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Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945

0715
2015
978-3-8233-7882-2
978-3-8233-6882-3
Gunter Narr Verlag 
Nicole Colin
Corine Defrance
Ulrich Pfeil
Joachim Umlauf

Dieses Sachlexikon mit über 345 Stichwörtern und sieben essayistischen Überblicksdarstellungen möchte auf dem neuesten Forschungsstand über die wichtigsten Konzepte, Ereignisse, Fakten, Entwicklungen, Institutionen und Mittler der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 kompakt und zuverlässig informieren. Über 150 beitragende Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen ziehen erstmals auf der Grundlage eines breit entwickelten interdisziplinären Forschungsfeldes eine Bilanz des bisher Erreichten, zögern jedoch auch nicht, Hindernisse, Schwierigkeiten und Probleme beim Namen zu nennen. Dem Laien bietet dieses Lexikon einen bequemen Einstieg in ein weit verzweigtes Beziehungsgeflecht, dem Kenner einen verlässlichen Überblick zu einem zentralen Kapitel der europäischen Nachkriegsgeschichte und dem Akteur vor Ort eine handlungsleitende Darstellung zu einem transnationalen Aussöhnungsprozess, dem nicht nur in Europa Modellcharakter zugeschrieben wird. Für die zweite Auflage wurde das Lexikon aktualisiert und um einige Artikel ergänzt.

<?page no="0"?> edition lendemains 28 Nicole Colin / Corine Defrance Ulrich Pfeil / Joachim Umlauf (Hg.) Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 2. Auflage <?page no="1"?> Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 <?page no="2"?> edition lendemains 28 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) <?page no="3"?> Nicole Colin / Corine Defrance Ulrich Pfeil / Joachim Umlauf (Hg.) Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 2., überarbeitete und erweiterte Auflage <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: © Plantu 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015 1. Auflage 2013 © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Redaktionelle Mitarbeit und Satz: 1. Auflage Patricia Pasic, 2. Auflage: Anja Ernst Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-6882-3 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Verzeichnis gebräuchlicher Abkürzungen .................................................................................................................. 10 Klaus-Dieter Lehmann Von „Erbfeinden“ zu „Erbfreunden“ - die Bestandsaufnahme einer europäischen Versöhnung .......................................................... 17 Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil und Joachim Umlauf Vorwort zur zweiten Auflage ........................................................................................................ 19 Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil und Joachim Umlauf Einleitung ...................................................................................................................................... 21 Michael Werner Konzeptionen und theoretische Ansätze zur Untersuchung von Kulturbeziehungen .......... 25 Hans Manfred Bock Deutsch-französische Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit ......................................... 34 Reiner Marcowitz Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945. Ein politischer Überblick ..................... 43 Corine Defrance Von der Konfrontation zur Kooperation. Deutsch-französische Kulturbeziehungen nach 1945 ............................................................... 52 Ulrich Pfeil „Dreiecksbeziehungen sind immer schwer.“ Frankreich und die deutsch-deutsche Kultur-Konkurrenz im Kalten Krieg .......................... 62 Nicole Colin, Joachim Umlauf Eine Frage des Selbstverständnisses? Akteure im deutsch-französischen champ culturel . Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff ........................................................................... 71 Joachim Schild Die deutsch-französischen Beziehungen und Europa seit 1989/ 1990 ..................................... 83 Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 ............................. 93 (Detailliertes Inhaltsverzeichnis siehe nächste Seite) Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 Thematische Achsen.................................................................................................................... 491 I Kunst und Kultur ............................................................................................................. 491 II Politische Kultur .............................................................................................................. 493 III Wissenschaft und Bildung .............................................................................................. 495 Personenregister .......................................................................................................................... 499 Sachregister .................................................................................................................................. 519 <?page no="6"?> Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 AbiBac.................................................................................95 Académie de Berlin...........................................................95 Adam-Mickiewicz-Preis ..................................................96 Adenauer-de Gaulle-Preis ...............................................96 Allemagne d’aujourd’hui ..................................................97 André-Gide-Preis..............................................................98 Angelloz, Joseph-François...............................................98 ANR-DFG-Förderprogramm für die Geistes- und Sozialwissenschaften..................................................99 Apollinaire-Preis ...............................................................99 Arbeitskreis der privaten Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit....100 Aron, Raymond...............................................................101 ARTE ................................................................................102 Association des germanistes de l’enseignement supérieur (AGES).....................................................104 Association franco-allemande des assistants parlementaires e.V. (AFAAP) ................................105 Association pour le développement de l’enseignement de l’allemand en France (ADEAF) ..............106 Asterix...............................................................................106 Auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik...........107 Auswärtige Kulturpolitik der DDR .............................110 Auswärtige Kulturpolitik Frankreichs ........................112 Badia, Gilbert ...................................................................115 Baier, Lothar ....................................................................117 Barenboim, Daniel..........................................................118 Bary, Nicole......................................................................119 Bataillon, Michel .............................................................120 Baudrillard, Jean ..............................................................121 Bausch, Pina .....................................................................122 Bayerisch-Französisches Hochschulzentrum (BFHZ)....123 Beckett, Samuel ...............................................................123 Bellmer, Hans...................................................................125 Benoin, Daniel.................................................................126 Berater...............................................................................127 Berchem, Theodor..........................................................128 Berliner Ensemble (BE)..................................................129 Berliner Schule - Nouvelle vague allemande .............130 Bertaux, Pierre.................................................................130 Besson, Benno .................................................................131 Bondy, François...............................................................132 Bondy, Luc .......................................................................134 Bord, André .....................................................................135 Boulez, Pierre...................................................................135 Bourdieu, Pierre ..............................................................136 Bourel, François ..............................................................137 Braunschweig, Stéphane ............................................... 138 BRD-Literatur in Frankreich ....................................... 139 Brecht, Bertolt................................................................. 141 Breitbach, Joseph............................................................ 143 Brice, Pierre ..................................................................... 144 Bureau du CNRS en Allemagne................................... 145 Bureau international de liaison et de documentation (BILD) ........................................... 146 Camus, Albert ................................................................. 147 Candide-Preis.................................................................. 148 Carolus-Magnus-Kreis (CMK).................................... 149 Le Carreau Forbach ....................................................... 150 Carrez, Geneviève .......................................................... 150 Castellan, Georges .......................................................... 151 Caven, Ingrid................................................................... 152 Celan, Paul....................................................................... 153 Centre culturel français (Berlin/ DDR) ....................... 154 Centre d’études germaniques, Strasbourg (CEG) ..... 155 Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC).................. 156 Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA)........................................ 157 Centre Marc Bloch (CMB) ........................................... 158 Chéreau, Patrice.............................................................. 158 Cheval, René ................................................................... 159 Christadler, Marieluise .................................................. 160 CIRAC-Forum ............................................................... 161 Cloos, Hans Peter ........................................................... 162 Cohn-Bendit, Daniel...................................................... 162 Comité d’études des relations franco-allemandes (Cerfa)........................................................................ 164 Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle..................................................................... 164 Connaissance de la RDA ............................................... 165 Curtius, Ernst Robert .................................................... 166 Dahlem, Franz ................................................................ 167 David, Claude.................................................................. 168 DDR-Kulturzentrum Paris (KUZ).............................. 169 DDR-Literatur in Frankreich ...................................... 169 De l’Allemagne................................................................ 171 Derrick ............................................................................. 173 Deutsche Buchhandlungen in Paris ............................ 174 Deutsche Sprache in Frankreich.................................. 178 Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD)..................................................................... 180 Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris (DFK)... 181 Deutsches Historisches Institut Paris (DHI) .............. 182 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 Deutsches Theater in Frankreich ................................ 183 Deutsch-französische Beziehungen im Bereich der bildenden Künste .................................................... 186 Deutsch-Französische Filmakademie ......................... 188 Deutsch-Französische Geschichte............................... 189 Deutsch-Französische Gesellschaft der DDR (Deufra)..................................................................... 190 Deutsch-Französische Gesellschaft für Wissenschaft und Technologie (DFGWT)................................. 190 Deutsch-Französische Gesellschaften (DFG)............ 191 Deutsch-französische Gipfeltreffen............................. 192 Deutsch-Französische Gymnasien.............................. 194 Deutsch-Französische Hochschule (DFH)................... 195 Deutsch-Französische Rektorenkonferenz ............... 195 Deutsch-französische Schriftstellertreffen................. 196 Deutsch-Französischer Journalistenpreis .................. 198 Deutsch-Französischer Kulturrat................................ 199 Deutsch-Französischer Parlamentspreis .................... 200 Deutsch-Französisches Forschungsinstitut Saint-Louis ............................................................... 200 Deutsch-französisches Historikerkomitee ................. 201 Deutsch-Französisches Hochschulinstitut für Technik und Wirtschaft (DFHI) .......................... 202 Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg (DFI)... 202 Deutsch-Französisches Internetportal........................ 204 Deutsch-Französisches Jugendwerk (DFJW) ........... 204 Deutsch-Französisches Kulturabkommen ................ 206 Deutsch-französisches Schulgeschichtsbuch ............. 207 DeutschMobil - FranceMobil...................................... 208 Deutschsprachige Schriftsteller in Frankreich .......... 209 Dietrich, Marlene........................................................... 211 Distelbarth, Paul H......................................................... 212 Döblin, Alfred ................................................................. 213 Dokumente ..................................................................... 214 Droz, Jacques................................................................... 215 Échanges franco-allemands (EFA) .............................. 216 Eisner, Lotte H................................................................ 216 Élysée-Vertrag ................................................................ 217 Engelmann, Peter........................................................... 218 Erbfeindschaft................................................................. 219 Erinnerungsorte ............................................................. 221 Études germaniques....................................................... 223 Europäische Konföderation der Oberrheinischen Universitäten (Eucor)............................................. 224 Ewig, Eugen .................................................................... 225 Existentialismus.............................................................. 226 Fassbinder, Klara Marie ................................................ 228 Fassbinder, Rainer Werner.......................................... 229 Fédération des associations franco-allemandes pour l’Europe (FAFA)............................................. 230 Fernsehen ........................................................................ 230 Film................................................................................... 232 Fink, Gonthier-Louis..................................................... 233 Föderation deutsch-französischer Häuser.................. 234 Foucault, Michel ............................................................. 235 FplusD .............................................................................. 236 Francia.............................................................................. 237 François, Étienne............................................................ 238 François-Poncet, André ................................................ 239 Frankreich Jahrbuch ...................................................... 240 Frankreich-Zentren ....................................................... 241 Franz-Hessel-Preis ......................................................... 242 Französische Filme über den Zweiten Weltkrieg..... 242 Französische Germanistik............................................. 244 Französische Literatur in der Bundesrepublik .......... 248 Französische Literatur in der DDR ............................. 251 Französisches Theater in Deutschland ....................... 253 Französischsprachige Schriftsteller in Berlin............. 257 Französischunterricht in Deutschland........................ 259 Frauenbewegung............................................................ 261 Freund, Gisèle ................................................................. 265 Friedrich, Hugo............................................................... 266 Fußball ............................................................................. 267 Gay-Lussac-Humboldt-Preis........................................ 268 La Gazette de Berlin ....................................................... 269 Genet, Jean....................................................................... 270 Gerz, Jochen .................................................................... 271 Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit (GÜZ) ........................................................................ 272 GIRAF-IFFD................................................................... 273 Gisselbrecht, André........................................................ 274 Goethe-Institute in Frankreich .................................... 274 Goldschmidt, Georges-Arthur..................................... 276 Göttingen (Barbara)....................................................... 278 Grappin, Pierre ............................................................... 279 Grosser, Alfred................................................................ 280 Grüber, Klaus Michael................................................... 281 Handke, Peter.................................................................. 282 Haneke, Michael ............................................................. 283 Harig, Ludwig ................................................................. 285 Harpprecht, Klaus........................................................... 286 Hartung, Hans................................................................. 287 Hausenstein, Wilhelm................................................... 288 Heidegger, Martin .......................................................... 289 Heinrich-Heine-Haus Paris........................................... 290 Heller, Clemens............................................................... 291 Helmlé, Eugen................................................................. 292 Hertling, Nele.................................................................. 293 Hessel, Stéphane ............................................................. 294 Historikerbeziehungen .................................................. 295 Historikerkontroverse (Briefwechsel zwischen François Furet und Ernst Nolte) ........................... 298 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 8 Hörfunk ............................................................................300 Institut d’allemand d’Asnières .......................................302 Institut français d’histoire en Allemagne (IFHA).......303 Institut für Europäische Geschichte Mainz (IEG) .....304 Institut Laue-Langevin (ILL) ........................................305 Instituts français in Deutschland ..................................305 Interferenzen. Interférences. Architektur Deutschland-Frankreich 1800-2000 .....................307 Ionesco, Eugène...............................................................308 Jauß, Hans Robert...........................................................310 Joly, Jean-Baptiste ...........................................................311 Jourdheuil, Jean ...............................................................311 Journalisten ......................................................................312 Jugendbeziehungen 1945-1963 ....................................315 Jugendkultur ....................................................................317 Jünger, Ernst ....................................................................319 Jurt, Joseph .......................................................................320 Kaas, Patricia....................................................................321 Karambolage....................................................................322 Karikatur ..........................................................................323 Kiefer, Anselm.................................................................325 Kinder des Olymp (Marcel Carné)...............................327 Kino-Koproduktionen, DDR-Frankreich..................327 Klemperer, Victor...........................................................329 Kluge, Alexander.............................................................330 Konfessionelle Beziehungen .........................................331 Krauss, Werner...............................................................333 Kühn-Leitz, Elsie.............................................................334 Kulturbevollmächtigter..................................................335 Kulturwissenschaft .........................................................336 Lance, Alain .....................................................................338 Lancelot, der Bote aus Frankreich................................339 Lang, Jack .........................................................................340 Langhoff, Matthias..........................................................341 L’Arche Éditeur ...............................................................342 Lefebvre, Jean-Pierre......................................................343 Lektoren ...........................................................................344 Lemper, Ute .....................................................................346 Lendemains......................................................................346 Leo, Gerhard....................................................................347 Liebermann, Rolf ............................................................348 Lortholary, Bernard........................................................349 Lusset, Félix......................................................................349 Mann, Heinrich...............................................................350 Mathieu, Mireille ............................................................351 La mer gelée .....................................................................352 Merle, Robert ..................................................................352 Merve Verlag...................................................................353 Mey, Reinhard.................................................................354 Minder, Robert................................................................354 Mnouchkine, Ariane ......................................................356 Mode ................................................................................ 357 Moreau, Jean-Charles.................................................... 358 Mortier, Gérard .............................................................. 359 Mounier, Emmanuel ..................................................... 360 Müller, Heiner ................................................................ 361 Musik, ernste................................................................... 362 Musik, populäre.............................................................. 364 Nacht und Nebel (Alain Resnais)................................. 367 Naumann, Manfred ....................................................... 368 Nerlich, Michael ............................................................. 369 Neuer Deutscher Film ................................................... 370 Nies, Fritz......................................................................... 371 Nouvelle vague ............................................................... 372 Ophüls, Max.................................................................... 373 Ostermeier, Thomas...................................................... 374 Österreichische Literatur in Frankreich ..................... 374 ParisBerlin (Magazin).................................................... 376 Paris-Berlin (Ausstellung)............................................. 377 Passagen-Verlag.............................................................. 378 Paul-Celan-Preis............................................................. 378 Philosophie ...................................................................... 379 Picht, Robert ................................................................... 381 Politikwissenschaft ......................................................... 382 Prisma Presse .................................................................. 384 Prix Gérard de Nerval.................................................... 386 Prix Pierre Grappin........................................................ 386 PROCOPE....................................................................... 387 Programme franco-allemand du CNRS ..................... 388 Programm Frankreich/ deutsch-französische Beziehungen der DGAP ......................................... 388 Radioeurodistrict (RED) ............................................... 389 Raymond-Aron-Preis.................................................... 390 Recherches germaniques............................................... 390 Regards sur l’économie allemande. Bulletin économique du CIRAC .......................................... 391 rencontres.de................................................................... 391 Rencontres franco-allemandes..................................... 392 Renouvin, Pierre ............................................................ 393 Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande .................................................................. 393 Ricœur, Paul .................................................................... 394 Riesz, János...................................................................... 396 Rivau, Jean du ................................................................. 396 Robert Schuman Chor .................................................. 397 Romanistenverbände in der Bundesrepublik Deutschland.............................................. 398 Romanistik (Franko-Romanistik)............................... 399 Romanistik in der DDR ................................................ 401 Romanistische Zeitschriften......................................... 403 Rovan, Joseph ................................................................. 405 SaarLorLux Orchester ................................................... 406 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 9 Sagave, Pierre-Paul ........................................................ 407 Sartre, Jean-Paul ............................................................. 407 Sauzay, Brigitte ............................................................... 408 Savary, Jérôme ................................................................ 409 Schaubühne..................................................................... 410 Schaul, Dora .................................................................... 410 Schenk, Fritz ................................................................... 411 Schlachtfelder und Museen des Ersten Weltkriegs ................................................................... 412 Schlöndorff, Volker ....................................................... 413 Schmid, Carlo ................................................................. 414 Schmittlein, Raymond................................................... 416 Schneider, Romy ............................................................ 417 Schober, Rita................................................................... 418 Scholl-Latour, Peter....................................................... 419 Schroeter, Werner......................................................... 419 Schulen............................................................................. 420 Schulpolitik ..................................................................... 421 Schulte, Hansgerd........................................................... 422 Schwarzer, Alice ............................................................. 423 Schwarzinger, Heinz...................................................... 424 Schweitzer, Albert.......................................................... 425 Schygulla, Hanna ............................................................ 426 Seghers, Anna ................................................................. 427 Shoah (Claude Lanzmann) ........................................... 428 Sieburg, Friedrich........................................................... 429 Sobel, Bernard................................................................. 430 Soziologie ........................................................................ 431 Spies, Werner ................................................................. 433 Sprachenpolitik und Förderung der Nachbarsprachen..................................................... 435 Städtepartnerschaften.................................................... 437 Stein, Peter ...................................................................... 439 Stereotype........................................................................ 440 Stierle, Karlheinz............................................................ 443 Stiftung Genshagen........................................................ 443 Stiftungen ........................................................................ 444 Stockhausen, Karlheinz................................................. 447 Straßburg-Preis .............................................................. 447 Straub-Huillet.................................................................. 449 Tagespresse...................................................................... 450 Thadden, Rudolf von..................................................... 452 Thalmann, Rita............................................................... 453 Théâtre national de Strasbourg (TNS) ....................... 454 Tophoven, Elmar ........................................................... 455 Tournier, Michel ............................................................ 456 Trivium............................................................................ 457 Troller, Georg Stefan..................................................... 458 Übersetzen/ Dolmetschen ............................................. 459 Übersetzung von Theaterstücken ............................... 459 Übersetzungsprogramm der Maison des sciences de l’homme ............................................................... 462 Ungerer, Tomi................................................................ 463 Universität der Großregion (UGR) ............................ 463 Universität des Saarlandes ............................................ 464 Valentin, Jean-Marie ..................................................... 465 Vercors (Jean Bruller).................................................... 466 Vereinigung der Französischlehrerinnen und -lehrer (VdF) ............................................................ 467 Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften für Europa e.V. (VDFG)......................................... 469 Vergangenheitsaufarbeitung ........................................ 470 Vermeil, Edmond ........................................................... 472 Vernet, Daniel................................................................. 473 Versöhnung..................................................................... 474 Weckmann, André ........................................................ 476 Weimarer Dreieck ......................................................... 477 Weinrich, Harald............................................................ 479 Weisenfeld, Ernst........................................................... 480 Weiss, Peter..................................................................... 481 Wenders, Wim............................................................... 482 Werner, Karl Ferdinand ............................................... 483 Wickert, Ulrich............................................................... 485 Wintzen, René................................................................ 486 Wismann, Heinz ............................................................ 486 Zemb, Jean-Marie .......................................................... 487 Ziebura, Gilbert .............................................................. 488 Zorn, Edith ...................................................................... 490 <?page no="10"?> Verzeichnis gebräuchlicher Abkürzungen AA Auswärtiges Amt AbiBac AbiturBaccalauréat ADEAF Association pour le développement de l’enseignement de l’allemand en France ADN Allgemeine Deutsche Nachrichtenagentur AFAA Association française d’action artistique AFAAP Association franco-allemande des assistants parlementaires AFAPE-RA Acteurs franco-allemands pour l’Europe - Rhône-Alpes AFAST Association franco-allemande pour la science et la technologie AFP Agence France Presse AGES Association des germanistes de l’enseignement supérieur AGFZ Arbeitsgemeinschaft der Frankreichzentren AIEO Association internationale d’études occitanes AJEFA Association des parents d’élèves des jardins d’enfants franco-allemands AK Arbeitskreis Deutsch-Französischer Gesellschaften AKP Auswärtige Kulturpolitik ANR Agence nationale de la recherche, Paris APEE Association pour la promotion des échanges européens APO Außerparlamentarische Opposition ARD Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands ARTE Association relative à la télévision européenne BBC British Broadcasting Corporation BE Berliner Ensemble BeS Bund entschiedener Schulreformer BFHZ Bayerisch-Französisches Hochschulzentrum, München BfK Büro für Kulturzentren, Ost-Berlin BILD Bureau international de liaison et de documentation, Paris BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung BNV Bund Neues Vaterland BR Bayerischer Rundfunk BRD Bundesrepublik Deutschland BRV Deutscher Balkanromanistenverband CALPO Comité Allemagne Libre pour l’Ouest CAPES Certificat d’aptitude au professorat de l’enseignement secondaire CCF Centre culturel français, Ost-Berlin CDE Centre dramatique de l’Est CDU Christlich-Demokratische Union CECES Centre d’études culturelles, économiques et sociales, Offenburg CEFRES Centre français de recherche en sciences sociales CEG Centre d’études germaniques, Strasbourg CEGIL Centre d’études germaniques interculturelles de Lorraine CEJ Campagne européenne de la jeunesse CELV Centre européen pour les langues vivantes CEPE Centre d’études de politique étrangère <?page no="11"?> Verzeichnis gebräuchlicher Abkürzungen 11 CERA Centre d’études et de recherches autrichiennes CERFA Comité d’études des relations franco-allemandes, Paris CERN Centre européen pour la recherche nucléaire, Genf CFA Comité France-Allemagne CHDGM Comité d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale CIDAL Centre d’information et de documentation de l’Ambassade d’Allemagne, Paris CIEP Centre international d’études pédagogiques CIERA Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne, Paris CIFRA Centrum für Interdisziplinäre Frankreich- und Frankophoniestudien, Köln CIRAC Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine, Cergy-Pontoise CITL Collège international de la traduction littéraire CMB Centre Marc Bloch, Berlin CMGR Coopération pour la musique dans la Grande Région CMK Carolus-Magnus-Kreis CNC Centre national de la cinématographie CNDI Centre national pour le développement de l’information CNPF Conseil national du patronat français CNRS Centre national de la recherche scientifique CPU Conférence des présidents d’universités CUIFER Centre universitaire international de formation et de recherche dramatiques, Nancy DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst, Bonn/ Paris DDR Deutsche Demokratische Republik DEFA Deutsche Film AG DEP Direction de l’éducation publique Deufra Deutsch-Französische Gesellschaft der DDR DFD Demokratischer Frauenbund DFG Deutsch-Französische Geschichte DFG Deutsch-Französische Gesellschaft DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft, Bonn DFGWT Deutsch-Französische Gesellschaft für Wissenschaft und Technologie DFH Deutsch-Französische Hochschule, Saarbrücken DFHI Deutsch-Französisches Hochschulinstitut für Technik und Wirtschaft DFHK Deutsch-Französischer Hochschulkolleg, Mainz DFI Deutsch-Französisches Institut, Ludwigsburg DFJW Deutsch-Französisches Jugendwerk DFK Deutsch-Französischer Kulturrat DFK Deutsch-Französischer Rundfunkrat DFK Deutsches Forum für Kunstgeschichte, Paris DFR Deutsch-Französische Rundschau DFU Deutsch-Französische Union DGAC Direction générale des affaires culturelles DGAP Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin DGIA Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland DGLFLF Délégation à la langue française et aux langues de France DHI Deutsches Historisches Institut, Paris DHV Deutscher Hispanistenverband DIV Deutscher Italianistenverband <?page no="12"?> Verzeichnis gebräuchlicher Abkürzungen 12 DKV Deutscher Katalanistenverband DLM Deutsche Liga für Menschenrechte DLV Deutscher Lusitanistenverband DRAC Direction régionale d’action culturelle DRV Deutscher Romanistenverband EBRA Est Bourgogne Rhône-Alpes ECML European Center for Modern Languages ECTS European Credit Transfer System EFA Échanges franco-allemands EFR Éditeurs français réunis EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EHESS École des hautes études en sciences sociales, Paris EIRIS Équipe interdisciplinaire de recherches sur l’image satirique EISCAT European Incoherent Scatter Facility ENA École nationale d’administration ENS École normale supérieure EPAT École pratique des auteurs de théâtre ESIT École supérieure d’interprètes et de traducteurs, Paris ETG Ensemble théâtral de Gennevilliers ETK Europäische Theaterkonvention EU Europäische Union EUCOR Europäische Konföderation der Oberrheinischen Universitäten EUNIC European Union National Instituts for Culture EVG Europäische Verteidigungsgemeinschaft EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EZV Europäischer Zollverein FAFA Fédération des associations franco-allemandes FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FDP Freie Demokratische Partei Deutschlands FEFA Fondation entente franco-allemande, Strasbourg FEMIS École nationale supérieure des métiers de l’image et du son FES Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn FFA Filmförderungsanstalt FFI Forces françaises de l’Intérieur FIF Feministisches Interdisziplinäres Forschungsinstitut FMSH Fondation Maison des sciences de l’homme, Paris FMVJ Fédération mondiale des villes jumelées FNCPG Fédération nationale des combattants prisonniers de guerre FNDIRP Fédération nationale des déportés internés résistants patriotes FNRS Fonds national de la recherche scientifique (Suisse) FRV Franko-Romanistenverband FSK Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft FU Freie Universität Berlin GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GESI Global and European Studies Institute GIRAF Groupe interdisciplinaire de recherche entre l’Allemagne et la France GkVA Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland GMC Grand Magic Circus GÜZ Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit, Köln <?page no="13"?> Verzeichnis gebräuchlicher Abkürzungen 13 HEC Hautes études commerciales HFR Hochflussreaktor HIS Hamburger Institut für Sozialforschung HU Humboldt Universität Berlin IEG Institut für Europäische Geschichte, Mainz IEP Institut d’études politiques IFF Interdisziplinäres Frankreich-Forum IFFD Interdisziplinäre Forschungsgruppe Frankreich Deutschland IFG Institut Frau und Gesellschaft IFHA Institut français d’histoire en Allemagne, Frankfurt IFRE Instituts français de recherche à l’étranger IFRI Institut français des relations internationales IHTP Institut d’histoire du temps présent, Paris ILL Institut Laue-Langevin, Grenoble IMEC Institut Mémoire de l’édition contemporaine IML Institut für Marxismus-Leninismus, Ost-Berlin INA Institut national de l’audiovisuel INALCO Institut national des langues et civilisations orientales, Paris INECC Institut européen de chant choral INHA Institut national d’histoire de l’art INSEE Institut national de la statistique et des études économiques, Paris IRAM Institut de radioastronomie millimétrique IRCAM Institut de recherche et de coordination acoustique/ musique IRG Internationale Rohstahlgemeinschaft ISFATES Institut supérieur franco-allemand de techniques, d’économie et de sciences ISL Institut franco-allemand de recherches de Saint-Louis ITEM Institut des textes et manuscrits modernes KAAD Katholischer Akademischer Ausländer-Dienst KAS Konrad-Adenauer-Stiftung, Bonn KMK Kultusministerkonferenz KPD Kommunistische Partei Deutschlands KUZ Kulturzentrum der DDR, Paris LDH Ligue des droits de l’Homme LEA Langues étrangères appliquées LEG Ligue d’études germaniques LLCE Langues, littératures, civilisations étrangères LMU Ludwig-Maximilian-Universität München LRSL Laboratoire de recherches de Saint-Louis MAEE Ministère des affaires étrangères et européennes MC93 Maison de la Culture 93 MfAA Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten MHFA Mission historique française en Allemagne, Göttingen MLF Mouvement de libération des femmes MPG Max-Planck-Gesellschaft MSH Maison des sciences de l’Homme NATO North Atlantic Treaty Organization NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NRF Nouvelle revue française NSDAP National-Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei <?page no="14"?> Verzeichnis gebräuchlicher Abkürzungen 14 NWDR Nordwestdeutscher Rundfunk ÖAD Österreichische Austauschdienst OFAJ Office franco-allemand pour la Jeunesse OIB Option internationale du baccalauréat ONUEF Office national des universités et écoles françaises ORTF Office de radiodiffusion télévision française Oulipo Ouvroir de littérature potentielle PAD Pädagogischer Austauschdienst PCF Parti communiste français PH Pädagogische Hochschule PHC Partenariats Hubert Curien PROCOPE Projets de coopération et d’échanges PUF Presses universitaires de France RAF Rote Armee Fraktion RDA République démocratique allemande RdA Revue d’Allemagne RED Radioeurodistrict RFI Radio France Internationale RIAS Rundfunk im amerikanischen Sektor RIHA Réseau des instituts d’histoire de l’art RTF Radiodiffusion-Télévision Française SACD Société des auteurs et compositeurs dramatiques SACEM Société des auteurs, compositeurs et éditeurs de musique SAP Sozialistische Arbeiterpartei SBZ Sowjetische Besatzungszone SDR Süddeutscher Rundfunk SDS Sozialistischer Deutscher Studentenbund SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SFB Sender Freies Berlin SFB Sonderforschungsbereich SFIO Section française de l’Internationale ouvrière SGDL Société des gens de lettres SHS Sciences de l’Homme et de la société SLC Salut les copains SOFE Service des oeuvres françaises à l’étranger SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS Schutz-Staffel STO Service du travail obligatoire SWF Südwestfunk SWR Südwestrunkfunk SZ Süddeutsche Zeitung TA Travail Allemand TAZ Tageszeitung TEP Théâtre de l’Est parisien TGP Théâtre Gérard Philipe TJP Théatre jeune public, Strasbourg TNB Théâtre national de Bretagne TNP Théâtre national populaire TNS Théâtre national de Strasbourg <?page no="15"?> Verzeichnis gebräuchlicher Abkürzungen 15 TU Technische Universität UAFARL Union des associations franco-allemandes pour la région Lorraine UCBRP Union pour la coopération Bourgogne/ Rhénanie-Palatinat UDE Union douanière européenne UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UFA Union franco-allemande UFA Université franco-allemande, Sarrebruck UFAFA Union francilienne des associations franco-allemandes UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization UNO United Nations Organization URB Union pour la région Bretagne USA United States of America VDB Verbandes Deutscher Bühnen- und Medienverlage VdF Vereinigung der Französischlehrerinnen und -lehrer VDFG Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften für Europa e.V. VdH Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen e.V. VVN Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes WDR Westdeutscher Rundfunk, Köln WZB Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ZDF Zweites Deutsches Fernsehen ZiF Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Bielefeld ZK Zentralkomitee <?page no="17"?> Klaus-Dieter Lehmann Von „Erbfeinden“ zu „Erbfreunden“ - die Bestandsaufnahme einer europäischen Versöhnung Oftmals wird das Verhältnis von Deutschland und Frankreich als eine Entwicklung von „Erbfeinden“ zu „Erbfreunden“ beschrieben. Standen sich die beiden Länder in Kriegszeiten als erbitterte Kontrahenten gegenüber, gelten sie heute als gemeinsamer Motor der europäischen Integration. 1963 besiegelten Konrad Adenauer und Charles de Gaulle im Élysée-Vertrag eine enge Zusammenarbeit beider Länder auf politischer und militärischer Ebene sowie in den Bereichen Erziehung und Jugend. Das Vertragswerk feierte 2013 sein 50. Jubiläum. Im Laufe dieses halben Jahrhunderts haben sich Deutschland und Frankreich in einem vielseitigen und komplexen Annäherungsprozess zu mehr als nur „normalen Nachbarn“ entwickelt: Die beiden Länder sind heute enge Partner, freundschaftlich verbunden und betreiben aus der Mitte heraus das Zusammenwachsen Europas, denn die Versöhnung und Annäherung der beiden Staaten lieferte auch die Vor- und Grundlage des europäischen Integrationsprozesses. Das vorliegende Lexikon unternimmt eine umfassende Bestandsaufnahme und Analyse der deutsch-französischen Kulturbeziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und untersucht den beispiellosen Prozess, der über Annäherung und Aussöhnung schließlich zu einem dichten Netzwerk von Kooperationen führte. Exzellente Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen ziehen in ihren Artikeln eine Bilanz des bisher Erreichten, zögern jedoch auch nicht, Hindernisse, Schwierigkeiten und Probleme beim Namen zu nennen. Die systematische Verknüpfung verschiedener Bereiche - über die traditionellen kulturellen Ausdrucksformen wie Literatur, Theater, Kunst, Musik und Intellektuellenaustausch hinaus werden auch Aspekte der Massenkultur sowie der Wissenschaftsbeziehungen berücksichtigt - lassen die engen Verflechtungen der deutschen und der französischen Kultur erkennen. So wird das Lexikon zu einem einzigartigen Nachschlagewerk und zu einem weiteren Mosaikstein für ein besseres Verständnis der Nachbarn auf der anderen Rheinseite. Denn trotz des bereits Erreichten ist es unerlässlich, das gegenseitige Verständnis weiter zu fördern, das Verhältnis mit unserem Nachbarland umsichtig zu pflegen, jede heranwachsende Generation erneut an das deutsch-französische Verhältnis heranzuführen. Angesichts der gegenwärtigen europäischen Krise ist ein gutes, von Offenheit und Sympathie geprägtes Verhältnis wichtiger denn je. Deutschland und Frankreich dürfen ihre Position als freundschaftliche Partner in der Mitte Europas nicht verlieren. Das aber ist nicht selbstverständlich, gute Beziehungen müssen gehegt und gepflegt werden. Wenn Europa weiter zusammenwachsen will, muss dies durch praktisches Handeln ausgestaltet werden. Hier besitzt das franco-allemand in vielen Aspekten Vorbildcharakter. Ein sehr feinmaschiges Netz deutsch-französischer zivilgesellschaftlicher, kultureller und Bildungsinitiativen ist über die Jahre hinweg gestrickt worden. Natürlich haben auch die Goethe-Institute in Frankreich hier einen maßgeblichen Beitrag geleistet. Neben der Sicherung und des Ausbaus des Kulturaustauschs über die bestehende Mittlerszene gehört zu den Aufgaben der Zukunft aber auch die Stimulierung der Mehrsprachigkeit, denn nur in der eigenen Sprache lässt sich der Nachbar wirklich kennenlernen. Auch muss über die Zukunft und Perspektiven der vielen deutsch-französischen Institutionen und Netzwerke nachgedacht und Strategien entwickelt werden, wie man über das Bilaterale hinaus zu einer Öffnung in Richtung Europa gelangen kann. <?page no="18"?> Klaus-Dieter Lehmann 18 Angesichts der fruchtbaren deutsch-französischen Kooperation, die nunmehr über 70 Jahre besteht, ist es Zeit, mit neuen Ideen frischen Wind in das kulturelle Projekt Europa zu bringen. Prof. Dr. h. c. Klaus-Dieter Lehmann ist Präsident des Goethe-Instituts. <?page no="19"?> Vorwort zur 2. Auflage Zwei Jahre nach der Erstausgabe des „Lexikons der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945“ haben wir uns entschieden, eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage vorzulegen. Ermutigt wurden wir hierzu einerseits durch die zahlreichen positiven Rezensionen in Fachzeitschriften und großen Tageszeitungen in Deutschland und Frankreich (Le Monde, FAZ, Süddeutsche Zeitung), die in der Publikation ein unverzichtbares Werk für die Beschäftigung mit den deutsch-französischen Kulturbeziehungen sehen, andererseits aber auch durch die interessierten Rückfragen des Publikums bei der Vorstellung des Buches und Podiumsdiskussionen über die deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Wir haben Daten aktualisiert, einige typographische Fehler korrigiert und eine Reihe von Einträgen zusätzlich aufgenommen, deren Auswahl im Wesentlichen auf Anregungen von Fachkollegen und Interessierten fußt, für die wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken möchten. Wir hoffen, dass der Blick auf das Untersuchungsfeld mit der 2. Auflage weiter verdichtet werden konnte und der intensive Austausch sowie die Gespräche mit den Experten des franco-allemand auch in Zukunft weitergeführt werden. Die Herausgeber <?page no="21"?> Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil und Joachim Umlauf Einleitung In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 3. November 1949 bezog der gerade frisch gewählte Bundeskanzler Konrad Adenauer deutlich Position im Blick auf den französischen Nachbarn: „Im heutigen Stadium Europas sind Erbfeindschaften völlig unzeitgemäß geworden. Ich bin daher entschlossen, die deutsch-französischen Beziehungen zu einem Angelpunkt meiner Politik zu machen.“ Wie nur wenige andere hatte Adenauer die Lehre aus der kriegerischen Vergangenheit seines Landes gezogen, dabei aber auch die zentrale Bedeutung des kulturellen Austauschs für den Normalisierungsprozess der politischen Beziehungen erkannt, ohne den diese letztlich zerbrechlich bleiben würden. Daher kann es, so Adenauer, „gar nicht genug […] deutschfranzösischen Kulturaustausch geben“. Dass es sich bei der Absichtserklärung keineswegs um leere Worte handelte, beweist die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen in den 1950er Jahren, die mit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages am 22. Januar 1963 durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle eine formale Grundlage erhielt. Sie konnten zu diesem Zeitpunkt bereits von einem politischen und soziokulturellen Annäherungsprozess profitieren, der 1963 einen ersten symbolischen Höhepunkt erlebte und in der Folge dann weitere Dynamisierung erfuhr. 50 Jahre später blicken wir auf ein enggestricktes Netz zivilgesellschaftlicher Interaktionen zwischen beiden Ländern, das heute den Status eines Alleinstellungsmerkmals in den internationalen Beziehungen beanspruchen kann. Nachdem sich Deutschland und Frankreich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als „Erbfeinde“ gegenüber standen, gelten sie heute als „Erbfreunde“ und Motor der Europäischen Integration. Nirgendwo anders auf der Welt gibt es so enge und vielschichtige Beziehungen und gesellschaftliche Verflechtungen zwischen zwei Ländern wie im so genannten franco-allemand . Der Anfang dieser Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg war freilich zunächst nicht unerheblich durch Misstrauen, Hass und Revanchedenken geprägt. Insofern verdient das Engagement der Frauen und Männer, die in jenen Jahren das Fundament für die deutsch-französische Verständigung legten, höchste Würdigung. Die ersten Mittler kamen aber nicht alleine aus der Reihe der politischen Eliten, sondern aus ganz verschiedenen Sektoren der Zivilgesellschaft, was der deutsch-französischen Aussöhnung Breite, Authentizität, Tiefenwirkung und Dauerhaftigkeit verlieh. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrages erscheint es angemessen, sich einen Überblick über die deutsch-französischen Kulturbeziehungen zu verschaffen. Ausgehend von sieben essayistischen Darstellungen, welche einleitend die Grundlagen des inzwischen breit entwickelten interdisziplinären Forschungsfeldes beleuchten, will das vorliegende Lexikon in 345 Stichworten über die wichtigsten Beziehungsfelder, Konzepte, Ereignisse, Fakten, Entwicklungen, Institutionen und Mittler kompakt und zuverlässig informieren. In einer Art Momentaufnahme ziehen die 173 beitragenden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Disziplinen auf dem neuesten Forschungsstand eine Bilanz des bisher Erreichten, zögern jedoch auch nicht, neben den Erfolgen der deutsch-französischen Annäherung die Probleme und Schattenseiten zu beleuchten und Hindernisse beim Namen zu nennen. Der vorliegende Band sieht sich in der Kontinuität ähnlicher Projekte dieser Art, beispielsweise des von Jacques Leenhardt und Robert Picht 1989 herausgegebenen Bandes „Esprit/ Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen“ (die französische Version erschien 1992 bzw. <?page no="22"?> Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil und Joachim Umlauf 22 1997 unter dem Titel „Au jardin des malentendus“). Erinnert werden soll auch an das „Handwörterbuch der deutsch-französischen Beziehungen“ (2009/ 2 2015), das 2005/ 6 in zweiter Auflage erschienene „Frankreich-Lexikon“, das von Ingo Kolboom, Thomas Kotschi und Edward Reichel herausgegebene „Handbuch Französisch“ (2. Ausgabe 2008) sowie den „Dictionnaire des mondes germaniques“ (2007), die auf komplementäre Weise das Wissen über den Anderen vertiefen. Das vorliegende „Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945“ konzentriert sich ganz auf die neueste deutsch-französische Zeitgeschichte und geht dabei von einem erweiterten Kulturbegriff aus, der über die traditionell-klassischen kulturellen Hochformen wie Literatur, Kunst, Musik hinausgeht und auch Aspekte der Populärkultur, der Medien, der Technik, des Sports und der Wissenschaftsbeziehungen berücksichtigt. Wer sich einen schnellen Überblick über die deutsch-französischen Kulturbeziehungen im 20. und angehenden 21. Jahrhundert verschaffen will, kann sich in einem ersten Schritt auf die sieben einleitenden Beiträge des ersten Teils konzentrieren, die helfen sollen, die bilateralen Verbindungen in einen größeren politischen, räumlichen und theoretischen Rahmen einzuordnen. Dazu gehört für die Periode zwischen 1945/ 49-1990 auch das Verhältnis zwischen der DDR und Frankreich, das hier als ein nicht zu vernachlässigender Teil der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 verstanden werden soll. Die Übersichtsartikel bieten dem Laien den Einstieg in ein vielleicht noch unbekanntes Gebiet, dem Kenner einen verlässlichen Überblick über ein bedeutsames Kapitel der europäischen Nachkriegsgeschichte und dem Akteur vor Ort eine handlungsorientierte Darstellung des transnationalen Aussöhnungsprozesses bzw. Kooperationsfelds. Ausgegangen wird dabei von der Beobachtung, dass den deutsch-französischen Beziehungen in einem zusammenwachsenden Europa nicht selten die Funktion eines „Werkzeugkastens“ (Chaigneau/ Seidendorf) zugeschrieben wird, von dem sich in anderen bilateralen Annäherungsprozessen engagierte Mittler inspirieren lassen. Zum Weiterlesen anregen sollen sowohl die bibliographischen Hinweise zur einschlägigen und aktuellen Forschungsliteratur am Ende eines jeden Artikels, als auch die mit einem Sternchen (*) versehenen Begriffe, Institutionen und Personen, die sich im zweiten Teil dieses Lexikons in alphabetischer Reihenfolge befinden. Da es in der Regel interessanter erscheint, dem fachlichen den Vorzug vor einem biographischen Ansatz zu geben und das Wirken der Mittler im Rahmen ihrer Aktionsfelder darzustellen, erlaubt diese Form der Verlinkung zwischen den einzelnen Beiträgen immer tiefer in die Materie einzutauchen und sich eine Vorstellung des deutsch-französischen Beziehungsnetzes zu machen, das letztlich die Grundlage des Lexikons bildet und dessen Dichte und weit verzweigter Charakter sich im Index des Lexikons spiegelt. Die Autoren dieses Lexikons konnten auf eine breite wissenschaftliche Forschung zurückgreifen, die sich in den letzten Jahren stark ausdifferenziert hat und immer häufiger auf der Basis von Kooperationsprojekten zwischen Deutschland und Frankreich entsteht. Wenngleich die ersten Jahrzehnte der geteilten Nachkriegsgeschichte bereits umfassender als spätere Perioden aufgearbeitet sind, bemühen sich die Verfasser dennoch, den Bogen ihrer Darstellung bis in die Gegenwart zu spannen. Da dies nicht immer umfassend gelingen kann, will das Lexikon auch auf wissenschaftliche Leerstellen aufmerksam machen und auf diese Weise neue Studien anstoßen. Indes: Nicht alleine Forschungsdesiderata zwingen ein Projekt wie den vorliegenden Band bisweilen zum „Mut zur Lücke“, sondern auch die quantitativen Vorgaben der Herausgeber. So mussten, um die Beziehungsgeschichte in ihrer ganzen Breite präsentieren zu können, nicht nur die Länge und damit Ausführlichkeit der Beiträge begrenzt, sondern zudem eine repräsentative Auswahl an Einträgen getroffen werden. Dies gestaltete sich in mancherlei Hinsicht nicht immer einfach und bedurfte oft längerer Diskussionen und der Konsultation von Fachkollegen. Als besonders delikat erwies sich die Frage nach den aufzunehmenden Persönlichkeiten, und es steht zu erwarten, dass die Leser die Entscheidungen der Herausgeber nicht immer teilen werden. Der eine hätte sich selber darin vermutet, der andere wird einen Weggefährten vermissen. Den poten- <?page no="23"?> Einleitung 23 tiellen Kritikern sei jedoch versichert, dass wir es uns nicht leicht gemacht haben. Als wichtigstes Kriterium für eine Aufnahme haben wir uns auf die bleibende und prägende Wirkung einer Person bzw. ihrer Arbeit auf die deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 geeinigt. Daraus ergab sich eine Präferenz für Akteure mit historischer Dimension, was die Leistung der aktuell im Kulturtransfer Tätigen nicht schmälern soll. Sie finden sich vielfach unter den Autoren dieses Lexikons und werden einen ihnen angemessenen Platz in Nachfolgeprojekten dieser Art finden. Positiv gesprochen hoffen wir im Hinblick auf die unvermeidlichen Lücken daher vor allem, dass diese Anstöße für zukünftige Forschung geben werden. Hingewiesen sei in diesem Kontext aber auch auf die Struktur des Lexikons, die sich, wie dargestellt, vor allem durch eine starke Verflechtung auszeichnet. Ein Blick in den Personenindex dürfte insofern den einen oder anderen Leser mit der getroffenen Auswahl hoffentlich wieder versöhnen. Abschließend soll gedankt werden: zu allererst den Autoren für ihre Bereitschaft zu kooperieren und ihr Wissen kondensiert zur Verfügung zu stellen; den Übersetzern (Katharina Bader, Aline Ditzler, Valérie Dubslaff, Marijke Eschenbach, Anna Franz, Cornelia Klingebiel, Bettina Rambow, Sandra Schmidt, Anna Wieland, Paula Wilegala) für ihre sprachliche Sensibilität und ihr Engagement; den vielen Kollegen und Freunden für ihre wertvollen Ratschläge; dem Goethe- Institut, dem DAAD (der Außenstelle Paris sowie der Zentrale in Bonn), dem Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg und dem Auswärtigen Amt für die finanzielle und logistische Unterstützung. Besondere Anerkennung gilt aber Patricia Pasic für die Redaktion sowie (gemeinsam mit Cora Hegewald) Anfertigung des Druckmanuskripts und Anja Ernst für die Betreuung der 2. Auflage. Ohne ihren hingebungsvollen Einsatz wäre das Lexikon nicht das, was es heute ist. Dank geht auch an den Narr-Verlag für den Mut, sich auf ein Lexikonprojekt einzulassen, das oft die Tendenz hatte, zu einer never ending story zu werden. Wir freuen uns, dass es soweit nicht gekommen ist und wünschen den Lesern nun eine spannende Lektüre. <?page no="25"?> Michael Werner Konzeptionen und theoretische Ansätze zur Untersuchung von Kulturbeziehungen Wer über „Kulturbeziehungen“ arbeitet, hat sich mit einem Paradox auseinanderzusetzen. Auf der einen Seite setzt die Bezeichnung voraus, dass es so etwas wie Kulturen gibt, die miteinander in Beziehung treten. Dabei werden Kulturen als eigenständige Einheiten begriffen, mit Merkmalen, Codes und einer eigenen Geschichte, die diese Eigenheiten zu erklären vermag. Beziehungen zwischen solcherart verstandenen Kulturen können dann als Kontakt, Vermittlung, Transfer oder Austausch beschrieben werden. Eine andere Sichtweise - und dies wäre der Gegenpol - betont das grundsätzlich Prozesshafte von Kultur. Sie geht davon aus, dass Kultur selbst immer schon Aushandlung ist, dass sie situativ bestimmt wird, je nach Akteuren und Kontext. Als spezifische kulturelle Vorgänge erscheinen dann Interaktionen, bei denen Differenzen zugleich verhandelt und neu verortet werden. Kultur in diesem Sinn ist selber Austausch und Transfer, und die Einheiten, zwischen denen ausgetauscht wird, konstituieren sich in diesem Prozess und sind dementsprechend mobil und schwer als solche zu fassen. In der ersten Sichtweise heißt Kulturtransfer also Transfer zwischen Kulturen, in der zweiten bezeichnet er Transfer als Kultur und betont den eigenen Motor, der Kultur erst produziert. Angesichts dieses Paradoxes empfiehlt es sich, etwas weiter auszuholen, die entsprechenden Vorgänge, die hier im Mittelpunkt des Interesses stehen, näher zu bestimmen und den Begriffsapparat, den man dabei benutzt, zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Danach werden wir zu klären versuchen, ob das entsprechende analytische Arsenal auf die in diesem Band im Vordergrund stehenden deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 passt und wie er angesichts dieses Untersuchungsfelds möglicherweise neu zu justieren ist. Vorab indessen noch eine Vorbemerkung. Ein zusätzliches Problem der so neutral anmutenden Bezeichnung „Kulturbeziehungen“ liegt darin, dass sie gewissermaßen kulturpolitisch belastet ist. Spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkriegs haben sich die größeren europäischen Staaten auf so etwas wie *auswärtige Kulturpolitik eingelassen. Sie gingen davon aus, dass die kulturelle Außendarstellung eines Landes eine wichtige Stütze politischen Handelns darstellt. Demgemäß suchten sie die Kenntnisse ihrer Sprache, Literatur und Kultur im Ausland zu verbessern. Sie richteten Kulturinstitute ein, schickten *Lektoren an ausländische Universitäten, veranstalteten Vortragsreisen ihrer bekannten Schriftsteller und Hochschullehrer, kümmerten sich um die Gymnasialbildung, verbreiteten Bücher, förderten Übersetzungen, gründeten Forschungsinstitute und dergleichen mehr. In Frankreich waren für diese *auswärtige Kulturpolitik die bereits 1883 gestiftete *Alliance française und das 1920 gegründete Service des œuvres françaises à l’étranger zuständig, in England der British Council (1934), in Deutschland die 1925 gegründete Deutsche Akademie sowie der ebenfalls 1925 gegründete Akademische Auslandsdienst. Parallel dazu können Staaten kulturelle Beziehungen zueinander aufnehmen, die dann besondere Aktivitäten des Austauschs‚ etwa Errichtung von Kulturzentren, Lehrer- und Schüleraustausch genauer fassen und zum gemeinsamen Programm erheben. In diesem Fall, der oft in Form eines zwischenstaatlichen „Kulturabkommens“ offiziell besiegelt wird, gehören Kulturbeziehungen zum größeren Feld der International Relations . In allen derartigen Situationen handelt es sich um kulturelle Kontakte zwischen Staaten, über die dann auch, wenn man so will, die entsprechenden Kulturen miteinander in Beziehung treten. <?page no="26"?> Michael Werner 26 1. Kultur als Ordnung und als Prozess Doch zunächst: kommen wir noch einmal auf den Begriff der Kulturbeziehungen zurück. In der soeben skizzierten ersten Sichtweise bieten die Kulturen Einheiten, die durch Differenzen bestimmt sind. Das ist der kognitive Aspekt. Zum Verstehen braucht es Unterschiede, an denen das Denken ansetzen kann. Kulturen sind hier unterscheidbare Einheiten. Die Spezifika einer Kultur definieren sich über Merkmale, mit denen man eine Kultur von der anderen absetzen kann. Sie werden also methodisch über implizite oder explizite Vergleiche erfasst. Hinzu kommt die grundlegende Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Auch sie stammt, wie manche andere dieser Ingredienzien, aus der antiken Ethnographie mit ihrer strukturellen Opposition von Hellenen und Barbaren. Sie lädt Differenz mit Identität auf und ist deshalb auf Grenzziehungen zwischen dem Ich (oder dem Wir) und dem (den) Anderen bedacht, die konstitutiv für die Kultur bzw. die Gesellschaft wie für die Personen sind. Sobald die Identität in den Vordergrund gerät, werden Probleme des Ein- und Ausschließens aufgeworfen. Dazu kommen noch zwei weitere wichtige, allerdings historisch markierte und deshalb nicht generell anzutreffende Merkmale dieser Sichtweise: erstens die Vorstellung von Kultur als organischer Einheit, als lebendem Organismus. Dadurch entsteht die Analogiekonstruktion: Kulturen reifen, aber sie altern auch. Der entsprechende Alterungsprozess wird dann oft als Dekadenz beschrieben - auch dies ein bereits bei Tacitus vorgeführtes Modell, der die Germanen als „junges“ Volk, Rom dagegen als von Verfall und Dekadenz bedrohte Zivilisation beschreibt und die Römer dazu anhalten will, sich auf ihre ursprünglichen republikanischen Werte zu besinnen. Zweitens die Vorstellung von Diffusion: Kulturen breiten sich aus. Damit kommt ein räumliches Moment hinzu. Aber diese Ausbreitung wird als Prozess einer mehr oder minder imperialistischen Kolonisierung gesehen, Konsequenz eines „Kulturgefälles“, wie man in der älteren Kulturtheorie gesagt hat. Ende des 19. Jahrhunderts hat man dieses diffusionistische Schema mit der Theorie von Völkerkreisen (Friedrich Ratzel) und Kulturkreisen (Adolf Bastian) in Verbindung gebracht. Derzufolge entfalten sich die Völker gewissermaßen nach einem genetischen Programm, breiten sich aus und verbreiten dadurch Kultur, Sitten, Bräuche, Technik und ähnliches mehr. Dabei werden zunächst kaum die durch diesen Ausbreitungsprozess unweigerlich ausgelösten Konflikte behandelt. Welche Völker gewinnen die Oberhand, und welche Faktoren sind dabei von Bedeutung? Im 19. Jahrhundert spielt oft unterschwellig die vitalistische Vorstellung von „jungen“ starken Kulturen mit, die sich gegen ältere durchsetzen. In einer differenzierteren Form verleibt sich diese Sicht das Zentrum/ Peripherie-Modell ein, und auch hier schon seit der Antike (die urbs als Zentrum des Imperium Romanum ), womit eine gewisse strukturierende Differenz innerhalb einer Kultur eingeräumt wird. Doch die Systemlogik dieser Differenzierung verläuft entlang einer klaren Achse: Der Kern beherrscht die Randzonen, und zugleich schwächt sich die Kontrolle in den Randzonen ab. Die Peripherie wird durch ihre Position in der Beziehung zum dominanten Zentrum definiert und umgekehrt. Auch dieses Modell bildet kulturelle Beziehungen nach einem räumlichen Schema ab, es impliziert eine mental map , in der zum Beispiel Verdichtungsprozesse (im Zentrum) gegen Ausdünnungsprozesse (am Rand) abgesetzt werden. Es operiert mit Nähe und Entfernung, mit Grenzen und Grenzkonflikten oder auch Berührungen an den Grenzen. Bei manchen Anthropologen wie etwa Marcel Mauss sehen wir eine Kombination von diffusionistischem und kulturhistorisch-evolutionistischem Modell. Von Bastian übernimmt er die beiden Begriffe der Kulturschicht (alles das, was auf die Formen, Stile und Epochen verweist, die der Ethnologe beschreibt und analysiert) und des Kulturkreises (als Vorstellung der geographisch-räumlichen Verbreitung einer Zivilisation). Auch interessiert sich Mauss, gerade weil seine Konzeption universalistisch eingetönt ist (er hat eine Universalgeschichte der menschlichen Zivilisation im Blick), für den Vorgang der Kulturkon- <?page no="27"?> Konzeptionen und theoretische Ansätze zur Untersuchung von Kulturbeziehungen 27 takte. Doch verbleibt auch er noch in einer zweidimensionalen, d.h. flächigen Sicht der Kulturen, die lediglich an ihren Grenzen miteinander interagieren. Die zweite Sichtweise, um auch dies noch einmal zu verdeutlichen, geht davon aus, dass Kultur - wie Gesellschaft und technischer Fortschritt - durch Kontakt entsteht, durch Zirkulation, Transfer und Bewegung, Aushandlung und Vermischung, Handel und Übersetzung, mit anderen Worten durch Interaktionsprozesse, die zwischen nicht näher definierten Einheiten vermitteln, übersetzen und Veränderungen hervorrufen. Der Motor der Kulturentwicklung liegt dann nicht mehr im Kern einzelner kultureller Monaden, sondern im Vorgang der Verflechtung. Es ist die Kombination und Überkreuzung von Wissen, Fertigkeiten und Handlungsstrategien, die neues Wissen und neue Fertigkeiten - in einem Wort Kultur oder Gesellschaft generieren. Auch dieser Prozess ist keineswegs immer harmonisch. Im Gegenteil ist er vielfach mit Konflikten verknüpft, in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden. Dass diese These etwa zur Erklärung von Modernisierungsschüben herangezogen wurde - so etwa in den Arbeiten von Eisenstadt oder, im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte, von Joseph Needham - ist nicht weiter verwunderlich. Schon Schlözer hat 1785 gesagt, dass Wissen, Technik, Fortschritt immer aus Bewegung und Kontakt entstehen, und es als Aufgabe des Universalhistorikers bezeichnet, diese Zusammenhänge („Realzusammenhänge“) beziehungsgeschichtlich aufzuarbeiten. Manche gingen soweit, auch so identitätsstiftende Grundbegriffe wie Nation oder die Entstehung politisch-sozialer Phänomene wie nationale Bewegungen oder Religionen in und außerhalb Europas als Ergebnisse „transnationaler“ Vorgänge zu interpretieren. Das ist etwa die These von Sebastian Conrad. Der Historiker, der sich mit der Entstehung dieser Bewegungen empirisch befasst, hat zugleich auch die Ebene der historiographischen Traditionsbildung im Blick zu behalten. So konnte Conrad, um beim Beispiel der Nationalgeschichte zu bleiben, zeigen, wie das Transnationale aus der genuin nationalgeschichtlich konzipierten Geschichte konsequent ausgeblendet wurde, weil es im entsprechenden Programm nicht vorgesehen war. Eines der dabei auftretenden Probleme ist also, dass das Ergebnis transnationaler Vorgänge national re-ontologisiert oder diszipliniert, seinerseits zur heuristischen Monade umfunktioniert wird, um politische, soziale und kulturelle Legitimationsfunktionen zu übernehmen. Wie aber ist das beim Transfer entstehende Neue zu definieren? Als hybrides Objekt, als Kreolkultur, als objet métissé ? 1 Die erste vorläufige Antwort auf diese Fragen wäre eine petitio principis : Dabei entsteht etwas, das keine neue ontologische Einheit darstellt, sondern in „Kultur“ eingespeist wird, die ihrerseits als fortwährender, nie endgültig zu stabilisierender Prozess zu denken ist. Aber mit dieser Feststellung ist das sich dahinter verbergende epistemologische Problem keineswegs gelöst. Nation, um bei diesem Beispiel zu bleiben, hat schon allein deshalb eigene Konsistenz, weil sie als geschichtsträchtiger, handlungsstrukturierender Referenzpunkt auf den Plan tritt und damit Geschichte produziert. Solange die Akteure sich darauf berufen und sich darüber - genauer: über seinen Gebrauch - verständigen, mag der Historiker postmodern dekonstruieren, solange er immer will: die Nation wird ihm von seinem empirischen Material immer wieder unter die Nase gehalten. Aber noch mehr: Im Grunde ist die zumindest provisorische Stabilisierung des „Neuen“ als etwas Eigenes, Spezifisches (und nicht mehr als eines nur Hybrides, aus der Kreuzung von Komponenten Erklärbares) erkenntnistheoretisch unverzichtbar. Um Wissen zu produzieren, benötigen wir stabilisierte Einheiten, die wir miteinander in Beziehung setzen und über deren Sinn wir uns miteinander verständigen. Am Beispiel der Nation: Ihre transnationale Entstehung sowie die transnationalen historischen Verflechtungen der verschiedenen Nationalbewegungen lösen sie nicht aus dem nationalen Kontext, innerhalb dessen sie sich historisch, instituti- 1 Vgl. vor allem Serge Gruzinski, La pensée métisse, Paris 1999, sowie Laurier Turgeon, Les mots pour dire les métissages: jeux et enjeux d’un lexique, in: Revue germanique internationale 21 (2004), S. 53-69. <?page no="28"?> Michael Werner 28 onell und kulturell strukturiert hat und, wenn man so will, geschichtsmächtig geworden ist. Und wenn wir, als analytische Forscher, selbst von Nation sprechen, können wir nicht permanent die Anführungszeichen davor setzen, die wir als Historiker, nachdem wir den Entstehungsprozess von Nation historisiert haben, eigentlich immer setzen müssten. Wir stehen als vor einem echten Dilemma. 2. Kulturtransfer: Leistungen und Grenzen des Konzepts Bekanntlich wurden das Konzept des Kulturtransfers sowie die entsprechenden Forschungen zu Beginn der 1980er Jahre in einem deutsch-französischen Kontext entwickelt. 2 Dabei spielten vor allem drei Faktoren zusammen. Als erstes die spezifische Situation der französischen Historiographie, die versuchte, das klassische Narrativ der Nationalgeschichtsschreibung aufzubrechen, das trotz Fernand Braudel und den „Annales “ nach dem Skript der republikanisch-universalistischen, aber gleichwohl französisch getönten civilisation verfasst war und in dem deshalb Transfers von außen nur selten explizit benannt wurden. Dieses Modell war damals offen in eine Krise geraten, was auch Pierre Nora eigentlich gegen den Strich konzipierte, aber gleichwohl im strikt innerfranzösischen Rahmen konstruierte Nabelschau der „Lieux de mémoire“ veranschaulichte. Der zweite Faktor betraf die deutsch-französische historiographische Konstellation. Da die Kulturtransferforschung sich für die Dynamik von Vermittlungsprozessen zwischen national definierten Kulturen und Gesellschaften interessierte, geriet sie anfangs in eine gewisse Gegenposition zur vergleichenden Sozialgeschichte, die von fest strukturierten Gesellschaften und deshalb in ihren Grundlagen vergleichbaren Einheiten ausging und zudem der Kulturgeschichte misstraute. Diese Situation löste eine größere deutsch-französische Diskussion über das Verhältnis von Vergleich und Transferforschung aus, die inzwischen in sachlichere Bahnen geraten ist. Vergleich und „Beziehungsgeschichte“ - so die deutsche Terminologie für relationale Ansätze - werden nunmehr eher als komplementäre Verfahren gesehen. Dazu hat nicht zuletzt das Aufkommen anderer beziehungsgeschichtlicher Ansätze beigetragen. Shared History , Connected History oder Entangled History 3 haben das Spektrum erheblich erweitert und die Perspektive jeweils verschoben. Dazu kommen übergreifende Forschungsrichtungen wie Globalgeschichte und World History sowie all das, was man unter transnationalen Ansätzen fasst. Dadurch hat sich der Blickwinkel verändert, und zwar sowohl in geographischer als auch in thematischer Hinsicht. Schließlich, als dritter Faktor, die deutsch-französische Thematik als dominanter Forschungsgegenstand. Das bedeutete unter anderem, dass man sich auf die nationale Untersuchungsebene konzentrierte, und damit chronologisch auf die Zeit ab 1750. Damit verbunden war das Interesse für die Welt der Hochkultur und der Intellektuellen, in der die Vorstellungen von Nation, Staat und Geschichtsdeutung ausgehandelt wurden, für die Bildungssysteme und die Buchgeschichte, für die Disziplin- und Rechtsgeschichte. Die Konzentration auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich hat zwei sich z.T. widersprechende Entwicklungen nach sich gezogen. Auf der einen Seite operierte man mit der Vorstellung sich stark unterscheidender Kultur- und Gesellschaftsmodelle, die man mit dualistischen Oppositionen zu fassen suchte, etwa Zentralismus/ Föderalismus, Jus soli/ Jus sanguinis, Bourgeoisie/ Bürgertum, Laizismus als Trennung von Staat und Kirche/ Konkordatssystem als Kombination und Ausgleich, Civilisation/ Kultur, Lettres 2 Vgl. Michel Espagne, Michael Werner, La construction d’une référence allemande en France. Genèse et histoire culturelle, in: Annales E.S.C. 1987, S. 969-992; dies., Deutsch-französischer Kultur-Transfer als Forschungsgegenstand, in: dies. (Hg.), Transferts. Relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIII e - XIX e siècle), Paris 1988, S. 11-34. 3 Unter der zahlreichen Literatur s. Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/ M. 2002; Sanjay Subrahmanyam, Explorations in Connected History, 2 Bde., New Delhi 2004. <?page no="29"?> Konzeptionen und theoretische Ansätze zur Untersuchung von Kulturbeziehungen 29 françaises/ Philologie, Individualismus/ Holismus, Revolution/ Reformismus und dergleichen mehr. Methodisch werden solcherart dualistische Konstruktionen über den kontrastierenden Vergleich erfasst. Die politischen Gegensätze zwischen den beiden Ländern, bis hin zur Vorstellung des „*Erbfeinds“, haben diese Polarisierungen begünstigt, auch wenn die wechselseitige Bedingtheit dieser Konstruktionen heute auf der Hand liegt. Auf der anderen Seite legte man den Akzent auf die Vermittlerfiguren, die zwischen beiden Systemen übersetzten, auf Importvorgänge und Anpassungsversuche, mit anderen Worten auf den Transfer als wie auch immer gearteten Annäherungs- oder Aufweichungsprozess der gegensätzlichen Systeme. Dabei führte die Betonung der Rezeptionsseite des Transfers, die vielfach mit Pierre Bourdieus Feld-Theorie operierte, dazu, dass die soziale Logik der Positionskämpfe in der Rezeptionskultur als Schlüssel der Interpretation von Transfer benutzt wurde: Kulturimport wurde durch die Interessenlage der Protagonisten des jeweiligen Rezeptionsfelds bestimmt. Zugleich zeigt sich indessen auch, dass die historische Kontextualisierung dieser Polaritäten und der daraus resultierenden Aufarbeitung im Sinne von Kulturtransfer, d.h. von Bewegungen von einer zur anderen Seite, alsbald an gewisse Grenzen stößt. Unter den Problemen, die dabei auftreten, möchte ich zwei Gruppen unterscheiden. Die erste umfasst grundsätzliche Fragen der Erkenntnisgewinnung. Dazu gehört zunächst das Verhältnis von Untersuchungsgegenstand und analytischem Bezugsrahmen. Wie oben angedeutet, ist die Transferforschung ursprünglich mit dem Vorsatz aufgetreten, die vermeintliche Homogenität der Nationalkulturen aufzubrechen und ihre durch Transfers hervorgerufenen „Fremdanteile“, und damit in gewisser Weise ihre Heterogenität nachzuweisen. Dabei wird jedoch der Bezug auf eine Nationalkultur, als Ausgangs- und Endpunkt des Transferprozesses, keineswegs aufgegeben. Es geht um den Import oder Export „deutscher“ Kultur (Philosophie, Theater, Musik, Hochschulpolitik, Buchwesen, Technologie usw.) nach „Frankreich“ oder umgekehrt. Auch wenn der Transferforscher auf die verschiedenen Übersetzungsvorgänge und die dadurch ausgelösten kulturellen Umformungen abzielt, bleiben die nationalen Zuschreibungen erhalten. Damit wird eine zweite Frage aufgeworfen, die des Beobachterstandpunkts. Von welchem Standpunkt aus werden die Transfervorgänge untersucht, welche Vorannahmen sind damit impliziert und welche Auswirkungen hat dies auf die Analyse? Diese für jede wissenschaftliche Arbeit selbstverständlichen Grundfragen wurden in der Kulturtransferforschung nicht immer genügend reflektiert. So wäre etwa der Begriff der „Interkulturalität“ daraufhin zu hinterfragen, ob er nicht doch ontologisch verfestigte Vorstellungen von Kultur transportiert, die im Widerspruch zur Dynamik der Prozesse stehen, die untersucht werden sollen. Die Pluralität der möglichen Beobachterpositionen müsste derartige Verfestigungen relativieren und in ihrer historischen Bedingtheit aufzeigen. Die dritte Frage ist die nach dem Verhältnis zwischen einem totalisierenden, alle menschlichen Hervorbringungen umfassenden Kulturbegriff und der Vorstellung eines Marktes, der ja auch *Bourdieus Feldtheorie zugrunde liegt. Welche Rolle spielen überindividuelle Werte und Normen, die der Kultur zugerechnet werden, in einem Markt, dessen Akteure ausschließlich nach eigenem Interesse handeln? Bricht man die Frage auf die Ebene der Handelnden herunter, so bedeutet sie, dass es im Horizont der Akteure die Gelenkstellen zwischen konkurrierenden Einzelinteressen und mit der Interpretation von Kulturgegenständen verbundenen Normen genauer zu untersuchen gilt. Andersherum gesagt: In der Beschreibung und Analyse des Transfers ist die untrennbare Verbindung von Dekonstruktion der Einzelinteressen und Rekonstruktion einer wie immer gearteten Gesamtsicht auf größere Wertekomplexe (das, was die Juristen als Dogmatik bezeichnen) systematisch zu erforschen. Das eine geht nicht ohne das andere, wenn man denn der Schere von Relativierung und Essentialisierung entgehen will. Ein vierter Punkt betrifft die impliziten Raumvorstellungen der Transferforschung. Der Transferbegriff entstammt ja einer räumlichen Vorstellungswelt. Und in der Tat lässt sich fest- <?page no="30"?