sprachausbau derzeit lediglich von der 1984 durch am Kreolischen interessierte Lehrer gegründeten und in der kreolischen Bourgeoisie sehr be- und anerkannten privaten association RAKABA unternommen. Diese beschäftigt sich u.a. mit dem Sammeln kreolischer Archaismen und der Schaffung von Neologismen, unternimmt entsprechende Publikationen, Sprachberatung, Übersetzung und kreolische Transkription für Organismen, Firmen und Privatpersonen und organisiert Kulturevents wie kreolische Spiele- und Erzählnachmittage für Kinder und Senioren sowie öffentliche Sprachkurse. 80 Steht RAKABA in den 1980er und 90er Jahren v.a. dem GEREC zur Seite, ist sie heute die einzige verbliebene vorrangig sprachpflegerische Organisation in Französisch-Guayana (bzw. in der Hauptstadt Cayenne, auf die ihr Aktionsradius beschränkt ist). 81 RAKABA ist dabei mit verschiedenen Problemen konfrontiert: Ein Großteil der ehrenamtlichen Mitglieder sind heute linguistische Laien; zu personellen Engpässen kommen Finanzierungsschwierigkeiten und die mangelnde Unterstützung von offizieller Seite wie dem Kulturministerium. Es gilt heute mehr denn je […] que les acteurs de la promotion linguistique du créole n’ont pas toujours le soutien matériel et logistique […] ni les moyens financiers conséquents qui leur permettraient de faire appel à des spécialistes pour la structuration des productions scientifiques ainsi que leur publication; ils travaillent souvent dans des conditions très précaires. (Robeiri 1998, 39) Angesichts dieser Schwierigkeiten und des geringen Wirkungsgrads der Aktionen RAKABAs ist zu bezweifeln, dass es der Privatorganisation gelingen kann, nach der Einstellung der örtlichen Aktivitäten des GEREC die 79 Während Fauquenoy (1972) das Créole guyanais phonetisch transkribiert, verwenden die drei neueren Werke die Graphie Standard GEREC 1. 80 Die von RAKABA kreierten Neologismen, so z.B. sonjépablyé für ‚Notizbuch‘ oder jakòtéléfòn für ‚Anrufbeantworter‘, werden in den Kreolkursen eingeführt und auch von Grundschullehrern im Unterricht verwendet. Die Schaffung einer Internetplattform, um die Neuschöpfungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, ist angedacht (persönl. Gespräch mit O. Armande-Lapierre, 13.10.2011). 81 Die Zweigstelle des GEREC in Französisch-Guayana organisiert ebenfalls öffentliche Tagungen, Vorträge, Workshops sowie Radio- und Fernsehsendungen rund um das Kreolische. Hinzu kommen öffentliche Kreolischkurse sowie Sprachberatung (vgl. Robeiri 1998, 40ff). Seit der 2006 im Zuge universitärer Umstrukturierungen stattgefundenen Integration des GEREC-F in die größere Forschereinheit CRILLASH ist seine Arbeit in Französisch-Guayana jedoch zum Erliegen gekommen. <?page no="405"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 391 Aufgaben einer effektiven „instance de normalisation“ (Robeiri 1998, 42) für Französisch-Guayana zu erfüllen. 2.3. to pé pa fè san ékri-a: ein ambivalentes Fazit Insgesamt sind die Ergebnisse der seit den 1980er Jahren angestrebten Kodifizierung des Créole guyanais als ambivalent einzustufen: So erfolgte vor allem mit Blick auf die Einführung des Kreolischen im Schulwesen eine Abwendung von etymologischeren Schreibgewohnheiten und die Übernahme der GEREC-Orthographie, die sich auch in den (jedoch sehr seltenen) kreolischen Beiträgen in den Printmedien langsam durchzusetzen scheint (vgl. dazu auch Wiesinger 2014). Von einem Großteil der Kreolen wird diese Graphie bei der (nicht nur spontanen) Verschriftung des Créole guyanais allerdings nach wie vor nicht einheitlich angewandt. Schließlich gibt es auch für den internen Ausbau der Kreolsprache, z.B. im Hinblick auf die Schaffung von Neologismen, heute praktisch keine effektive sprachpflegerische Instanz. 82 Während eine Abgrenzung von den antillanischen Frankokreolsprachen heute durch die weitgehend gemeinsame GEREC-Norm nicht (mehr) über die Graphie erfolgt, hat sich u.a. im Bereich der kreolischen Morphologie ein Bewusstsein für die Eigenständigkeit (und damit die ‚Norm‘) des Créole guyanais bei den Sprechern eingestellt: So werden etwa die Pronomen mo, to, so und yé als auch der Pluralmarker ya(n), durch die sich das Créole guyanais markant vom Haiti- und Antillenkreol abhebt, als quasi identitätsstiftende Marker eingesetzt, um sich von den Sprechern anderer Frankokreolsprachen abzugrenzen (vgl. dazu auch Rattier 1990, 80). Dieses Phänomen ist ebenfalls in den Medien zu beobachten, wo „animateurs ou […] intervenants s’appliquent à s’exprimer avec des marqueurs linguistiques qui sont propres au créole guyanais afin de bien le démarquer des autres créoles“ (Robinson 2010, 7). 83 82 Vor diesem Hintergrund fordern einige sprachpflegerisch aktive Guyanais die Einrichtung einer zentralen Sprachakademie für das Créole guyanais nach dem Vorbild der Académie Française (persönl. Gespräch mit E. Rattier, 10.11.2011). 83 Patzelt (2012a, 166f) beobachtet einen ähnlichen Effekt bei der dritten Generation der (franko)kreolophonen Zuwanderer aus der Karibik: „Es dominiert nun deutlich ein créole, das sich auf der Basis des ‚créole guyanais‘ aus Elementen verschiedener Varietäten zusammensetzt. Dies geschieht bei den Befragten teils unbewusst, teils geben diese allerdings auch an, sich ganz bewusst dieser Elemente zu bedienen, um ihre breite Integration in die ‚neue‘ Gesellschaft zu demonstrieren. Sie sind dann auch in der Lage, je nach Gesprächspartner die betreffenden Elemente unterschiedlich zu gewichten“. <?page no="406"?> Evelyn Wiesinger 392 Auch angesichts ihrer mäßigen Erfolge wird gerade die Verschriftung und Verschriftlichung des Créole guyanais von den Sprachaktivisten weiterhin als essentieller Baustein der kreolischen Sprachplanung angesehen. Dies klingt etwa an in der Berichterstattung anlässlich der Journée créole 2004: Nou pa toujou gen labitid ka ékri kréyòl-a, men lang-an la, li ka viv pou tout bagaj [...]. Nou tout pouvé bay kréyòl-a oun fòrs, si nou ka idé li, kou li menm ka idé nou. Pli bèl fòrs nou pouvé ba li, a idé li rantré annan journal, annan kozé lasyans, lékòl, lapowézi, listwè [...]. […] ‚Nou ka tchenbé rèd, nou pa ka moli‘. (France-Guyane, 28.10.2004; die Autoren des Artikels geben hier auch ihre Vornamen in kreolischer Schreibung als Gotyé Horth und Franswaz Loe-Mie an) [Wir sind nicht immer damit vertraut, das Kreolische zu schreiben, aber diese Sprache kann auch in allen Bereichen verwendet werden […]. Wir alle können dem Kreolischen eine Kraft verleihen, wenn wir ihm helfen, so wie es auch uns hilft. Wir können ihm am meisten Kraft verleihen, wenn wir ihm helfen, in Zeitungen verwendet zu werden, in wissenschaftlichen Vorträgen, der Schule, der Poesie, der Geschichte […]. […] ‚Wir halten durch, wir lassen nicht nach‘; ÜS d. Verf.] Christelle Jonny, Grundschullehrerin in einer französisch-kreolischen classe bilingue, bringt es am 02.11.2011 in der Radiosendung Point d’interrogation zum Thema ‚La place du Créole guyanais dans la société guyanaise‘ im öffentlichen Sender Guyane 1 ère mit der Aussage „D E TOUTE FAÇON , to pé pa fè san ékri-a“ [Auf jeden Fall geht es nicht ohne Verschrift(lich)ung; ÜS d. Verf.] ganz ähnlich auf den Punkt. Die Kodifizierungs- und Ausbaubemühungen für das Créole guyanais haben dementsprechend bis heute eine enorme symbolisch-identitätsstiftende Funktion, die Frage nach seiner ‚Norm‘ und Rolle in der Gesellschaft wird weiter verhandelt. So beschäftigt sich etwa die o.g. Radiosendung u.a. mit der Standardisierung des Créole guyanais, seiner diatopischen Varianz, 84 seiner Funktion als lingua franca sowie dem Sprachkontakt mit anderen in Französisch-Guayana präsenten Idiomen. 85 Mehrere Anrufer bestäti- 84 Insbesondere die Varietäten des Créole guyanais im Gebiet um Saint-Laurent, die aufgrund massiver Zuwanderung von den Antillen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Züge des Antillenkreolischen aufweisen (vgl. Fauquenoy 1974, 30; IRD-CNRS-CELIA 2003, 272), werden lange Zeit nicht als ‚echtes‘ Créole guyanais anerkannt. Heute geht die Tendenz dazu, sie als diatopische Varietäten zu akzeptieren; in Schulbüchern finden sie aber bis jetzt noch keine Erwähnung. 85 In der Sendung äußert sich eine Anruferin folgendermaßen zu ihrem sprachlichen Umgang mit antillanischen Zuwanderern: „Anvan mo té gen tandans palé yé kréyòl mé aprézan mo ka di non, a pou nou palé nou kréyòl é a sé moun-yan ki ka vini […] pou yé menm osi konprann nou kréyòl é entégré yé kò ké nou pa kréyòl“ [Früher habe <?page no="407"?> Verschriftung und Normierung des Créole guyanais 393 gen, die Bemühungen um die Schaffung expliziter sprachlicher Normen für das Créole guyanais zu kennen und signalisieren ihre Bereitschaft, ihr Kreolisch entsprechend ‚perfektionieren‘ zu wollen. Etliche scheinen dabei aber auch das rigide französische Normverständnis vor Augen zu haben: Die Kodifizierung des Créole guyanais führt bei einigen Sprechern regelrecht zu sprachlicher Unsicherheit, so dass diese es aus Angst vor ‚Fehlern‘ in öffentlichen Domänen wie dem Radio gar nicht verwenden möchten. Dies entspricht auch dem bis heute eher mäßigen Vordringen des Créole guyanais in schrift- und distanzsprachliche Funktionsdomänen (vgl. Wiesinger 2014). Insgesamt trifft daher die Bemerkung des kreolischen Sprachaktivisten Robert Loe-Mie wohl bis heute zu: „Nous avons souvent plus de facilités à nous exprimer en créole, mais dès qu’il s’agit d’écrire ou de lire, nous avons l’étrange réflexe de transposer notre pensée en français“ (Loe-Mie im Gespräch mit G. Horth, France-Guyane, 28.10.2003). Bibliographie Anonym (= Hierso, Elie Honoré): „Créole guyanais, quelle orthographe? “. In: Ròt kozé 31, mai/ juin 1993, 4. Anonym: „Emba dégrad“. In: Le Cri d’alarme, 02 février 1893, 4. 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Einleitung Als im Jahr 1991 der fünfte Band zum Romanistischen Kolloquium unter dem Titel „Zum Stand der Kodifizierung romanischer Kleinsprachen“ erschien, um in 21 Beiträgen zur europäischen und außereuropäischen Romania den status quo dieses Themenkreises auszuleuchten, avancierte die Beschäftigung mit sprachlichen Minderheiten, ihrer Normierung und Normalisierung gerade zu einem kanonischen Thema. Als Salzburger Diplomandin war die Publikation für mich damals insofern wegweisend, da erstmals mehrere Kreolsprachen vertreten waren und damit eine vergleichende Perspektive zwischen alter und neuer Romania möglich wurde. Der Sprachausbau von Kleinsprachen ist bis heute ein virulentes Thema, wobei die Standardisierung, in deren Zentrum die Entwicklung und Festschreibung einer allgemeinverbindlichen Norm stehen, einen zentralen Angelpunkt bildet, um der Minderheitensprache den Weg in prestigeträchtige gesellschaftliche Domänen zu ebnen. Die Norm gilt es in Publikationen, z.B. Grammatiken und Wörterbüchern, zu kodifizieren, so dass der Begriff der Kodifikation sich vor allem auf das schriftliche Festhalten der Norm mit hohem Verbindlichkeitsgrad bezieht. Die Frage nach den Veränderungen der letzten beiden Dekaden, die anlässlich des Romanistischen Kolloquiums in Jena 2012 gestellt wurde, ist mehr als legitim, denn die damals vorgestellten Kodifizierungsszenarien und Beispiele haben sehr unterschiedliche Entwicklungen durchlebt. In einigen Fällen scheint die Dynamik abgeschwächt und mittlerweile Ernüchterung eingetreten zu sein, z.B. im okzitanischen und asturischen Sprachgebiet. Anderenorts hat sich die Situation im Zuge einer immer umfassenderen Implementierung der Norm weitgehend konsolidiert, z.B. bei den Bündnerromanen, Galiziern oder auf den Seychellen. Für einige Gebiete hat sich die Kodifizierung noch lange hingezogen, z.B. beim Dolomitenladinischen (vgl. Bauer 2012). Wiederum anderenorts hat sich die Lage Schritt für Schritt verbessert, aber gleichermaßen verkompliziert, da sich zwar die Orthographie- <?page no="416"?> Eva Martha Eckkrammer 402 normen weitgehend durchgesetzt und konsolidiert, die sprachpolitischen Bedingungen hingegen grundlegend verändert haben. Dies ist auf den ABC- Inseln und damit für das Papiamentu 1 der Fall, dessen Verschriftungsprozess Philippe Maurer in seinem Artikel von 1991 fachkundig beschreibt. Eine kritische Sichtung der Entwicklungen seit den 1990er Jahren ist hier angesichts der nachzeitigen Konflikte und Veränderungen durchaus geboten, denn die Niederländischen Antillen, die als politisches Konstrukt für die Sprachgesetzgebung nicht unerheblich waren, existieren seit dem 10.10.2010 nicht mehr. An ihre Stelle tritt eine für die ABC-Inseln heterogene politische Konstellation, die nicht nur die sprachplanerische Kooperation zwischen den drei kreolophonen Inselgebieten erschwert, sondern für die einzelnen Gebiete divergente sprachpolitische Bedingungen herstellt. Im vorliegenden Beitrag möchten wir über diese Entwicklungen nur am Rande berichten, da dies bereits anderenorts im Kontext dieser Reihe geschehen ist (Eckkrammer 2012a). Es gilt vielmehr, in einem ersten Schritt, aufbauend auf grundsätzlichen Überlegungen zur Standardisierung (Pkt. 2), die zentralen Stolpersteine der hoffnungsfrohen Standardisierungsbemühungen des Papiamentu in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts zu beschreiben (Pkt. 3). Dies ermöglicht in einem zweiten Schritt eine Charakterisierung und Bewertung einer bottom-up Standardisierung, wie sie derzeit zu beobachten ist (Pkt. 4). Der Fokus liegt damit auf dem Zeitraum 1990-2013. Die entsprechenden Darstellungen führen uns zuletzt zu der programmatischen Frage, welche Art von Standardisierung für Minderheitensprachen als normal zu bezeichnen sind und damit dazu, dass es an der Zeit ist, den soziolinguistisch konturierten Begriff der Normalisierung zu hinterfragen (Pkt. 5). Denn dieser setzt voraus, dass so etwas wie eine Normalität sprachlicher Situationen und Entwicklungen existiert. Wie wenig greifbar eine solche Normalität aber ist, zeigt sich in Anknüpfung an eine bereits vorliegende Arbeit (Eckkrammer 2012b) entlang Links Versuch über den Normalismus (vgl. Link 2009). Damit gelangen wir zuletzt zu einem Plädoyer für eine Abwendung vom Konzept der sprachlichen Normalisierung zugunsten trennschärferer Begrifflichkeiten, welche auch im Zuge der kontrastiven Beschreibung von Standardisierungsbemühungen sinnvoll zum Einsatz gebracht werden können. In dieser Verbindungskette lässt sich zuletzt der Frage nachgehen, ab welchem Zeitpunkt eine sprachliche Situation - die Dichotomie von Bossong (1997) aufgreifend - als „pathologisch“ bezeichnet werden muss. Darüber hinaus lässt sich hinterfragen, inwieweit sich eine 1 Der Einfachheit halber benutze ich in der Folge die Sprachbezeichnung mit finalem -u, wie sie auf Curaçao und Bonaire Standard ist, wohl wissend, dass auf Aruba Papiamento geschrieben wird. Dieses ist jedoch stets eingeschlossen. <?page no="417"?> 403 suggerierte Normalität bei Kleinsprachen in der Romania anders gestaltet als bei größeren Sprachen. Welche Art von Ausbau ist normal, was gilt als defekt? Gibt es normale und abnormale Bedingungen und Prozesse und woraus werden entsprechende Wahrnehmungen gespeist? Wie schwierig all diese Fragen vor dem Hintergrund der diskursiven Konstruktion von Normalität zu erörtern sind, zeigen die Schlussfolgerungen (Pkt. 6). Offensichtlich führen viele Wege ans Ziel. Welcher Weg dies in welcher Sprachgemeinschaft wie effizient tut, muss sprachpolitisch bewegte LinguistInnen anstacheln, den Prozessen auch weiterhin vergleichend auf den Grund zu gehen. 2. Ausgangspunkte Um uns dem Thema zu nähern, gilt es zunächst jene Kriterien in Erinnerung zu rufen, die für eine Standardsprache anzusetzen sind. Wir folgen dabei Camartin (1992), der die Standardsprache wie folgt charakterisiert: 1. Sie bildet als variantenübergreifende Sprachform die gemeinsame Sprache eines bestimmten Sprachgebiets. 2. Sie ist normiert in Orthographie, Grammatik und Lexikon und liefert so Entscheidungskriterien über das, was sprachlich korrekt, bzw. falsch ist. 3. Sie kann in einer sowohl geschriebenen wie gesprochenen Form vorliegen. Ihr Normcharakter wirkt sich jedoch vor allem im schriftlichen Bereich aus. 4. Sie muß die offizielle Anerkennung innerhalb eines bestimmten Sprachgebiets genießen. Nur darin liegt die Möglichkeit, ihren Gebrauch wirksam durchzusetzen. (Camartin 1992, 212) Die Faktoren der Überregionalität, Kodifiziertheit und der gesamtgesellschaftlichen Gültigkeit, die auch Schreiber (1999, 11) anführt, sind hier abgedeckt, während die Plurivalenz und damit funktionale Differenziertheit nur indirekt für die Diamesik angesprochen wird. Die definitorischen Kriterien für einen Standard werfen bereits an dieser Stelle mehrere Fragen auf, welche z.B. die Kongruenz der Schriftnorm mit der mündlichen Norm betreffen, aber gleichermaßen die Frage, welche Rolle die Schrift im Zuge von Standardisierungsprozessen spielt. Coulmas (1994, 24) folgend ist zunächst die Katalysatorwirkung der Schrift bei der Etablierung eines Standards ins Treffen zu führen, d.h. Kodifizierung als treibende Kraft der Standardisierung, wobei diese Kodifizierung auch im Sinne einer Dachsprache „mehrere divergierende Idiome zu einer neuen Einheit“ zusammenfassen kann (Dahmen u.a. 1991, V). Das erfolgreiche Beispiel des Rumantsch Grischun für das variationslinguistisch stark geklüftete Rätoromanische kann hier als Erfolgs- Standardisierung des Papiamentu/ o revisited <?page no="418"?