> Michael Werner 30 stellen, dass Transferstudien oft auf einen verräumlichten Kulturbegriff zurückgreifen. Da schwingen dann Vorstellungen von Kulturräumen, von Grenzzonen zwischen Kulturen oder auch von Wanderwegen der Kultur mit, wie sie in der älteren Kultur- und Rechtsgeographie verwendet wurden. Wie der neuere spatial turn der Kultur- und Sozialwissenschaften anzeigt, ist mit der Problematik der Erfassung der räumlichen Dimension sozialen Handelns nicht nur eine empirische, sondern auch eine erkenntnistheoretische Frage aufgeworfen. Kulturen lassen sich nicht nach der Art von Flächen abbilden. Sie sind an die Menschen gebunden, die sie transportieren, und ihre räumliche Verbreitung hängt von den Kommunikationsstrukturen ab, die sich bekanntlich historisch stark gewandelt haben. Wie andere Formen von sozialen Räumen werden auch die Räume der Kultur von den Bewegungen der Akteure sowie über die vom physischen Raum nur noch bedingt abhängigen Vernetzungen der Kommunikationsströme permanent neu konfiguriert. Ein Ausdruck wie „Grenzgänger zwischen den Kulturen“ kann deshalb immer nur metaphorisch und meistens auch nur für Situationen verwendet werden, in denen ein Akteur seine kulturelle „Mehrsprachigkeit“ bewusst zu „Übersetzungshandlungen“ mobilisiert. Solche Übersetzungen sind allerdings überaus häufig und bestimmen viele Alltagssituationen in Familien, Gruppen, zwischen Berufsvereinigungen und disziplinären communities , kurz zwischen allen Personen, die sich auf unterschiedliche Codes und Normen beziehen. Mit ihrer Häufigkeit schwindet indessen die Anschaulichkeit einer Verräumlichung kulturspezifischer Prozesse, die eher vereinfacht, als dass sie komplexe Beziehungen darzustellen vermag. Territorialisierung oder räumliche Verankerung von Kultur läuft über lokale Handlungen ab. Aber sie schafft kein geschlossenes, etwa durch politische Strukturen oder durch Rechtsverhältnisse bestimmtes Territorium. Darum ist der Begriff des Kulturraums analytisch prinzipiell fragwürdig und sollte immer historisiert werden. Die zweite Gruppe von Problemen hat mit den Merkmalen des Untersuchungsgegenstands zu tun, in unserem Fall den soziokulturellen Interaktionen zwischen Deutschland und Frankreich und den Veränderungen, die sich in den letzten Jahrzehnten in diesem Bereich vollzogen haben. Wie wir sahen, hat die Kulturtransferforschung wie auch der Gesellschaftsvergleich nicht auf die Fixierung von zwar miteinander kommunizierenden, aber doch getrennten nationalkulturellen Einheiten verzichten können. Ohne diese Fixierungen wird ihr analytischer Referenzrahmen problematisch. Wie soll sie dann auf die wachsenden Verflechtungen zwischen den beiden Gesellschaften reagieren? Sicher, kulturelle Verflechtungen zwischen den Nachbarländern hat es historisch schon immer gegeben. Sie waren Teil einer gemeinsamen Geschichte. Aber ihre Intensität hat seit den 1950er Jahren in einem Maße zugenommen, dass man wohl von einem qualitativen Sprung sprechen kann. Das betrifft Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung wie Jugendkultur, Theater, Medien, Stadtplanung, Berufsorganisationen, Tourismus, Landwirtschaft, Unternehmenskultur und viele andere Bereiche. Das heißt nicht, dass die alten polarisierenden Konstruktionen des „Anderen“ aus den Argumentationen verschwunden wären. Im Gegenteil, sie werden anlässlich der vermehrten Kontakte immer wieder neu mobilisiert, etwa im sogenannten interkulturellen Management oder in der interkulturellen Kommunikation. Aber sie haben ihre generalisierenden Bedeutungen weitgehend verloren. Eine der Konsequenzen der zunehmenden Verzahnungen der beiden Gesellschaften - und das wäre ein zweiter Punkt - ist, dass es immer schwieriger wird, einzelne Transfervorgänge zu isolieren und analytisch getrennt zu behandeln. Vielmehr ist festzustellen, dass sie miteinander vielfach interagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Auf diese Weise entstehen ineinander verwobene Interdependenzketten, die in die Analyse einzubeziehen sind. Um die Situation zu verdeutlichen, mag es sinnvoll erscheinen, nicht mehr von einem flächigen, zweidimensionalen Modell von horizontalen Transfers auszugehen, sondern eine dreidimensionale Konstellation zugrunde zu legen, d.h. ein Beziehungsgeflecht, das verschiedene Ebenen von Austausch, Interaktion und Interdependenz miteinander verbindet und ineinander verschränkt. <?page no="31"?> Konzeptionen und theoretische Ansätze zur Untersuchung von Kulturbeziehungen 31 3. Vom Transfer zur Verflechtung An dieser Stelle setzt das methodische Werkzeug der Histoire croisée an. Hier seien nur einige wenige Merkmale hervorgehoben, die für die Untersuchung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 von Bedeutung sein mögen. Der besseren Übersichtlichkeit halber sind die Argumente durchnummeriert, auch wenn dadurch die Dinge vereinfacht werden. 1. Während die Transferforschung sich auf einzelne Vorgänge von Import bzw. Export konzentriert, versucht die Histoire croisée die wechselseitige Bedingtheit der fraglichen Prozesse herauszuarbeiten. Auf vielen Gebieten lässt sich in der Tat beobachten, dass sich gesellschaftliche, politische und kulturelle Prozesse zwar einerseits in einzelnen nationalstaatlichen Rahmungen vollziehen, dabei aber die Prozesse in anderen Staaten miteinbeziehen und somit eine transnationale Komponente aufweisen. Veränderungen etwa das Arbeitsbeziehungen und des Arbeitsrechts, der Bildungssysteme, der Umweltpolitik oder der Stadtplanung und des Transportwesens sind heute in Europa transnational miteinander verflochten. Die Entwicklungen in einem einzelnen Land können nicht verstanden und erklärt werden, ohne ihren Entsprechungen in den anderen Ländern Rechnung zu tragen. Dabei geht es keineswegs um eine Form von allgemeiner Homogenisierung. Im Gegenteil sind es gerade die Unterschiede und die Variationen im transnationalen Frage-und-Antwort-Geflecht, die heuristische Bedeutung besitzen. Für bestimmte Zuständigkeitsbereiche sind natürlich die von den EU-Institutionen erlassenen Richtlinien von Bedeutung, die dann jeweils nationalstaatlich umgesetzt werden. Aber auch hier sind die einzelnen nationalstaatlichen Wege nicht mehr voneinander zu trennen. Sie reagieren aufeinander und beinhalten sich somit bis zu einem gewissen Grad gegenseitig. 2. Die nationalkulturelle Untersuchungsebene ( scale ) hat viel von ihrer Eindeutigkeit verloren. Auch wenn man sich immer noch auf „deutsche“ und „französische“ Kultur berufen mag, derartige Zuweisungen werden heute von vielen anderen quer dazu liegenden Kategorisierungen überlagert. Jugend- und Stadtkultur, kulinarische Kulturen, lokale und regionale Zuschreibungen, Berufs- und Unternehmenskulturen, Bio-Bewegungen, Wohnkulturen und Verbraucherschutz, Wirtschaftsrecht, Werbung, Design, Film- und Musikkulturen, all dies lässt sich heute nicht mehr auf der nationalen Ebene zusammenfassen. Das heißt nicht, dass es keine spezifisch nationalen Ausprägungen dieser Kulturformen mehr gäbe. Aber sie sind eingebettet in andere Klassifikationen, Ordnungs- und Kodierungssysteme. Methodisch ergibt sich daraus die Konsequenz, die verschiedenen Untersuchungsebenen einerseits zu differenzieren und zugleich andererseits den vielfachen Verbindungen dieser Ebenen nachzuspüren. Denn auch hier gilt: Keine existiert für sich allein, vielmehr überkreuzen sie sich vielfach und stehen zueinander in einem dynamischen, mobilen Interdependenzverhältnis. 3. Den wechselseitigen Verschlingungen der Untersuchungsgegenstände und -ebenen nachzugehen, bedeutet nicht, dass die entsprechenden Verhältnisse jeweils symmetrisch wären. In der französischen Hochschulpolitik etwa schaut man derzeit mehr auf die deutschen Erfahrungen als umgekehrt. Und in Fragen der Frauenbeschäftigungsquote oder der Familienpolitik ist der Erfahrungsaustausch eher andersherum gewichtet. Aber Asymmetrie bedeutet nicht Einbahnbeziehung. Auf allen diesen Feldern geht es um sich in einem überschneidenden Kommunikationsraum verlaufende Wechselbeziehungen. Die jeweiligen sozialen und kulturellen Einheiten, die miteinander kommunizieren, sind nicht mehr im Sinne Bourdieus als tendenziell autonome Felder oder im Sinne Luhmanns als Systeme mit vorzüglich eigener Logik zu verstehen, wie das der Ansatz des Kulturtransfers noch voraussetzte. Im Gegenteil tragen ihre Vernetzung und die daraus resultierenden Interaktionen dazu bei, die jeweiligen sozialen und kulturellen Handlungseinheiten permanent umzuformen. 4. Die Vervielfachung der am Austauschprozess beteiligten Akteure, die Berücksichtigung der Tatsache, dass die Transferprozesse in mehreren Richtungen zugleich verlaufen und die Ver- <?page no="32"?> Michael Werner 32 flechtung der Untersuchungsebenen führen dazu, dass sich die Forschungskonstellation entscheidend verändert. Während die klassische Transferforschung von zweipoligen Strukturen ausging (Ausgangs- und Rezeptionskultur, dazwischen die von den Vermittlern getragene Transferbewegung) und deshalb nur selten dazu kam, zusätzliche Partner ins Blickfeld zu nehmen, stellt sich die Histoire croisée das Ziel, die Vielzahl der Verflechtungen und der Bewegungsrichtungen zu berücksichtigen. Das kann natürlich nur schwer in Gestalt einer Gesamtbeschreibung komplexer Konstellationen erfolgen. Vielmehr wird versucht, die Mannigfaltigkeit der Verknüpfungen und der Interdependenzen eher an einzelnen Gegenständen aufzuzeigen. Nur da ist genauer zu sehen, wie die jeweiligen Knoten geschlungen werden. Deshalb versteht sich die Histoire croisée eher als objektzentriertes Verfahren. 5. Die Verflechtungen beziehen sich indessen nicht nur auf den Forschungsgegenstand, sie haben auch Konsequenzen für das Verfahren. In der Tat hat die fortschreitende Integration vor allem der jüngeren sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung in Frankreich und Deutschland zur Folge, dass es immer schwieriger wird, „nationale“ Forschungsgesichtspunkte zu unterscheiden. Bi-nationale Master- und Doktorandenstudiengänge, Cotutelle-Abschlüsse bei Promotionen, bilaterale und multilaterale Forschungsprojekte führen zu einer wachsenden Verknüpfung der Beobachterpositionen der Forschung und der Sichtweisen auf ihre Gegenstände. Die Themenstellungen verändern sich. In diesem Sinne heißt „croiser“, dass der Forscher selbst aktiv am Verflechtungsprozess teilnimmt. Das bedeutet, auch hier, keineswegs, dass die Unterschiede verwischt würden, um in einer neuen, homogenen Welt aufzugehen. Wenn etwas Neues dabei entsteht, so ist es vielmehr das wachsende Bewusstsein für die Verflechtung und die Interdependenz der Gesichtspunkte, seien sie nun nationaler, disziplinärer oder generationsspezifischer Art, - und damit ein Mehr an Reflexivität. Alle dieser hier kurz gezeichneten Tendenzen in der Erforschung von Kulturbeziehungen betreffen natürlich nicht nur das deutsch-französisch Forschungsfeld. Sie sind Teil einer umfassenden Entwicklung der neueren Sozial- und *Kulturwissenschaften, die mit dem Ende des europäischen (oder euro-atlantischen) Wissenschafts- und Deutungsmonopols zusammenhängt. Reflexive Selbstverständigung über die eigenen Ansätze und Methoden ist heute allenthalben angesagt. Was den deutsch-französischen Bereich in dieser Hinsicht allenfalls auszuzeichnen vermag, ist einerseits die Intensität der Verflechtungen. Dabei betreffen die Verschachtelungen nicht nur das eigentliche kulturelle Feld, etwa Theater, Musik, Kunst, Ausstellungen, Museen, Architektur, Medien, kulturelle Praktiken wie Straßenkunst, Festivals und dergleichen mehr; sie sind auch Teil eines größeren Prozesses, wo kulturelle Faktoren mit gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen interagieren. Des Weiteren ist festzustellen, dass das klassische deutschfranzösische Face-à-Face zunehmend an Bedeutung verliert. Andere Player und andere Bühnen sind zunehmend in die frühere Zweisamkeit miteinbezogen, man denke nicht nur an Amerika oder klassische europäische „Dritte“ wie Italien, den Benelux, die Schweiz und die aus der Habsburgermonarchie hervorgegangen Länder, sondern vor allem an den Vorderen Orient, die Türkei und den Maghreb, Afrika, Lateinamerika und den Fernen Osten. Immigration und daraus resultierende mehr oder minder hybride Subkulturen, Praktiken der Integration, der Abschließung der Vermischung sind vielschichtig und gewissermaßen quer zu den einzelnen Arenen miteinander vernetzt. Der andere Aspekt betrifft die Forschungsseite. Auch da ist zu beobachten, dass sich die alten dichotomischen Setzungen verflüssigt haben. Die Forschungsstandpunkte sind ineinander verquickt und integrieren darüber hinaus viele, außerhalb des deutsch-französischen Kerns situierte Positionen. Die Forschungskonstellation ähnelt mehr einem multipolaren dreidimensionalem Geflecht wechselseitiger Interdependenzen. Auch dies ist ein Beleg dafür, dass das Modell des Transfers zwischen autonom gedachten Einheiten nicht mehr zutrifft. Nicht nur die erforschten Gegenstände und Prozesse sind ineinander verwoben, sondern auch die Positionen, von denen <?page no="33"?> Konzeptionen und theoretische Ansätze zur Untersuchung von Kulturbeziehungen 33 aus sie analysiert werden. Ein fast schon klassisches Beispiel dafür wäre die Forschung über mémoire , memory und Erinnerung, in der sich national bedingte, disziplinäre, politische, ökonomische und moralische Perspektiven kreuzen. Das heißt indessen nicht, dass bestimmte „deutsche“, „französische“ oder wie auch immer anders definierte Standpunkte in einen in seinen einzelnen Komponenten nicht mehr analysierbaren „Brei“ zusammengerührt worden sind. Vielmehr bedeutet Verflechtung eine Zunahme an Komplexität, und damit die Notwendigkeit präziserer Definitionen und feinerer Differenzierung. Gerade in dieser Hinsicht und unter Berücksichtigung der genannten Erweiterungen bleiben die deutsch-französischen Kulturbeziehungen ein ungemein spannendes Laboratorium kulturwissenschaftlicher Forschung. Conrad, Sebastian, Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004. Conrad, Sebastian, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006. 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Kaelble, Hartmut, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/ M. 1999. Kaelble, Hartmut, Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer, Frankfurt/ M. 2003. Osterhammel, Jürgen, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001. Paulmann, Johannes, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer: Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267 (1998) 3, S. 649-685. Pernau, Margrit, Transnationale Geschichte, Göttingen 2011. Werner, Michael, Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607-636. Werner, Michael, Bénédicte Zimmermann, Penser l’ histoire croisée : entre empirie et réflexivité, in: Annales H.S.S. 57 (2003), S. 7-34. 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Zugleich jedoch ermöglichten die verkehrs- und nachrichtentechnischen Neuerungen und die gesellschaftlichen Umwälzungen auch die Entstehung von Formen wechselseitiger transnationaler Kenntnisnahme und Kommunikation in breiteren Schichten der Bevölkerung. Die politischen Konstellationen dieser Jahrzehnte setzten diesem Interesse Grenzen in der Phase von 1919 bis 1924 sowie nach 1930, sie förderte sie in der „Locarno-Ära“ in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Dabei standen den Regierungen beider Länder erst wenige institutionelle Ansätze Auswärtiger Kulturpolitik zur Verfügung, und der allergrößte Teil der politischen Lenkung der im Kulturaustausch maßgeblichen zivilgesellschaftlichen Organisationen erfolgte bis etwa 1935 über die Gewährung oder Verweigerung der von diesen angeforderten materiellen Unterstützungen durch die öffentliche Hand. Die richtungweisende strukturelle Neuerung in den deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen bestand während der Zwischenkriegszeit in der Gründung und Gestaltungsfunktion bildungs- und wirtschaftsbürgerlicher Verständigungsorganisationen und in den mit ihnen verbundenen vielfältigen Begegnungsinitiativen. Da sie in ihrer organisatorischen Gestalt im Vergleich zur Zeit vor 1914 ein Novum waren und für die Zeit nach 1945 einen Erfahrungssockel für die Neukonzipierung der Gesellschafts- und Kulturbeziehungen darstellten, erscheint es gerechtfertigt, sie ins Zentrum einer Skizze der bilateralen Kulturbeziehungen 1919 bis 1939 zu rücken, ohne jedoch die staatlich-institutionelle Handlungsebene und die individuellinterpersonellen Interaktionsbereiche auszublenden. 1. Das pazifistische Motiv in den Kulturbeziehungen Im Ersten Weltkrieg hatte das Thema der nationalkulturellen Überlegenheit eine zentrale Rolle in der Propaganda der kriegführenden Nationen gespielt. In den Reihen der kriegskritischen Kräfte Frankreichs und Deutschlands gewann die Infragestellung dieses übersteigerten Kulturnationalismus zwischen 1914 und 1918 zunehmend an Bedeutung und wurde in den konfliktreichen ersten Nachkriegsjahren zum Ansatzpunkt für die Wiederaufnahme des Gesprächs zwischen französischen und deutschen Intellektuellen. Diese Kritik an der kulturideologischen Rechtfertigung des Krieges verband sich vor allem in der Siegernation Frankreich mit der bestürzenden Bilanzierung der Menschen- und Materialverluste, die der Grande Guerre verursacht hatte, und die Verbindung der prinzipiellen und der aktuellen Kriegskritik begründete eine von großen Teilen der Franzosen vertretene Disposition zur zukünftigen Kriegsverhinderung, so z.B. in den einflussreichen Großgruppen der Kriegsteilnehmerverbände oder der Volksschullehrergewerkschaften. In Deutschland hatte eine solche Verhaltensdisposition im Zeichen der Niederlage und des Versailler Vertrages ungleich geringere gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten. Gleichwohl wurden auch hier die kriegsgegnerischen Minderheiten zu den Protagonisten verständigungspolitischer Bemühungen im Verhältnis zu Frankreich, die (mit Vorbehalten) die Politik des Völkerbundes befürworteten. Ihre übergeordneten Ziele und ihr kleinster gemeinsamer Nenner waren <?page no="35"?> Deutsch-französische Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit 35 in der Weimarer Republik die völkerrechtliche Sicherung des Friedens und die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen demokratischen Postulate in Deutschland. Die organisierte Bewegung der 1920er Jahre in Deutschland, die die aktivste Rolle spielte in den frühen Versuchen, die Kommunikation mit Gleichgesinnten in Frankreich wieder aufzubauen, war die Deutsche Liga für Menschenrechte (DLM). Sie war hervorgegangen aus dem Bund Neues Vaterland (BNV) und in Kontakt mit der aus der Dreyfus-Affäre entstandenen französischen Ligue des Droits de l’Homme (LDH), die ihrerseits ab 1918/ 19 ihr Menschenrechtsprogramm um einen internationalen Forderungskatalog erweitert hatte. Aus den direkten Gesprächen zwischen beiden Organisationen erwuchs der Entschluss der deutschen Republikaner und Pazifisten, im Januar 1922 mit dem neuen Namen Deutsche Liga für Menschenrechte ihre prinzipielle Übereinstimmung mit der Ligue des Droits de l’Homme zu bekunden und deren Zentralkomitee begrüßte noch im selben Monat diese Geste der grenzüberschreitenden Solidarität. LDH und DLM traten zugleich mit einer gemeinsamen Erklärung „An die Demokraten Deutschlands und Frankreichs“ in die Öffentlichkeit, die als erstes Dokument transnationaler Programmerklärung zwischen deutschen und französischen Gesellschaftsgruppen seit Kriegsende gelten kann. Die DLM war eine von rund 30 pazifistischen Organisationen in der Weimarer Republik und zählte nicht mehr als 200 Mitglieder zu Anfang, rund 1000 in der Mitte und etwa 2000 organisierte Anhänger gegen Ende der Republik. Sie wirkte in der politischen Öffentlichkeit und in der Gesellschaft nicht durch die Quantität, sondern aufgrund der Qualität ihrer namhaften Repräsentanten. Insbesondere Robert René Kuczynski (Direktor des Statistischen Amtes von Berlin- Schöneberg) war eine der Schlüsselpersonen der DLM in den Frankreichbeziehungen; er gab u.a. ab 1923/ 24 die „Deutsch-Französische Wirtschaftskorrespondenz“ heraus und warb für eine Europäische Zollunion. Die Öffentlichkeitswirkung zugunsten der Ziele der DLM, die vom Bekenntnis bekannter Intellektueller ausging, wurde verstärkt durch eine Reihe von Relaisstationen in der Gesellschaft. Einen zusätzlichen gesellschaftlichen Resonanzboden für ihre pazifistischdemokratische Überzeugungsarbeit fand die DLM im Bund entschiedener Schulreformer (BeS), der politisch eine kritische Nähe zur SPD aufwies und einen Schulunterricht gemäß dem Prinzip des „völkerversöhnenden Pazifismus“ propagierte. Einer seiner Mitbegründer, Siegfried Kawerau, war zeitweilig Vorstandsmitglied der DLM und einer der Inspiratoren des deutsch-französischen Schüleraustauschs und Schülerbriefwechsels. Die friedenspädagogisch begründeten deutsch-französischen Schulkontakte gingen in den späten 1920er Jahren dann in die Regie der bildungsbürgerlichen Deutsch-Französischen Gesellschaft (DFG) über, die über vergleichsweise mehr Ressourcen verfügte als die pazifistischen Organisationen. Diese Organisationen im Allgemeinen und die DLM aufgrund ihres Frankreich-Engagements im Besonderen wurden von der überwältigenden Mehrheit der öffentlichen Meinung in der Weimarer Republik unter den Verdacht des potenziellen Landes- oder Hochverrats gestellt. Tatsächlich jedoch waren die Beziehungen der DLM zu Frankreich weder vorbehaltsnoch konfliktfrei. In den kontroversen Kernfragen der Versailler Nachkriegsordnung, der „Alleinschuld“-These des Artikel 231 und des Beitritts zum Völkerbund, wurde von DLM-Repräsentanten eine nach französischer und deutscher Seite hin kritische Stellung eingenommen und eine eigenständige Konzeption eines noch zu schaffenden „wahren Völkerbundes“ vertreten, der zum Ziel einer „Republikanisierung und Vereinheitlichung Europas“ führen sollte. Namentlich der Generalsekretär der DLM, Otto Lehmann-Rußbüldt, bezog sich dabei auf die Aufklärungstradition der Europa-Idee. Auf der Ebene gesellschaftlichen Handelns erprobten die deutschen und die französischen republikanischen Pazifisten in der Konfliktphase der frühen 1920er Jahre Praktiken vertrauensbildender Maßnahmen in der Form von öffentlichem Redner- und Schüleraustausch. Die Redner-Austauschaktionen, die Mitte 1922 begannen, lösten in Deutschland nach dem Ruhrkonflikt überaus heftige Gegenreaktionen aus und bewegten vorübergehend die nationale Öffentlichkeit beider Länder. Der Kindererholungs- und Schüleraustausch der LDH und der DLM verliefen vergleichsweise diskreter und wurden <?page no="36"?> Hans Manfred Bock 36 maßgeblich gestaltet von den reformpädagogischen Kräften in ihren Reihen. Die frühesten Besuche bekannter deutscher Wissenschaftler und Schriftsteller in Paris hatten keinen direkten Bezug zu den beiden Pazifisten-Verbänden, wurden jedoch im Falle von Albert Einstein (1921) und Fritz von Unruh (1924) durch das pazifistische Milieu beider Länder ermöglicht und geprägt. Die pazifistischen Wortführer waren die prädestinierten Gegner der Nationalsozialisten. Sie standen ab 1933 zuoberst auf deren Ausbürgerungslisten und waren gezwungen, ins Exil zu gehen. Dort bildeten sie in London, Prag und vor allem in Paris Stützpunkte des Widerstandes gegen Hitler- Deutschland. Mit Unterstützung der LDH und ihrer Ansprechpartner im Umkreis der französischen Sozialdemokratie (SFIO) und des Parti radical spielten sie eine im Verhältnis zu ihrem Organisationspotential bemerkenswert große Rolle bei der Zusammenfassung der deutschen Exilanten zu Selbsthilfeorganisationen und bei der Lancierung antinazistischer Propaganda. Nach dem Scheitern der parteipolitisch geführten Verhandlungen über die Schaffung einer Volksfront der Linksparteien im Exil im Herbst 1937 sammelten sich die trotz der Kriegsdrohung nicht resignierenden Exilaktivisten noch Anfang 1939 in einer binationalen Deutsch-Französischen Union/ Union Franco-Allemande (CDFU/ UFA). War bereits die kulturelle Arbeit das stärkste Band der vorher ins Leben gerufenen Exilorganisationen (z.B. der im Mai 1934 unter dem Präsidium von *Heinrich Mann gegründeten Pariser Deutschen Freiheitsbibliothek), so machte auch die DFU/ UFA das soziokulturelle Wirken zum Leitgedanken ihres Programms. Sie unterhielt als Publikationsorgan das von dem dissidenten Kommunisten Willy Münzenberg gegründete Periodikum „Die Zukunft“, in dem auch Vertreter des republikanischen Pazifismus zu Worte kamen. Viele der Stationen und grenzüberschreitenden Kulturaktivitäten des republikanischen Milieus der Zwischenkriegszeit spiegeln sich im entsprechenden Lebensabschnitt des Leipziger Romanisten Wilhelm Friedmann und des Schriftstellers Jean-Richard Bloch sowie in ihren Beziehungen dieser Jahrzehnte. Die DFU/ UFA wollte unter Wahrung der Werte des Humanismus und der Menschen- und Bürgerrechte „mit allen geeigneten Mitteln der Annäherung und Zusammenarbeit aller wahren Repräsentanten des geistigen und politischen Lebens beider Länder“ dienen. Die Absicht der Friedenssicherung durch die Auflösung des deutsch-französischen politischen Antagonismus vermittels der Intensivierung des Kultur- und Gesellschaftsaustausches war allen organisierten und individuellen Verständigungskräften der Zwischenkriegszeit gemeinsam. Ihre politische Interessenanbindung, ihre Kriegsursachenanalyse und ihre übernationalen Gestaltungsvorstellungen hingegen divergierten. 2. Das bildungsbürgerliche Fundament der Kulturbeziehungen Die gesellschaftlichen Bedingungen für den Bau eines festeren Fundaments der bilateralen Kulturbeziehungen entstanden 1925 mit den Locarno-Verträgen, die in manchen Bereichen soziokulturelle Projekte zur Verwirklichung kommen ließen, die schon früher erwogen worden waren. So waren es auch nicht ganz neue Protagonisten im bilateralen Verkehr zwischen beiden Nationen, die im akademischbildungsbürgerlichen Milieu ab 1924/ 25 die ersten Schritte unternahmen. Generell stand die akademisch gebildete Intelligenz Deutschlands in Frankreich nach 1918 im Ruf eines aggressiven Kulturnationalismus ( pangermanisme ). Der Rechtfertigungsappell deutscher Intellektueller zur Kriegsführung vom September 1914 („Aufruf der 93“) war eine der Grundlagen für den Ausschluss deutscher Wissenschaftler von den internationalen Kongressen in der ersten Hälfte der 1920er Jahre. Es war dann der Kunsthistoriker Otto Grautoff, der vor 1914 auf der Ile de la Cité eine Art deutsch-französischen Salon unterhalten hatte, der sich mit Förderung des Auswärtigen Amtes als privater Emissär in Frankreich erfolgreich betätigte und u.a. 1925 vom amtierenden Kultusminister die Zusage für die Aufhebung des Boykotts der deutschen Wissenschaftler erhielt. Zwei Projekte gewährleisteten dem kulturellen Interesse am anderen Land eine konkrete Basis und kontinuierlichen Informationsfluss. Zum einen war das ein doppeltes Zeit- <?page no="37"?> Deutsch-französische Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit 37 schriftengründungsprojekt, das ab 1927 in der Revue d’Allemagne (RdA) und ab 1928 in der Deutsch-Französischen Rundschau (DFR) Gestalt annahm. Zum anderen wurden zwei Verständigungsorganisationen ins Leben gerufen: die Deutsch-Französische Gesellschaft (DFG) und die Ligue d’études germaniques (LEG), die ein halbes Jahrzehnt lang zu Achsen soziokultureller Interaktion wurden. Von den rund 3 000 nachweisbaren Mitgliedern der DFG waren 13,5 % Gymnasial- und Hochschullehrer, 10,2 % waren Industrielle und Kaufleute. Stark vertreten waren auch Funktionsträger der öffentlichen Verwaltung und der Justiz (je 7,4 % und 7 %), unterrepräsentiert blieben hingegen die Militärberufe (0,3%). Die aktivsten Mitarbeiter von DFG und LEG kamen aus den Lehrberufen beider Länder, ihre großzügigsten Geldgeber aus dem Bereich exportinteressierter Industrieunternehmen und der Banken. Den Höchststand an zahlenden Mitgliedern erreichte die DFG im Jahre 1930 und bei weitem am stärksten vertreten war sie in Berlin, Frankfurt/ M. und in Stuttgart. Die DFG, die mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder in Berlin hatte, fasste die regionalen Zweigorganisationen im Reich nur locker zusammen durch die Herausgabe des Zentralorgans DFR und umfasste keineswegs alle deutsch-französischen Vereinsgründungen der Locarno-Ära. So fügte z.B. die Hamburger Deutsch-Französische Gruppe e.V. sich nicht in den Organisationsrahmen der DFG ein und auch die Leipziger Société d’études franco-allemande entzog sich deren Zentralisierungsbestrebungen. Unter diesen Umständen bildeten die verschiedenen städtischen Ortsgruppen durchaus verschiedene Profile ihrer Verständigungsstrategie aus. Die Berliner DFG suchte unter Grautoffs Leitung die Nähe des diplomatischen Milieus, während die Frankfurter DFG unter dem Einfluss des Soziologen Gottfried Salomon eine Strategie vertrat, die auf die interkulturelle Lernfähigkeit der Funktionseliten zwischen Frankreich und Deutschland setzte und damit ein zentrales Motiv der Verständigungskonzeption der Nachkriegszeit vorwegnahm. Das Repertoire der transnationalen Begegnungsformen bestand aus Besuchen und Vorträgen von Repräsentanten der anderen Kultur, organisierten Reisen ins Nachbarland, Veranstaltungen erklärenden und werbenden Charakters deutscher Frankoromanisten und französischer Germanisten über das andere Land, Schüler- und (in geringem Umfang) Studentenaustausch und vor allem in der Herausgabe monatlich erscheinender Zeitschriften (DFR und RdA), die sich umfassende Aufklärung über die Nachbarnation zum Ziel setzten. Die LEG veröffentlichte zusätzlich ein Verbandsblatt („Se connaître“), das vorrangig der aktuellen Deutschlandinformation französischer Gymnasiallehrer diente. Die beiderseits vorgetragene Verständigungskonzeption der bildungsbürgerlichen Vereinigungen spiegelten jeweils deutlich den außenpolitischen Konsens der nationalen Eliten wider. Auf der deutschen Seite den Revisionsanspruch bezüglich des Versailler Vertrages und den „kulturkundlich“ formulierten Willen, den anderen besser zu kennen, um sich selbst national klarer zu definieren. Auf der französischen Seite ein republikanischer Universalismus, der von der politischen Rechten mit der Versailler Nachkriegsordnung gleichgesetzt wurde und von der Linken stärker mit pazifistischen Ideen verbunden und auch kritisch gegen Versailles gewendet wurde. Im Zusammenhang mit der Entstehung neuartiger Organisationen zur Förderung soziokultureller Kontakte erfuhren auch die interpersonellen und die institutionellen Kontaktstrukturen neue Impulse. Ab 1925 begann in größerem Maßstabe der Reiseverkehr von Intellektuellen und Künstlern in beiden Richtungen; er erfolgte überwiegend individuell und spontan, bevor die Nationalsozialisten ihn durch Visa und Devisenrestriktionen zu regulieren begannen. Vor dem Erfahrungshintergrund des neuen kulturellen Interesses am Nachbarland entstanden die essayistischen Erfolgsbücher von *Friedrich Sieburg und *Paul Distelbarth über Frankreich und von Pierre Viénot und Wladimir d’Ormesson über Deutschland; sie trugen nachhaltig bei zur Formung der beiderseitigen kollektiven Vorstellung voneinander. Gleichzeitig begann in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die massenmedial vermittelte Informationsverbreitung durch das Radio und den Film. In Deutschland setzte sich das Interesse der Vorkriegsjahre an der Entwicklung der Bildenden Kunst in Frankreich auf breiterer Basis fort; es wurde stabilisiert durch namhafte Gales <?page no="38"?> Hans Manfred Bock 38 rien (Daniel-Henry Kahnweiler, Alfred Flechtheim). In Frankreich nahm das Interesse an der Musik und ihren Interpreten aus Deutschland immer noch zu und beherrschte bis weit in die 1930er Jahre das Pariser Konzertleben (mit zahlreichen Richard-Wagner-Aufführungen). Hatte für die frühe Dritte Republik die Berufung auf Kant eine wichtige Rolle im akademischen und politischen Leben gespielt („kantisme“), so wurde von der jungen Intellektuellengeneration der Zwischenkriegszeit dem Denken Hegels, Husserls und *Heideggers eingehende Aufmerksamkeit gewidmet und dies Interesse gestaltete sich zum Ausgangspunkt eigenständiger philosophischer Synthesen (*Existentialismus, Marxismus). Aufschlussreicher als die französischen Deutschland- oder die deutschen Frankreich-Romane dieser Zeit sind für die kulturelle Problemlage zwischen den Intellektuellen beider Nationen ihre Korrespondenzen, die mittlerweile in großer Zahl veröffentlicht worden sind (Romain Rolland - Stefan Zweig, *Ernst Robert Curtius - André Gide, Wilhelm Friedmann - Jean-Richard Bloch, *Heinrich Mann - Félix Bertaux. *Pierre Bertaux‘ Berliner Briefe an seine Eltern u.a.). Die neue kulturelle Beweglichkeit zwischen Deutschen und Franzosen, die in der „Locarno-Ära“ zu Tage trat, brauchte eine Weile, bevor sie in institutionelle Politik umgesetzt wurde. Nach dem Eintritt des Deutschen Reiches in den Völkerbund (September 1926) stellte sich die Frage nach der Auswahl deutscher Repräsentanten für dessen kulturelle Einrichtungen. Unter maßgeblichem Einfluss des Preußischen Kultusministers (Carl Heinrich Becker) wurden die Spitzenpositionen in der Internationalen Kommission für geistige Zusammenarbeit und im Pariser Institut für geistige Zusammenarbeit besetzt. Albert Einstein war als überragender Wissenschaftler und Pazifist ab 1922 bereits ad personam zum Mitglied der kulturellen Völkerbund-Kommission gewählt worden, sein Stellvertreter (Hugo Andres Krüss, ab 1925 Direktor der Berliner Staatsbibliothek) kam aus dem Preußischen Kultusministerium. Diese Konstellation wiederholte sich bei der Besetzung der sichtbarsten Stellen im Pariser Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit. Die mit gouvernementaler Hilfe und Billigung geschaffenen bilateralen Kulturinstitutionen kamen erst an der Schwelle zu den 1930er Jahren zustande. In enger Verbindung mit den Schrittmachern der gesellschaftlichen Verständigungsorganisationen kam es in Paris (1928/ 1931) und in Köln (1930) zur Eröffnung deutsch-französischer Kultureinrichtungen, die den bildungsbürgerlichen Vereinigungen mit den universitären Mitteln von Lehre und Forschung zur Seite stehen und über das Nachbarland informieren sollten. Das deutsch-Französische Institut der Stadt Köln, das mit tätiger Hilfe von Oberbürgermeister Konrad Adenauer gegründet wurde und von dem Romanisten Leo Spitzer geleitet wurde, stand im Kooperationsverhältnis mit dem Ende 1931 in seiner definitiven Form eingeweihten Pariser Institut d’études germaniques, dessen Präsident der unternehmungsfreudige Verständigungspolitiker und Germanist Henri Lichtenberger war. Stärker als in diesen universitären Initiativen war der politisch-administrative Gestaltungswille am Werke in den frühesten akademischen Austauscheinrichtungen zwischen Deutschland und Frankreich, die asymmetrisch angelegt waren. Weniger der Begegnung als der Beobachtung des Nachbarlandes gewidmet waren zwei kulturelle Einrichtungen mit unterschiedlicher Zweckbestimmung: das *Centre d’études germaniques (CEG), ab 1921 in Mainz und ab 1930 in Straßburg, und das 1937 errichtete Goethe-Haus in Paris. Die Mainz-Straßburger Institution diente der Ausbildung deutschlandkundiger Offiziere und das Pariser Institut stand dem NS-Regime genehmen Kulturrepräsentanten als Anlaufstelle für Frankreichstudien zur Verfügung. Als Brückenkopf französischer Wissenschaftspräsenz in der Reichshauptstadt wurde Ende 1930 ein Akademikerhaus (Maison académique française) in Berlin eröffnet, das jungen postgradualen Wissenschaftlern eine Anlaufstelle für ihre weitere Qualifizierung bot, aber keine größere französische Kulturwerbung entfaltete. Im selben Jahr wurde die Pariser Zweigstelle des *DAAD gegründet, die von Anfang an eine Strategie der Zentralisierung der zivilgesellschaftlichen Begegnungsstrukturen zwischen deutschen und französischen Jungakademikern und die Absicht der offensiven Selbstdarstellung der deutschen Kultur verfolgte. Die offiziellen Institutionen, die diese Kulturinstitute ausgehandelt hatten <?page no="39"?> Deutsch-französische Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit 39 und ihre Arbeit beaufsichtigten, waren das ONUEF (Office national des universités et écoles françaises), das vom französischen Außen- und Erziehungsministerium gleichermaßen abhängig war, und (ab 1931) der *DAAD, dessen Selbständigkeit tendenziell ab 1934 und definitiv ab 1937 von gleich mehreren NS-Reichsministerien durchbrochen wurde. Der Umfang der von diesen Institutionen verwirklichten akademischen Austauschaktionen blieb in den 1930er Jahren eng begrenzt: Die Zahl der vom *DAAD nach Frankreich vermittelten *Lektoren bewegte sich pro Jahr zwischen 12 und 19. Die diesen Austauschvorgängen zugrunde liegende Handlungsanleitung bewegte sich von der Idee, in der Begegnung mit dem Fremdnationalen das eigene Nationalgefühl zu stärken, bis zu der (von Karl Epting eingeführten) Praxis, im Bündnis mit den antirepublikanischen Kräften in Frankreich den dort dominierenden republikanischen Konsens zu bekämpfen. Die Anhänger der Weimarer Republik in Deutschland, die von den Nationalsozialisten ins Exil verwiesen und dort noch diffamiert wurden, fanden in der republikanischen Synthese ihres Gastlandes den kleinsten gemeinsamen Nenner für ad-hoc-Bündnisse. Sie erzielten in Paris vor allem mit kulturellen Initiativen (Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Deutsche Freiheitsbibliothek, Freier Künstlerbund u.a.) Erfolg, nicht jedoch mit dem Versuch der Gründung einer Deutschen Volksfront im Exil. Nach der NS-Machtübernahme wurden die pazifistischen Befürworter des Austauschs mit Frankreich als erste ins Exil gezwungen. Die Nationalsozialisten waren jedoch an der Aufrechterhaltung der organisierten Gesellschaftskontakte nach Frankreich interessiert und bauten deshalb eine neue Struktur der Kontaktpflege auf. Für sie trat nach der Auflösung der ursprünglichen DFG ab Ende 1935 unter deren usurpiertem Namen „Deutsch-Französische Gesellschaft“ eine NS- Organisation auf und hatte in Paris eine Partnerorganisation, das Comité France-Allemagne (CFA). Diese neue Struktur des soziokulturellen Austauschs zwischen Deutschen und Franzosen war vor allem das Werk von Otto Abetz, der sein bilaterales Wirken im Rahmen der deutschfranzösischen Jugendbegegnungen der späten Weimarer Jahre (Sohlbergkreis) begonnen hatte. An die Stelle des Bildungsbürgertums trat in der NS-DFG als gesellschaftliches Rekrutierungsreservoir ein prekäres Bündnis von antirepublikanischen Jugendlichen und pazifistischen Kriegsteilnehmerverbänden, deren um Ausgleich bemühte Beziehungen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre begonnen hatten. Während der NS-Besatzung Frankreichs wurden alle kulturpolitischen Institutionen und Kräfte unter der Leitung von Karl Epting im Pariser Deutschen Institut und in einem Netz von zentral gesteuerten Kulturinstituten in der Provinz zusammengefasst. In Verbindung mit der Propagandaabteilung sollte dieses kulturpolitische Dispositiv dafür Sorge tragen, den „bewussten Einsatz der Geisteskräfte des deutschen Volkes zur Beeinflussung der geistigen Schichten anderer Völker und darüber hinaus zur Erringung der geistigen Führung in Europa“ zu bewirken. 3. Das wirtschaftsbürgerliche Interesse an den Kulturbeziehungen In der Zwischenkriegszeit setzte sich fortschreitend die Einsicht durch, dass die zahlreichen Komplementaritäten in der Wirtschaftsgesellschaft Deutschlands und Frankreichs eine effiziente Grundlage für das Verständigungsbemühen sein könnten und müssten. Im Rahmen der DLM propagierte der Wirtschafts- und Sozialstatistiker Robert Kuczynski nachdrücklich die Nutzung dieser günstigen Voraussetzungen für die Lösung der deutsch-französischen Probleme. Der Generalsekretär der DFG, der Publizist und Stresemann-Intimus Edgar Stern-Rubarth, war zugleich Mitbegründer des Europäischen Zollvereins (EZV) und deutscher Vertreter in der in Frankreich relativ einflussreichen Union douanière européenne (UDE). Er warb dort für die Konstituierung regionaler Gruppen souverän bleibender Nationalstaaten, die je eine „Wirtschafts-, Währungs- und Verkehrsgemeinschaft“ bilden sollten. Über dergleichen werbende Aktivitäten zugunsten transnationaler Wirtschaftsabsprachen und Handlungsbeziehungen verfolgten namentlich im Stutt- <?page no="40"?> Hans Manfred Bock 40 garter Raum einige Großunternehmen (Bosch AG, Linoleum-Werke in Bietigheim) eine unternehmerische Interessenpolitik, die sich mit den Zielen der DFG verband. Generell kann man feststellen, dass ab 1924 die unternehmerischen Initiativen in Deutschland und Frankreich sprunghaft zunahmen, die auf eine wechselseitig vorteilhafte Kooperation zielten. Diese Bewegung konkretisierte sich in zahlreichen Kartellbildungen, die auf deutsch-französischer Grundlage, aber mit multinationaler Dimension agierten und im deutsch-französischen Handelsvertrag vom August 1927 ihren Ausdruck fanden. Das komplexe Zusammenspiel zwischen kulturellen und ökonomischen Antrieben für die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit ist bislang am weitestgehenden erkennbar am Beispiel der Beziehungen zwischen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (IRG) (Sept. 1926) und dem Deutsch-Französischen Studienkomitee (Comité franco-allemand d’information et de documentation). Diese im Mai 1926 konstituierte Verständigungsorganisation, die bald schon nach dem Gründer beider transnationalen Organisationen „Mayrisch-Komitee“ genannte wurde, stand in einem funktionalen Verhältnis zur IRG, dessen Eigenart in der Forschung kontrovers beurteilt wird, dessen gleichgerichtete Finalität jedoch offensichtlich war. Zwar war das schwerindustrielle Quotenkartell (trotz der Beteiligung Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs) keine Präfiguration der Montan-Union der Nachkriegszeit. Aber im Gegensatz zu dieser gehörte gemäß den Vorstellungen des luxemburgischen Industriellen Émile Mayrisch zur Wirtschaftsverflechtung unabdingbar eine kultur- und sozialpolitische Handlungsebene hinzu, wenn sie für alle beteiligten Produzenten und Konsumenten dauerhaft und konfliktverhindernd sein sollte. Diesem Gedanken verpflichtet war die Gründung des Deutsch-Französischen Studienkomitees, dessen Durchführung Mayrisch dem jungen französischen Intellektuellen Pierre Viénot übertrug. Der luxemburgische Wohnsitz der Familie Mayrisch (Schloß Colpach) konnte vor allem deswegen zu einem Gravitationszentrum deutsch-französischer Kulturbegegnungen werden, weil dort bereits seit den frühen 1920er Jahren ein reger Besucherverkehr aus beiden Ländern stattfand, in dessen Mittelpunkt die literarisch ambitionierte und künstlerisch interessierte Dame des Hauses, Aline Mayrisch de Saint-Hubert, stand. In ihrer Sozialisation stark durch die deutschsprachigen Länder geprägt, unterhielt sie produktive Kontakte zur „Nouvelle revue française“ (NRF) und deren spiritus rector André Gide, sowie zu den Décades de Pontigny, die unter Beteiligung des NRF-Kreises von dem Philosophen Paul Desjardins in jedem Sommer von 1922 bis 1939 ausgerichtet wurden und Intellektuelle aus vielen europäischen Ländern versammelten. Die teilweise über Colpach nach Pontigny vermittelten deutschen Kulturrepräsentanten (*Ernst Robert Curtius, Arnold Bergsträsser, Max Clauss u.a.) standen ihrerseits dem jungkonservativen und neuaristokratischen Europäischen Kulturbund nahe, der vom österreichischen Prinzen Anton Rohan ins Leben gerufen worden war und von 1924 bis 1934 existierte. Da alle drei Zirkel nach dem Prinzip der elitären Kooptation funktionierten, der deutsch-französischen Problematik höchste Priorität einräumten und die kulturelle Einheit Europas neu begründen wollten, überschnitten sich ihre Netzwerke. Die Décades de Pontigny, zu deren innerem Führungskreis bald Bernherd Groethuysen gehörte, zogen zahlreiche bürgerliche Intellektuelle aus Deutschland an und vermittelten ihnen eine Vorstellung von gelebter kultureller Einheit Europas. Der Europäische Kulturbund zielte auf die Vernetzung jungkonservativer Intellektueller, Industrieller und Politiker. Er wirkte ab 1925 in der politisch-kulturellen Öffentlichkeit mit der Herausgabe der Zeitschrift „Europäische Revue“. Im Vergleich zum republikanisch grundierten Forum der Pontigny-Dekaden und zum jungkonservativ-katholischen Forum des Europäischen Kulturbundes war das Mayrisch-Komitee weniger ideologisch als soziologisch profiliert. Mit der Zielsetzung, die kommunikativen Voraussetzungen für die deutsch-französische Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene zu stabilisieren, kamen dort exponierte Vertreter der Industrie, der Politik und der Kultur zusammen. Das Studienkomitee beschloss schon früh, nicht mit eigenen periodischen <?page no="41"?> Deutsch-französische Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit 41 Druckerzeugnissen hervorzutreten. Die internen Diskussionen zielten verstärkt auf eine Annäherung der politischen Problemdefinitionen und -lösungen beider Sektionen, blieben jedoch immer wieder in deren Aporien stecken. Dergleichen unlösbare Dauerkonflikte divergierender politischer Wahrnehmung, der tödliche Unfall von Émile Mayrisch (1928), interne Animositäten und vor allem die Neuentfachung der diplomatischen Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich ab 1930 hatten eine weitreichende Selbstparalysierung des Mayrisch-Komitees zur Folge. Es bestand schließlich jedoch in reduzierterem Format länger als das Internationale Rohstahlkartell. Nach 1933 stellten die Nationalsozialisten seine Existenz u.a. deshalb nicht in Frage, weil sie sich mit der Industrie zu arrangieren bestrebt waren und das Komitee öffentlich nicht mehr in Erscheinung trat. Den wiederholten Aufforderungen in den späten 1930er Jahren an das vormalige Mayrisch-Komitee, sich den NS-Organisationen anzuschließen, folgte das Rumpf-Komitee schließlich nicht, und es unterhielt bis 1938/ 39 eine Informationsstelle in Paris. Das Komitee stellte einen Versuch dar, von der Ebene der soziokulturellen Beziehungen und ökonomischer Interessenkomplementaritäten ausgehend eine Versachlichung des politischen Verhältnisses beider Nationen einzuleiten. Es scheiterte wohl nicht zuletzt daran, dass die Elitenrepräsentanten nicht auch imstande waren, in der Begegnung mit der anderen Seite die eigenen Gewissheiten kritisch zu befragen. Diese historische Erfahrung trug möglicherweise dazu bei, dass nach 1945 der Weg der deutsch-französischen Verständigung über die korporative Begegnung der Machteliten anfangs weniger wichtig wurde als die Zusammenführung einzelner Gesellschaftsgruppen und Funktionseliten beider Länder. Der erste deutsche Bundeskanzler warb auch deshalb seit seinem Amtsantritt für die Intensivierung der Gesellschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik und für ein deutsch-französisches Kulturabkommen, weil er in seiner Tätigkeit als Kölner Oberbürgermeister die bildungs- und die wirtschaftsbürgerliche Variante der Verständigungsbemühungen der Zwischenkriegszeit aus eigener Erfahrung kannte. Barthel, Charles, Bras de fer 1918-1929, Les maîtres de forges luxembourgeois, entre les débuts difficiles de l’UEBL et le Locarno sidérurgique des cartels internationaux (1918-1929), Luxembourg 2006. Belitz, Ina, Befreundung mit dem Fremden. 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Ein politischer Überblick 1945 standen alle europäischen Staaten vor einem Scherbenhaufen - insbesondere materiell und politisch, letztlich aber auch kulturell und moralisch: Die einen - die deutsch geführten „Achsenmächte“ -, weil sie den verbrecherisch vom Zaun gebrochenen Krieg verloren hatten, die anderen - die zur „Anti-Hitler-Koalition“ gehörenden -, weil sie den Krieg zwar gewonnen hatten, aber dies nur mit Hilfe der neuen „Supermächte“ USA und Sowjetunion sowie, mit Ausnahme Großbritanniens, nach der vorangegangenen demütigenden Erfahrung von eigener rascher Niederlage und langjähriger deutscher Besatzungsherrschaft mit teilweiser Kollaboration. Das bewirkte für die deutsch-französischen Beziehungen unmittelbar noch keine Änderung: 1 Zunächst rangen auf französischer Seite Vorherrschafts- und Verständigungskonzept miteinander, und auf deutscher Seite überwog eine negative Sicht auf die französischen Besatzer - genährt aus historischen Ressentiments, aber auch aus aktuellen Erfahrungen harter Okkupation, die sich allerdings wiederum aus dem französischen Erlebnis eines keineswegs kommoden Alltags unter deutscher Besatzung nur wenige Jahre zuvor erklärte. Gleichwohl schuf der Ausgang des Zweiten Weltkriegs mittelfristig die Voraussetzung für einen tief greifenden strukturellen Wandel im deutsch-französischen Verhältnis. Die auch aus der europäischen Schwäche erwachsende zunehmende Herausbildung einer bipolaren Weltordnung, mit der die in der frühen Nachkriegszeit verbreitete Hoffnung auf ein Europa als „Dritte Kraft“ obsolet wurde, erwies sich nämlich als ein entscheidender Katalysator für konkrete Maßnahmen zur Einigung des Kontinents. Aufgrund des zunehmenden Ost-West-Konflikts brauchten die Westeuropäer die Hilfe der Vereinigten Staaten, die wiederum als Vorbedingung für militärischen Beistand und wirtschaftliche Unterstützung eine verstärkte innereuropäische Kooperation verlangten. In dieser Situation präsentierte die französische Regierung eine Initiative zur Einigung zumindest Westeuropas: Am 9.5.1950 schlug der französische Außenminister Robert Schuman in einer Aufsehen erregenden Pressekonferenz die Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vor. In den letzten Jahren ist versucht worden, das Spektakuläre an diesem Schuman-Plan zu relativieren - der im übrigen eher ein Monnet-Plan war, denn es war der Leiter des französischen Planungskommissariats, Jean Monnet, der ihn entworfen hatte: Entweder wird er auf den Ausdruck kruder nationaler Interessen der beteiligten Länder und Regierungen reduziert, oder es wird schlichtweg seine zäsierende Wirkung bestritten. Solche Thesen können sich auf eine Reihe einschlägiger Quellen beziehen. Diese belegen tatsächlich, dass Monnet und Schuman weniger hehre europäische als vielmehr nationalegoistische Motive trieben: Vor allem ging es ihnen darum, das deutsche Wirtschaftspotential weiter kontrollieren zu können und Frankreichs Rolle als führende Macht auf dem Kontinent mit entsprechendem ökonomischen Potential zu bestätigen. Gleichzeitig ist mittlerweile auch offensichtlich, dass unter der Oberfläche „harter“ deutschland- 1 Im Folgenden werden bis zur deutschen Vereinigung 1990 nur die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich behandelt, da die zwischen der DDR und Frankreich nicht annähernd so eng und bis heute prägend waren wie jene zwischen Westdeutschland und seinem Nachbarn im Westen. Zum Verhältnis DDR - Frankreich vgl. Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln 2004. <?page no="44"?> Reiner Marcowitz 44 politischer Forderungen bereits frühzeitig „weiche“ Überlegungen deutsch-französischer Zusammenarbeit angestellt wurden, sich hegemoniales „Dominanz“- und kooperatives „Integrationskonzept“ also keineswegs sachlich und zeitlich derart stark von einander unterschieden, wie die Forschung lange Zeit unterstellt hat; vielmehr ist seit 1944/ 45 von einer „doppelten Deutschlandpolitik“ 2 auszugehen, die immer beide Elemente enthielt. Folglich konnte sich der Schuman-Plan von 1950 durchaus auf gedankliche Vorarbeiten aus den vorangegangenen Jahren stützen. Diese begrüßenswerte Differenzierung schießt allerdings über ihr Ziel hinaus, wenn die Jahre 1944/ 45 bis 1949/ 50 derart gewissermaßen nur noch als eine Ouvertüre für die geradezu zwangsläufige deutsch-französische Aussöhnung späterer Jahrzehnte erscheinen und somit der innovative Ansatz von Schumans Vorschlag ignoriert wird. Tatsächlich können die dem Schuman-Plan zugrunde liegenden traditionellen Interessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich durch die EGKS zumindest sukzessive neben der Methode auch der Inhalt nationalstaatlicher Politik entscheidend änderte: Die Franzosen wie die übrigen beteiligten Westeuropäer sicherten sich einen zeitgemäßeren und damit dauerhafteren Einfluss auf die westdeutsche Wirtschaft, folglich auch politische und militärische Garantien für den Fall eines erneuten deutschen Erstarkens. Beides waren wiederum vor allem aus französischer Perspektive wichtige Voraussetzungen für die weiterhin beanspruchte Großmachtrolle. Die Westdeutschen ihrerseits gewannen in dem Maße ihre Souveränität wieder, wie sie bereit waren, Teile davon zugunsten des neuen gemeinsamen Ideals der westeuropäischen Einigung auf supranationalen Wegen abzugeben. Überdies war die Aussöhnung mit Frankreich namentlich für Bundeskanzler Konrad Adenauer immer auch eine Herzensangelegenheit. Da letztlich alle Beteiligten von den positiven wirtschaftlichen Effekten der EGKS - Rationalisierung, Leistungssteigerung und Wirtschaftsexpansion - profitierten und hierin auch ein Mittel zur relativen Selbstbehauptung gegenüber den dominierenden USA sahen, avancierte der einmal erfolgreich praktizierte Ansatz zum Bewegungsgesetz der europäischen Einigung: Eine sukzessive sektorale Integration - ein Begriff, der bezeichnenderweise erst nach dem 9. Mai 1950 zum Synonym für eine supranationale Einigung avancierte, - sollte zumindest im ökonomischen Bereich zum erhofften spill-over führen. Letztlich gab die EGKS trotz des Scheiterns der einfach noch zu ambitionierten Europäischen Politischen Gemeinschaft und der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 auch institutionell das praktische Vorbild für zukünftige Integrationsfortschritte ab, wie sich mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge und der Schaffung von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäischer Atomgemeinschaft (EURATOM) 1957/ 58 zeigte. Man könnte die 1950 beginnende Integration Westeuropas geradezu als eine „Europäisierung der deutsch-französischen Frage“ bezeichnen: Das Problem einer gerechten Austarierung des unterschiedlichen, ja entgegengesetzten National- und Sicherheitsinteresses der Deutschen und ihrer Nachbarn als ein entscheidender Konfliktstoff auf dem Kontinent spätestens seit dem 19. Jahrhundert wurde mittels europäischer Kooperation und Integration zunächst neutralisiert und schließlich gänzlich suspendiert. Diesen Zusammenhang hatte Monnet in seinem Memorandum vom 3.5.1950, in dem er Schuman seinen Gedanken einer Montanunion erstmals schilderte, unmissverständlich verdeutlicht: „Il ne faut pas chercher à régler le problème allemand qui ne peut être réglé avec les données actuelles. Il faut en changer les données en les transformant.“ 3 Konkret bedeutete dies: Man versuchte nicht, die bestehenden Interessendivergenzen in traditionellen bilateralen und zwischenstaatlichen Bahnen zu kanalisieren. Hier hätte die Gefahr bestanden, dass 2 Dietmar Hüser, Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“. Dynamik aus der Defensive - Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten 1944-1950, Berlin 1996. 3 Generalkommissar für den Plan Monnet, Aufzeichnung, 3.5.1950, in: Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949-1963, hg. von Horst Möller und Klaus Hildebrand, Bd. 2: Wirtschaft, bearb. von Andreas Wilkens, München 1997, S. 577-580, hier S. 578 (Dok. 166). <?page no="45"?> Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945. Ein politischer Überblick 45 historische Verletzungen und nationale Eitelkeiten eine Einigung verhinderten. Hingegen erleichterte die Verlagerung auf die europäische Ebene gegenseitige Kompromisse und Konzessionen. War nämlich die Bereitschaft zur Einigung über nationale Grenzen hinaus einmal vorhanden, verlangte sie von allen Beteiligten, einen Teil ihres nationalen Egoismus auf dem supranationalen Altar zu opfern. Ausgehend davon „europäisierten“ sich die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich gleich anderen Ländern in Westeuropa in den Jahren und Jahrzehnten nach 1950 - nicht nur in ihrer operativen Politik, sondern auch im Hinblick auf eine Angleichung von Lebensstilen, Sozialstrukturen und Wertvorstellungen. Ende der 1950er/ Anfang der 1960er Jahre resultierte aus der Verschlechterung der transatlantischen Beziehungen der Bundesrepublik im Zuge der zweiten großen Berlin-Krise eine weitere Aufwertung des deutsch-französischen Verhältnisses. Adenauer betrieb in den Jahren 1962/ 63 eine immer stärkere Abstimmung westdeutscher und französischer Außenpolitik. Zweifellos sah der Kanzler durch die Spannungen mit den USA spätestens seit dem Mauerbau im August 1961 die Grundlagen seiner Westpolitik gefährdet. Daher versuchte er zumindest deren zweiten Stützpfeiler - die deutsch-französische Aussöhnung und Zusammenarbeit als Kern der westeuropäischen Einigung - noch zu stärken. Entsprechend unterzeichnete er am 22.1.1963 den sogenannten Deutsch-Französischen oder *Élysée-Vertrag, der regelmäßige gegenseitige Konsultationen in den Bereichen Außen-, Wirtschafts-, Verteidigungs- und Kulturpolitik vorsah. Allerdings provozierte diese „Option für Paris“ 4 in den kommenden Monaten einen innenpolitischen und - mit Blick auf die Unionsparteien muss man sagen - auch innerparteilichen Streit erster Güte, an dessen Ende der Vertrag durch eine Präambel ergänzt wurde: Diese konterkarierte de Gaulles Vision einer Europe européenne durch das demonstrative deutsche Bekenntnis zum transatlantischen Bündnis und zur EWG sowie dem von de Gaulle abgelehnten britischen Beitritt zur Wirtschaftsgemeinschaft. In der Zeit der Regierung von Ludwig Erhard 1963 bis 1966 eskalierten diese Spannungen geradezu, so dass die Leistung der folgenden Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und Außenminister Willy Brandt schon allein darin bestand, den Gesprächsfaden mit Paris wieder aufgenommen und damit einen endgültigen Bruch verhindern zu haben. Das belastende Problem des britischen EWG-Beitritts konnte erst nach dem Rücktritt de Gaulles beseitigt werden: Angesichts der „Neuen Ostpolitik“ unter der von Willy Brandt seit 1969 geführten sozialliberalen Koalition sah der französische Staatspräsident Georges Pompidou in einer Aufnahme Großbritanniens eine Möglichkeit, das gewachsene politische Gewicht der Bundesrepublik auszugleichen und neuen französischen Rapallo-Ängsten, also der Sorge vor einem deutschen Sonderverhältnis mit der Sowjetunion, Rechnung zu tragen. Immerhin beschloss man damals auch den gemeinsamen Bau des Airbus und unterzeichnete ein Abkommen über die Einrichtung deutsch-französischer Gymnasien und eines gemeinsamen Abiturs. Eine echte persönliche Beziehung entwickelten indes erst wieder Bundeskanzler Helmut Schmidt und Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing zueinander. Sie schufen in den Jahren 1974 bis 1981 die oft zitierte „Achse Bonn-Paris“ bzw. den „deutsch-französischen Motor“, die sich nicht zuletzt als unabdingbar für Fortschritte der europäischen Einigung erwiesen und gleichzeitig Ausdruck einer von beiden Politikern als unzureichend, ja als falsch empfundenen amerikanischen Außenpolitik waren. Herausragendes Symbol ihres gemeinsamen Wirkens war das im September 1978 geschaffene Europäische Währungssystem. Darüber hinaus verstärkte sich aber unter der Ägide von Schmidt und Giscard d’Estaing generell die deutsch-französische und europäische Zusammenarbeit: durch die Abstimmung angesichts internationaler und weltwirtschaftlicher Krisen innerhalb des Rates der 4 Reiner Marcowitz, Option für Paris? Unionsparteien, SPD und Charles de Gaulle 1958 bis 1969, München 1996. Vgl. Tim Geiger, Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/ CSU 1958-1969, München 2008. <?page no="46"?> Reiner Marcowitz 46 Staats- und Regierungschefs ebenso wie in Form der G 7, der Gipfelkonferenzen der sieben wichtigsten Industriestaaten. Der christdemokratische Bundeskanzler Helmut Kohl knüpfte nach 1982 im Verhältnis zum ersten sozialistischen Staatspräsidenten Frankreichs, François Mitterrand, an das vorangegangene erfolgreiche Tandem von Schmidt und Giscard d’Estaing an. Allerdings verlor dieser Bilateralismus jetzt seine latente antiamerikanische Spitze. Kohls Priorität der Westbindung deckte sich mit dem französischen Interesse an einer festen Einbindung der Bundesrepublik im Westen: Antiamerikanismus, NATO-Skeptizismus und Ökopazifismus von Teilen der SPD und seitens der Friedensbewegung sowie ihrer parlamentarischen Vertreter, den „Grünen“, hatten in Frankreich wieder die alte Sorge vor den „incertitudes allemandes“, einer unsteten deutschen Pendelpolitik zwischen Ost und West, entstehen lassen. Kohl hingegen vermittelte glaubwürdig, dass Westdeutschland ungeachtet mancher innenpolitischer Aufgeregtheit fest im Westen verankert und damit ein kalkulierbarer Partner blieb. Damit gelang es dem Bundeskanzler erstmals, gute deutsch-französische Beziehungen mit einem entspannten Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und den USA zu harmonisieren. Frankreich zeigte sich nun sogar bereit, im bisher sakrosankten Nuklearbereich mit der Bundesrepublik zusammenzuarbeiten: Im Februar 1986 vereinbarten Mitterrand und Kohl verbesserte Konsultationen über den Einsatz französischer taktischer Atomwaffen. 1987 kam es zum bisher umfangreichsten gemeinsamen Manöver deutscher und französischer Streitkräfte. Überdies beschloss man eine gemeinsame Offiziersausbildung und die Aufstellung einer deutsch-französischen Brigade. Schließlich wurden am 22.1.1988 anlässlich des 25. Jahrestages der Unterzeichnung des Deutsch-Französischen Vertrags ein gemeinsamer Verteidigungs- und Sicherheitsrat sowie ein Finanz- und Wirtschaftsrat eingerichtet. Die deutsche Vereinigung stellte die deutsch-französischen Beziehungen wieder ernsthaft auf die Probe. Im Gegensatz zu den USA ängstigte die Vorstellung einer deutschen Vereinigung die politischen Führungen verschiedener europäischer Staaten, auch jene Frankreichs. Das war grundsätzlich verständlich: Der deutsche Einheitsstaat war wegen seiner kriegerischen Vergangenheit in Europa historisch ungleich belasteter als in Amerika. Zudem stellte sich für die Nachbarn Deutschlands die Frage nach dem Potential eines vereinigten Deutschlands weit dringlicher und schärfer als für die geographisch ferne Weltmacht USA, deren Status als Supermacht auch im Fall einer deutschen Vereinigung erhalten blieb. Dementsprechend besuchte Mitterrand noch Ende Dezember 1989 die DDR, um damit die Stellung der einheitsfeindlichen Regierung unter SED-Ministerpräsident Hans Modrow zu stärken. Ebenso hatte er bereits Anfang des Monats versucht, den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow bei einem Treffen in Kiew zur Ablehnung des deutschen Wiedervereinigungsverlangens zu bewegen. Die Sorgen der französischen Staatsführung, die zwar nicht die Mehrheit der Bevölkerung, wohl aber die classe politique von den Sozialisten bis zu den Neogaullisten teilte, schwanden erst in dem Maße, wie klar wurde, daß auch ein vereinigtes Deutschland weiterhin eine Stütze westlicher Einheit und ein Motor der europäischen Integration sein werde. Im Frühjahr 1990 einte beide Regierungen wieder eine gut funktionierende Partnerschaft: In einer gemeinsamen Initiative regten Kohl und Mitterrand im April an, parallel zur „Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion“ auch über die Bildung einer „Europäischen Politischen Union“ zu verhandeln. Damit sollten ebenso Klagen der kleineren europäischen Nachbarstaaten Deutschlands über ihren Ausschluss von den Einigungsverhandlungen entkräftet werden. Der deutsch-französische Vorschlag belegte, dass die „Europäisierung der deutsch-französischen Frage“ immer noch ein erfolgreiches Modell zur Lösung bilateraler Probleme darstellte. Schließlich entsprach Kohl auch der französischen Forderung nach förmlicher Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Der Abgang Mitterrands 1995 und schließlich auch jener Kohls 1998 brachten erhebliche strukturelle Veränderungen im Verhältnis beider Länder mit sich, die bis heute andauern: Erstens haben sich die Beziehungen ungeachtet der andauernden gesellschaftlichen und politischen Ver- <?page no="47"?> Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945. Ein politischer Überblick 47 flechtungen mittlerweile nicht nur normalisiert, sondern in mancherlei Hinsicht geradezu banalisiert, mit der Gefahr, dass das Einvernehmen so selbstverständlich scheint, dass man es auch wieder vernachlässigen zu können glaubt. Zweitens wird dieses Gefühl noch verstärkt durch die zunehmende Relativierung der historischen Dimension des deutsch-französischen Verhältnisses, die Ausdruck eines tief greifenden Generationenwechsels ist: Jene Generation, die den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen noch unmittelbar erlebt hat und der die Aussöhnung mit den Nachbarn daher eine Herzensangelegenheit war, macht endgültig einer neuen Alterskohorte Platz, die der deutsch-französischen Zusammenarbeit wie der europäischen Einigung sehr viel nüchterner gegenübersteht: Für sie ist beides „nicht mehr eine Sache des Instinkts oder des Herzens, es ist eine Sache der Vernunft“. 5 Drittens wiegt diese Entwicklung umso schwerer, als mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Zerfall des Ostblocks und der Aufhebung der deutschen Teilung „jahrzehntealte Orientierungsgewissheiten“ 6 bisheriger westlicher Außenpolitik abhanden gekommen sind, einschließlich des relativen Gleichgewichts zwischen der ökonomischen Stärke der Bundesrepublik und der militärisch-politischen Vormachtstellung Frankreichs. Von diesem mehrfachen Paradigmenwechsel sind auch die politischen Akteure in Deutschland und Frankreich nicht frei: Seit Mitte/ Ende der 1990er-Jahre sind auch sie nicht mehr durch die deutsch-französische Konfliktgeschichte, insbesondere den Zweiten Weltkrieg, sozialisiert und damit auch nicht mehr unmittelbar für die geschichtliche Bedeutung der Aussöhnung beider Länder sensibilisiert. Folglich stellt sich das persönliche und politische Einvernehmen zwischen den jeweiligen Führungspersönlichkeiten auf beiden Seiten des Rheins längst nicht mehr so schnell ein, wie man es seit den Zeiten von Schmidt und Giscard d’Estaing gewöhnt ist. So fanden Gerhard Schröder und Jacques Chirac erst in der gemeinsamen Kritik am amerikanischen Militäreinsatz in Irak zueinander, ein Beleg dafür, dass eine latente oder bisweilen auch manifeste Kritik an den USA und deren Weltmachtpolitik weiterhin ein Movens der deutsch-französischen Zusammenarbeit sein kann. Bleibt daneben noch die Einsicht in die Notwendigkeit einer Kooperation im Rahmen der EU. Indes engt die wachsende Zahl von Eurobzw. EU-Skeptikern in beiden Ländern - wie auch in einigen anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft - den Manövrierraum der jeweiligen Regierungen stark ein. Das „Non“ einer Mehrheit der Franzosen im Referendum über den EU-Verfassungsvertragsentwurf im Mai 2005 hat dieser Stimmung spektakulär Ausdruck verliehen. Zudem hat sich durch die im Zuge der EU-Erweiterung stark geänderten Mehrheitsverhältnisse die Bedeutung der deutsch-französischen Kooperation relativiert. Hinzu kommen die offensichtlich geschwundene Kompromissbereitschaft der Regierungen beider Länder und die Neigung zu Alleingängen und stärkeren Egoismen. Bereits Schröder und Chirac ließen es auf dem EU-Gipfel von Nizza im Jahr 2000 über der Frage des Stimmengewichts im Ministerrat beinahe zum Bruch kommen. Unter der Ägide von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy hatte das gegenseitige Misstrauen zumindest anfänglich eher noch zugenommen, bevor die neue Weltwirtschafts- und dann vor allem die europäische Schuldenkrise die beiden zum neuen Tandem „Merkozy“ oder „Sarkokel“ zusammenschmiedete. Seit dem französischen Präsidentschaftswechsel vom Mai 2012 gibt es insbesondere finanz- und wirtschaftspolitische Meinungsunterschiede zwischen der Regierung Merkel und jener von Staatspräsident François Hollande, deren Beilegung erneut einen schwierigen Aushandlungsprozess verlangt. Zwar ist dies mitnichten ein neues Element der deutschfranzösischen Beziehungen, die selbst in Hochzeiten nie gänzlich frei waren von Eifersüchteleien und Rivalitäten, indes scheint es stärker geworden zu sein - mit erheblichen Risiken für die Kooperation beider Länder, aber auch die Zukunft der EU. Zwar droht ob der gerne beschworenen 5 Daniel Vernet, Ungewissheiten in der Europa-Politik. Neue deutsch-französische Entscheidungsträger, in: Europa-Archiv 53 (1998), S. 1-6, hier S. 3. 6 Hagen Schulze, Europa: Nation und Nationalstaat im Wandel, in: Werner Weidenfeld (Hg.), Europa- Handbuch, Bonn 2002, S. 41-65, S. 60. <?page no="48"?> Reiner Marcowitz 48 Pfadabhängigkeit kein kurzfristiger Bruch, doch zumindest langfristig könnten zunächst Stagnation, dann Entfremdung und schließlich eben doch eine Scheidung des couple franco-allemand eintreten. Um dies zu verhindern, bedarf es dreier Voraussetzungen: einer andauernden Zusammenarbeit (1), eines gegenseitigen Interesses (2) und eines historischen Bewusstseins (3). (1) Deutschland und Frankreich sind miteinander verflochten wie mit keinem anderen Land: Es gibt eine Vielzahl formalisierter Treffen ebenso wie informeller Begegnungen auf allen Ebenen und zwischen den unterschiedlichsten Gruppen. Das integrierte Europa ist dank der beiden Länder und ihrer Zusammenarbeit in den 1950er Jahren überhaupt erst entstanden. Auch wenn es im Europa der 28 von heute andere Gewichtungen gibt als im einstigen Europa der 6, so gilt doch weiterhin die Regel: Ohne ein Einvernehmen von Deutschland und Frankreich ist die EU nicht handlungsfähig. Deshalb darf die Kooperation nicht still stehen. Von Adenauer stammt das europapolitische Credo „Handeln, Anfangen ist die Hauptsache“. 7 Diese Erkenntnis ist angesichts der aktuellen Herausforderungen auf europäischer und globaler Ebene weiterhin gültig, ja aktueller denn je zuvor: In den kommenden Jahren muss die EU den Spagat zwischen Erweiterung und Vertiefung schaffen. Die Bundesrepublik und Frankreich können hier nichts diktieren, doch stimmten sie schon einmal überein, könnten sie die übrigen Partner von ihren Vorschlägen zu überzeugen suchen. Das verspräche allemal mehr Fortschritte als etwaige Einzelgänge eines der beiden Länder. Auch in punkto Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss sich die EU entscheiden, will sie ein ernstzunehmender internationaler Akteur sein. Frankreichs Rückkehr in die militärische Integration der NATO kann hier Entscheidungen erleichtern, vorausgesetzt die französischen Partner in der EU, vor allem die Bundesrepublik, sind zu mehr europäischer Unabhängigkeit von den USA bereit. Schließlich bietet auch die Globalisierung Deutschen und Franzosen ein lohnenswertes Feld zur Zusammenarbeit, wenn sie auf einfache protektionistische Lösungen verzichten und auch hier den europäischen Schulterschluss suchen. Zwar stellen Deutsche und Franzosen zusammen - immerhin 145 Millionen Menschen - gerade einmal 2 % der Weltbevölkerung aus. Gleichwohl repräsentieren ihre Nationalökonomien fast 7 % des weltweiten Bruttoinlandprodukts und sogar 16 % der weltweiten Exporte, ein schlagender Beweis dafür, dass sie sich ökonomisch längst globalisiert haben. Doch mindestens so wichtig wie solche Wirtschaftsindikatoren ist natürlich die jeweilige mentale Disposition der Bevölkerung gegenüber dem neuen Globalisierungsphänomen. Hier gibt es erstaunlicherweise erhebliche Parallelen zwischen Deutschland und Frankreich: In beiden Ländern hegen viele Menschen große Skepsis gegenüber dem neuen weltweiten Wettbewerb. Mit Blick auf Deutschland mag dies vielleicht weniger erstaunen: Die Bundesrepublik ist zwar schon seit Jahren Exportweltmeister, doch die ökonomische Öffnung entsprach nie einer generellen Weltoffenheit. Über Jahrzehnte waren die alte Bundesrepublik und die DDR auf sich selbst, Westdeutschland zusätzlich allenfalls noch auf den europäischen, hier vor allem den westeuropäischen Raum fixiert - eine Folge des Sonderstatus des geteilten Deutschlands im Ost-West- Konflikt. Frankreich hingegen hat eine lange Tradition als Kolonialmacht und verstand sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch als Weltmacht. Die selbst propagierte mission civilisatrice beinhaltete immer den Anspruch des Landes, weltweit auszustrahlen und tätig zu sein. Die Frankophonie ist hierfür der sprechende Ausdruck. Doch gerade in Frankreich entstand Attac, die Organisation der Globalisierungsgegner - vielleicht sogar gerade deshalb, wegen des eigenen weltweiten Zivilisierungsanspruchs. Dementsprechend haben sich beide Länder über Jahre schwer getan, sich den Herausforderungen einer globalisierten Welt zu stellen: Ihre Arbeitsmärkte waren überreguliert, die Sozialsysteme überlastet und zahlreiche Wirtschaftssparten nicht wettbewerbsfähig. Daraus hat man in 7 Adenauer in einer Rede vor dem Ateneo in Madrid am 16.2.1967. Zit. nach Konrad Adenauer: Reden 1917- 1967. Eine Auswahl, hg. von Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 488. <?page no="49"?> Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945. Ein politischer Überblick 49 Deutschland mit der Agenda 2010 die Konsequenzen gezogen. In Frankreich zögerte man länger. Das hängt auch mit einer anderen Protest- und Streikkultur zusammen, die einen Sozialkonsens wie in Deutschland verhindert: In Frankreich fehlt es an ähnlich korporatistischen Strukturen; Demonstrationen und Proteste gehören hier zur Tagesordnung und dem entspricht die gängige Reaktion der Politiker, dem Druck der Straße nachzugeben. Beides spiegelt gewissermaßen die longue durée der erfolgreichen Grande Révolution von 1789 - eine Erfahrung, die Deutschland fehlt. Gleichwohl: Auch in Frankreich sind mittlerweile erste Reformen eingeleitet. Entscheidend wird sein, ob dieser Kurs auch unter dem sozialistischen Staatspräsidenten fortgesetzt wird - notfalls auch gegen erhebliche Widerstände. Die Deutschen sollten dies durchaus mit wohlwollendem Interesse beobachten, denn zu Herablassung oder Süffisanz besteht kein Anlass. Gleichzeitig tun beide Länder gut daran, sich biwie multilateral zu konzertieren, denn nur dann haben sie eine Chance, nicht nur Spielball der weltwirtschaftlichen Entwicklungen, einschließlich ihrer Krisen, zu sein, sondern diese auch gestalten zu können. (2) Die Eliten wie die Masse der Bevölkerung beider Länder müssen an den deutsch-französischen Beziehungen interessiert bleiben, d.h. sie müssen der grassierenden Banalisierung Einhalt gebieten, deren Beleg allein schon die weiterhin abnehmende Kenntnis der Sprache des jeweils anderen ist. Die Stärke des deutsch-französischen und mit ihm des europäischen Projekts nach dem Zweiten Weltkrieg war, dass viele Menschen die Aussöhnung und Verständigung wünschten: Politiker eingedenk der Vergangenheit, aber natürlich auch aus realen Interessen angesichts des eigenen machtpolitischen Abstiegs und wegen der gemeinsamen Bedrohung durch die Sowjetunion, Ökonomen wiederum angesichts der unübersehbaren Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Rekonstruktion, aber auch um gegenüber den dominierenden USA wieder konkurrenzfähig zu werden. Doch dies alles trug nur, weil die deutsch-französische Zusammenarbeit ebenso von breiten Bevölkerungsschichten in beiden Ländern getragen wurde. Die Aussöhnung war eben nicht von oben verordnet, sondern sie wurde von unten getragen. Das machte mit die Stärke der deutsch-französischen Beziehungen aus. Insofern entscheiden heute auch die Gesellschaften beider Länder über die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen: Nur, wenn sie das gewachsene vielfältige Austausch- und Beziehungsgeflecht nutzen und weiter vertiefen, verfügen die beiderseitigen politischen Beziehungen über den notwendigen stabilen Unterbau. (3) Das gegenseitige Interesse kann sich, ja muss sich auch aus der Erinnerung ergeben, der Erinnerung daran, dass Deutschland und Frankreich zwar einst keine *„Erbfeindschaft“ - das war vor allem ein ideologischer Begriff -, sehr wohl aber ein starker machtpolitischer und mentaler Gegensatz trennte. „Wunder unserer Zeit“ hat de Gaulle die deutsch-französische Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg einmal genannt. 8 Zwar gibt es für dieses „Wunder“ durchaus rationale Erklärungen, doch vermag nur der die über die Jahrzehnte gewachsene gegenseitige Annäherung wirklich zu schätzen, der die konfliktreiche, ja kriegerische Vergangenheit beider Länder kennt. Man sollte sich zudem vor allem in der Bundesrepublik nicht täuschen lassen durch den mittlerweile verbreiteten Begriff der „Erbfreundschaft“: Zwar liegt nunmehr selbst das Ende des Zweiten Weltkrieges schon fast 70 Jahre zurück, von anderen Kriegen, in denen Deutsche und Franzosen gegeneinander kämpften, ganz zu schweigen. Dennoch ist zumindest die historischkulturell vermittelte Erinnerung hieran noch längst nicht vergangen. Die Zeitzeugen mögen jetzt nach und nach aussterben und damit die durch direktes Erleben legitimierte kommunikative Erinnerung sowie dessen alltägliche Präsenz verschwinden, doch es bleibt immer noch eine auch die Folgegenerationen prägende unterschwellige kollektive Erinnerung. Dies gilt auch für Frankreich, wo nach wie vor latent die Gefahr des Wiederauflebens alter antideutscher Stereotypen besteht. Doch Deutsche und Franzosen sollten sich nicht nur an die kriegerischen Phasen ihrer 8 De Gaulle in einer Tischrede im Élysée-Palast am 3.7.1962. Zit. nach Charles de Gaulle, Memoiren der Hoffnung. Die Wiedergeburt 1958-1962, München, Zürich 1971, S. 449-451, hier S. 450. <?page no="50"?> Reiner Marcowitz 50 gemeinsamen Geschichte erinnern, sondern auch an die schwierigen Anfänge ihrer Verständigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwar wissen wir spätestens seit Friedrich Nietzsche, dass partielles Vergessen lebensnotwendig ist. Doch gleichzeitig gilt auch, dass vollständiges Vergessen blind macht für die Gefährdungen der Gegenwart. Folglich gilt es eine Balance zu halten zwischen einer Erinnerung, die den Opfern gerecht wird und für das im deutsch-französischen Verhältnis Erreichte sensibilisiert, und dem unvoreingenommenen Blick nach vorne. Nur wenn Kooperation, Interesse und Erinnerung konstitutive Elemente der deutsch-französischen Beziehungen bleiben, ist die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich nachhaltig gesichert. Zudem hat sich die 1950 mit dem Schuman-Plan eingeleitete „Europäisierung der deutsch-französischen Frage“, also der Versuch, zwischenstaatliche Konflikte durch transnationale Selbstbindung und supranationale Zusammenarbeit zu beseitigen, bislang noch immer bewährt. Ungeachtet eines geänderten weltpolitischen Koordinatensystems und neuer generationeller Prägungen spricht nichts dafür, dieses Erfolgsrezept aufzugeben. Im Gegenteil: Angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, einschließlich der schwieriger gewordenen Ausbalancierung des machtpolitischen Gleichgewichts zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, scheint der Rückgriff auf den bewährten Kooperationsmodus wichtiger denn je zuvor. Das deutsch-französische Verhältnis hat nicht nur im 19. und 20. Jahrhundert die europäische Geschichte geprägt, sondern wird wohl auch noch im 21. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung für die Geschicke des Kontinents sein. 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Das war ein ehrgeiziges Ansinnen, gab es zwischen Frankreich und Deutschland doch quasi seit Beginn der 1930er Jahre keinen Kulturaustausch mehr: die Weltwirtschaftskrise und der sich steigernde politische Radikalismus zum Ende der Weimarer Republik hatten dem sogenannten „Geist von Locarno“ ein Ende gesetzt, noch bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen und schließlich Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzung Kulturbeziehungen auf Augenhöhe versiegen ließen. Ab 1945 führte Frankreich im besetzten Deutschland eine Kulturpolitik, die per se nur einseitig sein konnte. Diese einleitenden Bemerkungen veranlassen zu einer ersten Frage: War die Intensivierung der Beziehungen ein Ziel als solches oder sollte sie Politik und Diplomatie begleiten? Eine erste Antwort gab der Bundeskanzler einige Jahre später in seinen Memoiren: „Auf kulturellem Gebiet waren […] große Möglichkeiten gegeben, um für eine gute französischdeutsche Nachbarschaft zu wirken. Hier spielte der Austausch unserer jungen Menschen aller Schichten eine große und entscheidende Rolle. Nur wenn sich Franzosen und Deutsche kennenlernten, miteinander lebten und arbeiteten, nur dann würde es möglich sein, das überkommene Misstrauen zu überwinden, das in der Vergangenheit immer wieder die furchtbarsten kriegerischen Konflikte verursacht hatte.“ 1 In diesen Zeilen rückt Adenauer die Annäherung zwischen den Völkern in den Vordergrund, welche das klassische Verständnis von Kultur überschreitet. Es handelt sich hierbei um eine soziokulturelle Annäherung und eine Aussöhnung „von unten“. So gilt es die Akteure und Konzeptionen von Kulturbeziehungen zu analysieren, die von den verschiedenen Verständigungsmilieus formuliert wurden. Zu fragen ist weiterhin, was den deutsch-französischen Kulturbeziehungen seinen außerordentlichen Charakter gab: zweifellos die einzigartige Herausforderung - die *Versöhnung -, doch auch die unterschiedlichen Austauschformen, die über die Jahre entwickelt wurden. Was bleibt davon heute? Die stetig wiederkehrenden Forderungen, die deutsch-französischen Kulturbeziehungen neu zu denken, sind in dieser Hinsicht bezeichnend für eine Krise bzw. ein Krisenbewusstsein. Was können nun die Perspektiven, Herausforderungen und Ziele runderneuerter Kulturbeziehungen sein? 1. Die Neuausrichtung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen: eine Herausforderung für ein friedliches Miteinander 1.1 Die Veränderung der deutschen Mentalitäten als Grundlage für Sicherheit Nach der Kapitulation des „Dritten Reiches“ wurde Deutschland besetzt und stand unter der Oberhoheit der Alliierten. Auf dieser Grundlage führte Frankreich in seiner Besatzungszone und 1 Konrad Adenauer, Erinnerungen 1953/ 1955, Stuttgart 1966, S. 370f. <?page no="53"?> Deutsch-französische Kulturbeziehungen nach 1945 53 in seinem Sektor in Berlin eine Kulturpolitik, deren wichtigstes Ziel die „Umerziehung des deutschen Volkes“ war. Zu diesem Zweck galt es die deutsche Gesellschaft zu entnazifizieren, zu entmilitarisieren, zu „entpreußifizieren“ und zu demokratisieren, was in einer Verbindung von repressiven und konstruktiven Elementen angestrebt wurde. Im Mittelpunkt dieser Politik stand die Neustrukturierung des deutschen Kultur- und Bildungssystems. In seiner Rolle als Besatzungsmacht wollte Frankreich kulturellen Einfluss ausüben, indem es Französischunterricht, Ausstellungen und Auftritte von französischen Künstlern in Deutschland organisierte. Diese Aktivitäten waren Bestandteil einer Prestigepolitik und reihten sich in die Tradition der *Auswärtigen Kulturpolitik Frankreichs ein. Ganz allgemein wollten die französischen Akteure zu einem Wandel der deutschen Mentalität beitragen und der scheinbaren Unabwendbarkeit der deutsch-französischen „*Erbfeindschaft“ ein Ende setzen, die ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts war. Den französischen Eliten war bewusst geworden, dass sie die nach dem Ersten Weltkrieg praktizierte Dominanzpolitik nicht ein weiteres Mal reaktivieren konnten, hing das Bild vom zukünftigen Deutschland doch ganz entscheidend von ihnen ab und lag in ihrer besonderen Verantwortung: es galt den Deutschen eine bessere Zukunft zu weisen. *Joseph Rovan wies auf diese Herausforderung in seinem richtungsweisenden Artikel „L’Allemagne de nos mérites“ 2 aus dem Jahr 1945 hin. So arbeitete die französische Militärregierung von Beginn an mit privaten französischen Verständigungsorganisationen zusammen, so dass eine Komplementarität zwischen den offiziellen Umerziehungsmaßnahmen und den privat organisierten Begegnungen entstand. Die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Typen von Akteuren war umso notwendiger, weil die französische Besatzungsmacht oftmals unter dem Verdacht stand, die neuen demokratischen Strukturen autoritär durchsetzen zu wollen. 1.2 Die Normalisierung der offiziellen Kulturbeziehungen in den 1950er Jahren In der Zeit des Übergangs, die sich während der Periode des Hochkommissariats (1949-1955) verorten lässt, sah die Direction générale des Affaires culturelles ihre Hauptaufgabe in dem Ziel, die angebahnten Begegnungen und Austauschaktivitäten zu verstetigen, besonders zwischen den Jugendlichen, indem sie den Staffelstab an die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Frankreich und in der Bundesrepublik übergab. Die zivilgesellschaftlichen Akteure mussten wechselseitiges Verständnis aufbauen und sich annähern, denn es wäre ein Anachronismus zu behaupten, dass sich die Zivilgesellschaften links und rechts des Rheins bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf breiter Basis für die Aussöhnung ausgesprochen hätten. Dabei hatten vor allem die internationalen Jugendtreffen (*Jugendbeziehungen 1945-1963) und die Zusammenkünfte von unterschiedlichen Berufsgruppen einen innovativen Charakter, doch wurden viele dieser Aktivitäten bereits vor Mitte der 1950er Jahre auf dem Altar der Haushaltskürzungen geopfert. So musste das französische Hochkommissariat seine Kulturpolitik neu definieren. Ab 1954 blieben die finanziellen Zuweisungen für die *Instituts français nicht nur konstant, sie wurden sogar erhöht, doch handelte es sich hier eher um die Ausnahme von der Regel. Der Hohe Kommissar *André François-Poncet konzentrierte die Ausgaben auf Institutionen, welche sich der Verbreitung der französischen Sprache und Kultur verschrieben hatten. Diese Entscheidung muss als Schritt zurück zu einer klassischen Herangehensweise von auswärtiger Kulturpolitik verstanden werden, lag damit die Priorität doch wieder auf Kulturexport und nicht mehr auf transnationaler bzw. interkultureller Kommunikation. Frankreich verfolgte die Absicht, ein sehr dichtes Netz von Kulturzentren in der Bundesrepublik zu entwickeln (17 Kulturzentren in der Bundesrepublik und ein Institut français in West-Berlin im Jahre 1955), das es während der Besatzungszeit in der eigenen Zone aufzubauen begonnen hatte. 