> Eva Martha Eckkrammer 404 geschichte angeführt werden (cf. Camartin 1992, 123f), während die von den Herausgebern des Bandes von 1991 noch prominent ins Treffen geführte Vereinigung des Serbischen und Kroatischen zu „einer polyzentrischen serbokroatischen Dachsprache“ (durch Vuk S. Karadžić zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vgl. Dahmen u.a. 1991, V) uns die Reversibilität und politische Dependenz solcher Prozesse heute schmerzvoll vor Augen führt. Jedoch führen nicht nur kriegerische Auseinandersetzungen sowie die von regionalen Bildungseliten betriebenen Ausbaubestrebungen romanischer Kleinsprachen (vgl. Dahmen u. a. 1991, VII) zu einer kontinuierlichen Erweiterung des Katalogs anerkannter Schriftsprachen, sondern auch die Konsolidierung kreolischer Sprachen in der Neuen Romania. Dass die Sprachwissenschaft und Romanistik sich hier intensiver einbringen kann und soll, als dies wissenschaftshistorisch der Fall ist, darauf weisen bereits die Herausgeber des Bandes von 1991 hin: Seit sich Sprachwissenschaft deskriptiv und nicht präskriptiv versteht, also seit der Begründung der Romanistik von Friedrich Diez, rechnet man natürlich das Setzen von Normen, das Vorschreiben von Regeln nicht mehr zum eigenen Arbeitsgebiet. Es liegt auf der Hand, daß die aus dieser Haltung resultierende Abstinenz der Romanisten, von allem was mit Norm zu tun hat, problematisch ist: Man verwechselte die Forderung, daß man sich bei wissenschaftlichen Sprachbeschreibungen nicht von eigenen Normvorstellungen leiten lassen darf, mit der Forderung, man solle sich überhaupt nicht mit irgendwelchen Fragen der Normierung beschäftigen; (Dahmen u. a. 1991, XI) Gerade die Rolle der Schrift als zentrales Mittel der Standardisierung und damit die Kodifizierungsfrage muss sprachwissenschaftlich erörtert werden. Nicht zuletzt bedeutet Standardisierung stets auch Verlust und Einschränkung, das Einpendeln auf gemeinsame „Mittelwerte“, wie es Camartin (1992, 121f) nennt. Diesen Verlust der Natürlichkeit, den bereits Saussure als tyrannie de la lettre thematisiert (vgl. Coulmas 1994, 24), gilt es stets gegen die Gewinne des Standardisierungsprozesses aufzurechnen. Wird die Standardisierung pragmatisch durch angewandte Felder, z.B. den Einsatz der Sprache im Schulwesen sowie anderen prestigeträchtigen Domänen, vorangetrieben, so leuchten die Gewinne durchaus ein. Ob ein Standard zur Normalität einer Sprache gehört, bleibt gleichermaßen eine legitime Frage, die rein numerisch auf die Anzahl der weltweit gesprochenen Sprachen gerechnet sicherlich verneint werden muss. Ob eine kodifizierte Standardsprache damit zum Luxus wird, den sich heute unter bestimmten Bedingungen auch kleine Sprachen leisten können, oder aber als Grundlage des Ausbaus zu sehen ist, welcher zur längerfristigen Absicherung des Überlebens unabdingbar ist, muss deshalb in den Raum gestellt werden. In <?page no="419"?> 405 diesem Zusammenhang wiegt vor allem der Faktor schwer, dass Sprachen, welche der Schriftlichkeit entbehren, nach wie vor oftmals im öffentlichen Diskurs um ihren Sprachstatus bangen müssen. Gerne werden sie als minderwertigere Kommunikationsvehikel abgetan. Coulmas thematisiert diese sehr allgemeine Frage, indem er die soziale Konturierung in den Vordergrund stellt, die den „Standard“ dem „guten Sprachgebrauch“ gleichstellt (Coulmas 1994, 21f). Erst die reglementierende Domestizierung der Sprache führe sie zu höheren Weihen und zum abgesicherten Sprachstatus, lässt sich daraus ableiten; gleichermaßen aber auch, dass eben nicht alle Sprachen für alle Domänen geeignet seien. Diese Auffassung wird heute schon aus Gründen des Egalitarismus kaum mehr vertreten, so dass die Leistungsfähigkeit von Sprachen heute als planbar und prozesshaft „herstellbar“ gilt. Diese Sichtweise entpuppt sich für junge Kontaktsprachen als entlastend, da die Standardisierung zu einer Frage der sprachplanerischen Aktivität wird, die zwar insbesondere in der Entwicklung und Implementierung etwas Zeit braucht, jedoch keinesfalls unmöglich ist. Inwieweit die fortgeschrittenen Planungsprozesse der Standardisierung des Papiamentu diese Problemfelder tangieren, soll nunmehr im Detail vor allem für den Zeitraum 1990-2013 thematisiert werden. 3. Hehre Ansprüche und große Unebenheiten - die 1990er Jahre Anknüpfend an den Artikel von Maurer (1991) zur Verschriftung sowie weitere Arbeiten (u.a. Perl 1999, Eckkrammer 2005) sei zunächst reiteriert, dass auf eine ungeordnete Phase der pragmatisch orientierten Verschriftung des Papiamentu, die vor allem durch Missionare vorangetrieben wurde (vgl. Bachmann 2006), ab den 1940er Jahren strukturierte Kodifizierungsbestrebungen nachweisbar sind. Diese werden durch die innenpolitische Unabhängigkeit im Rahmen des Statuuts der Niederländischen Antillen (N.A.) von 1954 befeuert (vgl. Aller 2005, Oostindie/ Klinkers 2001) und münden vor allem im Nachklang der sozio-politischen Unruhen von 1969 in einen Sprachplanungsprozess, der in den 1970er Jahren zur Schaffung zweier offizieller Orthographien führt. Der phonologisch basierte Entwurf von Römer (1969) wird überarbeitet und auf Curaçao und Bonaire offiziell anerkannt, während man sich in Aruba für die leicht etymologisch orientierte Orthographienorm entscheidet. An dieser Kodifizierung wird bis heute, mit Ausnahme kleinerer Anpassungen, in den verschiedenen Inselgebieten festgehalten, so dass im orthographischen Bereich der Prozess als abgeschlossen betrachtet werden kann. Ab diesem Zeitpunkt rückt einerseits die Implementierung dieser doppelköpfigen orthographischen Norm in den Vorder- Standardisierung des Papiamentu/ o revisited <?page no="420"?> Eva Martha Eckkrammer 406 grund, andererseits wird die Entwicklung eines sprachlichen Standards sowie terminologischer Ausbau ins Auge gefasst. Einen zentralen Eckpfeiler der Bestrebungen bildet die Einrichtung der Komishon pa Maneho i Promoshon die Papiamentu (KOMAPA) in den frühen 1980er Jahren sowie einer ersten operativen Einheit zur Sprachentwicklung, genannt Sede di Papiamentu. Im Zuge der Einführung des Kreolischen als Fach im Schulwesen, die 1983 offiziell beschlossen wird, und der damit verbundenen Neuauflage der Orthographie nach Römer-Maduro-Jonis (für Curaçao und Bonaire) 2 , zeichnen sich die zweite Hälfte der 1980er und die frühen 1990er Jahre in punkto Standardisierung durch eine hohe Entwicklungsdynamik aus. Das Übersetzungswesen blüht ebenso auf wie die Publikation originaler Werke, das schriftsprachliche Korpus wächst deutlich und unterstützt das Vordringen des Kreolischen in prestigeträchtige Domänen wie das Schulwesen, die Politik und Verwaltung, die Medien und sichert seinen wichtigen Stellenwert in kulturellen Kontexten. Eine interinsuläre Standardisierungskommission (Komishon pa Standarisashon di Papiamentu, kurz KSP) nimmt ihre Arbeit auf und veröffentlicht die ersten Ergebnisse im Rahmen von vier Wortlisten (KSP 1985, 1988, 1990, 1991). Der Fokus der Standardisierungskommission liegt dabei sowohl auf der gesprochenen als auch auf der geschriebenen Sprache, wobei das Grundlagenpapier der Standardisierungskommission ihre gleichzeitige Rolle als lexikalische „Ausbaukommission“ verdeutlicht. Die KSP sehe sich für existente Wörter (konsepton morfo) als standardisierende Instanz ebenso in der Pflicht wie für Bedeutungen, für die noch keine sprachliche Form existiert (konseptonan amorfo). In jedem Fall wird jedoch ein Verfahrensweg nach onomasiologischem Muster vorgeschlagen. Liegt für eine Bedeutung nach einem konkret ausformulierten Suchmuster kein Wort vor, so hat die Kommission die Aufgabe eines zu schaffen, und zwar a. dor di krea un palabra primario (esta un palabra ku no a derivá ni komponé) kompletamente nobo ku ta kuadra ku kontenido di e “input”; b. dor di fia palabra for di otro lengua. Kreamentu òf fiamentu di palabra no mester sosodé na un manera arbitrario. Por ehèmpel, den kaso ku fia palabram esaki no mester sosodé a base di preferensha pa un lenga partikular. Mester evaluá di kada palabra nobo (sea fiá òf kreá) e siguiente karakterístikanan: su adaptabilidat, su produktividat i su transparensha (Kuadro s.a., 9) 2 Aruba verlässt 1986 den Verbund der N.A., bleibt aber im Rahmen eines Status Aparte mit den Niederlanden verbunden. Den gleichen Status beanspruchen seit der Auflösung der N.A. im Jahr 2010 die Inseln Curaçao und St. Maarten. <?page no="421"?