2 Joseph Rovan, L’Allemagne de nos mérites, in: Esprit 11 (1945), S. 529-540. <?page no="54"?> Corine Defrance 54 Auf westdeutscher Seite bedeutete die Gründung der Bundesrepublik nicht automatisch die Aufnahme von gleichberechtigten Beziehungen. 1951 erhielt Bonn mit der Wiedergründung des Auswärtigen Amts nur einen Teil seiner Souveränität zurück, dessen Kulturabteilung anfangs nur einen bescheidenen Umfang besaß. Verhalten trat Bonn auch in kulturpolitischen Fragen auf, um den Bruch mit dem „Dritten Reich“ zu unterstreichen, so dass eine „Haltung der Zurückhaltung“ das bundesdeutsche Vorgehen in den 1950er Jahren charakterisierte (*Auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik). Mit der Ernennung des Kunsthistorikers *Wilhelm Hausenstein zum Generalkonsul in Paris im Jahre 1950 unterstrich Adenauer seine Absicht, der bundesdeutschen Präsenz in der französischen Hauptstadt eine kulturpolitische Priorität einzuräumen. Der mit der französischen Kunst sehr vertraute *Hausenstein sollte deutsche Kultur in Frankreich bekannt machen (*Deutschfranzösische Beziehungen im Bereich der bildenden Künste), um dem Nachbarn zu zeigen, dass Deutschland die gleichen westlichen Werte teile und dass es den Weg zurück in das Lager der zivilisierten Gesellschaft gefunden habe. Doch musste er in den ersten Jahren die Erfahrung machen, dass die Resonanz auf seine Initiativen sehr zurückhaltend war. Gleichzeitig gelang es ihm jedoch, Projekte von zivilgesellschaftlichen Akteuren zu fördern, wie z.B. die vom universitären Milieu angestoßene Idee zur Gründung eines Deutschen Hauses in der Pariser Cité universitaire (*Heinrich-Heine-Haus) sowie die von einer kleinen Gruppe rheinischer Historiker betriebene Einrichtung einer Deutschen Historischen Forschungsstelle (1958), das heutige *Deutsche Historische Institut in Paris. Die bundesdeutsche Haltung zur Entwicklung bilateraler Beziehungen zeichnete sich also durch eine vorsichtige Kontaktaufnahme und Initiativen aus, für die man sich das französische Einverständnis einholte und die oftmals von nicht regierungsamtlichen Akteuren getragen wurden. Mit dieser vorsichtigen aber entschlossen betriebenen Kulturpolitik versuchte Bonn Gleichberechtigung zu erlangen, die Westbindung zu vertiefen und die Annäherung an Frankreich zu erreichen. In dieser Hinsicht war die *auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik in den ersten Jahren vor allem ein Werkzeug der Diplomatie, um die übergeordneten politischen Ziele zu verwirklichen. So war auch der Vorschlag von Adenauer aus dem Jahre 1949 zu einem *Deutsch- Französischen Kulturabkommen zu verstehen. Für ein solches Projekt war es damals aber noch zu früh, so dass der Vertrag schließlich erst im Oktober 1954 unterzeichnet wurde. Ihm war jedoch kein großer Erfolg beschieden, so dass er die zwischenstaatlichen Kulturbeziehungen nicht befruchtete. Noch bevor er ratifiziert wurde, war er bereits seines Sinnes beraubt, als die bundesdeutschen Ministerpräsidenten in Düsseldorf im Februar 1955 beschlossen, dem Englischen den Vorzug vor dem Französischen als erste Fremdsprache in den Schulen zu geben (*Schulen, *Schulpolitik). Diese Entscheidung löste in Frankreich sowohl in Regierungskreisen als auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene eine beachtliche Protestwelle aus. Zugleich führte das Abkommen zu keiner größeren kulturellen Präsenz der Bundesrepublik in Frankreich, um das bestehende Ungleichgewicht auszugleichen. Die Eröffnung der ersten bundesdeutschen Kulturinstitute ließ weiterhin auf sich warten: das erste *Goethe-Institut wurde erst 1957 in Lille gegründet, dann folgte Marseille und erst 1962 Paris. Eine größere Welle war erst in den 1960er und 1970er Jahren zu beobachten gewesen. So bedurfte es des *Élysée-Vertrages vom 22.1.1963, um den westdeutsch-französischen Kulturbeziehungen auf offizieller Ebene einen neuen Elan zu geben. 1.3 Ein konzeptueller Neubeginn durch die Zivilgesellschaft Trotz aller Schwierigkeiten waren die 1950er Jahre eine entscheidende Phase für die deutschfranzösischen Kulturbeziehungen. Eine beachtliche Aktivität entwickelten hierbei die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, die ein neues Konzept von Kulturbeziehungen durchsetzten, das aus den Begegnungspraktiken und den Erfahrungen der Nachkriegszeit entstanden war. <?page no="55"?> Deutsch-französische Kulturbeziehungen nach 1945 55 In den Jahren 1951/ 52 kritisierten die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, die während der Besatzungszeit entstanden waren und sich der Verständigung verschrieben hatten, die „Normalisierung“ der offiziellen Kulturpolitik scharf. Zu ihnen gehörten das *Bureau international de liaison et de documentation (BILD), welches 1945 von *Jean du Rivau gegründet worden war, das 1948 von Emmanuel Mounier gegründete *Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle sowie auf deutscher Seite das *Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg, zu dessen Gründungsvätern im Jahre 1948 *Fritz Schenk, *Carlo Schmid und Theodor Heuss gehörten. Insbesondere *Alfred Grosser wandte sich gegen den Schwenk der französischen Kulturpolitik zu einem veralteten Kulturbegriff, doch auch die Vereinigungen taten im Herbst 1954 ihrem Unmut nach der Unterzeichnung des *Deutsch-Französischen Kulturabkommens kund, denn sie befürchteten von den staatlichen Stellen vereinnahmt zu werden. Welches war nun das Konzept dieser Vereinigungen von Kultur und Kulturbeziehungen? Sie sprachen sich für bessere Kenntnisse der aktuellen Entwicklungen im Nachbarland aus, wollten die Konsequenzen aus der Vergangenheit ziehen und eine bessere Zukunft garantieren. *Alfred Grosser gehörte dabei zu jenen, die den Kulturbegriff neu definierten und das Urheberrecht für ein Konzept beanspruchen können, das später „erweiterter Kulturbegriff“ bezeichnet werden sollte: „Die Definition des Wortes Kultur müsste so erheblich erweitert werden. Es handelt sich nicht nur um Literatur und Kunst, sondern auch um Jugendarbeit, Bildung, Kinovereine, Wahlsoziologie und Gemeindeverwaltung [...]. Um das andere Land zu verstehen, genügt es nicht, seine Weine zu verkosten und seine Musik zu hören. Man muss auch wissen, welchen ökonomischen, sozialen und politischen Problemen es gegenübersteht. Selbstverständlich setzt ein solches Konzept auch eine erhebliche Erweiterung der Klientel voraus, die an diesem kulturellen Austausch teilnehmen soll. Es ist wichtiger, Spezialisten, Techniker, Journalisten, Lehrer, Gewerkschafter und Bauern anzusprechen als gewisse, zweifellos sehr kultivierte Kreise, die aber nur eine sehr kleine Rolle in der tiefgreifenden Änderung ihrer Länder spielen.“ 3 Die von *Grosser angesprochene Erweiterung der Klientel stellt den Hauptunterschied zur Annäherung in der Zwischenkriegszeit dar, bei der zwar eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Organisationen beteiligt waren, diese sich jedoch fast ausschließlich aus den gesellschaftlichen Eliten speisten, so dass eine breite gesellschaftliche Verankerung des Aussöhnungsgedankens nicht gelang und die *„Erbfeindschaft“ in den 1930er Jahren einem neuen Höhepunkt entgegeneilte (vgl. ausführlich den einleitenden Artikel von Hans Manfred Bock). Nach 1945 drangen die Aktivitäten der zivilgesellschaftlichen Organisationen in sehr viel mehr gesellschaftliche Kreise vor, wobei der Schwerpunkt auf der Jugend (*Jugendbeziehungen 1945-1963) und den Mittlern lag. Zugleich entwickelten sich die ersten westdeutsch-französischen *Städtepartnerschaften, die wesentlich zum Austauschprozess und zu den Begegnungen zwischen Jugendlichen und Vertretern verschiedener Berufsgruppen beitrugen. Angesichts fehlender regierungsamtlicher Initiativen nahmen auch die Universitäten die Sache selber in die Hand und gründeten 1958 die *Deutsch-Französische Rektorenkonferenz. Doch sollten diese Unternehmungen nicht überbewertet werden, blieben sie im Umfang doch anfänglich recht bescheiden. Acht Jahre nach der Unterzeichnung der ersten *Städtepartnerschaft zwischen Ludwigsburg und Montbéliard (1950) zählte man nur 25 solcher Partnerschaften, was Ausdruck für die Hindernisse war, die es zur damaligen Zeit noch zu überwinden galt. Die Meinungsumfragen 3 Zitiert nach Corine Defrance, Les relations culturelles franco-allemandes dans les années cinquante: Acteurs et structures des échanges, in: Hélène Miard-Delacroix, Rainer Hudemann (Hg.), Wandel und Integration: deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre/ Mutations et intégration. Les rapprochements francoallemands dans les années cinquante, München 2005, S. 241-256, hier S. 251. <?page no="56"?> Corine Defrance 56 gaben auch einen Hinweis darauf, dass an der gesellschaftlichen Basis noch grundlegende Verständigungsarbeit geleistet werden musste. Im Februar 1955 sahen immerhin noch 30 % der Franzosen in Deutschland eine Gefahr, und 59 % der Westdeutschen zweifelten an einer dauerhaften Verständigung mit Frankreich. Erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre setzte hier ein Wandel ein. 2. Die wachsende Institutionalisierung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen 2.1 Der zwiespältige Beitrag des *Élysée-Vertrages für die bilateralen Beziehungen Der von Adenauer und de Gaulle am 22.1.1963 unterzeichnete *Élysée-Vertrag war in kulturellen Fragen sehr doppeldeutig. So wurde der Begriff „Kultur“ im Vertragstext mit keinem Wort erwähnt, wollte die französische Seite doch in dieser Frage einen Kompetenzkonflikt zwischen dem Außenministerium und dem neugegründeten, von André Malraux geleiteten Kulturministerium vermeiden, das der Quai d’Orsay aus diesen Angelegenheiten heraushalten wollte. Im Vertrag war einzig die Rede von Erziehung und Jugend (*Jugendbeziehungen 1945-1963), die zweifellos zur Kultur zu zählen sind. Dabei gehören die Erziehungsfragen zu einem eher traditionellen Verständnis von Kulturaustausch, während die Jugend ein innovatives Terrain darstellte. Indem sich die Regierungen auf diese beiden Sektoren konzentrierten, vermittelten sie zum einen den Eindruck, sich Feldern anzunehmen, deren Bilanz immer noch nicht zufriedenstellend war, zum anderen aber zukunftsgewandt und erfolgversprechend für eine Vertiefung der bilateralen Beziehungen waren. So erklärt sich auch die Ankündigung zur Gründung einer neuen binationalen Organisation im letzten Teil des Vertrags: das *Deutsch-Französische Jugendwerk, welches am 5.7.1963 schließlich das Tageslicht erblickte und als Koordinierungsinstanz zwischen den Regierungsstellen und den Jugendorganisationen in der Bundesrepublik und in Frankreich wirken sollte. Auf kultureller Ebene markierte das Jahr 1963 die „offizielle“ Aufnahme des „erweiterten Kulturbegriffs“ in die Kulturpolitik der beiden Regierungen. Gleichzeitig wirkte der *Élysée-Vertrag aber auch als Katalysator für die zivilgesellschaftlichen Beziehungen, wie sich an der Entwicklung des *DFJW ablesen lässt. Zwischen 1963 und 1973 trafen sich über zwei Millionen deutsche und französische Jugendliche, bis heute haben über acht Millionen Jugendliche aus beiden Ländern an den Programmen des *DFJW teilgenommen. Auch die Zahl der jumelages stieg nach 1963 stark an, so dass 1981 die Unterzeichnung der 1 000. *Städtepartnerschaften feierlich begangen werden konnte. Heute sind es über 2 500. Diese erfreuliche Entwicklung kann jedoch nicht verdecken, dass der Vertrag den offiziellen Kulturbeziehungen keine wirklichen Impulse geben konnte. Das lag sicherlich auch am politischen Kontext, waren die deutsch-französischen Beziehungen doch zwischen 1963 und der Mitte der 1970er Jahre nicht frei von Spannungen, bevor dann Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt maßgeblichen Anteil daran hatten, dass sie sich verbesserten. Trotz allem muss festgehalten werden, dass die Vertiefung der kulturellen Kooperation weiter auf sich warten ließ, sehen wir einmal vom Erziehungssektor ab. Hier unterzeichneten beide Länder eine Vereinbarung über die Einrichtung von *deutsch-französischen Gymnasien und einem deutsch-französischen Abitur sowie deutsch-französischen bzw. europäischen Bildungsgängen im Sekundarbereich (*AbiBac etc.). Das Feld der audiovisuellen Medien deutet hingegen auf die weiterhin existierenden Probleme hin. Frankreich und die Bundesrepublik konkurrierten mit allen Mitteln um die Durchsetzung einer neuen Farbfernsehnorm in Europa, was u.a. zur Folge hatte, dass Frankreich sein SECAM- System an den Ostblock und damit auch an die DDR verkaufte, so dass ab Ende der 1960er Jahre <?page no="57"?> Deutsch-französische Kulturbeziehungen nach 1945 57 auch der deutsche Fernsehhimmel geteilt war. Der Austausch von Programmen zwischen der ARD und TF1 im Juni 1981 war ein weiterer Misserfolg, waren die jeweiligen Einschaltquoten doch katastrophal. Ein neuer Aufschwung ergab sich erst in der Folge des deutsch-französischen Kulturgipfels vom 6.2.1981, der jedoch in einer ersten Phase nur Anlass war, die bisherigen Misserfolge zu konstatieren, bevor er dann zum Ausgangspunkt für eine neue Dynamik werden sollte. 4 Die Verantwortlichen auf beiden Seiten mussten eingestehen, dass Kultur und Wissenschaft im Rahmen der offiziellen Beziehungen einen Dornröschenschlaf fristeten, während in Politik und Wirtschaft die Fortschritte nicht zu übersehen gewesen waren: weiterhin bereitete das Erlernen der Partnersprache Probleme, zudem war nicht zu leugnen, dass das Wissen um die intellektuellen, künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Entwicklungen im anderen Land unzureichend waren. Zwar existierte seit 1967 in Grenoble das *Institut Laue-Langevin auf der Grundlage eines bilateralen Abkommens, das mit seinem Hochflussreaktor (HFR) die stärkste Neutronenquelle der Welt betreibt, doch handelte es sich hier eher um ein Leuchtturmprojekt, das die Misere in den anderen Bereichen der wissenschaftlichen Kooperation nur schwerlich verheimlichen konnte. So hatte die gemeinsame Erklärung vom Februar 1981 keine unmittelbaren Folgen, sieht man mal von der Gründung des *Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC) in Frankreich, der Unterzeichnung einer Vereinbarung zwischen dem CNRS und der Max-Planck-Gesellschaft und der Gründung der *Deutsch-Französischen Gesellschaft für Wissenschaft und Technologie ab. Der eigentliche Aufschwung ließ jedoch noch fünf Jahre auf sich warten. 2.2 Neue kulturelle Großprojekte in der deutsch-französischen Kooperation Erst auf dem Frankfurter Kulturgipfel vom Oktober 1986 entschlossen sich die Regierungen beider Länder, den Weg einer verstärkten sektoriellen Institutionalisierung in der kulturellen Kooperation einzuschlagen. In der gemeinsamen Erklärung sprachen sich beide Seiten dafür aus, die Zusammenarbeit zu verdichten und zu einem Europa der Bürger beizutragen. 5 Angekündigt wurde daraufhin die Gründung von drei großen Institutionen: der *Deutsch-Französische Kulturrat, der deutsch-französische Kulturkanal *Arte und das Deutsch-Französische Hochschulkolleg (*Deutsch-Französische Hochschule). Die 1990er Jahre bestätigten dann das gesteigerte Interesse auf beiden Seiten für eine wachsende kulturelle Kooperation. Hier sind im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaft die Gründung des *Centre Marc Bloch (1992/ 94) und der neuerliche Kulturgipfel in Weimar (1997) zu nennen. Beide Seiten wollten den Weg einer Institutionalisierung der Kooperation weitergehen, wie die Eröffnung der *Deutsch-Französischen Hochschule (1999) und der *Deutsch-Französischen Filmakademie verdeutlichten. Nunmehr existierte quasi für alle Bereiche der deutschfranzösischen Kulturbeziehungen eine große bilaterale Institution, welche die Professionalisierung in den verschiedenen Sektoren favorisierte. Diese Institutionalisierungswelle beflügelte die offiziellen Beziehungen und förderte Austausch bzw. Mobilität. Zudem provozierten der Fall der Mauer und die deutsche Vereinigung beachtliche Emotionen auf internationaler Ebene und besonders auch in Frankreich. Die französische Öffentlichkeit interessierte sich für Deutschland und die Deutschen; die Ostdeutschen kamen nicht nur zu ihren „Brüdern und Schwestern“ im Westen, sondern tauchten nun auch in 4 „Gemeinsame Erklärung“, in: Presse- und Informationsamt der Bundesrepublik, Bulletin Nr. 12, Bonn, 11.2.1981, S. 101-108. 5 Gemeinsame Erklärung über kulturelle Zusammenarbeit vom 28.10.1986; http: / / www.botschaftfrankreich.de/ IMG/ pdf/ kultur86.pdf. <?page no="58"?> Corine Defrance 58 Frankreich auf, so dass neue Herausforderungen für die offiziellen Stellen wie auch für die Vereinigungen entstanden, um die Deutschen aus den neuen Bundesländern in die Kooperations- und Austauschstrukturen zu integrieren. Die Besonderheit der Situation und die intellektuelle Neugier, die bisweilen mit neuen Ängsten verbunden waren, verliehen den deutsch-französischen Kulturbeziehungen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine neue Dynamik, doch galt es das Verhältnis zwischen Frankreich und dem größeren vereinigten Deutschland neu zu konfigurieren. 3. Die deutsch-französischen Beziehungen neu denken: eine Herausforderung im Angesicht der Globalisierung 3.1 Gründe und Anzeichen für eine Krise „Die staatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sind hervorragend, doch warum wissen die Gesellschaften so wenig voneinander? “, fragte die französische Tageszeitung „Le Monde“ am 23.1.2004. Viele Beobachter hatten diese Banalisierung in den bilateralen Beziehungen bereits im Moment des 35. Geburtstages des *Élysée-Vertrages 1998 festgestellt. Sie war zum einen ein Anzeichen dafür, dass der alte Antagonismus überwunden war, zum anderen spiegelte sie eine neue Form von Gleichgültigkeit, gerade unter Jugendlichen, was in einer nachlassenden Zahl von Lernern der Partnersprache und in einem Desinteresse für die Kultur des Anderen zum Ausdruck kam, wohingegen eine steigende Faszination für die angelsächsische Kultur zu beobachten war. Dieses abflauende Bewusstsein für den spezifischen Charakter der deutsch-französischen Beziehungen ging einher mit einem Generationswechsel. Die Pioniere des franco-allemand traten nach und nach von der Bühne ab und mit ihnen auch die Motivation für ihr Engagement: „Indem der Zweite Weltkrieg und dann auch der Kalte Krieg zeitlich und mental weiter in die Ferne rückten, ging auch ein Teil der Legitimation für die deutsch-französischen Beziehungen verloren. Der Antrieb für das Engagement der neuen Generation wird nicht mehr in dem gemeinsamen Willen liegen, die Vergangenheit zu überwinden, sondern in der Absicht, die Zukunft gemeinsam zu gestalten.“ 6 Ausschlaggebend waren darüber hinaus neue Prioritäten: Der Zusammenbruch des Ostblocks beschleunigte die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft und die Globalisierung. Auf kultureller Ebene kam diese Neuorientierung in einer Umstrukturierung des Netzwerkes von Kulturzentren und der Ausgaben in Richtung finanziell bisher weniger bedachter geographischer Regionen zum Ausdruck, was zu Lasten des bilateralen Verhältnisses ging: eine Reihe von Kulturzentren wurden im Partnerland geschlossen oder zu Anhängseln degradiert. Die Regierungen begründeten diese Entwicklung mit notwendigen Neustrukturierungen und der Modernisierung des bestehenden Netzes. Sie wurden nicht müde zu behaupten, dass Kulturzentren zu einer überkommenen Form von Kulturbeziehungen gehören; vielmehr gelte es nun im Sinne eines erweiterten Verständnisses von Kultur auf neuen Feldern zu kooperieren, um gemeinsame Antworten auf die Probleme in den Vorstädten, der jugendlichen Gewalt und der Globalisierung zu finden. Hervorgehoben wurden dabei neue Aktionsformen wie die *Deutsch-Französische Hochschule und das *Centre Marc Bloch. Doch war die gesellschaftliche Reichweite dieser zweifellos auf hoher qualitativer Ebene arbeitenden Institutionen nur begrenzt, selbst wenn sie sich auch an Multiplikatoren wandten. Auch *Arte erreichte nur eine kleine Gemeinde vor dem Fernseher. 6 Patrick Démerin, L’état des relations franco-allemandes. Une enquête réalisée par Documents, in: Documents, 53 (1998) 4, S. 23. <?page no="59"?> Deutsch-französische Kulturbeziehungen nach 1945 59 Nicht wenige kritisierten in dieser Zeit das fehlende Engagement beider Regierungen. Hinzu kamen Konflikte zwischen offiziellen Akteuren und Vertretern der Zivilgesellschaft. Auf dem deutsch-französischen Gipfel 1998 in Potsdam forderte die Politik die Zivilgesellschaft auf, sich stärker für die Wiederbelebung der Beziehungen zu engagieren. 7 Völlig unbegründet war dieser Aufruf sicherlich nicht, galt es doch die beiden Gesellschaften angesichts eines steigenden Desinteresses und einer „freundschaftlichen Gleichgültigkeit“ neu zu mobilisieren. Bei den Adressaten wurde dieser Appell jedoch gereizt aufgenommen, hatten sie doch nicht den Eindruck, dass sie ihr Engagement in der Vergangenheit zurückgefahren hatten, so dass sie sich Zurechtweisungen von den Regierungen verbaten, die in diesem Moment ihr Kulturbudget und die finanziellen Zuweisungen für die zivilgesellschaftlichen Organisationen reduzierten. Die *Fédération des Associations franco-allemandes (FAFA) beklagte diesen Versuch der Schuldzuweisung durch die regierungsamtlichen Stellen, um auf diese Weise „die ärgerlichen Störungen in der offiziellen Kooperation zu verdecken“. 8 Die autoritär verfügte und sehr umstrittene Schließung des *Institut français in Heidelberg im Jahre 2001 war dabei ein Beispiel für die staatlichen Versuche, kulturelle Verantwortlichkeiten auf regionale Gebietskörperschaften abzugeben, was auch eine Folge der Anfang der 1980er Jahre begonnenen Dezentralisierung in Frankreich war. So betonte der damalige französische Außenminister Hubert Védrine, dass die „Kontinuität der französischen kulturellen Präsenz auch durch das [1986 gegründete] Montpellier-Haus [in Heidelberg] gewährleistet werden könne“. 9 Die Situation in Frankreich war wenig anders, wo das 1991 in Aix-en-Provence eröffnete Maison de Tübingen im Jahre 1998 die Schließung des *Goethe-Instituts von Marseille ausgleichen musste. Ab 1997 bildete sich die *Fédération des maisons franco-allemandes, deren neue Struktur die Frage nach der Neuorientierung und der veränderten Aufgaben der *Goethe- Institute in Frankreich aufwarf. Außerdem kam der Verdacht auf, dass die stärken transnationalen Aktivitäten der Städte und Regionen sowie die Existenz einer funktionierenden Kooperation zwischen den Grenzregionen den Rückzug des Staates favorisieren könnte. 3.2 Welche neuen Perspektiven für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen? Angesichts diese Krise schlug der Saarbrücker Romanist Hans-Jürgen Lüsebrink vor, die „deutschfranzösischen Kulturbeziehungen neu zu denken“. Er wünschte sich einen neuen Elan für das Erlernen der Partnersprache und der anderen Kultur, insbesondere auch der Populärkultur, um das Interesse der jungen Generation zu wecken. So schlug er vor, in Deutschland „ein weniger intellektuelles und mannigfaltigeres Frankreich zu präsentieren, mit seinen regionalen Besonderheiten und seinen Kulturen mit Migrationshintergrund, einen frankophonen Raum, der sich nicht alleine auf Paris und das Hexagone beschränkt, sondern sich gegenüber Frankophonie öffnet“. 10 Auffällig ist heutzutage, dass sich in Frankreich ein gesteigertes Interesse für Deutschland und seine Kultur entwickelt hat, was zum einen in der Wertschätzung für das neue deutsche Kino (hier vor allem die Produktionen der *Berliner Schule und deren Regisseure wie Christian Petzold u.a.), zum anderen in dem Erfolg von „Tokyo Hotel“ unter französischen Jugendlichen zum Ausdruck kam. Diese Begeisterung ließ selbst die Zahlen der Deutschlerner leicht ansteigen. In Deutschland bleibt der Anteil der Französischlerner in etwa stabil; zugleich zeigt sich auch hier ein erstaunliches Interesse für die Filmproduktionen westlich des Rheins („Willkommen bei den 7 Deutsch-französischer Gipfel in Potsdam, 1.12.1998; http: / / www.deutschland-frankreich.diplo.de/ 48- Deutsch-Franzosischer-Gipfel-in,346.html. 8 Bernard Lallement, Vous avez-dit: société civile? , in: Documents 54 (1999) 5, S. 97. 9 Hubert Védrine, La réorganisation du réseau culturel français en Allemagne, in: Documents 56 (2001) 2, S. 12. 10 Hans-Jürgen Lüsebrink, Repenser les relations culturelles franco-allemandes, in: Documents 53 (1998) 4, S. 76. <?page no="60"?> Corine Defrance 60 Sch’tis“, „The Artist“, „Ziemlich beste Freunde“) und für die zeitgenössische Musik (elektronische Musik, Metal, nouvelle chanson française). Ein weiterer Ansatz, um die Kulturbeziehungen neu zu denken, liegt in der Überwindung der bilateralen Zweisamkeit und die stärkere Öffnung für Dritte, um den europäischen Einigungsprozess aktiver zu begleiten. Die Idee ist nicht neu. Das *DFJW hatte seine Programme bereits ab 1976 für Dritte geöffnet und widmet heute einen erheblichen Anteil seines Programmbudgets für die Kooperation mit Drittländern. So nahm es eine Pionierrolle in der Kooperation mit Polen und eine Art Brückenfunktion auf dem Balkan ein. Auch die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen haben sich in diesen Prozess eingeklinkt. Die *FAFA und der *Verein der Deutsch-Französischen Gesellschaften (VDFG) setzten sich seit Ende der 1990er Jahre zum Ziel, sich aktiv an der Entwicklung eines Europas des Friedens und der Freiheit im Sinne der Menschenrechte zu beteiligen und den Weg der Staaten und Völker in Mittel- und Osteuropa in die europäischen Strukturen zu bahnen. 11 Bereits Mitte der 1980er Jahre entwickelten die *Goethe-Institute und die *Instituts français gemeinsame Kooperationen mit Drittländern, die zwar nur bescheidene Erfolge hatten, doch Eingang in den 1991 verkündeten „Geist von Weimar“ fanden und zu der Frage nach den Möglichkeiten gemeinsamer Aktivitäten in Mittel- und Osteuropa führte (*Weimarer Dreieck). Seitdem wurde dieses Kooperationsprinzip, das auch aus Spargründen eingeführt wurde, auf ganz Europa und darüber hinaus ausgedehnt. So existieren deutsch-französische Kulturzentren in Ramallah, Palermo, Santa Cruz (Bolivien), Glasgow und Turin, deren Arbeit und Wirkung noch der Analyse bedarf. Im Jahre 2003 schufen beide Länder einen neuen Fonds („Élysée-Fonds“, vgl. *Élysée-Vertrag) für gemeinsame kulturelle Aktivitäten in Drittländern. Der so eingeschlagene Weg ist jedoch nicht ohne Tücke, reagieren doch mittlerweile die einen oder anderen zunehmend allergisch auf den Export des deutsch-französischen „Versöhnungs- und Kooperationsmodells“. Auch wenn die deutsch-französische Annäherung auf europäischer wie globaler Ebene zu einem wegweisenden Beispiel für Aussöhnungsprozesse nach Konflikten geworden ist, so zeigt sich aber auch, dass der simple Export wenig erfolgversprechend ist, haben die Situationen in den jeweiligen Ländern doch ihre spezifischen Besonderheiten. Aussichtsreicher erscheint vielmehr, Elemente der deutsch-französischen Erfahrung in einem Transferprozess anzubieten, um diese dann auf die lokalen Spezifika anzuwenden. Zuletzt soll noch auf das *Deutsch-Französische Schulgeschichtsbuch hingewiesen werden, das 2003 als gemeinsames Projekt von Politik und Zivilgesellschaft gestartet wurde und nur realisiert werden konnte, weil beide Akteure ihre jeweiligen Kompetenzen einbringen konnten. Obwohl es bisweilen scharfe Kritik gab und die Verbreitung in den Schulen hinter den Erwartungen zurückblieb, beschlossen die Regierungen in Berlin und Warschau im Jahre 2008, ein gemeinsames deutsch-polnisches Schulgeschichtsbuch aufzulegen. Dieses Werk könnte eine wichtige Antwort auf die Probleme der Vielgestaltigkeit der Erinnerungen und die Erinnerungsdebatten in Europa liefern. Dieses Beispiel deutet auch auf die Möglichkeiten hin, die sich aus den deutschfranzösischen Erfahrungen ergeben können. Mit dem Wissen um ihre Begrenztheit können sie als „Werkzeugkasten“ dienen und neue Impulse bzw. Ansätze für neuartige Formen der Kooperation in Europa geben. Bock, Hans Manfred, Wiederbeginn und Neuanfang in den deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen 1949 bis 1955, in: Lendemains 21 (1996) 84, S. 58-66. Bock, Hans Manfred (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998. 11 Vgl. hierzu auch http: / / www.fafapourleurope.fr/ et http: / / www.vdfg.de. <?page no="61"?> Deutsch-französische Kulturbeziehungen nach 1945 61 Defrance, Corine, La politique culturelle de la France sur la rive gauche du Rhin, 1945-1955, Straßburg 1994. Defrance, Corine, „Es kann gar nicht genug Kulturaustausch geben“. Adenauer und die deutsch-französischen Kulturbeziehungen 1949-1963, in: Klaus Schwabe (Hg.), Konrad Adenauer und Frankreich 1949-1963. Stand und Perspektiven der Forschung zu den deutsch-französischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur, Rhöndorfer Gespräche, Bd. 21, Bonn 2005, S. 137-162. Defrance, Corine, Ulrich Pfeil, Deutsch-Französische Geschichte, Bd. 10: Eine Nachkriegsgeschichte in Europa 1945-1963, Darmstadt 2011 [frz. Version 2012]. Defrance, Corine, Ulrich Pfeil (Hg.), La construction d’un espace scientifique commun? La France, la RFA et l’Europe après le „choc du Spoutnik“, Brüssel 2012. Defrance, Corine, Ulrich Pfeil (Hg.), La France, l’Allemagne et le traité de l’Élysée, 1963-2013, Paris, 2012. Defrance, Corine, Ulrich Pfeil, Die Entwicklung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges, in: Martin Koopmann u.a. (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa. Die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges, Baden-Baden 2013, S. 179-198. Miard-Delacroix, Hélène, Rainer Hudemann (Hg.), Wandel und Integration: deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre/ Mutations et intégration. Les rapprochements franco-allemands dans les années cinquante, München 2005. Miard-Delacroix, Hélène, Deutsch-Französische Geschichte, Bd. 11: Im Zeichen der europäischen Einigung. 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011 [frz. Version 2011]. Petter, Dirk, Auf dem Weg zur Normalität: Konflikt und Verständigung in den deutsch-französischen Beziehungen der 1970er Jahre, München 2014. Pfeil, Ulrich (Hg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007. Robert Bosch Stiftung/ Deutsch-Französisches Institut (Hg.), Deutsch-Französische Kulturbeziehungen. Bilanz und Vorschläge. Ergebnisse des VIII. Deutsch-Französischen Kolloquiums in Ludwigsburg, Stuttgart, Ludwigsburg, 1981. Röseberg, Dorothee, Marie-Therese Mäder (Hg.), Le Franco-Allemand. Herausforderungen transnationaler Vernetzung. Enjeux des réseaux transnationaux, Berlin 2013. Umlauf, Joachim, Wohin mit dem Bilateralen? Deutsch-französische Kulturprogramme in Zeiten der Globalisierung, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 50 (2000) 4, S. 71-74. Umlauf, Joachim (Hg.), Von privilegierten zu reduzierten Kulturbeziehungen? Auswärtige Kulturpolitik in Deutschland und Frankreich, Dossier in: Lendemains 26 (2001) 103/ 104, S. 79-166. Vis-à-vis: Deutschland - Frankreich, hg. vom Haus der Geschichte, Bonn 1998. Zauner, Stefan, Erziehung und Kulturmission Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945-1949, München 1994. <?page no="62"?> Ulrich Pfeil „Dreiecksbeziehungen sind immer schwer.“ Frankreich und die deutsch-deutsche Kultur-Konkurrenz im Kalten Krieg In den Zeiten der deutschen Teilung konnte sich einem der Verdacht aufdrängen, dass sich der bundesdeutsche Alleinvertretungsanspruch auch in den Köpfen der Historiker und Politologen festgesetzt hatte und die DDR nicht als Teil des deutsch-französischen Beziehungsgeflechtes mitgedacht wurde. Wer von deutsch-französischen Beziehungen sprach, meinte Bonn und Paris, de Gaulle und Adenauer, Mitterrand und Kohl, *Versöhnung und *Élysée-Vertrag. So kann es nicht überraschen, dass die wenigen Erinnerungen an die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen 1 nach dem Untergang der DDR quasi verschwanden. Einen kleinen Einblick verdanken wir Jana Hensel, die aus ihrer „Zonenkindererfahrung“ zu berichten weiß, dass die französischen Altersgenossen in den gemeinsamen Ferienlagern in der DDR „bessere Unterkünfte bekommen hatten als wir und dass wir die ganzen drei Wochen über nicht mit ihnen sprechen durften. Auf den Schultern der anderen habe ich sie durchs Klofenster wie Außerirdische beobachtet und ihnen beim Tischtennis verzweifelte Liebesbotschaften zugeworfen, von denen ich wusste, dass sie ihre Adressaten nie erreichen würden. Später dann, wenn alle schliefen, lag ich in meinem Ferienlagerbett und versuchte, mir Paris vorzustellen. Ich träumte von bunten französischen Turnschuhen und Jogginganzügen und zwang mich gegen Mitternacht, wieder an Pawel, Agnieska oder Leschek zu denken, die es ja auch noch gab“ 2 . Glauben wir dem Schriftsteller Lutz Rathenow, dann war Frankreich für den überzeugten SED-Anhänger die „sympathischste Erscheinungsform“ der westlichen Gesellschaftsordnung oder - in Werbesprache - „die süßeste Versuchung, seit es Klassenfeinde gab“ 3 . Wie schafften es Frankreich und Paris, in den Köpfen der Deutschen hinter der Mauer zum beliebtesten imaginären Reiseziel zu werden, fragt sich Rathenow und sieht die *Stereotype durch die Wirklichkeit bestätigt. Dank France Gall und Brigitte Bardot habe sich Frankreich nicht nur als „erogene Zone der westlichen Gesellschaft“ profiliert, sondern mit seiner Literatur und Philosophie schließlich auch das subkulturelle Intellektuellenmilieu der DDR überzeugt. *Sartre und *Camus, so Rathenow, lieferten Muster für subversive Sprachstrategien und stärkten so die oppositionellen Zirkel. Diese eher anekdotenhaften Erinnerungen unterstreichen die These, dass es in der Zeit der deutschen Teilung ein zweifaches deutsches Frankreichbild gab, das im Sinne einer Histoire croisée mit der doppelten Deutschlanderfahrung westlich des Rheins gekreuzt werden muss, um schließlich den Ort der DDR in den deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1945/ 49 und 1990 zu definieren. Der Ansatz von der „Verflechtung in der Abgrenzung“ 4 bietet in einer Kombination von vergleichs-, beziehungs-, konkurrenz- und kontrastgeschichtlicher Perspektive die Möglichkeit, die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 als ein komplexes Dreiecksverhältnis zu verstehen, 1 Vgl. Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln 2004. 2 Jana Hensel, Zonenkinder, Reinbek 2002, S. 129. 3 Lutz Rathenow, Die süßeste Versuchung, seit es Klassenfeinde gibt. Gedanken zum 40. Jahrestag des deutschfranzösischen Freundschaftsvertrages, in: Berliner Morgenpost, 22.1.2003. 4 Vgl. Christoph Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30 (1993), S. 30-41, hier S. 30. <?page no="63"?> Frankreich und die deutsch-deutsche Kultur-Konkurrenz im Kalten Krieg 63 das für jeden Beteiligten sowohl Möglichkeiten als auch Gefahren barg, wie Peter Bender unterstreicht: „Dreiecksverhältnisse sind in der Politik mindestens ebenso heikel wie im übrigen Leben. Fast unvermeidbar schließen sich zwei gegen einen zusammen, schaffen sich auf seine Kosten Vorteile, dehnen ihre Macht aus oder nehmen Rache. Dem armen Dritten bleibt dann meist nichts anderes übrig, als sich mit seinem Gegner zu arrangieren, um in einem neuen Zweierbündnis dem neuen Dritten zuzusetzen. Mit der Zeit kann daraus ein Ringelreihen werden, bei dem jeder mal mit jedem gegen jeden zu Felde zieht. Alle müssen ständig auf der Hut sein, Misstrauen ist ins Fundament eines Dreieckverhältnisses eingebaut.“ 5 Auch wenn durch den Frontverlauf des Kalten Krieges eine gewisse Vorentscheidung bei der Frage nach Gegnern und Verbündeten getroffen worden war, stellt sich weiterhin die Frage, in welcher Beziehung die drei Staaten und ihre Gesellschaften zueinander standen, welche Phasen und Wandlungen es in dieser Dreiecksgeschichte gab, welche Rolle die französische Seite in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung spielte, welche Bedeutung der ostdeutschen Seite für die westdeutsch-französischen Beziehungen zukam und in welcher Form die westdeutsche Seite auf die ostdeutsch-französischen Kontakte einwirkte. 1. Frankreich - Bundesrepublik - DDR: eine asymmetrische und dynamische Dreiecksgeschichte Die wenigen Historiker, die sich vor 1990 mit den Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich beschäftigt hatten, verstanden sie in erster Linie als einen deutsch-deutschen Vergleichswettkampf mit französischer Beteiligung, bei welchem dem „anderen“ Deutschland zwangsläufig die Verliererrolle zukam. Diese Arbeiten reflektieren eine Geschichtsschreibung, die die Tendenz zur Schwarz-Weiß-Malerei beflügelte und bisweilen selber den Mechanismen des Kalten Krieges folgte, jenem Kampf der Ideologien, bei dem zwei Weltanschauungen miteinander um die Überlegenheit ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen rangen. Sie unterstreichen die These, dass der Kalte Krieg die Gesellschaften und Kulturen in ihrer Gesamtheit mobilisierte und in alle Lebensbereiche hineinwirkte, so dass es auch für die deutsch-französischen Beziehungen von 1945 bis 1990 nicht alleine zu ergründen gilt, was während des Kalten Krieges geschah, sondern immer auch, was durch den Kalten Krieg geschah. So ist stärker als bisher zu fragen, wie sich der Kalte Krieg auf die immer wieder mit dem Begriff der „*Versöhnung“ versehene westdeutsch-französische Annäherung auswirkte. Mag dieser Prozess dem einen oder anderen Zeitgenossen damals wie ein „Wunder unserer Zeit“ vorgekommen sein 6 , so sprechen sich die Historiker heute für einen mehrschichtigen Prozess aus, der maßgeblich von Kaltem Krieg und Europäischer Integration bestimmt war, die ihrerseits wiederum ihre eigentliche Dynamik erst aus der neuen Bedrohungslage des Kalten Krieges gewann und die Kooperationsbereitschaft bzw. die Tendenz zu neuen Bündnissen beschleunigen half. Dazu gehörte der größer werdende Wille im Westen, „die Ursachen für die deutsch-französische ‚Erzfeindschaft‘ zu beseitigen“ 7 , was dadurch erleichtert wurde, dass die sich steigernde Angst vor dem ideologischen Gegenüber traditionelle Feindbilder nach und nach einebnete und vertrauensbildende Erfahrungen erleichterte. 5 Peter Bender, Das ungleichseitige Dreieck. Kräfteverschiebung zwischen Moskau, Ost-Berlin und Bonn, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001) 6, S. 525-532, hier S. 525. 6 Vgl. Ulrich Lappenküper, „Wunder unserer Zeit“. Konrad Adenauer und die Versöhnung mit Frankreich (1949-1963), in: Jürgen Aretz u.a. (Hg.), Geschichtsbilder. Weichenstellungen deutscher Geschichte nach 1945, Freiburg/ Br. 2003, S. 71-85. 7 Jürgen Elvert Die europäische Integration, Darmstadt 2006, S. 1. <?page no="64"?> Ulrich Pfeil 64 Der von Franzosen und Westdeutschen beschrittene Weg der Aussöhnung, Annäherung und Kooperation ging über Hindernisse, erforderte Kompromisse, verlief nicht ohne Rückschläge und schuf eine Infrastruktur der Begegnung, für die hier nur das am 5.7.1963 eingeweihte *DFJW genannt werden soll, auf dessen Gründung die DDR mit Attacken auf Adenauer und de Gaulle reagierte, die Ausdruck dafür waren, dass es der DDR - frei nach Walter Ulbricht - auch auf diesem Felde weder gelang, die Bundesrepublik einzuholen noch zu überholen. Die heftigen Reaktionen sprechen dafür, dass das SED-Politbüro auch das *DFJW als eine neue Herausforderung im innerdeutschen Wettstreit verstand: „Wir sollten der revanchistischen und militaristischen Zielsetzung dieses Jugendwerkes, die sich aus dem Wesen des Paktes Bonn/ Paris ergibt, die Forderung nach der freien Begegnung und Zusammenarbeit der Jugend für Frieden, Demokratie, für Entspannung und Verständigung zwischen den Staaten entgegensetzen.” 8 Nun mag die „Forderung nach der freien Begegnung und Zusammenarbeit der Jugend“ aus dem Jahre 1964 als SED-Propaganda in Reinkultur abgetan werden, vor allem wenn man bedenkt, dass die DDR mit dem Bau der Berliner Mauer drei Jahre zuvor den Verbindungen mit dem Westen selber einen Riegel vorgeschoben hatte. Trotzdem sollte der Kalte Krieg nicht nur als eine Geschichte von Abgrenzung, Polarisierung und Konfrontation angesehen werden. Vielmehr ist immer auch zu fragen, wie sich aus den ideologischen Auseinandersetzungen auf den verschiedensten Feldern auch Verflechtungen ergaben und sich die Grenzen poröser darstellten, als es das Bild vom Eisernen Vorhang suggeriert. Das obere Zitat ist deshalb ein Beispiel für die von der SED praktizierte Dialektik von Abgrenzung und beschränkter Öffnung, gab es doch „wohl kein vergleichbares historisches Beispiel eines Staates, der so fixiert auf seinen Nachbarn war und sich zugleich so demonstrativ und polemisch ständig von ihm abgrenzte wie die DDR in der Ära Ulbricht. Abgrenzung und Fixierung gehörten geradezu zu den konstitutiven Merkmalen dieses Staates” 9 , wie Christoph Kleßmann unterstreicht und damit die methodische Vorlage gibt, um auch die Verflechtungs- und Transferprozesse über den Eisernen Vorhang hinweg im Auge zu behalten. 2. Kultur im Kalten Krieg Der Kalte Krieg war nach Bernd Stöver eine „weitgehend entgrenzte politisch-ideologische, ökonomische, technologisch-wissenschaftliche und kulturell-soziale Auseinandersetzung, die ihre Auswirkung bis in den Alltag zeitigte“. 10 Er wurde zu einer globalen Auseinandersetzung, „in der alle Kriege und Konflikte unterhalb der Schwelle eines Dritten Weltkrieges zulässig waren“. 11 Nachdem sich die Blicke lange auf die diplomatischen Aspekte dieses Antagonismus gerichtet hatten, geriet in den letzten Jahren der guerre froide culturelle immer stärker in den Fokus, um den Mechanismen der ideologischen Auseinandersetzung auf den Grund zu gehen. Dabei zeigte sich, dass der Kalte Krieg in vielerlei Hinsicht ein Konflikt der Worte und Bilder war, bei dem sich die Kultur zu einer Waffe entwickelte, die meinungs- und damit konsensbildend im Innern und sub- 8 Vgl. Konzeption der Abt. Internationale Verbindungen des ZK der SED für das „Auftreten bei den Besprechungen über westdeutsch-französisches Jugendwerk” vom 9.1.1964; SAPMO-BArch, DY 30/ IV A2/ 20/ 460. 9 Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Bonn 2 1997, S. 447. 10 Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947-1991, München 2007, S. 21. 11 Vgl. Wolfgang Krieger, Der Kalte Krieg in der Geschichte der internationalen Beziehungen: Tatsachen, Tabus und unbequeme Fragen, in: Wolf D. Gruner, Paul Hoser (Hg.), Wissenschaft - Bildung - Politik. Von Bayern nach Europa. Festschrift für Ludwig Hammermayer zum 80. Geburtstag, Hamburg 2008, S. 403-434, hier S. 419. <?page no="65"?> Frankreich und die deutsch-deutsche Kultur-Konkurrenz im Kalten Krieg 65 versiv gegenüber den Gesellschaften auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs wirken sollte. Sicherlich wird internationale Public relations zur Formung von Bildern bzw. Images seit langem von Regierungen zur Unterstützung der eigenen Außenpolitik eingesetzt, doch bekam dieser Aspekt im ideologischen Schlagabtausch über den Eisernen Vorhang hinweg ein besonderes Gewicht. Die Parteisäuberungen in den kommunistischen Staaten, die McCarthy-Ära in den USA, der virulente Antikommunismus in der frühen Bundesrepublik, der massive Ausbau des Stasi-Apparates in der DDR der 1970er Jahre und die scharfe Auseinandersetzung zwischen kommunistischen und nichtkommunistischen Intellektuellen in Frankreich sind Beispiele für eine permanente Suche nach (inneren) Feinden und Feindbildern, die Ausdruck von Bedrohungsgefühlen, Ängsten und Verunsicherungen in den vom Kalten Krieg beherrschten Gesellschaften waren. Bei allen ideologischen Antagonismen, allem Blockdenken und Formen der Abgrenzung treten heute immer stärker interaktive blockübergreifende Momente und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Ost und West in den Vordergrund. Dass die verantwortlichen Akteure die Ideologie hinter realpolitische Erwägungen zurückstellen konnten, zeigen nicht zuletzt die Wirtschaftsbeziehungen, deren beachtenswerte Stabilität zugleich auf ideologische Freiräume bzw. gegenläufige Entwicklungen und damit auf interaktionelle Potentiale hindeuten, die ihren Ursprung in der wechselseitigen Bezogenheit zwischen den beiden Systemen hatten. So gilt es auch in den ostdeutsch-französischen Beziehungen das Wirken von kulturellen Mittelsmännern zu beleuchten, welche die politischen Ziele der Funktionseliten umzusetzen hatten, indem sie die Meinung und das Verhalten des Auslands im Sinne der eigenen außenpolitischen Ziele zu beeinflussen versuchten. Sie fanden sich u.a. in Parteien, Gewerkschaften, Freundschafsgesellschaften, Geheimdiensten sowie unter Künstlern und Schriftstellern, die für ihre Arbeit wiederum narrative, semiotische und rituelle Bildkanäle (u.a. Theater, Film, Wissenschaft, Fremdsprachenunterricht, Handelsbeziehungen) und Bildinhalte (u.a. Antifaschismus, Friedenspolitik) nutzten. Gerade im Bereich der Kultur gab es in den westlichen Staaten neben den staatlichen Aktivitäten eine (zivil-)gesellschaftliche Mobilisierung, die - nicht zuletzt durch den Systemkonflikt - ein erstaunliches Maß an privater Initiative, Idealismus und Kreativität an den Tag legte und sich traditionell vom Staat abgrenzte. Im weiteren Verlauf des Kalten Krieges ließen sich diese beiden Sphären aber immer schwerer auseinanderdividieren, was Tony Shaw zu der Frage veranlasst: „War die ganze Kultur, auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, nicht bloß ein Fortsatz der Politik? “ 12 Damit steht die Kultur im Kalten Krieg unter dem Verdacht, schließlich nicht mehr als staatlich gesteuerte Propaganda gewesen zu sein. Dieses Spannungsfeld zwischen Autonomie und Kontrolle bzw. Beeinflussung gilt es zu berücksichtigen, um den Platz der Kultur im deutschdeutsch-französischen Dreieck zu definieren. 3. Das inoffizielle Dreiecksverhältnis - eine bilderreiche Perspektive (1949-1973) „Die beiden deutschen Staaten [...] maßen sich unablässig aneinander. Sie waren unentrinnbar zur Legitimationskonkurrenz verurteilt, nicht einfach zwei Staaten im Ost-West-Konflikt, sondern zwei Teile eines Landes, die der Ost-West-Konflikt gegeneinander gestellt hatte.“ 13 Mit diesen Worten charakterisiert Peter Graf Kielmansegg zutreffend die besondere Situation der Bundesrepublik und der DDR im Kalten Krieg. Gerade in der Anfangszeit der Teilung galt es für die Regierenden in Bonn und Ost-Berlin, dem eigenen Staat Legitimierung zu verschaffen und den anderen 12 Tony Shaw, The Politics of Cold War Culture, in: Journal of Cold War Studies 3/ 3 (2001), S. 59-76, hier S. 61. 13 Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschlands, Berlin 2000, S. 553. <?page no="66"?> Ulrich Pfeil 66 zu delegitimieren. Dieser Wettstreit wurde auch auf kulturellem Terrain ausgefochten und sollte dem einen wie dem anderen deutschen Staat internationale Anerkennung verschaffen. Die (ost-/ west-) deutsch-französischen Beziehungen waren bereits im Moment der Gründung von Bundesrepublik und DDR (1949) von einem asymmetrischen Beziehungsgefüge gekennzeichnet, so dass die Regierenden in Ost-Berlin mit dem Mittel ihrer auf moralisch-ideologischen Fundamenten aufbauenden alternativen Außenpolitik den Versuch unternahmen, ihrerseits den Fuß in die westdeutsch-französischen Beziehungen zu bekommen, um „einen wesentlichen Beitrag zur weiteren Stärkung der sozialistischen Staatengemeinschaft und zur offensiven ideologischen Auseinandersetzung mit dem Imperialismus“ zu leisten. 14 Diese Bemühungen intensivierte die DDR nach der Integration der beiden deutschen Staaten in ihre jeweiligen Blockstrukturen im Jahre 1955. Mit einem enormen organisatorischen und materiellen Aufwand betrieb sie im Rahmen der *Auswärtigen Kulturpolitik der DDR eine Anerkennungspolitik gegenüber dem Westen, insbesondere ab 1957/ 58, bei der Frankreich zu den „Schwerpunktländern“ gehörte. Innenpolitisch hatte sie die strukturellen bzw. organisatorischen Voraussetzungen für einen Ideologietransfer geschaffen, um nun unter ideologischer Anleitung der „führenden Partei“ dem Ziel näher zu kommen, den bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch und die sogenannte „Hallstein-Doktrin“ zu durchbrechen. Da sich das offizielle Frankreich in dieser Frage jedoch nicht rührte und seine Politik der Nichtanerkennung fortsetzte, musste „Pankow“ „unten“ ansetzen und über die gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen versuchen, den Anerkennungsdruck über den Ausbau der transnationalen Kommunikationskanäle zu erhöhen. Die ersten Erfolge verzeichnete die DDR dabei bereits in den frühen 1950er Jahren mit den Auftritten von *Bertolt Brechts *Berliner Ensemble in und um Paris, die das Interesse an ostdeutschen Literaten in Frankreich weckten und der DDR halfen, sich gegenüber der Bundesrepublik kulturell zu distinguieren. Bis zum Fall der Mauer spielte die Perzeption und *Rezeption der DDR-Literatur in Frankreich eine wichtige Rolle bei dem Bild, das sich Franzosen von der DDR machten. Erster Ansprechpartner für die ostdeutschen Frankreichpolitiker war die 1958 gegründete Freundschaftsgesellschaft *Échanges franco-allemands, die zwar von der PCF dominiert wurde, doch auch Mitglieder aus anderen politischen Milieus zählte, so dass sie das ideale Sprungbrett für die DDR war, um ihre Wahrnehmung über das kommunistische Lager hinaus auszudehnen. Auf ostdeutscher Seite wurde die 1962 gebildete *Deufra zur Partnerorganisation, die sowohl Koordinierungsstelle als auch Kontrollinstrument für die kulturpolitischen Beziehungen der DDR nach Frankreich war. Im Bereich der sozio-kulturellen Beziehungen setzte Ost-Berlin ab 1957/ 58 vor allem auf *Städtepartnerschaften, die auf französischer Seite fast ausschließlich von kommunistisch regierten Kommunen abgeschlossen wurden. Kooperationen entstanden, wenn die DDR auf französischer Seite private Partner fand wie etwa bei den *Kino-Koproduktionen. Zwar reichte das Eigengewicht der DDR nicht aus, um einen Keil zwischen Paris und Bonn zu treiben, doch musste die französische Regierung ab Mitte der 1960er Jahre die Anerkennungsbewegung zunehmend in ihre innen- und deutschlandpolitischen Überlegungen einbeziehen. Als die seit 1969 regierende sozial-liberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt im Rahmen ihrer Politik des „Wandel durch Annäherung“ von der „Hallstein-Doktrin“ abrückte, zeigte sich auch Paris flexibler, so dass die Zahl der sozio-kulturellen ostdeutsch-französischen Begegnungen zunahm. Symptomatisch war für sie jedoch der Einbahnstraßencharakter, blieb die Möglichkeit für ostdeutsche Bürger zu Reisen ins nichtsozialistische Ausland begrenzt. Auch wenn es der SED-Anerkennungspolitik nicht gelang, die DDR vor 1973 als gleichberechtigten souveränen Staat in den internationalen Beziehungen zu etablieren, verdeutlicht der Blick auf Frankreich jedoch, dass die DDR bereits in den 1960er Jahren dank ihrer gezielten 14 Waltraud Böhme u.a. (Hg.), Kleines politisches Lexikon, Berlin (DDR) 5 1985, S. 475. <?page no="67"?> Frankreich und die deutsch-deutsche Kultur-Konkurrenz im Kalten Krieg 67 Imagepolitik als singuläre Identität wahrgenommen wurde. Über das kommunistische Milieu hinaus hatte sie mit ihren kulturellen Leistungen und ihrer wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb des östlichen Lagers auf sich aufmerksam gemacht. Die kulturelle Präsenz der DDR in Frankreich und ihr Selbstverständnis, als Vermächtnisverwalter von Autoren wie *Bertolt Brecht zu fungieren, verstärkten das Bild von einem alternativen deutschen Staat und fügten zu ihrer geopolitischen Realität eine identifizierte Existenz in den 1960er Jahren hinzu. Eine dem MfS („Stasi“) zur Verfügung stehende Einschätzung der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Öffentlichkeitsarbeit der DDR in Frankreich von 1969 greift im Hinblick auf den Wahrnehmungsgrad ihrer Imagekampagnen daher zu kurz: „Kulturmaßnahmen der DDR - z.B. eine noch so erfolgreiche Brecht-Aufführung - würden deshalb keineswegs der DDR zugutekommen, sondern nur der deutschen Kultur. Die erwähnten Zielsetzungen und die schwierigen technischen Begleitumstände würden es mit sich bringen, dass die einsehbare DDR-Aktivität in Frankreich in Kleinstarbeit besteht, deren faktische Resultate oft kaum nennenswert seien.” 15 Mochte dieses Urteil für die 1950er Jahre noch zugetroffen haben, konnte Ost-Berlin die Erfolge seiner kulturellen Produktion zunehmend auf sein eigenes Konto verbuchen und profitierte jetzt von der organisatorischen Aufbautätigkeit in der formativen Phase der DDR. Das kulturelle Konstrukt „DDR” ließ sich nun mit seinen unterschiedlich fixierten Facetten über die ab 1957/ 58 angelegten Kommunikationskanäle exportieren und über die gewonnenen Bildträger vermitteln. Über die weltanschaulichen Grenzen hinweg hatte die SED in den unterschiedlichen kulturellen und politischen Milieus in Frankreich über den Kontakt zu Opinion leaders und Milieuöffnern wie z.B. den Germanisten *Gilbert Badia und den Historiker *Georges Castellan ihr Aktionsfeld ausdehnen können, so dass bundesdeutsche Beobachter negative Folgen für die westdeutsch-französischen Beziehungen vorhersagten und Bonn immer öfter bei französischen Regierungsstellen vorstellig wurde, um den Alleinvertretungsanspruch einzufordern. Eine besondere Brückenfunktion kam dem Antifaschismus zu, den die SED zur Ausschaltung innenpolitischer Gegner zum Gründungsmythos der DDR stilisiert hatte und nach seiner Ausformung zu einem kulturellen Konstrukt massiv in der transnationalen Kommunikation mit Frankreich einsetzte, um sich als das moralisch „bessere” Deutschland zu präsentieren. Die DDR instrumentalisierte den Antifaschismus als transnationalen Kitt, indem sie alte französische Feindbilder gegenüber Deutschland an die Bundesrepublik zu heften versuchte. Ohne die Wirkung überbewerten zu wollen, verschaffte der Antifaschismus der SED Anfang der 1970er Jahre eine bis dahin nicht gekannte innenpolitische Legitimation, die für den ostdeutschen Staat auch eine stabilisierende Wirkung auf der internationalen Bühne besaß. Mit gestärkter Brust zeigte die SED jetzt auch eine vorher nicht gekannte Bereitschaft, die Erinnerung an Exil und Emigration in Frankreich zum Anlass für einen dosierten wechselseitigen Austausch auf verschiedenen sozialen und kulturellen Feldern zu nehmen. In einem eng definierten Rahmen konnten jetzt die Erfahrungen von Frankreich-Emigranten wie *Franz Dahlem, *Edith Zorn, *Dora Schaul und *Gerhard Leo in die Beziehungen eingebracht werden, die sich zielgerichtet für politische Zwecke instrumentalisieren ließen. Auch wenn die politische und kulturelle Landschaft Frankreichs dem DDR-Bild und seiner Verbreitung Entwicklungsmöglichkeiten eröffnete, markierte sie auch seine Grenzen. Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Industrieländern erwiesen sich die Stärke der PCF und ihre Brückenkopffunktion nur auf den ersten Blick als günstiger Faktor. In der Tat erleichterten die französischen Genossen nach einer diffizilen Anlaufzeit der DDR ihre Bemühungen um den Auf- 15 Einzelinformation über die Einschätzung der Öffentlichkeitsarbeit der DDR in Frankreich durch das Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung von 1969; BStU, HVA 141, Bl. 108f. <?page no="68"?> Ulrich Pfeil 68 bau eines breiten Kommunikationsnetzes ab Ende der 1950er Jahre. Partei, Gewerkschaft und Freundschaftsgesellschaft waren stets erster Ansprechpartner. Eine fehlende Koordination von internationalistischen bzw. klassenkämpferischen Ansprüchen und nationalen Interessen machten die Parteibeziehungen zwischen SED und PCF aber immer wieder zu einem Drahtseilakt, der wie in den Monaten des „Prager Frühlings“ in regelmäßigen Abständen der Absturz folgte. Ereignisse wie diese wirkten auch auf die sozio-kulturellen Beziehungen kontraproduktiv, denn auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene wandten sich Franzosen von der DDR ab, die ihre Entwicklung eingangs mit Sympathie verfolgt hatten. Dies galt jedoch weniger für die ostdeutschen Kulturprodukte und hier besonders die Literatur, die von Germanisten wie *Nicole Bary und *Alain Lance ins Deutsche übersetzt und in den französischen Büchermarkt eingeführt wurden. Bei dieser vergleichsweise großen Offenheit für ostdeutsche Autoren drängt sich einem aber bisweilen auch der Eindruck auf, dass die politischen Bedingungen ausgeblendet wurden, unter denen diese Literatur entstand. 4. Offizielle Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich (1973-1990) Nachdem bis 1973 nur von inoffiziellen sozio-kulturellen Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich gesprochen werden konnte, setzte Ost-Berlin nach der diplomatischen Anerkennung alles daran, das bestehende Beziehungsnetz zu offizialisieren. Dabei musste sie aber schnell die Erfahrung machen, dass die Prioritäten der französischen Seite weiterhin bei der Bundesrepublik lagen und der neue französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing ein besonders enges Verhältnis zu Bundeskanzler Helmut Schmidt unterhielt, so dass für ostdeutsche Initiativen nur wenig Spielraum blieb. Notgedrungen musste die DDR also quasi ihre Anerkennungspolitik fortsetzen und sich auf das existierende Netzwerk stützen, um endlich zu den offiziellen französischen Stellen vorgelassen zu werden. Gleichzeitig musste sie jedoch auch feststellen, dass mit der internationalen Anerkennung auch die Zahl westlicher Diplomaten, Journalisten und Reisender und damit das in der DDR zirkulierende Quantum an westlichem Gedankengut zunahm. Ab 1973 begann also ein Drahtseilakt zwischen Öffnung und Abgrenzung gegenüber dem Westen, den die SED erfolgreich gestalten wollte, indem sie den Stasi-Apparat immer weiter ausbaute und die Mitarbeiter des MfS gerade auch auf die westlichen Diplomaten und ihr Privatleben ansetzte. Wie stark sie Löcher im Eisernen Vorhang fürchtete und wie wenig Selbstbewusstsein die DDR aus der internationalen Anerkennung zog, lässt sich an der Vorgeschichte des Kulturabkommens ablesen. Bereits 1974 hatte Frankreich der DDR einen Vorschlag für ein solches Abkommen übersandt, doch reagierte Ost-Berlin erst im Juli 1978 und scheute konkrete Unterredungen. Frankreich hatte es zur Bedingung gemacht, die Unterzeichnung mit der Eröffnung eines Kulturzentrums in der DDR bzw. in Ost-Berlin zu koppeln, das seinen Besuchern wie in Prag und Warschau freien Zugang zu westlichen Publikationen bieten sollte. Bei der Unterzeichnung des Kultur- und des Konsularabkommens (18.6.1980), bei dem Frankreich es vermied, eine DDR- Staatsbürgerschaft anzuerkennen, so dass es DDR-Bürgern in den Ländern der drei ehemaligen Siegermächte weiterhin freistand, ob sie den konsularischen Schutz der Bundesrepublik oder der DDR in Anspruch nehmen wollten, konnte sich Paris jedoch auch in der Frage der Kulturzentren durchsetzen und die Zusage auf Eröffnung eines französischen Kulturzentrums in Ost-Berlin erreichen. Im Oktober bestätigte DDR-Außenminister Oskar Fischer in einem Schreiben an seinen französischen Amtskollegen Claude Cheysson das Abkommen über die Eröffnung der Kulturinstitute sowie das Kulturabkommen, das im November 1981 in Kraft trat. Es dauerte aber noch bis zur Jahreswende 1983/ 84, bis dann schließlich das *DDR-Kulturinstitut in Paris und das *Centre culturel français (CCF) in Ost-Berlin ihre Tore öffneten. <?page no="69"?> Frankreich und die deutsch-deutsche Kultur-Konkurrenz im Kalten Krieg 69 Die bundesdeutschen Reaktionen in diesen Jahren deuten noch auf fehlende Gelassenheit gegenüber der ostdeutschen Herausforderung für die deutsch-französischen Beziehungen hin. Bezeichnend ist dabei, dass die „Kulturoffensiven“ der östlichen Seite von den bundesdeutschen Akteuren genutzt wurden, um neue Ressourcen aus Bonn einzufordern, was schon in den 1960er Jahren geholfen hatte, das westdeutsch-französische Beziehungsnetz zu verdichten. Angesichts der ostdeutschen Konkurrenz blieb das nach 1963 von der Schließung bedrohte Pariser Büro des *DAAD geöffnet, die Zahl der westdeutschen *Lektoren in den französischen Universitäten auf hohem Niveau konstant, und die Historiker des *DHI Paris verstärkten ihre Aktivitäten, um die französischen Kollegen „bei der Stange“ zu halten. Zugleich wurde die parteilich konzipierte und kontrollierte Frankreichpolitik der DDR immer wieder als abschreckendes Beispiel von der bundesdeutschen Presse dargestellt, auf das Bonn mit größerer Selbständigkeit für seine Mittlerorganisationen reagieren sollte. So lässt sich die These aufstellen, dass die Liberalisierung der *Auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik nur vor dem Hintergrund der „Negativfolie DDR“ zu verstehen ist. Fazit Blocküberschreitende Kulturbeziehungen mit dem weltanschaulichen Gegner während des Kalten Krieges unterlagen einer spezifischen Grundordnung: Während eine gleiche Gesellschaftsordnung die Verschmelzung von unterschiedlichen kulturellen Horizonten zwischen Staaten favorisiert, ging es bei den hochgradig politisierten transnationalen Beziehungen über den Eisernen Vorhang hinweg a priori um die Zurückweisung aller kultureller Einmischungsversuche durch die andere Seite und die Beweisführung für die Überlegenheit der eigenen Weltanschauung. Das Beispiel der Kulturbeziehungen zwischen der DDR und Frankreich zeigt jedoch, dass die ideologischen Frontlinien infolge realpolitischer Erwägungen weniger starr waren, als sie nach außen oftmals schienen. In der Phase der diplomatischen „Nullbeziehungen” war die SED auf die Beziehungen zwischen der von ihr weitgehend verstaatlichten DDR-Gesellschaft und der ganzen Breite der französischen Zivilgesellschaft angewiesen, die sie politisieren wollte, um ihr Potential in die Anerkennungsbewegung einzubringen und den „Anerkennungsdruck” auf die französische Regierung zu erhöhen. Nachdem sie zur Durchsetzung ihres Herrschaftsmonopols nach innen alle zivilgesellschaftlichen Initiativen mit ihren interaktiven bzw. kommunikativen Kräften so weit wie möglich ausgeschaltet hatte, wollte sich die DDR zur Dynamisierung ihrer Anerkennungspolitik als eine kommunizierende Gesellschaft präsentieren. Sie gedachte dieses Ziel über eine zivilgesellschaftliche Fassade zu erreichen, so dass sie sich nicht völlig gesellschaftlichen Begegnungen über den Eisernen Vorhang hinweg verweigern konnte. Wohl oder übel sah sie sich gezwungen, Kommunikationslöcher im „antifaschistischen Schutzwall” zuzulassen, die das Informationsmonopol der SED zwar nicht aufheben konnten, so aber doch einschränkten und einen bescheidenen Platz für Öffentlichkeit schufen. Der politisch-ideologische Balanceakt zwischen Abgrenzung und Öffnung neigte sich in den 1980er Jahren dabei immer stärker zu Ungunsten der DDR. Gerade auf dem Feld der sozio-kulturellen Beziehungen wurde deutlich, wie sich vordergründige außenpolitische Erfolge wie die diplomatische Anerkennung 1973, die KSZE-Schlussakte von Helsinki aus dem Jahre 1975 und auch das Kulturabkommen mit Frankreich von 1980 mittelfristig zu einer neuen Belastung für die SED entwickelten und das Legitimationsdefizit weiter verschärften. Während die Staatspartei die Unterzeichnung von internationalen Verträgen wie selbstverständlich als Zementierung ihrer äußeren wie inneren Position verstand, unterschätzte sie die neuen Verpflichtungen und Erwartungen, die das „Erwachsenwerden“ mit sich brachte. Konnte sie vor 1973 noch die Bundesrepublik mit ihrem Alleinvertretungsanspruch als „Bremser“ weitergehender Kulturbeziehungen präsentieren, bestand dieses (vorgeschobene) Argument in den 1970er und 1980er Jahren nicht <?page no="70"?> Ulrich Pfeil 70 mehr. Mit ihrem neuen Status als gleichberechtigtes Mitglied der Staatenwelt musste sie mit der Wechselseitigkeit von transnationalen Beziehungen auch den reziproken kulturellen und gesellschaftlichen Austausch akzeptieren. Dieser Herausforderung war sie schließlich aber nicht gewachsen, so dass auch die ostdeutsch-französischen (Kultur-)Beziehungen zur Erosion des SED- Regimes beitrugen. 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Akteure im deutsch-französischen champ culturel . Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff Die Begriffsgeschichte der deutsch-französischen Kulturbeziehungen ist noch nicht geschrieben. Im Gegenteil sind Verwirrungen im theoretischen Großraum der vergleichenden Kulturanalyse bzw. der Transfergeschichte eher Regel denn Ausnahme. Zentrale Begriffe werden, häufig unhinterfragt, stark abweichend oder sich gegenseitig überlagernd verwendet. So ist beispielsweise die Frage, ob die „kulturelle Identität“ als homogenes und (einigermaßen) stabiles Gebilde gedacht wird, mit der sich eine Mehrheitsgesellschaft von anderen abgrenzt, oder vielmehr als ein heterogenes Feld, dessen Koordinaten und Bezugspunkte stets neu auszuhandeln sind, klärungsbedürftig - nicht zuletzt auch aufgrund der Bedeutungsverschiebungen, welche, wie Michael Werner in seinem Übersichtsartikel darlegt, die Bezeichnungen „Kulturbeziehung“ und „Kulturtransfer“ in den letzten hundert Jahren im Verlauf eines folgenreichen Theoriewandels erfahren haben. Ähnliches lässt sich für den in den letzten Jahren in Mode gekommenen Begriff des „Mittlers“ konstatieren. Wenngleich die Erforschung der deutsch-französischen Beziehungen in jüngerer Zeit verstärkt Biographien von Mittlerpersönlichkeiten in den Blick genommen hat, ist eine systematisch fundierte, umfassende Mittlerforschung - wie sie beispielsweise von Katja Marmetschke oder Hans Manfred Bock angestrebt wird - allein in Ansätzen sichtbar. Marmetschke folgend konzentriert sich diese zur Zeit im Wesentlichen auf „drei unterschiedliche modi operandi des Engagements“: auf Autoren, die Informationen über das andere Land sammeln und deuten, auf Organisatoren von Begegnungsagenturen oder Zeitschriften sowie auf Multiplikatoren (wie Lehrer oder *Journalisten). 1 Ein Blick in das umfängliche Personen- und Sachregister des vorliegenden Bandes zeigt jedoch, dass diese Kategorisierung einen wichtigen Mittlertypus ausschließt. So finden wir dort neben den sich in der Regel selbst als Mittler affirmierenden und mit eigenen identitären Selbstvergewisserungsstrategien ausgestatteten Autoren, Organisatoren und Multiplikatoren, die nicht selten im direkten Kontakt zu Institutionen stehen, welche den Hinweis des „deutschfranzösischen“ schon im Titel tragen (wie das *Deutsch-Französische Jugendwerk), zudem zahlreiche bedeutsame Namen (in der Regel von Künstlern und Wissenschaftlern), die für die deutsch-französische Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg in kultureller Hinsicht zweifellos überaus wichtig waren, sich selber jedoch keineswegs als intentional agierende Figuren des francoallemand begriffen haben. *Bertolt Brecht für das Theater oder *Gisèle Freund für die Fotografie haben beide maßgeblich zur Konstitution und spezifischen Ausprägung des deutsch-französischen Kulturaustausches nach dem Krieg beigetragen, obwohl sie sich dies nicht zur Aufgabe gemacht hatten, sondern vorrangig künstlerische und persönliche Ziele verfolgten. Während *Brecht bis kurz vor seinem Tod kaum Beziehung zu Frankreich unterhielt und die meisten französischen Theatermacher seinem dramatischen Werk und seiner Theorie des Epischen Theaters bis Mitte der 1950er Jahre dezidiert ablehnend gegenüberstanden, blieb das Verhältnis der in den 1930er Jahren nach Frankreich emigrierten *Freund, die sich in ihrer Arbeit keineswegs vom Gedanken der *Versöhnung leiten ließ, zum Nachkriegsdeutschland zeitlebens angespannt. Hier stellt sich 1 Katja Marmetschke, Dossier Mittlerstudien, Einleitung, in: Lendemains 146/ 147 (2012), S. 10. <?page no="72"?> Nicole Colin, Joachim Umlauf 72 die Frage, ob zum Mittlerdasein tatsächlich immer auch der Einsatz für eine gemeinsame Sache oder zumindest ein starkes Interesse am Anderen gehört oder ob auch nichtintentionale Formen der Einflussnahme im anderen Land als Mittlertätigkeit bezeichnet werden können. Um die Rolle der Vermittler im deutsch-französischen Kulturfeld näher und präziser beleuchten zu können, erscheint es uns daher sinnvoll von einem erweiterten Mittlerbegriff auszugehen, der auch die spezifischen Funktionen und Leistungen der letzteren Kategorie berücksichtigt und analysiert. Eine solche Einbeziehung von (in der Regel aus dem Kunst- oder Wissenschaftsfeld stammenden) Akteuren, deren Intention in anderen, häufig eigennützigen Beweggründen zu suchen ist, erscheint auch insofern interessant, als hierdurch die (zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg) stets positive Konnotation des Mittlerbegriffs im Blick auf ihr Engagement „im Zeichen der transnationalen Verständigung“ 2 indirekt unterlaufen bzw. problematisiert werden kann. Dabei ist allerdings - angesichts des angedeuteten Begriffsdschungels - zunächst einmal zu klären, in welcher Beziehung unsere Vorstellung von Kultur eigentlich zur Kunst steht. Denn während die beiden Begriffe in literaturwissenschaftlichen oder kunsthistorischen Untersuchungen oft synonym benutzt werden, verwenden Analysen, die sich aus politischer oder historischer Perspektive dem Thema des Kulturtransfers nähern, in der Regel einen kunstfernen Kulturbegriff. Wenn Corine Defrance in ihrem Eingangsartikel Konrad Adenauer zitiert, so geht es diesem im Blick auf das „kulturelle[] Gebiet“ vor allem um den „Austausch unserer jungen Menschen aller Schichten“ - also um zivilgesellschaftliche Begegnungen und nicht die Vermittlung von Kenntnis über literarische oder künstlerische Werke des Nachbarn. Gleiches gilt für die heute oft geforderten „interkulturellen Kompetenzen“. Hier ist üblicherweise von Experten die Rede, die über die Alltags- und Arbeitskultur des anderen Landes informiert sind, nicht jedoch im besonderen Maße über Kunst und Literatur. 1. Kultur versus Kunst, Kunst als Kultur? Die in Frankreich unter den ähnlichen, aber nicht deckungsgleichen Begriffen exception oder diversité culturelle verhandelte Sonderstellung der Kultur, die den EU-Mitgliedstaaten die eigenverantwortliche nationalstaatliche Förderung bestimmter kultureller Bereiche bzw. Güter erlaubt, verfolgt, vergleichbar mit dem Prinzip der Länderhoheit in Kulturfragen in der Bundesrepublik, das Ziel Vielfalt, diversité, zu sichern. Gleichzeitig entzieht die finanzielle Unterstützung regionaler und nationaler Sprachen oder spezifischer kultureller Traditionen, die ohne Subventionen keine realistische Überlebensmöglichkeit hätten, diese faktisch den Regeln des gemeinschaftlichen Marktes. Diese Übereinkunft spiegelt letztlich die in Europa vorherrschende Vorstellung von Kultur als einem von ökonomischen Prinzipien weitgehend freigestellten Bereich, die zuweilen jedoch (und zwar in mehrfacher Hinsicht) an ihre Grenzen stößt. So erscheint es z.B. durchaus sinnvoll, künstlerisch anspruchsvolle Filmprojekte, die sich nicht über die zu erzielenden Einnahmen finanzieren ließen, zu unterstützen; inwiefern jedoch auf den globalen Massengeschmack ausgerichtete Blockbuster zur diversité culturelle in Europa beitragen, ist fragwürdig. Auch ein erweiterter Kulturbegriff, der sich explizit nicht auf die traditionellen Hochformen der Kunst (Literatur, Malerei, Musik etc.) beschränkt, sondern auch den nichtkünstlerischen Bereich (wie z.B. Design oder Esskultur) einbezieht, bereitet in diesem Kontext mitunter Schwierigkeiten: So ist es nur schwerlich einzusehen, warum z.B. die Produzenten und Vertreiber von französischer Gänsestopfleber 3 unter grundsätzlich anderen Bedingungen ihre Produkte verkaufen dürfen als 2 Marmetschke, Einleitung, S. 10. 3 2005 wurde die foie gras einstimmig von der französischen Regierung zum patrimoine culturel et gastronomique erklärt. , <?page no="73"?> Akteure im deutsch-französischen champ culturel . Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff 73 die Hersteller gewöhnlicher Leberwurst. Gleiches gilt für Quoten im Radio zum Schutze des nationalen Liedguts, an denen gerade die professionellen, kommerziell arbeitenden Musikproduzenten verdienen, sowie die immer stärker in den Mittelpunkt des staatlichen Interesses rückenden cultural industries. Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint die in Europa allgemein vorherrschende Vorstellung von Kultur als ein unökonomischer Wert bzw. symbolisches Kapital nicht selten einem heimlichen Protektionismus als Deckmäntelchen zu dienen. Letztendlich steht hinter dem europaweit unterstützten Einklagen von marktfreien Kulturreservaten und der Bewahrung einer diversité culturelle die Angst vor einem kulturellen und ökonomischen Verdrängungswettbewerb, den in der Regel die am wenigsten auf eine regionale Kultur und am meisten auf eine globalisierte Zivilisation ausgerichtete (und d.h. im Klartext: amerikanische) Kulturproduktion gewinnt. So ist, um ein sprechendes Beispiel zu wählen, die am häufigsten besuchte Sehenswürdigkeit in Frankreich inzwischen nicht mehr der Eifelturm oder der Louvre, sondern Disneyland Paris. Gleiches gilt für den staatlich oder auch zivilgesellschaftlich initiierten kulturellen Transfer. Hinter den vorgegebenen „völkerverbindenden“ oder „europäischen“ Zielen staatlicher Auslandskulturinstitute stehen zumeist (auch) politische und/ oder ökonomische Interessen, die paradoxerweise weniger transkulturelle als vielmehr nationale (und bisweilen nationalistische) Ziele verfolgen. Aber noch aus einem weiteren Grund erscheint die Frage, in welchem Verhältnis Kultur und Kunst zueinander stehen, für den hier verhandelten Gegenstand bedeutsam: Während die in der Anthropologie und Ethnologie untersuchten kulturellen Güter und Errungenschaften einer Gruppe, eines Volkes oder einer Nation, ja gerade für das Allgemeine der jeweiligen Kultur stehen, ist der spezifisch europäische Kunstbegriff, so wie er sich seit der Renaissance herausgebildet hat und heute in der westlichen Welt verwendet wird, bekanntlich strikt autorzentriert. Zwar kann sich ein Land mit den herausragenden Leistungen seiner Künstler schmücken, diese rückblickend zu einer jeweiligen nationalen „Klassik“ erklären und vermittelt durch ihrer Kanonisierung auch popularisieren, es kann sie jedoch keinesfalls zum „allgemeingültigen“ kulturellen Standard deklarieren, da der Künstler (ebenso wie der Wissenschaftler) per definitionem immer nur als Ausnahmeerscheinung zu denken ist. Im Geniekult hat dies seine stärkste Ausprägung erfahren. 2. Kultur und Zivilisation Die Schwierigkeit einer genauen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kultur und Kunst verweist implizit auch auf das Fehlen einer allgemeinverbindlichen Definition von Kultur selbst - und zwar in beiden Sprachen gleichermaßen. Dabei weicht der deutsche Kulturbegriff, wie u.a. Norbert Elias über den „Prozess der Zivilisation“ analysiert hat, in seiner Bedeutung historisch stark von der französischen Variante ab. 4 Allerdings erscheint fraglich - blickt man auf die aktuellen kulturpolitischen Entwicklungen in beiden Ländern, die sich inzwischen weitgehend angenähert zu haben scheinen - ob sich die von Elias konstatierte und für die Theoriebildung auch durchaus „praktische“ Dichotomie von deutschem Kultur- und französischem (bzw. angelsächsischem) Zivilisationsbegriff im Kontext des deutsch-französischen Kulturtransfers nach 1945 überhaupt noch sinnvoll anwenden lässt. Das identitäre Selbstverständnis und Strategien wie die exception culturelle deuten in Deutschland wie Frankreich gleichermaßen auf eine abgrenzende Idee von Kultur, die vordringlich dazu dient, eine Gruppe von anderen unterscheidbar zu machen, und eben nicht geeignet scheint - wie der von Elias als „französisch“ definierte Begriff der Zivilisation - Verbindungen zu anderen zu befördern oder gar integrativ zu wirken. 4 Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchung, Bd. 1, Frankfurt/ M. 1976. <?page no="74"?> Nicole Colin, Joachim Umlauf 74 Dass die französische Vorstellung von Kultur auch innerhalb der Gesellschaft im Blick auf die sozialen Hierarchisierungen systemisch eher exkludierende denn inkludierende Konsequenzen zeitigt, hat u.a. *Pierre Bourdieu in seinen soziologischen Analysen nachgewiesen. Dabei hat sich die culture générale , die Allgemeinbildung, vor allem darum als elitebildendes gesellschaftliches Ausschlusskriterium bewährt, weil sie einen direkten Bezug zur Kunst (verstanden als Hochkultur) hat, die traditionell nur oberen Gesellschaftsschichten offenstand bzw. -steht. Diese ausgrenzende Funktion wird auch durch einen erweiterten Kulturbegriff nicht unterlaufen, da durch klare Platzanweisungen innerhalb des Feldes die populären Formen von Kultur (und damit ihre Anhänger) von vorneherein als (symbolisch) minderwertig gekennzeichnet werden. 5 Das gilt für Frankreich wie Deutschland gleichermaßen. Die mit der Kunst verbundene Hochkultur hat sich als Instrument eines integrativen bzw. partizipativen Vermittlungsprozesses - sowohl im Blick auf die sozialen Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft, als auch die kulturellen Prägungen verschiedener Gemeinschaften - als untauglich erwiesen. Insofern erscheint das von Koselleck als „nicht spezifisch berufs- oder klassengebunden“ 6 beschriebene deutsche Modell der „Bildung als Lebensführung“ 7 relativierungsbedürftig. Denn wenngleich ein Opernbesuch in Deutschland nicht identischen gesellschaftlichen Beschränkungen wie in Frankreich bzw. Paris unterliegt, sind jedoch bestimmte Bevölkerungsschichten nach wie vor auch hier von gewissen Formen solch gebildeter Lebensführung weitgehend ausgeschlossen. Trotz dieser verbindenden Tendenz eines exkludierenden Kulturbegriffs sind in Deutschland und Frankreich - blickt man auf die verschiedenen Felder künstlerischer Produktion - grundsätzliche, zumeist systemische Unterschiede auszumachen, die in nicht unerheblichem Maße zunächst einmal von den historisch gewachsenen politischen Verhältnissen abhängen. Die Tatsache, dass sowohl Kultur im Allgemeinen als auch Kunst im Besonderen in Frankreich (der politischen Ordnung des Landes entsprechend) zentralistisch organisiert ist und bestenfalls vom Zentrum Macht in die Regionen delegiert wird, in Deutschland hingegen ein föderales System herrscht, in dem die Regionen umgekehrt zwar zahlreiche Kompetenzen an den Bund abtreten, ausgerechnet den Bereich der Kultur und Bildung aber gänzlich unter der Verantwortung der Länder halten, hat nicht allein eine unterschiedliche Organisation des kulturellen Lebens zur Folge, sondern spiegelt sich auch nachhaltig im künstlerischen Selbstverständnis der Künstler wider und erschwert in manchen Bereichen auch den transnationalen Kulturkontakt und -austausch: Dass in Frankreich auch nach rund 65 Jahren kultureller décentralisation das eigentliche Herz der Kunst immer noch in Paris schlägt, ist aus deutscher Perspektive schwer zu verstehen. Die Zuständigkeiten in der französischen Kulturpolitik werden auf dem Papier in vielen Bereichen offiziell zwar geteilt, tatsächlich hat jedoch Paris zumeist nicht nur das letzte, sondern auch bereits das erste Wort: So bleibt trotz offener und öffentlicher Bewerbungsverfahren die Entscheidungsmacht des Ministère de la culture et de la communication in Paris in vielen Bereichen ungebrochen - auch wenn es sich um Posten in der Region handelt, was in Deutschland aufgrund der historisch gewachsenen föderalen Strukturen unmöglich und daher auch unverständlich ist. Umgekehrt gestaltet sich das Detektieren von Hierarchien und Wertigkeiten im deutschen champ culturel für französische Kulturschaffende äußerst kompliziert, da sie (unausgesprochen) immer der französischen Logik eines metropolen Primats folgen und stets potentiell geneigt sind, künstlerische Produktionen aus Berlin über solche aus Hamburg, München oder Stuttgart zu stellen. Die im herrschenden System auch kaum zu reduzierende Macht des Pariser Kulturministeriums hinterlässt also nicht allein deutliche Spuren in der Organisation der Kunstproduktion und -distribution, sondern beeinflusst ebenfalls die Wahrnehmung und Beurteilungen der kulturellen Mittler. 5 Vgl. Pierre Bourdieu, Les règles de l’art, Genèse et structure du champ littéraire, Paris 2 1998. 6 Reinhard Koselleck, Begriffsgeschichten, Frankfurt/ M. 2006, S. 122. 7 Ebd., S. 119-122. <?page no="75"?> Akteure im deutsch-französischen champ culturel . Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff 75 Insofern bleibt Paris (auch) in künstlerischer Hinsicht ein Ballungszentrum, das sich aufgrund seiner Monopolstellung nicht mit Berlin vergleichen lässt - und das, obgleich sich die Stadt seit Mauerfall und Wiedervereinigung in ein wahres Eldorado für Künstler aus der ganzen Welt entwickelt hat, in das mehr und mehr kulturelle Institutionen und Unternehmen (wie beispielsweise Verlagshäuser) umsiedeln und Internationalität als Selbstverständlichkeit erscheint. Während aber, um ein Beispiel aus dem Theaterbereich als einem weitgehend institutionalisierten Sektor zu wählen, die regional orientierte Kulturpolitik nach Selbstdarstellung im nationalen Feld zu streben scheint, sucht die zentralistische nach nationaler Repräsentation im internationalen Kontext: So lädt das jährlich stattfindende Berliner Theatertreffen ausgewählte Inszenierungen aus ganz Deutschland ein, um diese „zentral“ zu präsentieren, wohingegen das Festival d’Automne oder auch das (weitgehend national finanzierte) Festival d’Avignon einen deutlich internationalen Akzent besitzen, da die herausragenden nationalen Produktionen ohnehin in Paris präsentiert werden müssen, um als solche wahrgenommen werden zu können. Vielleicht spiegeln sich in dieser differenten Kunstpraxis dann doch Reste jener (alten), immer wieder gern zitierten Dichotomie zwischen der deutschen Vorstellung von Kultur und dem französischen Zivilisationsbegriff: Paris steht für das alles vereinende zivilisatorische Großstadtprinzip; Berlin fungiert hingegen - zumindest in diesem Sektor - als Plattform einer lokal verwurzelten Kunst und Kultur. 3. Der Mittler im Spannungsfeld von Kultur- und Kunsttransfer Kommen wir nach diesen grundlegenden Reflexionen über das Spannungsverhältnis von Kultur und Kunst nun zurück zur Bestimmung des Mittlers im Feld der deutsch-französischen Transfergeschichte nach 1945. Die 2012 erschienene Untersuchung „Deutsch-Französische Beziehungen als Modellbaukasten? “, die darauf zielt, den erfolgreichen deutsch-französischen Aussöhnungsprozess in ihrer Beispielhaftigkeit für die europäische Integration zu untersuchen, fokussiert auf „wirtschaftliche, kulturelle, politische und soziale Beziehungen und Verflechtungen, die die Grenze der Nationalstaaten überschreiten, aber nicht in erster Linie zwischen den Staaten bzw. Regierungen entwickelt werden“. 8 Clémentine Chaigneau und Stefan Seidendorf gehen in ihrer Einleitung dabei von folgender Prämisse aus: „Soll ‚Annäherung’ und ‚Verständigung‘ zwischen Nationen gelingen, dann bedarf dieser Prozess einer dynamischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in die nichtstaatliche, zivilgesellschaftliche Akteure mit einbezogen sind.“ 9 Blickt man auf die kulturellen Beziehungen im Bereich Kunst und Wissenschaft, so lässt sich dieser schön klingende und zunächst einleuchtende Befund allerdings nicht bestätigen. Zwar sind die Fragen der so genannten „Vergangenheitsbewältigung“ auch in diesem Kontext durchaus präsent, sie jedoch als Grundlage oder gar (alleiniges) Antriebsmoment kennzeichnen zu wollen, scheint uns deutlich zu kurz gegriffen. Im Gegenteil überrascht gerade in den 1950er Jahren die zum Teil unvoreingenommene gegenseitige Annäherung und Konfrontation jenseits von Überlegungen über die jüngste deutsch-französische Geschichte und die Nazi-Barbarei. Es gilt mithin zu akzeptieren, dass Motivationen höchst variabel sind und sich keinesfalls allein unter die intentionale Mittlerschaft subsumieren lassen. So verlor beispielsweise der bekannte Theatermacher und Begründer des Festival d’Avignon Jean Vilar 1951 im Programmheft zur französischen Erstaufführung des (deutlich) frankophoben und zudem durch die Instrumentalisierung der Nationalsozialisten heftig diskreditierten „Prinzen von Homburg“ von Kleist, der in Deutschland damals als unspielbar galt, kein einziges Wort zur deutsch-französischen „*Erbfeindschaft“, geschweige 8 Clémentine Chaigneau, Stefan Seidendorf, Einleitung, in: Stefan Seidendorf (Hg.), Deutsch-Französische Beziehungen als Modellbaukasten? Zur Übertragbarkeit von Versöhnung und strukturierter Zusammenarbeit, Baden-Baden 2012, S. 16. 