> 407 a. durch Schöpfung eines primären Wortes (das heißt ein Wort, das weder durch Derivation noch durch Komposition entsteht), das völlig neu ist und der Bedeutung des Inputs entspricht; b durch Entlehnung eines Wortes aus einer anderen Sprache. Die Schöpfung oder Entlehnung des Wortes darf nicht auf willkürliche Art und Weise erfolgen. Beispielsweise im Bereich der Entlehnung darf dies nicht auf der Grundlage einer Bevorzugung einer bestimmten Sprache geschehen. Bei jedem neuen Wort (unabhängig davon, ob es entlehnt oder neu geschaffen wurde) müssen die folgenden Charakteristika evaluiert werden: seine Anpassungsfähigkeit, seine Produktivität und seine Transparenz (eigene Übersetzung) Gleich in der ersten Liste stellt die Kommission auf der Grundlage eines Vorschlages des Instituto Lingwistiko Antiano (ILA) ihre termino logiegenerierende Handlungsfähigkeit unter Beweis, indem für die wichtigsten sprachwissenschaftlichen Konzepte Wörter standardisiert werden (KSP 1985). Darüber hinaus wird der Fokus explizit auf Wörter gelegt, welche für die Einführung des Papiamentu in den Schulen für wichtig erachtet werden (ILA 1984, 11). Der wortschöpferische Handlungsrahmen entpuppt sich in der Folge offensichtlich als unstrittiger als jener, bei dem es um die Vereinheitlichung vorhandener Wortvarianten geht. Hier werden innerhalb des modularen Prozesses, der von intrainsulären Subkommissionen (Supkomishon) über die Kleine Kommission (Komishon Chikitu) zu einem entscheidungsbefugten Plenartreffen (Reunion Plenario) führt, Entscheidungen getroffen, welche nach der Ratifizierung im Plenartreffen an das Ministerium für Allgemeine Angelegenheiten sowie das Bildungsministerium weitergeleitet werden. Virulente Diskussionen entstehen dabei nicht so sehr bei Konzepten, für die mehrere Wörter existieren (z.B. seha, kachu di wowo, wènkbrou/ wènbrou für „Augenbraue“, vgl. Kuadro s.a., 3), sondern bei relativ geringen Ausdifferenzierungen, die im Papiamentu den im Kuadro formulierten Rahmenbedingungen folgend (Kuadro s.a., 6) vor allem durch variationslinguistisch relevante Hinzufügungen von Konsonanten oder Vokalen (z.B. demonstrá vs. demostrá „zeigen“), durch metathetische Bildungen (z.B. tempran vs. trempan „früh“), durch Mutationen von Diphthongen in Vokale (z.B. weita vs. weta „sehen“), durch Lautveränderungen (tendensia vs. tendensha) und Vokalharmonisierungen (z.B. olefanti vs. olefante oder olifanti „Elefant“) entstehen. An diesen relativ geringen Unterschieden zerbricht die Standardisierungskommission, als sie nach mehrstündiger Diskussion um das letztgenannte Beispiel („Elefant“) die Einigung für aussichtslos erklärt und aufgibt. Die Problematik liegt damit in der Akzeptanz des Umstandes, dass eine Schriftnorm niemals der gesprochenen Sprache entsprechen kann, Standardisierung des Papiamentu/ o revisited <?page no="422"?> Eva Martha Eckkrammer 408 d.h. stets eine Abstraktion derselben bedingt und niemals der gesamten Variationsbreite einer Sprache Rechnung tragen kann, selbst wenn bereits schriftsprachliche Usualisierungen stattgefunden haben. Inwiefern dabei auch die Sorge einer Domestizierung der Mündlichkeit durch eine schriftliche Norm zur Sprache kam, ist schwer nachvollziehbar. Der relativ geringe Komplexitätsgrad des finalen Worthindernisses lässt jedoch selbst angesichts großer linguistischer Expertise darauf schließen, dass die Angst vor einem Verlust regionaler Variation groß gewesen sein muss. Die politischen Spannungen, die etwa zeitgleich zu einer ersten Absplitterung innerhalb des Inselverbandes führen (vgl. Fußnote 2), tragen zweifellos zur Verschärfung der Diskussion bei, so dass das jähe Ende der sehr professionell betriebenen Standardisierungsarbeit seitens der offiziell eingesetzten Kommission in der ersten Hälfte der 1990er Jahre als politisches Pfand betrachtet werden muss. Dieser Zustand hält im Kern bis heute an, und angesichts der rezenten (sprach)politischen Veränderungen erscheint er derzeit auch kaum reversibel. Die zunehmende politische Zersplitterung, die 2010 in der vollständigen Auflösung der N.A. kulminiert (cf. zu den Details Eckkrammer 2012a), führt zu einer sprachpolitischen Heterogenisierung, welche eine interinsuläre Standardisierung weitgehend utopisch werden lässt. Hinzu kommt eine ökonomische Krise, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre vor allem die Hauptinsel Curaçao erfasst, wodurch einerseits die finanziellen Mittel für die sprachplanerische Arbeit und andererseits deren sprachwissenschaftliche Unterfütterung schwieriger werden. Ausdruck dieser Veränderungen sind u.a. die Schließung des ILA sowie die Umwandlung der Sede di Papiamentu in ein Instituto Nashonal di Idioma, das 1998 via Umgründung in die heute sprachplanerisch operierende Stiftung Fundashon pa Planifikashon di Idioma (FPI) mündet. Aruba schlägt einen eigenen Weg ein, der zwar zu einem früheren Zeitpunkt zu einer Offizialisierung des Kreolischen führt (2003), auf sprachplanerischer Ebene jedoch - nicht zuletzt motiviert durch die unterschiedliche, etymologisch geprägte Orthographie von L. Daal - weitgehend auf eine Abkoppelung der Prozesse abzielt. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre differenziert sich der Standardisierungsansatz dadurch räumlich aus und wird pragmatischer. Er mutiert von einem sprachpolitisch gesteuerten top-down Prozess im Sinne der Findung einer allseits akzeptierten schriftsprachlichen Koiné in zwei orthographischen Ausformungen sowie eines parallel betriebenen terminologischen Ausbaus zu einem weniger formal geplanten bottom-up Prozess, der vor allem Antworten auf sprachpolitische Notwendigkeiten zu geben versucht. Auch die schulpolitischen Stoßrichtungen differenzieren sich in dieser Zeit aus, wobei in Curaçao und Bonaire 2003 die Grundschul- <?page no="423"?> 409 Regelausbildung an öffentlichen Schulen auf das Kreolische umgestellt wird, während Aruba das Kreolische als Ko-Unterrichtssprache im Rahmen von bilingualen Programmen vorsieht. Wie eine solche Standardisierung von unten konkret aussieht, soll in der Folge beispielhaft skizziert werden. 4. Wie aus der Not eine Tugend wird - standardization bottom-up Zunächst sei unumwunden festgestellt, dass die Fragmentation und räumliche Ausdifferenzierung der Standardisierungsbemühungen die Offizialität derselben deutlich schwächt. Das hochgesteckte Ziel, trotz der orthographischen Dualität zu einem gemeinsamen schriftlichen Standard zu gelangen, rückt für das Papiamentu durch das Scheitern der Kommission in die Ferne und verschlechtert seine Position v.a. in Bezug auf einen strukturierten terminologischen Ausbau. Die FPI intensiviert allerdings ihre Aktivitäten und setzt insbesondere auf die Arbeit an didaktischen Materialien sowie die zielgruppengesteuerte Erweiterung des schriftsprachlichen Korpus (vgl. FPI 2008). Angesichts der Umbrüche im Schulwesen, welchen sich lediglich die protestantischen und privaten Schulen entziehen, entfaltet die FPI über ihre Publikationen Wirksamkeit von unten. Es handelt sich damit im Kern um eine Standardisierung von unten, die darin besteht, die Korpusproduktion anzuregen, v.a. durch Aktivitäten im Bereich der Übersetzung von Kinder- und Jugendliteratur (cf. Eckkrammer 2013). Gleichzeitig setzt man jedoch auch auf die Schaffung von originalen Werken (v.a. auch didaktischer Natur) sowie auf eine Steigerung der Domänenpräsenz und Intensivierung der Terminologiearbeit für das Kreolische selbst unter schwierigen ökonomischen Bedingungen. Denn wenngleich die FPI sich für alle auf der Insel Curaçao gesprochenen Sprachen zuständig fühlt, liegt der Fokus auf dem Ausbau und der sprachplanerischen Begleitung des Kreolischen: Di e diferente idiomanan den komunidat, papiamentu ta esun ku ta haña mas tantu atenshon. Dipursi papiamentu ta e idioma di uzo general ku tin mas tantu papiadó nativo. Ta pa esei tambe e ta e idioma ku lo duna mas fruta den enseñansa, sigur na komienso di un mucha su trayektorio den enseñansa. Komo e idioma akí ta relativamente yòn, mester dediká èkstra atenshon na su proliferashon. Teniendo kuenta ku e konsiderashonnan akí, gobièrnu a fiha komo su intenshon di maneho pa duna papiamentu un papel muchu mas supstansial den komunidat i prinsipalmente enseñansa di Islanan Abou. (FPI 2007, online) Unter den verschiedenen Sprachen der Gesellschaft ist Papiamentu jene, die der größten Aufmerksamkeit bedarf. Zunächst ist Papiamentu die Sprache Standardisierung des Papiamentu/ o revisited <?page no="424"?> Eva Martha Eckkrammer 410 mit dem breitesten Gebrauch und der größten primärsprachlichen Sprecher- Sprechergruppe. Aus diesem Grund ist es auch die Sprache, die im Bereich der Schulbildung die größte Durchschlagskraft besitzt, insbesondere am Beginn der schulischen Karriere eines Kindes. Nachdem diese Sprache vergleichsweise jung ist, muss auf ihre Weitergabe besonderer Wert gelegt werden. Unter Beachtung dieser Abwägungen hat die Regierung beschlossen ihren sprachplanerischen Fokus darauf zu legen, dem Papiamentu in der Gesellschaft eine noch substantiellere Rolle zukommen zu lassen und dies im Besonderen im Bildungswesen der Inseln unter dem Winde. (eigene Übersetzung) Die drei Handlungsbereiche der FPI sind demgemäß heute Status, Korpus und Sprachdistribution. Im Bereich des Status fühlt sich die FPI zuständig für die Erarbeitung sprachpolitischer Konzepte, für einschlägige linguistische Begleitforschung und die Erstellung von Expertisen für offizielle Kommissionen (z.B. Orthographiekommission). Der Bereich Korpus zielt einerseits auf das Sprachsystem selbst ab und damit auf 1. Richtlinien für korrekte Aussprache (insbesondere in Zweifelsfällen) 2. Orthographienormen und ihre Durchsetzung (z.B. Orthogra phienormbüchlein, Rechtschreiblehrmethode für die Grundschule) 3. Pflege des Wortschatzes (z.B. durch Erstellung eines Lehrerwörterbuches für den Grundschulbereich, durch eine lexikalische Datenbank, lexikographische Werke) 4. Syntaktische Beschreibung und ihre Didaktisierung (vgl. FPI 2007) Gleichermaßen wird im Bereich Korpus die zweite linguistische Dimension des Terminus adressiert, sodass auch Ziele im Bereich der Sprachpflege sowie der ausbaurelevanten Korpusvergrößerung explizit mit entsprechenden Maßnahmen verfolgt werden: 5. Förderung des guten Sprachgebrauchs in Gebrauchstexten (z.B. durch Leitlinienpublikationen wie „Bon uzo di papiamentu“, ein ent sprechendes Radioprogramm, Übersetzungen) 6. Förderung der Literaturproduktion (z.B. Kinderbücher, Übersetzungen von Literatur im Rahmen des Proyecto Tradukshon Literario) (vgl. FPI 2007) Der dritte Handlungsbereich, die Sprachdistribution, bei der es vor allem um die Bereitstellung hochwertiger Lehrmittel und Leseprodukte geht, ist nicht nur auf kreolophone Schriften beschränkt, sondern umfasst im didaktischen Bereich auch Methoden, die papiamentusprachigen Kindern den Fremdsprachenerwerb (z.B. des Englischen und Spanischen) erleichtern sollen. Hinsichtlich der Sprachdistribution werden alle Altersgruppen adressiert, d.h. der Grund- und Sekundarschulbereich ebenso wie die <?page no="425"?> 411 Erwachsenenbildung, um etwa über spezifische Orthographie- und Schreib- Schreibkurse sowie Leseerfahrungen die Kompetenz und Sicherheit im schriftlichen Gebrauch des Kreolischen zu erhöhen. Dieser letzte Fokus resultiert nicht zuletzt daraus, dass ein großer Teil der heute Erwachsenen keine Skolarisierung in kreolischer Sprache durchlaufen hat und die eigene Schreibfähigkeit als defizitär bezeichnet 3 . Zuletzt liegt ein Schwerpunkt auf dem Mediensektor, d.h. eigener Periodika wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Natur sowie der Erstellung eines periodisch erscheinenden Katalogs von Publikationen der FPI (z.B. FPI 2008). Dass die FPI seit 1998 auch massiv als Verlegerin in Erscheinung tritt, kann als Sachzwang gesehen werden, da das Verlagswesen der Inseln durch das Orthographieschisma sowie ökonomische Schwierigkeiten seit den späten 1990er Jahren stark geschwächt ist und vielen AutorInnen deshalb lediglich das riskante und zeitaufwändige Mittel des Eigenverlags zur Verfügung steht (vgl. Eckkrammer 2013, 108). Die aktuelle Homepage der FPI erwähnt 78 Buchpublikationen, wobei die Mehrheit nach wie vor in den Bereich übersetzter Kinderbücher fällt (40). Dass die für die Publikationen erarbeiteten Lexeme auch Teil des Standards werden, dafür sorgt eine Sprachdatenbank (Banko di palabra), die bei der Stiftung betrieben wird. In diese werden seitens der Reda di Traduktor, der Gruppe der ÜbersetzerInnen der FPI, und Einzelpersonen Lemmata eingespeist, wobei auch der Datenbestand des Bibelübersetzungsprojekts (vgl. Eckkrammer 1996, 253ff) übernommen wurde. Versucht man die Fülle der Aktivitäten zusammenschauend zu erfassen, so lässt sich eine durchgängige Konstante feststellen: Sie alle tragen nicht nur zur Entwicklung, sondern gleichermaßen zur Implementierung eines Standards von unten bei, d.h. jede Leseerfahrung, jeder schulische, administrative oder wirtschaftliche Kontakt mit dem Kreolischen würde in den Aktionskreis der SprachplanerInnen des FPI fallen. Sie beraten, korrigieren, publizieren und leiten in der Multiplikatorentätigkeit an. Wir könnten damit von einem Standardisierungsprozess sprechen, der nunmehr zumindest auf der Insel Curaçao Platz greift, aber auch darüber hinaus Wirkung entfaltet. Es bleibt einerseits zu hoffen, dass dem Inselgebiet angesichts der neuen politischen Konstellation die dazu notwendigen finanziellen Mittel auch mittel- und langfristig zur Verfügung stehen 3 Im Zuge der ersten Implementierungsphase der Orthographienorm in den 1980er und 1990er Jahren werden im Zuge eines Programms zur Rekapasitashon lediglich Multiplikatoren wie JournalistInnen oder MitarbeiterInnen der öffentlichen Verwaltung mit schriftsprachlichen Kompetenzerweiterungskursen trainiert. Standardisierung des Papiamentu/ o revisited <?page no="426"?> Eva Martha Eckkrammer 412 werden und Desiderata wie eine Schulgrammatik oder ein umfassendes monolinguales Referenzwörterbuch möglich werden. Andererseits bleibt zu hoffen, dass die Werke über das Inselgebiet hinaus Wirkung entfalten, etwa in den Niederlanden, Aruba und Bonaire. Auf der letztgenannten Insel Bonaire, die seit der Auflösung der N.A. den politischen Status einer niederländischen Gemeinde hat und damit gesetzgebungstechnisch mit der vormaligen Sprachgesetzgebung der N.A. nur mehr in einer Übergangsregelung verbunden bleibt, zeichnet sich eine schwierige Situation ab, die wieder in Richtung Niederlandisierung tendiert (zur konkreten Bildungsagenda vgl. Eckkrammer 2012a). Inwieweit die in der Charta zum Schutz der europäischen Minderheiten- und Regionalsprachen festgeschriebenen Schutzbedingungen auch in den Antillengemeinden für das Papiamentu Anwendung finden werden, bleibt abzuwarten. Die politische Fragmentierung schwächt die Standardisierungsbemühungen damit ein zweites Mal und es bleibt zu hoffen, dass sich auch in der neuen politischen Konstellation ausreichend sprachbewegte und -kompetente Menschen finden, welche über diese Hürden hinweg die Standardisierungsfortschritte auch in Bonaire wirksam werden lassen. Eine Formalisierung der politischen Zusammenarbeit wäre dafür eine unabdingbare Voraussetzung. Aus soziolinguistischer Perspektive lässt sich zu den Stan dardisierungsbestrebungen des Papiamentu in jedem Fall konkludieren, dass es sich um einen Prozess handelt, der Hand in Hand mit einer Normalisierung der Sprachsituation vollzogen wird, wie sie begrifflich für die gesellschaftliche Funktionalisierung einer Sprache von der katalanischen Soziolinguistik geprägt wurde. Inwiefern die beschriebene Entwicklung der parallel geschalteten Normierung und Normalisierung jedoch ein Schritt Richtung sprachlicher Normalität bedeutet und wie eine solche überhaupt festgestellt werden kann, soll uns ausschnitthaft im nachfolgenden Kapitel beschäftigen. 5. Standardisierungsprozesse - gibt es einen normalen Weg zur Norm? Schon ein oberflächlicher vergleichender Blick auf Standardisierungsprozesse europäischer Sprachen (u.a. Ammon/ Mattheier/ Nelde 1988) weist die Wege als verschiedenartig aus. Zunächst gilt es jedoch, trennscharf Norm von Normalität abzugrenzen, denn am Beginn des sprachwissenschaftlichen Normbegriffs (Coseriu 1952) steht als Norm lediglich jene Sprachform, die von den SprecherInnen einer Sprache aus dem gesamten Kreis des <?page no="427"?> 413 Möglichen als gängig und üblich anerkannt wird. Damit steht am Anfang ein pragmatisch gebundener Normbegriff, der noch keine präskriptive Ausrichtung aufweist. Er umfasst all das, was sich später in der Trennung von präskriptiven Soll-Normen (Standard) und deskriptiven Gebrauchsnormen (Nonstandard, zur Begrifflichkeit vgl. zusammenfassend Schreiber 1999, 11f) fassen lässt. Im vorliegenden Beitrag wurde freilich der Blick auf die Entwicklung des Standards, d.h. eines normierten Referenzpunktes gerichtet, der sich vom sprachlich Üblichen und Normalen (Gebrauchsnormen) zweifelsfrei unterscheidet. Das Verhältnis zwischen Norm und Normalität ist insofern stets relevant, da jene sprachlichen Formen, die in Standardisierungsprozessen in der Regel diskutiert werden, um offiziell zum Sprachsystem gehörig erklärt zu werden (z.B. durch Lexikalisierung), sich zunächst als auf der Gebrauchsebene als üblich und damit (statistisch gesehen normal) etablieren. Auf einer Ebene der Normalität zweiter Ordnung lässt sich jedoch auch fragen, ob es Konstanten und damit eine statistisch nachweisbare wie auch diskursiv verankerte Normalität auf dem Weg zur sprachlichen Norm gibt. Auf dieser Metaebene lässt sich Normalität in romanischen und germanischen Sprachgemeinschaften vor allem dann festmachen, wenn wir ausschließlich die sich herausbildenden Nationalsprachen und ihre Polyfunktionalisierung in der Schriftlichkeit und Mündlichkeit fokussieren (vgl. u.a. Haarmann 1993). Die Strahlkraft eines höfischen Soziolekts, wie er etwa für das Französische und Spanische im Mittelalter und darüber hinaus normtreibend wirkt, und dessen sukzessiver Ausbau scheint allerdings nur unter spezifischen historischen Bedingungen und einer damit einhergehenden dominanten Sozialordnung, z.B. Feudalsystem, durchsetzbar zu sein, wobei die regional gesprochene und mitunter geschriebene Kontinuität und damit die Gebrauchsnormen streckenweise noch unberührt bleiben. Der Normalfall ist jedoch, dass Ver drängungsmechanismen einsetzen, welche mittelfristig zu einer klaren soziolinguistischen Domänenverteilung führen, die auch die Aufteilung in National- und Minderheitensprachen mit sich bringt. Punktuell formen jedoch auch kleine Sprachen jenseits der Fünf- Millionen-Grenze durch literarische Verwendungskontexte prestigeträchtige Schreibtraditionen aus, z.B. das Galizische und Okzitanische (zum Messparameter Prestige vgl. Haarmann 1991). Diese Errungenschaften helfen in einer späteren Normierungsphase jedoch nur bedingt - in der Regel als Qualitätsbeweis für die Sprache, ihre Traditionalität und schriftkulturelle Leistungskraft an sich. Sie bedingen jedoch gleichermaßen Problemstellen, da die historische Schreibtradition zumeist nicht nur heterogen, sondern gleichermaßen in einer Zeit gebunden ist, d.h. sie ist nur Standardisierung des Papiamentu/ o revisited <?page no="428"?