9 Ebd., S. 14f. <?page no="76"?> Nicole Colin, Joachim Umlauf 76 denn zum Grauen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Künstlerische Gründe dominierten ganz offensichtlich bei der Wahl des Stückes, die, vielleicht gerade weil sie politisch weitgehend interesselos waren, eine umso stärkere vermittelnde Wirkung entfaltete. Gleiches gilt für die nach dem Zweiten Weltkrieg sehr rasch einsetzende französische Rezeption von *Martin Heidegger, deren Akteure dessen Verhalten zur Zeit des Nationalsozialismus, das für ihn in Deutschland mit dem Entzug seiner Lehrbefugnis (1946) immerhin schwere Konsequenzen nach sich zog, zunächst nicht thematisierten. Wenngleich in beiden Fällen der Wunsch nach Annäherung an die andere Kultur nach den schrecklichen Erfahrungen des Krieges sicherlich eine Rolle gespielt hat, kam der „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ hier ebensowenig Bedeutung zu wie dem expliziten Gedanken der *Versöhnung. Aber auch was die „nichtstaatliche[n], zivilgesellschaftliche[n] Akteure“ anbelangt, erscheint der oben zitierte Befund differenzierungsbedürftig. Betrachten wir den in den letzten Jahrzehnten zunehmend gebrauchten und teils (über-)strapazierten Begriff der „Zivilgesellschaft“ im Blick auf seine historische Herkunft aus der „bürgerlichen Gesellschaft“, so ist, jenseits bestimmter Bedeutungsverschiebungen, weiterhin festzustellen, dass es ihren „Mitgliedern [...] - überspitzt gesagt - nicht darum [geht], politische Herrschaft auszuüben, sondern Teilhabe an der Staatsgewalt zu gewinnen, um ihre wirtschaftlichen - und kulturellen und religiösen - Interessen sicherzustellen“. 10 Diese prinzipielle Negierung eines Herrschaftsanspruches führte historisch betrachtet dazu, dass der Begriff „Bourgeoisie“ zur „abgrenzenden Kennzeichnung für all diejenigen wurde, die weder manuell, noch intellektuell, noch politisch führend tätig waren“. 11 Will man diese begriffshistorische Prämisse nun rückbeziehen auf die Position jener „nichtstaatliche[n], zivilgesellschaftliche[n] Akteure“ im Feld der Kulturvermittlung, lässt sich konstatieren: Auch Wissenschaftler und Künstler sind als Bürger Teile der Zivilgesellschaft, grenzen sich in ihrer beruflichen Funktion jedoch prinzipiell von dieser ab, insofern sie qua professionellem Selbstverständnis nach Autonomie und Exzellenz streben und darin (beispielsweise als Avantgardist oder Pionier) explizit oder implizit jenen Führungsanspruch affirmieren, der dem zivilgesellschaftlichen Engagement fremd ist. Zudem können sich ihre Aktivitäten mitunter durchaus in Abweichung oder sogar in deutlichem Widerspruch zu den zivilgesellschaftlichen Interessen und Vorgaben befinden. Im Kontext der vorangestellten Überlegungen zum (schwierigen) Verhältnis zwischen Kultur und Kunst lassen sich auf der Grundlage dieser zivilgesellschaftlichen Binnendifferenz die integrativen und exkludierenden Momente von Kunst als Kultur - jenseits der inzwischen unbefriedigenden Dichotomie von Kultur und Zivilisation - besser verstehen. Innerhalb der Zivilgesellschaft besitzt die Kultur mäßigende, verallgemeinernde, ja zivilisatorische Aspekte; auf den Künstler als Künstler bezogen dominiert hingegen ihre ausgrenzende Funktion. Stärker noch als in der nationalen Kulturarbeit stellt diese Spannung (und nicht selten Verwirrung) zwischen den zivilgesellschaftlichen Bestrebungen einerseits und der auf Autonomie und Freistellung von Zweckbindungen zielenden künstlerische Produktion andererseits ein zentrales (allerdings viel zu selten thematisiertes) Problem der Kulturvermittlung dar. Denn während Museen, Stipendienprogramme und selbst Theater sich ganz selbstverständlich einem „interesselosen“ Kunstverständnis unterordnen, verfolgen im Ausland tätige Kulturinstitute, wie das *Goethe-Institut oder *Institut français, explizite zivilgesellschaftliche Aufgaben, „benutzen“ also gewissermaßen die Kunst als Mittel zum Zweck. Angesichts der dargelegten Probleme und Widersprüche erscheint es im Kontext eines erweiterten Mittlerbegriffes schwierig, eine Typisierung der Akteure über eine Beschreibung ihrer Tätigkeiten oder modi operandi vorzunehmen. Stattdessen sollte - aus genannten Gründen - vielmehr das Selbstverständnis der Akteure hinterfragt werden. Wenn geklärt ist, ob es sich um eine 10 Koselleck, Begriffsgeschichten, S. 406. 11 Ebd., S. 445. <?page no="77"?> Akteure im deutsch-französischen champ culturel . Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff 77 intentionale oder eine nichtintentionale Vermittlung handelt, kann man in einem zweiten Schritt, die Verflechtungen, Schnittstellen und Wechselwirkungen der beiden Typen beschreiben und analysieren. 4. Wechselwirkungen: Intentionale und nichtintentionale Vermittlung Die Gruppe der intentionalen Mittlerfiguren umfasst im wesentlichen Deutschlandexperten in Frankreich, Frankreichspezialisten in Deutschland sowie Experten des so genannten franco-allemand in beiden Ländern. Zu trennen sind in dieser Gruppe die nichtgesteuerten von den gesteuerten, in staatlich geförderten Institutionen tätigen Mittler, die einen intentionalen, auf Information, Werbung, Völkerverständigung, *Versöhnung oder ähnliche Ziele ausgerichteten Kulturtransfer anstreben, der heutzutage bisweilen durch den Begriff der public diplomacy ersetzt wird. Mit Bildungsangeboten, Austausch- und Kulturprogrammen, Studiengängen etc. richten sich diese Organismen an sehr unterschiedliche Zielgruppen und kümmern sich auch um den eigenen Nachwuchs, d.h. die neue Herausbildung von Frankreich- und Deutschlandexperten bzw. Mittlerfiguren. Ungesteuerte Vermittlung betreiben hingegen Künstler oder Wissenschaftler bzw. entsprechende Institutionen, die aus in der Regel zufälligen Gründen Teil des Kulturtransfers geworden sind, sich selber jedoch - das wurde an den Beispielen *Bertolt Brecht und *Gisèle Freund gezeigt - häufig nicht als Mittler begreifen. Individuell zu entscheiden wäre ferner, unter welche Gruppe sich Akteure rechnen lassen, die aus (vornehmlich) ökonomischen Gründen am kulturellen Transfer partizipieren. So kann die Erschließung eines ausländischen Marktes es einerseits notwendig machen, sich diesem auch kulturell zu nähern und anzupassen, andererseits können neue Produkte (wie beispielsweise der Fall *Prisma Presse zeigt) diesen bisweilen durchaus aber nachhaltig beeinflussen. Für den Bereich der Wissenschaft lassen sich die Prinzipien beider Mittlergruppen und -untergruppen gleichermaßen anwenden: Während eine Vielzahl an Philosophen, Soziologen, Mediziner oder Physiker, deren Arbeit im Nachbarland von Bedeutung ist, keinerlei primäres Interesse am Kulturtransfer haben und sich selber auch nicht als Mittler verstehen, sind die Tätigkeiten der französischen Germanisten und deutschen Romanisten, wie beispielsweise *Jean-Marie Valentin oder Jacques Le Rider bzw. *Michael Nerlich oder Dorothee Röseberg, die oft durch ihre Übersetzungen und Herausgebertätigkeit über die Hochschulen hinaus gesellschaftlich wirken, in jedem Fall durch ihr Interesse am Anderen intentional gesteuert und konstitutiver Teil des franco-allemand . Das gilt auch für französische Ideengeschichtler, Linguisten und Historiker, die in der Germanistik tätig sind, sich aber zumeist in erster Linie ihren Fächern wie der Philosophie oder der Geschichte verbunden fühlen. Michael Werner und Michel Espagne, Gérard Raulet, Jérôme Vaillant oder Hélène Miard-Delacroix, René Lasserre oder Henri Ménudier sind aufgrund ihres spezifischen Forschungsinteresses und Wirkens als intentionale Mittler zu bezeichnen, die sich durch Politikberatung und Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, nicht zuletzt aber auch durch die von ihnen lancierten Vernetzungen der Wissenschaftsfelder beider Länder ausgezeichnet haben. Zu untersuchen ist allerdings in jedem einzelnen Fall, inwiefern die in der Regel an die Universität als staatliche Institution gebundene Tätigkeit jener intentionalen Mittler auch eine gesteuerte Form der Vermittlung impliziert. Das der Universität Sorbonne Nouvelle zugehörige (2012 nach Paris-Censier umgezogene) *Institut d’Allemand d’Asnières, das hinsichtlich der prozentualen Präsenz seiner Absolventen im franco-allemand eine herausragende Stellung einnimmt, zeigt, wie wichtig die Wechselwirkungen zwischen persönlichem Engagement und gesteuerter Vermittlung mitunter sein können. Maßgeblich für den Erfolg des Instituts verantwortlich waren *Pierre Bertaux und *Hansgerd Schulte, denen es, den Gesetzen der strukturellen Homologie folgend, gelungen ist, ihre eigenen fachlichen Interessen in eine nachhaltige und kulturpolitisch <?page no="78"?> Nicole Colin, Joachim Umlauf 78 bedeutsame Vermittlungsarbeit zu transformieren. Während *Bertaux mit seinem kulturwissenschaftlichen Zugang zur Germanistik (dessen methodische Bedeutung für das Fach bisher noch nicht ausreichend untersucht wurde) sich als französischer Vordenker eines Paradigmenwechsels erwies, den die Mutterdisziplin erst Jahrzehnte später nachvollziehen sollte, hat *Schulte in der Aufbauphase des *DAAD in Frankreich entscheidende Weichen gestellt, deren Folgen auch noch heute deutlich spürbar sind, wenngleich die Frankreichpolitik schon lange nicht mehr zu einer der zentralen Zielvorgaben des *DAAD gehört. Im Gegensatz zu diesem Beispiel, lässt sich die Wirkung des vordringlich institutionell (durch den *DAAD) gesteuerten ENA-Programms für Deutsche sowie die Arbeit von Institutionen wie dem *Deutschen Historischen Institut und dem *Deutschen Kunstforum in Paris, des *Centre Marc Bloch oder des *Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, der *Robert Bosch Stiftung, des *Goethe-Instituts bzw. des *Instituts français’ oder auch der Alexander von Humboldt-Stiftung nicht auf herausragende Mittlergestalten zurückführen - wenngleich es in jeder dieser Institutionen solche gegeben hat, die teils, wie z.B. *Robert Picht, auch in diesem Lexikon Aufnahme gefunden haben. Im Blick auf die strukturellen Homologien des Feldes erscheint eine abgrenzende Analyse der Ziele, Vorstellungen und Aufgaben der verschiedenen Mittlertypen weniger erfolgversprechend als eine Netzwerkanalyse, d.h. die Untersuchung der Beziehungen zwischen dem (recht diffusen) Feld der nichtintentionalen und der (gesteuerten oder nichtgesteuerten) intentionalen Vermittlung: In welchem Verhältnis stehen Regisseure, Maler, Literaten und Wissenschaftler zu den Experten des franco-allemand und seinen Institutionen? Wie werden die Akteure einer intentionalen Vermittlung lebensgeschichtlich durch die Akteure des nicht intentionalen Kulturtransfers beeinflusst - und umgekehrt? Interessant erscheinen dabei vor allem Mittlergestalten, die sich an der Schnittstelle der verschiedenen Felder bewegen. Wie ließe sich beispielsweise das Leben von *Nicole Bary als einer Akteurin der (gesteuerten und nichtgesteuerten) intentionalen sowie nichtintentionalen Vermittlung gleichermaßen beschreiben und analysieren? In welchem Verhältnis stehen eigene lebenspraktische Aspekte (Familien- und Liebesbeziehungen, Freundschaften), Forschungsinteressen und Institutionenziele? Private Kontakte fußen im deutsch-französischen Feld nicht selten auf von staatlichen Institutionen vorgegebenen Programmen - und umgekehrt. Da das bei (jungen) Deutschen nach wie vor sehr rege touristische Interesse an Frankreich - insbesondere an Paris und der Mittelmeerküste - und die entsprechenden Ferienaufenthalte nicht unbedingt nachhaltige Kontakte nach sich ziehen, versuchen beispielsweise Austauschprogramme (wie sie von dem *DFJW oder *BILD angeboten werden) in „gesteuerter“ Form die flüchtige Begegnung auf Dauer zu stellen. Solche Programme können zweifellos einen ersten wichtigen und für die spätere Berufslaufbahn eines zukünftigen Mittlers vielleicht entscheidenden Anstoß geben. Aber sind in der Regel für die Teilnahme an solchen Austauschprojekten besondere Kenntnisse oder zumindest ein Interesse am Partnerland nicht bereits implizite Voraussetzung? Was ist wichtiger für den nachhaltigen Kulturtransfer? Ein genuines Interesse oder die strukturelle Einbindung dieses Interesses? Huhn oder Ei? Das Ziel einer solchen noch zu leistenden qualitativen Netzwerkanalyse wäre in diesem Sinne auch eine über die historische Beschreibung der Mittlerbiographien hinausgehende Bestimmung der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Positionen der deutsch-französischen Kulturbeziehungen - auch im Sinne eines Konkurrenzverhältnisses. Denn während die Akteure und Institutionen des intentionalen Transfers das so genannte franco-allemand bereichern und bestimmen, vollziehen sich die Aktivitäten der zweiten Gruppe in einem diffusen Raum, der sich, mit *Bourdieu gesprochen, als ein deutsch-französisches Kulturfeld bezeichnen ließe, dessen Umfang, Grenzen und Regeln indes nicht mit der Summe der nationalen champs culturels identisch sein kann und insofern noch genauer zu bestimmen wäre: Ist das franco-allemand ein Teil des deutschfranzösischen Kulturfelds oder bildet es mit diesem bloß eine Schnittmenge? <?page no="79"?> Akteure im deutsch-französischen champ culturel . Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff 79 Hier zeigt sich indirekt auch die Bedeutung zeitlicher Implikationen für die Klassifikation von Mittlern. Ein interessantes Beispiel gibt in diesem Kontext der französische Ex-Premierminister Jean-Marc Ayrault. Die Frage, ob sich Ayrault aufgrund seiner langjährigen engen Beziehungen zu Deutschland in seiner staatlichen Funktion weiterhin als Mittler verstehen konnte, wäre zu diskutieren. Ebenfalls geändert hatte sich die intentionale Mittlerfunktion seines Beraters Jacques- Pierre Gougeon, der zuvor als *Hochschulgermanist sowie Kulturattaché an der Französischen Botschaft in Berlin und danach als recteur der Académie de Strasbourg mehrfach vom nichtgesteuerten in den gesteuerten Bereich wechselte. Hier zeigt sich, dass Mittlersein kein statischer Zustand ist und neben räumlichen auch zeitlichen Bedingungen unterworfen ist, die genauer zu untersuchen sind - ähnlich wie Werner und Zimmermann dies in ihrer Konzeption der Histoire croisée für die Transfergeschichte allgemein beschreiben. 5. Krisendiskurse: Ein deutsch-französisches Kulturfeld jenseits der Versöhnung? Eine besondere Bedeutung für die zeitlichen Bedingungen des Mittlerdaseins besitzt der im deutsch-französischen Diskurs der letzten Jahre auffallend inflationär benutzte Begriff der „Krise“. Nun rekurrieren die Krisen der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 - trotz konkreter Probleme wie z.B. des Deutschlernerschwunds in Frankreich - weder auf eklatante Spannungen auf politischer Ebene noch dramatische Entwicklungen im Bereich des kulturellen Austauschs und sind in keiner Weise mit den Krisen vor 1945 vergleichbar. Im Blick auf die von Reinhart Koselleck unterschiedenen semantischen Kategorien der Krise - als Prozess (Geschichte als Dauerkrise), iterativer Periodenbegriff (d.h. als ein einmaliger, sich beschleunigender Vorgang) oder als teleologischer Zukunftsbegriff (die schlechthin letzte Krise) - handelt es sich bei der Krise der deutsch-französischen Kulturbeziehungen zweifellos um die zweite Möglichkeit, hinter der, wie beim ökonomischen Krisenbegriff, eine Gleichgewichtsmetaphorik steht: Auf eine solche Krise, die entsteht, „wenn das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, zwischen Konsumption und Produktion, zwischen Geldumlauf und Warenlauf so gestört wird, dass Rezessionen, Rückschritte allenthalben sichtbar werden“, folgt in der Regel eine gesteigerte Produktivität. 12 Die Krise setzt insofern die deutsch-französischen Beziehungen in ein Wechselverhältnis zum francoallemand , deren Akteure, wie Katja Marmetschke ausführt, „gerade dann ihr kreatives Potenzial entfalteten, wenn sich die offiziellen Kontakte zwischen Deutschland und Frankreich auf dem Tiefpunkt befanden.“ 13 Aus dieser Perspektive bringt die immer wieder gern beschworene Krise der deutsch-französischen Beziehungen die Angst zum Ausdruck, dass diese ihren Ausnahmestatus und Vorbildcharakter verlieren könnten. In diesem Sinne sind Krisendiskurse konstitutiver Teil einer Besitzstandswahrungsstrategie der in dem Feld tätigen Akteure bzw. ein identitätsbildendes Moment des deutsch-französischen Kulturfeldes. So beziehen die Akteure ihre eigene Bedeutung nicht unwesentlich aus der ständigen Beschwörung eines Mangels an gegenseitigem Interesse und Verständnis, der letztlich den Bedarf an neuem Engagement sicherstellt. Die Krise bildet auf diese Weise die Legitimationsgrundlage gegenüber Politik und Zivilgesellschaft, die das Angebot immer wieder strukturell in den Blick nehmen, um es zu sichern, zu korrigieren, auszubauen bzw. zu begrenzen und auch auf seine langfristige Wirksamkeit hin zu untersuchen. Im Mittelpunkt der Krisendebatten steht die Angst vor einem zunehmenden wechselseitigen Desinteresse an der deutschen bzw. französischen Kultur und insbesondere (seit Mitte der 1990er Jahre) der Sprache des anderen. Die Beurteilung dieser Indifferenz geht mitunter allerdings weit auseinander: Han- 12 Koselleck, Begriffsgeschichten, S. 204. 13 Marmetschke, Einleitung, S. 12. <?page no="80"?> Nicole Colin, Joachim Umlauf 80 delt es sich um das beunruhigende Symptom eines fatalen Rückfalls in frühere konfliktreiche Zeiten oder einfach nur um eine Folge der Normalisierung? Zwei bekannte Wissenschaftler, Peter Sloterdijk und Pierre Nora, haben in neuerer Zeit auf diese Frage geantwortet und sind dabei zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen gelangt. So vertritt Sloterdijk 2008 in seiner „Theorie der Nachkriegszeiten” die Meinung, dass freundschaftliche Annäherung notwendigerweise den Verlust eines stimulierenden Interesses nach sich zieht - worin für ihn, insbesondere im Blick auf die politischen Krisenherde in der Welt, aber gerade das Modellhafte der deutsch-französischen Beziehungen liegt: „Macht es wie wir, interessiert euch nicht zu sehr füreinander! “ 14 Auch Pierre Nora ist davon überzeugt, dass sich Deutsche und Franzosen nicht mehr wirklich für einander interessieren: „Man hat sich auseinandergelebt“ - so sein Befund in einem im Februar 2012 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichten Interview. Im Gegensatz zu Sloterdijks ironischem „Lob der Indifferenz“ empfindet Nora das anwachsende Desinteresse an der Sprache und Kultur des anderen jedoch als „gravierend und besorgniserregend“. 15 Die Urteile der beiden Nicht-Experten erscheinen im hier verhandelten Kontext besonders interessant, weil sie, wenngleich ihre Arbeiten nachhaltige Spuren im Nachbarland hinterlassen haben, als nichtintentionale Mittler nicht im Verdacht stehen, den Besitzstandsdiskurs zu bedienen. So gibt sich Nora selbst als ein Desinteressierter zu erkennen, der mit schlechtem Beispiel vorangeht und kaum persönlichen Beziehung zu Deutschland unterhält: „Was mich betrifft, so habe ich das Gefühl, dass mir die deutsche Kultur relativ fremd ist.“ 16 Umgekehrt sind Sloterdijks sehr guten Kenntnisse der französischen Sprache kein Indiz für profundes Wissen über das deutsch-französische Kulturfeld, geschweige denn das franco-allemand . Beide Wissenschaftler interessieren sich, wenn überhaupt, für die ihre eigenen Forschungsinteressen betreffenden Wissenschaftsfelder (also Philosophie und Geschichte) und deren Akteure im jeweils anderen Land. Trotz aller kritisierbaren und nachweislich an der Realität vorbeizielenden Behauptungen hat ihr kritischer und freier Umgang mit den Heiligtümern des deutsch-französischen *Versöhnungsdiskurses, inklusive ihrer Affirmation der eigenen Indifferenz, durchaus produktive Wirkungen im deutsch-französischen Kulturfeld gezeitigt. So lösten ihre Stellungnahmen in den Expertenkreisen des franco-allemand heftige Diskussionen aus und boten Anlass Grundpositionen neu zu justieren. Auf Pierre Noras Ausführungen reagierte u.a. der Leiter des *Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigburg Frank Baasner sowie der ehemalige Ministerpräsident Erwin Teufel mit einer kritischen Stellungnahme in der „FAZ“; eine Gruppe renommierter *Romanisten - darunter *Michael Nerlich, Wolfgang Asholt und Henning Krauß - veröffentlichen in der Internetausgabe von „Le Monde“ einen Beitrag, der Nora eher Recht gab. Vor dem Hintergrund dieser und anderer Reaktionen sollten die Nicht-Experten Sloterdijk und Nora als Mittler und Teil des Feldes ernst genommen und die Auswirkungen ihrer Behauptungen auf die deutsch-französischen Netzwerke untersucht werden. So wie nach Jahrzehnten intentionaler Interkulturalitätsforschung inzwischen endlich gewagt wird, Vorurteile, die es bisher als negativ konnotierte Phänomene im Blick auf ein anzustrebendes gegenseitiges „Verständnis“ allein abzuwehren und abzubauen galt, in ihrer sachlichen oder psychologischen Funktion zu betrachten, muss im Kontext der Mittlerforschung berücksichtigt werden, dass ein lebendiger Kulturaustausch immer auch Friktionen, Konflikte und Reibungen impliziert, die oft genug ebenso produktive Wirkungen zeitigen wie das Streben nach Symbiose und *Versöhnung. In die- 14 Peter Sloterdijk, Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945, Frankfurt/ M. 2008, S. 71f. 15 Pierre Nora, Wir haben uns auseinandergelebt, Ein Gespräch über das deutsch-französische Verhältnis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 41 (17.2.2012). 16 Ebd. <?page no="81"?> Akteure im deutsch-französischen champ culturel . Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff 81 sem Sinne können Akteure wie Nora und Sloderdijk mitunter durchaus von den kulturpolitischen oder zivilgesellschaftlichen Vorgaben des Transfers abweichen oder sogar in deutlichem Widerspruch zu diesen handeln. Gerade in angespannten politischen Situationen (wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg) haben nichtintentionale Mittler - wie Brecht, Freund und Vilar - nicht zuletzt darum eine produktive und nachhaltige Wirkung entfaltet, weil sie aufgrund ihrer politisch (zumindest in dieser Hinsicht) weitgehend interesselosen Haltung nicht verdächtig werden konnten, Propaganda zu betreiben. Die einzigartige Dynamik und Produktivität der deutschfranzösischen Kulturbeziehungen nach 1945 ergäbe sich in diesem Sinne nicht aus der teleologischen Idee der *Versöhnung, sondern spannungsreichen Wechselbeziehungen unterschiedlichster Impulse. Vor diesem Hintergrund verspricht eine stärkere Berücksichtigung der distanzierten Partizipation nichtintentionaler Akteure der Erforschung der deutsch-französischen Beziehungen neue Perspektiven zu öffnen. Denn eine solche Erweiterung des Mittlerbegriffs impliziert eine Infragestellung seiner einseitig auf Harmonisierung ausgerichtete Konnotation und verlangt notwendigerweise nach einer Ausdifferenzierung seiner Wertigkeit. Dabei gibt es neben dem politisch korrekten „Versöhner“ und dem primär selbstbezogenen Künstler oder Wissenschaftler noch weitere Akteure im Feld der bilateralen Beziehungen, die vermittelnde Funktionen erfüllen. So erforscht gegenwärtig - um einmal das Feld des franco-allemand zu verlassen - der niederländische Historiker Krijn Thijs anhand von Feldpostbriefen die kulturell vermittelnde Funktion von deutschen Wehrmachtssoldaten während der Besatzung in Holland, die auch nach dem Krieg in beiden Ländern gleichermaßen Spuren hinterlassen hat. Gleiches gilt selbstverständlich auch für Frankreich. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden im zeitlichen Abstand Akteure sichtbar, die sich, nicht zuletzt weil sie mitunter sehr weitab vom Gedanken der „Versöhnung“ standen, im toten Winkel der von diesem Gedanken erfüllten Wissenschaftler und ihrem entsprechend allein positiv konnotierten Mittlerbegriff befanden. Die vorgeschlagene neue Perspektivierung des Mittlers jenseits moralischer Zuschreibungen und Prämissen bietet insofern auch Anschlussmöglichkeiten an die aktuellen Standards der Transferforschung als Histoire croisée im Blick auf die hier geforderte kritische Hinterfragung des eigenen interessegeleiteten Standpunktes. Denn letztlich lässt sich das wissenschaftliche Selbstverständnis der Transferexperten nicht von ihren Vorstell en darüber, was ein Mittler ist, trennen. Anders formuliert: Ist der positive Mittlerbegriff nicht letztlich Teil einer Selbstinszenierungsstrategie der Wissenschaftler im Zeichen der Versöhnung? Bock, Hans Manfred, Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005. Bourdieu, Pierre, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 2 1998. Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchung, Bd. 1, Frankfurt/ M. 1976. Marmetschke, Katja, Feindbeobachtung und Verständigung. Der Germanist Edmond Vermeil (1878- 1964) in den deutsch-französischen Beziehungen, Köln/ Weimar/ Wien 2008. Marmetschke, Katja, Was ist ein Mittler? Überlegungen zu den Konstituierungs- und Wirkungsbedingungen deutsch-französischer Verständigungsakteure, in: Michel Grunewald u.a. (Hg.), France- Allemagne au XX e siècle, La production de savoir sur l’autre, Bd. 1, Questions méthodologiques et épistémologique, Bern 2011, S. 183-199. Nora, Pierre, Wir haben uns auseinandergelebt. Ein Gespräch über das deutsch-französische Verhältnis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 41 (17.2.2012). Seidendorf, Stefan (Hg.), Deutsch-Französische Beziehungen als Modellbaukasten? Zur Übertragbarkeit von Versöhnung und strukturierter Zusammenarbeit, Baden-Baden 2012. ung <?page no="82"?> Nicole Colin, Joachim Umlauf 82 Sloterdijk, Peter, Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945, Frankfurt/ M. 2008, S. 71f. Werner, Michael, Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 28 (2002), S. 607-636. <?page no="83"?> Joachim Schild Die deutsch-französischen Beziehungen und Europa seit 1989/ 1990 1. Deutsche Vereinigung als Bewährungsprobe Die Einbettung der (west-)deutsch-französischen Beziehungen in den Kontext der europäischen Integrationsstrukturen war eine unverzichtbare Erfolgsbedingung für das Gelingen der bilateralen Annäherung und Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Umgekehrt ist es „keine Übertreibung zu sagen, dass die deutsch-französischen Beziehungen zentral für die Geschichte Westeuropas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren“, so der amerikanische Beobachter Julius W. Friend 1 . Dies gilt insbesondere für ihren gemeinsamen Beitrag zum europäischen Aufbauwerk seit der Entstehung der Montanunion. 2 Die gemeinsame Rolle Deutschlands und Frankreichs in der und für die Europäische Union 3 wurde vielfach als Maßstab für die Qualität einer privilegierten bilateralen Sonderbeziehung herangezogen. 4 Der Ost-West-Konflikt nach 1948 und die deutsche Teilung haben die Entstehung westeuropäischer Integrationsstrukturen und der deutsch-französischen „Entente élémentaire“ 5 entscheidend begünstigt. So musste das Ende des Ost-West-Konflikts 1989/ 91 und die deutsche Wiedervereinigung unweigerlich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des deutsch-französischen Bilateralismus in der Europäischen Union aufwerfen. Drohten die Antriebskräfte, die die enge bilaterale Kooperation historisch befördert hatten, aufgrund dieses Strukturbruchs in den internationalen Beziehungen zu versiegen? War die innereuropäische und deutsch-französische Machtbalance durch die Wiedervereinigung empfindlich gestört? Würde das Projekt europäischer Integration nach dieser weltpolitischen Zäsur an Bedeutung für die Außenpolitik beider Länder verlieren? Würde Deutschland seine neugewonnenen Machtressourcen in den Dienst nationalegoistischer Ziele stellen? In der Wahrnehmung der stark in machtpolitischen Gleichgewichtskategorien denkenden französischen politischen Klasse konnte das absehbar größere wirtschaftliche Gewicht eines auch außenpolitisch und potentiell militärisch aktiveren, wiedervereinigten Deutschlands nicht mehr in demselben Maße wie in der Vergangenheit mit einem überlegenen außenpolitischen Status und Rang Frankreichs aufgewogen werden. Dabei wurde die Reichweite des vereinigungsbe- 1 Julius W. Friend, Unequal Partners, Franco-German Relations, 1989-2000, Westport, Connecticut und London 2001, S. XIII. Die Übersetzungen dieses und weiterer fremdsprachlicher Zitate stammen vom Autor. 2 Einen Überblick über die Entwicklung deutsch-französischer Beziehungen im europäischen Integrationsrahmen seit dem Élysée-Vertrag von 1963 geben Ulrich Krotz, Joachim Schild, Shaping Europe. France, Germany, and Embedded Bilateralism from the Elysée Treaty to Twenty-First Century Politics, Oxford 2013. Einen Überblick über jüngere Entwicklungen geben Martin Koopmann, Joachim Schild, Hans Stark (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa: Die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges, Baden- Baden 2013. 3 Im Folgenden ist vereinfachend durchgängig von der Europäischen Union die Rede, auch wenn ihre historischen Vorläufer - Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bzw. Europäische Gemeinschaften - gemeint sind. 4 Dies ist etwa der explizite Bewertungsmaßstab im Standardwerk von Gilbert Ziebura, Die deutschfranzösischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Stuttgart 1997. 5 Hans-Peter Schwarz, Eine Entente élémentaire. Das deutsch-französische Verhältnis im 25. Jahr des Élysée- Vertrages, Bonn 1990. <?page no="84"?> Joachim Schild 84 dingten relativen Macht- und Einflussgewinns Deutschlands von einer verunsicherten französischen Elite häufig deutlich überschätzt. Nicht nur die langfristigen Auswirkungen der deutschen Einheit, sondern auch der Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten bildeten eine harte Bewährungsprobe für das bilaterale Verhältnis. 6 Es spricht für die Solidität einer über Jahrzehnte gewachsenen bilateralen Sonderbeziehung, dass sie diese Phase des wechselseitigen Misstrauens und der Irritation im Kern unbeschadet überstanden hat. Ja mehr noch: Diese historische Zäsur wurde europapolitisch produktiv verarbeitet. Das Erfolgsrezept der Vergangenheit diente erneut zur gemeinsamen Gestaltung der europäischen Zukunft: dem französischen Motiv der Einbindung und damit Kontrolle des deutschen Machtpotentials im Rahmen zu vertiefender europäischer Integrationsstrukturen entsprach auf deutscher Seite der fortdauernde Wille zur Selbsteinbindung eines „europäischen Deutschlands“ in westliche Integrationsstrukturen, allen voran in die NATO und in die Europäische Union. Die Politik der Selbstbeschränkung Deutschlands fand ihren Ausdruck im Verzicht auf Kernbereiche nationaler Souveränitätsrechte. Nichts unterstreicht dies deutlicher als die Bereitschaft, zugunsten der europäischen Währungsunion die DM aufzugeben, das identitätsstiftende Symbol schlechthin für das Nachkriegs-„Wirtschaftswunder“ und die erfolgreiche ökonomische Entwicklung des westdeutschen Teilstaates. 2. Maastrichter Verträge: Deutsch-französische Führung in Zeiten des Umbruchs Die Maastrichter Verträge, Ende 1991 ausgehandelt und seit November 1993 in Kraft, waren die europäische Antwort auf die neue „deutsche Frage“. Ohne eine energische deutsch-französische Führung im Vertragsreformprozess, tatkräftig unterstützt durch EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, wäre dieser Meilenstein der europäischen Integrationsgeschichte kaum möglich gewesen. Frankreich verband mit diesem Vertragswerk das zentrale Interesse an einer europäischen Währungsunion, die der geld- und währungspolitischen Dominanz der Bundesrepublik und der Bundesbank in Europa ein Ende setzen sollte. Bundeskanzler Kohl sah in der Währungsunion seinerseits ein probates Mittel, um der Einbindung Deutschlands in europäische Integrationsstrukturen einen unwiderruflichen Charakter zu verleihen und seine Nachfolger damit auf die Bewahrung und Fortführung des europäischen Einigungswerkes festzulegen. Der Preis, den Frankreich für die deutsche Bereitschaft zur Aufgabe der DM bezahlen musste, bestand darin, den „Export“ des deutschen institutionellen Modells zur Garantie geldpolitischer Stabilität auf die europäische Ebene zu akzeptieren. Ohne die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und ohne ihre vorrangige Verpflichtung auf das Ziel der Preisstabilität wäre eine Zustimmung der Bundesrepublik zum Vertrag innenpolitisch nicht durchsetzbar gewesen. Frankreich musste 1996/ 97 widerstrebend sogar die Präzisierung und Verschärfung des fiskalpolitischen Regelwerks der Verträge in Form des Stabilitäts- und Wachstumspakts akzeptieren. Seine eigenen Vorstellungen zur Entwicklung einer europäischen „Wirtschaftsregierung“ in Form einer institutionellen Stärkung der (bisher informellen) Eurogruppe und einer stärkeren Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken konnte Paris aber selbst im Kontext der Eurokrise des Jahres 2010 nur in Ansätzen durchsetzen. Die Bundesregierung versuchte als Flankierung zur Währungsunion auch die Politische Union auf der Maastrichter Agenda zu verankern. Diese stand als Chiffre sowohl für eine Institutionenreform entlang supranational-föderaler Leitbilder, insbesondere eine Aufwertung des Europäischen Parlaments gegenüber dem Rat, als auch für eine Verstärkung oder gar Vergemein- 6 Vgl. den Beitrag von Reiner Marcowitz in diesem Band; vgl. aus französischer Sicht: Frédéric Bozo, Mitterrand, la fin de la guerre froide et l’unification allemande. De Yalta à Maastricht, Paris 2005. <?page no="85"?> Die deutsch-französischen Beziehungen und Europa seit 1989/ 1990 85 schaftung der außenpolitischen Zusammenarbeit auf EU-Ebene. Dieser Teil der Maastrichter Reformagenda wurde von Frankreich nur sehr halbherzig unterstützt, eine supranational angelegte Außenpolitik mit Mehrheitsentscheidungen im Rat sogar rundweg abgelehnt. Der Vertragsteil zur Politischen Union blieb in Maastricht deutlich hinter den deutschen Erwartungen zurück, begrenzte Vertiefungsschritte waren vor allem in puncto Aufwertung des Europäischen Parlaments zu verzeichnen. Dieses erhielt in einigen Bereichen neue Mitentscheidungsrechte, vor allem in der Binnenmarktgesetzgebung. 7 3. Irritationen und Spannungen im Jahrzehnt nach Maastricht Auf die europapolitisch produktive Verarbeitung der welthistorischen Zäsur von 1989/ 91 mit dem Meilenstein des Vertrags von Maastricht folgte eine schwierige Phase der Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen. Nach Abschluss der Vertragsreform von Maastricht waren beide Länder bis zum 40. Jahrestag des *Élysée-Vertrags am 22. Januar 2003 seltener als zuvor in der Lage, in Bezug auf zentrale europapolitische Herausforderungen eine gemeinsame Linie zu finden. In der fundamentalen Frage der politischen Neuordnung des europäischen Kontinents nach der Zeitenwende 1989/ 91 lagen die anfänglichen Positionen beider Staaten weit auseinander. Präsident François Mitterrand hatte schon in seiner Neujahrsansprache zum Jahr 1990 die Idee einer europäischen Konföderation zur langsamen Annäherung der postkommunistischen Transformationsstaaten an die Europäische Union ins Spiel gebracht. Die Vertiefung der EU besaß für ihn klare Priorität vor ihrer Erweiterung. Dies gilt für die Kohl-Regierung allenfalls bis zum Abschluss der Maastrichter Verträge. Danach wurde Bonn zunehmend zum Fürsprecher einer raschen Erweiterung der EU, die sie im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft 1994 aktiv vorantrieb. Die zügige EU-Osterweiterung bildete eine strategische Priorität der Außenpolitik der Bundesrepublik. Sie wollte vermeiden, als EU-Randstaat dauerhaft und hautnah mit den sicherheits- und migrationspolitischen Risiken einer potentiell instabilen östlichen Nachbarschaft konfrontiert zu werden. Nach dem endgültigen Scheitern der Konföderationsinitiative 1993 am Desinteresse der mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten sah sich auch Frankreich gezwungen, sich der Perspektive der EU-Erweiterung zu öffnen. Doch blieb es fast durchgängig bis zum Vollzug der Osterweiterung im April 2004 im Lager der Erweiterungsskeptiker und Bedenkenträger. Neben Befürchtungen, dass das vereinigte Deutschland der Hauptgewinner der Osterweiterung sein würde - ökonomisch wie politisch - und eine Art neuer Einflusssphäre in Mitteleuropa etablieren könnte, war dies vor allem der Sorge um die innere Kohäsion einer erweiterten und damit wirtschaftlich, politisch und kulturell heterogeneren Union geschuldet. Auch in der Bundesrepublik wuchsen die Bedenken im Hinblick auf die Kosten der Erweiterung - vor allem im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit -, insbesondere nach dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder 1998. Gleichwohl setzte sich Berlin weiterhin für einen erfolgreichen Abschluss des Erweiterungsprozesses ein und nahm in Kauf, dass die institutionelle Reform der EU zum Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen war - eine politische Wette auf die Chance einer „nachholenden Vertiefung“ der EU. Parallel zu den Maastrichter Verhandlungen wurden auch divergierende Sichtweisen zum Jugoslawienkonflikt offenkundig. Während Präsident Mitterrand in dem Konflikt eine guerre de tribus (Stammeskrieg) zu erkennen glaubte, dem die Europäische Union in einer neutralen Mittlerrolle zu begegnen habe, interpretierte die Kohl-Regierung den Konflikt als serbischen Aggressionskrieg gegen die abtrünnigen Teilrepubliken. Sie betrieb gegen den hinhaltenden Widerstand 7 Vgl. Colette Mazzucelli, France and Germany at Maastricht. Politics and negotiations to create the European Union, New York 1997. <?page no="86"?> Joachim Schild 86 Frankreichs (und der Mehrzahl der EU-Partner) eine Internationalisierung des Konflikts durch eine rasche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, um ihm Einhalt zu gebieten - ohne allerdings selbst wirksam militärisch eingreifen zu können oder zu wollen. Im Verlauf des Bosnienkrieges gelang es nur mühsam, etwa mittels gemeinsamer Erklärungen und bilateraler Initiativen der Außenminister Alain Juppé und Klaus Kinkel, die Positionen zwischen Paris und Bonn anzunähern und zu einer gemeinsamen europäischen Haltung beizutragen. Trotz teilweise erheblicher deutsch-französischer Differenzen, die auch im Kosovo-Konflikt erneut sichtbar wurden, war somit doch ein stetes Bemühen zur politischen Bearbeitung der bilateralen Divergenzen und Konflikte erkennbar. Dies unterstreicht die andauernde Privilegierung dieser bilateralen Sonderbeziehung und die Wahrnehmung ihres Eigenwerts auf beiden Seiten. 8 Die politische Agenda der Europäischen Union war seit Maastricht stark von Vertrags- und Institutionenreformen bestimmt. Letztere bildeten schon den Kern der Amsterdamer Regierungskonferenz 1996/ 97 und sollten die EU auf ihre Erweiterung vorbereiten. Hierzu konnten Frankreich und Deutschland zum damaligen Zeitpunkt nur wenige gemeinsame Impulse liefern. Diese blieben auf ihren erfolgreichen Einsatz zugunsten der vertraglichen Eröffnung von Möglichkeiten der EU-internen Teilgruppenbildung mit dem Instrument der „verstärkten Zusammenarbeit“ begrenzt. Kernpunkte der Institutionenreform wurden, sehr zum Verdruss Frankreichs, auf die nächste Vertragsreformetappe verschoben. Schon in deren Vorfeld kam es zu manifesten bilateralen Spannungen im Kontext der sogenannten Agenda-2000-Verhandlungen im März 1999 in Berlin, die den mittelfristigen Finanzrahmen der EU für die Jahre 2000-2006 und die Reform der ausgabenintensiven Politikfelder zum Gegenstand hatten. Diese war Voraussetzung für die bevorstehende Osterweiterung, sollte deren Finanzierbarkeit gesichert werden. Die vereinigungsbedingt explodierende Staatsverschuldung hatte die Fähigkeit der Bundesrepublik zur großzügigen Finanzierung europäischer Kompromisspakete deutlich eingeschränkt. Kurz nach seinem Amtsantritt 1998 glaubte Bundeskanzler Gerhard Schröder in populistischer Weise vor einem „Verbraten“ deutscher Gelder in Brüssel warnen zu müssen und strebte eine Verringerung der EU-Agrarausgaben an. Der seit 1995 amtierende französische Staatspräsident Jacques Chirac erwies sich jedoch als unnachgiebiger Verteidiger französischer Bauerninteressen und verwässerte die von der Kommission vorgeschlagene Agrarreform. Deutsche Vorstellungen zu deren Kofinanzierung aus nationalen Haushalten lehnte er kategorisch ab. Die von Gerhard Schröder angestrebte Reduzierung des deutschen Nettoanteils an der Finanzierung des EU-Haushalts konnte unter diesen Bedingungen kaum im angestrebten Maße erreicht werden. Zu einer veritablen deutsch-französischen Belastungsprobe wurden daraufhin die Verhandlungen zum Vertrag von Nizza im Jahr 2000. 9 Kern des Problems war die Stimmenneugewichtung im Rat der EU. Gemeinsam war Deutschland und Frankreich das machtpolitische Interesse an einer Aufwertung des Gewichts der großen gegenüber den kleinen Mitgliedsländern, deren Zahl und zusammenaddiertes numerisches Gewicht im Rat durch die Osterweiterung deutlich wachsen sollte. Allerdings warf diese Stimmenneugewichtung im Ratssystem auch notwendigerweise die Frage einer Änderung der Stimmenparität zwischen Deutschland und Frankreich auf. Diese Stimmenparität sei aber, so Staatspräsident Chirac auf Forderungen aus Berlin nach einer höheren Stimmenzahl für Deutschland, die Lehre aus einer blutigen Geschichte und das Fundament des modernen Europas. Das legitime deutsche Anliegen einer Berücksichtigung seiner Be- 8 Vgl. hierzu: Hanns W. Maull, Bernhard Stahl, Krisenmanagement im Jugoslawienkonflikt. Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: Michael Meimeth, Joachim Schild (Hg.), Die Zukunft des Nationalstaats in der europäischen Integration. Deutsche und französische Perspektiven, Opladen 2002, S. 249-278. 9 Vgl. Joachim Schild, „Den Rhein vertiefen und erweitern“? Deutsch-französische Beziehungen nach dem Nizza-Gipfel, in: Aktuelle Frankreich-Analysen, hg. vom Deutsch-Französischen Institut, Ludwigsburg, 7 (2001) 17, S. 1-12 (www.dfi.de/ pdf-Dateien/ Veroeffentlichungen/ afa/ afa17.pdf). <?page no="87"?> Die deutsch-französischen Beziehungen und Europa seit 1989/ 1990 87 völkerungsstärke im Institutionensystem der EU stieß in Paris auf taube Ohren. Letztendlich konnte Chirac zwar die Stimmenparität verteidigen; diese wurde aber durch eine Bevölkerungskomponente im Abstimmungsverfahren ergänzt, die das erhöhte demographische Gewicht Deutschlands reflektiert. Damit war in Nizza die Tür schon einen Spalt breit geöffnet, so dass im Vertrag von Lissabon eine doppelte Mehrheit (55% der Mitgliedstaaten und 65% der Unionsbevölkerung) als Abstimmungsregel in Fällen qualifizierter Mehrheitsabstimmungen im Rat beschlossen werden konnte. Mit dem Inkraftreten dieser Neuregelung im November 2014 wird die deutschfranzösische Parität im Rat zumindest formal gesehen Geschichte sein - und Deutschland der Hauptgewinner dieser Ratsreform. Im Vorfeld und auf dem Gipfel von Nizza hatte sich erstmals gezeigt, dass die bilateralen deutsch-französischen Beziehungen ein Teil des Problems und nicht ein Teil der Lösung europäischer Probleme bildeten. Sowohl die Agenda-2000-Verhandlungen als auch das bilaterale Zerwürfnis im Kontext der Vertragsreform von Nizza verdeutlichen die nach 1990 auf beiden Seiten des Rheins gewachsene Bereitschaft, Interessendivergenzen in wichtigen Momenten der EU- Entwicklung im Europäischen Rat offen auszutragen, statt dem bilateralen Konfliktpotential durch geduldige bilaterale Suche nach Kompromissen vor europäischen Gipfeln die politische Brisanz zu nehmen. Die Normalisierung und scheinbare „Banalisierung“ deutsch-französischer Beziehungen und die Wahrnehmung einer soliden, strukturellen Verankerung beider Staaten im „Post-Maastricht-Europa“ hat zur Folge, dass das nach dem Kriege sozialisierte politische Führungspersonal die bilateralen Beziehungen als belastbarer ansieht als ihre Vorgängergenerationen und damit auch zu einem offeneren Austragen von Interessenkonflikten neigt. Die Art, wie beide Staaten auf dieses schwere Zerwürfnis in Nizza reagierten, verweist aber wiederum auf das solide normative Unterfutter der deutsch-französischen Beziehungen und die Bedeutung des dichten institutionellen Kooperationsrahmens zwischen beiden Regierungen. 10 Bisher haben temporäre Verstimmungen und Zerwürfnisse zwischen Paris und Berlin noch stets zu einer Art „Flucht nach vorne“ geführt. So auch nach dem Gipfel von Nizza: Umgehend wurde eine Intensivierung der europapolitischen Konsultationen zwischen beiden Ländern auf höchster Ebene durch häufigere informelle Treffen zwischen den Staats- und Regierungschefs und zwischen den Außenministern vereinbart („Blaesheim-Prozess“). Weiter vertieft wurde der institutionelle Rahmen bilateraler Kooperation dann anlässlich des 40. Jahrestages des *Élysée-Vertrages am 22. Januar 2003. 4. Élysée-Vertragsjubiläum, Irak-Krise und europäischer Verfassungsprozess Um eine verbesserte Koordinierung und politische Steuerung der deutsch-französischen Kooperation zu gewährleisten, wurde anlässlich des Élysée-Vertragsjubiläums die Umwandlung der bis dahin halbjährlichen Regierungskonsultationen in einen „Deutsch-Französischen Ministerrat“ beschlossen und das Amt eines „Beauftragten (Generalsekretärs)“ für die deutsch-französische Zusammenarbeit in beiden Regierungen geschaffen. In den zeitlichen Kontext des Jubiläums fiel eine Redynamisierung deutsch-französischer Kooperation. Ihr sichtbarster Ausdruck war die gemeinsame ablehnende Haltung beider Länder zur amerikanischen Irak-Politik 2002/ 2003 und ihr konzertiertes Vorgehen gegen die US-Position im VN-Sicherheitsrat. Die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts deutlich verringerte sicherheitspolitische Abhängigkeit Deutschlands von den USA verlieh der deutschen Außenpolitik neue Freiheitsgrade, die eine enge Kooperation mit Frankreich in der Irakkriegsfrage erst ermöglichten. Umgekehrt hat die stärker proatlantische Politik des Präsidenten Sarkozy seit 2008 und die 10 Vgl. hierzu die grundlegende Analyse von Ulrich Krotz, Regularized Intergovernmentalism: France-Germany and Beyond (1963-2009), in: Foreign Policy Analysis 6 (2010), S. 147-185. <?page no="88"?> Joachim Schild 88 von ihm vollzogene Rückkehr in die integrierten Strukturen der NATO ebenfalls einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Haltung zu den USA und zur NATO nicht mehr das gleiche Störpotential in den deutsch-französischen Beziehungen besitzt wie in der Vergangenheit. Gleiches gilt im Übrigen auch für das Verhältnis beider Länder zu Russland, in dem Paris wie Berlin einen strategischen Partner, auch für die EU, sehen. Die Irakkriegs-Episode machte allerdings auch klar, dass Deutschland und Frankreich keineswegs beanspruchen können, in wichtigen außenpolitischen Fragen für die Gesamtheit der EU zu sprechen. Ein deutsch-französischer Führungsanspruch kann in der erweiterten EU auf erhebliche Widerstände stoßen, wenn es um die Sicherheitsinteressen der neuen EU-Mitgliedstaaten geht und deren Verhältnis zu den USA auf dem Spiel steht. Aber auch in den Reihen der alten EU-Mitglieder haben sich die Bedenken gegenüber einem „Direktorium“ der Großen und gegen perzipierte deutsch-französische Dominanzbestrebungen in der EU im letzten Jahrzehnt gehäuft, zuletzt im Kontext der Eurokrise, als Deutschland und Frankreich die Partner im Oktober 2010 mit abgestimmten und aus ihrer Sicht kaum verhandelbaren Positionen zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes konfrontierten. 11 Solche Ängste vor einem deutsch-französischen Hegemonieanspruch wurden zuvor aber auch schon im Rahmen der europäischen Verfassungsdiskussion artikuliert. In der Tat haben Deutschland und Frankreich wichtige gemeinsame Beiträge zur Arbeit des EU-Verfassungskonvents geliefert, insbesondere zur institutionellen Architektur der EU, und damit die weiteren Debatten und die nachfolgenden Regierungskonferenzen maßgeblich beeinflusst. Der Verfassungsprozess bot auch eine geeignete Gelegenheit und einen Rahmen für die Redynamisierung deutsch-französischer Beziehungen im Sinne eines erneuerten Bemühens um enge europapolitische Abstimmung auf bilateraler Ebene. Dies wurde auch nach dem Scheitern der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 sichtbar, als der Reformprozess von Deutschland und Frankreich im Rahmen ihrer jeweiligen Ratspräsidentschaften 2007 und 2008 tatkräftig wiederbelebt und der Weg zum Vertrag von Lissabon gemeinsam geebnet wurde. Gerade das Feld der Institutionenpolitik gehört zu den Feldern, an denen sich der deutsche und französische Einfluss auf die EU-Entwicklung gut ablesen lässt. Dabei waren es nicht selten die sich aus dem spezifischen Verfassungs- und Souveränitätsverständnis beider Länder ergebenden Unterschiede der deutschen und französischen Verfassungsideen für Europa, gepaart mit dem Willen zu Interessenausgleich und Kompromiss, die beiden Ländern eine führende Rolle in diesem Bereich ermöglichten. 12 Der jahrzehntelange Einsatz der Bundesrepublik für ein föderalistisch strukturiertes Gesamtsystem mit stark integrierten, supranationalen europäischen Institutionen und Entscheidungsverfahren und das Setzen der französischen Europapolitik, vor allem, aber nicht nur in ihrer gaullistischen Hochphase, auf Souveränitätswahrung und nationalstaatliche Autonomie trugen wesentlich zum hybriden Charakter der Europäischen Union und ihrer eigentümlichen Mischung aus supranational-gemeinschaftlichen und rein zwischenstaatlichen Institutionen und Entscheidungsverfahren bei. Auch zentrale Ergebnisse eines über rund zwei Jahrzehnte andauernden Vertragsreformprozesses lassen sich als deutsch-französischer „deal“ interpretieren. Die schrittweise Aufwertung des Europäischen Parlaments bei jeder europäischen Vertragsreform und die Ausweitung von Mehrheitsabstimmungen im Rat stärkten den supranationalen Charakter der EU-Entscheidungsprozesse. Parallel dazu - und gewissermaßen als Ausgleich und Gegengewicht zu dieser Supranationalisierung - bauten die Vertragsparteien, nicht zuletzt 11 Vgl. Déficits: les eurodéputés dénoncent un „diktat“ franco-allemand, in: Les Echos, 20.10.2010. 12 Vgl. hierzu grundlegend Markus Jachtenfuchs, Die Konstruktion Europas. Verfassungsideen und institutionelle Entwicklung, Baden-Baden 2002. <?page no="89"?> Die deutsch-französischen Beziehungen und Europa seit 1989/ 1990 89 auf französisches Drängen hin, mit Unterstützung unterschiedlicher Bundesregierungen, den Europäischen Rat schrittweise zum politischen Steuerungszentrum der Europäischen Union aus. In den letzten 15 Jahren, seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht 1993, ist auf deutscher wie auf französischer Seite ein wachsender „Pragmatismus“ im Hinblick auf die Fortentwicklung der europäischen Institutionen und Verfahren zu beobachten. So wird erkennbar, dass die deutschen und französischen Präferenzen zur institutionellen Ordnung nicht durchgängig von normativen Verfassungsideen beeinflusst sind, sondern fallweise von ganz handfesten materiellen und innenpolitischen Interessenlagen. Dort, wo politische Mehrheiten im Sinne französischer Präferenzen möglich erscheinen, plädierte Paris seit Mitte der 1990er Jahre regelmäßig für eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat, zum Beispiel auf dem Feld der Binnenmarktgesetzgebung, der europäischen Industriepolitik, der Sozial- oder Steuerpolitik. Auf deutscher Seite ist mittlerweile umgekehrt der intergouvernementale Charakter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit einer geringen Beteiligung der Kommission und des Europäischen Parlaments akzeptiert. Im Bereich der europäischen Asyl- und Zuwanderungspolitik wollen die Bundesregierung und insbesondere die deutschen Länder die innenpolitisch äußerst sensible Einwanderung aus Drittstaaten in den deutschen Arbeitsmarkt weiterhin national steuern können und nicht von europäischen Kompromissen abhängig sein. Beide Staaten haben sich nach dem kräftezehrenden politischen Reformprozess bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zunächst dem Leitbild einer Konsolidierung des Kompetenzbestandes und der Institutionen und Verfahren der Europäischen Union verschrieben. Weder sind gemeinsame Impulse für die integrationspolitischen „Großprojekte“ noch für institutionelle Reformen in näherer Zukunft zu erwarten. Allerdings stehen Fragen einer verstärkten Rolle der EU-Ebene in Fragen der europäischen Koordinierung nationaler Wirtschaftspolitiken zur Sicherung der Funktionsfähigkeit und Stabilität der Eurozone auf der Tagesordnung. 5. Das wachsende Gewicht der Innenpolitik Das Streben nach Konsolidierung des Erreichten im europäischen Aufbauwerk und der damit einhergehende Bedeutungsverlust integrationspolitischer Großprojekte ist auf beiden Seiten nicht zuletzt eine Reaktion auf das gewachsene Gewicht der Innenpolitik für ihre jeweilige Europapolitik. In Frankreich wurde dies im Kontext des gescheiterten Verfassungsreferendums 2005 offenkundig und schlug sich unter anderem in der ablehnenden Haltung von Staatspräsident Sarkozy gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei nieder. Eine seit Anfang der 1990er Jahre europaskeptischer gewordene Bevölkerung in beiden Staaten engt die europapolitischen Gestaltungspielräume der Regierenden ein. Die Grenzen exekutiver Handlungsfreiheit wurden in der Bundesrepublik noch enger gezogen, zum einen durch den seit Maastricht deutlich gewachsenen und rechtlich garantierten Einfluss der Bundesländer auf die Europapolitik des Bundes, zum anderen durch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu den Verträgen von Maastricht, Lissabon sowie zu Rettungsfonds für die Eurozone. In Frankreich sind zudem die Zweifel in Gesellschaft und politischer Elite gewachsen, ob eine erweiterte und damit tendenziell wirtschaftspolitisch liberalere, außenpolitisch atlantischere und politisch weniger voluntaristische EU noch als eine Art „erweitertes Frankreich“ betrachtet werden kann. Ist die französische politische und wirtschaftliche Identitätskonstruktion noch kompatibel mit den europäischen politischen und wirtschaftlichen Realitäten? Damit steigen die Herausforderungen an die politischen Führungsleistungen der Regierenden auf beiden Seiten des Rheins, denen bei der Vermittlung zwischen innergesellschaftlichen und innenpolitischen Zwängen einerseits und ihrer Europapolitik anderseits ein tendenziell schwieriger werdender Balanceakt abverlangt wird. <?page no="90"?> Joachim Schild 90 6. Unsolidarisches Deutschland? Dies wurde im Kontext der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise seit 2008 und vor allem in 2010 besonders deutlich. Das Drängen des französischen Staatspräsidenten auf eine rasche europäische Reaktion zur Bankenstabilisierung und zur Konjunkturankurbelung 2008 sowie auf Stützungsmaßnahmen zugunsten der krisengeschüttelten Eurozonenmitglieder Griechenland und Irland im Jahr 2010 stießen in Deutschland zunächst auf innenpolitisch motivierte starke Vorbehalte. 13 Diese zögerliche Reaktion hat Deutschland nicht nur in Frankreich wiederholt den Vorwurf unsolidarischen und an eng national definierten Interessen orientierten Verhaltens zu Lasten seiner europäischen Partner eingebracht. Gleiches gilt für die anhaltend hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, die vor allem im Euroraum erwirtschaftet werden. Deutschland steigere mit seinem exportorientierten Wachstumsmodell und seiner unterdurchschnittlichen Lohnstückkostenentwicklung seine Wettbewerbsfähigkeit und Exportkraft auf Kosten der EU-Partner, so die vormalige französische Finanz- und Wirtschaftsministerin Christine Lagarde. 14 Auch die Art und Weise, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen der europäischen Entscheidungsprozesse zum Krisenmanagement der Eurozone und zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes deutsche Kernanliegen (Beteiligung des IWF, Reform der europäischen Verträge, Beteiligung privater Gläubiger, Ablehnung von Eurobonds, strikte Konditionalität von Hilfen) gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt hat, hinterließ einige Spuren in Frankreich (und nicht nur dort). So war bisweilen von einem deutschen „Diktat“ die Rede und es entstand der Eindruck, dass Deutschland weniger Hemmungen als in der Vergangenheit besitze, seine ökonomische Machtstellung in politischen Einfluss in der EU umzumünzen und als „normale Macht“ zu agieren. Auf französischer Seite wurde dabei nicht immer hinreichend berücksichtigt, in welchem Ausmaß die Bewältigung der Eurokrise politische Grundpfeiler der Währungsunion eingerissen hat, die für Deutschland die politische Geschäftsgrundlage seiner Zustimmung zur Europäischen Währungsunion bildeten: insbesondere der Ausschluss einer europäischen Haftungsgemeinschaft zugunsten von Eurozonenstaaten mit unverantwortlicher Schuldenpolitik („no bail out“-Klausel) oder auch der Ausschluss der stabilitätsgefährdenden Praxis des Ankaufens von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank. Im Kontext des Managements der Eurokrise ist auch eine neuerliche Intensivierung des deutschfranzösischen Bilateralismus erkennbar geworden. Dies gilt für die Amtszeit von Präsident Sarkozy, die durch besonders enge bilaterale Konsultationen und Kompromisssuche im Vorfeld wichtiger Treffen des Europäischen Rates gekennzeichnet war, insbesondere in Situationen einer dramatischen Zuspitzung der Eurozonenkrise wie etwa in der zweiten Jahreshälfte 2011. Der im Mai 2012 gewählte sozialistische Präsident François Hollande hingegen setzte im Kontext der alles beherrschenden Eurozonenkrise auf breitere europäische Abstimmungsprozesse jenseits des deutschfranzösischen Bilateralismus, insbesondere auf bilateraler Ebene mit Italien und Spanien. Fazit Die deutsch-französischen Beziehungen haben in der Nachkriegszeit unterschiedliche Phasen durchlaufen. Bis zum Ende der Amtszeit Charles de Gaulles als Präsident der V. Republik (1958- 1969) war der deutsch-französische Bilateralismus im europäischen Rahmen erkennbar unter französischer Führung. Beginnend mit dem Ende der 1960er Jahre bis zur Wiedervereinigung, begünstigt durch die zunehmende Bedeutung von Wirtschafts- und insbesondere Währungsfragen in der europäischen und internationalen Politik, konnte die Bundesrepublik den Status eines 13 Vgl. Sylvain Schirmann, La gestion de la crise en France et en Allemagne, in: Annuaire français des relations internationales XI (2010), S. 467-479. 14 Vgl. Lagarde criticises Berlin policy, in: Financial Times, 15.3.2010. <?page no="91"?> Die deutsch-französischen Beziehungen und Europa seit 1989/ 1990 91 gleichberechtigten Partners im Rahmen der bilateralen Sonderbeziehung erlangen. Ihre überlegene Wirtschaftskraft und ihr darauf gegründetes zunehmendes außenpolitisches Selbstbewusstsein glichen in einer Art „Gleichgewicht der Ungleichgewichte“ den überlegenen außenpolitischen Status Frankreichs als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs, als Nuklearmacht und Mitglied des UN-Sicherheitsrates mit Vetorechten aus. Die Wiedervereinigung läutete dann eine neue Phase ein, in der tendenziell eine Überlegenheit des machtpolitischen Gewichts Deutschlands zu beobachten ist, zumindest im Rahmen europäischer Politik und vor allem in Phasen, die von wirtschaftlichen und weniger von sicherheitspolitischen Herausforderungen dominiert sind, wie im Kontext der Finanzmarkt- und Eurokrise nach 2008. Die veränderte Stellung Deutschlands in Europa führte seit den 1990er Jahren immer dann zu manifesten deutsch-französischen Spannungen, wenn die Verantwortlichen in Paris den Eindruck gewannen, dass Deutschland seine Interessen „ohne Komplex“ vertritt, etwa beim deutschen Vorpreschen in der Frage der völkerrechtlichen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens (1991), im Falle des deutschen Drängens auf eine rasche EU-Erweiterung nach Norden (EFTA-Staaten) und nach Osten, beim Streit um Stimmrechte im Rat der EU sowie im Falle der harten Vertretung nationaler Interessen im Kontext der Bewältigung der Finanzmarkt- und Eurokrise seit 2008. Nachdem Deutschland seine über Jahre anhaltende Wachstumsschwäche seit Mitte des Jahrzehnts zunehmend überwunden hat, könnte sich die wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands in der EU weiter verstärken. Die dynamische Wachstumsentwicklung, die solidere nationale Haushaltssituation und die wachsende Kluft zwischen der internationalen Wettbewerbsposition Deutschlands und Frankreichs werfen zunehmend Probleme im deutsch-französischen Verhältnis auf. Frankreich sieht sich häufiger als in der Vergangenheit in der Rolle des Juniorpartners, was seinem Selbstbild und außenpolitischen Rollenverständnis auf empfindliche Weise widerspricht. Es bedarf auf deutscher Seite eines sensiblen Umgangs mit der offenkundigen Malaise auf französischer Seite im Hinblick auf das wirtschafts- und europapolitische Gewicht des vereinten Deutschlands, das insbesondere im Kontext der Krisenbewältigung seit 2008 nur zu deutlich geworden ist. Diese Sensibilität lassen Bundeskanzlerin Merkel und die deutsche politische Elite durchaus nicht immer erkennen. Auf französischer Seite ist ein Reformkraftakt vonnöten, um die stark erodierte französische Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen und die wirtschaftliche Asymmetrie im Verhältnis zum deutschen Partner nicht weiter wachsen zu lassen. Beide Partner sind sich jedoch nach wie vor bewusst, dass sie zur Verfolgung ihrer nationalen Kerninteressen in der Außen- und Europapolitik auf eine enge bilaterale Kooperation mit dem Partner angewiesen bleiben. Diese beruhte selten auf der spontanen Übereinstimmung der Interessen und Präferenzen in wichtigen Einzelfragen; es war vielmehr häufig die Gemeinsamkeit zentraler Ziele und die Komplementarität ihrer Interessen, die die Basis für eine fruchtbare Zusammenarbeit bildeten. Phasenweise wurde die intensive Exekutivkooperation durch den „persönlichen Faktor“, ein enges Vertrauensverhältnis und eine ausgeprägte Fähigkeit zur Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen Bundeskanzlern und französischen Staatspräsidenten, unterstützt, die auch erkennbar auf niedrigere Hierarchieebenen positiv ausstrahlte. Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt sowie Helmut Kohl und François Mitterrand haben diesbezüglich gewiss Maßstäbe gesetzt, die von ihren Nachfolgern im Amte nicht mehr erreicht wurden. Aber auch Gerhard Schröder und Jacques Chirac sowie Angela Merkel und Nicolas Sarkozy mussten - teilweise schmerzlich - erfahren, dass alternative privilegierte Partner für eine herausgehobene bilaterale Rolle in und für die europäische Politik nicht zur Verfügung stehen. 15 Allenfalls die britisch-fran- 15 Vgl. Adolf Kimmel, Das deutsch-französische Paar in der erweiterten Europäischen Union, in: Lothar Albertin (Hg.), Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union. Partner auf dem Prüfstand, Tübingen 2010, S. 148-166. <?page no="92"?> Joachim Schild 92 zösische Militärkooperation bildet hier eine sektorale Ausnahme. Und vor allem Nicolas Sarkozy musste die Lernerfahrung machen, dass wichtige europäische Initiativen und Projekte Frankreichs, wie etwa seine Pläne zu einer „Mittelmeerunion“, nur dann durchsetzungsfähig sind, wenn sie nicht unilateral verfolgt werden, sondern auch der deutsche Partner dafür gewonnen wird. Deutschland und Frankreich haben seit dem Zweiten Weltkrieg gezeigt, dass sie Lehren aus ihrer blutigen Geschichte ziehen und ihrer europäischen Verantwortung in hochgradig innovativer Weise gerecht werden konnten. Sie haben auch bewiesen, dass sie gemeinsam dazu in der Lage sind, Antworten auf eine Herausforderung in der Größenordnung der deutschen Wiedervereinigung zu finden. Auch wenn die Missverständnisse, Irritationen und Zerwürfnisse seit 1989 häufiger geworden sind, ist beiden Seiten die europapolitische Alternativlosigkeit ihrer privilegierten Sonderbeziehung bewusst. Gleiches gilt für ihre gemeinsame Verantwortung für das europäische Einigungswerk, insbesondere für den Fortbestand der Währungsunion. Hierin liegt die gemeinsame Kernherausforderung für die kommenden Jahre. Eine deutsch-französische Entente und eine konstruktive deutsch-französische Führungsrolle im erweiterten Europa mögen in mancherlei Hinsicht seit 1990 voraussetzungsvoller geworden sein 16 ; eine tragfähige Alternative hierzu ist jedoch weder für die Europäische Union noch für die deutsche und französische Außenpolitik in Sicht. Albertin, Lothar (Hg.), Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union. Partner auf dem Prüfstand, Tübingen 2010. Bitsch, Marie-Thérèse (Hg.), Le couple France-Allemagne et les institutions européennes. Une postérité pour le plan Schuman, Brüssel 2001. Bozo, Frédéric, Mitterrand, la fin de la Guerre froide et l’unification allemande. De Yalta à Maastricht, Paris 2005. Cole, Alistair, Franco-German Relations, Harlow u.a. 2001. Defrance, Corine, Ulrich Pfeil (Hg.), Der Élysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 - 1963 - 2003, München 2005. Koopmann, Martin, Joachim Schild u. Hans Stark (Hg.), Neue Wege in ein neues Europa: Die deutschfranzösischen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges, Baden-Baden 2013. Krotz, Ulrich, Joachim Schild, Shaping Europe. France, Germany, and Embedded Bilateralism from the Elysée Treaty to Twenty-First Century Politics, Oxford 2013. Martens, Stephan (Hg.), L'Allemagne et la France. Une entente unique pour l'Europe, Paris 2004. Meimeth, Michael, Joachim Schild (Hg.), Die Zukunft des Nationalstaats in der europäischen Integration. Deutsche und französische Perspektiven, Opladen 2002. Pedersen, Thomas, Germany, France and the integration of Europe. A realist interpretation, London 1998. Pfeiffer, Susanne, Die deutsch-französische Partnerschaft: störanfällig, aber strapazierfähig. Eine Analyse im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik (1990-2000), Frankfurt/ M. 2006. Schild, Joachim, „Ganz normale Freunde“. Deutsch-französische Beziehungen nach 40 Jahren Élysée- Vertrag, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 25 S., SWP-Studien, S 1/ 2003. Soutou, Georges-Henri, L’alliance incertaine. Les rapports politico-stratégiques franco-allemands, 1954-1996, Paris 1996. Webber, Douglas (Hg.), The Franco-German relationship in the European Union, London 1999. Ziebura, Gilbert, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Stuttgart 1997. 16 Vgl. hierzu: Joachim Schild, Mission impossible? The Potential for Franco-German Leadership in the Enlarged EU, in: Journal of Common Market Studies 48 (2010) 5, S. 1367-1390. <?page no="93"?> Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 <?page no="95"?> A AbiBac Kurzbezeichnung für den gleichzeitigen Erwerb des deutschen Abiturs (Abi) und des französischen baccalauréat (Bac). Nachdem die Außenminister beider Staaten schon am 10.2.1972 ein Abkommen über die Errichtung *deutsch-französischer Gymnasien unterzeichnet hatten, an denen ein deutschfranzösisches Abitur erworben werden konnte, forderten der *Kulturbevollmächtigte und der französische Erziehungsminister in einer gemeinsamen Erklärung vom 27.10.1986 ein Verfahren, welches den gleichzeitigen Erwerb der deutschen Hochschulreife und des französischen baccalauréat auch außerhalb der bislang drei *deutsch-französischen Gymnasien ermöglichen sollte. Es dauerte allerdings bis zum 31. Mai 1994, ehe die Außenminister im Rahmen des *deutsch-französischen Gipfeltreffens in Mühlhausen ein Regierungsabkommen unterzeichneten, welches eine solche Möglichkeit in beiden Staaten an Schulen mit einem bilingualen deutsch-französischen Zug vorsah. Seither sind die an dem Programm beteiligten Schulen verpflichtet, eine Partnerschaft mit einer Schule aus dem jeweils anderen Land einzugehen und den Schülern, die das AbiBac anstreben in den letzten drei Schuljahren einen über das übliche Lehrangebot hinausgehenden, speziellen Unterricht in der Partnersprache anzubieten. Der inzwischen an jeweils über 60 Schulen in Frankreich und Deutschland angebotene Abschluss wird in beiden Ländern im Rahmen ihrer *Schulpolitik vollwertig anerkannt, sodass den Absolventen der Zugang zu Ausbildung und Berufstätigkeit auch im jeweiligen Partnerland ohne jegliche Einschränkungen offen steht. Bertrand Girod de l’Ain, Dossier - „AbiBac“, in: Dokumente 54 (1998) 5, S. 399-422; Ursula Lange, Plädoyer für das AbiBac. Eine Bilanz der Jahrestagung in Berlin, in: Dokumente 65 (2009) 1, S. 49-51. Ansbert Baumann Académie de Berlin Auf Anregung des damaligen Französischen Botschafters Claude Martin wurde im Juni 2006 die Académie de Berlin gegründet. Bei der Gründungssitzung wurden die Ziele der Académie klar festlegt: „Ce jour, Jeudi 29 juin 2006, ses membres réunis à l’Ambassade de France ont fondé solennellement l’Académie de Berlin, afin que se perpétue, dans l’esprit de Voltaire, le dialogue des idées entre l’Allemagne et la France, dans le partage de la langue et de la culture françaises.“ Im Sinne dieser Tradition will die Académie den kulturellen, sozialen und wissenschaftlichen Dialog zwischen Deutschland und Frankreich fördern. Schirmherr der Académie ist der jeweilige französische Botschafter, d.h. bis September 2014 Maurice Gourdault-Montagne, dann Philippe Étienne, Ehrenpräsident ist der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, und als s ecrétaire perpétuel fungiert *Ulrich Wickert. Die Académie hat 20 Mitglieder, zur Zeit sind dies Thomas Gaehtgens, Detlev Ganten, *Anselm Kiefer, Karl Kardinal Lehmann, Wolf Lepenies, Lothar Menne, Nils Minkmar, Patricia Oster-Stierle, *Volker Schlöndorff, Gesine Schwan, Stephan Schwarz, Spiros Simitis, *Werner Spies, Erika Tophoven, Nike Wagner, Christina Weiß, Wim Wenders und Hanns Zischler. Im Rahmen der regulären Académie-Arbeit treffen sich die Mitglieder zweimal jährlich, um über die Entwicklung der kulturellen Zusammenarbeit, die Rolle Deutschlands und Frankreich in Europa, aber auch über die Kenntnis und das Verständnis des jeweils anderen, insbesondere seiner Sprache, zu diskutieren. Einmal jährlich findet seit 2011auf Einladung der Académie und mit Unterstützung der ZEIT- Stiftung eine Rede zu diesen Themen statt: 2013 hielt *Daniel Cohn-Bendit den Vortrag, den er anschließend mit Heinrich August Winkler diskutierte. Seit 2007 verleiht die Académie Stipendien an Nachwuchskünstler und -wissenschaftler, die von der Alfred Toepfer Stiftung gefördert werden. Vor allem aber verleiht sie seit 2008 für Verdienste um die Förderung und Vertiefung der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich den Prix de l’Académie de Berlin, den 2008 *Tomi Ungerer, 2009 Johannes Willms, 2010 die Verlage *L’Arche und Matthes & Seitz, 2011 *Stéphane Hessel, 2012 Eva Moldenhauer und Bernard Lortholary und 2013 *Georges-Arthur Goldschmidt erhielten. Von 2008 bis 2013 finanzierte die Robert Bosch s <?page no="96"?> Adam-Mickiewicz-Preis 96 A Stiftung diesen Preis, in den Jahren 2014-2016 übernimmt dies die Würth-Gruppe. Voltaire, der selbst der Berliner Akademie angehörte, hatte bekanntlich zur Preußischen Akademie der Wissenschaften seiner Zeit eine kritische Einstellung. Wenn die Académie de Berlin es tatsächlich ernst meint mit ihrer Berufung auf den Geist Voltaires, verspricht dies sicherlich neue Impulse für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Wolfgang Asholt Adam-Mickiewicz-Preis Prix Adam Mickiewicz Der Adam-Mickiewicz-Preis für Verdienste um die deutsch-französisch-polnische Zusammenarbeit wurde vom Komitee zur Förderung der Deutsch- Französisch-Polnischen Zusammenarbeit e.V. gestiftet und im Jahre 2006 anlässlich des 15. Jahrestages der Gründung des *Weimarer Dreiecks erstmals verliehen. Die ersten Preisträger waren die Gründungsväter des *Weimarer Dreiecks, die früheren Außenminister Roland Dumas, Hans-Dietrich Genscher und Krzysztof Skubiszewski. Mit der alljährlichen Preisverleihung soll die mediale und politische Aufmerksamkeit auf die völkerverbindende Idee dieser einzigartigen deutsch-französisch-polnischen Zusammenarbeit innerhalb des Europas der 27 gelenkt werden. Es erschien dies umso wichtiger, weil dem *Weimarer Dreieck - anders als dem *Élysée-Vertrag - kein staatsrechtlicher Vertrag zugrunde liegt, der die Modalitäten der Zusammenarbeit regelt, sondern lediglich die völkerrechtlich letztlich unverbindliche „Gemeinsame Erklärung der drei Außenminister zur Zukunft Europas“ vom 29.8.1991. Zum symbolhaften Namensgeber wurde Adam Mickiewicz (1798-1855) auserwählt. Er ist der Nationaldichter Polens, dessen Namen das staatliche Kulturinstitut Polens, das Adam-Mickiewicz- Institut, Warschau, trägt sowie eine der bedeutendsten Universitäten des Landes, die Adam- Mickiewicz-Universität in Posen. Er spielt ebenfalls eine besondere Rolle sowohl in der Literaturgeschichte Deutschlands wie auch Frankreichs. Zum 80. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe am 28.8.1829 war Adam Mickiewicz Teilnehmer der festlichen Geburtstagsrunde auf dem Frauenplan in Weimar. Goethe sah in seinem damals 32-jährigen polnischen Gast „den größten Dichter seiner Generation“. In Frankreich wurde Mickiewicz - als erster Ausländer - 1840 zum Professor für Slawistik an das Collège de France berufen. Für Victor Hugo war Adam Mickiewicz der „Trompeter der Zukunft“, einer „Zukunft, in der sich die Völker die Hände reichen über die Grenzen hinweg, die sie nicht mehr trennen“. Der *Prix Adam Mickiewicz wird wie auch der *Prix de Gaulle-Adenauer an Persönlichkeiten und Institutionen verliehen, welche sich im Rahmen des *Weimarer Dreiecks besondere Verdienste um die deutsch-französisch-polnische Zusammenarbeit erworben haben. Er soll ferner das zivilgesellschaftliche Engagement von Bürgern und Bürgerinnen der drei Länder zu einem gemeinsamen Miteinander ermutigen. In der kurzen Zeit seines Bestehens kann sich der trilaterale Preis einer wachsenden politischen Anerkennung erfreuen: „Le prix Adam Mickiewicz est le point d’orgue de la coopération franco-germano-polonaise initiée dans le cadre du Triangle de Weimar (France- Diplomatie)”. Zur Verleihung des Preises an die drei Laureaten des Jahres 2012 im Präsidentenpalast in Warschau am 7.9.2012 an Michał Kleiber, Präsident der Polnischen Wissenschaftsakademie, Jack Lang, ehem. Kulturminister Frankreichs und Rita Süssmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestages a.D. haben die Staatspräsidenten Frankreichs und Polens sowie die Bundeskanzlerin persönliche Grußbotschaften übermittelt. Wie bereits bei der Auswahl der Preisträger 2011 an die Vertreter der drei großen Einrichtungen der auswärtigen Kulturpolitik, Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des *Goethe-Instituts, Xavier Darcos, Präsident des *Institut français und Paweł Potoroczyn, Direktor des Adam-Mickiewicz-Instituts, wird das Komitee künftig bei der Auswahl der Preisträger des Adam-Mickiewicz-Preises den Akzent auf Personen und Institutionen aus dem Bereich der Kultur setzen. Klaus-Heinrich Standke (Hg.), Das Weimarer Dreieck in Europa. Die deutsch-französisch-polnische Zusammenarbeit. Entstehung-Potentiale-Perspektiven/ Le Triangle de Weimar en Europe. La coopération franco-germanopolonaise. Origine-Potentiel-Perspectives, Torun 2009. Klaus-Heinrich Standke Adenauer-de Gaulle-Preis Prix de Gaulle-Adenauer Der Adenauer-de Gaulle-Preis wurde aus Anlass des 25. Jahrestags des deutsch-französischen Freund- <?page no="97"?> Allemagne d’aujourd’hui A 97 schaftsvertrags (*Élysée-Vertrag) durch einen Notenwechsel der bundesdeutschen und französischen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Jean- Bernard Raimond am 27.1.1988 ins Leben gerufen. Dieser Initiative lag die Überzeugung zugrunde, dass lebendige bilaterale Beziehungen einen durch Regierungshandeln gesteckten politischen und rechtlichen Rahmen benötigen, zugleich aber auch von einer breiten Bevölkerung getragen, gepflegt und fortentwickelt werden müssen, um Tiefenwirkung und Dauerhaftigkeit entfalten zu können. In diesem Sinne erinnert der Preis zum einen an den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer und den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle, die mit ihrem am 22.1.1963 unterzeichneten Vertrag (*Élysée-Vertrag) über die deutschfranzösische Zusammenarbeit auf politischer Ebene die Aussöhnung (*Versöhnung) beider Staaten besiegelt und deren Verhältnis auf eine wegweisende neue Grundlage gestellt haben; zum anderen fördert er den grenzüberschreitenden sozio-kulturellen Dialog und die aktive Mitwirkung der Bürger an der Ausgestaltung der vielfältigen deutschfranzösischen Partnerschaft auf gesellschaftlicher Ebene. Der 1989 erstmals verliehene und mit heute 10 000 Euro dotierte Preis, den sich jeweils zwei Preisträger teilen, zeichnet deutsch-französische Initiativen von Personen, Institutionen oder auch Gebietskörperschaften aus den Bereichen Kunst und Kultur, Politik und Medien, Wirtschaft und Wissenschaft aus, die durch ihr Wirken als Mittler einen herausragenden Beitrag zur Festigung der Verständigung und Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich geleistet haben. Die Bandbreite der Preisträger reicht von *Hanna Schygulla und *Patricia Kaas (1999), *DeutschMobil und *FranceMobil (2003), Audrey Tautou und Daniel Brühl (2004) über Jacques Delors und Helmut Kohl (2007), *Anselm Kiefer und Christian Boltanski bis zu *Pierre Boulez und Kurt Masur (2011) sowie zuletzt dem Deutsch- Französischen Jugendwerk (2014). Ihre Auswahl erfolgt durch eine paritätisch besetzte deutschfranzösische Jury von je fünf angesehenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beider Länder, die vom jeweiligen Außenminister berufen werden. Gemeinsame Vorsitzende dieser Jury sind die beiden Beauftragten für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Der Preis wird abwechselnd in Paris und Berlin verliehen. Corinna Franz Allemagne d’aujourd’hui Die Zeitschrift „Allemagne d’aujourd’hui. Revue d’information et de recherche sur l’Allemagne“ wird seit 1966 quartalsweise im Selbstverlag der Association pour la connaissance de l’Allemagne d’aujourd’hui (ACAA) mit Sitz in Paris herausgegeben und seit 2000 von den Presses universitaires du Septentrion in Villeneuve d’Ascq vertrieben. Sie hatte eine Vorläuferin, die von 1952 bis 1957 erschien und angesichts der voraussehbaren Auflösung der Alliierten Hohen Kommission in Deutschland auf Betreiben der französischen Regierung mit dem Ziel gegründet wurde, über die Besatzungszeit hinaus kulturpolitisch aktiv zu bleiben. Die Zeitschrift wurde dem Verlagsbüro der französischen Botschaft in Bonn (Bureau de l’édition et des lettres) unterstellt und richtete sich weniger an die Deutschen als vielmehr an die Franzosen. Louis Clappier, ein junger talentierter Schriftsteller, und *Georges Castellan wurden ihre ersten Chefredakteure, *Robert Minder zeichnete für den literarischen Teil. Zum Redaktionskomitee zählten französische *Germanisten und Deutschlandexperten wie Maurice Baumont, Albert Béguin, Jean-Marie Carré, Maurice Colleville, Joseph Dresch, *Jacques Droz, *André François-Poncet, Robert d’Harcourt, Gabriel Marcel, Fernand Mossé, Jean Schlumberger und *Edmond Vermeil. Als die öffentlichen Finanzmittel spärlicher flossen, stellte 1957 der Verlag das Erscheinen der Zeitschrift ein. Erst 1966 wurde eine Neugründung in Paris auf gänzlich anderer Grundlage von *Félix Lusset mit Unterstützung von *Robert Minder in Angriff genommen. Der vorhergehende Anspruch, Deutschland als Ganzes den Franzosen verständlich zu machen und näher zu bringen, blieb erhalten, die finanziellen Mittel sollten aber hauptsächlich durch die Abonnenten gewonnen werden. *Lusset wollte den Franzosen nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch den zweiten deutschen Staat, die DDR, näher bringen. Er lud zu Konferenzen und Debatten im Lycée Condorcet ein, bald entstand eine Groupe Condorcet, die zum Nukleus von „Allemagne d’aujourd’hui“ wurde. Zum Gründerkreis zählten 1965 Jean Fourquet, *René Cheval, Pierre Angel, die Germanisten aus <?page no="98"?> André-Gide-Preis 98 A Nanterre und Claude Pierre (später C. Lusset), die bald das Redaktionssekretariat übernahm. Die Devise von *Félix Lusset war, dass man nicht ein Deutschland gegen das andere ausspielen und über das eine oder das andere zu Gericht sitzen wolle (Nr. 1/ 1966, S. 5). So war es nur folgerichtig, dass sich die Zeitschrift 1973, als die Bundesrepublik und ihre westlichen Partner die DDR offiziell anerkannten, dazu durchrang, diesem Fakt Rechnung zu tragen und „Allemagne“ ein „s“ hinzufügte, um ein „französisches Informations-Periodikum über beide Deutschlands“ zu sein. 1990 wurde noch vor Vollzug der Einheit Deutschlands das „s“ wieder entfernt. Von Anfang an verstand sich die Zeitschrift auch als deutsch-französisches Forum. So analysierte im ersten Heft 1966 Rudolf Augstein „de Gaulles Einschätzung des deutsch-französischen Verhältnisses“. Die Zeitschrift liefert Dossiers und aktuelle Analysen zu Deutschlands Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur und fühlt sich ihres interdisziplinären Ansatzes verpflichtet. Sie zählt zu ihren Autoren Vertreter aus den verschiedenen Bereichen der Deutschlandforschung. Dabei wendet sich die Zeitschrift heute nach wie vor nicht nur an Deutschlandspezialisten in Frankreich und der frankophonen Welt, sondern an all jene, die aus persönlichen, beruflichen oder kulturellen Gründen Interesse an Deutschland in seiner ganzen Vielfalt haben. Jérôme Vaillant, Parcours d’une revue: Allemagne d’aujourd’hui, in: Lendemains 100 (2000), S. 57-67. Jérôme Vaillant André-Gide-Preis Prix André Gide Der 1997 von der DVA-Stiftung (*Stiftungen) geschaffene André-Gide-Preis würdigt hervorragende literarische Übersetzungen von Erzählprosa und Lyrik aus dem Deutschen sowie aus dem Französischen. Es werden insbesondere solche Titel ausgezeichnet, die für das literarische Werk des jeweiligen Landes von einschlägiger Bedeutung sind. Wie auch bei der Verleihung des *Raymond- Aron-Preis verfolgt die DVA-Stiftung (*Stiftungen) das Ziel, den interkulturellen Dialog zwischen Deutschland und Frankreich zu stärken. Dem Programm liegt die Auffassung zu Grunde, dass die Kenntnis literarischer Schlüsselwerke des anderen Landes die Basis für den intellektuellen Austausch bietet. Mit dem Preis intendiert die DVA-Stiftung Übersetzer in ihrer Rolle als Mittler zwischen den Kulturen zu würdigen und ihren Beitrag zur interkulturellen Verständigung auszeichnen. Der André-Gide-Preis wird alle zwei Jahre verliehen und ist mit jeweils 10 000 Euro für eine Übersetzung aus dem Französischen und eine aus dem Deutschen dotiert. Die Ausschreibung richtet sich an jüngere Übersetzer unter 50 Jahren, die bereits veröffentlich haben. Über die Vergabe des Preises entscheidet die Stiftung auf Vorschlag einer aus deutschen und französischen Experten zusammengesetzten Jury. Stephanie Schwerter Angelloz, Joseph-François Der in Frangy/ Savoyen geborene Joseph-François Angelloz (1893-1978) studierte nach dem Besuch des Lycée Annecy und des Lycée Ampère in Lyon an den Universitäten in Lyon und Leipzig (*Germanistik) und erwarb die licence-ès-lettres (mention allemand sowie histoire et géographie). Seit 1920 agrégé d’allemand , waren Rochefort, das Lycée Français in Düsseldorf, Laon und von 1930 bis 1942 das Lycée Montaigne in Paris weitere Stationen seiner Laufbahn. Seit 1936 mit einer wegweisenden Rilke-Studie promoviert, wirkte er als Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Université de Caen und wurde am 1.10.1950 in der Nachfolge Jean Barriols zum zweiten Rektor der *Universität des Saarlandes ernannt, die er bei seinem Amtsantritt zur „europäischen Universität“ proklamierte und als „pragmatischer Visionär“ bis September 1956 leitete. Als universitäre „Krone und Symbol“ gründete er 1951 das Europa-Institut und entwickelte die Universität zu einem Zentrum des deutsch-französischen Dialogs und der internationalen wissenschaftlichen Kooperation. Infolge der politischen Veränderungen an der Saar wechselte er als recteur d’académie nach Montpellier (1956-1958) und Straßburg (1958-1964) und war zuletzt Bürgermeister seines Wohnorts Thônes. Insbesondere durch seine langjährige facettenreiche Berichterstattung zur deutschen Literatur und Philosophie im „Mercure de France“, seine Aktivitäten als Gründer der „Études germaniques“ und seine wegweisenden Studien, Übersetzungen und Editionen zum Œuvre Goethes und Rilkes engagierte sich Angelloz in Frankreich „für ein gewinnendes Deutschlandbild ... und in Deutschland <?page no="99"?