> Eva Martha Eckkrammer 414 aus der Schreibtradition und Mehrsprachigkeitskultur der Epoche heraus zu verstehen und zu erlernen. Bei einer Kodifizierung in der Moderne steht die Minderheitensprache dann neben anderen Sprachen, welche vehement den Weg zur Nationalsprache beschritten haben und damit im lexikalischen Ausbau von Belang sind. Welches Orientierungsmuster stärker wirkt oder ob sogar zu einer Verschriftung nach phonologischem Muster gegriffen wird, darüber entscheiden verschiedene Faktoren. Eine vergleichende Sichtung der Beiträge aus dem Band von 1991 (Dahmen u.a.) zeigt bereits, dass ein normaler Weg zu Norm für Minderheitensprachen in der Romania Continua und Nova abseits ganz grober Linien - d.h. dass aus Sprachpflege nach und nach Sprachpolitik wird und dass zumeist mit der orthographischen Normierung begonnen wird - kaum festgemacht werden kann. Gleichermaßen wird aber deutlich, dass der postkoloniale Kontext andere Herausforderungen birgt. Fest steht, dass im Zuge der Bildung der europäischen Nationen im 19. Jahrhundert sowie der zunehmenden Skolarisierung die Nationalsprachen vollends zur unangefochtenen conditio sine qua non von Bildung und sozialem Aufstieg werden. Dieser Umstand lässt sich nicht auf postkoloniale Begebenheiten übertragen, da dort vor allem die dekolonisierenden Entwicklungen des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung sind, d.h. eine Zeit, in der das Konzept der Sprache als Vehikel nationaler Identität bereits fest in den Köpfen verankert ist. Kolonien geraten im Zuge der Dekolonisierungs- und Unabhängigkeitsbestrebungen dadurch vielfach in die Bredouille: Einerseits besteht eine kritische Haltung oder sogar Ablehnung gegenüber der Sprache des (ehemaligen) Mutterlandes. Andererseits ist oftmals keine alternative standardisierte Sprache in Sichtweite, welche die Rolle nahtlos übernehmen könnte. Der geringe Ausbaugrad regionaler Sprachen mutiert dabei gerne zum zentralen Argument für die Beibehaltung einer Kolonialsprache als offizieller Sprache. Besonders schwierig gestaltet sich dieser Prozess, wenn die von der Mehrheit gesprochene Sprache in der (ehemaligen) Kolonie eine aus der Kolonialzeit belastete Sprache ohne historisch weit zurückreichende Tradition ist, da sie ohne Kolonisierung und Sklavenhandel gar nicht erst entstanden wäre, d.h. bei Kreolsprachen. Der Umstand eine vergleichsweise junge Sprache zu sprechen, welche zumeist parallel zu einem sozialen Kreolisierungsprozess entstanden ist, kann entlastend und identitätsbildend, aber auch stark belastend wirken. Bereits Stein (1987) spricht diese Problematik an, wenn er auf das gegenüber Fremden klar manifestierte Unbehagen eingeht, das KreolsprecherInnen auf Mauritius in der Regel an den Tag legen, wenn sie in kreolischer Sprache angesprochen werden. Auch auf den N.A. wird mir diese Einschätzung im Rahmen der Feldforschung in <?page no="429"?> 415 den 1990er Jahren mehrfach deutlich vor Augen geführt: Mit Fremden Kreo- Kreolisch zu sprechen gilt auch dort als ostentatives Symbol der Unbildung. Freilich vertreten sprachplanerisch aktive Entitäten sowie viele SprachpflegerInnen in kreolophonen Gebieten bereits zu diesem Zeitpunkt divergente Auffassungen, ausgelöscht sind die entsprechenden Einstellungen allerdings bis heute nicht. Ihr Einfluss auf das Normbewusstsein kreolophoner Sprachkulturen ist offensichtlich (vgl. die rezente Studie von Seiler 2012). Oftmals wird in diesem Wahrnehmungsduktus dann in einem Atemzug die Sinnhaftigkeit jeglicher Standardisierungsbemühungen in Zweifel gezogen, da diese für historische „Unfälle“, denen bestenfalls Dialektstatus zugesprochen werden könnte, gar nicht lohnten. Inwiefern nunmehr in kreolischsprachigen Gebieten eine Standardisierung gelingt und in normalen Bahnen abläuft, hängt von mehreren Faktoren ab - v.a. von der Geographie und Demographie (Einzelinsel versus Archipel, Zentrum versus Peripherie bzw. Diaspora) sowie von sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren (postkoloniale Abhängigkeitsverhältnisse, sozio-politische Stabilität, Bruttoinlandsprodukt etc.). Dass eine komplexe politische Dependenzsituation den Bemühungen entgegenwirkt, liegt bei einem kontrastiven Blick auf einige Gebiete zunächst auf der Hand. Auf der einen Seite des Kontinuums wäre etwa das Seselwa, das Frankokreolische der Seychellen, einzusortieren, welches im Fahrwasser der Selbstverwaltung ab 1970 und der nachfolgenden Unabhängigkeit im Jahre 1976 eine rasante Kodifizierung und hohe Domänenpräsenz erreicht (vgl. Bollée 1991) und bis heute einen kontinuierlichen Ausbau durchläuft 4 . Mit gewissem Abstand ist die Situation auf Mauritius und den Kapverden zu betrachten, da etwa auf Mauritius vor allem in der schulischen Bildung und der Verwaltung fest an Kolonialsprachen festgehalten wird und damit die Verbreitung des Standards schwieriger ist (vgl. u.a. Stein 1991). Auf den Kapverden mit ihrer komplexen Archipelsituation lässt sich zwar im Zuge der Alphabetisierungskampagnen eine Kodifikation und Platznahme des Kreolischen im Schulbereich feststellen. Die Implementierung eines dachsprachlichen Standards für alle Varietäten gestaltet sich hier schwierig (vgl. u.a. Quint 2000, Lang 2002). Sobald die postkolonialen politischen Konstrukte komplexer werden -, z.B. 4 Dafür zeichnet vor allem das staatlich finanzierte Lenstiti Kreol auf Mahé verantwortlich: 2013 erscheint dort etwa unter dem Titel Gramatik Seselwa eine erste umfangreichere Grammatik für den lokalen Gebrauch. Kontinuierlich wird an Übersetzungen (z.B. Laferm Zannimo 2011, eine Übersetzung Georgine Roberts von George Orwells Animal Farm) sowie der Produktion originaler Werke gearbeitet, z.B. durch Literaturpreise und nachfolgende Eigenverlagsproduktionen. Standardisierung des Papiamentu/ o revisited <?page no="430"?> Eva Martha Eckkrammer 416 Status eines französischen DOM oder TOM - nehmen die Problemstellen weiter zu, da eine stärkere Anbindung an politische Entscheidungen des Mutterlandes gegeben ist. So wären hier, ohne auf Vollständigkeit und interne Unterschiede abzielen zu können, das Kreolische von Guadeloupe und Martinique oder jenes der Insel Réunion einzuordnen. Ist ein Sprachgebiet wiederum politisch stark fragmentiert und dies über eine weltweite sowie im Mutterland evidente Sprecherdiaspora hinaus, schwächt dies die Kooperation innerhalb der Sprechergemeinschaft. Neben der offensichtlichen Konstante, dass Sprachausbau deutlich von ökonomischen Faktoren abhängt, lässt sich damit festhalten, dass die Normalität von Standardisierungsprozessen nur unter Berücksichtigung von sozio-demographischen, politischen wie ökonomischen Faktoren eruiert werden kann. Das Papiamentu nimmt aufgrund der seit dem 10.10.2010 herrschenden politischen Konstellation zweifellos eine Position am anderen Ende des Kontinuums ein, profitiert jedoch nach wie vor von den politischen und ökonomischen Gegebenheiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für die ABC-Inseln gilt heute das politische Konzept der „extended statehood“, welches nach Allen (2010) jedoch die Herausbildung von Identitäten erschwert: The new concept fails to take into account the unequal power relationships that have often endured since colonial times and that are sometimes reinforced by the present global order. It also says very little about how culture is experienced and contested in a globalized world and within multicultural constitutional arrangements. (Allen 2010, 121f) Von einer normalen und damit in Anlehnung an Link (2009, 174) störungsfreien Entwicklung ist damit nicht auszugehen. Wo jedoch die Störung bzw. das Pathologische beginnt, ist aus wissenschaftlicher Perspektive kaum im Detail nachweisbar. Kritisch zu hinterfragen bleibt damit in einem letzten Schritt, ob für postkoloniale Gebiete überhaupt Normalität auf sprachlicher Ebene als fixe Größe angesetzt werden kann und damit auch der Terminus der Normalisierung, der von der katalanischen Soziolinguistik geprägt wurde, berechtigt ist. Bereits Kabatek (1995, 26) hebt hervor, dass Normalität kein wissenschaftlicher Begriff ist, sondern allenfalls ein statistischer. Gleichermaßen ruft Kabatek (1995) die Sprachwissenschaft dazu auf, ideologische Unterwanderungen des Normalitätsbegriffs aufzudecken. Ist es normal, die Sprache des ehemaligen Mutterlandes mit der Unabhängigkeit vollends in allen Domänen zu ersetzen und autochthone Sprache entsprechend zu funktionalisieren? Haben Menschen folglich das Recht, mit <?page no="431"?