> Apollinaire-Preis A 99 für die europäische Bildung“ (Stahl) und damit - in den Worten der Laudatio zur Saarbrücker Ehrenpromotion 1960 - für „wechselseitiges Verständnis und eine fruchtbare Verbindung zwischen französischem und deutschem Geist“. Außerdem sind mit seinem Namen Gesamtdarstellungen zur deutschen Romantik, der „Guide de l’étudiant germaniste“ oder die ins Italienische und Japanische übersetzte „Littérature allemande“ ebenso verbunden wie Beiträge zu Hans Carossa, Hermann Hesse, Thomas und *Heinrich Mann, Ernst Wiechert oder Stefan Zweig. Angelloz wurde vielfach ausgezeichnet und war Träger diverser Medaillen, darunter die Frankfurter Goethe-Plakette, die Goethe-Medaille, die Medaille Aristide Briand der Europäischen Akademie Otzenhausen sowie Commandeur de l’ordre des palmes académiques, Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät und Ehrensenator der *Universität des Saarlandes. Personaldokumentation im Archiv der Universität des Saarlandes sowie zuletzt August Stahl, Joseph François Angelloz 1893-1978, in: Gerhard Sauder (Hg.), Germanisten im Osten Frankreichs, St. Ingbert 2002, S. 57-81. Wolfgang Müller ANR-DFG-Förderprogramm für die Geistes- und Sozialwissenschaften Mit dem Ziel, die deutsch-französische Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften weiter auszubauen und zu intensivieren, riefen die Agence nationale de la recherche (ANR) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Jahr 2007 ein neues Förderprogramm ins Leben. In dem Programm, das keine thematischen Vorgaben macht, können seither im Rahmen einer jährlichen Ausschreibung Anträge für gemeinsame Forschungsvorhaben eingereicht werden, die in einem binationalen Verfahren begutachtet und ausgewählt werden. Das Förderprogramm zielt dabei nicht nur auf die Schaffung eines wissenschaftlichen Zugewinns in den jeweiligen Forschungsprojekten durch eine theoretisch wie methodisch komplementäre Zusammenarbeit. Es geht darüber hinaus um eine produktive Zusammenführung der beiden unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen und -kulturen. Mit der Forderung, die Anträge i.d.R. in beiden Sprachen abzufassen, und der Vereinbarung, auch die Begutachtung und Auswahl zweisprachig zu organisieren, zielt das Programm zugleich auf eine Stärkung beider Wissenschaftssprachen. Die Vorhaben selbst müssen nicht zwangsläufig eine deutsch-französische Thematik betreffen. Wo dies aber der Fall ist, hat die wissenschaftliche Kooperation - als Teil gesellschaftlichen Handelns - Auswirkungen auch auf die gegenseitige Wahrnehmung und damit auf das deutsch-französische Verhältnis allgemein. Um die Lebendigkeit des Programms und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu erhöhen, haben seit dem Jahr 2010 auch Postdoktoranden/ innen die Möglichkeit, eigene Förderanträge zu stellen für Projekte, die sie im Nachbarland realisieren wollen. Als treibende Kraft der europäischen Entwicklung leistet die deutsch-französische wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften damit einen eigenen substanziellen Beitrag zur Ausgestaltung des Europäischen Forschungsraumes. Achim Haag Apollinaire-Preis Dieser Abiturienten-Preis (nicht zu verwechseln mit dem in Frankreich existierenden Prix Apollinaire für Kunstkritik und Literatur) für besondere schulische Leistungen im Fach Französisch wurde von der Robert Bosch Stiftung (*Stiftungen) zwischen 2002 und 2008 vergeben. Benannt ist er nach dem französischen Dichter Guillaume Apollinaire (1880-1918), der der künstlerischen Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg angehörte und insbesondere mit seinem lyrischen Schaffen als einer der wichtigsten Vorläufer des Surrealismus gilt. Seine Deutschland-Erfahrung - 1902/ 03 war er als gräflicher Hauslehrer im Rheinland tätig und bereiste im Anschluss das Land - fand einen produktiven Niederschlag in seinem Werk, insbesondere in dem Lyrik-Band „Alcools“ (1916). Mit der Verleihung des Preises wollte die Robert Bosch Stiftung (*Stiftungen) ab dem Schuljahr 2001/ 2002 besondere Leistungen im Schulfach Französisch der Sekundarstufe II würdigen und so entsprechend sprachbegabte Schüler für das Engagement im Rahmen der deutsch-französischen Beziehungen auch nach der Absolvierung des Abiturs, für die Pflege der Sprachkompetenz sowie für die Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung des Nachbarlandes und seiner Kultur motivieren. Voraussetzung war die Wahl der Fremdsprache Französisch als Abiturfach sowie mindestens die Note „gut“ als entsprechende Abschlussleistung. Pro <?page no="100"?> Arbeitskreis der privaten Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit 100 A Gymnasium bzw. Gesamtschule konnte ein Abiturient/ eine Abiturientin mit dem Preis ausgezeichnet werden. Die Organisation der Preisvergabe oblag der Literarischen Gesellschaft (Scheffelbund), größter literarischer Verein der Bundesrepublik mit Sitz in Karlsruhe. Nach jährlicher Ausschreibung im Februar/ März konnten die Schulen ihren Kandidaten der Literarischen Gesellschaft melden. War die Preisvergabe zunächst auf Schulen der an Frankreich grenzenden Bundesländer sowie ausgewählte Schulen in Ostdeutschland beschränkt, erfolgte ab 2002 die bundesweite Öffnung für alle Schulen mit Abitur-Abschluss. Insgesamt wurde der Preis an 11 333 Abiturienten aus rund 3000 Schulen verliehen. Die Preisträger erhielten als Anerkennung eine Urkunde sowie eine zweisprachige Anthologie französischer Dichtung. Da die Robert Bosch Stiftung (*Stiftungen) die von ihr ins Leben gerufenen Preise grundsätzlich als Anschub-Initiativen versteht und die Weiterführung in die Verantwortung der unmittelbar angesprochenen Institutionen (hier: der Schulen) stellt, endete die offizielle Preisvergabe mit dem Schuljahr 2007/ 2008. Klaus-Peter Walter Arbeitskreis der privaten Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit Der Arbeitskreis war eine internationale Kommunikationsstruktur zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, die als Organisation (im Vergleich zum Arbeitskreis Deutsch-Französischer Gesellschaften) eine ephemere Erscheinung blieb. Sie war aber ein wichtiges Bindeglied für den Transfer der Konzeption demokratischen Gruppenaustausches zwischen Nationen, die im Nachkriegsfrankreich formuliert und erprobt worden war einerseits, und der Entwicklung von Programmen der in der jungen Bundesrepublik spontan entstandenen Auslandsorganisationen andererseits. In der Diskussion der 1950er Jahre zwischen dem „Arbeitskreis“ und dem Comité de coordination des associations d’échanges internationaux in Paris wurden die konzeptionellen Fragen vorgeklärt, deren Lösungen später in die Konstruktion des *DFJW eingingen. Die Dachorganisation des Arbeitskreises wurde im März 1954 gegründet und am 2.9.1957 ins Kölner Vereinsregister eingetragen. Ausschlaggebend für ihre Gründung war die Absicht des Gründungsdirektors des *DFI in Ludwigsburg, eine Informations- und Koordinationsstelle für die seit Kriegsende zahlreich entstehenden internationalen Austauschorganisationen in der Bundesrepublik zu schaffen. Unmittelbarer Anlass für die Errichtung eines solchen Dachverbands war die sich abzeichnende Konstituierung eines Ständigen gemischten Ausschusses für Kulturfragen, der dann durch das *Deutsch-Französische Kulturabkommen vom 23.10.1954 zwischen den beiden Regierungen eingesetzt wurde. Das Bewusstsein des Professionalisierungsvorsprungs der privaten Austauschagenturen wurde gestärkt durch zwei große Tagungen des Arbeitskreises mit den korrespondierenden Vereinigungen in Frankreich im Mai 1955 in Marly-le-Roi und im Mai 1957 in Ludwigsburg. Auf diesen beiden Konferenzen wurde die Definition eines neuen Kulturbegriffs als Grundlage für die intellektuelle Arbeit der beiden Dachorganisationen in Deutschland und Frankreich festgeschrieben. Ihr zufolge galt es nicht mehr allein, die Kultur der Eliten auszutauschen, sondern eine breitenwirksame Kontaktaufnahme sozioprofessioneller und generationeller Gruppen zwischen beiden Nationen zu fördern, die eine vorpolitische, vertrauensstiftende Gesellschaftsverflechtung bewirken sollten. Zugleich vertieften diese beiden deutsch-französischen Tagungen die Verbindung und die Zusammenarbeit mit den Vertretern der politischen Administration beider Länder. Diesem Zweck diente auch ein ständiges Büro, das vom Arbeitskreis in Bonn unterhalten wurde. Die Satzung des Arbeitskreises definierte dessen Zielsetzung: „[Er] dient dem Erfahrungsaustausch, der gegenseitigen Information und der Abgrenzung von Arbeitsgebieten. Darüber hinaus vertritt der Verband die gemeinsamen Interessen und die Meinung der Mitglieder in grundsätzlichen Fragen, die für die internationale Kultur- und Bildungsarbeit im weitesten Sinne von Bedeutung sind. Der Arbeitskreis setzt sich insbesondere die Sicherung und ausreichende Förderung der Arbeit seiner Mitglieder unter Wahrung ihrer völligen Freiheit und Eigenverantwortlichkeit zum Ziel“. Der Vereinigung gehörten etwa ein Dutzend Auslandsorganisationen an, von denen einige auf Dauer mit den bilateralen Beziehungen zu Frankreich befasst blieben (*DFI, *GÜZ u.a.), während andere sich zu international <?page no="101"?> Aron, Raymond A 101 tätigen Mittlerorganisationen weiterentwickelten (Carl-Duisberg-Gesellschaft) und einige ihrer Repräsentanten in die Ministerialverwaltung überwechselten. Der Arbeitskreis verlor in den 1970er Jahren seine Antriebskraft und wurde 2002 aus dem Vereinsregister gestrichen. Die Bedeutung der privaten Initiative für die deutschfranzösische Verständigung. Referate und Ergebnisse der Ludwigsburger Tagung 1957, o.O. o.J. (Ludwigsburg 1958); Hans Manfred Bock, Private Verständigungsinitiativen in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich 1949 bis 1963, in: Lendemains 27 (2002) 107/ 108, S. 146-176. Hans Manfred Bock Aron, Raymond Es gibt wohl kaum einen französischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts, der mehr für die Vermittlung der deutschen Philosophie und Soziologie in Frankreich getan hat als der in Paris geborene Philosoph, Soziologe und Journalist Raymond Aron (1905-1983). Nach dem Studium der Philosophie an der École normale supérieure, das er 1928 als Jahrgangsbester mit der agrégation abschloss, und dem sich daran anschließenden Militärdienst verbrachte Aron, einer Tradition französischer Philosophen in der Dritten Republik folgend, drei Jahre in Deutschland. Ein junger Philosoph konnte das deutsche Denken ebenso wenig ignorieren wie die Philosophie des klassischen Griechenlands (*Philosophie). Im Curriculum des französischen Philosophiestudiums der 1920er Jahre hatte die deutsche Philosophie nach Kant indes keinen Platz. Was Aron von Januar 1930 bis September 1933 zunächst in Köln, dann in Berlin für sich entdeckte, war daher eine ganz neue Welt für ihn - die Welt der von Wilhelm Dilthey, Heinrich Rickert, Georg Simmel und Max Weber geprägten deutschen Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie des Historismus. Ursprünglich hatte Aron gehofft, im Werk von Karl Marx, das er in Deutschland erstmals las, eine wissenschaftliche Begründung für seine latent sozialistischen Neigungen zu finden. Als das misslang und er angesichts der politischen Entwicklung in Deutschland zunehmend für den tragischen, an Zufällen reichen Charakter der Geschichte sensibilisiert wurde, fasste er den Entschluss, den Determinismus des Marxismus mit Hilfe der Erkenntnistheorie des deutschen Historismus zu überwinden. Als Ergebnis dieses Unterfangens erschienen im Jahr 1938 zwei Schriften, mit denen Aron im gleichen Jahr den doctorat d’État erworben hatte: der „Essai sur la théorie de l’histoire dans l’Allemagne contemporaine“ und die „Introduction à la philosophie de l’histoire“. Letztgenanntes Buch, Arons thèse principale , war eine am Denken Max Webers ausgerichtete Zurückweisung des historischen Determinismus, die die Grundlage für das gesamte Aron’sche Werk bilden sollte. Bereits zwei Jahre vor der Veröffentlichung seiner beiden Dissertationsschriften hatte Aron die moderne deutsche Soziologie in seinem Buch „La Sociologie allemande contemporaine“ dem gelehrten französischen Publikum vorgestellt. Ohne Aron wäre die deutsche Geschichtsphilosophie, Erkenntnistheorie und Soziologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in Frankreich kaum zur Kenntnis genommen worden. Aron hat seine frühe Beeinflussung durch Deutschland niemals verleugnet; auch dann nicht, als er während des Zweiten Weltkriegs im Londoner Exil zum besseren Verständnis des Nationalsozialismus die dunklen Traditionslinien des deutschen Denkens untersuchte. Gleichwohl interessierte er sich nach dem Krieg nur wenig für das zeitgenössische deutsche Geistesleben. Das hatte zum einen damit zu tun, dass ihm die deutsche Philosophie nach dem Nationalsozialismus erschöpft zu sein schien, zum anderen damit, dass nun der Rationalismus der angelsächsischen Welt den größten Teil seiner Aufmerksamkeit beanspruchte. Wenn Aron dennoch auch nach 1945 Wichtiges für die Vermittlung deutscher Kultur in Frankreich leistete, dann deshalb, weil er sich weiterhin mit den großen Denkern der Vergangenheit auseinandersetzte. Zwar distanzierte er sich in zwei großen Aufsätzen von Max Weber, dem er im Anschluss an Leo Strauss eine Neigung zum erkenntnistheoretischen und moralischen Relativismus, ja zu einem nietzscheanischen Nihilismus vorwarf. Auch Webers Verständnis von Politik, die für den deutschen Soziologen in all ihren Schattierungen immer nur Machtpolitik habe sein können, stellte er nun als unbrauchbar für den liberalen Westen hin. Aber Aron versuchte doch, indem er Weber kritisierte, seine Erkenntnistheorie soweit zu „korrigieren“, dass ihre wertvollen Bestandteile nicht verloren gingen. Er zeigte, dass man einige Aspekte des Weber’schen Werkes in das eigene Denken integrieren konnte, ohne sich von dessen dezisionistischem und nihilistischem Pathos mitreißen zu <?page no="102"?> ARTE 102 A lassen. Ähnliches tat Aron für Marx. Denn anders als die meisten Vertreter der marxistisch oder paramarxistisch geprägten Pariser Intelligenzija hatte Aron sich eine tiefgehende Kenntnis der Marx’schen Schriften angeeignet. In Vorlesungen und Publikationen zeigte er, welchen Nutzen er als liberaler Soziologe bei der Analyse der modernen Industriegesellschaften aus Marxens Werk zog. Im Hinblick auf die Vermittlung deutscher Kultur lag Arons größtes Verdienst jedoch in seiner Beschäftigung mit Carl von Clausewitz, dem er 1976 mit seinem zweibändigen Opus magnum „Penser la guerre, Clausewitz“ ein Denkmal setzte. Für Aron war die Arbeit an diesem Werk die Möglichkeit, sich noch einmal, wie in seiner Jugend, ganz tief in die deutsche Geistesgeschichte zu versenken. Diese intellektuelle Neugier war freilich nicht sein einziges Motiv. Aron, der in der Nachkriegszeit zu einem der führenden Analytiker der internationalen Beziehungen avanciert war, interessierte sich für Clausewitz, weil dieser als Philosoph des Krieges durchdacht hatte, was auch im thermonuklearen Zeitalter noch immer eine Rolle spielte, nämlich die Frage, wie der Krieg in seinem Ausmaß begrenzt werden konnte. Clausewitz’ Lösung war die Unterordnung des kriegerischen Mittels unter den politischen Zweck, und es lag Aron viel daran, diese Lesart des Clausewitz’schen Werkes an die Stelle der im Westen verbreiteten Vorstellung von Clausewitz als dem Vater der Vernichtungsstrategie zu setzen. Neben der Absicht, den strategischen Denker Clausewitz nicht allein der Sowjetunion zu überlassen, sondern sein Werk für die Strategie des liberalen Westens nutzbar zu machen, verfolgte Aron bei seiner Clausewitz-Deutung noch einen anderen, gleichsam geschichtspolitischen Zweck. Indem er Clausewitz nicht nur in militärischer, sondern auch in politischer Hinsicht als einen Vertreter des Mäßigungsgedankens darstellte, wollte er die liberale Seite des preußischen Generals hervorheben, um deutlich zu machen, dass die deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts unverzichtbarer Bestandteil der intellektuellen Tradition des Westens war. Auch dahinter steckte in den Zeiten des Kalten Krieges eine politische Absicht: Die Bundesrepublik sollte nicht allein durch die Integration in die NATO und in die Strukturen des vereinigten Europa an den Westen gebunden werden, sondern auch in ideengeschichtlicher Hinsicht. Seit 1945 hatte sich Aron als Journalist für die deutsch-französische *Versöhnung eingesetzt. Dieses politische Werben genügte ihm jedoch nicht, er wollte auch in kultureller Hinsicht zeigen, dass Deutschland seinen festen Platz an der Seite Frankreichs und innerhalb der atlantischen Zivilisation hatte. In seinem Clausewitz-Buch verdichtete sich diese Absicht. Es steht exemplarisch für Arons große Bedeutung auf dem Gebiet der deutsch-französischen Kulturbeziehungen. Nicolas Baverez, Raymond Aron. Un moraliste au temps des idéologies, Paris 1993; Daniel J. Mahoney, The Liberal Political Science of Raymond Aron. A Critical Introduction, Lanham 1992; Matthias Oppermann, Raymond Aron und Deutschland. Die Verteidigung der Freiheit und das Problem des Totalitarismus, Ostfildern 2008. Matthias Oppermann ARTE ARTE ist die Abkürzung für Association relative à la télévision européenne (sicherlich intendiert ist auch die Konnotation mit der lateinischen Sprache: arte als ablativus instrumentalis des Substantivs ars - in der Bedeutung „durch die Kunst/ mit Hilfe der Kunst“). Nachdem das Projekt eines deutsch-französischen Fernsehsenders mit europäischer Ausrichtung bereits 1986 beim deutsch-französischen Kulturgipfel in Frankfurt/ M. angekündigt worden war, wurde es als Chefsache der beiden Staatsmänner Helmut Kohl und François Mitterrand 1988 konzipiert. Nach dem Abschluss eines Staatsvertrags zwischen Frankreich und den deutschen Bundesländern am 2.10.1990 (die sechs neuen Bundesländer traten dem Vertrag 1996 bei) und der Ratifizierung des Gründungsvertrags am 30.4.1991 nahm ARTE den Sendebetrieb am 30.5.1992 auf. Die Rechtsform und Organisation des Senders ist so konzipiert, dass eine strikte Parität zwischen französischem und deutschem Partner gewährleistet ist: Als Dachverband fungiert die „europäische Wirtschaftsinteressengemeinschaft“ G.E.I.E. (Groupe européen d’intérêt économique) mit Sitz in Straßburg. Für den deutschen Teil ist ARTE Deutschland TV GmbH (Baden-Baden), für den französischen ARTE France (Issy-les-Moulineaux) zuständig. Am Budget des Senders sind die Partner zu jeweils 50 % beteiligt, wobei von deutscher Seite ARD und ZDF jeweils 25 % einbringen, während die französische Hälfte von mehreren Institutionen <?page no="103"?> ARTE A 103 finanziert wird: France 3: 27,5 %; der französische Staat: 12,5 %; Radio France und INA (Institut national de l’audiovisuel): jeweils 7,5 %. Im Jahr 2009 betrug das Budget des Senders rund 401 Mio. Euro. Je 40 % des Programmangebots werden mit Erzeugnissen der beteiligten Sendeanstalten von beiden Seiten des Rheins bestritten, der Rest resultiert aus der Eigenproduktion der ARTE-Zentrale, für die im Budget ebenfalls Mittel bereitgestellt werden; darüber hinaus hat der Kanal mit einer Reihe von europäischen und außereuropäischen öffentlichen Sendern Assoziierungs- und Kooperationsverträge abgeschlossen. Drei Viertel aller ARTE- Sendungen des Abendprogramms sind Erstausstrahlungen. An der Spitze des Senders stehen der für vier Jahre gewählte Präsident des vierköpfigen Vorstands und sein Stellvertreter (in turnusgemäß abwechselnder binationaler Kombination). ARTE gehört in Deutschland und Frankreich zum unverschlüsselten Programmangebot des mittlerweile flächendeckend eingeführten digitalen terrestrischen Fernsehens und kann in beiden Ländern über die (in Frankreich weniger verbreiteten) Kabel-Netze empfangen werden. Für 2010 betrug der Marktanteil des Senders, bezogen auf die Einschaltquoten, im Jahresdurchschnitt in Frankreich 1,6 %, in der Bundesrepublik 0,8 %, wobei der deutliche Unterschied durch die Tatsache zu erklären ist, dass in Frankreich ARTE schon seit Gründung zum Bestandteil des per terrestrischer Antenne empfangbaren Programmangebots gehörte (vgl. etwa den Marktanteil von 3,4 % für das Jahr 2003), wohingegen in Deutschland die deutlich größere Konkurrenz durch das Angebot frei empfangbarer Fernsehkanäle sowohl öffentlichrechtlicher als auch privater Natur dem Sender zu schaffen macht. Seit 2006 sendet ARTE ganztägig. Bereits im Gründungsvertrag von 1991 wurde die kulturelle Sonderstellung des neuen Kanals hervorgehoben: „Der Europäische Fernsehkulturkanal soll nach dem Willen seiner Gründer ein europäisches Fernsehprogramm mit kultureller Perspektive und alternativen Formen der Programmgestaltung werden“. Tatsächlich erheben die Beiträge der einzelnen Programmsparten den Anspruch, Information und Hintergrundanalysen zu allen wichtigen politischen und gesellschaftlichen Themen unserer Zeit auf höchstem Qualitätsniveau darzubieten und insbesondere der Kultur in Gestalt von Theater, Musik, Ballett, Literatur und Kino, aber auch in ihren Alltagserscheinungen, einen zentralen Platz im Angebot des Senders einzuräumen. Das Spektrum der Sendungen setzt sich wie folgt zusammen: 43 % Dokumentationen, 18 % Spielfilme, 10 % Fernsehfilme, 17 % Information, 10 % Musik, Theater, Tanz, 2 % Kurzfilme. Es gehört zu einer solchen Profilierung, dass ARTE ausdrücklich auf die Ausstrahlung von Show-Sendungen und Sportübertragungen verzichtet. Über diese allgemeine Kennzeichnung des Angebots hinaus hat ARTE zwei Programminhalte zum besonderen Markenzeichen gemacht: Die Ausstrahlung von Kinofilmen (4-5 Filme pro Woche), die in Gestalt von Einzelwerken, Regisseur- oder Schauspieler-Zyklen, Retrospektiven zu Epochen und ästhetischen Schulen, Stummfilmen den Ansprüchen eines jeden Cinephilen gerecht wird; sowie die Themenabende (2-3 pro Woche), bei denen ein bestimmtes Thema durch mehrere analytische Beiträge (Dokumentation/ Reportage, Gesprächsrunde/ Expertenbefragung) und meistens auch durch eine thematisch passende Spielfilm- Veranschaulichung im Abendprogramm intensiv beleuchtet wird. Die deutsch-französische Grundlegung von ARTE findet ihren Niederschlag in der besonderen binationalen Berücksichtigung der Spiel- und Fernsehfilme, in der Auswahl der Themenabende sowie im Rahmen der täglichen Nachrichtensendung, die von Sprecher-Tandems aus beiden Ländern im Wechsel moderiert wird, wobei die fremdsprachlichen Passagen dann im voiceover - Verfahren übersetzt werden. Die wöchentlich ausgestrahlte Sendung *Karambolage von Claire Doutriaux, die ihr Augenmerk auf deutsch-französische Eigenheiten richtet, wendet sich für die Zwecke des Fremdsprachenerwerbs und der Landeskunde insbesondere an ein schulisches Publikum. Ohne Zweifel ist der deutsch-französische Kulturkanal unverzichtbar für alle Teilnehmer der Fernsehkommunikation, die das umfassende inhaltliche Potenzial dieses Mediums auf hohem Niveau und hinsichtlich der deutsch-französischen Schwerpunktsetzung nutzen wollen. Allerdings bietet ARTE gerade hinsichtlich des so offensiv affichierten Gütesiegels der Kultur in der Ambivalenz ihrer Auslegungsmöglichkeiten immer wieder Anlass zur Kritik: Einerseits läuft der Sender angesichts seines hohen Kultur-Anspruchs Gefahr, als „elitär“ wahrgenommen zu werden und sich so <?page no="104"?> Association des germanistes de l’enseignement supérieur (AGES) 104 A einem breiteren Publikumspotenzial zu verschließen; andererseits kann ARTE vorgeworfen werden, durch die Wieder-Ausstrahlung populärer Fernsehserien, die Betonung kulinarischer Reihen sowie die regelmäßige Programmierung von Filmen und Dokumentationen mit prononciert erotischer Thematik Kultur als Vorwand für das Bemühen um konventionelle Publikumswirksamkeit zu instrumentalisieren und damit zu nivellieren. Auf dem Pressemarkt ist ARTE mit der Monats-Programmzeitschrift ARTE-Magazin vertreten, des Weiteren vertreibt der Sender auch Bucheditionen und DVDs aus dem Programmspektrum. Inge Gräßle, Der europäische Fernseh-Kulturkanal ARTE. Deutsch-französische Medienpolitik zwischen europäischem Anspruch und nationaler Wirklichkeit, Frankfurt/ M. 1995; Patrick Démerin, Arte, vache sacrée des Français, vache à lait des Allemands, vache folle européenne? , in: Le Débat 120 (mai-septembre 2002), S. 4-31; Medias audiovisuels et relations franco-allemandes (hg. von Corine Defrance), in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 37 (2005) 1. Klaus-Peter Walter Association des germanistes de l’enseignement supérieur (AGES) Die Gründungsversammlung des Verbandes der französischen Hochschulgermanisten fand 1967 in der noch im Aufbau begriffenen neuen Universität Nanterre, bekannt auch als Ausgangspunkt der Studentenrevolte 1968 (*Daniel Cohn-Bendit), statt. Die Initiative ging aus von ihrem damaligen Dekan, dem Germanisten *Pierre Grappin, und war nicht ohne Zusammenhang mit der Entwicklung des französischen Hochschulwesens in den 1960er Jahren. Es waren Jahre eines quasi explosiven Wachstums der Studentenzahlen, das nicht nur immer mehr räumliche Kapazitäten und Lehrpersonal erforderte, sondern auch eine Reformwelle in Gang setzte, die heute noch nicht zu Ende ist. Die sowohl quantitativ als auch qualitativ erheblichen Veränderungen im Lehrbetrieb durch die Einführung neuer Studiengänge und Studieninhalte schlugen sich auch in der Forschung nieder. Wohl oder übel musste sich auch die *Germanistik weiterentwickeln, und so war es dringend nötig, den Fachkollegen eine Gelegenheit zu geben, sich regelmäßig zu treffen, um sich zu informieren, Erfahrungen auszutauschen und gegebenenfalls im Interesse des Faches und der Studierenden Initiativen zu ergreifen. Seit 1968 organisiert jedes Jahr eine andere Universität die mehrtägige Jahresversammlung der AGES, bei der stets ein wissenschaftliches Thema im Mittelpunkt steht. Die Interna des Verbandes, die beruflichen Belange der Germanisten, sowie die inhaltlichen und organisatorischen Probleme des Lehrbetriebs werden auf eintägigen Treffen diskutiert, die zweimal im Jahr in Paris stattfinden. Die Kontinuität der Verbindung zu den Mitgliedern wird auch in der Zwischenzeit der Tagungen gewahrt. In den ersten Jahrzehnten erschienen regelmäßig ein Mitteilungsblatt und ein jährliches bulletin . Neuerdings werden diese traditionellen Medien zunehmend durch Internet-Informationen ersetzt. Durch diese Aktivitäten leistet die AGES einen wertvollen Beitrag zur Verteidigung und Stärkung des Deutschunterrichts in Frankreich. Als Vertreter und Wortführer der Germanisten und der Deutschlehrer haben die jeweiligen Präsidenten des Verbandes immer wieder die Sache des Deutschen im Fremdsprachenunterricht mit Erfolg verteidigen können. Dass die AGES alle französischen Germanisten, ungeachtet ihrer Fachrichtungen und Schwerpunkte sowie politisch-weltanschaulicher Zugehörigkeit, umfasst, gibt ihren Stellungnahmen und Positionen ein besonderes Gewicht. Die Kohärenz des Verbandes ist vor allem dadurch gewährleistet, dass das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen fachlichen Spezialitäten (Linguistik, Literatur und Landeskunde) und zwischen den verschiedenen Universitäten gewahrt wird, sowohl bei der Wahl der Tagungsorte für die jährlichen Kongresse wie für die Wahl der Präsidenten und des Vorstandes. Einem ungeschriebenen Gesetz folgend hat sich seit der Gründung der AGES vor mehr als vierzig Jahren und der Wahl ihres ersten Vorsitzenden, *Robert Minder, keiner der 14 Nachfolger um ein zweites dreijähriges Mandat beworben. Dadurch wird nicht nur ein rapider Wechsel, sondern auch die unabdingbare Verjüngung der Verbandsführung gewährleistet. Der wichtigste Beitrag der AGES zum deutschfranzösischen Kulturaustausch besteht gewiss in ihrem Bemühen, die deutsche Sprache und Kultur in Frankreichs Hochschulen und Schulen (*ADEAF) gegen die Uniformisierung und Verflachung durch eine angebliche Weltsprache und Universalkultur zu verteidigen. Sie tut es in enger Zusammenarbeit mit den deutschen Kollegen. Die <?page no="105"?> Association franco-allemande des assistants parlementaires e.V. (AFAAP) A 105 jährlichen Kongresse des französischen Germanistenverbandes fanden nicht nur an französischen Universitäten statt, sondern oft auch im deutschen Sprachraum, so zum Beispiel in Saarbrücken (1974 und 2003), Innsbruck (1982), Frankfurt/ Oder (1993), Leipzig (1999), Aachen (2005) und Göttingen (2008). Abgesehen von den persönlichen wissenschaftlichen Kontakten und der Zusammenarbeit der französischen Germanisten mit ihren deutschen und österreichischen Kollegen, besteht auch eine enge Zusammenarbeit der AGES mit den jeweiligen Germanistenverbänden. Hinzu kommt, dass deutsche und österreichische Wissenschaftler (nicht nur Germanisten sondern auch Romanisten oder Historiker) zu Gastvorträgen bei allen AGES-Kongressen auftreten und so eine Internationalität und Interdisziplinarität des Faches in Frankreich garantieren. Colette Cortès, Gilbert Krebs (Hg.), Le territoire du germaniste. Situations et explorations, Actes du 30 e Congrès de l’AGES mai 1997, Asnières 1998. Gilbert Krebs Association franco-allemande des assistants parlementaires e.V. (AFAAP) Verein Deutsch-Französischer Parlamentspraktikanten Im Jahre 1993 wurde in Bonn, dem damaligen Sitz des Deutschen Bundestags, die Association francoallemande des assistants parlementaires e.V. (AFAAP) gegründet. Es handelt sich um den Ehemaligenverein eines deutsch-französischen Stipendienprogramms, das vier Jahre zuvor aus der Taufe gehoben wurde. Mit dem Jahresstipendium wird Absolventen aus allen Disziplinen die Möglichkeit gegeben, politische Praxis aus nächster Nähe durch eine Assistententätigkeit für einen Abgeordneten kennenzulernen. Die Praktikanten sollen später als Multiplikatoren mit einem größeren Verständnis für die parlamentarische Arbeit im Nachbarland zu einer Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen beitragen. Der universitäre Bestandteil des Programms legt eine theoretische Basis für die Assistententätigkeit. Das Deutsch-Französische Parlamentspraktikum war nicht von Anfang an bilateral. 1989 gingen die ersten fünf französischen Studenten an den Deutschen Bundestag und an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (heute: an die Humboldt-Universität zu Berlin), erst ein Jahr später zogen die ersten fünf deutschen Stipendiaten nach Paris an die Assemblée nationale und zum Institut d’études politiques (Sciences Po). Durch die strengen Auswahlkriterien des Programms gelten die durchweg zweisprachigen und gut ausgebildeten Teilnehmer als Promotoren der deutsch-französischen Beziehungen. Ziel des Vereins ist es, die neuen Praktikanten bei ihrer Arbeit und bei ihrem Studium in der Gaststadt zu unterstützen, sich für den Erhalt des Programms einzusetzen, für eine Vernetzung der ehemaligen Praktikanten zu sorgen und sich für eine Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen einzusetzen. Der Verein wird für die Dauer von zwei Jahren von zwei Präsidenten geleitet, die sich in der Führung nach einem Jahr abwechseln. Nach Möglichkeit sollen es jeweils ein Deutscher und ein Franzose sein. Die ersten Präsidenten des Vereins gehörten zu den ersten promotions , namentlich Martin Stauch und Armel Le Divellec. Im Jahr 2013 hatten 229 Praktikantinnen und Praktikanten das Programm absolviert. Der Verein ist ein lockerer Zusammenschluss der über ganz Deutschland und Frankreich verteilten Mitglieder, deren Hauptaktivitäten aus den Mitgliederversammlungen mit wissenschaftlichen Vorträgen und kulturellen Veranstaltungen sowie gelegentlichen unterjährigen Zwischentreffen besteht. Neben den Treffen erfolgt die Vernetzung vor allem über Mailinglisten. So werden dort laufend Stellenanzeigen oder Hinweise auf Promotionen oder auf Forschungsvorhaben veröffentlicht. Das unregelmäßig erscheinende „AFAAP-Journal“ und das „Journal interparlementaire“ tragen zu einer Vertiefung deutsch-französischer Themen bei. Die bisher erschienenen „Annuaires“ (1995, 2002, 2007 und 2014) dokumentieren die Lebensläufe der Programmteilnehmer und belegen, dass die Absolventen häufig in verantwortungsvollen Aufgaben in deutsch-französischen und europäischen Bereichen tätig sind. Inzwischen gilt die AFAAP selbst, neben dem Stipendienprogramm, als Institution der deutsch-französischen Beziehungen. Martin Stauch <?page no="106"?> Association pour le développement de l’enseignement de l’allemand en France (ADEAF) 106 A Association pour le développement de l’enseignement de l’allemand en France (ADEAF) Der französische Deutschlehrerverband ADEAF sieht es - ähnlich wie die *AGES auf universitärer Ebene - als eine ihrer Hauptaufgaben an, den Platz des Deutschen in den französischen Schulen zu stärken, sodass er den Kontakt zu deutschen Institutionen (z.B. *Goethe-Institut) in Frankreich und zu französischen in Deutschland pflegt. Darüber hinaus beteiligt er sich aber auch an den Aktivitäten zum Ausbau der oft beschworenen „notwendigen Mehrsprachigkeit“, ist Mitglied der Association des professeurs de langues vivantes (APLV) und unterstützt darüber hinaus das Observatoire européen du plurilinguisme (*Sprachenpolitik). Seit 1983 ist die ADEAF Mitglied des Internationalen Deutschlehrerverbands (IDV), wodurch Kontakte zu Deutschlehrerverbänden auf der ganzen Welt hergestellt werden konnten. Kontakte bestehen weiterhin auch zu den Französischlehrerverbänden in den deutschsprachigen Ländern. Die Gründung des Verbandes geht auf die Initiative des damals emeritierten inspecteur général d’allemand Jacques Martin zurück, der Ende 1977 etwas gegen die rückgängigen Deutschlernerzahlen unternehmen wollte. Die Statuten wurden am 10.8.1978 im „Journal officiel“ veröffentlicht. Aufgabe des Verbandes war und bleibt es, zur Entwicklung und Förderung der deutschen Sprache in allen Sparten des französischen Bildungswesens beizutragen. Mit etwa 2 000 Mitgliedern (Stand 2011) umfasst die ADEAF ein Viertel aller französischen Deutschlehrer. Die Organisation des Verbandes richtet sich nach der Verwaltungsstruktur des französischen Bildungswesens. Jeder académie entspricht eine regionale Vereinigung mit einem eigenen Vorstand, der auf académie -Ebene den Kontakt mit dem regionalen und lokalen Verwaltungsapparat pflegt. Auf nationaler Ebene wird der Verband von einem Vorstand ( bureau exécutif ) geleitet, an dessen Spitze der alle drei Jahre von einer Generalversammlung gewählte Vorstandsvorsitzende ( président national ) steht. Dessen Ansprechpartner sind die inspecteurs généraux sowie die Ministerialdirektoren und die engsten Mitarbeiter des Kulturministers. Der erste Vorstand bestand aus Jacques Martin (Vorsitzender), Claude Barrial (Sekretär) und Jean-Pierre Maurer (Schatzmeister). Seit 1979 gibt die ADEAF ein Vierteljahresblatt heraus, das mittlerweile über 100 Seiten umfasst und neben Interna Informationen zur Lage des Deutschunterrichts in den Regionen gibt, über pädagogische Experimente berichtet sowie ein Hauptthema behandelt. Die Webseite wendet sich mit Foren, Links und Dokumenten zum Herunterladen vor allem an Deutschlehrer. 2011 eröffnete die ADEAF ein Facebook-Profil und schloss eine Partnerschaft mit Cyberlangues, um auch die neuen Medien beim Austausch unter Deutschlehrern zu nutzen. Im Jahre 1983 wurde die Schwesterorganisation Association des nouveaux cahiers d’allemand von Jacques Martin und dem Universitätsprofessor Eugène Faucher gegründet, deren Hauptaufgabe darin besteht, eine Zeitschrift für Linguistik und Didaktik herauszugeben, die sich nicht nur an die Fachleute der Universität, sondern auch an die Kollegen der Sekundarstufe wendet. Um eine Auseinanderentwicklung der beiden Organisationen zu vermeiden, ist jede statutarisch im Vorstand der anderen vertreten. Frédéric Auria Asterix Die weltweit derzeit 325 Millionen verkauften Alben machen die Abenteuer um die gallischen Helden Astérix und Obélix zur erfolgreichsten französischen Comic-Serie aller Zeiten. Ab Oktober 1959 erschienen in der neu gegründeten Comic-Zeitschrift „Pilote“ die Episoden in Fortsetzungsform, an die sich der Album-Nachdruck anschloss; ab 1974 erfolgte die Publikation dann direkt in gebundener Form. Bislang sind 34 Alben erschienen, davon 32 als in sich abgeschlossene Abenteuer sowie zwei Kompilationen von Einzelerzählungen. Autoren sind René Goscinny (1926- 1977) als Texter und Albert Uderzo (geb. 1927) als Zeichner; nach Goscinnys Tod übernahm Uderzo ab Folge 25 („Le grand fossé“, 1979) auch den Part des Textschreibers, wobei das Ergebnis vielfach als Qualitätsverlust bewertet worden ist. Das Bild- Text-Dispositiv des Comic hat die populäre Serie auch für das Medium Film prädestiniert: sieben Zeichentrick- und vier besonders publikumswirksame Realfilme sind bisher für die Kinoleinwand produziert worden, zuletzt, 2012, kam „Im Auftrag seiner Majestät“ mit einer ganzen Reihe <?page no="107"?> Auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik A 107 berühmter französischer Schauspieler (Gérard Depardieu, der Obélix bereits zum vierten Male verkörpert, Catherine Deneuve, Jean Rochefort, Dany Boon, Gérard Jugnot und Fabrice Lucchini) höchst erfolgreich in die Kinos. Die Abenteuer um den kleinen pfiffigen Krieger Astérix (der Name leitet sich von frz. astérisque für „Sternchen im Sinne von Fußnoten-Verweisung“ als verschmitztes understatement-Signal ab) und seinen korpulent-hyperkräftigen Freund Obélix in einem kleinen bretonischen Dorf, das um 50 v. Chr. den römischen Invasoren nachhaltig widersteht, geben trotz der historischen Verkleidung Anlass zu mannigfaltigen Anspielungen und belustigenden bis satirischen Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen französischen Gesellschaft und ihren Befindlichkeiten. Darüber hinaus widmet sich eine Reihe der Geschichten der Fremdwahrnehmung: Ihr Tatendrang veranlasst Astérix und Obélix immer wieder zu Expeditionen in andere Kulturräume, wo sie auf zumeist humorvolle Weise mit den einschlägigen Nationalstereotypen konfrontiert werden. Bereits der dritte Band erzählte 1963 unter dem Titel „Astérix et les Goths“ eine derartige Begegnung mit Deutschland und den Deutschen (dt. Übersetzung: 1970). Ausgerechnet im Jahr des *Élysée-Vertrags entwarfen Goscinny/ Uderzo hier vom Nachbarn jenseits des Rheins ein wahres Schreckensbild, das die alten Klischees aus der Zeit der *„Erbfeindschaft“ reaktivierte - preußischer Pickelhauben- und Stechschritt-Militarismus, Rohheit und Aggressivität der so bezeichneten „Barbaren“, Invasionsgelüste in Richtung Gallien bis hin zur kaum verfremdeten Visualisierung von NS-Fahnen, Hakenkreuzen und Hitler-ähnlichen Gestalten. Astérix’ erfolgreiche Strategie zum Sieg über die „Gothen“ besteht darin, die in jedem Deutschen, gerade auch in den vermeintlich harmlosen Untertanen, angelegte Machtgier vermittels des unbändige Kräfte verleihenden Zaubertranks freizusetzen und so einen permanenten Bürgerkriegszustand aller gegen alle herbeizuführen, der über Jahrhunderte die genuine Blutrünstigkeit auf die Selbstzerstörung im Landesinneren eindämmt. Mit über 90 Mio. verkauften Alben erfreut sich „Asterix“ gerade in Deutschland einer außerordentlichen Beliebtheit. Dabei verlief der deutsche Start der Serie problematisch: 1965 erwarb Rolf Kauka die Übersetzungs-Lizenz und publizierte in der Zeitschrift „Lupo“ vier Abenteuer, die auf einer gravierenden Bearbeitung beruhen: Die beiden Helden sind nun Germanen, Siggi und Babarras (so auch der Serientitel), Szenerie, Figuren und Handlung verweisen penetrant auf die politische Landschaft der Bundesrepublik, wobei die Anspielungen ein unübersehbar reaktionäres, ja sogar antisemitisches Gedankengut zur Darstellung bringen. Daraufhin entzogen die französischen Autoren Kauka die Lizenz und vergaben sie ab 1967 neu an den ebenfalls auf Comics spezialisierten Ehapa Verlag. Dort erschienen unter konsequenter Wahrung der Originalfiktion und in sehr gelobten Übersetzungen die regulären Abenteuer ab 1968 in Albumform. Die deutsche Popularität von „Asterix“ im Allgemeinen und das immense sprachspielerische Potenzial der Texte im Besonderen hat dazu geführt, dass im deutschen Sprachraum mittlerweile über 70 Dialekt-Versionen einzelner Abenteuer publiziert worden sind; regionalsprachlich spezialisierte Linguisten haben ebenso wie Literaten (F. Mitterer) oder Kabarettisten (D. Hallervorden, U. Priol) eine schöpferische Herausforderung darin gesehen, den Originaltext nicht weniger als 30 Dialekten (u.a. Wienerisch, Alemannisch, Bairisch, Fränkisch, Schwäbisch, Hessisch, Saarländisch, Sächsisch, Berlinerisch, Plattdeutsch) geistreich anzuverwandeln. André Stoll, Asterix, das Trivialepos Frankreichs. Die Bild- und Sprachartistik eines Bestseller-Comics, Köln 1974; Nicolas Rouvière, Astérix ou les lumières de la civilisation, Paris 2006; ders., Astérix ou la parodie des identités, Paris 2008; René van Royen, Asterix - die ganze Wahrheit, München 2 2008; Kai Brodersen (Hg.), Asterix und seine Zeit. Die große Welt des kleinen Galliers, München 3 2008; Christine Gundermann, 50 Jahre Widerstand: Das Phänomen Asterix, in: Zeithistorische Forschungen/ Studies in: Contemporary History 6 (2009), S. 115-128. Klaus-Peter Walter Auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik In der Bundesrepublik liegt die auswärtige Kulturpolitik an der Schnittstelle zwischen Außenpolitik und Kulturpolitik. Daher kann man von kultureller Außenpolitik oder auswärtiger Kulturpolitik sprechen. Der letztere Begriff hat sich jedoch durchgesetzt. Ihr Hauptorgan ist die Kulturabteilung des Auswärtigen Amts. Sie wurde 1952 gegründet, um das neue Deutschland als Kulturstaat nach außen sichtbar werden zu lassen und die <?page no="108"?> Auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik 108 A Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Ausland zu erleichtern. Der Schutz der freien Ausübung von Kunst und Kultur war nämlich im Grundgesetz festgeschrieben. Obwohl die auswärtige Kulturpolitik in diesem Sinne prinzipiell den Zielen politischer Propaganda fern steht, wurde sie während des Kalten Krieges in den 1950er und 60er Jahren häufig für den Kampf gegen die diplomatische Anerkennung der DDR instrumentalisiert. Die heutigen Strategien der auswärtigen Kulturpolitik haben ihre Wurzeln in der großen Reformbewegung der 1970er Jahre. Das erste Prinzip betraf die Erweiterung des Kulturbegriffs. Dieser sollte nicht nur auf bildende Kunst, Sprache und Hochkultur beschränkt bleiben, sondern alle symbolischen Aktivitäten einer Gesellschaft umfassen. Hierzu zählten bedeutende Schriftsteller, Musiker und Künstler, aber auch philosophische und politische Vordenker, Sportler oder Städteplaner. Das zweite Prinzip betraf die Zielgruppe des Austauschs. Auf der Grundlage des von dem parlamentarischen Staatssekretär Ralf Dahrendorf geprägten Konzeptes der zwischenstaatlichen Gesellschaftspolitik blieb die auswärtige Kulturpolitik im Zuständigkeitsbereich der Diplomatie, hat aber den Dialog zwischen den Gesellschaften zur Aufgabe. Das dritte Prinzip betraf die Gegenseitigkeit des Kulturaustauschs. Es ging nicht um Selbstdarstellung und einen einseitigen Kulturexport, sondern einen wechselseitigen Austausch und Begegnungen zwischen den Kulturakteuren. Ausgehend von diesen Prinzipien setzt sich die auswärtige Kulturpolitik dauerhaft für sehr verschiedene Bereiche ein: die Förderung der deutschen Sprache (*Sprachenpolitik), die Unterhaltung deutscher Schulen im Ausland, wissenschaftliche und akademische Zusammenarbeit (*DAAD), Kunst- und audiovisuelle Medienprojekte, Sport- und Jugendaustausch (*DFJW), gesellschaftspolitische Projekte in Zusammenarbeit mit politischen Stiftungen, Erhalt des Kulturerbes in Schwellen- und Entwicklungsländern. Mehr und mehr werden Entwicklungshilfeprojekte mit kulturellen Projekten im Ausland verbunden. Die diplomatische Funktion der auswärtigen Kulturpolitik hat sich zu Beginn der 1990er Jahre verändert und weiterentwickelt, da die kulturelle Konkurrenz der DDR, die während des Kalten Krieges einen mächtigen Antriebsfaktor darstellte, mit einem Male wegfiel. Die rot-grüne Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder (1998-2005) steckte sich im Rahmen ihres programmatischen Textes „Konzeption 2 000“ daher Konfliktprävention und Demokratieförderung als neue Ziele. Die auswärtige Kulturpolitik fällt sowohl in den Kompetenzbereich des Bundes als auch der Länder. Ein Kompromiss wurde 1957 gefunden (Lindauer Absprache): das Betreiben der auswärtigen Kulturpolitik als Aufgabenfeld der Diplomatie gehört zum Kompetenzbereich des Auswärtigen Amts, die Länder müssen jedoch ihre Zustimmung zur Unterzeichnung bilateraler Kulturverträge über die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik, die Kultusministerkonferenz (KMK) geben. Neben den Ländern sind zudem einige halbstaatliche, dekonzentrierte Organisationen, die so genannten Mittlerorganisationen, Hauptakteure der auswärtigen Kulturpolitik. Die meisten dieser Organismen wurden in der Weimarer Republik gegründet und in den 1950er Jahren wieder neu ins Leben gerufen: der *Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), das Institut für Auslandsbeziehungen (IFA), das *Goethe-Institut und die Humboldt-Stiftung. 1953 kam InterNationes als ein neuer Organismus hinzu, der für den Versand von Informationsbroschüren und Filmen sowie die Organisation von Vortragsreisen zuständig war; 2000 wurden InterNationes und *Goethe-Institut zusammengeschlossen. Bedeutsam in diesem Kontext ist ebenfalls der internationale Radiosender Deutsche Welle, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Deutsche Musikrat und die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen. Finanziert werden diese Institutionen größtenteils vom Auswärtigen Amt. Die enge Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt und den verschiedenen Mittlerorganisationen macht die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik zu einem besonderen Modell, das weder der völligen politischen Kontrolle unterworfen ist, wie in Frankreich, Italien oder den Vereinigten Staaten, noch ganz autonom agieren kann wie in Großbritannien. Am Ende der 1950er Jahre wurde zwar über ein „Council für Kultur“ nach dem Vorbild des British Council nachgedacht, die Idee aber wieder fallengelassen. Um die Arbeit der halbstaatlichen Einrichtungen zu koordinieren, gründete man 1961 den Kulturbeirat, ein Gremium mit 20 wichtigen Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich. Die deutsche Vorgehensweise <?page no="109"?> Auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik A 109 kann damit als ein „gemischtes Modell“ (Mitchell) bezeichnet werden, die darüber hinaus der multilateralen kulturellen Zusammenarbeit einen großen Platz einräumt. Seit 1950 arbeitet die BRD im Rat für kulturelle Zusammenarbeit des Europarats in Brüssel und ist seit 1951 Mitglied der UNESCO. Die multilaterale und europäische Ausrichtung wurde durch das Programm „Konzeption 2 000“ verstärkt. Seit der Erweiterung der Europäischen Union ist es Ziel der deutschen auswärtigen Kulturpolitik, das Gefühl der Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft in den mittel- und osteuropäischen Ländern zu verstärken. Deutschland ist auch im Rahmen des Netzwerkes der Europäischen Vereinigung nationaler Kulturinstitute (EUNIC) aktiv. Darüber hinaus finanziert der Élysée-Fonds, der 2003 anlässlich des 40. Jahrestages des *Élysée-Vertrages ins Leben gerufen wurde, deutsch-französische Kulturprojekte in Drittstaaten. Die Neugründung des Auswärtigen Amts und seiner Kulturabteilung 1951 stand, dem ehemaligen SPD-Abgeordneten Georg Kahn-Ackermann zufolge, unter dem Zeichen der Rehabilitierung. Zwischen 1951 und 1969 machte es sich die auswärtige Kulturpolitik zur Aufgabe, den Bruch mit dem „Dritten Reich“ zu verdeutlichen und an die humanistischen, christlichen und demokratischen Werte Deutschlands als „Land der Dichter und Denker“ zu erinnern. Sie setzte auf Zurückhaltung und überließ den ausländischen Partnern die Initiative zum kulturellen Austausch. Anfang der 1960er Jahre übertrug das Auswärtige Amt dem *Goethe-Institut die Verantwortung für 35 innerdeutsche Institute und 65 binationale Kulturverbände. Darüber hinaus wurde das Budget der Kulturabteilung außergewöhnlich erhöht. 1968 erreichte es 229 Mio. DM gegenüber 2,8 Mio. DM im Jahr 1952. Die Zahl der Auslandsfilialen des *Goethe-Instituts erhöhte sich zwischen 1958 und 1969 von 15 auf 109. Die wichtigsten Adressaten waren die westlichen Alliierten der BRD und Länder mit einem traditionell hohen kulturellen Einfluss wie Italien, Griechenland, Spanien, Südamerika und der Nahe Osten. Im Rahmen der Entkolonialisierung der 1950er und 60er Jahre und im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der DDR wandte sich die auswärtige Kulturpolitik der BRD auch zunehmend den jüngeren unabhängigen Staaten Asiens und Afrikas zu. Die darauffolgende Reformphase erstreckte sich von 1969 bis 1982. 1969 wurde Ralf Dahrendorf unter der neuen sozialliberalen Koalition zum parlamentarischen Staatssekretär für auswärtige Kulturpolitik ernannt; 1970 nahm das Auswärtige Amt „18 Leitsätze für die auswärtige Kulturpolitik“ an; für die Periode 1973-1976 stellte das Gutachten des Soziologen Hansgert Peisert die Grundlage für den Dreijahresplan der Kulturabteilung dar, in dem das Prinzip der Erweiterung des Kulturbegriffs, zwischengesellschaftliche Politik und die Gegenseitigkeit des Austauschs festgeschrieben wurden. Ab 1977 rückten die Öffnung zur kulturellen Vielfalt und die Rolle der Kultur im Rahmen der Entspannungspolitik noch weiter in den Mittelpunkt. Mit dem Antritt der Regierung von Helmut Kohl 1982 und der Kürzung der Mittel für die auswärtige Kulturpolitik endete die Reformbewegung und eine traditionellere Konzeption, in der die Sprachförderung wieder vor der Erweiterung des Kulturbegriffs stand, setzte sich durch. Der Mauerfall 1989 und der Zusammenbruch des Sowjetblocks führten schließlich zu einer Neuorientierung der auswärtigen Kulturpolitik. Neue Kulturabkommen mit den östlichen Ländern wurden unterzeichnet und das *Goethe-Institut eröffnete zwischen 1989 und 2009 19 neue Institute, zehn davon in Mittel- und Osteuropa, acht im Kaukasus und Zentralasien. Nach dem Antritt der rot-grünen Koalition 1998 wurde der Status der auswärtigen Kulturpolitik erneut verändert: Orientierungspunkt bildete dabei Willy Brandts Definition aus den 1960er Jahren, der in ihr die dritte Säule der Außenpolitik sah. Nach den Balkankriegen Ende der 1990er Jahre und den terroristischen Anschlägen des 11.9.2001 wurde das Konzept des Kulturdialogs tonangebend, das auf der Überzeugung beruht, dass kultureller Austausch und Kooperation in der Lage sind, politische Konflikte zu verhindern. Das Programm „Europäisch-Islamischer Kulturdialog“ wurde eingerichtet, um Kontakt mit den fundamentalistischen Bewegungen herzustellen. Darüber hinaus wurden im Zeichen der Globalisierung Partnerschaften mit den neuen Mächten der Asien-Pazifik Region und Lateinamerika verstärkt. Corine Defrance, La politique culturelle extérieure de la RFA au service de la diffusion d’une nouvelle image de soi à l’étranger (1949-1969), in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande, 40 (2008) 3, S. 367-380; Stef- <?page no="110"?> Auswärtige Kulturpolitik der DDR 110 A fen R. Kathe, Kulturpolitik um jeden Preis. Die Geschichte des GI von 1951 bis 1990, München 2005; John M. Mitchell, International Cultural Relations, London, 1986; Johannes Paulmann, Die Haltung der Zurückhaltung. Auswärtige Selbstdarstellungen nach 1945 und die Suche nach einem erneuerten Selbstverständnis in der Bundesrepublik, Bremen 2006; Albert Salon, La politique culturelle de la République Fédérale d’Allemagne à l’étranger, Paris 1970; Julia Sattler, Nationalkultur oder europäische Werte? Britische, deutsche und französische Auswärtige Kulturpolitik zwischen 1989 und 2003, Frankfurt/ M. 2007; Karl-Sebastian Schulte, Auswärtige Kulturpolitik im politischen System der BRD. Konzeptionsgehalt, Organisationsprinzipien und Strukturneuralgien eines atypischen Politikfeldes am Ende der 13. Legislaturperiode, Berlin 2000. Élise Lanoë Auswärtige Kulturpolitik der DDR Um sich von der auswärtigen Kulturpolitik „imperialistischer“ Staaten abzugrenzen, ersetzte die SED im offiziellen Sprachgebrauch den Terminus „AKP“ durch den Begriff „Kulturaustausch“. Ab den 1970er Jahren sprach man dann von „Kulturellen Auslandsbeziehungen“. Der Kulturaustausch umfasste die staatlichen kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zu Drittstaaten in den Bereichen Kunst und Kultur sowie „der Wissenschaft (mit Ausnahme der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit) und des Hochschulwesens, des Volksbildungswesens und der Berufsausbildung, des Gesundheitswesens, der Körperkultur und des Sports“ zum Zwecke gegenseitigen Kennenlernens und der Zusammenarbeit (Kulturpolitisches Wörterbuch 1970). Deutsche Studien zur AKP der DDR legen dagegen häufig die Definition von Peisert/ Kuppe zugrunde, die unter AKP diejenigen Aspekte und Bereiche kultureller Beziehungen subsumieren, die aufgrund staatlicher Förderung als außenpolitische Instrumente eingesetzt werden. Eine solche Förderung beziehe sich i.d.R. auf finanzielle und organisatorische Unterstützung sowie die Herstellung juristischer Rahmenbedingungen. Der Kulturaustausch galt als Mittel zur Durchsetzung diplomatischer Ziele: „Als Teil der Außenpolitik eines Staates unterstützt er dessen Bemühungen, auf die internationale Situation so einzuwirken, daß sie eine möglichst günstige Voraussetzung für die innere Entwicklung darstellen“ (Kulturpolitisches Wörterbuch). Diese Aufgabenstellung entsprach sowjetischen Vorgaben, war aber zugleich im Hinblick auf die ausbleibende internationale Anerkennung der DDR bis 1972/ 73 formuliert. Zwischen Kulturaustausch und Auslandsinformation bestand eine enge Wechselbeziehung. So waren Gastspiele, Schriftsteller-Lesungen, Ausstellungen, Austausch von Studiendelegationen und Verträge als Formen der auslandsinformatorischen Arbeit definiert. Legitimiert wurde der instrumentell-propagandistische Charakter des Kulturaustauschs durch marxistisch-leninistische Prinzipien und „Erfahrungswerte“, die ihrerseits auf Diskussionen russischer Sozialrevolutionäre über den richtigen Einsatz von Propaganda und Agitation in der Gesellschaft basierten. Gegenüber den sozialistischen Verbündeten war das untereinander verpflichtende Prinzip der Völkerfreundschaft die politisch-ideologische Grundlage. Es bildete die Brücke für den Aufbau kultureller Beziehungen der zunächst international isolierten DDR. Der Kulturaustausch galt hierbei als klarster Ausdruck von Völkerfreundschaft. Für Kulturbeziehungen mit kapitalistischen Staaten war das 1958 in das SED-Programm aufgenommene außenpolitische Konzept der friedlichen Koexistenz maßgeblich. Es ging bei gleichzeitiger militärischer Entspannung von einer Verschärfung der ideologischen Auseinandersetzung zwischen den Blöcken aus. Der Kulturaustausch war dabei in den „Kampf“ um ideologische Vorherrschaft eingebunden. Um sich gegenüber der Bundesrepublik weiterhin abzugrenzen, wurde nach der DDR-Anerkennungswelle die Existenz einer sozialistischen deutschen Nationalkultur propagiert. Vor dem Hintergrund der neuen Verfassung von 1974, die die deutsche Zweistaatlichkeit endgültig zementierte, behauptete die SED eine „historisch gewachsene“ Andersartigkeit der DDR-Kultur. Ihrem außenkulturpolitischen Selbstverständnis nach war die DDR das neue, „bessere“ Deutschland: antifaschistisch, friedliebend und weltoffen, ein sozialistischer Kulturstaat und rechtmäßiger Vertreter des kulturellen Erbes. Alle außenkulturpolitischen Grundsatzentscheidungen wurden im SED-Politbüro gefällt. An der Planung und Umsetzung war allerdings eine Vielzahl von parteiinternen, staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, Organisationen, Gremien und Abteilungen beteiligt. Die hierarchische Struktur in der Kompetenzverteilung und Ent- <?page no="111"?> Auswärtige Kulturpolitik der DDR A 111 scheidungsfindung wurde durch personelle Verflechtungen teilweise aufgehoben. Im ZK der SED befassten sich die außenpolitische und ideologische Kommission mit der AKP, weiterhin die Abteilungen Agitation, Auslandsinformation, Forschung und Entwicklung, Gesundheitspolitik, internationale Verbindungen, Kultur, Propaganda, Sport und Wissenschaft. Direkt beteiligt waren außerdem der Ministerrat und die Ministerien für Volksbildung, Gesundheitswesen, Hoch- und Fachschulwesen und Kultur sowie die Volkskammer und Massenorganisationen. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) mit seiner Kulturabteilung bildete neben der Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (GkVA) bzw. der Liga für Völkerfreundschaft (LfV) die wichtigste Koordinierungsinstitution der AKP. Es war zuständig für die fachliche Analyse, Anleitung, Verhandlungsführung und Kontrolle der staatlichen Kulturdiplomatie sowie der Auslandsinformation und nahm damit eine Mittlerposition zwischen den Trägerorganisationen ein. Ministerielle Umstrukturierungen erschwerten allerdings mindestens bis Ende der 1950er Jahre eine kontinuierliche Arbeit der Kulturabteilung. Die zentrale gesellschaftliche Organisation für Kulturaustausch war zunächst die 1952 nach sowjetischem Vorbild gegründete GkVA. Bis zur Bildung des DDR-Kulturministeriums 1954 koordinierte sie unter Kontrolle des MfAA die kulturellen Beziehungen zu den so genannten volksdemokratischen Ländern. Danach wurde sie Dachorganisation der Freundschaftsgesellschaften und war zuständig für die Kulturbeziehungen zum nichtsozialistischen Ausland. Das Kulturministerium übernahm den Bereich der sozialistischen Staaten. Ab 1961 übernahm die neu gegründete LfV die Aufgaben der GkVA. Als zentrales Koordinationsorgan und wichtigstes Kommunikationsinstrument der AKP stand sie bis zum Ende der DDR allen Freundschaftsgesellschaften (und damit auch der *Deutsch-Französischen Gesellschaft der DDR (Deufra), Aktionskomitees und auswärtigen Kulturzentren vor. Sie gab mehrere Zeitschriften heraus. Im Ausland präsentierte sie sich aus strategischen Gründen häufig als nichtstaatliche Organisation. Durch den Abschluss von Direktvereinbarungen mit ausländischen Partnerinstitutionen waren neben der Akademie der Wissenschaften auch die künstlerischen Berufsvereinigungen Teil des staatlichen Kulturaustauschs. Die Vermittlung von DDR-Künstlern ins Ausland oblag der 1960 gegründeten Deutschen Künstler-Agentur GmbH Berlin (ab 1968 Künstler-Agentur der DDR). Innerhalb des Bildungsaustauschs nahm das 1956 gegründete Institut für Ausländerstudium an der Universität Leipzig (1961 umbenannt in Herder-Institut) eine institutionelle Sonderstellung ein. Hier wurden Aufbaustudiengänge für Ausländer, Sommerkurse für ausländische Deutschlehrer oder die Ausbildung von Auslandslektoren durchgeführt. Der Kalte Krieg, die enge Bindung an die Sowjetunion und die deutsche Teilung als Folge des Zweiten Weltkriegs bildeten die außenpolitischen Rahmenbedingungen für die AKP der DDR, die bis 1972/ 73 primär im Dienst der staatlichen Anerkennungspolitik stand. Bis dahin erschwerten die 1955 von der Bundesregierung verkündete „Hallstein-Doktrin“ und der umstrittene Berlin- Status den Aufbau regulärer staatlicher Kulturbeziehungen außerhalb des eigenen Bündnisses. Bis 1972 schloss die DDR mit 14 sozialistischen und 13 Entwicklungsländern Kulturabkommen ab (zuerst 1950 mit Polen, der ČSSR, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, 1951 mit China, 1953 mit Albanien und 1956 mit der UdSSR). Danach vervielfachte sich die Zahl der Vertragsstaaten. Viele prestigeträchtige Kulturabkommen wurden jedoch erst in den 1980er Jahren unterzeichnet (mit Frankreich 1980, Italien 1984, Großbritannien 1985 und der Bundesrepublik 1986). Die umfangreichsten Kulturbeziehungen bestanden zu den sozialistischen Verbündeten. Hier lag die Sowjetunion an der Spitze, gefolgt von der ČSSR und Polen, in deren Hauptstädten 1956 bzw. 1957 die ersten Kultur- und Informationszentren der DDR eröffnet worden waren. Besondere Bedeutung wurde dem Wissenschafts- und Bildungsaustausch beigemessen, der sich positiv auf die ökonomische Modernisierung auswirken sollte. Ab Mitte der 1960er Jahre wurden dafür im RGW verstärkte Vernetzungs- und Kooperationsanstrengungen unternommen (z.B. regelmäßige Hochschulminister- und Rektorenkonferenzen seit 1966 bzw. 1969). Die deutsch-deutsche Doppelrepräsentanz in Drittländern bedeutete für die AKP eine permanente kulturelle Konkurrenzsituation. Mit der Errichtung der bundesdeutschen Handelsmissionen <?page no="112"?> Auswärtige Kulturpolitik Frankreichs 112 A in Budapest, Warschau, Sofia und Bukarest 1963/ 64 sowie der diplomatischen Vertretung in Rumänien 1967 eröffneten sich auch in Osteuropa Schauplätze der deutsch-deutschen Kulturkonkurrenz. Die SED reagierte darauf mit politischen Disziplinierungsmaßnahmen („Ulbricht-Doktrin“ 1967) und einer verschärften kulturellen Abgrenzungspolitik. Die „Westarbeit“ der AKP stand ganz im Zeichen des außenpolitischen Kampfes zur Durchbrechung der „Hallstein-Doktrin“. Sie war zunächst erfolgreich im neutralen Finnland, wo 1960 das erste Kulturzentrum in einem „kapitalistischen Industriestaat“ eröffnet wurde, sowie in Frankreich und Italien, deren einflussreiche kommunistische Parteien sich für die Anerkennung der DDR einsetzten. Die Aufsehen erregende Eröffnung des Centro Thomas Mann in Rom 1958 wurde von der *auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik als kommunistische Kulturoffensive interpretiert. Zwar gelang es im Verlauf der 1960er Jahre, in Ländern wie Finnland, Schweden, Großbritannien, Frankreich oder Italien mit Hilfe von Freundschaftsgesellschaften (*EFA), Austauschinitiativen und Kulturbüros Teile der Öffentlichkeit für die DDR zu interessieren. Jedoch konnte die gewünschte diplomatische Anerkennung dadurch nicht beschleunigt werden. Dagegen wurden mit einer Reihe von Entwicklungsländern Kulturabkommen noch vor Aufnahme diplomatischer Beziehungen abgeschlossen (z.B. Algerien, Ägypten, Chile, Indien, Irak). Nach der Zäsur von 1972/ 73 (deutsch-deutscher Grundlagenvertrag, Aufnahme in die UNO) stand die AKP vorrangig im Dienst staatlicher Imagebildung. Spätestens ab den 1980er Jahren rückten Kommerzialisierungsbestrebungen in den Vordergrund. Kulturauftritte im Westen wurden nun als gezielte Devisenbeschaffung kalkuliert. In der Folge wuchs die Zahl der Gastspiele und Ausstellungsprojekte in kapitalistischen Staaten sprunghaft an, darunter auch in Japan oder den USA. Der staatliche Kulturaustausch intensivierte sich ebenfalls: 1984 eröffneten das *DDR-Kulturzentrum in Paris und das *Centre culturel français in Ost- Berlin, 1986 wurden das erste deutsch-deutsche Kulturabkommen sowie die erste innerdeutsche Städtepartnerschaft (Saarlouis-Eisenhüttenstadt) geschlossen. Besonders öffentlichkeitswirksam war die kulturelle Selbstdarstellung der DDR durch Gastspiele von Spitzenorchestern, Ausstellungen der Dresdner Kunstsammlungen und die zahlreichen Erfolge im internationalen Leistungssport. Mauerbau und Biermann-Ausbürgerung 1961 bzw. 1976 beschädigten zwar das internationale Image der DDR. Doch die Außendarstellung als Kulturstaat kaschierte in weiten Teilen des Auslands erfolgreich den repressiven Charakter der SED-Diktatur. Mit dem Ende der DDR 1990 und dem Wegfall staatlicher Förderung lösten sich die außenkulturpolitischen Strukturen auf. Nur wenige Austauschorganisationen überlebten auf Vereinsbasis. Bundesdeutsche Trägerorganisationen übernahmen einen Teil der Lektorenposten im Ausland, beschäftigten aber nur wenige DDR-Fachkräfte weiter. Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin (DDR) 1970; Hansgert Peisert, Johannes Kuppe, Auswärtige Kulturpolitik, in: Wolfgang R. Langenbucher, Ralf Rytlewski, Bernd Weyergraf (Hg.), Kulturpolitisches Wörterbuch Bundesrepublik Deutschland/ DDR im Vergleich, Stuttgart 1983, S. 372-379; Hansgert Peisert, Johannes Kuppe, Auswärtige Kulturpolitik, in: Wolfgang R. Langenbucher, Ralf Rytlewski, Bernd Weyergraf (Hg.); Anita M. Mallinckrodt, Die Selbstdarstellung der beiden deutschen Staaten im Ausland. „Image-Bildung“ als Instrument der Außenpolitik, Köln 1980; Peter Ulrich Weiß, Kulturarbeit als diplomatischer Zankapfel. Die kulturellen Auslandsbeziehungen im Dreiecksverhältnis der beiden deutschen Staaten und Rumäniens 1950-1972, München 2010; Olivia Griese, Auswärtige Kulturpolitik und Kalter Krieg. Die Konkurrenz von Bundesrepublik und DDR in Finnland 1949-1972, Wiesbaden 2006; Hans Georg Golz, Verordnete Völkerfreundschaft. Das Wirken der Freundschaftsgesellschaft DDR-Großbritannien und der Britain-GDR Society - Möglichkeiten und Grenzen, Leipzig 2004; Nils Abraham, Die politische Auslandsarbeit der DDR in Schweden. Zur Public Diplomacy der DDR gegenüber Schweden nach der diplomatischen Anerkennung (1972-1989), Berlin 2007; Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln/ Weimar/ Wien 2004. Peter Ulrich Weiß Auswärtige Kulturpolitik Frankreichs Mit Beginn des neuen Jahrtausends begann die französische Regierung einen tiefgreifenden Reformprozess ihrer auswärtigen Kulturarbeit. Seit dem 1.1.2011 fungiert das *Institut français, das dem Ministère des affaires étrangères et européennes (französisches Außen- und Europaminis- <?page no="113"?> Auswärtige Kulturpolitik Frankreichs A 113 terium, MAEE) zugeordnet ist, als Organ für die auswärtige Kulturarbeit Frankreichs. Es hat somit das 2006 gegründete CulturesFrance ersetzt. Zweifelsohne sieht sich auch die französische Kulturpolitik gezwungen, sich den weltweiten Herausforderungen anzupassen. Aber unter dem Deckmantel der Modernisierung dieser Politik und ihres institutionellen Netzwerks, in Reaktion auf den Wandel der internationalen Situation, der Kultur und auf die neuen Formen des zeitgenössischen Schaffens wurden Umstrukturierungen vorgenommen, die auf die beträchtlichen Haushaltsbeschränkungen zugeschnitten wurden. Selbstverständlich ist die aktuelle Reform nicht die erste ihrer Art, denn Frankreich ist eines derjenigen europäischen Länder, das schon sehr früh seine auswärtige Kulturarbeit organisierte und institutionalisierte. Wie etwa Diderot oder Voltaire waren Schriftsteller oder Intellektuelle, wie man sie im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet, persönlich oder im Auftrag des Staates Akteure und Mittler des kulturellen Einflusses Frankreichs im Ausland oder gar des Austausches mit dem Ausland. Zur Jahrhundertwende begann der Staat zu ermessen, welche Ressourcen der kulturelle Bereich für die Erhaltung oder Erweiterung von Einflussgebieten birgt. Die Kultur wurde somit allmählich zu einem konstitutiven Bestandteil der Außenpolitik und der Staat zum offiziellen Förderer dieser Kulturpolitik. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde innerhalb des französischen Außenministeriums ein Bureau des écoles et des œuvres françaises à l’étranger eingerichtet. Nach dem Krieg - in dem die Relevanz der Propaganda als Instrument der Meinungsbildung und -mobilisierung offengelegt wurde - gestaltete das Ministerium das bescheidene Bureau um und erhob es zum Service des œuvres françaises à l’étranger (SOFE), dessen erster Leiter der Schriftsteller Jean Giraudoux (1921-1924) war. 1922 wurde außerdem ein vom Staat unabhängiger Verband gegründet, der in enger Zusammenarbeit mit dem Außenministerium und dem Ministère de la culture agierte: die Association française d’expansion et d’échanges artistiques, die 1934 in die Association française d’action artistique (AFAA) umgetauft wurde. Während der Zwischenkriegszeit blieb die Kultur eine wirksame Stütze der traditionellen Diplomatie, zumal die Kulturpolitik darauf abzielte, die Bündnisse zu stärken, die Sympathien für Frankreich zu festigen und Deutschland in wirtschaftlicher und intellektueller Hinsicht in Europa und darüber hinaus zu verdrängen. Die Schul- und Hochschulpolitik war vorrangig und ging insbesondere mit der Schaffung von französischen Instituten, Lehrstühlen und Lektoraten (*Lektoren) in den ausländischen Universitäten einher. Außerdem wurden Stipendien an ausländische Studierende vergeben, um künftige Eliten ins französische Einflussgebiet zu locken. Geographisch gesehen richtete sich die auswärtige Kulturarbeit vorrangig an Zentral- und Osteuropa, um die französische Kultur dort zu verbreiten, wo zuvor die deutsche herrschte, sowie an den Mittelmeerraum, um die französische Stellung dort zu verstärken. Bereits mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog man im Umfeld von de Gaulle in Betracht, die Rolle der Kultur innerhalb der französischen Außenpolitik aufzuwerten. 1945 wurde der SOFE im Quai d’Orsay (Außenministerium) durch eine Direction générale des affaires culturelles ersetzt, die im Hinblick auf Frankreichs Machtverlust eine sehr klassische Ansicht der Kultur als Gegenstand von Prestige- und Kompensationspolitik vertrat. Die Leitung fügte sich dem Prinzip „wer französisch spricht, kauft auch französische Produkte“ und widmete sich vor allem dem Französischunterricht. Diese restriktive Auffassung der Kultur enttäuschte viele Intellektuelle und Mittler, die im besetzten Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit eine neue Form der Kulturarbeit erprobt hatten, welche auf Begegnung und Austausch gründete, auf die Jugend ausgerichtet war und die Demokratisierung der Kultur anstrebte. *Alfred Grosser schrieb im Februar 1957 dem Leiter der neuen Direction générale de l’action culturelle et technique Roger Seydoux (der neue Name der kulturellen Leitung entsprach einer Erweiterung ihres Aufgabenbereichs, der erst die Technik, später auch die Wissenschaft mit einbezog): „Die Definition des Worts culture muss [...] beträchtlich erweitert werden. Es handelt sich nicht nur um Literatur und Kunst, sondern auch um Jugendarbeit, Bildungswesen, Filmklubs und Wahlsoziologie [...]. Um das andere Land zu verstehen, reicht es nicht aus, seinen Wein oder gar seine Musik zu schätzen. Es ist unentbehrlich zu wissen, welche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme gelöst werden müssen“. Diese Grundsatzdebatten über die Kulturdefinition, über die Verflechtungen zwischen der geerbten Kultur, den <?page no="114"?> Auswärtige Kulturpolitik Frankreichs 114 A neuen Formen der erweiterten Kultur und des zeitgenössischen Schaffens, über die Involvierung der Gesellschaften in die kulturellen Beziehungen, über die Suche nach Austausch anstatt nach Politik, Einfluss und Wirkung standen im Zentrum der Überlegungen der 1970er und 1980er Jahre. Jacques Rigaud, eine der Galionsfiguren des Ministère de la culture, analysierte die Situation in seinem Werk „La culture pour vivre“ bereits 1975. Kurze Zeit später reichte er einen bahnbrechenden Bericht über die Lage der Außenkulturpolitik Frankreichs ein. Sein Plädoyer für die Modernisierung der Kulturpolitik basierte auf drei Achsen: die Professionalisierung des auswärtigen Netzwerks, der Austausch und der Dialog zwischen den Kulturen, die Berücksichtigung der Medien (vor allem des Fernsehens), um eine enge Verbindung zur Massenkultur herzustellen. In einer Studie des CNRS von 1979/ 80 über die französischen Kulturzentren im Ausland bestätigten Pierre Grémion und Odile Chenal die Kluft zwischen der exportierten offiziellen Kultur einerseits und dem zeitgenössischen Schaffen andererseits. Obwohl sich die Vorstellungen von der Außenkulturpolitik seit den 1980er Jahren spürbar weiterentwickelt hatten, beschloss die französische Regierung 2001 infolge eines verheerenden Berichts, den der sozialistische Abgeordnete Yves Dauge im Februar vorgestellt hatte, eine profunde Reform seines weltweiten Netzwerkes vorzunehmen. Dieser Bericht prangerte finanzschwache Institutionen an, deren Kulturprogramm altmodisch und deren geographische Verteilung besonders unausgewogen (in Europa stark, auf dem asiatischen und amerikanischen Kontinent schwach ausgeprägt) war. In seiner Schlussfolgerung plädierte der Berichterstatter für eine größere Autonomie der Einrichtungen, die dazu angehalten wurden, nicht nur als kulturelles Schaufenster Frankreichs zu fungieren, sondern sich selbst mehr als Akteure in ihrem lokalen oder regionalen Umfeld einzubringen. Er trat auch für die Professionalisierung ihrer Leiter, für die Einrichtung von Partnerschaften mit den lokalen Kulturen und für eine konsequente Erhöhung der Budgets ein. Der Bericht rief dazu auf, die Kompetenzen zwischen den französischen Außen-, Kultur- und Bildungsministerien besser zu verteilen, aber der Quai d’Orsay zeigte sich wenig geneigt, seine Vorrechte mit anderen zu teilen. Ein neuer Schritt wurde 2006 mit der Gründung von CulturesFrance getan, das aus der Fusion zwischen der AFAA und der Association pour la diffusion de la pensée française entstand - diese Einrichtung des Außenministeriums sollte die Verbreitung von Büchern und Schriften in französischer Sprache fördern. CulturesFrance wurde damit beauftragt, unter der doppelten Obhut des Kultur- und Außenministeriums die französische Kulturarbeit im Ausland zu unterstützen. Im gleichen Jahr wurde außerdem mit „France 24“ ein Fernsehsender gegründet, der international und in drei Sprachen (Französisch, Englisch und Arabisch) ununterbrochen französische Nachrichten ausstrahlt. Im Januar 2011 wurde das *Institut français, das 2014 von dem ehemaligen Minister Xavier Darcos geleitet wird und CulturesFrance beerbte, zu einem alleinigen Organ des Außenministeriums (in diesem untersteht die Außenkulturpolitik der Direction générale de la mondialisation, du développement et des partenariats und ist in drei Abteilungen unterteilt, die dem Kulturerbe, der französischen Sprache sowie den audiovisuellen Medien und den neuen Technologien gewidmet sind). Das *Institut français verfügt offiziell über einen erweiterten Handlungsspielraum und erhöhte finanzielle Mittel (2011 betrug der Etat 350 Mio. Euro). Es arbeitet in enger Kooperation mit dem französischen Netzwerk kultureller Einrichtungen im Ausland, das aus über 150 französischen Instituten und aus etwa 1 000 Alliances françaises besteht. In jedem Land verwaltet ein Zweig des *Institut français das Netzwerk der französischen Institute (in der Anfangsphase, 2012 und 2013 wird eine begrenzte Anzahl von Ländern, ein gutes Dutzend, vom *Institut français gänzlich in eigener personellen und finanziellen Verantwortung betreut). Folglich leitet in der Bundesrepublik Deutschland das *Institut français Deutschland seit Januar 2012 die elf französischen Institute und kooperiert mit den zehn anderen deutsch-französischen Zentren und Instituten. Die Regierung hat somit die Förderung der Außenkulturpolitik, d.h. des künstlerischen Austauschs, der Verbreitung von Literatur, Film, Sprache, Wissen und der wissenschaftlichen Kultur einer einzigen Institution anvertraut. Das *Institut français ist auch mit der Präsentation ausländischer Kulturen in Frankreich durch die Durchführung von Festivals, saisons und diversen Kooperationen betraut. Seine Hauptziele sind unter anderem die Erhöhung des französi- <?page no="115"?> Badia, Gilbert B 115 schen Anteils an Produktionen im Ausland und jene der französischen Präsenz in der weltweiten audiovisuellen Landschaft sowie die Förderung der kulturellen Vielfalt und die Verbreitung der französischen Sprache. Das *Institut français stützt sich nunmehr auf zwei kürzlich gegründete öffentliche Einrichtungen: einerseits auf die France expertise internationale als Institution für die internationale Expertise und Projektplanung (im Wesentlichen Programme zur Entwicklungshilfe) und andererseits auf den Campus France, eine Institution, die für die internationale sowohl universitäre als auch wissenschaftliche Mobilität bestimmt ist, und den Zugang ausländischer Studierender zum Hochschulstudium in Frankreich fördern soll. Die Neuordnung der französischen Außenkulturpolitik und die Schaffung des *Institut français hat 2011 zu einem Abkommen zwischen dem *Institut français und dem *Goethe-Institut zur Vertiefung der Zusammenarbeit (Personalaustausch, Entwicklung gemeinsamer Programme etc.) nicht nur im bilateralen, sondern im globalen Kontext geführt. Darüber hinaus ist das *Institut français - wie auch das *Goethe-Institut - Mitglied von EUNIC (European Union National Instituts for Culture), dem Verband europäischer Kulturinstitute. Louis Dollot, Les relations culturelles internationales, Paris 1964; Jacques Rigaud, La Culture pour vivre, Paris 1975; Jacques Rigaud, Les Relations culturelles extérieures, Paris 1980; Pierre Milza, Culture et relations internationales, in: Relations internationales 24 (1980), S. 361-379; Pierre Grémion, Odile Chenal, Une culture tamisée: les centres et instituts culturels français en Europe, Paris 1980; Albert Salon, L’action culturelle de la France dans le monde, Paris 1983; François Roche, Bernard Piniau, Histoires de diplomatie culturelle des origines à 1995, Paris 1995. Corine Defrance B Badia, Gilbert Als bedeutendster französischer Germanist kommunistischer Provenienz gehörte der aus einer spanischen Emigrantenfamilie stammende Gilbert Badia (1916-2004) durch sein Werk und sein Engagement in und für die Freundschaftsgesellschaft der DDR zu den wichtigsten Mittelsmännern zwischen Frankreich und der DDR. Als Fremdsprachenassistent erlebte er zwischen 1936 und 1938 das nationalsozialistische Deutschland auf Spiekeroog und in Hamburg, bevor er nach Frankreich zurückkehrte, 1939 die agrégation d’allemand bestand und während des Krieges in die Résistance abtauchte. Er wurde 1943 von der Vichy-Polizei festgenommen, konnte aber im Februar 1944 aus der Haft entfliehen. Nach dem Krieg unterrichtete er anfangs am Pariser Lycée Charlemagne, bevor er 1965 seine Universitätskarriere an der Universität von Algier begann, wo er die Deutschabteilung gründete. 1967 wechselte er nach Nanterre und zwei Jahre später an die neu gegründete Universität Vincennes. Insbesondere seine frühen Schriften waren gekennzeichnet von seinen persönlichen Erfahrungen im NS-Deutschland und in Vichy-Frankreich, die neben der aus marxistischer Grundhaltung erwachsenen Geschichtsperspektive seine Forschung über Deutschland bestimmten. In den 1950er Jahren widmete er sich in erster Linie der Übersetzung von Karl Marx sowie der Übersetzung und Adaptation der Theaterstücke von *Bertolt Brecht (u.a. mit dem jungen *Jean Baudrillard), beschäftigte sich in seinen Schriften aber bereits mit der Entwicklung in der DDR. Diese waren nicht alleine als wissenschaftliche Werke konzipiert, sondern verstanden sich auch als Beitrag zur Anerkennung der DDR in Frankreich, sodass die Publikationen von Ost-Berlin finanziell unterstützt wurden, um sie für ihre Imagekampagnen in Frankreich einzusetzen (mit Pierre Lefranc, Un pays méconnu: La République démocratique allemande, Leipzig 1964). In Anlehnung an das von der SED verbreitete propagandistische Bild bezeichnete er die DDR in seinen Studien als antifaschistischer Erbverwalter der demokratischen und humanistischen Traditionen in der deutschen Geschichte. Er verteidigte Mauer und Repressionsapparat als notwendigen Schutz gegen die provokative Politik der Bundesrepublik und überbrückte auf diese Weise den Widerspruch, dass sie in Frankreich für die Durchsetzung von Ideen fochten, die in der DDR nur offiziell, aber nicht tatsächlich die Grundlage der Politik des Staates waren. Dass sich Badias orthodox-marxistische Standpunkte in den 1980er Jahren spürbar abgeschliffen hatten, geht aus dem unter seiner Leitung erschienenen Band („Histoire de l’Allemagne contemporaine, Bd. 2: La République démocratique allemande“) hervor. Zum einen wird die <?page no="116"?> Badia, Gilbert 116 B Hoffnung deutlich, die SED werde ihre Politik wieder mehr auf die konkreten Bedürfnisse der Menschen ausrichten, zum anderen war seine Sorge unter dem Eindruck der Politik von Gorbatschow und der nicht zu übersehenden Krise im sowjetischen Machtbereich zu spüren, dass sich die politische Situation in Deutschland zuungunsten der DDR entwickeln könne. Nach dem Fall der Mauer relativierte er frühere Aussagen, zog aber bis zu seinem Tode gegen DDR-Forscher ins Feld, die das ostdeutsche Staatswesen als zweite deutsche Diktatur bezeichneten. Mit seinen Schriften prägte er über den Kreis der Germanisten und Deutschlehrer hinaus ein DDR-Bild und den kommunistischen Zweig der französischen DDR-Forschung vor 1990, die Wissenschaftlichkeit in der Regel hinter propagandistische und ideologische Zielsetzungen zurücktreten ließ. Verflochten mit seinen wissenschaftlichen waren seine organisatorischen Aktivitäten, die ihn zu einem wichtigen Ansprechpartner im Rahmen der *auswärtigen Kulturpolitik der DDR machten. Gemeinsam mit dem Germanisten und Kommunisten Émile Bottigelli (1910-1976) gründete er im Jahre 1952 den Cercle Heinrich Heine, der die Wahrnehmung des zweiten deutschen Staates und seiner Kultur fördern wollte und der eigentliche Ausgangspunkt für organisierte kulturelle Kontakte mit der DDR und eine Art Vorgängerorganisation der *EFA war. Das zunehmende Interesse an der DDR nach der Anerkennung durch Frankreich im Jahre 1973 bewog die Gruppe um Badia und Jean Mortier, an der Universität Paris VIII das Laboratoire de recherches Histoire de la RDA zu gründen, das in den folgenden Jahren eine rege Forschungsaktivität entwickelte. Es bildete „eine Art KPFnahe Kontra-Gesellschaft innerhalb der eher konservativ dominierten französischen Germanistik“ (S. Kott), wie auch die ab 1974 von Gilbert Badia publizierte Zeitschrift *„Connaissance de la RDA“ dokumentiert, in der die SED die einzige progressive wissenschaftliche Zeitschrift in Frankreich über die DDR sah. Das Laboratoire stellte jedoch mit der Emeritierung bzw. dem Ableben von Gilbert Badia seine Arbeit praktisch ein, doch ist seine Bibliothek auch heute noch eine wichtige Anlaufstelle für die Erforschung der ostdeutsch-französischen Beziehungen. Die gestiegene Bereitschaft auf französischer Seite zur Rezeption eines deutschen Widerstandes innerhalb der Résistance fand gleichfalls ihren Niederschlag in der von Badia in den 1970er Jahren initiierten Konstitution einer Forschungsgruppe zur deutschen Emigration in Frankreich (Groupe de recherche sur l’émigration), die sich in einer ersten Phase mit der Sammlung von Zeitzeugenberichten und schriftlichen Quellen in Frankreich, der Bundesrepublik und der DDR beschäftigen wollte. Zu ihren Mitgliedern gehörten anfangs in erster Linie der PCF nahestehende Forscher, doch schlossen sich ihr in der Folge auch Vertreter anderer politischer Milieus an. Die Gruppe setzte in der Folge auf die Kooperation mit und die Unterstützung durch das Institut für Marxismus-Leninismus in Ost-Berlin in Form von Hinweisen, Konsultationen und gemeinsamen Publikationen (Dieter Schiller u.a., Exil in Frankreich, Leipzig 1981). Ist bei den Veröffentlichungen der parteiliche Charakter auch nicht zu übersehen, so sind sie doch bis heute einschlägige Werke der Exilforschung. In Verlängerung dieser Forschungen beschäftigte sich Badia in seinen letzten Schaffensjahren mit dem deutschen Widerstand, konnte sich jedoch auch hier nicht mehr gänzlich von kommunistischen Geschichtsmythen frei machen. So ist es nicht abwegig, Badias Wirken mit folgenden Worten zusammenzufassen, welche die DDR bei der Verleihung des Ordens „Stern der Völkerfreundschaft“ im Februar 1976 wählte, den er „in Würdigung des hervorragenden Wirkens des französischen Wissenschaftlers in der Freundschaftsgesellschaft Frankreich-DDR (*Échanges franco-allemands) sowie seiner wissenschaftlichen Arbeiten über Rosa Luxemburg und den revolutionären Kampf der deutschen Arbeiterklasse” (ND, 2.2.1976) erhielt. Sonia Combe, Die DDR-Forschung in Frankreich vor der Wende (1979-1989). Ein Zeitzeugenbericht, in: The International Newsletter of Communist Studies Online, XIV (2008) 21, S. 54-57; Sandrine Kott, Die DDR-Forschung in Frankreich, in: Deutschland Archiv 30 (1997) 5, S. 1029-1031; Jérôme Vaillant, Gilbert Badia: entre médiation et ‚agitation’ au service d’une double cause: antifascisme et (re)connaissance de la RDA, in: Michel Grunewald u.a. (Hg.), Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert - Akademische Wissensproduktion über das andere Land, Bd. 2, Bern 2012, S. 261- 270; Gilbert Badia u.a., Les barbelés de l’exil, Grenoble 1979; ders. u.a., Exilés en France. Souvenirs d’antifascistes allemands émigrés, 1933-1945, Paris 1982; ders., Les Bannis de Hitler: accueil et luttes des exilés allemands en <?page no="117"?> Baier, Lothar B 117 France 1933-1939, Paris 1984; ders., Pierre Lefranc, Un pays méconnu: La République démocratique allemande, Leipzig 1964; ders., Histoire de l’Allemagne contemporaine, Bd. II: 1933-1962, Paris 1962; ders., Histoire de l’Allemagne contemporaine, Bd. 2: La République démocratique allemande, Paris 1987; ders., Ces Allemands qui ont affronté Hitler, Paris 2000. Ulrich Pfeil Baier, Lothar Lothar Baier (1942-2004) war nicht nur ein herausragender Essayist und kritischer Beobachter der westdeutschen Gesellschaft, sondern auch ein genauer Kenner Frankreichs und der französischen Sprache, der die Werke von André Breton, Jean-Paul Sartre, Paul Nizan und Georges Simenon übersetzte. „Un allemand né de la dernière guerre“, überschrieb er 1985 einen seiner Essays, den er auf Französisch verfasste. Trotz der allenthalben gefeierten „institutionalisierten Verständigung der beiden Länder auf politischer und wirtschaftlicher Ebene“ stellte er „zunehmende Unstimmigkeiten und gegenseitiges Misstrauen“ fest und versuchte mit den Missverständnissen aufzuräumen, indem er die Einsichten und das Unbehagen seiner Generation analysierte: Männer und Frauen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgewachsen waren, oft ohne Vater, in einem Land, das sich mühsam aus dem politischen und moralischen Zusammenbruch herausarbeitete. Auch fast 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung hat Baiers Analyse nichts von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt. Er hatte sich jener Zwiespältigkeit einer Generation genähert, deren „zweite Schuld“ mit Ralph Giordano gesprochen in der Verdrängung der in den Jahren des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen, in der Stille und im Vergessen bestand. Lothar Baier wuchs in einem „‚militant’ unpolitischen Milieu auf, das die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung prägte“. Sein Vater war Veteran des Ersten Weltkrieges und Offizier der Wehrmacht, jedoch nie Mitglied der NSDAP gewesen. Seine Zuflucht fand er in der Lektüre von *Bertolt Brecht und Franz Kafka, aber auch bei *Camus, *Sartre und Paul Nizan, dessen Werk „La conspiration“ für ihn eines der wichtigsten Bücher blieb. Während seines Studiums (der deutschen Literatur, Philosophie und Soziologie in Frankfurt/ M.) reiste er oft nach Frankreich, in die USA, nach England und fand in der Literatur seine Lehrmeister, die ihm halfen, ein politisches Bewusstsein zu entwickeln: Alfred Andersch, vor allem aber der Maler und Schriftsteller *Peter Weiss. Einer der Gründe seiner Begeisterung für *Weiss war ein Text in der neuen, wegweisenden von Hans Magnus Enzensberger gegründeten und geleiteten Zeitschrift „Kursbuch“, in dem *Weiss das Thema Auschwitz aufgriff. *Weiss‘ dezidiertes Engagement für den Ostblock, das in Westdeutschland auf scharfe Kritik stieß, teilte Baier jedoch nicht. In den 1960er Jahren bot sich für Baier die Gelegenheit, von der Theorie zur Praxis des Widerstands überzugehen. So weigerte er sich während seines Wehrdienstes an einem Einsatz gegen Demonstranten gegen den Vietnamkrieg teilzunehmen. Daraufhin wurde er offiziell als Wehrdienstverweigerer eingestuft. Er schloss sich der Protestbewegung in Frankfurt/ M. an und demonstrierte friedlich an der Seite von antimilitaristischen Gruppen. Terroristische Aktionen lehnte er entschieden ab. Seit Anfang der 1960er Jahre arbeitete Baier als Journalist und Literaturkritiker. Mit Heinz Ludwig Arnold gründete er die Zeitschrift „Text + Kritik“ und schrieb regelmäßig für „DIE ZEIT“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die er 1984 verließ, um zur (nach dem Modell der französischen „Libération“ gestalteten) neu gegründeten „tageszeitung“ zu wechseln. Darüber hinaus arbeitete er für die „Schweizer Wochenzeitung“, den „Merkur“, das „Kursbuch“ und „Transatlantik“. Seine literarischen und politischen Kolumnen bereicherten die intellektuellen Auseinandersetzungen der 1970er Jahre. Mit klarem Blick, Integrität und Aufrichtigkeit beobachtete und kritisierte er die Entwicklung einer „reuigen“ Linken, die sich aus Opportunismus mit großen Schritten dem Establishment annähert, ohne mit der Wimper zu zucken. Nach einer Auszeit in Südfrankreich Anfang der 1980er Jahre - die er in seinem einzigen Roman „Jahresfrist“ (Le délai, 1985) beschrieb - kehrte er nach Frankfurt zurück und widmete sich wieder verstärkt dem Journalismus. Es erschienen mehrere kritisch-engagierte und gut dokumentierte Analysen der französischen - z.B. „Französische Zustände“ (1982), „Firma Frankreich (1988) - wie der deutschen Gesellschaft - u.a. „Volk ohne Zeit“ (1990), „Die verleugnete Utopie“ (1993) - und der literarischen Szene: „Was wird Literatur? “ (2001). <?page no="118"?> Barenboim, Daniel 118 B Enttäuscht von der Wiedervereinigung, die unter der Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl im Eiltempo durchgesetzt worden war, zunehmend an den Rand gedrängt mit seiner kompromisslosen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft und mehr und mehr in radikaler Distanz zur Postmoderne, verließ er Deutschland 2001, um sich in Montreal niederzulassen, wo er bereits einige Jahre zuvor unterrichtet hatte. Der Aufenthalt in dieser Stadt lieferte ihm Material für das Nachdenken über Kultur und Mehrsprachigkeit in seinem Essay „Ostwestpassagen. Vom Neben- und Miteinander der Sprachen und Kulturen“ und für die Warnung vor den Kollateralschäden der Globalisierung: das Verschwinden von Sprachen und Sprechern sowie von „besonderen Lesarten der Welt, die mit ihnen ausgedrückt wurden“. Lothar Baier hat weder die Anerkennung noch die Auszeichnung erfahren, die sein Werk verdient. Immerhin war er der erste, der 1982 den Jean-Améry-Preis erhielt, mit dem „außergewöhnliche Leistung im Bereich des Essays zu zeitgenössischen Themen“ ausgezeichnet werden. Mit Améry verband ihn vieles: der unbestechlich kritische Blick des Intellektuellen, die Rolle des Vermittlers zwischen den deutsch- und französischsprachigen Kulturen und das Engagement für den Austausch zwischen beiden. Wie dieser litt auch er unter dem Schiffbruch, den die Utopien erlitten hatten und unter dem Exil fern der Heimat. Wie Améry nahm sich auch Lothar Baier das Leben. Er starb im Juli 2004 in Montreal. Nicole Bary Barenboim, Daniel Ab 1975 besetzte der 1942 in Buenes Aires geborene Orchesterchef Daniel Barenboim wichtige musikalische Direktorenstellen in Frankreich und Deutschland, zwei Länder, in denen seine musikalischen Fähigkeiten am besten zum Tragen kamen und kommen. Schon früh neigte Barenboim dem Klavier zu, obwohl zu seiner musikalischen Ausbildung auch die Kammermusik gehörte. Nachdem sich seine Familie 1952 in Israel niedergelassen hatte, nahm er die Staatsbürgerschaft seines neuen Heimatlandes an, auch wenn er die argentinische behielt. Zahlreich waren dann die musikalischen Persönlichkeiten, die es ihm erlaubten, seine musikalische Ausbildung zu vervollständigen: der Pianist Edwin Fischer in Salzburg, der Geiger Enrico Mainardi für die Kammermusik, Nadia Boulanger für die Musiktheorie in Paris sowie Igor Markevitch und Carlo Zecchi (Academia Chigiana - Siena) für den Dirigentenstab. Im gleichen Jahr machte er auch seine ersten eigenen Erfahrungen als Orchesterchef in Haifa. Sein Ruf als Instrumentalist begründete sich ab 1960 mit dem Konzertzyklus der 32 Klaviersonaten von Beethoven, den er in den großen Hauptstädten der Welt präsentierte. Seine Neigungen für die romantische Musik zeigten sich bei den abendlichen Kammerkonzerten, die er nach ihrer Hochzeit im Jahre 1967 gemeinsam mit der Cellistin Jacqueline du Pré bestritt. Sie fanden jedoch im Jahre 1972 ein abruptes Ende, als seine Frau an multipler Sklerose erkrankte und ihre Karriere beenden musste. Er widmete sich daraufhin der Liedbegleitung, eine musikalisch sehr anspruchsvolle Aufgabe, und verzeichnete seine ersten Erfolge als Orchesterleiter: das Philharmonieorchester Israels und das Londoner Symphonieorchester engagierten ihn für ihre Aufführungen und Tourneen. Der Wendepunkt in seiner Karriere trat im Jahre 1975 ein, als er Georg Solti an der Spitze des Orchestre de Paris nachfolgte. Das nach der 1967 erfolgten Auflösung des Orchestre de la société des concerts du conservatoire gegründete Orchester hatte vor ihm bereits vier Musikdirektoren gezählt (Charles Münch, Serge Baudo, Herbert von Karajan und Georg Solti); mit der Ära Barenboim begann aber nun eine Phase der Kontinuität (bis 1989), in der das Orchester seinen großen Ruf begründete und Barenboim die Initiative zur Gründung des Orchesterchors ergriff (1976), der sich aus erprobten Amateuren zusammensetzte. Dieses Ensemble trat von nun an gemeinsam mit dem Orchestre de Paris bei der Präsentation großer Chorwerke auf. Wieder einmal fand die romantische Musik in Barenboim ihren Meister, vor allem in den groß angelegten Symphonien von Anton Bruckner, deren geistige Tiefen und „schwebenden Stillen“ er dem französischen Publikum nahe brachte. In all diesen Jahren entwickelte Barenboim eine Sensibilität für den interkulturellen Dialog, die sich im weiteren Verlauf seiner Karriere noch verstärkte: nach einem nur kurzen Aufenthalt an der <?page no="119"?> Bary, Nicole B 119 gerade fertiggestellten Opéra Bastille in Paris übernahm er 1991 die Leitung des Symphonieorchesters von Chicago, wo er - wie schon beim Orchestre de Paris - Georg Solti nachfolgte. Im Jahre 2006 verließ er es, um als musikalischer Leiter an die Berliner Staatsoper Unter den Linden zu gehen. Hier programmierte er die Opern von Richard Wagner, die er ebenfalls im Pariser Théâtre du Châtelet vorstellte. In Deutschland mag diese Auswahl durch einen Israeli überraschen, doch stellte sie in Israel selber eine wahre Herausforderung dar, wo der deutsche Komponist zum damaligen Zeitpunkt noch mit einem Tabu belegt war. Wer dieses durchbricht, kann damit rechnen, auf der ersten Seiten der israelischen Zeitung zu landen, wie Barenboim im Sommer 2000 erfahren musste, als er versuchte, es stillschweigend zu durchbrechen und damit einen öffentlichen Protest auslöste. Indem er diesen Tabubruch beging, brachte er zugleich seine Auffassung zum Ausdruck, dass den Gefühlen der Holocaustüberlebenden zu lange große Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde und dass ein „weiter so“ sowohl einer Beeinträchtigung seiner Karriere als auch einer Beleidigung der Künste gleichkomme. Wagner in Israel zu spielen, war für Barenboim ein notwendiger Schritt, um die Annäherung von Israelis und Palästinensern über die Musik zu befördern. Diesem Zweck diente auch die Gründung des Orchesters des West-östlichen Divans, das sich aus jungen Musikern aus dem Mittleren Osten zusammensetzt. Versöhnung durch Musik kann somit als die eigentliche Vorgehensweise Barenboims bezeichnet werden. Daniel Barenboim, La musique éveille le temps, Paris 2008. Robert Weeda Bary, Nicole Die 1939 geborene Nicole Bary ist eine der wichtigsten französischen Mittler deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Ihr Vater entdeckte Deutschland als französischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg und war nach 1945 immer darauf bedacht, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Deutschen und dem NS-Regime zu machen. Über den Beginn ihres Interesses für Deutschland schrieb Bary einmal: „Mein Vater hatte mich in einer Klasse eingeschrieben, in der man Deutsch als erste Fremdsprache lernte, denn man muß verstehen , sagte er”. Bary studierte Germanistik an der Sorbonne und in München und unterrichtete von 1965 bis 1979 Deutsch in Grenoble. Gelangweilt vom Schulalltag an einem Provinzgymnasium initiierte sie zusammen mit dem Maler Arcabas ein Festival der Malerei und Musik in Chartreuse, das sie vier Jahre lang leitete. 1980 ging sie nach Paris und gründete dort die deutsche Buchhandlung (*Deutsche Buchhandlungen in Paris) Le Roi des Aulnes (Erlkönig) am Boulevard Montparnasse, die ein weites Panorama der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart bot - sowohl in Originalausgaben als auch in französischer Übersetzung. Ein Jahrzehnt lang war diese kleine Buchhandlung Treffpunkt all derer, die sich in Paris für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur interessierten. Dutzende von deutschsprachigen Autoren wurden von Bary eingeladen, um aus ihren Büchern zu lesen, so u.a. Paul Nizon, Urs Widmer, Stephan Hermlin, Joachim Schädlich, Peter Härtling, F.C. Delius, Reinhard Priessnitz, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Herta Müller, Christa Wolf, Stefan Heym, Volker Braun, *Lothar Baier, Christoph Hein. Manchmal waren mehr Menschen auf dem breiten Bürgersteig versammelt als im Laden selbst. Im Jahr 1983 gründete Nicole Bary den „Verein der Freunde des Erlkönigs“, Les Amis du Roi des Aulnes, der den gleichnamigen Buchladen überlebte und auch heute noch existiert. Ziel dieses Vereins ist die Verbreitung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in Frankreich mittels Treffen, Lesungen und Kolloquien. Nach und nach wurde Bary auf diese Weise zu der französischen Ansprechpartnerin für deutschsprachige Gegenwartsliteratur in Frankreich. Wiederholte Male war sie literarische Beraterin des Centre national du livre und des Ministère de la culture et de la communication oder der Frankfurter Buchmesse, um große literarischen Veranstaltungen zu organisieren, die deutschsprachige Autoren in Frankreich ins Zentrum rückten: 1987 die Autoren der DDR, 1989 die der Bundesrepublik, 1991 die österreichischen Autoren. 2001 wandte man sich erneut an sie, als die deutschen Schriftsteller Ehrengäste des Salon du livre in Paris waren. Ihre Laufbahn als Übersetzerin begann Ende der 1980er Jahre als Bary das Werk von Herta Müller entdeckte und für die - deutschstämmige - Verlegerin Maren Sell „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“ übersetzte. Regelmäßig moderiert und übersetzt sie <?page no="120"?> Bataillon, Michel 120 B Autorenlesungen im *Goethe-Institut, im Pariser *Heinrich-Heine-Haus, im Haus Rheinland-Pfalz in Dijon, im Centre Georges Pompidou oder in der Maison des écrivains in Paris. Darüber hinaus ist sie auch als Herausgeberin tätig. So editiert Nicole Bary seit Anfang der 1990er Jahre „LITTERall“, eine jährlich erscheinende Anthologie deutscher Literatur in französischer Übersetzung. Außerdem leitete sie beim Straßburger Verlag La Nuée bleue von 1987 bis 1992 die deutsche Reihe und ist seit 1992 beim Verlag Métailié tätig, wo sie bereits mehr als zwanzig deutschsprachige Schriftsteller wie Galsan Tschinag, Angela Krauß, Saïd, Marcel Beyer, Lenka Reinerova und viele andere in „La Bibliothèque allemande” veröffentlicht hat. Sie hat Artikel zur deutschen Literatur in Zeitschriften und Zeitungen wie *„Documents“, „Le Magazine littéraire“, „Le Monde“, „Libération“, „Germanica“, „Art Press“, „Lendemains“, „Europe“ veröffentlicht und in zahlreichen Gremien gewirkt (*DFJW etc.); 2011 hob sie ein neues (jährlich stattfindendes) Literaturfestival in Aix-en-Provence aus der Taufe. Als Mittlerin und Übersetzerin ist sie vielfach mit Preisen und Orden ausgezeichnet worden, darunter 2008 mit dem Eugen-Helmlé-Preis. Die Qualität ihrer Übersetzungen beruht zum einen auf der genauen Kenntnis der komplexen Realität der deutschsprachigen Länder, zum anderen aber auf ihren engen Beziehungen mit zahlreichen Autoren wie Christoph Hein, der verstorbenen Christa Wolf und Herta Müller. Alain Lance Bataillon, Michel Der 1939 in Paris geborene Germanist, Dramaturg und Übersetzer Michel Bataillon gehört seit den 1960er Jahren als einer der wichtigen französischen Spezialisten für deutsche Theaterliteratur und „antenne chercheuse du théâtre“ (*André Gisselbrecht) zu den zentralen Gestalten des deutsch-französischen Theateraustauschs. Bereits auf dem Lycée Louis-le-Grand in Paris lernte Bataillon Jean-Pierre Vincent und *Patrice Chéreau kennen und begann sich für das Theater zu interessieren. Er studierte Germanistik an der Sorbonne und ging wie *Bernard Sobel in die DDR, wo er als französischer Fremdsprachen- Lektor zur Zeit von Hans Mayer an der Karl- Marx-Universität in Leipzig tätig war. 1964 begann er im Pariser Arbeitervorort Aubervilliers als Mitarbeiter von Gabriel Garran zu arbeiten, der dort gerade das Théâtre de la Commune gegründet hatte. Bataillon übersetzte u.a. *Peter Weiss und *Bertolt Brecht, später dann *Heiner Müller sowie Lothar Trolle. Herauszuheben ist Bataillons oft unterschätzte Bedeutung bei der Entdeckung *Peter Weiss‘ in Frankreich in Kooperation mit *André Gisselbrecht, der die ins Französische übertragene Textvorlage für die französische Erstaufführung der „Ermittlung“ lieferte - obwohl die offizielle Übersetzung der Gallimard- Ausgabe des Stückes aus der Feder von *Jean Baudrillard stammte. 1969 übersetzte Bataillon dann *Weiss‘ „Wie dem Herrn Mockinpott das Leiden ausgetrieben wird“, das Garran ebenfalls in Aubervilliers zur Aufführung brachte. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Bataillons Zusammenarbeit mit dem *Berliner Ensemble (BE), aus der sich zahlreiche künstlerische und intellektuelle Kontakte nach Deutschland ergaben. So lud in der Spielzeit 1970/ 71 aufgrund seiner sowie Garrans Initiative der spätere Minister (PCF) und stellvertretende Bürgermeister von Aubervilliers, Jack Ralite, das *BE zum 100. Jahrestag der Pariser Kommune in die Banlieue-Theater in Aubervilliers, Nanterre und Saint-Denis ein. Gezeigt wurden die *Brecht-Stücke „Die Tage der Kommune“, „Die Mutter“ sowie „Der Brotladen“, das letztere unter der Regie des jungen Regie-Duos Manfred Karge und *Matthias Langhoff. Ein Jahr später engagierte Bataillon die beiden deutschen Regisseure, das Stück in Aubervilliers auf Französisch zu inszenieren - wenngleich mit mäßigem Erfolg. Im gleichen Jahr holte Roger Planchon Bataillon als secrétaire général an das Théâtre national populaire in Villeurbanne - ein Posten, den er fast 30 Jahre lang bekleidete und ihn zu einem der wichtigsten Multiplikatoren im deutsch-französischen Theaterfeld werden ließ. Denn obgleich sich Planchon selber als Regisseur seit den 1960er Jahren kaum noch für deutschsprachige Autoren interessierte, blieb sein Spielplan eng mit dem deutschen Theater verbunden. Nicht nur die aufsehenerregende Inszenierung von Karge und *Langhoff des „Prinzen von Homburg“ (1983) ist hier zu nennen, sondern auch die zahlreichen Gastspiele *Pina Bauschs mit ihrem Wuppertaler Tanztheater. Neben *Patrice Chéreau, der in den frühen 1970er Jahren als Hausregisseur und <?page no="121"?> Baudrillard, Jean B 121 stellvertretender künstlerischer Leiter in Villeurbanne tätig war, spielte Bataillon eine zentrale Rolle: So lud er beispielsweise 1976 Karge und *Langhoff, mit denen er seit dem Gastspiel des BE in Paris 1971 in engem Kontakt stand, mit ihrer Inszenierung der „Schlacht“ von *Heiner Müller auf die Fête de l’Humanité ein - woraus sich in den folgenden Jahren eine enge Zusammenarbeit mit den beiden Regisseuren sowie Heiner Müller in Villeurbanne ergab. Darüber hinaus war Michel Bataillon seit den 1990er Jahren Präsident der *Maison Antoine Vitez, Vorsitzender der für die aide à la création théâtrale zuständigen Kommission im französischen Kulturministerium sowie Mitglied des *Deutsch- Französischen Kulturrates. Nicole Colin, Deutsche Dramatik in Frankreich. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer, Bielefeld 2011. Nicole Colin Baudrillard, Jean Der in Reims geborene Jean Baudrillard (1929- 2007) ist als Soziologe, Kulturkritiker, Vordenker der Postmoderne und Medientheoretiker international bekannt geworden und hat auch auf die deutsche Medienwissenschaft nachhaltigen Einfluss genommen. Er hat mit seinen Schriften immer wieder zu aktuellen politischen Themen (Golfkrieg, Attentate vom 11. September 2001 usw.) Stellung bezogen und schwankte dabei in seiner Haltung zwischen engagierter intellektueller Kritik und provozierenden Clownesken, wie Jürgen Ritte in seinem Nachruf in der „Neuen Zürcher Zeitung“ schrieb. Er studierte Germanistik (u.a. bei *Gilbert Badia) und begann seine Karriere zunächst als Deutschlehrer und Übersetzer. Er übertrug - unter anderem im Auftrag von Robert Voisin vom Verlag *L’Arche - Werke von Karl Marx und Friedrich Engels, von *Bertolt Brecht und vor allem von *Peter Weiss ins Französische. 1968 promovierte er in Soziologie bei Henri Lefebvre mit der Arbeit „Les choses“ („Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen“). Seither lehrte er an der Universität Nanterre (damals Paris X, heute Université Paris Ouest) *Philosophie und *Soziologie. Er hinterließ ein ebenso vielfältiges, wie schwer zu klassifizierendes Werk, das neben umfangreichen wissenschaftlichen Ausarbeitungen zahlreiche, oft programmatische Essays umfasst, in denen er sich zu einer breiten Palette von Themen äußert, von persönlichen Amerikaeindrücken bis hin zur fortwährenden Auseinandersetzung mit der von technischen Medien geprägten Bildästhetik oder Reflexionen zum politischen Selbstverständnis der Linken. In Deutschland bekannt wurde Baudrillard vor allem durch seine Gesellschafts- und Kulturkritik, seine Medientheorie und seine Arbeiten zum Terrorismus, die seit den 1970er Jahren übersetzt und in hohen Auflagen vor allem über den *Merve Verlag Verbreitung fanden. Für die deutsche Diskussion wurde sein medientheoretischer Ansatz durch Essays wie „Requiem für die Medien“ (1972), „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“ (1978) oder „Agonie des Realen“ (1978) bedeutsam. Darin beschreibt Baudrillard, wie durch die Medien die Realität durch eine „Hyperrealität“ ersetzt wird, d.h. eine „Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen“ stattfindet. Verkürzt gesagt kritisiert Baudrillard, dass Medien sich nur noch auf Medien beziehen, dass Medien kein wirkliches „Ereignis“ mehr bearbeiten, sondern nur noch Medienereignisse (mithin selbst Geschichte nur noch zum medialen Ereignis werde wie z.B. die rumänische Revolution), dass die Medien eine Simulation der Wirklichkeit kreieren, die unser Denken über die Wirklichkeit beherrscht. Inspiriert von Henri Lefebvre entwickelt Baudrillard in seinen frühen Schriften, z.B. in „Der symbolische Tausch und der Tod“ (1976) eine Theorie des symbolischen Austauschs einer konsumorientierten Gesellschaft. Seine Hauptthese ist dabei zugleich Gesellschafts- und Kulturkritik: Die Zeichen verweisen unter den Bedingungen des kapitalistischen Systems nicht mehr auf das Bezeichnete, sondern verselbständigen sich im Zeichengebrauch, d.h. sie verlieren in der alltäglichen Zirkulation ihre Referenz und damit auch einen Bezug zu den wahren Bedürfnissen der Menschen. Mit diesem Ansatz gilt er zugleich auch als Mitgründer eines postmodernen Denkens, das ein Verschwinden des Realen zugunsten von Simulation und Hyperrealität behauptete - und oft Anlass für Missverständnisse seiner Kritiker wurde, die ihm unterstellten, er hätte das Entstehen einer zweiten, von einer wirklichen Wirklichkeit unabhängigen Realität behauptet. Seit den Anschlägen vom 11.9.2001 befasste sich Jean Baudrillard verstärkt mit dem Phänomen des Terrorismus, den er als Rückstoß- <?page no="122"?> Bausch, Pina 122 B effekt eines nach Perfektion strebenden Systems der Integralen Realität interpretiert. Der Essay „Der Geist des Terrorismus“ (2001) brachte ihm vor allem in den USA viel Kritik ein, traf aber in der europäischen Debatte durchaus einen wunden Punkt, da die Antwort auf den Terrorismus kaum allein nur in der weiteren Aufrüstung, Abschottung und Perfektionierung des Systems gesehen werden kann. Denn, wie er in einem seiner letzten Essay-Bücher vor seinem Tod - „Die Intelligenz des Bösen“ (2006) - zeigte, fordert dies die Gegenkräfte nur um so mehr heraus. Falko Blask, Baudrillard zur Einführung, Hamburg 1995; Ralf Bohn, Dieter Fuder (Hg.), Baudrillard - Simulation und Verführung. München 1994; Jochen Venus, Referenzlose Simulation? Argumentationsstrukturen postmoderner Medientheorie am Beispiel von Jean Baudrillard, Würzburg 1997; Peter Gente, Barbara Könches, Peter Weibel (Hg.), Philosophie und Kunst - Jean Baudrillard, Berlin 2005. Thomas Weber Bausch, Pina Die in Solingen geborene Pina Bausch (1940- 2009) hat mit dem Wuppertaler Tanztheater in mehr Ländern der Welt gastiert und mehr bilaterale Koproduktionen auf vier Kontinenten kreiert als irgendeine andere deutsche Choreographin. Doch auch wenn sie ihre ersten beruflichen Erfahrungen in New York machte und regelmäßig Italien, die Niederlande, Spanien, Portugal und Südamerika bereiste, hat sie in keiner anderen Stadt eine so lebendige zweite künstlerische Heimat gefunden wie in Paris und dem dortigen Théâtre de la Ville. „Blaubart“ bildete 1979 den Auftakt ihrer regelmäßigen jährlichen Gastspiele, die auch über ihren Tod hinaus von ihrer Compagnie fortgesetzt werden. Von Anfang an hat Pina Bausch engste Freundschaften nach Frankreich gepflegt: Der allererste Gastspielort des Wuppertaler Tanztheaters im Mai 1977 war das Festival de Nancy mit „Die Sieben Todsünden“; der erste Gastgeber war der spätere französische Kulturminister *Jack Lang, der sie 1991 zum Commandeur de l’ordre des arts et des lettres ernannte; Jean Cebron, Malou Airaudo, Gérard Violette und der Pariser Tanzagent Thomas Erdos prägten sie auch künstlerisch; Dominique Mercy wurde nach ihrem Tod der künstlerische Leiter der Tanzcompagnie. Bei den Welttheatertagen in Nancy hatte im Mai 1980 das legendäre Stück „Café Müller“ sein erstes ausländisches Gastspiel und das „deutsche Tanztheater“ als weltweites Markenzeichen des Wuppertaler Ensembles erhielt im Februar 1991 zum ersten Mal Bühnenrecht an der Opéra Garnier, wo Pina Bausch etwas später mit dem Opernensemble als historisch bedeutsame Filmaufzeichnung „Le Sacre du Printemps“ erarbeitete. Nach ihrem Tanzdiplom an der Folkwangschule in Essen begann Pina Bausch eine Ausbildung an der Juillard School of Music in New York und nicht zufällig ist der einzige mit Pina Bausch vergleichbare radikale Bruch mit der Balletttradition mit dem Namen eines amerikanischen Choreographen, Merce Cunningham, verbunden. Wie Pina Bausch hat auch Maurice Béjart sein Ensemble umbenannt, bezeichnenderweise aber nicht in Tanztheater, sondern in das Ballet du XX e siècle. Merce Cunningham und Pina Bausch wagten hingegen einen radikaleren Bruch mit der Tanztradition, beide hatten mit John Cage und Rolf Borzik bzw. Peter Pabst kongeniale Partner, ohne die ihr Schaffen nicht denkbar ist. Bei Pina Bausch ist Tanzen nicht mehr wie im Ballett elegantes Divertissement oder romantisches Schwelgen in einer Märchen- und Feenwelt, sondern das Alltagslied und -leid von Liebe und Hass, Sehnsucht und Trauer, Freude und Schmerz, Angst und Hoffnung, Gewalt und Zärtlichkeit, Ausbeutung und Großzügigkeit, Kindheit und Tod, wobei in vielen Stücken die Geschlechterbeziehung von Mann und Frau zentral ist. Der menschliche Körper bewegt sich nicht in Idealrollen und gemäß einem Regelwerk, sondern je individuell und als spontane Gruppe. Die Tänzer schlüpfen nicht mehr in Rollen oder Hierarchien als petits rats, coryphées, petits sujets, grands sujets, solistes, étoiles wie beim Ballett, sondern treten mit ihrer ganzen individuellen Körpergeographie und -biographie aus ihnen heraus und „zeigen ihre Wunden“ (Joseph Beuys). Gesprochen wird in allen Sprachen der Erde und die Ballettmusik besteht neben klassischen Kompositionen aus Collagen von Schlagern der 1920er Jahre, Volksmusiken, Rock, Jazz und Musik aus der ganzen Welt. Auf die Starsolisten wird weitgehend verzichtet, das Ensemble, das corps de ballet , das Wuppertaler Tanztheater insgesamt und jedes einzelne Mitglied sind der Star. Mit ihnen - den Bühnenbildnern, Musikarrangeuren, Kostümdesignern oder eben Tänze- <?page no="123"?> Beckett, Samuel B 123 rinnen und Tänzern - hat Pina Bausch teilweise über Jahrzehnte zusammengearbeitet. Die Quintessenz ihrer Arbeit lautete: „Was die Menschen bewegt, weniger wie die Menschen sich bewegen, interessiert mich. Die Schritte sind immer anderswo hergekommen, nie aus den Beinen.“ Jochen Schmidt, Tanzen gegen die Angst: Pina Bausch, München 1999; Maarten Vanden Abeele, Pina Bausch: Photographies, Paris 1996; Norbert Servos, Pina Bausch: Das Wuppertaler Tanztheater oder die Kunst, einen Goldfisch zu dressieren, Velber 1996; Guy Delahaye, Pina Bausch: Photographies, Paris 1986. Georg Lechner Bayerisch-Französisches Hochschulzentrum (BFHZ) Centre de coopération universitaire franco-bavarois (CCUFB) Mit der Gründung von bislang sechs Hochschulzentren setzt Bayern im Rahmen der internationalen Hochschul- und Forschungszusammenarbeit auf eine Strategie der regionalen Privilegierung. Als erstes Hochschulzentrum wurde 1998 das BFHZ als gemeinsame Einrichtung der Technischen Universität München und der Ludwig- Maximilians-Universität München gegründet. Das Zentrum dient heute als Internationalisierungsinstrument für alle bayerischen Universitäten und Hochschulen sowie für alle französische Hochschulen und grandes écoles . Seine Tätigkeitsbereiche umfassen u.a. ein weitreichendes Beratungsangebot für Studierende, Wissenschaftler und Hochschulen, die Förderung und Begleitung von Kooperationsprojekten bayerischer und französischer Hochschulen in Lehre und Forschung sowie die Förderung von Auslandsstudien- und Forschungsaufenthalten von Studierenden und schließlich die Durchführung von Veranstaltungen im deutschfranzösischen Kontext. Geleitet wird das Zentrum von einem Vorstand, der aus vier Vertretern der Universitäten Münchens, zwei Vertretern der Konferenzen der französischen Universitäten und grandes écoles und je einem Vertreter des Bayerischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst und der französischen Botschaft besteht. Der Vorstand wird in seiner Tätigkeit von einer Geschäftsstelle mit Sitz an der TU München unterstützt, in deren unmittelbarer Nähe sich ein Bureau de coopération universitaire befindet. Finanziell wird das Zentrum durch das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst und durch das französische Außenministerium getragen. Das Förderprogramm konzentriert sich hauptsächlich auf zwei Projekttypen: Zum einen Initialförderungen für Vorhaben, die ein Entwicklungspotential zu umfangreicheren deutschfranzösischen Kooperationsprojekten haben. In der Vergangenheit konnten so zahlreiche Projekte etabliert werden, die im Anschluss an eine Förderung des BFHZ durch die Europäische Union, hochschulinterne Mittel oder durch anderweitige Fördergeber finanziert wurden. Neu hinzugekommen sind insbesondere Vorbereitungsmaßnahmen zur Antragstellung im Rahmen der *ANR-DFG-Ausschreibungen. Ein besonderes Augenmerk gilt in diesem Programm der Einbeziehung von jungen Forschern und Forscherinnen. Zum anderen unterstützt das Hochschulzentrum den Anschub neuer Kooperationsformen, die der Festigung und engeren Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Forschergruppen dienen. Hervorzuheben sind hier insbesondere Vorhaben in der Lehre, z.B. der Aufbau neuer integrierter Studiengänge. Das BFHZ konnte seit seiner Gründung im Jahr 1998 jährlich ca. 50 Anschubfinanzierungen für bilaterale Kooperationen in Bereich der Lehre und Forschung vergeben. Der Mittelwert der Förderung betrug ca. 3 000 Euro. Die Fördersumme umfasst Mobilitätsbeihilfen für Nachwuchswissenschaftler und Hochschullehrer, jedoch keine Infrastrukturmittel. Zudem unterstützt das Zentrum jährlich ca. 40 Studierende aus Frankreich bzw. Bayern. Axel Honsdorf Beckett, Samuel Kaum jemand vermutet, dass der 1906 in Dublin und 1989 in Paris gestorbene Samuel Beckett, der seine Werke auf Englisch oder Französisch verfasste, als Regisseur seine Werke vor allem in deutscher Sprache in der Bundesrepublik inszenierte: In Berlin brachte er sieben seiner Stücke in der Werkstatt des Schiller-Theaters (1967- 1978) auf die Bühne, und in Stuttgart, in den Aufnahmestudios des Süddeutschen Rundfunks (SDR), führte er bei den Dreharbeiten seiner <?page no="124"?> Beckett, Samuel 124 B sechs für das Fernsehen geschriebenen Stücke selbst Regie (1966-1986). Bezüglich Becketts Verhältnis zu Deutschland erklärte der irische Schauspieler Jack MacGowran: „Germany adores him; Germany pulls out every tragic note“. Das ist auch in umgekehrte Richtung zutreffend, da Beckett großes Interesse für die deutsche Kultur hegte und in ihr so manche Inspirationsquelle für sein dichterisches, stets von Tragik gekennzeichnetes Schaffen entdeckte. Seine Annäherung an Deutschland verdankte er zwei Frauen: seiner Grundschullehrerin, die ihm außer Französisch auch einige Wörter Deutsch beibrachte, und Peggy Sinclair, seine Cousine, in die er sich als 22-Jähriger verliebte und die er zwischen 1928 und 1932 regelmäßig in Kassel besuchte. Von Ende September 1936 bis Anfang April 1937 unternahm der Schriftsteller eine Deutschlandreise und erkundete insbesondere die Museen. In der Dresdner Galerie Neue Meister studierte er eingehend Caspar David Friedrichs Gemälde „Zwei Männer betrachten den Mond“, dessen Gestalten später als Wladimir und Estragon zum bekanntesten Duo des Nachkriegstheaters wurden. In jenen Jahren eignete sich Beckett die deutsche Sprache selbst an und beherrschte sie später fließend. Die Kontaktaufnahme zwischen dem Dramatiker und der Berliner Theaterszene ist auf sein Erfolgsstück „Warten auf Godot“ (1952) zurückzuführen, durch das der zuvor unbeachtet gebliebene Schriftsteller über Nacht bekannt wurde. Nach der Generalprobe des Stücks im Pariser Théâtre de Babylone übertrug es *Elmar Tophoven ins Deutsche, woraufhin Albert Bessler, Chef-Dramaturg der Staatlichen Schauspielbühnen Berlin, es auf den Spielplan der Berliner Festwochen setzte. Boleslaw Barlog, Intendant der Berliner Staatlichen Schauspielbühnen, war bereits nach der deutschen Premiere von „Warten auf Godot“ im Schlosspark-Theater (8.9.1953) von der Beckettschen Ästhetik begeistert und sicherte für das Schiller- Theater die Rechte der deutschen Uraufführungen der Stücke „Das letzte Band“ (28.9.1959) und „Glückliche Tage“ (30.9.1961). Becketts erste direkte Teilnahme erfolgte im Februar 1965, als er dem Probenverlauf der neuen Produktion von „Warten auf Godot“ (Premiere am 25.2.1965) unter der Leitung von Deryk Mendel beiwohnte. Becketts persönliche Mitwirkung veranlasste Barlog, dem Autor selbst die Inszenierung seiner Werke zu überlassen. Zwischen den Jahren 1967 und 1978 inszenierte Beckett in der Werkstatt des Schillertheaters „Endspiel“ (Premiere am 26.9.1967), „Das letzte Band“ (5.10.1969), „Glückliche Tage“ (17.9.1971), „Warten auf Godot“ (8.3.1975), „Damals“ und „Tritte“ (1.10.1976) sowie „Spiel“ (6.10.1978). Gemeinsam mit Rick Clucheys San Quentin Drama Workshop führte er außerdem „Das letzte Band“ (27.9.1977) und „Endspiel“ (16.9.1978) an der Akademie der Künste und in der St. Matthäuskirche im Tiergarten auf. Die deutsche Sprache spielte bei Becketts Regiearbeit eine grundlegende Rolle. Aufgrund seiner Sensibilität für Melodik und seines erstaunlichen Sprachgefühls schien er ein „unbequemer Regisseur“ zu sein - so Michael Haerdter, Becketts Regieassistent bei „Endspiel“: „‚Sie haben ein ‚ja‘ vergessen‘, unterbricht er einmal. Er beherrscht den deutschen Text bis in die Wortstellungen, in Interjunktionen hinein“. Der Autor achtete auch darauf, dass die Übersetzung des englischen Textes dem deutschen Wortklang gerecht wird, wie bei Luckys Monolog in „Warten auf Godot“: „Statt ‚von der anthropopopopometrischen Akakakakakademie’ sollte es ‚von der Akakakakademie der Anthropopopometrie’ heißen. Die Umstellung habe lediglich musikalische Gründe“, lautet der Bericht des Regieassistenten Walter D. Asmus. Auch während der Dreharbeiten im Stuttgarter SDR überprüfte der Schriftsteller systematisch die deutschen Fassungen seiner Fernsehstücke. Noch bevor Beckett „Hausheiliger“ des Schiller- Theaters wurde, wie Barlog ihn zu bezeichnen pflegte, hatte der Direktor des SDR Reinhart Müller-Freienfels dem Autor die Regie seines ersten Fernsehstückes „Hey Joe“ anvertraut (Erstsendung am 13.4.1966). Beckett überarbeitete die deutsche Fassung von Erika und *Elmar Tophoven Wort für Wort, Silbe für Silbe und verweigerte den Darstellern jegliche Textänderung - was zu heftigen Unstimmigkeiten mit dem Schauspieler Deryk Mendel führte. Fünf weitere Dreharbeiten fanden in dem Stuttgarter Aufnahmestudio statt: „Hey Joe“ (2. Fassung, am 13.9.1979 übertragen), „Geistertrio“ und „... nur noch Gewölk ...“ (zusammen mit „Not I“ am 1.11.1977 gesendet), „Quadrat I und II“ (13.4.1981), „Nacht und Träume“ (19.5.1983) sowie die Verfilmung des Theaterstücks „Was wo“ (13.4.1986). <?page no="125"?> Bellmer, Hans B 125 Freundschaftliche Beziehungen zu den Mitarbeiten des Schiller-Theaters und des SDR sowie die künstlerische Freiheit, die man Beckett dort gewährte, trugen dazu bei, dass der Dramatiker den Probenraum in Berlin und das Aufnahmestudio in Stuttgart immer wieder aufsuchte. „I recall with nostalgia those happy and exciting days when I met with such friendship and indulgence and learnt so much about theatre in general and about my own plays“, schrieb der Autor dem Schiller-Theater im Juli 1985 und dem Direktor des SDR soll er mitgeteilt haben: „We do it to have fun together! “ Klaus Völker (Hg.), Beckett in Berlin: zum 80. Geburtstag, Berlin 1986; Mel Gussow, Conversations with and about Beckett, New York 1996; James Knowlson, Damned to Fame. The life of Samuel Beckett, London/ Berlin/ New York 1996; Reinhart Müller-Freienfels, Erinnerung an Samuel Beckett beim SDR, in: Hermann Fünfgeld (Hg.), Von außen besehen. Markenzeichen des Süddeutschen Rundfunks, Stuttgart 1998, S. 403-425; Therese Fischer-Seidel (Hg.), Der unbekannte Beckett: Samuel Beckett und die deutsche Kultur, Frankfurt/ M. 2005; Erika Tophoven, Becketts Berlin, Berlin 2005. Marie-Christine Gay Bellmer, Hans Der 1902 im schlesischen Kattowitz geborene Zeichner und Fotograf Hans Bellmer zählte zu jenen deutschen Emigranten, die während des Zweiten Weltkriegs aufgrund ihrer deutschen Herkunft nicht auf Anhieb eine Wahlheimat in Frankreich fanden. Bellmer wirkte als Heimatloser, der in beiden Staaten wie ein unerwünschter Fremdling angesehen wurde: Als „entarteter Künstler“ in Deutschland stigmatisiert, als „Nazi-Deutscher“ in Frankreich interniert, ließ er sich nach Kriegsende dauerhaft in Frankreich nieder, wo er 1975 starb. Sein künstlerisches Werk, das dem Surrealismus zugeordnet werden kann, fand zuerst in Frankreich Beachtung, bevor es Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch von einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland wahrgenommen wurde. Die späte Anerkennung seines Werkes in Deutschland ist zum einen sicherlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass Bellmer zwischen zwei Kulturen lebte und nirgendwo die Anerkennung fand, die sesshaften, akademietreuen Künstlern zuteil wird, zum anderen aber auch darauf, dass sein Werk im Nachkriegsdeutschland anfänglich nur auf die erotischen Phantasien eines Besessenen reduziert wurde. Bellmer durchlebte eine Kindheit, die geprägt war von der Gegensätzlichkeit der Charaktere einer sensiblen Mutter und eines autoritären, bisweilen tyrannischen Vaters. Aus Furcht vor der Strenge seines Vaters folgte er nach bestandenem Abitur dessen Wunsch und arbeitete drei Jahre lang in einem Kohlebergwerk des oberschlesischen Steinkohlebeckens. Sein Vater erhoffte sich von dieser erzieherischen Maßnahme den rebellischen Charakter seines Sohnes zu brechen. Erste künstlerische Arbeiten fielen in diese Periode. 1923 nahm Bellmer, erneut auf Geheiß seines Vaters, an der Technischen Hochschule in Berlin das Ingenieurstudium auf. Dort lernte er George Grosz, Helmut Herzfeld (alias John Heartfield) und Rudolf Schlichter kennen, der Umgang mit ihnen überzeugte ihn, seinem künstlerischen Schaffensdrang zu folgen. Nach nur einem Jahr brach er sein Studium ab. In den folgenden Jahren verdiente er seinen Unterhalt als Buchdrucker und Illustrator für den Berliner Malik-Verlag, der sich auf politische und ästhetische Avantgardekunst sowie kommunistische Literatur spezialisiert hatte. Mitte der 1920er Jahre reiste Bellmer zum ersten Mal nach Paris, arbeitete dort als Grafiker und verkehrte im Umfeld der Surrealisten, ohne jedoch wirklich der Bewegung um André Breton anzugehören. 1928 heiratete er Margarete Schnell und kehrte mit ihr nach Deutschland zurück, wo er bis 1933 in Berlin ein eigenes Atelier als Werbegrafiker unterhielt. Bellmer besuchte in dieser Zeit Lehrveranstaltungen am Bauhaus und unternahm ausgedehnte Reisen nach Italien und Tunesien. Aus Protest gegen die Machtergreifung der Nationalsozialisten beschloss Bellmer 1933 seine Arbeit als Werbegrafiker einzustellen, um jegliche dem NS-Staat nutzbringende Tätigkeit zu verweigern. Sein Berliner Atelier für Werbegrafik gab er auf und vertiefte sich in die Konstruktion artifizieller, mädchenhafter Puppen, deren Körper und Fragmente er aus Schaufensterpuppen, Holz, Kugelgelenken, Metallteilen und Gips anfertigte, bevor er sie in unterschiedlichen, häufig lasziven Posen inszenierte und fotografierte. Mit diesen „skandalösen“ Traumbildern, in denen er libidinöse Phantasien künstlerisch sub- <?page no="126"?> Benoin, Daniel 126 B limierte und ihnen zugleich Gestalt verlieh, protestierte er gegen eine, wie er befand, per se „skandalöse Welt“. Bereits als Zwanzigjähriger war er aufgrund des provozierenden Charakters seiner ersten ausgestellten Zeichnungen vorübergehend festgenommen worden. Neben einem umfangreichen zeichnerischen Werk bildeten diese Puppendarstellungen das Kernstück des Bellmerschen Schaffens, die in unterschiedlichen Zeitabständen immer wiederkehrten. Ihre erste Veröffentlichung erfolgte 1934 im Eigenverlag. Das Buch „Die Puppe“ erschien mit einem selbstverfassten Essay und zehn eingeklebten, nachträglich handkolorierten s/ w-Fotografien. Ein Exemplar schickte Bellmer den Pariser Surrealisten André Breton und Paul Éluard, die er während seines ersten Parisaufenthalts kennengelernt hatte. Beide verhalfen ihm noch im selben Jahr zu einer Veröffentlichung von achtzehn Fotografien in der Zeitschrift „Minotaure“ unter dem Titel „Poupée: variations sur le montage d’une mineure articulée“, die auf reges Interesse bei den Surrealisten stießen. Sie erkannten in der Bellmerschen Puppe die Inkarnation des surrealistischen Objekts, weil sie Begierde und Revolte gleichermaßen zum Ausdruck brachte. Nach dem Tod seiner Frau Margarete emigrierte Hans Bellmer 1938 nach Paris. Er teilte zunächst das Schicksal vieler anderer vor der Nazi-Barbarei Geflohener und wurde u.a. mit *Max Ernst in der stillgelegten Ziegelei Les Milles in der Nähe von Aix-en-Provence von September 1939 bis Januar 1940 interniert. Dort entstand ein Großteil seines zeichnerischen Werkes, u.a. auch das „Porträt des Hauptmanns Gouruchon“. Es folgten weitere Internierungsaufenthalte in Forcalquier, im Département Sarthe und im Internierungslager Meslay-du- Maine. Seinem grafischen Geschick verdankte er seine Tätigkeit als Lieferant gefälschter Ausweisdokumente für die französische Résistance. Bis zur Libération lebte er mit gefälschten Papieren unter dem Namen Jean Bellmer zwischen Revel, Toulouse, und Castres. 1949 veröffentlichte Bellmer bei den Editions Premières weitere 15 Fotografien seiner Puppen unter dem Titel „Les jeux de la poupée“. 14 Gedichte von Paul Eluard illustrierten die handkolorierten s/ w- Fotografien, was eine völlig neue Ordnung in das Verhältnis von Bild und Text brachte. 1953 heiratete Bellmer die 1916 in Berlin geborene Schriftstellerin Unica Zürn. Zürn folgte Bellmer nach Paris und arbeitete dort als Autorin und Grafikerin. Sie verkehrte mit den Pariser Surrealisten Hans Arp, André Breton, Marcel Duchamp, Max Ernst und Henri Michaux und schrieb surrealistische Gedichte sowie Prosastücke. Anfang der 1960er Jahre wurde bei ihr eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Unica Zürn beendete am 19. Oktober 1970 mit einem Sprung aus dem Fenster ihrer gemeinsamen Pariser Wohnung ihr Leben. Schleppend, und vorerst mehr noch in Frankreich als in Deutschland, begann Bellmers Werk wahrgenommen zu werden. Eine erste Einzelausstellung erfolgte in Toulouse, danach wurde er in Paris ausgestellt. Ab den 1960er Jahren wuchs dann auch in Deutschland das Interesse an Bellmers Puppendarstellungen und Zeichnungen, begünstigt durch seine Teilnahmen an den documenta-Ausstellungen II und III. Erste Reaktionen auf Bellmers Werk aus den späten 1950er Jahren greifen nicht oder nur ansatzweise, wenn sie in der „Darstellung des Obszönen lediglich Ausdruck einer Auflehnung gegen Gesellschaft, Rationalität und Zeitmoral“ sehen. Dekomposition und artifizielle Rekonstruktion durch eine mechanische Vervielfältigung einzelner Körperteile der Bellmer’schen Puppen sind auch im Kontext von Walter Benjamins 1935 veröffentlichtem Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ zu lesen. Der Verlust der Aura, eingeleitet durch die Heraufkunft neuer Medien wie Fotografie und Film sind Aspekte, die bei der Rezeption von Bellmers Werk ebenfalls berücksichtigt werden müssen und sich bei genauer Betrachtung seiner (seriellen) Fotografien aufdrängen. Vor diesem Hintergrund verkörpern sie eine Radikalität, die jede rein psychoanalytische Interpretation von Bellmers Werk einseitig erscheinen lässt. Dawn Ades, Rosalind Krauss, Jane Livingston, Explosante-Fixe: Photographie et surréalisme, Paris 1985; Hans Bellmer, Peter Webb, London 1985. Cem Alexander Sünter Benoin, Daniel Der 1947 in Mulhouse geborene Daniel Benoin hat als Regisseur, Theaterdirektor, Übersetzer, <?page no="127"?> Berater B 127 Gründer (1988) und längjähriger Leiter der Europäischen Theaterkonvention (ETK) sowie Mitglied des *Deutsch-Französischen Kulturrates seit den 1970er Jahren wichtigen Einfluss auf die Präsenz deutscher Dramatik auf französischen Bühnen genommen. Bereits während seiner Studien an der Elitewirtschaftshochschule Hautes études commerciales (HEC) und seiner Promotion im Fach Wirtschaftswissenschaft war er zwischen 1967 und 1972 Mitglied des Théâtre de la rue d’Ulm an der ENS und spielt dort u.a. in Büchners „Dantons Tod“ - inszeniert von Jacques Nichet. Seit dem Beginn seiner Tätigkeit als Regisseur zeigte sich Benoin fasziniert von deutschen Autoren wie Georg Kaiser, Georg Büchner oder Franz Kafka sowie typisch „deutschen“ Themen: 1974 inszenierte er „Deutsches Requiem“ von Pierre Bourgead. 1975 wurde Benoin Direktor der Comédie de Saint-Étienne, wo er immer wieder deutsche Klassiker auf die Bühne brachte - so präsentierte er 1982 nicht nur Goethes „Faust I“, sondern auch den in Frankreich unbekannten „Faust II“. Ein besonderes Verdienst kommt ihm im Bereich der deutschen Gegenwartsdramatik und der Entdeckung unbekannter bzw. vergessener deutschsprachiger Autoren zu: In der Spielzeit 1984/ 85 erregte er mit „Der Schein trügt“ des damals noch weitgehend unbekannten Thomas Bernhard nicht nur in Saint-Étienne, sondern auch an Jean-Louis Barraults Théâtre du Rond-Point in Paris Aufmerksamkeit; 1991 inszenierte er „Sieben Türen“ und 1992 „Niemand anderes“ von Botho Strauß; 1993 „Krankheit der Jugend“ von Ferdinand Bruckner. Er ist einer der wenigen französischen Regisseure, die sich für George Tabori interessieren - 1997/ 98 präsentierte er „Die Goldbergvariationen“ u.a. am Théâtre national de Chaillot in Paris; 1999 übersetzte er „Top Dogs“. Benoin ist nicht nur mit seinen Inszenierungen häufig nach Deutschland auf Tournee gegangen, sondern hat seit den 1980er Jahren auch immer wieder an deutschen Häusern gearbeitet, so z.B. in Bremen, Bochum und Bonn. Während sich Benoins enge Verbindung zum deutschen Theater in den 1990er Jahren durch sein Engagement für die Europäische Theaterkonvention weiter intensivierte - so verband ihn u.a. eine enge Zusammenarbeit mit Manfred Beilharz, dem damaligen Intendanten des Schauspiels Bonn, mit dem er verschiedene Koproduktionen realisierte -, war nach seiner Übernahme der Leitung des Theaters in Nizza (2002-2013) eine größere Konzentration auf französische Autoren und Themen bemerkbar. Nicole Colin, Deutsche Dramatik in Frankreich. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer, Bielefeld 2011. Nicole Colin Berater Sobald zwischen Staaten und Gesellschaften so enge Beziehungen bestehen wie zwischen Deutschland und Frankreich, gehört der Umgang mit unterschiedlichen Arbeits- und Funktionsweisen, Sozialverhalten und Kommunikationsformen zum beruflichen Alltag. Die Untersuchungen zum Themenfeld „Interkulturelle Kommunikation“ sind vor allem in den USA entwickelt worden, aber auch in Europa hat sich eine wertvolle Forschungs- und Beratungsszene entwickelt. Seit mehr als 40 Jahren haben zahlreiche Studien gerade die Besonderheiten, die Konfliktzonen und die potentiellen kulturbedingten Missverständnisse in der deutsch-französischen Kooperation untersucht. Es hat sich ein Markt für spezifische Beratung gebildet, die sich sowohl an Unternehmen als auch an Akteure des öffentlichen Sektors wendet. Entscheidend für die Seriosität und den Erfolg der Beratung ist, dass man kulturelle Prägungen nicht eindimensional und deterministisch versteht. Niemand handelt in einer gewissen Weise, nur weil er Deutscher oder Franzose ist. Allerdings spielt neben der Persönlichkeit, der Unternehmenskultur und der punktuellen Intention auch die Sozialisation in einer bestimmten Gesellschaft und vor allem in einem nationalen Bildungssystem eine erhebliche Rolle. Es ist die Aufgabe guter Beratung, die Erkenntnisse des Kulturvergleichs für die jeweiligen spezifischen Formen der Kooperation und die von Fall zu Fall unterschiedlichen Zielgruppen fruchtbar zu machen. Es mag überraschen, dass trotz jahrzehntelanger Kooperation in zahllosen Unternehmen immer wieder die gleichen *Stereotype, Unverständnisse und Konfliktpotenziale zu beobachten sind. Erklären lässt sich dieses Phänomen durch die Reproduktion gewisser Verhaltensweisen und Arbeitstechniken durch die immer noch sehr national geprägten Bildungssysteme, aber auch dadurch, dass die Unternehmen und Organisationen nicht ausreichend „lernend“ sind, d.h. ihre eigenen Erfahrungen nicht systematisch aufberei- <?page no="128"?> Berchem, Theodor 128 B ten und nutzen. Die besten Erfolge erzielt man, wenn es gelingt, den Schritt vom Kulturvergleich hin zur Analyse von Kooperationsmechanismen zu machen, die sich in den meisten Kooperationen wieder finden, und nicht mehr direkt von den Prägungen der Herkunftskulturen abhängen. In der Praxis der deutsch-französischen Kulturbeziehungen spielen die zahlreichen Berater durch ihre Analysen und ihre Tätigkeit in Unternehmen und Institutionen eine wichtige Rolle, die jedoch selten im Licht der Öffentlichkeit stattfindet. Als Vermittler im besten Sinne sind sie ein auch in Zukunft bedeutender Beitrag zu gelungener kultureller Kommunikation. Frank Baasner (Hg.), Gérer la diversité culturelle. Théorie et pratique de la communication interculturelle en contexte franco-allemand, Frankfurt/ M. 2005; Jacques Demorgon, Complexité des cultures et de l’interculturel. Contre les pensées uniques, Paris 4 2010; Hans Merkens, Jacques Demorgon, Gunter Gebauer (Hg.), Kulturelle Barrieren im Kopf. Bilanz und Perspektiven des interkulturellen Managements, Frankfurt/ M. 2004; Jacques Pateau, Die seltsame Alchimie in der Zusammenarbeit von Deutschen und Franzosen. Aus der Praxis des interkulturellen Managements, Frankfurt/ M., New York 1999. Frank Baasner Berchem, Theodor Der 1935 in Bonn geborene Theodor Berchem ist ein deutscher Romanist und Wissenschaftsmanager, der sich um die Intensivierung der deutsch-französischen Hochschul- und Wissenschaftsbeziehungen verdient gemacht hat. Er studierte zunächst Romanistik und Anglistik an den Universitäten Genf und Köln. Ab 1959 setzte er sein Studium der Linguistik in Paris fort, wo er 1963 an der Sorbonne mit einer linguistischen Dissertation zu einem rumänischen Thema promoviert wurde. Ab 1962 Assistent an der Universität Erlangen-Nürnberg, habilitierte er dort 1966 in Romanischer Philologie mit einer Arbeit zum Funktionswandel bei Auxiliarien und Semi-Auxiliarien in den romanischen Sprachen. Im gleichen Jahr folgte die Berufung auf den Lehrstuhl für Romanische Philologie an der Universität Würzburg, den er bis zu seiner Emeritierung 2003 innehatte. 2003/ 2004 lehrte er auf der chaire européenne am Collège de France. Zu seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten zählen Dialektologie, Phonetik, Phonologie, Wortgeschichte sowie Stilistik. Er spricht insgesamt 15 Sprachen. Seit den frühen 1970er Jahren engagiert er sich in der Hochschulpolitik. Von 1975 bis 2003 war er zunächst Rektor, später Präsident der Universität Würzburg. Von 1978 bis 1982 war er Vorsitzender der Bayerischen Rektorenkonferenz. In der Westdeutschen Rektorenkonferenz war er von 1979 bis 1983 Vizepräsident, bevor er sie von 1983 bis 1987 als Präsident leitete. 1988 bis 2007 folgte er *Hansgerd Schulte als Präsident des *DAAD. Von 2005 bis 2007 war er Chairman of the Board of Governors der International University Bremen (IUB) und ist seit 2008 Vorsitzender des Stiftungsrates der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Als ehemaliger Stipendiat des Cusanuswerks und der Görres-Gesellschaft hat er sich später in beiden Einrichtungen ebenso engagiert wie im Katholischen Akademischen Ausländer Dienst (KAAD). Als Präsident des *DAAD hat er sich besonders für die deutsch-französischen Hochschulbeziehungen eingesetzt. Er war Mitglied der deutschfranzösischen Hochschulkommission. Über Jahre stand er der Kommission für die Auswahl der deutschen Studierenden der ENA vor. In seine Amtszeit fällt insbesondere die Gründung des vom *DAAD kofinanzierten *CIERA, in dem führende französische Hochschulen ihre Forschungs- und Lehrangebote koordinieren. Beachtung fand seine Veröffentlichung „Rien n’est jamais acquis ...“ anlässlich des 30. Jahrestags des *Élysée-Vertrags, in welchem er die wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur bilanzierte, sondern sich nachdrücklich dafür einsetzte, diese nicht als gegeben anzusehen, sondern sich auch in Zukunft für ihren Erhalt und ihre Weiterentwicklung einzusetzen. Dieses Engagement kennzeichnet seinen Lebensweg. Dafür wurde er in Frankreich u.a. zum Officier de la légion d’honneur sowie zum Ehrendoktor der Universitäten Caen und Paris-Sorbonne IV ernannt. Das Collège de France hat ihm seine Ehrenmedaille verliehen und die Académie française die Médaille de vermeil du rayonnement de la langue française. 2011 schrieb der *DAAD erstmals den „Theodor-Berchem-Preis“ für herausragende Persönlichkeiten in der internationalen Hochschulzusammenarbeit aus. Theodor Berchem, „Rien n’est jamais acquis ...“. Dreißig Jahre wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit <?page no="129"?> Berliner Ensemble (BE) B 129 zwischen Frankreich und Deutschland, Deutscher Akademischer Austauschdienst, Bonn 3/ 1993; Romania una et diversa. Philologische Studien für Theodor Berchem zum 65. Geburtstag. Band 1: Sprachwissenschaft. Band 2: Literaturwissenschaft, hg. von Martine Guille, Reinhard Kiesler, Tübingen 2000; 20 Jahre „Wandel durch Austausch“: Festschrift für Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Theodor Berchem, DAAD-Präsident 1988-2007, hg. von DAAD. Stephan Geifes Berliner Ensemble (BE) Das Berliner Ensemble (BE) wurde 1949 von *Bertolt Brecht und Helene Weigel in Ost-Berlin gegründet und gab *Brecht die Möglichkeit, sein Theaterkonzept praktisch umzusetzen. Das erste Gastspiel des BE in Frankreich fand am 29.6.1954 in Paris statt; die Aufführung des Stückes „Mutter Courage und ihre Kinder“ im Rahmen des Festival international d’art dramatique, dem späteren Théâtre des Nations wurde zu einem regelrechten deutsch-französischen Erinnerungsort. Vor dieser Aufführung waren *Brecht und seine Stücke in Frankreich kaum bekannt, nur einige wenige Regisseure wie Gaston Baty, Jean-Marie Serreau und Jean Vilar hatten Inszenierungen seiner Stücke gewagt, folgten in ihren Inszenierungen allerdings nicht Brechts Theorie des epischen Theaters. Das Gastspiel des BE machte *Brecht über Nacht zum Star. Der Stil seines Theaters löste kontroverse Diskussionen in der Fachpresse aus, der Begriff des epischen Theaters wurde in der französischen Kritik heftig debattiert und das BE avancierte zum Inbegriff eines neuen Theatermodells. Dabei wurde die explizit „nicht-kapitalistische“ Arbeitsweise am BE, die sich insbesondere durch extrem lange Probezeiten auszeichnete, zum Maß aller Dinge. Der Erfolg wirkte positiv auf *Brechts Anerkennung in der DDR zurück. Wenngleich seine Arbeit weiterhin argwöhnisch kontrolliert wurde, versuchte das SED-Regime fortan, ihn zumindest im internationalen Kontext als Aushängeschild zu benutzen. Im Juni 1955 präsentierte das BE in Paris ein weiteres Mal „Mutter Courage“ sowie „Der kaukasische Kreidekreis“ (*Deutsches Theater in Frankreich). Nach *Brechts Tod im Jahre 1956 gastierte das BE weiterhin in Paris, beispielsweise 1957 mit einer offiziellen Hommage an *Brecht. Außerdem wurde „Das Leben des Galilei“ gegeben und abermals „Mutter Courage“. In den 1960er Jahren wurde es für DDR- Künstler immer schwieriger nach Frankreich einzureisen - was aber nicht bedeutete, dass das Interesse am BE und *Brecht abriss - nun pilgerten die französischen Theatermacher nach Ost- Berlin. Helene Weigels letzter Auftritt mit dem BE in Frankreich erfolgte 1971 in „Die Mutter“ im Rahmen einer u.a. von *Michel Bataillon, Gabriel Garran und Jack Ralite, dem stellvertretenden Bürgermeister von Aubervilliers, initiierten Großveranstaltung anlässlich des 100. Jahrestags der Pariser Kommune. Inzwischen hatte die Begeisterung für das BE allerdings stark abgenommen, die Inszenierungen wurden als museal und monolithisch empfunden. Allein „Der Brotladen“ des jungen Regie-Duos Manfred Karge und *Matthias Langhoff (die zu dem Zeitpunkt allerdings längst zu *Benno Besson an die Volksbühne gewechselt waren), stieß auf allgemeines Interesse. Trotz dieser Entwicklung blieb die Begeisterung für *Brecht und seine Stücke bestehen. Nach jahrzehntelanger Abwesenheit kehrte das BE erst nach dem Mauerfall in den 1990er Jahren wieder in den Mittelpunkt des französischen Interesses zurück - nicht zuletzt vermittelt über *Heiner Müller und *Matthias Langhoff. So wurden die Querelen um die Leitung des BE zu Beginn der 1990er Jahre von der französischen Tagespresse aufmerksam verfolgt. 1998 schlug dann die große Reputation des BE positiv auf seinen neuen Direktor, Claus Peymann, zurück: So gelang es dem bis dahin in Frankreich kaum bekannten deutschen Theatermacher, von dem allein eine Inszenierung der Kleist‘schen „Hermannsschlacht“ zu Beginn der 1980er Jahre am Odéon zu sehen gewesen war, über das symbolische Kapital des BE endlich Aufmerksamkeit zu erregen. Nach zahlreichen Gastspielen erhielt er im Juni 2010 für seine Inszenierung von Shakespeares „Richard II.“ den Preis des Syndicat professionnel de la critique de théâtre, de musique et de danse für die beste ausländische Theateraufführung. Roland Barthes, Œuvres complètes. Bd. I: Livres, textes, entretiens 1942-1961, hg. von Eric Marty, Paris 2002; Nicole Colin, Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945, Bielefeld 2011; Karin R.Gürttler, Die Rezeption der DDR-Literatur in Frankreich (1945- 1990). Autoren und Werke im Spiegel der Kritik, Bern u.a. 2001; Agnes Hüfner, Brecht in Frankreich 1930- 1963. Verbreitung, Aufnahme, Wirkung, Stuttgart 1968; Roger Pic, Chantal Meyer-Plantureux, Benno Besson, Bertolt Brecht et le Berliner Ensemble à Paris, Paris 1995. Nicole Colin, Patricia Pasic <?page no="130"?> Berliner Schule - Nouvelle vague allemande 130 B Berliner Schule - Nouvelle vague allemande Zum ersten Mal nach den internationalen Erfolgen der Filmemacher des Autorenfilms der Generation von *Volker Schlöndorff, *Wim Wenders, *Rainer Werner Fassbinder, *Alexander Kluge, Margarethe von Trotta etc. machte Mitte der 1990er Jahre eine Gruppe junger deutscher Filmemacher auf sich aufmerksam, die in der Folge - nicht selten gegen ihren Willen - unter dem Label Berliner Schule eingeordnet wurde. Neben Christian Petzold, Thomas Arslan und Angela Schanelec, die gemeinsam an der Film- und Fernsehakademie Berlin studierten, zählen auch Christoph Hochhäusler, Benjamin Heisenberg und Valeska Grisebach dazu. Einen nicht unerheblichen Einfluss auf den großen Erfolg der Filmemacher nahm die französische Filmkritik, die enthusiastisch auf ihre Filme reagierte und der Gruppe den Namen Nouvelle vague allemande gab. Der Name erscheint insofern zutreffend, als die deutschen Regisseure ähnlich wie die französischen Vertreter der *Nouvelle vague in den 1960er Jahren einen bewusst intellektuellen Zugang zum Bild wählen, d.h. ihre Arbeit stark aus der Rezeption der Kinogeschichte und der Filmkritik entwickeln - insbesondere im Kontext der (u.a. von Hochhäusler und Heisenberg herausgegebenen) Filmzeitschrift „Revolver“. 2003 wurde Hochhäusler in Frankreich mit „Milchwald“ entdeckt, 2004 feierte Schanelec mit „Marseille“ ihren ersten Erfolg auf dem Festival de Cannes. Heute gehören die Filme der Nouvelle vague allemande mit zu den wichtigsten Beiträgen auf internationalen Filmfestspielen: So erhielt Christian Petzold, der im Herbst 2012 im *Goethe-Institut in Paris mit einer großen Retrospektive gewürdigt wurde, für „Barbara“ (2012) u.a. den Silbernen Bären auf der Berlinale. Pierre Gras, Good Bye Fassbinder! Le cinéma allemand depuis la réunification, Paris 2011. Nicole Colin, Gisela Rueb Bertaux, Pierre Der in Lyon geborene Pierre Bertaux (1907- 1986) stammte aus einer lothringischen Familie, die den ungemütlichen Nachbarn in drei Kriegen erleben musste. Für sie war die *Germanistik ein politisch gebotener Forschungsgegenstand („Nous étions des germanistes de père en fils“). Die Öffnung der traditionellen Germanistik als Literaturwissenschaft hin zu den Landesstudien sollte das zentrale Thema seiner akademischen Tätigkeit werden. Der Vater Félix (1881-1948) - nomen est omen - sorgte für eine freundliche und intellektuell anspruchsvolle Jugend, die ihm eine äußerst glückliche Sozialisation erlaubte. Félix Bertaux war in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen der wohl kompetenteste und einflussreichste Deutschlandexperte. Er war in der NRF, die maßgebliche Literatur-Zeitschrift bei Gallimard, für Deutschland zuständig und als Übersetzer geschätzt (z.B. von Thomas Manns „Tod in Venedig“). Sein Haus in Sèvres bei Paris wurde zum Treffpunkt der deutschen und französischen Schriftstellerelite. Dort verkehrten Thomas Mann und *Heinrich Mann, Joseph Roth, Ernst Bloch, Jean Schlumberger und André Gide, der dem kleinen Pierre Klavierunterricht gab. Das zweite Bildungserlebnis, das Pierre Bertaux nachhaltig prägen wird, ist die ENS de la rue d’Ulm, in die er 1926 aufgenommen wurde. Seine Mitschüler waren *Raymond Aron, René Maheu, der spätere Generaldirektor der UNESCO, und *Jean-Paul Sartre, „le petit camarade“. Das Prestige dieser Elitehochschule ist bis heute unangefochten und beruht auf dem unerschütterlichen Glauben der französischen Gesellschaft an die Auswahl der Besten sowie an die Notwendigkeit einer elitären Führungsschicht für die Schlüsselpositionen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens. Ebenso entscheidend wie die ENS wurde für Pierre Bertaux der Aufenthalt in Berlin als Universitätslektor in den Jahren zwischen 1927 und 1929. Tutti Fischer, die Tochter des Verlegers Samuel Fischer, führte den jungen normalien „von oben“ in die Goldenen Zwanziger und in die vornehmlich jüdische Gesellschaft Berlins ein. Er lernte Jakob Wassermann, aber auch Walter Benjamin kennen, verkehrte im Haus des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, aber auch in den literarischen Salons einer Antonina Valentin und schließlich stammte aus dieser Zeit die lebenslange Freundschaft mit Golo Mann und Yehudi Menuhin. Seine wissenschaftlich-literarische Karriere begann 1936 mit einer Habilitationsschrift über Friedrich Hölderlin („Essai de biographie intérieure“), die von Gide angeregt worden war. In der Hölderlin-Forschung vertrat er später die kühne These, <?page no="131"?> Besson, Benno B 131 dass Hölderlin nicht der esoterische Dichter gewesen sei, für den man ihn gemeinhin hielt, sondern ein engagierter Revolutionär, der sich vor seinen politischen Verfolgern in dem Tübinger Turm in Sicherheit gebracht habe. Er sei nicht geisteskrank gewesen, vielmehr hätten ihn die Umstände dazu gemacht. Diese These wurde von der progressiven Hölderlin-Forschung übernommen. Seine Schriften zu Hölderlin, teils prominent auf Deutsch bei Suhrkamp editiert, gehörten bis in die 2000er Jahre hinein zum Rüstzeug des an Hölderlin interessierten deutschen Germanisten. Vor dem Zweiten Weltkrieg wechselte Bertaux in die aktive Politik und bekämpfte den Nationalsozialimus. Zunächst ging er ins Außenministerium zu seinem Freund, dem Schriftsteller und Deutschlandexperten Pierre Viénot („Les incertitudes allemandes“); danach wurde ihm unter der Leitung von Jean Giraudoux im Informationsministerium die Verantwortung für die Rundfunk- Sendungen nach Deutschland übertragen, so etwa für die Texte von Thomas Mann aus der Reihe an „Deutsche Hörer“. Nach der französischen Niederlage 1940 ging er in den Untergrund und baute in Toulouse das südliche Widerstandsnetz auf. Er wurde verraten, von Vichys Schergen festgenommen und im Dezember 1941 ins Gefängnis geworfen. Nach dem Krieg wurde er von de Gaulle zum Commissaire de la République in Toulouse ernannt, 1947 zum Präfekten von Lyon in einer politisch schwierigen Situation. 1949 wurde er dann Chef des Sicherheitsdienstes - „premier flic de France“ (*Carlo Schmid). Weltbekannt wurde Bertaux durch die Juwelen-Diebstahl-Affäre der Begum. In einem Raubüberfall war der Ehefrau von Aga Khan Schmuck in erheblichem Wert abhanden gekommen. Bertaux wurde der Komplizenschaft bezichtigt mit dem mutmaßlichen Täter, einem Korsen, der ihm in der Tat von seiner Gefängniszeit her bekannt war. Die Angelegenheit eskalierte zum Skandal, als Pierre Bertaux in der Gerichtsverhandlung zu Protokoll gab, dass auch Korsen ein Ehrgefühl hätten, das offensichtlich Richtern, die den Eid auf die Vichy-Regierung geleistet hatten, abginge. Eine solche unterschwellige Anschuldigung aus dem Munde eines hohen Staatsbeamten besiegelte das Ende seiner politischen Karriere. Er wurde aller öffentlicher Ämter enthoben und landete (mit einem konfortablen Gehalt) in der freien Wirtschaft (1955-1958). Erst danach erfolgte die Rückkehr des verlorenen Sohnes an die Alma Mater, zunächst nach Lille (1958-1964) und ab 1964 an die Pariser Sorbonne. Neuartige und damals umstrittene Konzeptionen einer landesorientierten *Germanistik verwirklichte er mit der Gründung seines *Institut d’allemand d’Asnières im Jahre 1968. Dort wurden in integrierten Studiengängen mit obligatorischem Deutschlandaufenthalt neben den germanistischen Fächern auch wirtschaftliche, politologische, historische und kulturgeschichtliche Kurse angeboten. Bertaux formulierte provozierend: „Wenn bei uns von Schiller die Rede ist, so meinen wir Karl (den damaligen Wirtschaftsminister) und nicht Friedrich“. Nicht wenige Autoren dieses Lexikons sind durch die Schule von Bertaux gegangen und waren in Asnières lehrend tätig. Pierre Bertaux: eine schillernde, vielseitige Persönlichkeit, eine für einen Germanisten ungewöhnliche Karriere, ein reiches, erfülltes Leben dessen zentrale Energiequelle der Spieltrieb mit dem Ziel der luziden Selbstverwirklichung war: „Il faut se jouer soimême et avec le plus de lucidité possible“. Pierre Bertaux, Hölderlin und die französische Revolution, Frankfurt/ M. 1969; ders., Gar schöne Spiele spiel’ ich mit Dir. Zu Goethes Spieltrieb, Frankfurt/ M. 1987; ders., Mémoires interrompus, Asnières 2000; ders., Un normalien à Berlin: lettres franco-allemandes 1927-1933, Asnières 2001; Jean-Pax Méfret, Le vol des bijoux de la Bégum. Les dessous de l’enquête, Paris 2010. Dirk Petter, Auf dem Weg zur Normalität. Konflikt und Verständigung in den deutsch-französischen Beziehungen der 1970er Jahre, München 2014, S. 78ff. Hansgerd Schulte Besson, Benno Benno Besson (1922-2006) wurde in Yverdon-les- Bains, im französischsprachigen Teil der Schweiz, geboren und kann als einer der ganz großen deutsch-französischen Vermittler im Bereich der darstellenden Kunst bezeichnet werden. Erste Theatererfahrungen sammelte er bereits während seiner Schulzeit. Sein Studium absolvierte er in Zürich, wo er die Uraufführungen einiger *Brecht- Stücke sah, die ihn stark beeindruckten und zur Übertragung von *Brechts Kinderbuch „Die drei Soldaten“ ins Französische veranlassten. 1946 begann er seine Karriere als Schauspieler in Paris bei Jean-Marie Serreau und übersetzte mit dessen Frau Geneviève verschiedene Stücke von *Brecht. <?page no="132"?> Bondy, François 132 B Serreau war der erste Regisseur, der nach dem Krieg *Brecht in Paris zeigte. 1947 lernte Besson in Zürich dann *Bertolt Brecht und Helene Weigel persönlich kennen und folgte ihnen 1949 an das *Berliner Ensemble (BE) in Ost-Berlin, wo er als Schauspieler, Regieassistent und Regisseur tätig war. Außerdem setzte er sich für die Verbreitung der *Brecht’schen Stücke in Frankreich ein. 1952 inszenierte Besson „Dom Juan“ von Molière in Rostock, mit dem 1954 das *BE nach seinem Umzug an den Schiffbauerdamm eröffnet wurde. Besson fühlte sich nach eigener Aussage nie als *Brecht-Schüler - seine Leidenschaft galt dem Theater im Allgemeinen. Dennoch war seine Person in Frankreich bis zu seinem Tod eng mit *Brecht und dem *BE verknüpft. Ab 1958 arbeitete er als freier Regisseur, bevor er 1962 Chefregisseur am Deutschen Theater wurde. International bekannt wurde er vor allem durch die Inszenierung der Stücke „Der Frieden“ von Aristophanes in Bearbeitung von Peter Hacks, „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz und „Ödipus Tyrann“ von Sophokles in der Bearbeitung *Heiner Müllers. 1969 ging er schließlich an die Volksbühne, die er bis 1977 leitete. Hier half er auch anderen jungen Regisseuren, sich zu etablieren, so Fritz Marquardt, Manfred Karge und *Matthias Langhoff, die er zu Gastinszenierungen einlud. Nach seiner Inszenierung des von *Heiner Müller für ihn übersetzten „Hamlet“ von Shakespeare verließ Besson die DDR. Es zog ihn zurück in den französischen Sprachraum, da er das Französische während seiner Zeit in Deutschland stark vermisst hatte. Er arbeitete vor allem in Paris, aber auch in anderen französischen Städten, der Schweiz und, nach wie vor, in beiden Teilen Deutschlands. Von 1982-1989 war er Direktor der Comédie de Genève. Besson verstand es, die französische Theatertradition in seinen Stil intelligent zu integrieren. Er inszenierte klassische Dramen, aber auch zahlreiche Stücke junger Autoren und nahm - neben anderen Regisseuren - einen starken Einfluss auf die Rezeption des deutschsprachigen Theaters in Frankreich (*Deutsches Theater in Frankreich). Bis zu seinem Tod galt er als ehrgeizig und immer vielbeschäftigt. Sein letztes Projekt, die Inszenierung des „Ödipus“ an der Comédie-Française, musste er aufgrund seiner Krebserkrankung abbrechen. Benno Besson, Avec Brecht et le Berliner Ensemble, in: Roger Pic, Chantal Meyer-Plantureux, Benno Besson, Bertolt Brecht et le Berliner Ensemble à Paris, Paris 1995. S. 25-29; Christoph Hein, Der Weg Benno Besson. Zum Tod des großen Schweizer Regisseurs, in: Theater der Zeit, Heft 4/ 2006, S. 4-7; Henning Rischbieter, Nachruf: Alles Komödie. Zum Tod von Benno Besson, in: Theater heute, Heft 4/ 2006, S. 34-38; Durch den Eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 1990, hg. von Henning Rischbieter, Berlin 1999. Patricia Pasic Bondy, François Geboren wurde François Bondy (1915-2003) in Berlin, wo sein Vater, der Regisseur und Autor Fritz Bondy, damals Assistent von Max Reinhardt am Deutschen Theater war. Der Beruf des Vaters (den sein Sohn *Luc Bondy ebenfalls wählen sollte) führte zu zahlreichen Ortswechseln, die über Lugano und Davos (mit sechzehn Jahren erhielt Bondy die Schweizer Staatsbürgerschaft) nach Frankreich führten. Sein Abitur machte Bondy in Nizza, wo Romain Gary sein Klassenkamerad war; sein Studium absolvierte er hauptsächlich an der Sorbonne. „Ich hatte einen europäischen Horizont“, sagte er über seine Kindheit und Jugend, und gewiss waren diese frühen Erfahrungen und kulturellen Wechselbäder - zu denen vermutlich auch der jüdische Familienhintergrund beitrug - prägend für sein späteres europäisches Engagement. 1936 trat der einundzwanzigjährige Bondy in die Kommunistische Partei Frankreichs (Parti communiste français - PCF) ein, weil sie die einzige politische Alternative zu den aufstrebenden Nationalismen zu sein schien und entschieden Front gegen den Nationalsozialismus machte. In dieser Zeit näherte er sich der Gruppe „Que faire“ und wurde Mitarbeiter der gleichnamigen Zeitschrift (Untertitel „Revue communiste“). Allerdings trat Bondy bereits 1939 aufgrund des Paktes zwischen Hitler und Stalin aus der PCF wieder aus. Ende 1939 wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft im Lager Le Vernet im südwestfranzösischen Département Ariège interniert, von wo er Anfang 1940 aufgrund seines Schweizer Passes in die Schweiz abgeschoben wurde. Dort kam es bald zu entscheidenden Begegnungen, etwa mit den Publizisten Fritz René Allemann (dem Londoner Korrespondenten der Züricher „Tat“) und Herbert Lüthy (Historiker <?page no="133"?> Bondy, François B 133 und Essayist, Redakteur beim „Sankt Galler Tagblatt“), mit Denis de Rougemont und einzelnen Mitgliedern der verschiedenen Widerstandsbewegungen, die in der Schweiz Zuflucht gefunden hatten. Vor dem düsteren Hintergrund der totalitären Nachbarstaaten entstanden erste Pläne für eine europäische Zeitschrift: Sehr früh war in diesem Kreis die Überzeugung gereift, dass sich nur ein vereintes Europa zwischen den Kolossalmächten USA und Sowjetunion behaupten werde. François Bondy gehörte zum Kern dieser kleinen Streitmacht. Der 1948 in Berlin vom amerikanischen Kulturoffizier Melvin Lasky gegründete „Monat“ war die erste Publikation, die den demokratisch-antitotalitären Ideen der jungen Intellektuellen entsprach. Nach dessen Vorbild gründete Bondy 1951 im Auftrag des Kongresses für die Freiheit der Kultur die Zeitschrift „Preuves. Une revue européenne à Paris“. Als eine der wenigen französischen Kulturzeitschriften, die damals nicht von der kommunistischen Ideologie beeinflusst waren, mag die Zeitschrift aus heutiger Sicht konservativ anmuten. Aber der Schein trügt, denn „Preuves“ verteidigte eine linksliberale Linie. Die Liste der Mitarbeiter ist beeindruckend: der Philosoph *Raymond Aron, der Dichter Pierre Emmanuel, der Politiker und Diplomat Henri Froment- Meurice, die Philosophin Jeanne Hersch, der Schriftsteller, Politiker und Kunsthistoriker André Malraux, der Essayist Denis de Rougemont. Auch Hannah Arendt, Karl Jaspers, Manès Sperber, Ignazio Silone, Cheslaw Milosz gehörten zu den Intellektuellen, die regelmäßig Beiträge lieferten. Als die „New York Times“ jedoch im Sommer 1969 öffentlich machte, dass der Träger der Zeitschrift, der antikommunistisch ausgerichtete Kongress für die Freiheit der Kultur, heimlich von der CIA unterstützt wurde, warf Bondy das Handtuch. Bondys Europa-Visionen waren keineswegs akademisch gemeint, sondern als Handlungsanweisungen gedacht. Sein Zukunftsbild Europas war von profunder historischer Kenntnis genährt. Das 1973 erschienene Buch „Deutschland - Frankreich. Geschichte einer wechselvollen Beziehung” mag stellvertretend genannt sein. Sein Schweizer Freund Iso Camartin bescheinigte ihm beneidenswerte Eigenschaften: eine quirlig-effiziente Arbeitsweise, eine nimmermüde Reiselust und damit eine „Ubiquität des beobachtenden und mitredenden” Gastes auf allen publizistischen Podien. Dass Bondy nebenbei auch als Übersetzer tätig war, vor allem aus dem Italienischen (Benedetto Croce, Guglielmo Ferrero), vermag da nicht zu verwundern. 1970 zog Bondy nach Zürich; es folgte die regelmäßige Mitarbeit als Redakteur bei der damals unabhängigen linksliberalen „Weltwoche“ in Zürich, zudem wurde er Mitherausgeber der „Schweizer Monatshefte“. Verstärkt betätigte er sich nun auch als Entdecker von großen Literaten. Bereits zu „Preuves“-Zeiten hatte er Witold Gombrowicz bekannt gemacht, für den er sich nun auch im deutschen Sprachraum stark machte. In Frankreich setzte er sich für Günter Grass und Ingeborg Bachmann ein, in Deutschland für *Eugène Ionesco, Emile Cioran, Nathalie Sarraute - und viele andere. Geradezu symbolisch ist die Tatsache, dass er (gemeinsam mit Irène Kuhn) die erste Gesamtausgabe von Ionesco nicht etwa in Frankreich, sondern für einen deutschen Verlag in München besorgte. Nicht umsonst nannte ihn Zbigniew Herbert einmal einen „unermüdlichen Commis Voyageur der guten Literatur“. Er wies nach, welche italienischen Essayisten in Deutschland gelesen wurden und welche nicht, er skizzierte „Berlins kulturelle Sendung“ (1981) oder zog 1976 eine erste ausführliche Bilanz der „Rezeption der deutschen Literatur seit 1945 in Frankreich“. So wäre es grundfalsch, seine Persönlichkeit und sein Schreiben ganz im Schatten der politischen Geschichte zu sehen. Vor allem in Deutschland hat man ihn eher als Mann des anspruchsvollen Feuilletons in Erinnerung. Der Verfasser unzähliger literarischer Essays, Rezensionen in allen bedeutenden Zeitungen Deutschlands, der Schweiz und Frankreichs, der Herausgeber von Anthologien und Gesprächen mit Autoren ist wohl eher gewesen, was Joachim Kaiser einmal über ihn gesagt hat: „Er ist weder ein Berliner, noch ein Pariser, noch ein Schweizer oder ein Italiener, sondern ein literarischer Weltbürger im umfassenden Sinne des Wortes.“ Der „literarische Gentleman“, so die „Neue Zürcher Zeitung“, starb 2003 in Zürich, und in einem Nachruf der „WELT“ hieß es abschließend: „Europa ist ärmer geworden“. Irène Kuhn, Ralf Stamm <?page no="134"?> Bondy, Luc 134 B Bondy, Luc Der deutschsprachige, schweizerische Regisseur Luc Bondy, Sohn des bekannten Literaturkritikers *François Bondy, wurde 1948 in Zürich geboren. Sein künstlerischer Lebenslauf gibt das herausragende Beispiel einer deutsch-französischen Doppelkarriere, die im Jahr 2012 mit der Ernennung zum Direktor des Odéon - Théâtre de l’Europe seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Nach Ausbildung bei Jacques Lecoq in Paris wurde Bondy Regieassistent am Thalia Theater in Hamburg und arbeitete danach als freier Regisseur. Enger Kontakt ergab sich zu *Peter Stein und der Berliner *Schaubühne, an der Bondy 1977 Alfred de Mussets „Man spielt nicht mit der Liebe“ inszenierte, sowie zu *Patrice Chéreau und dem Théâtre des Amandiers in Nanterre, an dem er seine erste französische Inszenierung realisierte: 1984 „Das weite Land“ des bis dahin in Frankreich kaum gespielten Arthur Schnitzlers, mit der Bondy eine regelrechte Schnitzler-Welle in Frankreich auslöste (*Deutsches Theater in Frankreich). 1989 erhielt er den Prix Dominique de la mise en scène für seine (französische) Inszenierung von Schnitzlers „Der einsame Weg“. Während Bondy sich in Frankreich auf Klassiker mit Starbesetzung konzentrierte - u.a. inszenierte er 1988 „Das Wintermärchen“ von Shakespeare in Nanterre mit Michel Piccoli und Bulle Ogier und 1996 „Mit dem Feuer spielen“ von August Strindberg im Théâtre des Bouffes du Nord mit Emmanuelle Béart - machte er sich in Deutschland in den 1980er und 90er Jahren u.a. als Uraufführungsregisseur von Botho Strauß einen Namen. 2005 präsentierte Bondy mit „Viol“ („Schändung“) seine erste Strauß-Inszenierung in Frankreich - und entfachte einen Skandal. Hämisch meldete der „Spiegel“, dass „im erlesenen Pariser Premierenpublikum“ Zuschauer „angeblich in Ohnmacht“ gefallen seien, „andere sollen sich erbrochen haben“ (Roman Leick). Darüber hinaus interessiert er sich auch für *Peter Handke und feierte mit „Die Stunde, in der wer nichts von einander wussten“ 1994 im Pariser Théâtre du Châtelet im Rahmen des Festival d’Automne einen großen Erfolg. 1985 übernahm Bondy nach dem Rücktritt von *Peter Stein die Leitung der *Schaubühne (bis 1992) sowie die Schauspielleitung der Wiener Festwochen, deren Generalintendanz ihm schließlich 1998 übertragen wurde. Obgleich politische Statements in Bondys Inszenierungen eine untergeordnete Rolle spielen, meldete er sich im Jahr 2000 in Frankreich mehrfach zur politischen Entwicklung in Österreich öffentlich zu Wort: In zwei „Le Monde“-Artikeln erklärte er, warum er trotz des Wahlerfolges von Jörg Haider nicht vorhabe, Österreich zu verlassen und seinen Posten als Direktor der Wiener Festwochen aufzugeben. Neben seiner Tätigkeit im Schauspiel machte Bondy auch als Opernregisseur von sich reden. Eine große Rolle hierbei spielte seine Kooperation mit Stéphane Lissner, der auch mit *Patrice Chéreau zusammenarbeitete und einer der ersten Förderer von *Stéphane Braunschweig war: 2005 ernannte Bondy Lissner zum Musikdirektor der Wiener Festwochen. Für Bondys Theatertätigkeit erwies sich die enge Zusammenarbeit mit Lissner schließlich auch als neues Sprungbrett nach Frankreich: Dass Bondy in Deutschland und Österreich als der erfolgreichste Regisseur der Stücke von Yasmina Reza bezeichnet werden kann, wurde in Frankreich jahrelang nicht zur Kenntnis genommen - was nicht zuletzt an dem tiefen Graben zwischen théâtre public (dem Bondy, trotz bevorzugter Starbesetzung, stets eindeutig zugerechnet wurde) und théâtre privé (dem französischen Terrain Rezas) liegt. 2004 inszeniert Bondy dann an Lissners Théâtre de la Madeleine zum ersten Mal ein Stück von Reza: die Uraufführung von „Une pièce espagnole“. Trotz seiner unzweifelhaft herausragenden Bedeutung für das französische Theater rief die Ernennung des 64 Jahre alten Bondy 2012 zum neuen Direktor des Odéon durch Frédéric Mitterrand Erstaunen in der Theaterszene hervor. Für die deutsch-französischen Theaterbeziehungen dürfte es sich um einen Glücksfall handeln. Luc Bondy, Autriche: mes craintes, in: Le Monde, 5.2.2000; Nicole Colin, Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945, Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer, Bielefeld 2011; Colette Godard, Francesca Spinazzi (Hg.), Theaterwege. De l’Allemagne à la France. Von Frankreich nach Deutschland. Berlin 1996; Olivier Ortolani, Theater im Gespräch. Interviews mit: Luc Bondy, Peter Brook, Patrice Chéreau, Dario Fo, Heiner Müller, Peter Stein, George Tabori, Michel Vinaver und Peter Zadek, Echternach 1998; Brigitte Salino, Pour Luc Bondy, „on ne punit pas les xénophobes en les laissant entre eux“ [Interview], in: Le Monde 2.6.2000. Nicole Colin <?page no="135"?> Boulez, Pierre B 135 Bord, André Der in Straßburg geborene André Bord (1922- 2013) gehörte zu den Pionieren der deutschfranzösischen Verständigung nach 1945 und hat sich besondere Verdienste um die Annäherung von Elsässern und Deutschen erworben. Der Sohn einer elsässischen Arbeiterfamilie erkannte nach 1940 schnell, dass der deutschen Besatzung mit Widerstand begegnet werden musste. Seine Eltern versteckten geflüchtete Kriegsgefangene, und er selber schrieb Anti-Hitler-Parolen auf Mauern bzw. zerstörte die Fahnen der deutschen Besatzer. Um der wachsenden Gefahr zu entfliehen, schickten seine Eltern ihn schließlich in das Département Dordogne, wo der sich dem geheimen Widerstand anschloss. Er wurde verhaftet, konnte fliehen und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Nach der Befreiung des Elsasses, an der er an vorderster Front unter dem Kommando von Oberst André Malraux in der Brigade Alsace- Lorraine teilnahm, schloss er sich dem Gaullismus an. Seine bedeutende politische Karriere führte ihn in als Abgeordneten in die Assemblée nationale (1958-1981) und an die Spitze des Generalrats des Département Bas-Rhin (1967-1979). Er wurde erster Präsident der Région Alsace (1974-1976). 