> 417 und in ihrer Primärsprache in allen gesellschaftlichen Domänen schriftlich wie mündlich zu interagieren, ohne dass dies als unmöglich oder auffällig empfunden würde? Aus dem Blickwinkel der deskriptiven Normalität, die auf kulturellen Konventionen und damit Normkonformität und Regelhaftigkeit beruht (vgl. Link 2009, 174f), sicherlich nicht. Aus der Perspektive einer normativen Normalität, die sich aus statistischen Werten errechnet, ebenso wenig. Der linguistische Normalisierungsbegriff ist damit mehr als irreführend und fußt in ideologischen Prinzipien. Auch mit Blick auf die Entwicklungen im Katalanischen lässt sich heute feststellen, dass die allumfassende Implementierung und Funktionalisierung der unter Franco unterdrückten Primärsprache - wie sie ab den späten 1970er Jahren propagiert wurde - weiter geführt hat als zu einer vor dem Bürgerkrieg evidenten Normalität, die als Messpunkt herangezogen werden könnte. Der soziolinguistische Terminus der Normalisierung bedeutet damit wesentlich mehr: Er bezieht sich auf das entwicklungsperspektivisch für die Sprache hinsichtlich der Funktionalisierung Erreichbare, ohne auch nur statistisch belegbare Normalität oder vorherige Konventionalität als Messlatte heranzuziehen. Es ist damit an der Zeit, den Terminus zu ersetzen durch den neutraleren Begriff der Funktionalisierung, und sich insbesondere in postkolonialen Gebieten davon zu verabschieden, dass es eine Zielgröße einer normalen sprachlichen Situation gibt. 6. Schlussfolgerungen Der Blick auf die letzten beiden Dekaden, um neuerlich den Stand der Kodifizierung und Standardisierung des Papiamentu zu überprüfen, zeigt deutliche Fortschritte - und dies selbst angesichts der Tatsache, dass von einem top-down-Prozess zu einer Standardisierung „von unten“ übergegangen wurde. Letztere fokussiert vor allem Gebrauchsnormen und damit Sprache im Kontext, indem über eine klare Linie in den didaktischen Werken sowie in der Literaturproduktion jener Standard geschaffen wird, dessen Inkonklusivität von Vielen noch als Grund für die Ablehnung des Kreolischen in den Schulen (vgl. Müllner 2004, 41) herangezogen wird. Dennoch lassen sich aus den Beobachtungen schon aufgrund der Absenz klarer Paradigmata von Normalität in Ausbauprozessen - jenseits ganz grober Linien - Spezifika ablesen, die dem Papiamentu selbst unter den neuen sprachpolitischen Prämissen einen weiteren standardisierenden Ausbau wahrscheinlich machen - vielleicht gerade weil dieser unter diesen neuen sprachpolitischen Bedingungen nur „von unten“ kommen kann. Die Vitalität der Kreolsprache ist domänenspezifisch gewachsen, so dass heute Standardisierung des Papiamentu/ o revisited <?page no="432"?> Eva Martha Eckkrammer 418 keine gesellschaftlichen Bereiche mehr existieren, aus denen das Kreolische ausgeschlossen ist. Vielleicht ist es an dieser Stelle heilsam, die Utopie einer vollständigen Standardisierung aller Gebrauchsnormen von Sprache in den Raum zu stellen, eine Utopie, die wohl alle Sprachen gleichermaßen betrifft - große wie kleine. Welchen Raum nunmehr das Papiamentu und dessen Schriftlichkeit in den neuen politischen Konstellationen einnehmen wird, ist nicht vorhersehbar. Deutlich wird in jedem Fall, dass die Standardisierung nicht auf die Domestizierung der gesprochenen Kontinuität des Kreolischen abzielt, sondern diese - ganz im Gegenteil - im schriftsprachlichen Bereich weiterer Ausbaustufen etwa auch in der Terminologiearbeit bedarf, bis der Weg zur Vollsprache vollends bestritten ist. Dass die Übersetzung dabei nach wie vor eine tragende Rolle spielt, steht ebenso außer Zweifel. Bibliographie Allen, Mary Rose: “The Complexity of National Identity Construction in Curaç-o, Dutch Caribbean”. In: European Review of Latin American and Caribbean Studies 89, October, 2010, 117-125. Aller van, H.B.: Overzicht Staatkundige Geschiedenis Nederlandse Antillen en Aruba 1634 - 2006. Aruba, 2005. Ammon, Ulrich / Mattheier, Klaus / Nelde, Peter H. 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An diesen beiden Formen sieht man schon auf den ersten Blick, dass es keine einheitliche sprachliche Norm für die drei kleinen Inseln gibt, die nach dem Fischer- Weltalmanach 2013 273.345 Bewohner zählen (Aruba: 108.000; Bonaire: 15.666; Curaçao: 149.679; hinzu kommen die etwa 100.000 Inselbewohner, die vorübergehend oder dauerhaft in den Niederlanden leben, Vedder/ Kook 2001, 176). Diese Kleinsprache, deren Wortschatz zu etwa zwei Dritteln aus iberoromanischen Elementen und zu einem Drittel aus niederländischen Elementen besteht (Kramer 2004, 99 und 139), stellt insofern unter den normalerweise ja recht spät bezeugten Kreolsprachen eine Besonderheit dar, weil das erste längere handschriftliche Sprachzeugnis sehr früh, nämlich schon im Jahre 1775, auftaucht (Kramer 2004, 217-222) und weil es gedruckte Texte ununterbrochen von 1833 an gibt (Kramer 2008, 105-106). Eine eigentliche Literatur im engen Sinne des Wortes existiert vom Anfang des 20. Jahrhunderts an (Kramer 2012a). Die heutige Besiedlung der drei Inseln ist ein Resultat der niederländischen Kolonialgeschichte. Am 28. Juli 1634 fuhr Jan van Walbeeck mit seiner Flotte von sechs Schiffen in die Santa-Ana-Bucht auf Curaçao ein, die zweiunddreißig Spanier und etwa 500 Indianer wurden einen Monat später aufs Festland gebracht, so dass die Insel - abgesehen von etwa fünfundsiebzig Indianern, die sich verstecken konnten - menschenleer war; nur etwa 500 Seeleute, Soldaten und Angestellte der niederländisch-westindischen Handelskompagnie (W. I. C.) bevölkerten Ende 1635 die Insel. 1636 wurden die Nachbarinseln Aruba und Bonaire kampflos von den Niederländern eingenommen, die dort für die nächsten rund einhundertfünfzig Jahre nur Pferdezucht und Salzgewinnung betrieben und keine Dauersiedlung zuließen (Kramer 2004, 17-18). <?page no="436"?> Johannes Kramer 422 Seit etwa 1640 stiegen die Niederländer in großem Maßstab ins Sklavenhandelsgeschäft ein und machten Curaçao zu einem wichtigen Umschlagplatz, wobei aus den Lagern (z. B. Zuurzak) jährlich etwa 3000 Sklaven an die spanischen Abnehmer in den Ländern rund um das Karibische Meer verkauft wurden. Im 18. Jahrhundert war der Sklavenhandel rückläufig: Das letzte Schiff lief 1778 ein, 1818 wurde der Sklavenhandel verboten, die Sklaverei wurde mit der Emanzipation 1861 abgeschafft. Auf Curaçao blieben vergleichsweise wenige Sklaven: In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kamen etwa 600 Ackerbausklaven ( veldskaven/ catibunan di cunuku ) und 1800 Haussklaven ( huisslaven/ catibunan di cas ) auf etwa 400 Freie. Man sieht an den Zahlen, dass von der Plantagenwirtschaft anderer Karibikinseln keine Rede sein kann: Die Haussklaven bildeten meist Familien (was nicht heißt, dass der Hausherr seine sexuellen Bedürfnisse nicht mit den Sklavinnen ausleben konnte) und lebten in engem Kontakt mit der Herrenfamilie, deren Kinder von Sklavinnen aufgezogen wurden und so von klein an mit dem Papiamento in Kontakt kamen. Die Niederlassung von Privatpersonen auf Aruba und Bonaire war erst ab 1770 bzw. 1791 erlaubt: Normalerweise kamen Familien aus Curaçao mit ihrem Personal, aber der Anteil der Indianer auf Aruba blieb wegen der Nähe zu Venezuela immer besonders groß, und die Bevölkerungsmischung auf Aruba - mit weniger negroiden Elementen als auf Curaçao, sprachlich von einem stärkeren Hispanisierungsfaktor gekennzeichnet - ist ausgeprägter als auf Curaçao (Kramer 2004, 19-23). Die Sprache von Curaçao, vom Ende des 18. Jahrhunderts an auch nach Aruba und Bonaire exportiert, ist ein kreolisches Idiom, das auf dem Handelsportugiesischen beruht, das in der neuen Welt unter starken spanischen Einfluss gelangte und sich mit niederländischen Elementen bereicherte, also eine „spanisch-portugiesische Konvergenz in niederländischem Munde“ (Kramer 2004, 97). Seit spätestens 1800 ist es die Sprache aller Menschen, die auf der Insel aufgewachsen sind, ohne die sonst bei Kreolsprachen so charakteristische soziale Scheidung zwischen ehemaligen Sklaven und freien Europäern, zwischen Schwarz und Weiß (Kramer 2004, 138). Bei einer Sprachgeschichte in schriftlichen Dokumenten, die über 200 Jahre umfasst und auf eine literarische Verwendung hinauslief, muss man auch annehmen, dass es Versuche einer sprachlichen Normierung gegeben hat, zumal das Papiamento immer im Windschatten zweier großer normierter europäischer Kultursprachen, Niederländisch und Spanisch, gestanden hat. In der Tat gibt es im 19. und 20. Jahrhundert Anläufe, die darauf hinausliefen, in der Orthographie einen Anschluss an das Niederländische oder an das Spanische zu erreichen, die ja sowieso in der Phraseologie, in figurativen Ausdrücken und weithin auch in der Syntax das modellhafte Vorbild abgaben. Ganz grob kann man sagen, dass die allerersten Verschriftungsversuche <?page no="437"?