1966 wurde er zum ersten Mal in die französische Regierung berufen, der er bis 1978 in verschiedenen Funktionen unter mehreren Premierministern angehörte. Schon bald nach dem Krieg engagierte sich Bord für eine Verständigung mit dem deutschen Nachbarn. Seit sich Ende der 1950er Jahre mit der persönlichen Annäherung zwischen Adenauer und de Gaulle die Situation erheblich verbesserte, wurde die deutsch-französische Kooperation zum Leitmotiv des Wirkens von André Bord. Für die Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sind zwei Ämter von besonderer Bedeutung: 1986 wurde er als Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit in die Regierung berufen. Dieses Amt übte er bis 2003 ohne Unterbrechung aus. In diese Zeit fiel u.a. die Gründung des europäischen Kultursenders *ARTE, an dessen Vorbereitung und Konzeption André Bord maßgeblich beteiligt war. Als Vizepräsident (seit der Gründung 1981) und seit 2002 als Präsident der Fondation entente franco-allemande (*Stiftungen) setzt er sich für deutsch-französische Kulturprojekte entlang der ehemaligen Grenzen ein. Hunderte von Kulturprojekten und Treffen konnten auf die Unterstützung der Stiftung zählen. Im Rahmen der Stiftung engagierte sich Bord gleichfalls für die Entschädigung der ca. 130 000 französischen Staatsbürger der Départements Haut- Rhin, Bas-Rhin und Moselle, die während des Zweiten Weltkrieges in die Wehrmacht zwangseingezogen worden waren („Malgré-nous“). Im Rahmen der *Vergangenheitsaufarbeitung musste ihnen auch auf moralischer Ebene Wiedergutmachung zuteilwerden, wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg doch oftmals zu Unrecht als Kollaborateure bezeichnet. André Bord war Großoffizier der Ehrenlegion und Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Frank Baasner Boulez, Pierre Im Jahre 2010 hat sich der 1925 in Montbrison geborene französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez zum Anlass seines 85. Geburtstages zwei Geschenke gemacht. Das erste Geschenk war eine Gemäldeausstellung im Pariser Louvre mit dem Titel „Œuvre: fragment“. Diese gab ihm die Möglichkeit, sich mit den Beziehungen von musikalischer und plastischer Kreation auseinanderzusetzen, indem Zeichnungen und Aquarelle von Ingres und Delacroix bis zu Giacometti und Beuys präsentiert und diese mit Partituren von Wagner bis hin zu seinen eigenen Werken konfrontiert wurden. Im Gegensatz zu den meisten Musikern ist die Welt der Malerei keine, die Pierre Boulez entgleitet. So verhält es sich ebenfalls mit der Welt der Poesie: sein bedeutendstes Werk der 1950er Jahre wurde „Le Marteau sans maître“, eine von René Char‘s Gedichtbänden inspirierte Kantate für Altstimme und sechs Instrumente (Flöte, Bratsche, Gitarre, Vibraphon und Schlaginstrumente). Auch wenn dieses Werk den Prinzipien der seriellen Musik untergeordnet bleibt, findet bei Boulez’ „Pli selon Pli“ (1957-1962) ein Wandel in der Schreibweise statt - ein umfangreicher Stimmenzyklus mit Orchesterbegleitung, welcher beim Festival von Donaueschingen im Jahre 1962 nach Gedichten von Mallarmé entstanden ist. War diese Komposition mit Proportionen, die mit jenen von Mahler verglichen werden könnte, vielleicht eine Prämisse für seine Leidenschaft für eben Gustav Mahlers Symphonien, die er bis heute ständig neuinterpretiert hat? <?page no="136"?> Bourdieu, Pierre 136 B Das zweite Geschenk, das Boulez sich gemacht hat, ist vielleicht noch erstaunlicher: seine neuesten Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern waren eine Gelegenheit, auf seine späte Entdeckung der Musik des polnischen Komponisten Karol Szymanovski aufmerksam zu machen, was eine Entwicklung Boulez’ in der Auswahl seiner bevorzugten Komponisten deutlich macht. Bekannt sind seine Vorliebe für die Musik von Debussy und Ravel, Stravinsky und Bartók wie auch für die Werke der zweiten Wiener Schule (Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern). In Deutschland bleibt in Erinnerung, dass er einer der wenigen Franzosen war, die „Parsifal“ von Wagner dirigieren durften, in Bayreuth 1966. Unvergessen ist auch, dass er Wagners „Der Ring der Nibelungen“ im Rahmen der Bayreuther Festspiele 1976 dirigiert hat! Jeder religiösen Musik gegenüber abgeneigt, hat Boulez beim Brucknerfest in Linz 1996 mit seinem Dirigat der 8. Symphonie von Anton Bruckner überrascht, bei welcher er nicht nur die kompositorische Architektur gesteigert, sondern auch die emotionsgeladenen „spirituellen“ Energien befreit hat. Unermüdlich bei der Unterstützung der zeitgenössischen Musik gründete er 1954 die Konzerte der Domaine Musical in Paris, die er bis 1967 leitete. Seine Karriere als Dirigent fand schließlich ihren Höhepunkt, als er sich 1958 in Deutschland, genauer gesagt in Baden-Baden, niederließ: die Genauigkeit seines Dirigats und seine beeindruckende Kenntnis der Partitionen verhalfen ihm im Laufe der Jahre zu Engagements bei der BBC und den New Yorker Philharmonikern (1971-1978). Zurück in Paris nahm er daraufhin die Stelle als Direktor des IRCAM (Institut de recherche et de coordination acoustique/ musique) an und gründete das Ensemble intercontemporain. Während dieser Jahre schrieb Boulez drei Sonaten für Klavier und komponierte insbesondere „Doubles“ für Orchester (1958), „Domaines“ für Klarinette und 21 Instrumente (1968), „Répons“ für Kammerorchester und sechs Solisteninstrumente mit Computer (1981) ebenso wie „Notations“ für Orchester (1982). An allen nationalen und internationalen Fronten präsent, um die Musik seiner Zeit und die Komponisten der neuen Generation zu unterstützen, kann Boulez ebenfalls als ein Pädagoge ohnegleichen bezeichnet werden, gab er doch zum Beispiel Unterricht beim Internationalen Festival der neuen Musik in Darmstadt (*Stockhausen) (zwischen 1955 und 1967), der Akademie für Musik in Basel (1960-1966), in den USA (1962-1963) ebenso wie am Collège de France (1976). Im Jahre 2011 erhielt er gemeinsam mit Kurt Masur den *Prix de Gaulle-Adenauer. Alex Ross, The Rest is Noise. À l’écoute du XX e siècle - La modernité en musique, Arles 2010. Robert Weeda Bourdieu, Pierre Der in der Region Béarn geborene Pierre Bourdieu (1930-2002) war einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts und hat auch den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften sowie den *Soziologenbeziehungen zwischen beiden Ländern vielfältige Impulse gegeben. Seit 1951 studierte er an der ENS, bestand dort die agrégation und unterrichtete danach als Philosophielehrer, ehe er als Soldat nach Algerien kam. Sich allmählich von der Philosophie entfernend, wandte er sich unter dem Einfluss von Claude Lévi-Strauss der ethnologisch-soziologischen Feldforschung zu und kritisierte in diesem Rahmen ab Ende der 1950er Jahre auch den französischen Kolonialismus. Ab 1962 arbeitete er an dem von *Raymond Aron gegründeten Centre de sociologie européenne (EHESS). Gemeinsam mit Jean-Claude Passeron widmete sich Bourdieu während der 1960er Jahre vor allem der Erforschung von Zusammenhängen zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolgen. Das entscheidende Ergebnis dieser Untersuchungen bestand in der Erkenntnis, dass das französische Bildungssystem trotz seines egalitären Selbstbildes durch verborgene soziale und symbolische Selektionsmechanismen Ungleichheit reproduziert. Daraus entwickelte sich später die Theorie des Habitus, des Lebensstils und der „Kapitalsorten“, die er 1979 - nachdem er bereits 1975 die Zeitschrift „Actes de la recherche en sciences sociales“ gegründet hatte- in „Die feinen Unterschiede“ eindrucksvoll entfaltete. Dort arbeitete er heraus, dass soziale Ungleichheit nicht nur auf unterschiedlichen ökonomischen Reproduktionsbedingungen und ungleicher Verteilung materieller Ressourcen, sondern auch auf klassenabhängigen sozialen Formen des Habitus beruht. In der deutschen Soziologie haben die wegweisenden Forschungen Michael Vesters über „soziale Milieus“ Bourdieus Theorie und Methode konzeptionell viel zu verdanken. <?page no="137"?> Bourel, François B 137 Die Analyse gesellschaftlicher Ungleichheit stand auch im Mittelpunkt weiterer wichtiger Werke Bourdieus wie „Homo academicus“ (1984), das Universitäten als Arenen symbolischer Kämpfe um Macht, Prestige und Einfluss darstellt, und „Staatsadel“ (1989), wo die Rekrutierung von Eliten durch die grandes écoles untersucht wird. Mit der 1981 erfolgenden Berufung an das Collège de France erreichte Bourdieu den Zenit seiner wissenschaftlichen Karriere. Gleichzeitig rief seine radikale Kritik an gesellschaftlichen Missständen und Defiziten auch Ablehnung und Feindschaft hervor. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, sich als Intellektueller politisch zu engagieren. In dem Maße, wie auch in Frankreich die Anfälligkeit für ökonomische Krisen wuchs, die Zahl der Modernisierungsverlierer anstieg und moralische Anomie und soziale Exklusion die gesellschaftliche Integration gefährdeten, mischte sich Bourdieu immer häufiger in die öffentliche Diskussion ein. Mit seiner Konzeption eines „Korporativismus des Universellen“ versuchte er zu begründen, warum Wissenschaftler und Kulturproduzenten legitimiert und verpflichtet sind, in gesellschaftliche Konflikte und Bewegungen einzugreifen. Eine überwältigende Resonanz löste 1993 die unter Bourdieus Leitung durchgeführte Untersuchung „Das Elend der Welt“ aus, welche diejenigen sprechen lässt, die sonst in einer auf Macht, Erfolg, Gewinn und Luxus programmierten Gesellschaft keine Stimme haben. Franz Schultheis, der sich um die Vermittlung des Bourdieuschen Werks verdient gemacht hat, versuchte zusammen mit anderen 2005 den Forschungsansatz Bourdieus in „Das Elend der Welt“ auf eine Untersuchung sozialer Fragmentierung und Marginalisierung in Deutschland zu übertragen. Aber Bourdieu hat auch andere Einzelwissenschaften in Deutschland inspiriert. Schon ziemlich früh hatte Eckart Liebau die erziehungswissenschaftliche Relevanz der Sozialisationstheorie von Bourdieu erkannt. *Joseph Jurt sieht die literatursoziologische Bedeutung Bourdieus in dessen Konzeption literarischer Produktion als agonistischen Prozess der Akteure auf dem literarischen Feld. Ingrid Gilcher-Holtey hebt hervor, dass Bourdieu mit seiner Idee einer „inkorporierten Geschichte“ der Geschichtswissenschaft eine neue Untersuchungsdimension geöffnet habe. Pierre Encrevé, Rosé-Marie Lagrave (Hg.), Travailler avec Bourdieu, Paris 2003; Catherine Colliot-Thélène, Étienne François, Gunter Gebauer (Hg.), Pierre Bourdieu, Deutsch-französische Perspektiven, Frankfurt/ M. 2005; Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart, Weimar 2010. Lothar Peter Bourel, François Der in Asnières geborene François Bourel (1924- 2004) war Sohn eines Offiziers und einer Lehrerin und wuchs in Lyon auf, wo er nach bestandenem Abitur sein Studium aufnahm (Jura und Politische Wissenschaften). Er entstammte einer gläubigen katholischen Familie: sein Vater engagierte sich in der linkskatholischen Vereinigung Sillon und im katholischen Jugendverband Jeune République, wurde nach dem Krieg stellvertretender Bürgermeister von Lyon und gehörte der christdemokratischen MRP an. Im Ersten Weltkrieg wurde der Vater in Verdun verwundet, und während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen festgenommen, doch kam er 1942 wieder frei! François Bourel sprach fließend Deutsch und kultivierte bewusst seinen schwäbischen Akzent. Nachdem er während des Krieges in einem Sanatorium eine Rippenfellentzündung auskuriert hatte, wurde in der Nachkriegszeit das von *Jean du Rivau organisierte Zusammentreffen mit jungen Deutschen in Überlingen (1947) für ihn zu einem einschneidenden Ereignis. Er leitete gemeinsam mit Hans Mertens das 1945 gegründete Centre d’action culturelle et pédagogique de Spire und war maßgeblich an der Organisation des internationalen Jugendtreffens auf der Loreley (1951) beteiligt (*Jugendbeziehungen 1945-1963; *Jean-Charles Moreau), bei dem mehr als 35 000 Jugendliche sechs Wochen lang zusammenkamen. Ein Brief von *Jean du Rivau vom 2.9.1951 gab schließlich seinem Leben eine neue Richtung: „Accepteriez-vous de venir vous embarquer dans l’aventure d’Offenburg? “ Der Pater war nach Vannes versetzt worden und suchte nach einem Nachfolger, um die Aktivitäten der Gruppe in Offenburg zu leiten. Neben seiner Arbeit für die deutschen Flüchtlinge (Bourel verbrachte Weihnachten 1951 im Kilsenlager von Flensburg) übernahm er die Verantwortung der beiden Zeitschriften (*Documents/ Dokumente) sowie für die deutsch-französischen Treffen zwischen Ju- <?page no="138"?> Braunschweig, Stéphane 138 B gendlichen, Lehrern, Journalisten und Firmenchefs. Bis 1958 blieb Bourel in Deutschland, bevor er nach Frankreich zurückkehrte und an der Spitze eines Lebensmittelbetriebs arbeitete, um sich im Anschluss aber wieder für die europäische Einigung einzusetzen. Er vertrat den Conseil national du patronat français (CNPF) beim Conseil économique et social des communautés européennes in Brüssel und wurde 1966 Mitglied des Verwaltungsrates des *DFJW sowie Präsident des Comité de coordination des associations d’échanges internationaux. Auch im Bereich der Musik engagierte er sich auf internationaler Ebene. Er wurde Vize-Präsident von À Cœur joie und gründete 1963 die Fédération internationale des jeunes chorales, deren Leitung er übernahm und in dieser Funktion die Treffen Europa Cantat organisierte. Er folgte 1970 *Jean du Rivau an der Spitze von *BILD, ohne seine Aufgaben beim sehr illustren Cercle franco-allemand zu vernachlässigen, deren Generalsekretär er 1969 geworden war. Nach der Gründung des *DFJW und dem Ableben von *Jean du Rivau stellte sich die Frage, ob die Existenz einer Gesellschaft wie *BILD überhaupt noch Sinn mache. Bourel gelang es schließlich, die öffentlichen Träger in der Bundesrepublik und in Frankreich von dem Fortbestand zu überzeugen, nicht zuletzt auch dank des Einsatzes von *Joseph Rovan, der seit 1976 Bourel zur Seite stand und 1984 die Leitung von *BILD übernahm. Bourel unterhielt enge Beziehungen zur Nachkriegsgeneration unter den westdeutschen Politikern, besonders zum Familienminister Bruno Heck (CDU) und war einer der Pioniere der deutsch-französischen Annäherung nach 1945, der - trotz aller Unwägbarkeiten - auch in späteren Jahren diese Angelegenheit noch maßgeblich unterstützte. Neben der Légion d’honneur war er Träger des Bundesverdienstkreuzes, das ihm vom damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke verliehen wurde. Dominique Bourel Braunschweig, Stéphane Der 1964 in Paris geborene normalien Stéphane Braunschweig ist einer der wichtigsten französischen Theatermacher seiner Generation und zugleich einer der bedeutendsten Mittler im deutsch-französischen Theatertransfer. Bereits das erste Projekt, mit dem Braunschweig - nach einem Studium der Philosophie an der ENS und Schauspielunterricht an der École de Chaillot unter Antoine Vitez (1988-1990) - in Erscheinung trat, zeugte davon: „Homme de neige“, eine Trilogie bestehend aus „Woyzeck“ von Georg Büchner, „Trommeln in der Nacht“ von *Bertolt Brecht und „Don Juan kommt aus dem Krieg“ von Ödön von Horváth, die er 1990 zunächst auf einem Festival in Dijon, dann bei *Bernard Sobel im Centre dramatique national de Gennevilliers präsentierte und für die er den Prix de la révélation théâtrale du syndicat de la critique erhielt. Im Jahr der deutschen Wiedervereinigung besaß die Reflexion über die deutsche Geschichte und ihren Sonderweg einen überzeugenden Aktualitätsbezug und stieß auf entsprechend großes Interesse. Zudem stellte Braunschweig als „Étudiant en philo et en sciences sociales; puis à l’école d’Antoine Vitez à Chaillot“ (Colette Godard) den Idealtypus des intellektuellen französischen Theatermachers dar. Innerhalb weniger Jahre avancierte Braunschweig zu einem bekannten Theatermacher und übernahm bereits 1993 die Leitung des gerade gegründeten Centre dramatique national Orléans . Sein rascher Aufstieg kam auch der deutschsprachigen Dramatik zugute - wenngleich nicht unbedingt der zeitgenössischen, da sich Braunschweigs Interesse, stark beeinflusst von *Bernard Sobel, vor allem auf die Klassiker richtete: Auf dem Festival d’Avignon inszenierte er 1994 „Amphitryon“ von Kleist, mit dem er in der folgenden Spielzeit durch Frankreich tourte, 1995 folgte „Doktor Faustus“ von Thomas Mann sowie im März 1995 das Projekt „Paradis verrouillé“ nach zwei Texten von Kleist („Über das Marionettentheater“ und Fragmenten aus „Penthesilea“). 1995/ 96 brachte er das (auch in Deutschland) selten gespielte Stück „Franziska“ von Frank Wedekind auf die Bühne, im Jahr darauf widmete er sich *Brechts „Im Dickicht der Städte“. Angesichts seiner steilen Karriere verwundert es kaum, dass Braunschweig nicht nur überaus erfolgreich und produktiv am Theater und der Oper inszeniert, sondern auch regelmäßig im Ausland arbeitet: Mit seinem Kleist-Projekt wurde er mehrfach nach Berlin eingeladen und im Dezember 1999 begann mit seiner „Woyzeck“-Inszenierung am Münchner Residenztheater Braunschweigs langjährige Zusammenarbeit mit Elisabeth Schweeger, damals Chefdramaturgin und <?page no="139"?> BRD-Literatur in Frankreich B 139 künstlerische Leiterin des Marstalls, der Experimentalbühne des Münchner Residenztheaters, die auch fortgesetzt wurde, als Schweeger Intendantin am Schauspiel Frankfurt wurde. Nicht zuletzt aufgrund seiner engen Verbindungen mit dem deutschen Theater wurde Braunschweig im Jahr 2000 auf den Posten des Direktors des *Théâtre national de Strasbourg berufen. Während seiner Zeit als Direktor war die Präsenz des deutschen Theaters am *TNS enorm. 2002 inszenierte Braunschweig Kleists bis dahin in Frankreich noch unbekannte „Famille Schroffenstein“, aber auch die Zahl der Inszenierungen von Stücken deutschsprachiger Autoren anderer Regisseure am *TNS war beachtlich: So wurden u.a. Stücke von Franz Xaver Kroetz, Max Frisch, Lukas Bärfuss, Georg Büchner, Thomas Bernhard, *Bertolt Brecht, Dea Loher, Ödön von Horváth, Franz Kafka oder Johann Wolfgang von Goethe aufgeführt. Auch die Häufigkeit der Gastspiele deutscher Inszenierungen erscheint exemplarisch: U.a. lud Braunschweig Christoph Marthaler, Nicolas Stemann, Michael Thalheimer, Frank Castorf ein sowie *Matthias Langhoff mit einer französischen Produktion. 2008 übernahm Braunschweig die Leitung des Théâtre national de la Colline, an dem er seither sein Faible für deutsche Dramatik fortsetzt und sich vor allem durch die Entdeckung von bisher eher unbekannten Autoren einen Namen macht. 2014 gehörte er zu den Favoriten für die Besetzung der Leitung der Comédie-Française. Nicole Colin, Deutsche Dramatik in Frankreich. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer, Bielefeld 2011; Colette Godard, Francesca Spinazzi, Theaterwege. De l’Allemagne à la France. Von Frankreich nach Deutschland, Berlin 1996; Nahaufnahme: Stéphane Braunschweig. Gespräche mit Eberhard Spreng, Berlin 2007. Nicole Colin BRD-Literatur in Frankreich „Von Airbus bis *ARTE gibt es tausend Gründe, sich für Deutschland zu interessieren“, so wirbt eine der großen Pariser Universitäten in ihrem Internetauftritt. Der Schwerpunkt dieses Interesses liegt allerdings mehr auf der Wirtschaft und weniger auf der Literatur. Deutschland gilt zwar als Modell im Bereich des Finanzwesens, die deutsche Literatur spielt jedoch keine bedeutende Rolle. Im französischen Kulturbereich werden deshalb oft wirtschaftliche Argumente herangezogen, um das Interesse an der deutschen Sprache neu zu entfachen. Während sich die Zahl der Deutschlernenden im schulischen Sekundarbereich seit einigen Jahren konstant hält, nimmt die Zahl der Studierenden an den Universitäten rapide ab (*Sprachenpolitik, *Französische Germanistik, *Deutsche Sprache in Frankreich). Auch wenn es nicht zwingend notwendig ist, eine Sprache zu beherrschen, um sich für ihre Literatur zu interessieren, so macht die zurückgehende Präsenz der deutschen Sprache im französischen Bildungsbereich doch deutlich, dass Deutschland im Ausland vor allem aufgrund seiner wirtschaftlichen, industriellen und finanziellen Leistungsfähigkeit wahrgenommen wird. Es ist prestigeträchtiger, einen BMW oder einen Mercedes in der Garage zu haben als die Gesamtausgabe von Hans Henny Jahn oder Klabund im Bücherschrank. Umso erstaunlicher mag es erscheinen, dass überhaupt noch deutsche Bücher in den Auslagen der Buchläden zu finden sind, dass Tagungen zu deutscher Literatur veranstaltet werden und dass es deutsche Schriftsteller gibt, die sich in Frankreich niederlassen. Welche Bücher - abgesehen von Koch- und Gartenbüchern, von Fachliteratur für Maschinenbau und Wirtschaft und anderen Sachbüchern - lassen sich gut nach Frankreich exportieren? Zunächst natürlich Goethe! Er erzielt zwar keine Verkaufszahlen im Spitzenbereich, wird jedoch weiter herausgegeben und immer wieder neu übersetzt. Die hervorragende Übersetzung des „Faust“ von *Bernard Lortholary und Jean Malaplate (Flammarion 1984) wurde durch eine Neuübersetzung von Jean Amsler und Olivier Mannoni (Polio bilingue 2007) und durch eine weitere von Jean Lacoste und Jacques Le Rider (Bartillat 2009) nicht verdrängt sondern abgelöst. Jüngst hat Laurent Cassagnau den „west-östlichen Divan“ vorzüglich neuübersetzt. Heinrich von Kleist gehört zum Programm des Verlags Gallimard, Frank Wedekind ist fester Bestandteil des Theaterverlags Éditions THEA- TRALES, *Bertolt Brecht wird im Verlag *L’Arche herausgegeben und auch Büchner, Lessing und Schiller sind in Frankreich keine Unbekannten (*Deutsches Theater in Frankreich). Wirft man einen Blick auf die Klassiker des Barocks, der Romantik oder des Realismus, <?page no="140"?> BRD-Literatur in Frankreich 140 B so zeigen sich kaum Lücken im deutschen Literaturkanon in Frankreich, da hier traditionell viel übersetzt wird. Der Künstlerroman „Ardinghello“ (1787) von Willhelm Heinse blieb in Frankreich nicht lange unbekannt, genauso wenig wie der Mystiker Quirinus Kuhlmann, der 1689 in Moskau bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Zu den Klassikern zählen auch Autoren des 20. Jahrhunderts wie Wolfgang Borchert, Kurt Tucholsky, Thomas Mann, Hermann Hesse und Siegfried Lenz, deren Werke jedoch Lektüre für Kenner bleiben. Während die Rezeption der Klassiker kaum Überraschungen bietet, ist der Erfolg der Zeitgenossen schwierig vorauszusehen. Die großen Namen finden jedoch auch hier ihren Platz im Feld der übersetzten Literatur. Der erste unter ihnen ist Günter Grass, nicht so sehr wegen seiner Romane „Die Blechtrommel“ und „Ein weites Feld“, sondern wegen seiner meisterhaften Novelle „Katz und Maus“. Es ist immer wieder interessant festzustellen, dass die „großen Schriftsteller“ nur wenig Erfolg bei den Lesern haben: Grass erhielt 1999 den Literaturnobelpreis, Elfriede Jelinek 2004, Herta Müller fünf Jahre später; nicht zu vergessen die Preisträger Nelly Sachs (1966), Heinrich Böll (1972) und Elias Canetti (1981). Sie alle verbindet, dass sich ihre Bücher nicht oder zumindest nicht besonders gut verkaufen. Canetti hat noch den größten Erfolg - gemeinsam mit Hans Magnus Enzensberger, dessen Buch „Hammerstein oder Der Eigensinn“ (in der Übersetzung von *Lortholary) von der Zeitschrift „Lire“ als eines der 20 besten Büchern des Jahres 2010 ausgezeichnet wurde. Für einen Verleger erbringt das Privileg Grass, Jelinek oder Müller herauszugeben sicher symbolisches Kapital. Aber die Verlagslandschaft ist vor allem ein Wirtschaftszweig. Verlage benötigen zum Überleben auch und vor allem Autoren, die sich gut verkaufen, wenngleich diese oft weniger prestigeträchtig sind. Schon seit längerer Zeit gab es keinen Überraschungserfolg mehr wie „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink oder „Das Parfüm“ von Patrick Süskind, dem es meisterhaft gelungen ist, in einer auf eine breite Leserschaft ausgerichtete Erzählprosa gehobene Literatur zu produzieren. Beide Bücher verdanken ihre Entdeckung in Frankreich dem Übersetzer *Bernard Lortholary. Während Süskinds Buch weltweit 15 Millionen Mal verkauft wurde, rechnet man bei Übersetzungen aus dem Deutschen heute nicht mehr in hunderttausenden und noch weniger in Millionen von Exemplaren. Jutta Bechstein vom *Goethe-Institut in Bordeaux, die den Literaturtransfer zwischen beiden Ländern aufmerksam verfolgt, rückt die Erwartungen zurecht: „Wenn ein deutsches Buch die Verkaufszahl von 2 000 Exemplaren erreicht, ist es ein Erfolg.“ Diese etwas ernüchternde Feststellung ist zugleich eine gute Nachricht, denn zahlreiche deutsche Autoren überschreiten diese Marke. Zu den dauerhaftesten Vertretern zählen seit langem Volker Braun, Christoph Hein und Christa Wolf (*DDR-Literatur in Frankreich), deren Erfolg durch die Wiedervereinigung nicht abgeschwächt wurde. Unter den „neueren“ Autoren finden sich in Übersetzung: Jakob Arjouni, Maxim Biller, Julia Franck, Wilhelm Genazino, Katharina Hacker, Judith Hermann, Helmut Krausser, Christof Magnusson, Martin Mosebach, Markus Orths, Ingo Schulze, Alain Claude Sulzer, Feridun Zaimoglu und, ganz unerwartet, Katharina Hagena in einer hervorragenden Übersetzung von Bernard Kreiss. Selbst so schwierige Autoren wie Reinhard Jirgl (Quidam Verlag, übersetzt von Martine Rémon) finden ihr Publikum, so wie früher Arno Schmidt in der Übersetzung von Claude Riehl bzw. Nicole Taubes. Dabei relativiert der Literaturtransfer gelegentlich auch die (übertriebenen) Erfolge eines Autors in seinem Herkunftsland. So hat Helene Hegemanns Debütroman „Axolotl Roadkill“ in Deutschland leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst, während er in Frankreich kaum wahrgenommen wurde; auch Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ war zwar ein sensationeller Erfolg in Deutschland, in Frankreich jedoch ein totaler Flop, was übrigens durch ihr zweites Buch allenthalben bestätigt wurde. Jeder seriöse französische Verlag, ob klein oder groß, hat mindestens einen deutschen oder deutschsprachigen Autor, den er exklusiv oder mit anderen zusammen verlegt. Agone verlegt Karl Kraus und *Alfred Döblin; die Éditions Christian Bourgois haben Martin Suter und Peter Stamm im Programm; Jacqueline Chambon entdeckte einst Elfriede Jelinek für Frankreich; Circé verlegt Adalbert Stifter, Corti die Romantiker und Hans Henny Jahn; Fayard Lion Feuchtwanger und Süskind; Gallimard Robert Musil, Peter Handke und Herta Müller; Grasset gibt Stefan Zweig und Peter Schneider heraus; Le Seuil Gün- <?page no="141"?> Brecht, Bertolt B 141 ter Grass; Les Escales Eugen Ruge, den Preisträger des Deutschen Buchpreises 2011; Métailié Christoph Hein und Volker Braun; Rivages Hofmannsthal und Doderer; Stock Christa Wolf; Tristram Arno Schmidt; Verdier Gert Jonke sowie Josef Winkler und Zoé publiziert Robert Walser und Heinrich Zschokke, denn auch die Schweizer Verleger sind an der Verbreitung deutscher Literatur im französischen Sprachraum beteiligt. Jeder publizierte Titel deutet auf die Verbindung zwischen einem Verlag bzw. einem Autor und seinen Übersetzern (*Übersetzen/ Dolmetschen). Abgesehen von den bekannten Namen *Nicole Bary, Patrick Charbonneau, Pierre Galissaires, *Georges-Arthur Goldschmidt, Marion Graf, Philippe Jaccottet, Isabelle Kalinowski, Bernard Kreiss, Renate und *Alain Lance, *Bernard Lortholary, Olivier Mannoni, Jean-Yves Masson, Huguette und René Radrizzani, *Heinz Schwarzinger und Françoise Wuilmart gibt es eine ganze Reihe von jüngeren Übersetzerinnen und Übersetzern. Manche der Nachwuchsübersetzer haben entweder einen Masterstudiengang für Übersetzung absolviert (Paris, Strasbourg) oder das Goldschmidt-Programm, das jedes Jahr zehn Teilnehmer zusammenbringt, die ihre Literaturerfahrungen austauschen und die Verlagslandschaft des anderen Landes entdecken können. Manche Übersetzer eignen sich ihr Handwerkszeug auch auf eigene Faust an und beweisen dabei Durchhaltevermögen und offenbar Talent, denn insgesamt liest man immer seltener schlechte Übersetzungen. Schaut man allein auf die Übersetzungen, fällt es schwer, zwischen deutscher und deutschsprachiger Literatur zu unterscheiden. Es gibt keinen sprachlichen Grund Heimito von Doderer und *Alfred Döblin zu trennen, oder Robert und Martin Walser, Paul Nizon und Peter Handke, Wilhelm Genazino und Heinrich Zschokke, Urs Widmer und Josef Winkler, oder Thomas Hürlimann und Ulrich Woelk. Deutschland ist nun seit 1990 ein Land mit klar definierten Grenzen, doch die deutsche Sprache setzt sich über diese Grenzen hinweg, wie Herta Müller betont, die 2009 den Nobelpreis für Literatur erhielt und aus dem heutigen Rumänien stammt. Es ist immer wieder eigenartig zu lesen, dass Verleger den Büchern Hinweise wie „Aus dem Deutschen (Österreich) übersetzt“ voranstellen. Im Fall von Yoko Tawada kommt es so zu der kuriosen Formulierung: „Aus dem Deutschen (Japan) übersetzt“! Tatsächlich gibt es ja längst eine deutsche Literatur von Menschen mit einer nicht-deutschen Herkunft: Melinda Nadj Abondji wurde im heutigen Serbien geboren, Sherko Fatah hat einen Vater aus dem irakischen Kurdistan, Zsuzsa Bank ist Tochter ungarischer Eltern, Sasa Stanisic stammt aus Bosnien, Perikles Monioudis hat griechische Eltern. Wer wollte ihnen einreden, sie schrieben ein exotisches Deutsch, wenn doch selbst Heinrich von Kleist sich als Fremder in seiner eigenen Sprache fühlte? Wie kann man die deutschsprachige Literatur in Frankreich fördern? Die Literaturkritik spielt dabei sicherlich eine Rolle, beschränkt sich allerdings meist auf die Information über Neuerscheinungen. Buchmessen wie der Salon du livre, auf dem im Jahr 2001 Deutschland das Gastland war, sind seltene Höhepunkte. Darüber hinaus gibt es besondere Literaturveranstaltungen, wie die der Comédie du Livre in Montpellier im Mai 2011. Dort wurde an drei Tagen in Workshops, Diskussionen und Lesungen die Lebendigkeit der deutschsprachigen Literatur präsentiert, die u.a. durch Marcel Beyer, Sherko Fatah, Katharina Hagena, Christoph Hein, Judith Hermann, Volker Kutscher, Charles Lewinski, Paul Nizon und Ingo Schulze vertreten war. Der beste Weg, Literatur bekannter zu machen, ist immer noch die persönliche Empfehlung: von Buchhändlern an ihre Kunden - die *deutschen Buchhandlungen, die sich vor allem in Paris befinden, spielen dabei eine entscheidende Rolle - oder von einem Leser zum anderen. So ist der Erfolg von Fritz Zorns „Mars“ oder der Bücher von W. G. Sebald zu erklären. Wenngleich Klabund, Brigitte Neumann oder Alexander Kluge in Frankreich noch nicht den Platz gefunden haben, der ihnen gebührt, ist der literarische Rang Deutschlands als Land der Dichter und Denker dennoch unangefochten. Pierre Deshusses Brecht, Bertolt Bertolt Brecht (1898-1956) ist einer der bedeutendsten Autoren und Regisseure des 20. Jahrhunderts, der, obwohl seine Beziehungen zu Frankreich nicht sehr eng waren, entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des französischen Theaterfeldes und das Selbstverständnis der Thea- <?page no="142"?> Brecht, Bertolt 142 B termacher genommen hat. Seine eigentliche Wirkungsgeschichte begann in Frankreich erst zwei Jahre vor seinem Tod. Bis zum ersten Gastspiel des *Berliner Ensembles (BE) auf dem Festival international d’art dramatique (dem späteren Théâtre des Nations) im Jahr 1954 hatte sich kaum ein französischer Theatermacher für die Stücke Brechts interessiert: Gaston Baty erlebte mit der „Dreigroschenoper” zu Beginn der 1930er Jahren den größten Reinfall seiner Karriere und die seltenen Inszenierungen von Brechtstücken bis 1940 blieben ohne nennenswertes Echo. Die erste Inszenierung nach dem Krieg wagte Jean-Marie Serreau, der durch *Benno Besson auf Brecht aufmerksam geworden war, es folgte Jean Vilar 1952 mit „Mutter Courage“ am Théâtre national populaire, der jedoch der Theorie des epischen Theaters ebenso ablehnend gegenüberstand wie die meisten seiner Kollegen. Das Desinteresse an der Brecht’schen Theaterkonzeption sollte nach dem ersten Gastspiel des *Berliner Ensembles (BE) in Paris in das Gegenteil umschlagen. Die Aufführungen der „Mutter Courage“ im Rahmen des Festivals mit Helene Weigel in der Hauptrolle verhalfen Brecht nicht nur zum Durchbruch, sondern führten den französische Theaterwelt für Jahrzehnte in eine regelrechte „Brechtomanie“. Insbesondere Roland Barthes und Bernard Dort schürten als Redakteure der Zeitschrift „Théâtre populaire“ - strategisch unterstützt durch den Brecht-Verleger und Agenten Robert Voisin (*L’Arche Éditeur) - die Begeisterung für *Brecht und seine Arbeit am BE. Hanns Eisler bemerkte am Ende der 1950er Jahre ironisch: „In Paris können Sie ja keinen zweiten Intellektuellen treffen, der nicht sofort sagt: ‚Je suis un Brechtien.’ Und ‚Verfremdung’ wird dann deutsch gesagt.“ Als Regisseur war für die frühe Brechtrezeption der 1950er Jahre vor allem Roger Planchon von entscheidender Bedeutung, der sich als erster französischer Theatermacher auch für Brechts Theaterkonzeption interessierte und diese auf die eigene Arbeit als Regisseur und Autor übertrug. Nach der Entdeckung Brechts erfolgte in den 1960er Jahren seine Etablierung im französischen Theaterfeld durch die Regisseure des théâtre public , in dessen Bühnenstatistik er zwischen 1947 und 1973 den dritten Platz (nach Molière und Shakespeare) der meistgespielten Autoren einnahm. Maßgeblich daran beteiligt war Robert Voisin, der diese durch die Vergabe der Aufführungsrechte lenkte und häufig wegen seiner Rigidität kritisiert wurde. Wenngleich nach dem Brecht-Boom seit Mitte der 1960er Jahre immer wieder einmal von angeblichen „Brechtkrisen“ zu lesen war, nahm die Präsenz Brechts auf französischen Bühnen in den folgenden Jahrzehnten tatsächlich kontinuierlich zu. An die Stelle der Pioniere, die nach und nach das Interesse verloren (André Steiger und Cyril Robichez) oder ihre Regiearbeit insgesamt reduzierten (Jean Vilar und Jean Dasté), traten Regisseure wie der Brecht-Schüler *Bernard Sobel, Jacques Kraemer, Jacques Rosner oder Maurice Sarrazin. Eine große Bedeutung für die Brecht-Rezeption besaß das (bis 1963 von Vilar und danach von Georges Wilson geleitete) Théâtre national populaire (TNP) in Paris. Wilson inszenierte nicht nur selber Brecht-Stücke, sondern lud auch zahlreiche Gastregisseure ein: Jacques Rosner mit „La Mère“, André Steiger mit „La Bonne âme de Se- Tchouan“, Jean-Pierre Vincent und *Jean Jourdheuil mit „Dans la Jungle des villes“ sowie Giorgio Strehler mit „L’Opéra de quat’sous“ als französisch-italienische Koproduktion. Darüber hinaus spielte das 1972 in Théâtre national populaire (TNP) umbenannte Théâtre de la Cité von Planchon in Villeurbanne, *Sobels Ensemble théâtral de Gennevilliers (ETG) sowie das von Gabriel Garran geleitete Théâtre de la Commune in Aubervilliers bei der langfristigen künstlerischen Etablierung Brechts eine wichtige Rolle. Der Einfluss, den Brecht auf das französische théâtre public genommen hat, lässt sich aber keinesfalls allein auf die Aufführungspraxis seiner Stücke begrenzen. So entwickelten die Theatermacher nach einer anfänglichen 1: 1-Übertragung der Lehrmeinungen Brechts auf ihre Inszenierungen eigenständige künstlerische Umsetzungsformen der Theorie des epischen Theaters. Dabei nutzten sie diese für eine moderne, „entstaubte“ Interpretation der Klassiker und entwickelten - ausgehend von Brechts empfohlener Historisierung des Stoffes (anstelle einer Psychologisierung) - ein gesellschaftskritisches Regietheater. Als Umschlagpunkt kann in diesem Kontext die Inszenierung der „Kleinbürgerhochzeit“ der beiden „néo-brechtiens“ (Bernard Dort) Jean-Pierre Vincent und *Jean Jourdheuil gelten, die den „expressionistischen“ Brecht entdeckten. Das Ergebnis war eine Art „zweite Geburt Brechts“ (Colette Godard), an die zahlreiche weitere junge Thea- <?page no="143"?> Breitbach, Joseph B 143 termacher in den 1970er Jahren anknüpften, so u.a. Robert Gironès, André Engel und Georges Lavaudant. Parallel dazu setzten die beiden jungen deutschen Regisseure *Matthias Langhoff und Manfred Karge wichtige Impulse. Die Zeiten des Dogmatismus waren endgültig vorbei und selbst überzeugte Brechtianer imitierten nicht mehr allein das in den Modellinszenierungen Vorgegebene, sondern versuchten mit Brecht über Brecht hinaus zu denken. Als paradigmatisch kann hier *Bernard Sobels viel beachtete „Dom Juan“-Inszenierung gelten. Zudem bot Brecht auch einen Orientierungspunkt für eine neue französische Dramatik, so u.a. für Michel Vinaver und Arthur Adamov. Ein wirklicher Bruch der Brechtrezeption ist erst am Ende der 1970er Jahre auszumachen - eingeleitet von dem Skandal, den Guy Scarpetta mit seiner (im Kontext der Kommunismusbzw. Stalinismuskritik der so genannten nouveaux philosophes zu verortenden) Abrechnung „Brecht ou le soldat mort“ auslöste. Die anti-kommunistischen Strömungen im Intellektuellenmilieu manifestierten sich auch in einem deutlichen Rückgang an Inszenierungen von Brecht-Stücken, der seinen Tiefpunkt 1985 erreichte. Dennoch blieb Brecht mit großem Abstand der meistgespielte deutsche Autor im französischen Theater - auch nach der Wende. So stieg die Zahl der Brecht-Inszenierungen bereits zum Ende der 1980er Jahre wieder deutlich an. Mit Antoine Vitez‘ Inszenierung des „Galilei“ an der Comédie-Française (1990) wurde Brecht zudem endgültig zum „Klassiker“; die Tatsache, dass *Jérôme Savary am Théâtre national de Chaillot in den 1990er Jahren gleich einen ganzen Brechtzyklus präsentierte, deutet zudem auf großes Publikumsinteresse. Ihren Höhepunkt fand der Boom schließlich im Jahr 1998 zum 100. Geburtstag des Dramatikers: 67 Inszenierungen und Wiederaufnahmen fanden zwischen 1997 und 1999 statt. In der Folge verlor die französische Brecht- Rezeption indes an Dynamik. Das Interesse jüngerer Theatermacher an Brecht ist rückläufig, wobei ein relatives Hindernis auch die hohe Anzahl der Rollen in den Stücken darstellt, da die Finanzierung von mehr als drei oder vier Schauspielern für die meisten compagnies fast unmöglich ist. Aus dieser Perspektive betrachtet, stieß die französische Brecht-Rezeption an der Schwelle zum neuen Jahrtausend an ihre strukturellen Grenzen - was ihre Bedeutung für das französische Theaterfeld insgesamt nicht mindert. Wie Jean-Pierre Vincent rückblickend beschrieb, stellte Brecht das klare Gegenprogramm zum klassischen französischen Theatermodell dar, mit dessen Hilfe sich die jungen Theatermacher der 1960er und 70er Jahre erfolgreich ein neues künstlerisches Selbstverständnis erarbeiteten: „Brecht war die Grundlage meiner Ausbildungsjahre. [...] Das war ein Versuch, uns von der französischen Tradition - literarisches Theater um der Literatur willen, idealistisch im elitären Sinne, verstanden als ein Geschenk des Himmels - abzusetzen.“ Roland Barthes, Œuvres complètes. Bd. I: Livres, textes, entretiens 1942-1961, hg. von Eric Marty, Paris 2002; Nicole Colin, Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945, Bielefeld 2011; Marco Consolini, Théâtre Populaire 1953-1964. Histoire d’une revue engagée, Paris 1998; Karin R.Gürttler, Die Rezeption der DDR-Literatur in Frankreich (1945-1990). Autoren und Werke im Spiegel der Kritik, Bern u.a. 2001; Agnes Hüfner, Brecht in Frankreich 1930-1963. Verbreitung, Aufnahme, Wirkung, Stuttgart 1968. Nicole Colin Breitbach, Joseph Der in Ehrenbreitstein geborene Joseph Breitbach (1903-1980) wurde in den Jahren nach 1945 zu einem der wichtigsten literarischen Kulturmittler zwischen Deutschland und Frankreich - und das auf verschiedenen Ebenen, als Journalist und als Schriftsteller sowie durch seinen zivilgesellschaftlichen Einsatz. Er schrieb in der „Zeit“ wie im „Figaro“, verkehrte in Intellektuellen- und Schriftstellerkreisen beider Länder und betätigte sich als Sponsor und Mäzen. Breitbach lag viel daran, die Details seiner Biographie nicht preis zu geben. Von Hause aus bereits wohlhabend gelang es ihm bereits in den 1930er Jahren (vermutlich durch Börsenspekulation) sein Vermögen erheblich zu vermehren, was ihm 1977 die Möglichkeit gab, den höchst dotieren Preis für deutschsprachige Literatur zu stiften, den Joseph-Breitbach-Preis, der seit 1998 jährlich von der gleichnamigen Stiftung vergeben wird. Preisträger waren u.a. W.G. Sebald, Robert Menasse, Herta Müller, *Georges-Arthur Goldschmidt, Ursula Krechel, Ingo Schulze, Jenny Erpenbeck und Navid Kermani. Ein ausgeprägtes Interesse an Kunst und Literatur, vor allem an der französischen Lyrik, sowie ein starkes Streben nach Unabhängigkeit <?page no="144"?> Brice, Pierre 144 B zeichneten den jungen Breitbach aus. Er verließ die Schule ohne Abitur, wurde aber schon bald als Journalist tätig und schrieb Gedichte. In den 1920er Jahren kam er bereits mit französischen Intellektuellen in Kontakt, so 1926 mit André Gide und später mit Jean Schlumberger, der sein Mentor werden sollte. Bereits zu dieser Zeit sprach er ausgezeichnet Französisch. Er schloss sich eine Weile kommunistischen Kreisen an und machte eine Ausbildung zum Buchhändler. Nach Erscheinen seines kritischen, in der Angestelltenwelt angesiedelten Erzählungsbandes „Rot gegen Rot“ (1928) wurde er entlassen. Sein erster Roman „Die Wandlung der Susanne Dasseldorf“, der auch das Thema Homosexualität in den Fokus nahm, erschien 1932 bei Kiepenheuer. Aufgrund seiner homoerotischen Neigungen und politischen Überzeugungen zum Außenseiter geworden, zog Breitbach früh die Konsequenz angesichts der politischen Veränderungen in Deutschland und ließ sich 1929 in Paris nieder. Er pflegte einen mondänen Lebenswandel, liierte sich mit dem Lyriker Wieto Eichel und lernte vor 1939 und nach 1945 zahlreiche Geistesgrößen wie Ernst Robert Curtius, Julien Green, Léon Blum, Robert Schuman, Karl Jaspers kennen. Seine Bücher gehörten zu denen, die 1933 in Berlin verbrannt wurden. 1934 wurde er in eine Exilantenpolemik verstrickt, weil er sich in einem Artikel - zu dieser Zeit schreibt er auch schon auf Französisch - für die Übersetzung einiger völkischer deutscher Autoren des „Inneren Reiches“ stark gemacht hatte, wofür ihn sein Freund Joseph Roth, Klaus Mann und Félix Bertaux heftig attackierten. Obwohl Breitbach 1937 die deutsche Staatsbürgerschaft niedergelegt und die französische beantragt hatte, wurde er bei Kriegsausbruch interniert. Er betätigte sich für den französischen Geheimdienst und lebte bis Kriegsende in einem Versteck bei französischen Freunden. 1940 durchwühlte die Gestapo seine Wohnung in Paris und raubte wertvolle Buchmanuskripte, darunter der später als Fragment veröffentlichte Roman „Clemens“. Nach 1945 setzte der Rheinländer mit französischem Pass alles daran, deutsche Kriegsgefangene zu befreien und korrespondierte darüber auch mit Konrad Adenauer. 1962 erschien „Bericht über Bruno“ zunächst auf Deutsch, 1964 von ihm selbst verfasst auf Französisch. Der Roman, der letztlich den literarischen Rang Breitbachs begründete, lässt sich als Zeugnis des Kalten Krieges und der Konkurrenz politisch-ideologischer Systeme sowie als Vorbote für die neue Gesellschaft nach 1968 lesen, die sich den autoritär geprägten Geschlechter- und Generationenverhältnissen entziehen will. Der Roman bescherte ihm endlich den literarischen Erfolg, den er zuvor zumeist umsonst gesucht hatte: Noch Anfang der 1960er Jahre war sein Theaterstück „La jubilaire“ vor leeren Rängen im Pariser Théâtre Hébertot gespielt worden - es heißt, Breitbach habe die Aufführung selber finanziert. Albrecht Betz, Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, München 1986; Alexandra Gräfin Plettenberg, Nachwort, in: Joseph Breitbach: Bericht über Bruno, Frankfurt/ M. 1999. Joachim Umlauf Brice, Pierre Der in Brest geborene Pierre Brice (1929-2015), der mit richtigem Namen Pierre Louis Le Bris heißt, gehört zu den bekanntesten französischen Schauspielern in Deutschland. Doch während seine Kollegen Alain Delon, Jean-Paul Belmondo und Gérard Depardieu in Deutschland stellvertretend für den *französischen Film stehen, wird der Name von Pierre Brice für ewig und immer mit den Kinoverfilmungen des Karl-May-Bestsellers „Winnetou“ verbunden bleiben, die ab den 1960er Jahren über das Massenmedium Fernsehen in die Wohnzimmer kamen und die westdeutsche Fernsehkultur maßgeblich prägten. 56-mal zierte sein Gesicht das Titelbild der Jugendzeitung „Bravo“, hinzu kamen drei Starschnitte, und als der Apachenhäuptling im dritten Teil erschossen wurde, forderte sie: „Winnetou darf nicht sterben“, sodass er wieder von den Toten auferstand und den Wirtschaftswunderdeutschen den Wunsch nach Wiedergeburt erfüllte. Der von ihm 1962 („Schatz im Silbersee“) erstmals gespielte Apachenhäuptling Winnetou wurde zum Inbegriff des edlen und guten Indianers, der gemeinsam mit seinem Blutsbruder Old Shatterhand (Lex Barker) für Frieden und Gerechtigkeit kämpfte und damit ein positives Bild der Indianer insgesamt in den deutschen Haushalten förderte. Auftritte bei den Karl-May-Festspielen in Elspe und Bad Segeberg verfestigten seinen Ruhm nach dem Abebben der Winnetou-Welle im deutschen Fernsehen. Er gab einer der Größen der deutschen Jugendliteratur <?page no="145"?> Bureau du CNRS en Allemagne B 145 ein zeitgemäßes Gesicht, sodass die Deutschen den „beliebtesten Indianer der Bundesrepublik“ heute für sich reklamieren und den mit einer Deutschen verheirateten Schauspieler erst in den letzten Jahren als Franzosen kennenlernten. Während ihn somit 83 % aller Deutschen und Österreicher kennen, blieb er in seinem Heimatland nahezu unbekannt. Zwar spielte er 1960 neben Catherine Deneuve in „L’homme à femmes“, doch Frankreich hatte zur damaligen Zeit keinen Mangel an jungen Kinostars und zudem sah er wohl Alain Delon zu ähnlich, sodass er sein Schauspielerglück außerhalb der französischen Grenzen suchen musste und schließlich Anfang der 1960er Jahre in Deutschland „entdeckt“ wurde. Der deutsche Nachbar hatte den jungen Brice schon früh geprägt, denn er kämpfte als Bote der Résistance im Zweiten Weltkrieg. Hier kam es auch zur direkten Konfrontation mit dem damaligen Gegner. Er arbeitete in der bretonischen Stadt Rennes in einem Räumkommando und traf auf einen deutschen Kindersoldaten, der vor ihm saß und erschrocken die Hände erhob: „Brice riss ihm die Wehrmachtsuniform vom Leib, steckte ihn in ein paar Lumpen, bevor die heranrückenden Amerikaner ihn bemerkten“ (Focus, 26.3.2012). Später kämpfte er im Indochina- und im Algerienkrieg und sah Kameraden neben sich sterben, was ihn nach eigenen Angaben auch dazu bewegte, die Winnetou-Rolle zu übernehmen: „Ich bin immer ein Soldat geblieben. Deswegen habe ich Winnetou auch so gelebt - und geliebt“. Heute engagiert sich Brice als UNICEF-Botschafter in Krisengebieten, so 1995 in Bosnien. Abschließend bleibt zu fragen, ob Pierre Brice viel für das Deutschlandbild der Franzosen bzw. das Frankreichbild der Deutschen und damit für die deutsch-französische Annäherung nach 1945 getan hat. Aber vielleicht ist das die falsche Frage. Nur wenige Schauspieler werden so mit ihrer Rolle identifiziert wie Pierre Brice mit Winnetou, der mit dieser Kultfigur zu einem Held vieler deutscher Kinderzimmer wurde und Werte wie Freundschaft und Brüderlichkeit vermittelte. Und dafür hat er auch das Bundesverdienstkreuz erster Klasse (1992) und die Auszeichnung als Ritter der französischen Ehrenlegion bekommen, die ihm für seine Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft und das europäische Kino in der französischen Botschaft in Berlin im Jahre 2007 verliehen wurde. Pierre Brice, Winnetou und ich. Mein wahres Leben, Bergisch-Gladbach 2004. Ulrich Pfeil Bureau du CNRS en Allemagne Als das CNRS 1979 sein Büro in Bonn einweihte, steckten die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen dieser französischen Institution und seinen deutschen Partnern noch in den Kinderschuhen. Bis zum Abschluss eines Abkommens zwischen dem CNRS und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Jahre 1971, unter der Ägide von Hubert Curien bzw. Julius Speer, war die Bundesrepublik das einzige Land in Westeuropa, mit dem das CNRS keinen Abschluss über einen wissenschaftlichen Austausch getroffen hatte. Zudem standen die ersten großen Gemeinschaftsprojekte, die aus dem Geist des *Élysée-Vertrags hervorgegangen waren, noch am Anfang: der Reaktor des *Institut Laue-Langevin in Grenoble hatte 1971 mit der Produktion eines Neutronenflusses begonnen; die Verhandlungen um den European Incoherent Scatter Facility, EISCAT, bei denen auch skandinavische Partner am Tisch saßen, mündeten in den Pariser Vertragsabschluss im Jahre 1975, während der gemeinsam mit der Max- Planck-Gesellschaft (MPG) beschlossene Bau des Institut de radioastronomie millimétrique (IRAM) erst 1979 begann. Auffällig war auf dem Felde der deutsch-französischen Beziehungen im Bereich von Wissenschaft und Technologie in den 1970er Jahren das fehlende Wissen über die Entwicklungen auf der anderen Rheinseite. Es muss als Fortschritt bezeichnet werden, dass das CNRS seinen Forschern in dieser Zeit Deutschkurse anbot und Ausarbeitungen über die bundesdeutsche Forschungslandschaft erstellte. Auf Rat von Jean-Pierre Chevillot, Verantwortlicher für die wissenschaftliche Zusammenarbeit der französischen Botschaft in Bonn, verkündete der Generaldirektor des CNRS, Robert Chabbal, die Gründung eines Bureau du CNRS im Herzen des Bonner Wissenschaftszentrums. In einem Schreiben der Botschaft vom 13.12.1977 wurde diese Institution als ein „renommiertes Zentrum“ bezeichnet, „unter dessen Dach eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Organisationen ihren Platz finden, in unmittelbarer Nähe der großen deutschen Wissenschaftsinstitutionen und unweit der französischen Botschaft“. <?page no="146"?> Bureau international de liaison et de documentation (BILD) 146 B Mit Zustimmung des französischen Außenministeriums und Unterstützung durch die DFG öffnete das Büro seine Pforten in der Ahrstraße 45, in dem fortan ein Leiter, der den Titel eines wissenschaftlichen Botschaftsattachés trug, und sein Sekretär arbeiteten. Ab April 1979 konnte es nunmehr seine Arbeit unter der Leitung des aus Nancy stammenden Chemikers René David aufnehmen, der im Januar 1983 von dem Paläontologen Émile Heintz abgelöst wurde. Es übernahm eine Mittlertätigkeit zwischen den beiden Wissenschaftslandschaften, informierte deutsche Forscher über die Aktivitäten des CNRS und instruierte CNRS-Wissenschaftler über Entwicklungen in der deutschen Wissenschaft, insbesondere in Form von regelmäßigen Berichten über Aktualitäten aus der Wissenschaft. Mit diesen Aktivitäten verstärkte das Büro die bilateralen Bindungen. Heute steht Deutschland an der Spitze der Länder, mit denen das CNRS wissenschaftlichen Austausch betreibt. Es ist zudem Frankreichs erster Partner in Europa bei gemeinsamen Veröffentlichungen und die erste Adresse von CNRS-Forschern, die sich zu einem Forschungsaufenthalt ins Ausland begeben. Die Beziehungen entwickelten sich so eng, sowohl zwischen den Laboratorien als auch zwischen den leitenden Mitarbeitern der Wissenschaftsorganisationen, dass sich die Existenz des Büros als überflüssig erwies, war es doch auch nur als vorübergehende Institution gedacht. Entsprechend entschloss sich das CNRS im Jahre 2007 in Übereinstimmung mit seinen deutschen Partnern, vor allem der DFG, sein Büro in Deutschland zu schließen, hatte es doch seine ihm anfangs zugedachte Aufgabe erfüllt. Denis Guthleben, Histoire du CNRS de 1939 à nos jours. Une ambition nationale pour la science, Paris 2009. Denis Guthleben Bureau international de liaison et de documentation (BILD) BILD bzw. sein Vorläufer, das Centre d’études culturelles économiques et sociales, wurde bereits 1945 in Offenburg gegründet und von dem französischen Militärseelsorger *Jean du Rivau geleitet. Gemeinsam mit der Schwesterorganisation GÜZ (*Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit) brachte es die Zeitschriften *Documents und *Dokumente heraus, die von dem im Mai 1945 entstandenen Dokumente-Verlag gedruckt wurden. Erstes Ziel war es, den Informationsgrad über das andere Land und die deutsch-französischen Beziehungen zu verbessern: Wir wollen keine Partei ergreifen, hieß es sinngemäß im Vorwort des ersten Hefts, wir wollen einzig aufklären durch unsere Texte, um eines Tages anzufangen, miteinander zu reden. Die ersten von BILD organisierten Treffen (Überlingen, Lahr, Royaumont) dienten noch dem Kennenlernen und waren von dem Bemühen bestimmt, das gegenseitige Misstrauen abzubauen. Nach Leid und Hass war es für viele überraschend, dass Deutschen und Franzosen wieder von gleich zu gleich miteinander sprachen. Aus den Begegnungen entstanden Freundschaften, und nicht wenige dieser frühen Pioniere fanden sich einige Jahre später an Schlüsselpositionen, die es ihnen ermöglichten, die Annäherung und *Versöhnung zwischen beiden Gesellschaften umso erfolgreicher zu betreiben. In der Anfangszeit war es jedoch ein heikles Geschäft, die beiden *„Erbfeinde“ miteinander auszusöhnen, hatte die französische Besatzungsmacht in Deutschland doch keinen guten Ruf. Zudem gab es unterschiedliche Auffassungen, wie Deutschland „demokratisiert“ werden sollte. Schwer verständlich waren für die Deutschen auch der Behördendschungel innerhalb der Besatzungsverwaltung und die Beziehungen zu den Entscheidungsträgern in Paris, doch im Moment der Gründung der Bundesrepublik waren die ersten Grundlagen für die Annäherung geschaffen. Dank der beiden Schwesterorganisationen wurden die Fundamente für die deutsch-französischen *Jugendbeziehungen nach 1945 gelegt, die bis heute zu den Schwerpunkten der Arbeit von *BILD und *GÜZ gehören. Daneben riefen sie Schriftsteller-, Journalisten- und Lehrertreffen ins Leben, doch von besonderer symbolischer Bedeutung für die *Versöhnung war zwischen 1951 und 1953 die Aufnahme von 2 500 Deutschen, die 1944/ 45 geflohen bzw. vertrieben worden waren, in französischen Familien. Ein Jahr später reisten einige Tausend französische Kinder aus minderbemittelten Familien in die Bundesrepublik, was als vertrauensbildende Maßnahme zwischen zwei Gesellschaften gewertet werden kann, in denen die Vergangenheit noch nicht vergessen war. Zum 10. Geburtstag des seit 1950 in Paris residierenden BILD wurde unter der Schirmherrschaft von Robert Schuman und Theodor Heuss <?page no="147"?> Camus, Albert C 147 eine beeindruckende Feier organisiert, die Ausdruck für den Status war, der BILD und auch *GÜZ in Paris und Bonn beigemessen wurde. Im Gefolge des *Élysée-Vertrages gehörten BILD und *GÜZ zu den Mitinitiatoren bei der Gründung des *DFJW, das in den folgenden Jahren zu seinen privilegierten Partnern gehörte. Über die Aktivitäten des *DFJW wurde nicht selten in *„Documents“ berichtet, das mit Zeitschriften wie *„Revue d’Allemagne“ und *„Allemagne d’aujourd’hui“ Konkurrenten erhielt, die ihr Abonnenten kosteten und sie immer wieder zwangen, das eigene Profil zu schärfen. Dem langjährigen Präsidenten *Joseph Rovan gelang dies immer wieder, nicht zuletzt weil er dabei auch auf einen wichtigen Freund bauen konnte, den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Anders als seine Konkurrenten bewegte sich *„Documents“ außerhalb der Universität, was bis heute seine Besonderheit ausmacht. Der eigentliche Schwerpunkt von BILD blieb jedoch der Jugendaustausch und die Ausbildung von deutsch-französischen Gruppenleitern in Kooperation mit dem *DFJW, die Organisation von Kolloquien und Studienreisen, um das deutsch-französische Netzwerk stetig zu verdichten. Dazu dient auch die Mitgliedschaft im Conseil national de l’éducation populaire et de la jeunesse, im Fonds de coopération de la jeunesse et de l’éducation populaire, im Comité pour les relations nationales et internationales des associations de jeunesse et d’éducation populaire und im Mouvement européen- France. BILD erhielt gemeinsam mit *GÜZ 1956 den Europapreis, 1977 den Deutschland-Frankreich-Preis, 1989 den *Prix de Gaulle-Adenauer und wird heute von dem Journalisten Gérard Foussier geleitet. Franz Knipping, Jacques Le Rider (Hg.), Frankreichs Kulturpolitik in Deutschland 1945-1950, Tübingen 1986; Raïssa Mézières, Documents, revue des questions allemandes et l’idée européenne, 1945-1949, in: Bulletin de l’Institut Pierre Renouvin (Université Paris 1 - Panthéon-Sorbonne) 5 (1998), S. 33-50. Dirk Petter, Auf dem Weg zur Normalität. Konflikt und Verständigung in den deutsch-französischen Beziehungen der 1970er Jahre, München 2014, S. 55ff. Dominique Bourel C Camus, Albert Der in Algerien geborene Albert Camus (1913- 1960) wird in Deutschland neben *Jean-Paul Sartre als der zweite große französische Autor des *Existentialismus wahrgenommen - eine Einschätzung, der Camus selbst jedoch widerspricht. Bis auf den heutigen Tag ist er ein in Deutschland überaus bekannter und vielgelesener Autor. Seine literarischen Werke „Der Fremde“ (1942), „Die Pest“ (1947), „Der Fall“ (1956) und der posthum publizierte Roman „Der erste Mensch“ (1994) sichern ihm, ebenso wie die Essays „Der Mythos des Sisyphos“ (1942) und „Der Mensch in der Revolte“ (1951), bleibende und fortwirkende Bedeutung. Auch auf deutschen Bühnen war und ist Camus präsent - mit seinen Stücken „Caligula“, „Die Gerechten“ und „Das Missverständnis“ oder mit Adaptionen seiner literarischen Werke (*Französisches Theater in Deutschland). Neben der literarischen Gestaltungskraft Camus’ werden die Eindeutigkeit und der Wahrheitsanspruch seiner politischen Haltung als résistant und Ankläger totalitärer Regime geschätzt. Bis 1989 war die Aufnahme seiner Werke in den beiden deutschen Staaten so unterschiedlich, dass von zwei deutschen Camus-Rezeptionen gesprochen werden muss: In der Bundesrepublik war Camus schon am Ende der 1940er Jahre bekannt geworden durch Theateraufführungen und vor allem durch die vom Rowohlt-Verlag in hohen Auflagen verlegten deutschen Übersetzungen seiner literarischen und essayistischen Werke; er genoss hohes Ansehen als künstlerische und politische Leitfigur. In der offiziellen Kulturpolitik der DDR galt er hingegen als Antikommunist und war bis zum Ende der 1950er Jahre Persona non grata . Obwohl bis zu diesem Zeitpunkt keines der Werke Camus’ in ostdeutschen Verlagen publiziert wurde, hatte der Autor für die kritische Intelligenz in der DDR ähnliche Bedeutung wie in der Bundesrepublik. Camus’ politischer Streit mit *Sartre im Jahr 1952, die Verleihung des Nobelpreises 1957 und der tragische Unfalltod 1960 ließen die Verkaufsziffern in der Bundesrepublik weiter emporschnellen. Der „politische Camus“ wurde hier vor allem durch zwei Auswahlbände von 1960, „Fra- <?page no="148"?> Candide-Preis 148 C gen der Zeit“ und „Verteidigung der Freiheit“, bekannt. Nach dem Nobelpreis konnten auch die offiziellen Organe in der DDR Camus nicht mehr ignorieren; so erschien nach einigen kritischen Artikeln 1965 der Roman „Die Pest“, der die Publikation der literarischen Schriften des Autors einleitete. Camus’ Essays, zumal der besonders inkriminierte „Mensch in der Revolte“, sowie seine Tagebücher und politischen Schriften blieben den Verlagen in der DDR hingegen untersagt. Damit verstetigte sich in der DDR das Interesse an dem Autor, während die Aufmerksamkeit in der Bundesrepublik zunehmend schwand. Im Moment des Mauerfalls wurde Camus im Rückblick auf seine einstige Kontroverse mit *Sartre als der „historische Sieger“ gefeiert. Nach dieser instrumentalisierenden Interpretation, durch die das Interesse kurzzeitig aufflammte, hält es sich bei einem breiten intellektuell interessierten Publikum auf stabilem Niveau. Von Anhängern postmoderner Paradigmen wird der Autor hingegen ignoriert oder für anachronistisch erklärt. Wenngleich die Aufnahme Camus’ in Deutschland also - obgleich mit Schwankungen - intensiv und bejahend ist, war Camus’ Beziehung zu Deutschland selektiv und distanziert: In seinen „Briefen an einen deutschen Freund“ verurteilt er den Nazismus als mögliche Folge des Nihilismus. Deutsche Philosophen, v.a. Hegel, Marx und Nietzsche, stehen für Camus am Ursprung des maßlosen nordischen Denkens und seiner unheilvollen historischen Folgen; diese geistige Haltung ist für ihn das Gegenstück zum „mediterranen Denken“, das er selbst vertritt. Einigen Großen der deutschen Literatur wie Goethe und besonders Hölderlin sowie der deutschen Musik erweist er jedoch seine Reverenz. Catherine Camus (Hg.), Albert Camus: solitaire et solidaire, Neuilly-sur-Seine 2009; Brigitte Sändig, Albert Camus, Reinbek bei Hamburg 3 2000; Heinz Robert Schlette (Hg.), Wege der deutschen Camus- Rezeption, Darmstadt 1975. Brigitte Sändig Candide-Preis Prix Candide Der deutsch-französische Literaturpreis ist nach der Hauptfigur in Voltaires gleichnamigen Roman „Candide“ benannt worden und als Nachfolger des Mindener Stadtschreiber-Stipendiums entstanden. Der Candide-Preis wurde vom Literarischen Verein e.V. Minden 2004 zunächst als deutscher Preis gegründet. Die Namensanlehnung an Voltaires Romanfigur basiert darauf, dass die Stadt Minden Ort einer historischen Niederlage des französischen Heeres war und Voltaire Minden in seinem Roman erwähnt. Außerdem sollte der Bezug auf „Candide“ die intensiven deutsch-französischen Philosophiebeziehungen verdeutlichen. Zunächst mit 7 500 Euro dotiert und von Mäzenen finanziert, konnte das Preisgeld dank der Kooperation mit der *Stiftung Genshagen ab 2007 mit Bundesmitteln auf 15 000 Euro verdoppelt werden und sich der Candide-Preis zu einem deutsch-französischen Literaturpreis entwickeln. Es entstand ein Preis für Gegenwartsliteratur, der jährlich vergeben werden sollte und in dem Sinne einzigartig war, dass zwei Autoren - einer jedes Landes - geehrt werden sollten. Jeder Autor erhielt die Hälfte der Gesamtdotierung. Als französischer Kooperationspartner konnte 2008 die Kulturinstitution Villa Gillet (Observatoire international des langages contemporains) in Lyon gewonnen werden, 2009 war zusätzlich das französische Kulturministerium an der Finanzierung beteiligt. Dank des Centre national du livre konnte die Übersetzung eines Werkes der geehrten Autoren in die jeweils andere Sprache finanziert werden, soweit nicht bereits eine Übersetzung vorlag. Mit dem Candide- Preis sollte der kulturelle Austausch zwischen Deutschland und Frankreich gefördert sowie die Begegnung zwischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern beider Länder ermöglicht werden. Auf diese Weise bestand die Möglichkeit, die moderne Literatur dem jeweils anderen Land näherbringen zu können, indem sie übersetzt werden sollte. Als Voraussetzung für die Ehrung durch den Candide-Preis war eine Buchveröffentlichung erforderlich, eine Bewerbung war nicht möglich. Die deutschen und französischen Preisträger wurden von eigenen Jurys gewählt, die aus unabhängigen Fachleuten bestanden. Hierzu zählten Journalisten, Literaturkritiker sowie Mitglieder der fördernden Institutionen. Gewählt wurden 2008 Martin Kluger als deutscher und Mathias Énard als französischer Preisträger, 2009 Volker Braun als deutscher Preisträger und Olivia Rosenthal als französische Preisträgerin. Im Jahr 2010 erhielt lediglich der deutsche Autor Jan Faktor den Preis, der nun wieder vom Literarischen Verein e.V. Minden vergeben wurde. 2011 wurde Peter Hand- <?page no="149"?> Carolus-Magnus-Kreis (CMK) C 149 ke geehrt, allerdings nur ideell und ohne Preisgeld. Da die Finanzierung durch Sponsoren erfolgen sollte und dies sich letztendlich als zu problembehaftet herausstellte, wurde der Candide-Preis noch 2011 eingestellt. Patricia Pasic Carolus-Magnus-Kreis (CMK) Der CMK (seit 1954: Vereinigung für deutschfranzösische pädagogische und kulturelle Zusammenarbeit e.V. - Association pour la coopération franco-allemande culturelle et pédagogique) ist eine Vereinigung von engagierten Lehrern für Französisch aller Schulformen, Universitätsprofessoren und Dozenten der *Romanistik, Studenten, Fremdsprachenassistenten und neuerdings sogar von Schülern von Grund- und Leistungskursen Französisch, die sich durch ihre Teilnahme an DELF- Prüfungen ausgezeichnet haben. Als deutsch-französische Zivilgesellschaft ist der CMK seit 1954 ein eingetragener gemeinnütziger Verein, der sich von Beginn an fest umrissene Ziele gesteckt hatte, wie u.a. beim Treffen auf dem Sonnenberg/ Harz (1958) deutlich wurde: „Geistige und pädagogische Aufgaben deutschfranzösischer Zusammenarbeit für die Welt von morgen“. Seine Arbeitsbereiche umfassen die Vielfalt der gesellschaftspolitischen Bereiche: von geographischen zu historischen, von politischen zu pädagogischen Themen. *Sprachenpolitik, Didaktik und Methodik des Fremdsprachenunterrichts, Interkulturelle Kommunikation und Gesellschaftspolitik haben sich seit 1954 als Schwerpunkte herauskristallisiert. Die in der Satzung von 1954 formulierten Aufgaben des CMK umfassen die Betreuung deutscher *Lektoren, Lehrer, Fremdsprachenassistenten und Studenten, die in Frankreich unterrichten oder studieren, durch Seminare, Kongresse und Jahrestagungen, die in geeigneter Form publiziert werden. Um die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich weiter zu vertiefen, betreut der CMK heute auch die französischen Fremdsprachenassistenten, *Lektoren, Austauschlehrer und Studenten, die in Deutschland unterrichten oder studieren. Der CMK gibt Impulse für einen modernen Fremdsprachenunterricht, insbesondere durch die Herausgabe einer Broschüre für die französischen Fremdsprachenassistenten an deutschen Schulen, durch die Initiierung des Prix Charlemagne seit 2008 und durch seine Jahrestagungen zu aktuellen Fragen des Französischunterrichts mit herausragenden Referenten. Auf diese Weise will der CMK seine Erfahrung in die universitäre Diskussion über die neuen Herausforderungen des Französischunterrichts einbringen. Für die Arbeit im kulturellen Dialog zwischen Deutschland und Frankreich, für das Engagement zugunsten des Erlernens der französischen Sprache und für die Erschließung einer neuen Öffentlichkeit erhielt der CMK am 22.1.2007, zusammen mit der Deutsch-Französischen Gesellschaft Bayreuth, den Prix des associations franco-allemandes, verliehen durch den damaligen französischen Botschafter Claude Martin. Der CMK ist Partner sowie Mitglied anderer Institutionen, die im deutsch-französischen Kontext arbeiten, wie z.B. das *DFI in Ludwigsburg, der Pädagogische Austauschdienst in Bonn, die *VDFG-FAFA in Mainz und die *DFH in Saarbrücken. Der CMK steht allen am deutsch-französischen Kontext interessierten Personen offen und stellt eine ideale Bühne dar, auf der die Intellektuellen beider Länder sowohl den nüchternen Blick in die Vergangenheit als auch den mutigen Blick in eine bessere europäische Zukunft wagten. Diese Zukunft hat der CMK mitgestaltet, gemeinsam mit anderen Institutionen der deutsch-französischen Zusammenarbeit, getragen von den Mitgliedern und in den letzten Jahren von zahlreichen Förderern und Firmen, wie z.B. der Robert Bosch Stiftung (*Stiftungen), dem Ambassadeur de France en Allemagne und der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S., Hamburg. Am 13.10.2012 erhielt der CMK den Prix *Joseph Rovan für seine fast 60-jährige Initiative für die Fort- und Weiterbildung von Französischsowie Austauschlehrern und Fremdsprachenassistenten durch Regionalseminare, Jahrestagungen und Kongresse sowie seine Förderung des Austauschs mit der frankophonen Welt. Der CMK feiert seinen 60-jährigen Geburtstag vom 30. Oktober bis 2. November 2014 mit einer Festveranstaltung an seinem Gründungsort Freiburg in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule zu Freiburg. Hans-Günter Egelhoff u.a. (Hg.), Zwei europäische Völker und ihre Identitäten im Wandel. 50 Jahre deutsch-französische Begegnungen im Prisma des Carolus-Magnus-Kreises. Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum des Carolus-Magnus-Kreises, 2004. Hans-Günter Egelhoff <?page no="150"?> Le Carreau Forbach 150 C Le Carreau Forbach Le Carreau Forbach (L’Association artistique et théâtrale de l’est Mosellan) ist eine grenzüberschreitend arbeitende scène nationale , die ihren Schwerpunkt auf zeitgenössisches Tanztheater setzt. 1996 auf Initiative des Forbacher Bürgermeisters Charles Stirnweiss gegründet, behauptet sich das innovative Theater im deutsch-französischen Grenzgebiet als einzige scène nationale Frankreichs, die mit deutschem Publikum arbeitet. Le Carreau wird vom Staat, der Stadt Forbach, dem Syndicat intercommunal und der Region Lothringen subventioniert. Das Departement Moselle hat seine Zuwendungen für das Theater seit 2009 eingestellt. Von Beginn an bestimmt der grenzüberschreitende Gedanke das Programm von Le Carreau, das mit einer Kapazität von 750 Zuschauerplätzen die größte scène nationale Lothringens ist. Laurent Brunner, der neben seiner Tätigkeit als künstlerischer Leiter im Le Carreau (1996- 2002) auch zwei Jahre lang das Festival Perspectives leitete, kreierte das Festival M@rs attaque mit einem herausragenden internationalen Programm. Er initiierte am Saarlouiser Theater am Ring eine Saison des französischen Theaters, die jedoch von Nachfolger Philippe Chamaux nicht fortgesetzt wurde. Chamaux intensivierte seinerseits das Theaterangebot für junges Publikum. Durch zunehmende Kürzungen der Subventionsgelder geriet Le Carreau im Jahr 2004 in eine finanzielle Krise: Ein Sanierungsplan glich das Haushaltsdefizit erfolgreich aus, indem weniger Programmpunkte angesetzt und weniger Vorstellungen präsentiert werden. Seit 2005 revolutioniert Frédéric Simon das Programm von Le Carreau mit Marionettentheater und Straßenspektakeln, die die Theaterkultur in den alltäglichen Lebensraum der Menschen transportieren. In der Saison 2008/ 09 organisierte Simon erstmals das Straßenkunstfestival Bataille de rue in Forbach. Neben eigenen Produktionen und Co-Produktionen des Theaters gastieren jedes Jahr für ein bis drei Tage hochrangige Artisten, wie die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker oder die Inszenierungen von René Pollesch im Le Carreau. Durch Darbietung und Unterstützung von zeitgenössischem Theater und Tanz ermöglicht Le Carreau auch jungen Künstlern, ihre Werke zu veröffentlichen und auf (inter)nationaler Ebene Anerkennung zu finden. Abgesehen von der Kunstproduktion ist die Kunst- und Kulturerziehung im Hinblick auf die soziale Integration sowie die Sensibilisierung Jugendlicher für Theater eines der Hauptziele des Theaters. Attraktiv für die saarländische Bevölkerung sind die Stücke mit deutscher Übertitelung oder in deutscher Sprache, die Le Carreau zeigt, als auch Tanz-, Zirkus- und Musikdarbietungen, für die keine französischen Sprachkenntnisse erforderlich sind. Da das Programm von Le Carreau komplementär zum traditionell ausgerichteten Saarbrücker Staatstheater aufgezogen ist, beeindrucken die alternativ anmutenden Vorstellungen in Forbach das deutsche Publikum. Seit 1996 nimmt Le Carreau am Festival Perspectives der Stadt Saarbrücken teil, seit 2007 auch am Festival Primeurs, das sich der zeitgenössischen Dramaturgie widmet. Für die Verdienste des Theaters im Namen der Annäherung der deutschen und französischen Kultur wurde im Jahr 2000 an Laurent Brunner und Sylvie Hamard die Canard d’Or verliehen. Chrissie Carpentier, Le Carreau, scène nationale de Forbach et de l’est mosellan et le Grand Théâtre de Luxembourg: deux théâtres de la Grande Région face à leurs publics. Défis et enjeux transfrontaliers (Univ. Masterarbeit, Université de Luxembourg/ Université Paul Verlaine Metz) 2009. Sandra Wagner Carrez, Geneviève Die in Besançon geborene Geneviève Carrez (1909-2014) war in der Nachkriegszeit rund sieben Jahre lang in der von *Raymond Schmittlein geleiteten Kulturverwaltung der französischen Militärregierung und des Hochkommissariats in Deutschland tätig und wurde dann zur Wegbereiterin der französisch-deutschen und der europäischen Gesellschaftsbeziehungen in der Franche-Comté. Sie machte 1928 ihr Abitur und war anschließend bis 1930 in Freiburg und Stuttgart zum Zwecke des Spracherwerbs. Sie legte 1931 ihre licence d’allemand in Besançon ab und bestand 1933 ihre agrégation d’allemand in Paris. Sie promovierte über Arthur Schnitzler (1932) und war 1931/ 32 Assistentin an der Bundeserziehungsanstalt in Wien und 1934/ 35 Stipendiatin der Maison académique in Berlin. In dieser Zeit knüpfte sie Kontakte nach Polen und in die Tschechoslowakei. Von 1935 bis 1945 unterrichtete sie am Lycée Pasteur in Besançon und kehrte 1947 <?page no="151"?> Castellan, Georges C 151 durch Vermittlung ihres Schwagers *Jean-Charles Moreau in das besetzte Deutschland zurück, um im Bureau de la jeunesse et de l’éducation populaire der französischen Militärverwaltung in Baden- Baden mitzuarbeiten, zu dessen Zuständigkeiten auch die affaires féminines gehörten. Nach Ablösung der Militärregierung durch das Hochkommissariat 1949 setzte sie ihre Tätigkeit in Mainz fort als Leiterin des Service des rencontres internationales bis 1954. Sie war in beiden Funktionen maßgeblich beteiligt an der praktischen Umsetzung der Konzeption soziokultureller Aufbau- und Verständigungsarbeit zwischen Franzosen und Deutschen, wie sie in der Kultur- und Jugendabteilung der französischen Besatzungsverwaltung des ersten Nachkriegsjahrzehnts entwickelt wurde. Nach ihrem Zeugnis waren für diese mehr pädagogische als politische Begegnungsarbeit die Überlegungen und Praxisformen bestimmend, die von Peuple et Culture (*Joseph Rovan) und im Umkreis des *Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle (*Alfred Grosser) vorgegeben waren. In ihrer kulturpolitischen Arbeit gab es drei Zentren. Die Umerziehungsbemühungen hatten die (vom Nationalsozialismus relativ wenig vorgeformten) Jugendlichen zum Adressaten. Im Rahmen der *Jugendbeziehungen waren die dialogisch ausgerichteten Treffen zwischen jungen Deutschen und Franzosen von richtungsweisender Bedeutung, besonders solange die freie Einreise nach Frankreich (bis 1949) nicht möglich war. Ein zweiter Schwerpunkt war die Erwachsenenbildung, die in den Volkshochschulen Ansprechpartner fand und in die *Rovan die Programmsätze von Peuple et Culture einbrachte. Der dritte Handlungsbereich, dem die Dozentin Carrez mehr Bedeutung zumaß als andere Mitarbeiter der Besatzungsverwaltung war die Reorganisation und internationale Vernetzung der Frauenorganisationen. In diesem Feld war sie eng verbunden mit dem 1949 gegründeten Deutschen Frauenring und der Frauenrechtsadvokatin Theanolte Bähnisch (1899-1973) (*Schwarzer, Alice, *Frauen). Sie war unmittelbar beteiligt am Aufbau organisierter zivilgesellschaftlicher Kommunikationsstrukturen zwischen Frankreich und Deutschland und trat als Referentin der Tagung des *Arbeitskreises der privaten Institutionen für internationale Begegnung und Bildungsarbeit im Mai 1957 hervor mit besonders klaren Vorstellungen über die unentbehrliche Rolle der privaten Austauschorganisationen. Die Erfahrungen und Bekanntschaften aus ihrer Tätigkeit in Deutschland wurden für Geneviève Carrez zur Grundlage ihrer vielfältigen öffentlichen Aktivitäten nach ihrer Rückkehr in den Schuldienst in Besançon ab 1954. Sie gründete dort das Comité de jumelage et d’échanges internationaux (*Städtepartnerschaften), war Vorsitzende der Association franc-comtoise de culture, Gründungsmitglied der Association européenne des enseignants und Mitglied des Mouvement européen-Franche-Comté. Joseph Jurt (Hg.), Die Franzosenzeit im Lande Baden von 1945 bis heute. Zeitzeugnisse und Forschungsergebnisse, Freiburg/ Br. 1992, S. 136-139, 154f.; Hans Manfred Bock, Private Verständigungs-Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich 1949 bis 1964 als gesellschaftliche Entstehungsgrundlage des DFJW, in: ders. (Hg.), Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn, Opladen 2003, S. 14- 37. Hans Manfred Bock Castellan, Georges Der an der Côte d’Azur geborene Georges Castellan (1920-2014) gehörte zu den Mittelsmännern in den Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR, die sowohl durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten als auch in ihrem Engagement im Rahmen der Freundschaftsgesellschaft *EFA bzw. France-RDA die Anerkennungspolitik der DDR in Frankreich vor 1973 unterstützten und in dem „anderen Deutschland“ bis 1989 das bessere Deutschland sahen. Die ersten Bilder von Deutschland formten sich im Kopf von Georges Castellan durch die Erzählungen seines Großvaters über den Deutsch- Französischen Krieg von 1870/ 71; den ersten direkten Kontakt mit dem Nachbarland machte er dann im Jahre 1943, als er zur Zwangsarbeit in den ehemaligen Heinkelwerken verurteilt und nach Deutschland deportiert wurde. In Dresden und Rostock erlebte er die letzten Monate des „Dritten Reiches“ und die Befreiung durch die Rote Armee am 1.5.1945 in der Ostseestadt. Als Verfechter einer deutsch-französischen *Versöhnung reiste er in der Nachkriegszeit wiederholt durch Deutschland und verfolgte die Nürnberger Prozesse vor Ort. Nachdem sich sein Interesse an Deutschland anfangs auf die Zeit vor 1945 konzentriert hatte, wie u.a. seine Doktorarbeit „Le réarmement clandestin du Reich“ (Paris 1954) belegt, fand die Ent- <?page no="152"?> Caven, Ingrid 152 C wicklung in der DDR seine besondere Aufmerksamkeit. In dieser Positionierung kam seine Ablehnung der exklusiven westdeutsch-französischen Annäherung zum Ausdruck, der er die von der DDR proklamierte „veritable Aussöhnung“ vorzog, sodass er in der Folge zu den wichtigsten französischen Ansprechpartnern des SED-Regimes wurde. Hatte er in seinem ersten Werk „DDR - Allemagne de l’Est“ (Paris 1955) noch die demokratischen Defizite in der DDR bemängelt und Parallelen zum NS-Herrschaftssystem aufgezeigt, blendete er in der Folge den Zwangscharakter des ostdeutschen Regimes nahezu aus und entwickelte sich in den 1960er Jahren zum Vater der systemimmanenten DDR-Forschung à la française , die den ostdeutschen Staat nur noch an seinen eigenen Maßstäben messen wollte. Die insgesamt positive Wertung der DDR in „La République démocratique allemande“ (Paris 1961) provozierte scharfe Reaktionen von *Alfred Grosser, der dem Autor in ironischem Grundton vorhielt, mit seinem „neutralen” und „kritiklosen” Ansatz den Anti-Antikommunisten das Wort zu reden. Sein wissenschaftliches Engagement für die DDR rief ähnlich wie bei *Gilbert Badia auch Kritik in der bundesdeutschen Botschaft in Paris sowie der westdeutschen Öffentlichkeit (u.a. Der Spiegel 10/ 1965) hervor, die ihm sein apologetisches Bild vom SED-Staat vorwarfen. In den folgenden Jahren gehörte er auf französischer Seite zu den Trägern der ostdeutsch-französischen Historikerkolloquien, die der Anerkennungspolitik dienen sollten und Teil der deutsch-deutschen Konkurrenz auf französischem Boden waren. Propagandistische Zwecke verfolgte die 1978 gemeinsam mit Roland Lenoir veröffentlichte Geschichte der *EFA „France - République Démocratique Allemande. 30 ans de relations“ (Paris 1978), die dank ihrer hagiographischen Züge aber einen wichtigen Ausschnitt eines bestimmten französischen DDR- Bildes bietet. Parallel zu seinen Veröffentlichungen und Lehrtätigkeiten als Professor für Neuere Geschichte an der Universität Paris 3 sowie am INALCO gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der 1958 ins Leben gerufenen Freundschaftsgesellschaft *EFA, welcher er als Nichtkommunist mit seinem Engagement zu einer pluralistischen Fassade verhalf. Erst als Vizepräsident, dann von 1980 bis 1989 als Präsident beförderte er ein positives Bild der DDR in Frankreich, wofür er anlässlich des 25-jährigen Bestehens von France-RDA im April 1983 den Orden Stern der Völkerfreundschaft verliehen bekam und noch zu DDR-Zeiten die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität zu Berlin erhielt. Nach der Wiedervereinigung zog sich Castellan aus den deutsch-französischen Beziehungen zurück und machte sich in erster Linie einen Namen als intimer Kenner der osteuropäischen Geschichte und hier speziell des Balkans. Georges Castellan, Itinéraires allemands, Paris 1992; Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln 2004; ders., Échanges et transfert culturels malgré le rideau de fer? Les relations entre historiens français et est-allemands, in: Pierre Behar, Michel Grunewald (Hg.), Frontières, transferts, échanges transfrontaliers et interculturels, Bern 2005, S. 579-594. Ulrich Pfeil Caven, Ingrid Die 1938 in Saarbrücken geborene Ingrid Caven machte sich in Deutschland einen Namen als Schauspielerin, bevor sie nach Frankreich ging und dort als Sängerin bzw. diseuse Karriere machte. Gemeinsam mit ihrer Schwester Trudeliese Schmidt (1942-2004), der späteren Mezzosopranistin, wuchs sie in einem musikalischen Elternhaus als Kind eines Zigarrenhändlers auf. Sie studierte in München, um Lehrerin zu werden, und obwohl sie nebenbei Schauspielunterricht nahm, entschied sie sich erst nach dem abgeschlossenen Referendariat, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Sie gehörte Ende der 1960er Jahre zum Umkreis des Münchener Action-Theaters und antiteaters. Hier traf sie auf zwei Männer, die ihre künstlerische Laufbahn nachhaltig prägten: den Komponisten und Regisseur, Mitbegründer des Theaters, Peer Raben und *Rainer Werner Fassbinder. Mit ihm war sie von 1970 bis 1972 auch verheiratet. Sie spielte in zahlreichen seiner Filme („Liebe ist kälter als der Tod“, 1969; „Warnung vor einer heiligen Nutte“, 1970; „Faustrecht der Freiheit“, 1974; „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel“, 1975; „In einem Jahr mit 13 Monden“, 1978), allerdings meist in Nebenrollen. Sie drehte aber auch mit anderen Regisseuren wie Daniel Schmid („Heute nacht oder nie“, 1972; „Schatten der Engel“, 1975; „Violanta“, 1977) und Werner Schroeter („Tag der Idioten“, 1981). In den 1970er Jahren ging sie, wie zeitweise auch *Fassbinder und andere west- <?page no="153"?> Celan, Paul C 153 deutsche Künstler und Intellektuelle, nach Paris, um der von Terroristenfahndungen geprägten Atmosphäre in der Bundesrepublik zu entfliehen. Sie lebt bis heute in Paris. In Frankreich begann auch ihre zweite Karriere als Sängerin. 1978 trat sie zum ersten Mal in Paris auf und wurde mit ihren musikalischen Interpretationen, Chansons von Edith Piaf und *Marlene Dietrich, schlagartig als diseuse bekannt (LP „Au Pigall’s“, 1978). In der Folge erweiterte sich ihr Repertoire. Hans Magnus Enzensberger schrieb ihr Texte, sie sang aber auch Gedichte von Wolf Wondratschek, Peer Raben komponierte die Melodien. So erschien 1979 in Deutschland die LP „Der Abendstern“. Berühmt wurde außerdem ihre Bühnenrobe, ein ihr von Yves Saint Laurent auf den Leib geschneidertes schwarzes Samtkleid. In Paris lernte „la femme de *Fassbinder“ Mitte der 1970er Jahre den Schriftsteller und späteren Lebensgefährten Jean-Jacques Schuhl kennen. Er schrieb, auf Basis von Notizen *Fassbinders, den biographischen Roman „Ingrid Caven“, der im Jahr 2000 mit dem renommierten „Prix Goncourt“ ausgezeichnet wurde und sowohl den Autor als auch die Hauptfigur seines Romans einem breiteren Publikum wieder in Erinnerung rief. 2001 erschien die deutsche Übersetzung, ebenfalls unter dem Titel „Ingrid Caven“ (Verlag Eichborn). In dem Roman lässt Schuhl die deutsche Geschichte seit den 1940er Jahren anhand der Biographie Cavens in Szenen Revue passieren und kommentierte seine Vorgehensweise selbst mit dem Satz: „Dieses Buch ist eine deutsche Frau.“ Er schildert ihre Kindheit im Nachkriegsdeutschland, ihre Jugend, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, auch im Zuge der 68er Bewegung, schließlich die Begegnung mit *Rainer Werner Fassbinder und ihre spannungsreiche Beziehung, Cavens Anfänge in Paris sowie mit „Charles“, dem literarischen Alter Ego von Schuhl. In Frankreich wurde der Roman, der in einer von Schuhls Freund Philippe Sollers betreuten Reihe im Verlag Gallimard erschien, als literarische Sensation gefeiert, bot er doch einen biographisch-authentischen Blick auf das manchmal rätselhafte Nachbarland. Im selben Jahr, 2000, erschien Ingrid Cavens bisher letzte CD „Chambre 1050“. 2001 wurde sie mit dem Orden Chevalier des arts et des lettres ausgezeichnet. 