> Kodifizierungen des Papiamento/ Papiamentu 423 sich am Spanischen ausrichteten, dass sich aber sehr bald eine Rechtsschreibung nach niederländischem Vorbild durchsetzte, die ihrerseits von einer hispanisierenden Orthographie abgelöste wurde (Kramer 2012b). Überhaupt wurde Spanisch unter Intellektuellen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Mode, weil man die feurigen Salonrevolutionäre aus Venezuela oder Kolumbien bewunderte, die immer wieder ein längeres oder kürzeres Exil in Curaçao verbringen mussten. Jede Sprache, die ihre Stellung in der Gesellschaft behaupten will, muss bekanntlich mindestens drei Stufen durchlaufen, zunächst die Verteidigung gegen vorher tonangebende Sprachen und die Herausstellung der eigenen Wertigkeit, dann die Wahl einer Sprachvariante und die Etablierung einer anerkannten Orthographie, schließlich den Ausbau des Wortschatzes und die Festsetzung einer Normgrammatik. Dieser Prozess kann, von Sprache zu Sprache unterschiedlich, in einer einzigen historischen Person konvergieren, wie es im Lateinischen war, wo Cicero die Besonderheit der Sprache Roms gegen das Griechische verteidigte, einen bestimmten Stil zum Vorbild machte, den Wortschatz um viele Elemente bereicherte und bestimmte grammatische Formen im Vergleich zu anderen in den Vordergrund stellte (z. B. senātus, Gen. senātūs und nicht wie bei Sallust senātī ) - Cicero bleibt der „Größte der Lateiner“, und wer schönes Latein schreibt, ist ein Ciceronianus (Stroh 2008, 59-61 und 160). Bei der Geschichte anderer Sprachen, wie etwa beim Französischen, ist die Durchsetzung gegenüber Konkurrenten auf mehrere Personen verteilt, z. B. auf Joachim du Bellay und Henri Estienne, auf Geofroy Tory und Estienne Pasquier, auf Pierre de la Ramée (Petrus Ramus) und Jacques Dubois (Jacobus Sylvius Ambianus), und eine Institution (wie die Academie française) kodifiziert dann die Sprachnormierung. Die Stationen bleiben aber immer gleich, und sie tauchen auch beim Papiamento auf, obwohl dort die verschiedenen Normierungsstufen nicht gleichmäßig vertreten sind. Die ersten, die das Papiamento als negertaal mit einem an Truthahnschreie erinnernden Klang ( kalkoenen geluid ) verunglimpften, waren Niederländer (van Putte 1999, 19), aber Niederländer waren es auch, die als erste zur Verteidigung der Sprache ansetzten (van Putte 1999, 37-38). Viele literarische Versuche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind davon bestimmt, das Papiamento als gleichwertige Sprache zum Niederländischen und zum Spanischen darzustellen (Broek 2006, 9-124). Die Wahl einer Sprachvariante war nicht tonangebend, weil die linguistischen Unterschiede zwischen den Inseln klein sind, so dass man sich darauf beschränken konnte, die Ausmerzung von niederländischen Fremd- und Lehnwörtern zugunsten von Hispanismen als Kampf um die rechte Form der Sprache zu stilisieren (Martinus 1990, 139-140). Dafür entwickelte sich, wie wir gleich noch sehen werden, die Auseinandersetzung um die passen- <?page no="438"?> Johannes Kramer 424 de Orthographie zu einer unendlichen Geschichte. Der Wortschatzausbau ist als Problem erkannt, aber nicht wirklich gelöst. An Einzelproblemen der Grammatik wird immer wieder gearbeitet, aber nach einer größeren, natürlich sehr traditionell gehaltenen Grammatik vom Anfang der fünfziger Jahre (Goilo 1953) und der Berücksichtigung in Lehrbüchern für Fremde (z. B. van Putte/ van Putte-de Windt 1992) scheint das Interesse an diesem Typ von Sprachdarstellung ziemlich erlahmt zu sein, denn die arubanische Gramatica di Papiamentu (Dijkhoff 2000) ist nicht mehr als eine Skizze. In einer ersten Epoche waren die Kodifizierungsversuche des Papiamento, die sich im Wesentlichen auf die Orthographie beschränkten, private Maßnahmen, die von den begeisterten Verteidigern der Eigenwertigkeit der Sprache unternommen wurden. Hier ist besonders Willem Manuel Hoyer (1872-1953) zu nennen, dessen Schreibregeln (1918) lange Zeit von vielen Intellektuellen befolgt - und in kleineren Einzelheiten korrigiert (Maduro 1953) - wurden, nicht zuletzt deswegen, weil sie auch in der Zeitung La Union angewendet wurden. Diese Regeln sind im Kontext einer Auseinandersetzung zu sehen, in deren Zentrum die Annäherung an das Spanische stand. Es gab eine radikale Richtung, die dem Papiamento nur eine Kultivierungschance zubilligte, wenn man ihm einen spanischen Anstrich, retoquenan español, gäbe (Willem E. Kroon, La Union 1.2.1924, nach Broek 1998, 66): ¿Quen por papia un discurso, scirbi un carta, compone un verso, combersa cu gente educá, sin adorna i realsa su papiamento cu retonquenan español? Für Willem E. Kroon und John E. Panneflek war das Papiamento keine eigentliche Sprache, idioma , sondern eigentlich nur ein patuá papiamento , ein Dialekt des Spanischen, und J. E. Panneflek trat sogar dafür ein, das Spanische als Nationalsprache auf Curaçao einzuführen, was er für so wichtig für die Entwicklung hielt, wie es die Luft zum Atmen und die Wärme der Sonnenstrahlen sind; erst das Spanische öffne neue Horizonte für die Bestrebungen aller Klassen und trage zugleich dazu bei, das Leben angenehmer, leichter und verlockender zu machen (J. E. Panneflek, La Union 16.11.1923, nach Broek 1998, 68): Instruccion di idioma spañó na Corsouw i su adopcion como lengua nacional ta awe tan necesario, como aire pa respiracion, é ta mescos cu calor vivificante di rayos di sol, i e ta forma parte integrante di su progreso material i psiquico, habriendo nuevo horizonte na aspiraciones di tur clase social, tambe e ta contribui na haci nan bida mas grata, fácil i halagueña. So weit wollten die meisten nicht gehen, und Willem M. Hoyer sah sich als deren Sprachrohr. Auch diese gemäßigte Gruppierung erwartete eine Ver- <?page no="439"?> Kodifizierungen des Papiamento/ Papiamentu 425 feinerung des Papiamento durch Anleihen an das Spanische und durch Ersetzung der zahlreichen Nederlandismen durch Hispanismen, aber es ging hier nicht um ein Aufgehen des Papiamento im Spanischen, sondern um ein Nebeneinander von zwei Sprachen, von denen die eine, das Spanische, im Normierungsprozess erheblich weiter fortgeschritten war, so dass man die andere, das Papiamento, durch Anleihen an die Schwestersprache auf denselben Status heben könnte. Man übernahm also Substantive und Adjektive, Adverbien und Verben aus dem Spanischen und ließ sie entweder unverändert oder passte sie oberflächlich an, und in festen Wendungen blieb man auch bei der Anpassung des Adjektivs ans Substantiv, die es ja im Papiamento eigentlich nicht gibt, oder man übernahm Plurale auf -s statt des einheimischen -nan (Broek 2006, 66). Durch Zurückdrängen der typisch niederländischen Schreibweisen wie oe für [u], ie für [i], sj für [∫] und durch konsequente Verwendung von c und s nach spanischem Vorbild glaubte W. M. Hoyer, eine genügend weitgehende orthographische Annäherung an das Spanische zu erreichen. Freilich wurde durch das Schielen auf das spanische Vorbild der Weg zu einer eigenständigen Wortschatzerweiterung innerhalb des Papiamento weitgehend abgeschnitten, denn natürlich ist es einfacher, einen Hispanismus unverändert, kant en klaar , zu übernehmen, als mühsam mit eigenen Mitteln eine neue Ausdrucksweise auf den Weg zu bringen. Frank Martinus (1990, 139-140) stellt die Hispanisierung des „kultivierten“ Papiamento im 20. Jahrhundert folgendermaßen dar: The Papiamentu novelists of the 1930s who started Papiamentu literature in a significant way were very sure about the road Papiamentu had to take for its development and embellishment: the road to Spanish. Not unlike many European writers of the Renaissance who took Latin as their ideal, they unhesitatingly, and even proudly dipped their pen into Spanish to write Papiamentu. This has remained the habit since then. [...] This habit is more than anywhere else manifest in the four Papiamentu daily newspapers which have a total circulation of perhaps thirty thousand. Their journalists not only take to the Spanish dictionary when they do not know the word in Papiamentu for a certain concept, they often ignore an existing Papiamentu term in preference to a Spanish one. Thus there is literally a rewording of whole semantic fields without obvious necessity. [...] Ironically hispanization is also consciously used to counter the Dutch influence that the many Antilleans who study in Holland bring into Papiamentu. Sometimes this practice may even carry political overtones, in the sense that hispanization is used «to liberate oneself from the Dutch». [...] Sometimes words that have already adapted themselves to the phonological habits of Papiamentu, are borrowed anew, probably to re-establish the true Spanish ring. <?page no="440"?> Johannes Kramer 426 Jenseits der journalistischen Kreise und jenseits der wenigen Personen, die sich für ihre eigene Sprache interessierten, empfand man kaum eine Notwendigkeit, an so etwas wie einem Sprachausbau zu arbeiten, denn das Papiamento wurde angesichts der Tatsache, dass alle ernsthaften Angelegenheiten in Niederländisch, der offiziellen Staatssprache, erledigt wurden, sowieso nur als All