2011 wurde sie vom damaligen französischen Kulturminister Frédéric Mitterrand zum Commandeur de l’ordre des arts et des lettres ernannt. Jean-Jacques Schuhl, Ingrid Caven, Paris 2000 (dt. Version Frankfurt/ M. 2001); Gabriele Presber, Die Kunst ist weiblich. Gespräche mit Hanna Schygulla, Helma Sanders-Brahms. Barbara Sukowa, Elfriede Jelinek, Karin Brandauer, Ingrid Caven u.a., München 1988, S. 210-228; Camille Nevers, Entretien avec Ingrid Caven, in: Cahiers du cinéma, 469 (1993), S. 59-61. Silja Behre Celan, Paul Der deutschsprachige Lyriker Paul Celan (1920- 1970), international anerkannt als einer der bedeutendsten Dichter des 20. Jahrhunderts, war von 1956 bis zu seinem Tod in der *französischen Germanistik tätig. Die tragische Geschichte seiner Jugend in Czernowitz, seine Zeit der Zwangsarbeit und die Ermordung seiner Eltern durch die Nationalsozialisten sowie die ersten Nachkriegsjahre in Bukarest, wo 1947 sein berühmtes Gedicht „Todesfuge“ erschien, bilden den Rahmen für das Verständnis seines poetischen Werks, das sich explizit mit dem Erinnern und der Frage der Existenzberechtigung von Dichtung nach Auschwitz beschäftigt. Zehn Jahre nachdem Celan sein Medizinstudium in Tours aufgrund des Kriegsausbruchs im September 1939 hatte abbrechen müssen, kehrte er am 13.7.1948 im Alter von 27 Jahren nach Frankreich zurück (*Deutschsprachige Schriftsteller in Frankreich). Zuvor hatte er einige Monate in Wien verbracht, wo er u.a. Ingeborg Bachmann kennenlernte. In Paris lebte er zunächst von universitären Stipendien, gab Deutschkurse an der Sprachschule Berlitz sowie Privatstunden in deutscher und französischer Sprache. Zudem nahm er zahlreiche Übersetzungsaufträge an, die für ihn nicht nur eine Einnahmequelle darstellten, da das literarische Übersetzen aus unterschiedlichen Sprachen von Anfang an zu seinem Selbstverständnis als Schriftsteller gehörte. Er übersetzte beispielsweise die „Briefe an die Amerikaner“ von Jean Cocteau, sowie im Laufe seiner Jahre in Frankreich Texte von Apollinaire, Cioran, Pablo Picasso, Georges Simenon, René Char und zahlreichen anderen Autoren. An der Sorbonne legte Celan im Mai 1949 ein erstes Examen ab und schloss im Juni 1950 das Studium der Germanistik mit einer licence ab. Im darauf folgenden Jahr begann er eine Magisterarbeit zu Kafka, die er jedoch nicht beendete. Im November 1956 wurde Celan <?page no="154"?> Centre culturel français (Berlin/ DDR) 154 C Lehrbeauftragter für mündliches Übersetzen an der École normale supérieure (ENS) in Saint- Cloud - dank der Vermittlung von Jean Fourquet und der Empfehlung seines Freundes Guido Meister, der dort als *Lektor tätig war. Zur gleichen Zeit übersetzte er auf Wunsch des Dichters Jean Cayrol dessen Originalkommentare des Dokumentarfilms *„Nacht und Nebel“, in dem der französische Regisseur Alain Resnais erstmals den grausamen Alltag der Konzentrationslager auf die Kinoleinwand brachte, kongenial ins Deutsche. Der Film löste 1956 eine heftige Debatte in Westdeutschland aus. Am 1.10.1959 wurde Celan schließlich *Lektor an der ENS in der Rue d’Ulm (Paris) auf Empfehlung seines Vorgängers Beda Allemann, der die Stelle von 1956 bis 1957 innehatte, und seines Kollegen *Claude David. Bis zu seinem Tod arbeitete Celan dort: Er bereitete Germanistikstudierende auf die Übersetzungsprüfung der agrégation vor und gab Sprachkurse. Seine damaligen Studenten heben rückblickend die herausragende Qualität seiner Übersetzungen sowie sein zurückhaltendes und freundliches Wesen hervor. Sie erinnern sich auch an seine profunden Kenntnisse der französischen Literatur. Celan war ein unermüdlicher Leser, der sich für die literarische Entwicklung in Deutschland und Frankreich gleichermaßen interessierte. Da er die einzige Lehrkraft für deutsche Sprache war - bis 1967 *Bernard Lortholary als agrégé-répétiteur seinen Dienst aufnahm - leitete er auch gelegentlich Arbeitsgruppen zu literarischen Texten im Rahmen des Programms der agrégation . Hierbei wählte er jene Autoren des Programms aus, die seiner Erinnerungsarbeit und seinem poetischen Werk nahe standen (wie Georg Büchner, Franz Kafka, Heinrich Heine oder Eduard Mörike). Allerdings betreute Celan insgesamt nur sehr wenige solcher Arbeitsgruppen, deren Zustandekommen von der Nachfrage der Studenten abhing. Seine berufliche Lektüre und die Vorbereitungen auf seine Übersetzungskurse bilden sicherlich einen Teil seines kulturellen und sprachlichen Fundus, aus dem er für seine Dichtung schöpfte. Während der Jahre an der ENS machte Paul Celan Bekanntschaft mit einigen Germanisten. Neben *Claude David, der zur gleichen Zeit an der ENS lehrte, gehörten auch *Pierre Bertaux und *Robert Minder dazu. 1998 wurde von Bertrand Badiou und *Jean-Pierre Lefebvre an der ENS die Forschungsgruppe Paul Celan (Unité de recherche Paul Celan) gegründet, die inzwischen an das Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) des CNRS angeschlossen wurde. Celan wählte 1970 den Freitod - wahrscheinlich sprang er vom Pont Mirabeau in die Seine. Jean Bollack, Paul Celan. Poetik der Fremdheit, Wien 2000; ders., L’écrit. Une poétique dans l’œuvre de Paul Celan, Paris 2003; Paul Celan, La bibliothèque philosophique - Die philosophische Bibliothek, hg. von Alexandra Richter, Patrik Alac und Bertrand Badiou, Paris 2004. Jean-Pierre Lefebvre Centre culturel français (Berlin/ DDR) Am 27.1.1984 eröffnete in der Ost-Berliner Vorzeigeallee Unter den Linden 37 das französische Kulturinstitut seine Türen, das dem französischen Außenministerium und damit direkt der Botschaft in Ost-Berlin unterstand. Das Kulturzentrum war Bestandteil des am 18.6.1980 unterzeichneten Kulturabkommens und eine Forderung Frankreichs gewesen, da sich die DDR-Seite jahrelang dagegen verweigert hatte, weil sie den Einfluss westlichen Gedankengutes auf ihre Bevölkerung fürchtete. Dieses „Schaufenster des Westens“ gehörte zu den wenigen Orten, an denen sich die Ostdeutschen unzensiert über Frankreich informieren und den Westen hautnah erleben konnten. Die Sprachkurse durch Muttersprachler, die Bücher und Tageszeitungen in der Bibliothek sowie die regelmäßigen Veranstaltungen zu politischen und kulturellen Themen sowie die Filmvorführungen fanden nach der Eröffnung schnell ein ständig wachsendes Interesse. Die DDR-Organe hatten dies vorausgeahnt und im Vorfeld aus Sorge um die nur schwer zu kontrollierende Wirkung versucht, den freien Zugang zu den Zeitungen und Zeitschriften der Bibliothek abzuwenden, sahen sie in dem Zentrum doch vor allem eine „legale Basis des Feindes“, der dort seine „Kultur und Ideologie“ verbreiten wollte. Die französische Seite war jedoch hart geblieben und hatte den ungehinderten Zugang zur conditio sine qua non für die Eröffnung gemacht. Um dieser Forderung Druck zu verleihen, hatte Außenminister Claude Cheysson sogar seine Reise nach Ost-Berlin am 1./ 2.12.1983 abgesagt und die Eröffnung des Kulturinstituts hinausgeschoben, bis die DDR schließlich nachgab. <?page no="155"?> Centre d’études germaniques, Strasbourg (CEG) C 155 Trotz dieses Zugeständnisses machte sich vor allem die Stasi daran, seine Pläne, Absichten und Aktivitäten zur „vorbeugenden Verhinderung und zielstrebigen Aufdeckung des subversiven Missbrauchs dieser Einrichtung durch den Feind“ aufzuspüren. Zur besseren Kontrolle musste jeglicher Verkehr des Zentrums mit staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen zentral über das Büro für Kulturzentren (BfK) laufen. Trotz aller Kontrolle und Beschränkung entwickelte sich das Zentrum aber mehr und mehr zu einer Anlaufstelle für die Vertreter der „inneren Opposition“ und verschaffte den Intellektuellen und Künstlern über den Weg einer größeren internationalen Anerkennung mehr Spielraum für ihre Arbeit in der DDR. Weil sie im Rahmen ihrer *auswärtigen Kulturpolitik zum einen den Wunsch nach kulturellen Kontakten mit dem Ausland propagierte, durch ihren Geheimdienst aber zum anderen stets auf Abgrenzung, Einschränkung und Behinderung bedacht war, hatte sie sich in eine zwiespältige Lage gebracht, aus der es ein Entrinnen nur unter schwerem internationalen Prestige- und weiterem Legitimationsverlust bei der eigenen Bevölkerung gegeben hätte. Die SED wollte sich jedoch keinen Skandal leisten, sodass die Handhabe gegen die Besucher des Zentrums eingeschränkt blieb, was ein Zeichen dafür war, dass die Staatsorgane Mitte der 1980er Jahre keine nachhaltende Wirkung mehr erzielen konnten. Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln 2004, S. 548ff; Marco Hanitzsch, "Einverstanden, E.H.". Das französische Kulturzentrum in Ost-Berlin 1983- 1989, in: Anne Kwaschik, Ulrich Pfeil (Hg.), Die DDR in den deutsch-französischen Beziehungen, Brüssel 2013, S. 363-380. Ulrich Pfeil Centre d’études germaniques, Strasbourg (CEG) Das im Herbst 1921 in Mainz gegründete CEG wurde 1930 mit dem Ende der Besetzung des Rheinlandes nach Straßburg verlegt und verblieb dort bis zu seiner Schließung im Jahre 2001. Für die Dauer von 80 Jahren war es einer der zentralen Orte für die Vermittlung deutscher Geschichte und Kultur in Frankreich: Als Lehreinrichtung und Dokumentationszentrum zugleich, entwickelte es sich zu einem Forschungszentrum, welches von 1968 bis 2001 dem CNRS angehörte. Neben seiner ursprünglichen Funktion als Observationszentrum entfaltete es sich im Entwicklungsprozess der deutsch-französischen Beziehungen langsam zu einer Brücke zwischen beiden Ländern, was ihm während der kurzen Blüte der deutsch-französischen Beziehungen in der Locarno-Ära in den 1920er Jahren nicht gelungen war. Im Prozess der Annäherung beider Länder nach dem Zweiten Weltkrieg war das CEG ein wichtiger Akteur, zunächst vorsichtig unter Leitung des Germanisten Alfred Schlagdenhauffen gegen Ende der 1950er Jahre, entschiedener dann aber unter seinen Nachfolgern ab den 1960er Jahren. Bei seiner Gründung unter der Direktion des Germanisten Jean-Édouard Spenlé (wie die Mehrheit der Lehrenden des Zentrums zugleich Professor der Université de Strasbourg) richtete sich das CEG in erster Linie an französische Germanistikstudenten sowie an Verwaltungsangestellte der Besatzungsgebiete und Offiziere der Rheinarmee. Es wurde interdisziplinäres Wissen vermittelt, welches sich an den zeitgenössischen Gegebenheiten in Deutschland orientierte. So ließ u.a. *Edmond Vermeil seine Studenten bereits ab Ende der 1920er Jahre die Bedingungen für den Aufstieg der NSDAP untersuchen. Seine Nachfolge trat in den 1930er Jahren der Jurist René Capitant an, der sich ebenfalls durch seine Wachsamkeit gegenüber dem NS-Regime auszeichnete und dabei half, einige am CEG diplomierte Offiziere in die Résistance-Bewegung zu schleusen. Während des Krieges zog sich das CEG nach Clermont-Ferrand zurück und beschränkte sich auf seinen bloßen Fortbestand. Doch schon 1946 kehrte es unter der Leitung des Geographen Henri Baulig nach Straßburg zurück, um zwei Jahre später in die Universität eingegliedert zu werden. Sein Offizierspublikum behielt es bis Ende der 1960er Jahre und wandte sich dann verstärkt an Straßburger Studierende unter der Leitung von Jean Murat (1963-1966) und Roger Bauer (1966- 1969). Diese beiden Germanisten gaben der Einrichtung wieder eine neue Dynamik: Lehre in enger Zusammenarbeit mit Sciences Po, dem Institut für Politikwissenschaften in Straßburg (daher auch 1969 die Entscheidung wieder Teil der Université Strasbourg III zu werden), Forschung in Zusammenarbeit mit dem CNRS, Gründung und <?page no="156"?> Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC) 156 C Herausgabe der *Revue d’Allemagne ab 1968 und zunehmende Kooperation mit deutschen Forschern und Institutionen. Der Historiker François-Georges Dreyfus übernahm von 1969 bis 1985 die Führung einer stets interdisziplinär ausgerichteten Institution, die ihren Fokus auf die neuere und neueste Geschichte richtete. Sämtliche Nachfolger waren ebenfalls Historiker: Raymond Poidevin (1986-1988), Jean- Paul Bled (1988-1999), Michel Fabréguet (2000- 2001). Dreyfus machte aus dem CEG zudem eine Art Dienstleister für die Vermittlung von Praktika und die Durchführung von Umfragen bzw. Wahlanalysen. Im Bereich der Forschung war das CEG in vier Bereiche unterteilt (Politik, Recht, Wirtschaft, Literatur) und seit den 1950er Jahren eines der angesehensten Zentren für DDR-Studien in Frankreich. Im neuen politischen Kontext nach 1981 (Wahlsieg von Mitterrand) wurde ihm jedoch seine führende Position als Deutschlandzentrum durch das 1980 von den Regierungen in Paris und Bonn beschlossene *CIRAC in Paris streitig gemacht. Das CEG betrachtete die Neugründung weiterer Forschungszentren mit Deutschlandbezug wie das *Centre Marc Bloch und das *CIERA mit Argwohn. Mit seinem erweiterten Lehrangebot und umgestalteten Forschungsschwerpunkten (insbesondere bezüglich der deutschen Wiedervereinigung) wurde das CEG bis 1998 vom CNRS sehr geschätzt. Die weitere Entwicklung wurde jedoch sehr kritisch verfolgt, wollte das CEG doch nur ein „Observatorium“ für Deutschland sein, obwohl die Ära der deutsch-französischen Kooperation auch in der Forschung längst begonnen hatte. Im Jahre 2001 verlängerte das CNRS seinen Vertrag mit dem CEG nicht, sodass es auch als universitäre Einrichtung nicht weiter betrieben werden konnte und seine Türen 2002 endgültig schließen musste. Corine Defrance, avec la collaboration de Christiane Falbisaner-Weeda, Sentinelle ou pont sur le Rhin? Le Centre d’études germaniques et l’apprentissage de l’Allemagne en France (1921-2001), Paris 2008. Corine Defrance, Christiane Falbisaner-Weeda Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC) Das Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC) ist ein unabhängiges Forschungs-, Fachinformations- und Dokumentationszentrum über das heutige Deutschland. Es wurde 1982 im Anschluss an eine gemeinsame Erklärung des französischen Staatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers anlässlich der 37. Deutsch-Französischen Konsultationen (Paris, 5./ 6.2.1981) gegründet. Das CIRAC ist seit 2001 als rechtlich unabhängiges Institut an der Universität Cergy-Pontoise angesiedelt. In diesem Rahmen wurde hier u.a. der Masterstudiengang „Commerce et partenariats franco-allemands“ in Zusammenarbeit des Fachbereichs Moderne Fremdsprachen und des CIRAC als unterstützendem Forschungsinstitut gegründet. Kernauftrag des CIRAC ist, in Frankreich eine umfassende Kenntnis des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Geschehens in Deutschland zu vermitteln - als Baustein für die europäische Integration. Als Kompetenzzentrum für Deutschland und die deutsch-französischen Beziehungen im europäischen Integrationsprozess versteht sich das CIRAC als Plattform für den Dialog und den interkulturellen Wissenstransfer zwischen den politischen und wirtschaftlichen Akteuren beider Länder. Entscheidungsträgern in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft sowie einer an Deutschland interessierten Fachöffentlichkeit bietet das CIRAC praxisnahe und aktualitätsbezogene Forschungsergebnisse und Expertisedienstleistungen. Als unabhängige Forschungseinrichtung betreibt das CIRAC systemvergleichende Analysen und bietet Wissenschaftlern in Frankreich, Deutschland und anderen Ländern eine Plattform für Austausch, Netzwerkbildung und Nachwuchsförderung. Das Zentrum wird vom französischen Bildungs- und Forschungsministerium finanziell unterstützt und von einem wissenschaftlichen Beirat und einem Verwaltungsrat geführt. Beide Gremien sind mit Hochschullehrern, Fachleuten und Vertretern des französischen Staates besetzt. Der Präsident des Verwaltungsrates des CIRAC ist seit 1986 *Alfred Grosser (zuvor: *Pierre Bertaux). Seit seiner Gründung ist René Lasserre der Direktor des Zentrums. Das CIRAC beschäftigt sechs ständige Mitarbeiter und arbeitet regelmäßig mit externen Fachleuten und Forschern zusammen. Es unterhält ein enges Netzwerk von Kooperationen mit Forschungseinrichtungen, Verbän- <?page no="157"?> Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) C 157 den und anderen Institutionen in Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern und ist Gründungsmitglied des *CIERA, das einen Forschungsverbund von französischen Hochschul- und Forschungseinrichtungen bildet, die sich mit zeitgenössischen Deutschlandstudien befassen. Neben der Organisation von wissenschaftlichen Kolloquien und Tagungen ist das CIRAC Herausgeber der Buchreihe „Travaux et Documents du CIRAC“ und zweier regelmäßig erscheinender Zeitschriften: Das heute nur online verfügbare Informationsbulletin *„CIRAC-Forum. Bulletin pour la coopération franco-allemande dans les sciences humaines et sociales“ (seit 1988), das vier Mal im Jahr erscheint, sowie die Wirtschaftsfachzeitschrift *„Regards sur l’économie allemande. Bulletin économique du CIRAC“ (seit 1991). Werner Zettelmeier Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) Das Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) ist ein interdisziplinäres Zentrum für Deutschlandstudien und -forschung mit geistes- und sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt mit dem Ziel, die französische Deutschlandforschung und die universitäre Kooperation besser zu strukturieren. Seine Gründung wurde durch das Weimarer Abkommen von 1997 angeregt und 2001 in Paris vollzogen. Es ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts und gehört zum internationalen Netz der Deutschlandstudienzentren des *Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD); vergleichbare Institutionen befinden sich u.a. in den Niederlanden, Polen, China und den USA. Seit seiner Gründung wird es vom Ministère de l’enseignement supérieur et de la recherche, dem *DAAD und den eigenen Mitgliedsinstitutionen gefördert. Die Spezifik des CIERA liegt in der Struktur des Netzwerks, das die Ausbildungs- und Forschungsaktivitäten seiner Mitglieder und weiterer Partner koordiniert, verknüpft und ergänzt. Dem Verbund haben sich elf französische Forschungseinrichtungen und Hochschulen in den Großräumen Paris und Rhône- Alpes angeschlossen, zu denen einige der renommiertesten französischen Wissenschaftsinstitutionen gehören: das *Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC), die École des hautes études en sciences sociales (EHESS), die École normale supérieure (ENS), die Fondation Maison des sciences de l’homme (FMSH), die Université de Cergy-Pontoise, die Université Paris-Sorbonne (Paris IV), die Université Paris I-Panthéon-Sorbonne, École normale supérieure de Lyon (ENS de Lyon), die Université Lumière Lyon 2 und das Institut d’études politiques de Grenoble. Darüber hinaus wirken assoziierte Zentren im Netzwerk mit. Dank dieser Struktur ist am CIERA ein außerordentlich breites Spektrum geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächer vertreten. Zu den prioritären Aufgaben des CIERA gehört die Heranbildung einer neuen Generation von Deutschlandexperten und -forschern, die interdisziplinär arbeiten und in einem kontinuierlichen und facettenreichen deutschfranzösischen Dialog in der Wissenschaft sowie in der kulturellen und wirtschaftlichen Kooperation wirken. So bietet das CIERA Master- und Doktorandenprogramme an, welche die Integration des Nachwuchses in die interdisziplinäre Deutschlandforschung fördern; es organisiert kooperative Forschungs- und Ausbildungsprogramme mit Seminaren, Workshops und Kolloquien, schreibt Stipendien für Forschungsaufenthalte und Praktika in Deutschland aus und vergibt thematisch gebundene Mittel für deutsch-französische Forschungsprojekte mit sozial- und kulturwissenschaftlicher Fragestellung. Die künftigen Deutschlandspezialisten erhalten bei ihren wissenschaftlichen Vorhaben sowohl fachliche und didaktisch-methodische Unterstützung als auch praktische Hilfestellung (z.B. hinsichtlich der Organisation einer erfolgreichen cotutelle ). Zudem eröffnet das CIERA Räume für einen impulsgebenden Austausch und Wissenstransfer in Form von Juniorkolloquien. Der Zugang zu den sehr nachgefragten Angeboten des CIERA steht Studierenden und Nachwuchsforschern aller europäischen Hochschulen offen. Auch die Nachbetreuung - Aufbau eines Alumni-Netzwerkes - ist Bestandteil der Arbeit des Centre. Einem breiteren Publikum zugänglich sind neben Kolloquien zu aktuellen Themen unter Beteiligung deutscher, französischer und europäischer Experten z.B. Publikationen in der Reihe „Dialogiques“ oder Dokumentationsangebote wie „Germano-Fil“, ein Leitfaden für Internetquellen zu den deutschsprachigen Ländern. Das CIERA strebt an, verstärkt deutsche Kooperationspartner einzubinden sowie seine Unter- <?page no="158"?> Centre Marc Bloch (CMB) 158 C stützung für kooperative fächer- und länderübergreifende Forschung auszubauen. In diesem Sinne trägt das CIERA beispielhaft zum Aufbzw. Ausbau eines europäischen Forschungsraums bei. DAAD-Magazin online 7/ 2011; Klaudia Knabel, Frankreich investiert in seine Zukunft, Bericht der Außenstellen 2010, DAAD Bonn 2011. Stefanie Neubert Centre Marc Bloch (CMB) Die Ursprünge des Centre Marc Bloch (CMB) sind untrennbar mit den Veränderungen in Mittel- und Osteuropa nach 1989 verbunden. Bereits am 22.8.1990, also noch vor der deutschen Vereinigung, schlug die Regierung von Michel Rocard die Gründung eines Instituts für Zeitgeschichte vor, das den Wandel in Osteuropa direkt und vor Ort beobachten sollte. Schließlich gab Präsident François Mitterrand die Gründung einer solchen Institution auf dem Weimarer Gipfeltreffen (20.9.1991) bekannt. Das Projekt war gemeinsam von Mitarbeitern des französischen Außenministeriums, des Forschungs- und des Erziehungsministeriums sowie des CNRS ausgearbeitet worden. Die Vorarbeiten mündeten in die Eröffnung des CEFRES in Prag, des Collegium Budapest und des CMB in Berlin. Verworfen wurde dabei die Idee, eine Institution nach dem Vorbild des *DHI Paris zu gründen. Man entschied sich vielmehr für ein interdisziplinäres deutschfranzösisches Forschungszentrum, das anfangs den Namen Centre franco-allemand de recherches en sciences sociales erhielt und seine Arbeit offiziell am 1.10.1992 aufnahm. Zum ersten Direktor wurde der ehemalige Leiter der Mission historique française in Göttingen (*Institut français d’histoire en Allemagne), *Étienne François, ernannt, dem als Stellvertreter der Anthropologe Emmanuel Terray zur Seite stand. Seine deutsch-französische Komponente erhielt das Centre mit der Unterzeichnung einer Vereinbarung mit der Max- Planck-Gesellschaft, seiner Integration in ein Graduiertenkolleg, durch die Übernahme von Räumen, die vom Berliner Senat und anschließend von der Humboldt-Universität zur Verfügung gestellt wurden, sowie durch die Unterstützung durch das Berliner Wissenschaftskolleg. Seinen heutigen Namen bekam das Centre anlässlich seiner offiziellen Einweihung am 8.9.1994. Die Person von Marc Bloch, die bereits 1992 ins Spiel gebracht worden war, drängte sich umso eindeutiger auf, da der Verwaltungsrat der Universität Straßburg II es im Mai 1994 abgelehnt hatte, die Universität nach dem Mitbegründer der „Annales“ und ermordeten Widerständler zu benennen. Zu diesem Zeitpunkt waren 18 Forscher dem CMB angeschlossen, 1995 zählte man bereits 27. Zugleich vergibt das CMB Stipendien an Doktoranden und betreut auch solche, die ihre Finanzierung selber eingeworben haben. Die Forscher aus den verschiedenen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften stehen für den interdisziplinären Charakter des CMB, den die Gründungsväter beabsichtigt hatten und der auch bei der Wahl der Direktoren zum Ausdruck kam. Die Philosophin Catherine Colliot-Thélène folgte *Étienne François im Jahre 1999; danach übernahm die Politologin Pascale Laborier die Leitung, bevor der Historiker Patrice Veit 2010 die Direktorenstelle übernahm. Heute ist das CMB dem französischen Außenministerium, dem Forschungs- und Erziehungsministerium, dem CNRS sowie dem bundesdeutschen Forschungsministerium zugeordnet, das drei Forscher und einen stellvertretenden Direktor finanziert. Im wissenschaftlichen Beirat sitzen zu gleichen Teilen französische und deutsche Forscher. Über 70 Forscher und Doktoranden gehören über verschiedene Anbindungsmodalitäten zum CMB; darüber hinaus verfügt es über ein dichtes Netz von Ehemaligen, die mittlerweile in unterschiedlichen europäischen Wissenschaftsinstitutionen tätig sind und neben den zahlreichen internationalen Forschungsprojekten für den Erfolg des Centre sprechen. Nicolas Beaupré, Le Centre Marc Bloch de Berlin. Du projet à la réalisation, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Deutschfranzösische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007, S. 367-380; Christian Connan, Deux ou trois choses que je sais du Centre Marc Bloch, in: Peter Schöttler, Patrice Veit, Michael Werner (Hg.), Plurales Deutschland - Allemagne plurielle, Göttingen 1999, S. 11-17. Nicolas Beaupré Chéreau, Patrice Der in Paris geborene und aufgewachsene Theater-, Opern- und Filmregisseur Patrice Chéreau (1944-2013) zählte nicht allein zu den bedeu- <?page no="159"?> Cheval, René C 159 tendsten Bühnenkünstlern des 20. Jahrhunderts, sondern kann auch als einer der zentralen Akteure des deutsch-französischen Theatertransfers bezeichnet werden. 1993 wurde ihm die Goethe-Medaille sowie der Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland verliehen. Chéreaus Theaterkarriere begann in der Theatergruppe des Lycée Louis-le-Grand, wo er Jean- Pierre Vincent kennenlernte. Rasch gelang es der Compagnie Vincent-Chéreau sich einen Namen zu machen: Sie spielte in den Theaterlaboratorien der Banlieues bei *Bernard Sobel (in Gennevilliers) sowie Gabriel Garran (in Aubervilliers), 1964 lud *Jack Lang sie auf das Festival de Nancy ein. 1966 bot Claude Sévenier, der Leiter des Théâtre municipal de Sartrouville, Chéreau den Posten des Kodirektors an. Nur zwei Jahre später sah sich Chéreau jedoch gezwungen, aufgrund finanzieller Misswirtschaft die Leitung des Theaters wieder aufzugeben. Er ging nach Italien und arbeitete dort vier Jahre mit Giorgio Strehler am Piccolo-Theater. Als studierter Germanist interessierte sich Chéreau bereits früh für die deutsche Dramatik: Für seine Inszenierung der „Soldaten“ von Jakob Michael Reinhold Lenz gewann er 1967 den Concours des jeunes compagnies; 1972 brachte er Alban Bergs Oper „Lulu“ (nach Frank Wedekind) in Mailand auf die Bühne. Tankred Dorst‘ Stück „Toller“ interpretierte er gleich dreimal. 1972 holte ihn Roger Planchon an das Théâtre national populaire in Villeurbanne und machte ihn zu seinem künstlerischen Kodirektor. Trotz zahlreicher Beziehungen zu Theatern in Deutschland, so zur Berliner *Schaubühne, erlebte Chéreau seinen endgültigen Durchbruch in Deutschland als Opernregisseur: mit seinem „Jahrhundertring“ in Bayreuth zum 100-Jahre-Jubiläum der Festspiele, der zwischen 1976 und 1980 unter der musikalischen Leitung von *Pierre Boulez aufgeführt wurde. Die anfängliche Empörung über die ungewöhnlich freie Interpretation wandelte sich mit der Zeit in Begeisterung. 1982 übernahm Chéreau (gemeinsam mit Catherine Tasca) die Leitung des Théâtre des Amandiers in Nanterre, das er bis 1990 leitete. Hier pflegte er weiterhin seine Kontakte zu deutschen Bühnen; u.a. war *Luc Bondy als Regisseur ein gern gesehener Gast. Darüber hinaus kommt Patrice Chéreau mit seiner „Quartett“-Inszenierung aus dem Jahr 1985 aber auch eine wichtige Bedeutung in der französischen Rezeption von *Heiner Müller zu. Ende der 1980er Jahre verkündete Chéreau seinen Abschied vom Theater, um sich fortan ganz der Filmarbeit zu widmen. Wenngleich er dies nicht einhielt - so inszenierte er u.a. die französische Erstaufführung von Botho Strauß‘ „Die Zeit und das Zimmer“ 1991 am Théâtre de l’Odéon in Paris - ging seine Tätigkeit am Schauspiel zwischen 1988 und 2003 merklich zurück, auch zugunsten seiner Operninszenierungen. Nach 2005 widmet er sich verstärkt wieder der Bühnenarbeit, wobei ein besonderes Interesse an deutscher Dramatik jedoch nicht mehr festzustellen war. Nicole Colin, Deutsche Dramatik in Frankreich. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer, Bielefeld 2011. Nicole Colin Cheval, René Der in Besançon als Sohn eines Grundschullehrerehepaars geborene René Cheval (1918-1986) war ein französischer Germanist, der eine bedeutende Rolle in der deutsch-französischen kulturellen Zusammenarbeit zwischen 1945 und 1973 gespielt hat. Als agrégé d’allemand wurde er im Juli 1945 zum Hochschulkontrolloffizier der damaligen französischen Militärregierung in Würtemberg- Hohenzollern ernannt. Er sollte den Entnazifizierungsprozess in der Universität Tübingen kontrollieren, der auch nach der Wiedereröffnung der Universität im Oktober 1945 fortgesetzt wurde. Dazu unterstützte er insbesondere die von reformistischen Professoren wie dem künftigen SPD- Politiker *Carlo Schmid geforderte Erneuerung und Demokratisierung des Studiums. Zu den von ihm durchgeführten Reformen zählte die Verpflichtung für die neuen Studenten, zunächst ein Jahr im Rahmen von Propädeutikkursen zu studieren, um eine breitere Allgemeinbildung zu erwerben. Was aber René Cheval dauerhaft zu einem Kulturvermittler machte, war die Wiederbelebung des akademischen Austausches in Tübingen. Anfang 1946 wurde ein Auslandsamt in der Universität eröffnet und bereits im Sommer 1946 konnten ca. 300 junge Franzosen und 200 Deutsche sechs Wochen gemeinsam verbringen. Diese Maßnahmen griffen der 1948 beginnenden Nor- <?page no="160"?> Christadler, Marieluise 160 C malisierung der deutsch-französischen Kulturbeziehungen voraus. Die Neuorganisation der französischen Besatzung bot René Cheval dann die Chance, seine Kontrolltätigkeit gegen eine kulturdiplomatische Mission einzutauschen. So übernahm er im Oktober 1948 die Leitung des Tübinger Centre d’études françaises. Dabei gelang es ihm, ein auf Kooperation und Komplementarität gründendes Verhältnis zum Romanischen Seminar der Universität aufzubauen. Nur zwei Jahre später wurde René Cheval zum Gründungsdirektor des regional bedeutsamen *Institut français in Stuttgart berufen. Dank finanzieller Unterstützung des französischen Hochkommissariats empfing das Institut in kürzester Zeit eine große Zahl von Gästen, die sowohl Sprachkurse und Konferenzen als auch Konzerte, Theateraufführungen, Filmvorführungen sowie Ausstellungen besuchten. Seit 1953 setzte René Cheval seine Karriere als Kulturdiplomat in Drittstaaten fort, zunächst als Kulturattaché in New York (1953-1955), später als Kulturrat der französischen Botschaft in Stockholm (1957-1960) und schließlich als Kulturrat in Warschau (1961-1963). In dieser Zeit verfasste er gleichzeitig seine Habilitationsschrift über „Romain Rolland, Deutschland und den Krieg“, die 1963 veröffentlicht wurde und bis heute als Referenzwerk gelten kann. Aufgrund dieser Arbeit erhielt René Cheval 1963 einen Lehrstuhl als Professor für Germanistik an der Universität Rennes. Auch als Germanist hat er sich für die deutsch-französische Annäherung engagiert, etwa mit Artikeln in Zeitschriften wie *„Allemagne d’aujourd’hui“ und *„Documents“. René Cheval ordnete sich zu dieser Zeit der politischen Linken zu, trotzdem bewunderte er in den 1960er Jahren de Gaulle als Vorreiter der deutschfranzösischen *Versöhnung. Seine Ernennung zum Kulturrat der französischen Botschaft in Bonn 1966 war für ihn der Höhepunkt seiner Karriere. Er begleitete maßgeblich die Entwicklung des 1963 geschaffenen *DFJW und beteiligte sich auch an der bilateralen Kooperation im Bereich von Erziehung und *Jugendbeziehungen. Insbesondere plädierte er für den Ausbau des Unterrichts der Partnersprache in beiden Ländern. Aufgrund der eingeschränkten Kompetenzen der Bundesregierung in schulischen Fragen konnten jedoch keine spektakulären Fortschritte erzielt werden. Dennoch konnte er in dieser Zeit die Einführung von bilingualem Unterricht in einigen Schulen der beiden Länder erwirken, sodass 1972 das deutsch-französische Abitur (*Deutsch-Französische Gymnasien) eingeführt werden konnte. In seiner Funktion als Verantwortlicher für die zahlreichen französischen öffentlichen Kulturinstitutionen in Deutschland war er maßgeblich an der „Restrukturierung der französischen Kulturmission in Deutschland“ beteiligt. Er versuchte diese Aufgabe zu nutzen, um die Effizienz und die Reziprozität im Kulturaustausch zu steigern. Das Hauptziel war eine gleichmäßigere geographische Verteilung der *Instituts français in Deutschland sowie eine verstärkte Kooperation mit deutschen Partnerinstitutionen. Seit Beginn der 1970er Jahre verbargen sich aber hinter der „Restrukturierung“ verstärkt auch Sparmaßnahmen des französischen Außenministeriums, gegen die René Cheval protestierte. Diese Entwicklung trug vermutlich auch dazu bei, dass er seinen Bonner Posten 1973 aufgab und sich an die französische Botschaft in Wien versetzen ließ, wo er seine letzen Dienstjahre (bis 1978) verbrachte. In den 1970er Jahren hat René Cheval zudem mehrere französischsprachige Darstellungen über das Deutschland seiner Zeit geschrieben, in denen er die bundesdeutsche Gesellschaft als eine „im Westen“ verankerte und stabile Gesellschaft darstellte. Schließlich lässt sich die Frage stellen, ob ein Gesandter des französischen Staates in Deutschland als ein deutsch-französischer Vermittler bezeichnet werden kann. Im Sinne der Mittler-Definition von Hans Manfred Bock war René Cheval kein Gründer oder Vordenker, aber zweifellos ein erfolgreicher Organisator und Multiplikator des Kulturaustauschs zwischen beiden Ländern. Hans Manfred Bock, Créateurs, organisateurs et vulgarisateurs. Biographies de médiateurs socio-culturels entre la France et l’Allemagne au XX e siècle, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 33 (2001) 4, S. 453-467; René Cheval, Le Coq et l’Aigle, Bern 1990; Matthieu Osmont, René Cheval (1918-1986), itinéraire d’un médiateur franco-allemand, in: Relations internationales 126 (2006), S. 31-51. Matthieu Osmont Christadler, Marieluise Die in Düsseldorf geborene Marieluise Christadler (1934-2006) gehörte zu den zu ihrer Zeit seltenen Vertretern der Frankreichforschung, die nicht nur interdisziplinär und vergleichend arbeiteten, sondern auch kulturelle bzw. kultur- <?page no="161"?> CIRAC-Forum C 161 wissenschaftliche Themen berücksichtigten. Nach einem Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Romanistik in Tübingen, und einem Studienaufenthalt am Centre d’études européennes in Nancy, legt sie ihr erstes und zweites Staatsexamen ab und arbeitet danach an einem Tübinger Gymnasium. 1970 veröffentlichte sie mit Hans Frevert das von Helmut Gollwitzer eingeleitete Lesebuch „Masken des Krieges“ ; 1977 promovierte sie in Frankfurt mit einer Arbeit zu Kriegserziehung in Deutschland und Frankreich vor 1914, die im Jahr darauf unter dem Titel „Kriegserziehung im Jugendbuch. Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914“ erschien und schon im Jahr darauf eine zweite Auflage erlebte. Aufgrund ihres damit sichtbar gewordenen kulturwissenschaftlichen (und diskursanalytischen) Profils erfolgte 1979 ihre Berufung auf eine Professur für politikwissenschaftliche Didaktik an der GHS Duisburg, die sie bis zu ihrer Emeritierung innehatte und inhaltlich auf Frankreich ausrichtete. Von 1981 bis 1990 veröffentlichte sie drei Sammelbände, die ihre Forschungsschwerpunkte erkennen lassen: „Deutschland - Frankreich: alte Klischees, neue Bilder“ (1981), „Die geteilte Utopie: Sozialisten in Frankreich und Deutschland“ (mit einem Vorwort von *Alfred Grosser, 1985) und „Freiheit, Gleichheit, Weiblichkeit: Aufklärung, Revolution und die Frauen in Europa“ (1990), d.h. es geht um die Eigen- und Fremdwahrnehmung, aber auch um das Selbstverständnis und die gegenseitige Wahrnehmung der politisch-kulturellen Mittler, um mit Hilfe von Doppelbiographien „geteilte“ Utopien von Sozialdemokraten und Sozialisten im 20. Jhdt. und um die historisch-soziologische und vergleichende Erforschung der *Frauenbewegung, wobei Frauenpolitik und politische Kultur (in Frankreich) aufeinander bezogen werden. Ein weiterer Bereich, in dem Marieluise Christadler eine deutsche Pionierin war, sind ihre Aufsätze zur Nouvelle Droite in Frankreich, insbesondere zu Alain de Benoist. Angefangen mit einem Beitrag zu einem von Iring Fetscher herausgegebenen Sammelband (1983) stellen mehrere dem philosophisch-politischen Diskurs des neuen rechten Denkens gewidmete Studien einen wichtigen Beitrag zur Intellektuellenforschung dar. Wenn es einen Schlüsselbegriff für die Arbeiten von Marieluise Christadler gibt, so ist es jener der „politischen Kultur“, lange bevor dieser Konjunktur hatte. Das Konzept der „politischen Kultur“ liegt auch dem inzwischen dank mehrerer Neuauflagen zum Standardwerk gewordenen, mit Henrik Uterwedde herausgegebenen „Länderbericht Frankreich: Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft“ (1999) zugrunde, zu dem sie bezeichnenderweise ein Beitrag mit dem Titel „Frankreichs politische Kultur auf dem Prüfstand“ beisteuerte. Ein wichtiger Teil der Wirkung und Ausstrahlung Marieluise Christadlers beruhte auf ihrem Engagement in Netzwerken. Dies gilt sowohl für institutionelle Vernetzungen als auch für ihr Engagement für junge Wissenschaftlerinnen. Frauenforschung und ihre Förderung waren für sie nicht nur eine wichtige Thematik, sondern auch ein persönliches Anliegen. Marieluise Christadler zählte 1988 zu den Gründungsmitgliedern des *Deutsch-französischen Historikerkomitees, beteiligte sich von Beginn an aktiv an den seit 1985 vom *Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg organisierten Frankreichforscher-Tagungen und gehörte (bis zu ihrem Tode als einzige Frau) zu den Herausgebern des *„Frankreich Jahrbuchs“. Dabei hat ihr Engagement, in diesem wichtigsten Periodikum der deutschen Frankreich-Forschung auch andere als politik- und sozialwissenschaftliche Themen zu berücksichtigen, maßgeblich dazu beigetragen, dass es seit mehr als 25 Jahren auch eine kulturwissenschaftliche Frankreichforschung gibt. Dietmar Hüser, Henrik Uterwedde, Politische Kulturen im deutsch-französischen Spannungsfeld. Zum wissenschaftlichen Werk Marieluise Christadlers, in: Frankreich Jahrbuch 2006, Wiesbaden 2007, S. 227-255 (mit Bibliographie). Wolfgang Asholt CIRAC-Forum Bulletin d’information pour la coopération franco-allemande dans les sciences humaines et sociales Das seit Ende 1987 vom *CIRAC herausgegebene CIRAC-Forum dient der Zusammenstellung und Verbreitung von aktuellen Informationen über Forschungsarbeiten und -projekte, wissenschaftliche Begegnungen, Fördermöglichkeiten und Veröffentlichungen, die einen Bezug zum Partnerland haben oder in Zusammenarbeit mit Wissenschaft- <?page no="162"?> Cloos, Hans Peter 162 C lern aus dem anderen Land durchgeführt wurden. Das Bulletin hat eine Verbindungs- und Vermittlerfunktion mit dem Ziel, einen regelmäßigen und ständigen Austausch zwischen den an der deutschfranzösischen Kooperation in den Geistes- und Sozialwissenschaften interessierten Experten, Wissenschaftlern und Studierenden beider Länder anzuregen, zu begleiten und zu entwickeln. Das Bulletin erscheint in französischer Sprache und kann seit seiner Umstellung im Jahre 2004 auf ein online verfügbares Dokument im kostenlosen Abonnement bezogen werden. Dirk Petter, Auf dem Weg zur Normalität. Konflikt und Verständigung in den deutsch-französischen Beziehungen der 1970er Jahre, München 2014, S. 300ff. Werner Zettelmeier Cloos, Hans Peter Der in Stuttgart geborene und in Paris lebende Regisseur Hans Peter Cloos ist seit den 1970er Jahren ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der deutschsprachigen Dramatik und dem französischen Theater. Aufgewachsen in Stuttgart, ging Cloos nach ersten Erfahrungen in New York bei der Theatertruppe La Mama und dem Living Theatre auf die Schauspielschule der Münchner Kammerspiele. Aus Protest gegen die aus seiner Sicht verstaubten Stadttheaterstrukturen in Deutschland gründete er gemeinsam mit einigen anderen Schauspielern zu Beginn der 1970er Jahre das Theaterkollektiv Rote Rübe, das in der Folgezeit zu einer der wichtigsten freien Gruppen in Deutschland avancierte und auf seinen Tourneen auch nach Frankreich kam. Dort war die Truppe u.a. im *Théâtre national de Strasbourg und, eingeladen von *Jack Lang, auf dem Festival de Nancy zu sehen. Nach Auflösung der Gruppe drehte Hans Peter Cloos zunächst - gemeinsam mit u.a. *Rainer Werner Fassbinder, *Volker Schlöndorff und Edgar Reitz - den Episodenfilm „Deutschland im Herbst“ (1978). 1979 wurde Hans Peter Cloos dann von Peter Brook an das Théâtre des Bouffes du Nord eingeladen, wo er auf Deutsch die „Dreigroschenoper“ inszenierte. Es wurde sowohl ein Publikumsals auch Kritikererfolg und Cloos erhielt für sein Regiedebüt den begehrten Prix de la critique. In den 1980er Jahren folgten eine ganz Reihe von wichtigen Inszenierungen an großen Theatern, mit denen sich Cloos auch als Entdecker neuer Autoren aus dem deutschsprachigen Raum einen Namen machte. So präsentierte er verschiedene Stücke von Herbert Achternbusch: 1981 „Susn“ in Avignon und 1988 „Mon Herbert“ im Odéon. Ein großer Erfolg war auch „Mercedes“ von Thomas Brasch, das er 1985 am TNP in Villeurbanne sowie in Paris am Théâtre de la Ville im Rahmen des Festival d’Automne inszenierte, sowie 1982/ 83 „Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise Fleißer am Théâtre de la Commune in Aubervilliers (*Deutsches Theater in Frankreich). Ein weiterer Autor, der durch Hans Peter Cloos eingeführt wurde, ist Harald Müller, der in den 1970er und 80er Jahren in Deutschland zu den vielgespielten Autoren zählte. Neben diesen Neuentdeckungen brachte Cloos auch Stücke von Ödön von Horváth, Elfriede Jelinek, *Heiner Müller und Max Frisch auf die Bühne. Während Cloos ursprünglich dem französischen théâtre public zugeordnet wurde, hat er sich seit der Jahrtausendwende zunehmend auf Inszenierungen mit Starbesetzung (so beispielsweise mit Charlotte Rampling, Thierry Lhermitte, Sylvie Testud oder Claude Rich) im théâtre privé spezialisiert. Nicole Colin, Deutsche Dramatik in Frankreich. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer, Bielefeld 2011. Nicole Colin Cohn-Bendit, Daniel „Wir sind alle deutsche Juden“ skandierten am 22.5.1968 französische Studenten im Quartier Latin in Paris, um gegen das Einreiseverbot zu demonstrieren, das der Innenminister gegen Cohn- Bendit verhängt hatte. Solidarität wurde ihm zeitgleich auch in der Bundesrepublik Deutschland zuteil, wo Demonstranten mit einem Sitzstreik vor dem Schlagbaum an der Grenze bei Saarbrücken seine Rückreise nach Frankreich zu erzwingen versuchten. Der 1945 in Montauban geborene Daniel Cohn-Bendit war 23 Jahre alt, als er 1968 zur Symbolfigur der 68er Bewegung in Frankreich und Deutschland wurde. Geboren als zweiter Sohn des aus NS- Deutschland nach Paris geflohenen Rechtsanwalts Erich Cohn-Bendit, der nach der Besetzung Paris’ durch deutsche Truppen mit seiner Frau Herta und seinem ersten Sohn, Gabriel, Zuflucht in Montauban gefunden hatte, ist Daniel Cohn-Bendit in Deutschland zur Schule gegangen, bevor er 1967 in Nanterre mit dem Studium der Soziologie begann. Er hat sein Abitur auf der Odenwald- <?page no="163"?> Cohn-Bendit, Daniel C 163 schule (nahe Heppenheim) absolviert, einem 1910 im Geist der reformpädagogischen Bewegung gegründeten Internat, das antiautoritäre Erziehung propagierte und praktizierte. Seine Chuzpe, gegen Autoritäten und hierarchische Strukturen aufzubegehren, sowie seine Kenntnis linksradikaler Positionen und Taktiken, vermittelt durch seinen Lehrer Ernest Jouhy, einem dissidenten Kommunisten, und seinen Bruder Gabriel, der zum Umkreis der ex-trotzkistischen Gruppe „Socialisme ou barbarie“ gehörte, trugen mit dazu bei, ihn zum Sprecher einer undogmatischen Neuen Linken zu machen, in dem die Medien den Geist von 1968 verkörpert glaubten. Sein unerschrockener Blick in Konfrontation mit einem Repräsentanten des Gewaltmonopols, festgehalten in einer Momentaufnahme im Mai 68, verlieh der antiautoritären Revolte ein Gesicht, rückte als zeittypisches Dokument in die Geschichtsbücher. Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte. Hannah Arendt erinnerte Cohn-Bendit im Mai 1968 daran, als sie ihm schrieb, ganz sicher zu sein, „daß Deine Eltern, und vor allem Dein Vater, sehr zufrieden mit Dir sein würde, wenn sie noch lebten“ (Young-Bruehl). Mit Walter Benjamin, Heinrich Blücher und Kurt Blumenfeld gehörte sie zum Pariser Exil-Freundeskreis von Herta und Erich Cohn-Bendit. Gewarnt durch einen hohen Beamten, war es Erich Cohn-Bendit nach dem Reichstagsbrand am 28.2.1933 gelungen, sich durch Flucht nach Frankreich seiner Festnahme zu entziehen. Erst 1952 kehrte er als Anwalt nach Frankfurt/ M. zurück. Die Stadt am Main wurde nach dem Mai 1968 auch zur Wahlheimat Daniel Cohn-Bendits, dem die Einreise nach Frankreich zehn Jahre lang verwehrt blieb. Er setzte sein Soziologiestudium an der Frankfurter Universität fort und engagierte sich in der Kinderladen-Bewegung. Nach dem Zerfall des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der zentralen Trägergruppe der deutschen Studentenbewegung und Außerparlamentarischen Opposition (APO), wurde er zum Mitbegründer der Gruppe Revolutionärer Kampf, der u.a. auch Joschka Fischer angehörte. Die Gruppe war Teil der Frankfurter Sponti-Szene, die mit Hausbesetzungen, Straßenkämpfen und Agitation in den Betrieben (Opel und Höchst) eine Transformation der Gesellschaft herbeizuführen versuchte. Zum zentralen Forum der Szene avancierte das alternative Stadtmagazin „Pflasterstand“, dessen Redakteur und Herausgeber Cohn-Bendit von 1976 bis 1990 war. Seit 1984 Mitglied der Partei Die Grünen, wurde er 1989 unter einem rot-grünen Magistrat ehrenamtlicher Leiter des neu geschaffenen Amtes für Multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt/ M. Er setzte sich für die „Anerkennung der Wirklichkeit“ einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft, für die Integration der Migranten sowie für eine offizielle und offensive Einwanderungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland ein. 1994 als Abgeordneter der Partei Bündnis 90/ Die Grünen ins Europäische Parlament gewählt, kandidierte er 1999 als Spitzenkandidat der französischen Grünen („Les Verts“) und zog seitdem abwechselnd für die deutsche oder französische Partei ins Europaparlament ein. Er wurde zum entscheidenden Vermittler der von Bernard Kouchner entwickelten Leitideen „droit et devoir d’ingérance“, des Interventionsrechts und der Interventionspflicht in Krisengebieten im Fall der Gefahr eines Völkermordes. Damit provozierte er die Pazifisten innerhalb seiner Partei im Frühjahr 1999 und trug entscheidend zum Kurswechsel ihrer Außenpolitik bei. Erstmals nach ihrer Gründung führte die Bundesrepublik Deutschland 1999 einen Krieg und marschierten unter einer rot-grünen Regierung Soldaten der Bundeswehr in das Kosovo ein. Seit 2002 ist Cohn-Bendit Co-Vorsitzender der Fraktion Die Grünen/ Freie Europäische Allianz im Europäischen Parlament sowie Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung, im Ausschuss für konstitutionelle Fragen sowie Stellvertreter im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung. Daniel u. Gabriel Cohn-Bendit, Linksradikalismus. Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Reinbek bei Hamburg 1968; Daniel Cohn- Bendit, Der große Basar, München 1975; ders., Thomas Schmid, Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie, Hamburg 1992; ders., Bernard Kouchner, Quand tu seras président… Dialogues et propos recueillis par Michel-Antoine Burnier, Paris 2004; Gaby Cohn-Bendit, Nous sommes en marche, Paris 1999; Sabine Stammer, Cohn-Bendit. Die Biographie, Hamburg/ Wien 2001; Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/ M. 1986. Ingrid Gilcher-Holtey <?page no="164"?> Comité d’études des relations franco-allemandes (Cerfa) 164 C Comité d’études des relations francoallemandes (Cerfa) Das Studienkomitee für deutsch-französische Beziehungen ist eine der ältesten, wenn nicht sogar die älteste Kooperationsstruktur beider Länder im Bereich der Sozial- und vor allem der Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Es wurde 1929 von dem Industriellen Émile Mayrisch aus Luxemburg gegründet und spielte zur Zeit von Stresemann und Briand unter deutschem Namen eine beachtliche Rolle im deutsch-französischen Annäherungsprozess. Im Jahr 1938 stellte es seine Aktivitäten zwischenzeitlich ein. 1954, kurz nach der am 19.10. erfolgten Unterzeichnung des Abkommens von La Celle-St. Cloud, dem ersten zwischen Adenauer und Mendès France unmittelbar vor den Pariser Verträgen abgeschlossenen deutsch-französischen Abkommen der Nachkriegszeit, wurde es auf Initiative der deutschen Botschaft in Paris wieder ins Leben gerufen. Mit Sitz in Paris hat das Cerfa das Ziel zur Erweiterung der Kenntnisse über soziopolitische Fragestellungen auf beiden Rheinseiten beizutragen und dies vor allem in Hinsicht auf die internationalen Beziehungen. Als think tank konzipiert, war das Cerfa vorerst im Centre d’études de politique étrangère (Cepe) eingegliedert, bevor es nach der vom damaligen französischen Regierungschef Raymond Barre veranlassten Auflösung des Cepe 1979 in das zu diesem Zeitpunkt von Thierry de Montbrial ins Leben gerufene Institut français des relations internationales (Ifri) transferiert wurde. Das Cerfa macht es sich zur Aufgabe, die Außenpolitik Frankreichs und Deutschlands zu analysieren und Vorschläge zu formulieren, die zur Annäherung der Positionen der beiden Länder im europäischen und transatlantischen Kontext beitragen, will Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammenbringen, um einen fortwährenden Dialog über deutsch-französische Beziehungen, europäische Integration und Sicherheitsfragen zu fördern, Kooperationsnetzwerke zwischen dem Ifri und anderen europäischen, insbesondere französischen und deutschen, Forschungsinstituten herstellen und in deutschen und französischen Medien präsent sein, um der Informationsnachfrage in beiden Ländern gerecht zu werden. Um diese Ziele zu erreichen, stützt sich das Cerfa sowohl auf die intellektuelle und materielle Infrastruktur des Ifri als auch auf sein vierköpfiges Team, das aus zwei Forschern, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin und einer Assistentin besteht. Seit 1991 von Hans Stark geleitet, erhält das Cerfa, dem Vertrag von Saint-Cloud von 1954 entsprechend, eine paritätische Finanzierung vom Ministère des affaires étrangères et européennes und dem AA. Ähnlich wie das *Programm Frankreich/ deutsch-französische Beziehungen der DGAP stützen sich die Tätigkeiten des Cerfa hauptsächlich auf zwei Aktivitäten: Die regelmäßige Veröffentlichung von Büchern und Artikeln über politische und wirtschaftliche Themen, die im Mittelpunkt der deutsch-französischen Beziehung stehen (insbesondere die elektronische Publikation „Note du Cerfa“) sowie die Organisation von ca. zehn Veranstaltungen jährlich (öffentliche Kolloquien, Expertenseminare, Konferenzen und Frühstücksdebatten). Die Forschungsprojekte konzentrieren sich auf folgende Themen: Deutsch-französische Beziehungen und europäische Integration: 1. Europäische Politik: politische und rechtliche Entwicklung der EU, vor allem in Hinsicht auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), institutionelle Reformen und Währungsintegration; 2. EU-Erweiterung und Sicherheitsfragen: Überlegungen zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) und die Beziehungen der EU zu ihren Nachbarländern; 3. Beitrag der beiden Länder zum europäischen Aufbau: deutsche und französische Sicht auf die großen europäischen Fragestellungen. Politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland und Frankreich: 1. Innenpolitik: politische Formierungen und Koalitionen; wirtschaftliche und soziale Reformen; gesellschaftliche Entwicklungen und innenpolitische Kontroversen; Ost-/ Westdynamik; Immigration und Integration; 2. Außenpolitik: Außen- und Sicherheitspolitik; Europapolitik Deutschlands und Frankreichs; Beziehungen der beiden Länder zu den USA und Russland. Hans Stark Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle Das Comité francais d’échanges avec l’Allemagne nouvelle wurde im Mai 1948 als französische Ver- <?page no="165"?> Connaissance de la RDA C 165 ständigungsinitiative von *Emmanuel Mounier (1905-1950) gegründet und fortan von *Alfred Grosser als Generalsekretär bis zu seiner Auflösung im Jahre 1967 geleitet. Das Comité war eines von drei französischen nichtstaatlichen Initiativzentren, die sich unmittelbar nach dem Krieg für die Wiederaufnahme der deutsch-französischen zivilgesellschaftlichen Beziehungen engagierten. Das Comité war mit den anderen Initiativzentren, die sich um *Joseph Rovan einerseits und *Jean du Rivau andererseits gruppierten, sowohl auf einer personellen als auch auf einer programmatischen Ebene verbunden. Es unterschied sich von ihnen durch ihre multiplikatoren- und öffentlichkeitswirksame Verständigungsstrategie. Das Comité war ein locker verbundenes Netzwerk von französischen Intellektuellen (u.a. *Vercors), die sich aktiv oder symbolisch für die deutsch-französische Verständigung engagierten. Ziel war es, einen von Franzosen initiierten, aber gleichberechtigten Austausch mit Deutschen, die sich von der jüngsten Vergangenheit distanzierten, zu fördern. Das Comité war durch seine teils fluktuierenden, insgesamt 37 Direktoriumsmitglieder ein Netzwerkknotenpunkt vielfältigster Intellektuellenzirkel, die sich um universitäre Einrichtungen und um Zeitschriften konstituiert hatten. Es verfügte nur über eine gering ausgeprägte Binnenstruktur. *Alfred Grosser allein stellte Kontinuität und Zusammenhalt der Verständigungsinitiative her. Einerseits wirkte das Comité als intermediäre Organisation und vermittelte Einzelpersonen (z.B. Lehrer, Sprachassistenten, Studenten, Journalisten) und Familien in das jeweilige Nachbarland. Viele dieser Aktivitäten organisierte das Comité zusammen mit anderen um die deutsch-französische Verständigung bemühten privaten oder staatlichen Organisationen. Andererseits warb das Comité Mitglieder und veranstaltete für sie und eine darüber hinausgehende interessierte Öffentlichkeit regelmäßig Veranstaltungen. Kern dieser Veranstaltungen waren in der Sorbonne veranstaltete Begegnungen deutscher und französischer Intellektueller. Seit 1949 lud das Comité deutsche Stichwortgeber ein, um vor französischem Publikum über ein Deutschland betreffendes und ihrer Kompetenz entsprechendes Thema alleine oder in einer Podiumsdiskussion vorzutragen. Die vom Comité initiierten Intellektuellenbegegnungen zeugen von einem im Laufe der Zeit zunehmenden Bekanntheitsgrad der Verständigungsinitiative sowie von einer sich verändernden thematischen Schwerpunktsetzung im Rahmen sich wandelnder deutsch-französischer Beziehungen. In der Anfangsphase standen die Veranstaltungen im Zeichen der Fragen und Probleme des gesellschaftlichen und politischen Wiederaufbaus in Deutschland. Seit 1952 wurden spezifische Wissensgebiete in ihrem jeweiligen nationalen Kontext erörtert. Die Veranstaltungen nahmen seit Ende der 1950er Jahre ab. Danach informierte das Comité primär über aktuelle deutsche Politik. Die in Paris gehaltenen Vorträge wurden im Publikationsorgan des Comité „Allemagne. Bulletin d’information du comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle“ veröffentlicht. Das Verdienst des Comité war es, neue zivilgesellschaftliche Kontakte in der unmittelbaren Nachkriegszeit etabliert zu haben. Aus einer anfänglich im linkskatholischen Milieu entstandenen Idee der deutsch-französischen Verständigung wurde ein konfessions- und berufsübergreifendes transnationales Kommunikationsnetzwerk. Carla Albrecht, Das Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle als Wegbereiter des Deutsch- Französischen Jugendwerks, in: Lendemains 27 (2002) 107/ 108, S. 177-189. Carla Albrecht-Hengerer Connaissance de la RDA Schon der Titel der 1974 vom Germanisten *Gilbert Badia gegründeten Universitätszeitschrift „Connaissance de la RDA“ ist ein Zeugnis des Interesses der Franzosen an Tatsachen über das „andere“ Deutschland. *Badia gründete die Zeitschrift, „um die DDR besser kennenzulernen und Forschungen über den zweiten deutschen Staat, der in Frankreich oft ignoriert wurde, zu initiieren, da er in ihm ein interessantes historisches Experiment des Sozialismus in Deutschland sah“ (Jérôme Vaillant). Ins Leben gerufen von einem dem philo-kommunistischen Milieu nahestehenden zivilgesellschaftlichen Kreis zielte die Zeitschrift darauf, die - trotz der offiziellen Anerkennung des zweiten deutschen Staates durch die französische Regierung im Jahre 1973 - für unzureichend befundenen Kenntnisse über die DDR in Frankreich zu erweitern. Der „handwerkliche“ Charakter des Magazins drängt sich bereits bei der Lektüre der ersten im A4-Format maschinen- <?page no="166"?> Curtius, Ernst Robert 166 C geschriebenen und zu einem Heft gebundenen Ausgaben auf. Als die Publikation später die Unterstützung durch eine Druckerei der Universität Paris 8 - Saint-Denis erhielt, wurde ein kleineres Format verwendet. Mehr noch als die Verbandszeitschrift *„Rencontres franco-allemandes“ erschien das Magazin „Connaissance de la RDA“ als ein Werk zahlreicher Freiwilliger: Gymnasial- und Hochschullehrer sowie Personen, die sich als Mittler zwischen Frankreich und der DDR verstanden. Der Inhalt der Zeitschrift - deren entschieden dokumentarischer Charakter an die Anfänge der Zeitschriften *„Dokumente/ Documents“ im Jahre 1945 in Bezug auf die BRD erinnert - nahm sogleich eine konkrete Herangehensweise an, die die Entwicklung der DDR dank einer Dokumentation direkt aus ostdeutschen Quellen und Mitarbeitern aufzeigte. Von der Anerkennung der DDR durch die französische Regierung bis zur Wiedervereinigung konzentrierte sich die Zeitschrift „Connaissance de la RDA“ in etwas über 30 Ausgaben gänzlich auf Themen und Fakten, die die DDR betrafen; insbesondere in Bezug auf die Kultur und Literatur, wie man anhand von in der Zeitschrift publizierten, aber bis dahin unveröffentlichten Beiträgen ostdeutscher Autoren wie *Heiner Müller, Christa Wolf, Volker Braun und Christoph Hein (*DDR-Literatur in Frankreich) feststellen kann. Darüber hinaus widmete sich die Zeitschrift gesellschaftlichen und politischen Fragen. Die meisten Artikel und wissenschaftlichen Abhandlungen sind in beiden Sprachen verfasst und machten somit die Zeitschrift zu einem Instrument für Spezialisten. Auch heute bleibt „Connaissance de la RDA“ eine der Hauptquellen zur Analyse der Wahrnehmung der DDR in Frankreich. Hélène Yèche Curtius, Ernst Robert Der 1886 im Elsass geborene und 1956 in Rom gestorbene Romanist, Literaturkritiker und Kulturvermittler Ernst Robert Curtius - Enkel des Archäologen und Olympia-Ausgräbers Ernst Curtius (1814-1896) - erlebte als Sohn eines preußischen Kreisdirektors und Präsidenten der Kirche Augsburgischer Konfession im Reichsland Elsaß-Lothringen sowie einer aus der Schweiz stammenden Mutter englischer Abstammung eine betont kosmopolitische Version des Bildungsbürgertums. Dies erklärt sein lebenslanges Engagement für Europa und seine Traditionen, das ihm Frieden durch Kulturkontinuität bedeutete. „Der Europagedanke mußte geistig unterbaut sein”, schrieb er 1952 rückblickend über sein während des Ersten Weltkriegs geschriebenes Buch „Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich“. Curtius’ ganzes geistiges Schaffen kann man von dieser Gesamtperspektive aus überblicken. Das Skandal erregende Buch, das ihm 1919 den Vorwurf der „Anbiederung an die Negernation” einbrachte, wurde gleich zum Standardwerk und ebnete der deutsch-französischen Versöhnung den Weg. Während des Studiums der Romanistik bei Gustav Gröber in Straßburg lernte er den Kreis der elsässischen Jungschriftsteller - René Schickele u.a. - kennen und gelangte zur Überzeugung, dass die Zukunft Europas von der deutsch-französischen Zusammenarbeit abhänge. So nahm er 1922 als erster Deutscher an den von Paul Desjardins organisierten Décades de Pontigny teil, wo er mit den Schriftstellern der „Nouvelle revue française“, insbesondere mit André Gide, bekannt wurde. Er verkehrte auch im Kreis der Mäzene Émile und Aline Mayrisch im luxemburgischen Colpach und begegnete dort weltoffenen Persönlichkeiten aus Deutschland und Frankreich wie Walther Rathenau, Annette Kolb, Jacques Rivière u.a. Die Jahre der außenpolitischen Entspannung bildeten die Zeit seines aktivsten europäischen Engagements. Gleichzeitig machte er große Entdeckungen auf dem Gebiet der Literatur wie z.B. James Joyce und Marcel Proust, mit dem er Briefe über „La Recherche“ wechselte. Inzwischen hatte er sich als Literaturkritiker und deutsch-französischer Kulturvermittler durch seine publizistische Arbeit auch in der breiten Öffentlichkeit einen Namen gemacht. Er lehrte als Romanist zuerst in Bonn, dann in Marburg und Heidelberg, bis er 1928 in Bonn den Lehrstuhl für Romanistik übernahm und dort das Studium der französischen Kultur zum Pflichtfach machte: Auf diesem Wege sollte über die Philologie hinaus das deutsch-französische Verständnis bei den deutschen Studenten gefördert werden. In den 1930er Jahren vollzog sich eine Wende in Curtius’ Beziehung zu Frankreich: Die Reisen und Kontakte wurden politisch erschwert, und er glaubte, dass die Franzosen die eigene Mitverantwortung für die deutsche Zukunft nicht verstünden. So distanzierte er sich von Frankreich, ohne es je aus dem Blick zu verlieren. Vom Nationalsozialismus fühlte er sich in seiner christlich-evange- <?page no="167"?> Dahlem, Franz D 167 lischen elitären Familientradition grundsätzlich abgestoßen, verließ Deutschland in den Kriegsjahren aber nicht. Er zog sich in die umstrittene innere Emigration zurück und widmete sich der Erforschung der Grundfesten der europäischen Kultur. So begann die Zeit seiner Beschäftigung mit dem antiken und mittelalterlichen Europa, das seiner Auffassung nach in der Modernität weiterlebte. In der Spätrhetorik, in deren Sprachbildern und verschiedenen europäischen Literaturformen fand Curtius selbst während des Zweiten Weltkrieges den Beweis der Kulturkontinuität. Nach dem Zusammenbruch 1945 nahm er im Auftrag der Zeitschrift „Merkur“ als erster den Kontakt zu André Gide und zu Frankreich wieder auf. Im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland wirkte Ernst Robert Curtius als wichtige Figur der Romanistik weiter. Sein hoher Rang im Fach löste in den 1970er Jahren eine Polemik bei einem Teil der jüngeren Romanisten aus, die eine radikale Entlarvung ihrer Zunft anstrebten. Vor allem *Michael Nerlich wurde durch seine vehemente Kritik an Curtius bekannt. Heute sieht man in Curtius einen konservativen, dezidierten Europäer, der über die deutsch-französische Kulturannäherung und die Pflege der Literatur, ein rehabilitiertes Deutschland in einem friedlichenEuropa erstrebte. Darüber hinaus erscheint er auch als wissenschaftlicher Weltbürger, der zugleich eine führende intellektuelle Figur der Bundesrepublik war. Christine Jacquemard-de Gemeaux, Ernst Robert Curtius (1886-1956). Origines et cheminements d’un esprit européen, Bern 1998 (mit Schriftenverzeichnis); Stefanie Müller, Ernst Robert Curtius als journalistischer Autor (1918-1932). Auffassungen über Deutschland und Frankreich im Spiegel seiner publizistischen Tätigkeit, Bern 2008; Jeanne Bem, André Guyaux (Hg.), Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe, Paris 1995; Heinrich Lausberg, Ernst Robert Curtius 1886-1956, Stuttgart 1993; Wolf-Dieter Lange (Hg.), In Ihnen begegnet sich das Abendland, Bonn 1990; Walter Berschin, Arnold Rothe, Ernst Robert Curtius. Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven, Heidelberg 1986. Christine de Gemeaux D Dahlem, Franz Der in Rohrbach/ Lothringen geborene deutsche Kommunist Franz Dahlem (1892-1981) war stets ein Mittelsmann zwischen den deutschen und französischen Kommunisten und ist ein schlagendes Beispiel für den Umgang mit den Frankreichemigranten in der DDR. Nach seinem Eintritt in die KPD (1920) saß Dahlem zwischen 1928-1933 im Reichstag. Im Anschluss an die „Machtergreifung” gehörte er zur Auslandsleitung der Partei in Paris und war zwischen 1937 und 1939 Leiter der Zentralen Politischen Kommission der Internationalen Brigaden in Spanien. In der Nachfolge von Walter Ulbricht bekleidete er 1938/ 39 den Posten des Leiters des Sekretariats des ZK der KPD in Paris und wurde in dieser Funktion nach Kriegsausbruch von den französischen Behörden interniert. Nach seinem Aufenthalt im Lager Le Vernet saß er zwischen September 1939 und August 1942 im Gefängnis in Castres und überlebte schließlich das Kriegsende im KZ Mauthausen. In der SBZ/ DDR stieg er schnell im Parteiapparat der KPD/ SED auf und suchte auch hier den Kontakt nach Frankreich. Anfang der 1950er Jahre erlitt jedoch auch Dahlem das Schicksal anderer Westemigranten, die in das Fadenkreuz der „Moskau-Kader“ um Ulbricht gerieten und aus Funktionen in Staat und Partei entfernt wurden. Trotz seiner Rehabilitierung im Jahre 1956 blieb der Frankreichemigrant Dahlem ein Kommunist „zweiter Klasse“, dem die SED- Führung stets mit Misstrauen begegnete. Mit der gesellschaftlichen Isolierung der Westemigration und der Demütigung ihrer Vertreter hatte sich die SED eines wichtigen Verbindungspotentials beraubt und den östlichen Teil Deutschlands nach der Selbstisolierung während des „Dritten Reiches“ weiter von den westlichen Erfahrungsbeständen abgeschnitten. Mit dem Beginn ihrer Anerkennungspolitik Ende der 1950er Jahre konnten nun aber wieder Frankreichemigranten wie Franz Dahlem reaktiviert werden, die jetzt als moralische Instanz eines „besseren“ Deutschlands und Kenner der französischen Verhältnisse eingesetzt wurden. Als seine Aufgabe verstand er es aber nie, wechselseitiges Verständnis für andere Denkweisen zu wecken und trennende Gegensätze zu überwinden. Die einschüchternden Parteisäuberungen noch im Hinterkopf verwarf er autonome zivilgesellschaftliche Potentiale zugunsten einer politischen Indienstnahme. Das zeigte sich auch, als Dahlem 9.7.1964 die Leitung der *Deufra übernahm. Von dieser Entscheidung versprach sich die Partei eine stärkere Politisierung der Gesellschaft, <?page no="168"?> David, Claude 168 D um der westdeutsch-französischen Annäherung nach Abschluss des *Élysée-Vertrages entgegenzuwirken. Für die Arbeit in der *Deufra war Dahlem jetzt von großer Bedeutung, weil er dank seiner verschiedenen Frankreich-Aufenthalte und seines Kampfes in der Résistance über gute Verbindungen in das Land und besonders zum Kreis der Widerstandskämpfer verfügte. Als Dahlem sich in seinen letzten Lebensjahren an die Abfassung seiner Memoiren machte, musste er jedoch ein weiteres Mal erleben, dass die parteiliche Geschichtsschreibung in der DDR es Frankreichemigranten weiter verweigerte, Geschichte zu schreiben „wie ich sie tatsächlich erlebt habe”. Ulrich Pfeil, Zwischen „Parteilichkeit” und Geschichte „wie ich sie tatsächlich erlebt habe”. Textgenese am Beispiel der Memoiren von Franz Dahlem, in: Deutschland Archiv, 35 (2002) 1, S. 81-89; ders., Konstruktion und Dekonstruktion von Biographien in der DDR- Historiographie, in: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR - zwischen Mauerbau und Mauerfall, Münster 2003, S. 68-95. Ulrich Pfeil David, Claude Der in Reims geborene Claude David (1913-1999) war zweifellos einer der bedeutendsten Vertreter der französischen *Germanistik der Nachkriegszeit und hat durch sein umfassendes wissenschaftliches Œuvre sowie durch seine Tätigkeit als Lehrer und Mittler entscheidende Beiträge zum deutsch-französischen Dialog geliefert. Nach Abschluss seiner Schulzeit am Lycée Henri IV in Paris wurde er an der Elitehochschule ENS aufgenommen und wählte *Germanistik als Hauptfach. Dieser Entschluss war unter den damaligen Umständen nicht ohne Bedeutung, hatte er doch anlässlich zweier Studienaufenthalte in Berlin (1934) und Wien (1935) Gelegenheit gehabt, die fatalen und unheilverkündenden Entwicklungen in Deutschland aus nächster Nähe zu erleben. Nachdem er 1937 das Staatsexamen abgelegt und anschließend seinen Militärdienst absolvierte hatte, geriet er fast übergangslos in die Wirren der Kriegszeit. Von der Vichy-Regierung wurde er als Jude 1940 aus seinem Amt als Gymnasiallehrer fristlos entlassen und musste später, um weiteren Verfolgungen und einer Deportation zu entgehen, in den Untergrund abtauchen. Erst nach der Befreiung 1944 konnte er seine akademische Laufbahn antreten, die ihn nach seiner Habilitation mit einer Arbeit über Stefan George (1951) als Ordinarius an die Universität Lille und dann 1957 an die Sorbonne in Paris führte, wo er bis zu seiner Emeritierung wirkte. Gleichzeitig unterrichtete er auch an der ENS und entfaltete eine rege Tätigkeit als Herausgeber der führenden Zeitschrift für Germanistik *„Études germaniques“ und in verschiedenen Gremien. Die Bedeutung von Claude David für die *französische Germanistik erschöpft sich nicht in seinen Veröffentlichungen: Claude David war ein leidenschaftlicher und mitreißender, aber auch anspruchsvoller Lehrer, dessen undogmatischen und faszinierenden Vorlesungen unzählige Schülern dazu bewogen haben, ihrerseits auch die Germanistik als Lebensaufgabe zu wählen. Claude David hat neue Brücken geschlagen zwischen deutscher und französischer Germanistik, indem er ihre jeweils verschiedenen Traditionen in seinem eigenen methodischen Vorgehen vereinte. Wie für die Mehrzahl der deutschen Germanisten war für ihn als Literaturwissenschaftler die Erforschung des literarischen Kunstwerks das zentrale Anliegen; aber entsprechend der eigenen Tradition der *französischen Germanistik hat er stets die reine Werkimmanenz abgelehnt und Literatur immer im Zusammenhang der historischen Gegebenheiten und der kulturgeschichtlichen Umwelt betrachtet. Dieses Verfahren, das „konkrete Textanalyse mit breiten historischen Bezügen verbindet“ (Theo Buck), hat er in zahlreichen mustergültigen Untersuchungen zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts verwendet, die in der Fachwelt wie auch im breiteren literarisch interessierten Publikum höchste Anerkennung genießen. Zu nennen sind da vor allem die Monographie über Stefan George, sein dichterisches Werk und verschiedene literaturgeschichtliche Synthesen über die deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hinzu kommen unzählige Aufsätze und Beiträge in Sammelwerken und Zeitschriften - von Goethe bis *Celan, über Schiller, Kleist, Hölderlin, Büchner, Kraus, Hofmannsthal, Thomas Mann, Hauptmann, Musil und besonders George, Rilke und Kafka, dessen Gesamtwerk er in vier Bänden bei Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade) neu veröffentlichte und mit ausführlichen Kommentaren versah. Dieser Kanon der Dichter und Schriftsteller, die ihn zeit seines Lebens beschäftigten, ist bezeichnend für die Persönlichkeit von <?page no="169"?> DDR-Literatur in Frankreich D 169 Claude David. Es waren für ihn Vertreter des deutschen Geistes in seinen wertvollsten Ausprägungen, nicht nur durch den künstlerischen Rang ihres Schaffens, sondern auch durch die ethischen Werte, die sie in ihrem Werk und Leben vertraten: vor allem Toleranz und Humanität. Die internationale Anerkennung und Auszeichnungen blieben ihm nicht versagt: er war Träger der Goethe-Medaille und des Gundolf- Preises, Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Akademie der Wissenschaften in Wien. Gilbert Krebs DDR-Kulturzentrum Paris (KUZ) Mit einem gewissen Neid blickten die Diplomaten und Journalisten aus der Bundesrepublik auf die Eröffnung des KUZ in Paris am 12.12.1983 am 117, Boulevard Saint-Germain, mitten im Pariser Studentenviertel Quartier Latin. Das von Charles Garnier, dem Erbauer der Pariser Oper, entworfene prunkvolle Gebäude, in dem zuvor der Cercle de la librairie, der französische Verlegerverband, seinen Sitz hatte, stach architektonisch in der Tat das nüchterne bundesdeutsche *Goethe-Institut in der Avenue d’Iéna aus, das zudem noch in dem verkehrsmäßig sehr viel ungünstigeren 16. Arrondissement liegt. Das KUZ bot seinen Besuchern einen Konzertsaal, einen Filmvorführungssaal sowie weitere Ausstellungsräume, Vitrinen mit ostdeutschen Landschaften und Sehenswürdigkeiten sowie eine Bibliothek, in der dem Interessierten 3 000 Bücher zu Verfügung standen. Während die bisher im Ausland existierenden DDR-Kulturzentren stets unter der Verantwortung der Liga für Völkerfreundschaft gestanden hatten, wurde das KUZ in Paris - gemäß Artikel 2 des Kulturabkommens - auf Beschluss des SED-Politbüros vom 1.3.1983 direkt dem ostdeutschen Außenministerium unterstellt und der DDR-Botschaft in Paris zugeordnet. Den DDR-Kulturpolitikern war von Anfang an bewusst, dass sie dem Pariser Publikum kein grobschlächtiges, ideologisch überformtes Programm bieten konnten, wenn sie Kontakte zu neuen gesellschaftlichen Gruppen finden wollten. Thematisch knüpfte das KUZ an die Traditionen der *DDR-Kulturpolitik in Frankreich an und verschrieb sich wie der *Deufra der Pflege gemeinsamer deutsch-französischer antifaschistischer Kontakte. In der ersten Zeit seines Bestehens richtete das KUZ sein Programm nahezu einseitig DDR-zentristisch aus und konzentrierte sich auf die Präsentation „kultureller, künstlerischer und wissenschaftlicher Höchstleistungen der DDR“. Doch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre versuchte es neue Zielgruppen wie Studenten, Oberschüler, Lehrlinge sowie junge Arbeiter und Angestellte anzusprechen. Eine Neuorientierung vollzog das KUZ in den Wochen nach dem Mauerfall, der das französische Interesse an der DDR verstärkte und die Verantwortlichen bewog, das Kulturprogramm in Deckung zu den gesellschaftlichen Realitäten in der DDR zu bringen. Eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung war auch im KUZ nicht zu übersehen, das den sozio-politischen Wandel in der DDR mit seinen verschiedenen Facetten vermitteln wollte. Nun wurde es endlich eine „Stätte der Begegnung mit Kunst und Kultur, des politischen Dialogs und des kompetenten wissenschaftlichen Meinungsstreits“. Doch die Hoffnung, auch in Zukunft ein Kooperationspartner und Mittler für französische Persönlichkeiten und Institutionen zu bleiben, wurde von den politischen Ereignissen weggespült. So wie auf staatlicher Ebene das bundesdeutsche System auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen wurde, mussten auch die Angestellten des KUZ ihre eigene Abwicklung und die Schließung ihres Instituts am 3.10.1990 erleben. Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln 2004, S. 528ff; Matthias Boucebci, Un „soft power“ culturel est-allemand. La programmation du centre culturel de la RDA à Paris (1983-1990), in: Anne Kwaschik, Ulrich Pfeil (Hg.), Die DDR in den deutsch-französischen Beziehungen, Brüssel 2013, S. 347-362. Ulrich Pfeil DDR-Literatur in Frankreich Der besondere Platz, den die DDR-Literatur in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 einnahm, stand in einem nicht unerheblichen Zusammenhang zum politischen Hintergrund in Frankreich: 1946 waren 28,2 % der Abgeordneten Kommunisten, die Satellitenstädte der drei großen Metropolen (Paris, Lyon, Marseille) sowie mittelgroße Hafenstädte (wie Le Havre, Dieppe, Saint-Nazaire) wurden zudem jahrzehntelang vom so genannten Gemeindekommunismus regiert und unterhielten zum Teil rege <?page no="170"?> DDR-Literatur in Frankreich 170 D Beziehungen in die DDR. Diesen kommunistisch regierten Städten wurde in den 1950er und 60er Jahren ein anderes Deutschland dargeboten. Jedes Jahr fuhren Tausende Kinder und Jugendliche aus nichtkommunistischen Familien in Ferienlager der DDR. Vereine wie die 1958 gegründete (und 1973 in Association France-RDA umbenannte) *Échanges franco-allemands schickten allein im Jahr 1972 ca. 4 000 Kinder und Jugendliche sowie 2 500 Mitglieder von Delegationen auf Reisen in die DDR. Auf diese Weise besaß die DDR, lange vor der offiziellen Staatsanerkennung 1973, für viele Franzosen bereits eine gewisse Alltagsnormalität. Hinzu kam der Einfluss der kommunistischen Presse mit ihrer Tageszeitung „L’Humanité“, die 1946 eine Auflage von 400 000 Exemplaren aufwies und zu einem wichtigen Medium für die Verbreitung der Literatur der DDR wurde, aber auch mit Regionaltageszeitungen: An der Côte d’Azur wurde z.B. „Le Patriote“ von Picasso mit Originalzeichnungen unterstützt. Gleiches galt für die Literaturzeitung der PCF „La nouvelle critique“ (1948- 80), insbesondere Jean Tailleur, sowie „Les lettres françaises“ (1942-72 und wieder seit 1990), die von 1953 bis 72 von Louis Aragon geleitet wurde. Die begeisterte Entdeckung des Theaters von *Bertolt Brecht in den 1950er Jahren (*Deutsches Theater in Frankreich) und die Veröffentlichung seiner Stücke auf Französisch durch Robert Voisin (*L’Arche Éditeur) stellten einen Markstein für die Entwicklung eines allgemeinen Interesses an der DDR-Literatur dar. Bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung in Deutschland erschienen auf Französisch so z.B. 1947 „Das siebte Kreuz“ (1946) und „Transit“ (1947) von *Anna Seghers; 1950 „The cruisaders“ (1948) von Stefan Heym (aus dem Amerikanischen), 1961 „Nackt unter Wölfen“ (1958) von Bruno Apitz, 1964 „Der geteilte Himmel“ (1963) von Christa Wolf, 1970 Hermann Kants „Die Aula“ (1965). 1967 wurde „Dix-sept poètes de la RDA“ publiziert, eine zweisprachige Lyriksammlung, die Gedichte von u.a. Johannes Bobrowski, Hanns Cibulka, Paul Wiens, Franz Fühmann, Günter Kunert, Rainer Kunze, Rainer und Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Karl Mickel sowie Volker Braun enthielt. Bis 1961 hatten alle großen französischen Verlage „ihren“ DDR-Autor, gaben dies nach dem Mauerbau jedoch auf. Der PCF-Verlag Les éditeurs français réunis (EFR) führte unter der Leitung von Louis Aragon eine aktive Veröffentlichungspolitik, die ab 1968 völlig eingestellt wurde. Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ (1968) wurde 1972 bei Le Seuil publiziert, eine Einzelerscheinung. Von diesem Zeitpunkt an spielte der Verlag Alinéa eine große Rolle und veröffentlichte u.a. Christa Wolf, Christoph Hein, Franz Fühmann. Ab den 1970er Jahren weitete sich das Interesse für die DDR-Literatur auch auf größere intellektuelle Kreise aus. Vor allem kritische Autoren (Christa Wolf, Christoph Hein, Volker Braun, Ulrich Plenzdorf, Wolfgang Hilbig, Rainer Kunze, Uwe Johnson, Jurek Becker und Thomas Brasch) stießen nun vermehrt auf Leser. Ihre Werke - sowie die von Angela Krauß - wurden z.T. im Verlag Métailié in der Reihe Deutsche Bibliothek (Leitung: *Nicole Bary) publiziert. *Heiner Müller wurde am Ende der 1970er entdeckt; seine Stücke gehören seither mit denen von *Brecht zum festen Bestandteil des Repertoires in Frankreich (*Deutsches Theater in Frankreich). Einfluss auf die Rezeption der DDR-Literatur in Frankreich nahmen auch Übersetzer (*Übersetzen/ Dolmetschen) wie *Alain Lance, *Gilbert Badia, *Nicole Bary, Jean- Paul Barbe, Lionel Richard, *Jean Jourdheuil und *Michel Bataillon. Im Bereich der Prosa ist die bekannteste DDR- Autorin - neben *Anna Seghers - Christa Wolf, die ihre Beliebtheit auch in der Nachwendezeit nicht eingebüßt hat, wie eine Veranstaltung im Jahre 2000 im vollbesetzten Théâtre national de la Colline in Paris zeigte, bei der Christa Wolf von Musikern und einem Maler begleitet aus „Medea“ las. 2009 bezeichnete „L’Humanité“ Christa Wolf als eine herausragende Kandidatin für den Nobelpreis und „Le Monde“ nannte sie anlässlich ihres Todes 2011 eine Galionsfigur der europäischen Literatur. Aber auch *Anna Seghers Roman „Transit“ wird weiterhin gelesen, die letzte Ausgabe erschien 2004 als Taschenbuch mit einem Vorwort von *Nicole Bary und einem Nachwort von Christa Wolf. Neben persönlichen und politischen Kontakten spielten aber auch die Institutionen eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der DDR-Literatur: 1983 eröffnete das *DDR-Kulturzentrum am Boulevard Saint-Germain in Paris, in dem Lesungen von Autoren wie Christa Wolf oder Stephan Hermlin und zahlreiche andere kulturelle Veranstaltungen stattfanden. Auch die *deutschen Buchhandlungen in Paris luden regelmäßig zu Lesungen ein, so Le Roi des Aulnes, wo zwischen <?page no="171"?> De l’Allemagne D 171 1980 und 1990 ca. zwanzig Lesungen von DDR- Autoren stattfanden und das *Heinrich-Heine- Haus in Paris. 1987 wurde die Gründungsveranstaltung von Les Belles Etrangères, eine vom Centre national du livre und dem Ministère de la culture et de la communication organisierte Buchmesse für ausländische Literatur, der DDR gewidmet; anwesend waren Helga Schütz, Helga Schubert, Helga Königsdorf, Uwe Kolbe, Christoph Hein, Fritz-Rudolf Fries, Hermann Kant und Stephan Hermlin. Als 1989 die Pariser Buchmesse unter dem Motto des deutschen Buchs stattfand, waren auch DDR-Autoren wie Stefan Heym, Helga Königsdorf sowie der (1979 in die BRD übergesiedelte) Günter Kunert zugegen. Die französische Presse - „Le Monde“, „Le Figaro“, „Le Magazine littéraire“ - brachte zu diesem Anlass Sondernummern heraus. Gefördert wurde das Interesse an DDR-Literatur ebenfalls durch die französischen Universitäten und Schulen. Schulbücher für den Deutschunterricht in Abiturklassen wie der „Cours d’allemand pour classes terminales“ (Kuhn und Isnard, 1966) nahmen Textauszüge aus Werken von *Bertolt Brecht, Eduard Claudius, *Anna Seghers, Erwin Strittmatter und F. C. Weiskopf auf; in „Deutsche erleben ihre Zeit 1942-1962“ (Roy und Cottet, 1963) wurden Textauszüge von *Anna Seghers, Christa Wolf, Uwe Johnson, Peter Huchel, *Bertolt Brecht, Bruno Apitz, Johannes R. Becher, Willi Bredel aufgenommen. Ab den 1980er Jahren waren die Autoren Christa Wolf, Günter Kunert, Hermann Kant, Volker Braun und ihre Werke dann auch Thema des zentral organisierten Staatsexamens für das Lehramt; 2013 war es Wolfgang Hilbig. Akademische Partnerschaften wie die zwischen den Universitäten in Lille und Halle, Lyon 2 und Leipzig, Besançon und Greifswald sowie zwischen Paris 8 (Vincennes-Saint-Denis) und der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden in den 1980er Jahren und verstärkten ebenfalls die Rezeption der DDR-Literatur in Frankreich. Die von Richard Thieberger gegründete Zeitschrift *Allemagne d’aujourd’hui brachte zahlreiche Artikel über DDR-Autoren und 1970 sogar einen kleinen Reiseführer der DDR-Lyrik. In Folge der offiziellen Anerkennung der DDR durch Frankreich widmete die Zeitschrift 1973 der DDR eine Sondernummer und nahm dies zum Anlass ihren Titel zu ändern: Das Plural-s in *Allemagnes d’aujourd’hui versinnbildlichte von nun an bis zur Wiedervereinigung die beiden deutschen Staaten. Zusätzlich übernahm von 1975 bis 1991 die Zeitschrift *Connaissance de la RDA unter der Leitung von *Gilbert Badia die Aufgabe, die DDR überwiegend unter kulturellen Aspekten zu präsentieren. Literarische Texte wurden teils im Original, teils in Übersetzungen vorgestellt. Über zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR ist das Interesse in Frankreich immer noch rege und Nachwendeautoren wie Ingo Schulze, Uwe Tellkamp, Jakob Hein, Olaf Müller oder Jana Hensel sind durchaus bekannt. Auf akademischer Seite forschen Historiker, Volkswirtschaftler und vor allem Germanisten über die DDR und deren Literatur: Eine beachtliche Anzahl von Promotions- und Habilitationsarbeiten werden an den Universitäten jährlich zur DDR-Literatur verteidigt, die einschlägigen Zeitschriften (*Allemagne d’aujourd’hui, Germanica, Nouvelle Europe, LITTERall etc.) veröffentlichen weiterhin regelmäßig Artikel zu diesem Thema und die Universitäten organisieren Tagungen und Kolloquien. Catherine Fabre-Renault, Die Rezeption der DDR- Literatur in Frankreich, in: Michael Opitz, Michael Hofmann (Hg.), Metzler Lexikon der DDR-Literatur, Stuttgart 2009, S. 279-281. Nicole Bary, Les Traductions des œuvres littéraires de la RDA en France jusqu’en 1989: une image officielle de la RDA? , in: Ulrich Pfeil (Hg.), La RDA et l’Occident 1949-1990, S. 507-514; Karin R. Güttler, Die Rezeption der DDR-Literatur in Frankreich (1945-1990). Autoren und Werke im Spiegel der Kritik, Bern 2001; Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Berlin 2009; Danielle Risterucci-Roudnicky, France-RDA. Anatomie d’un transfert littéraire 1949-1990, Bern 1999. Catherine Fabre-Renault De l’Allemagne Keine französische Kunstausstellung über Deutschland wurde so stark kritisiert wie die Ausstellung „De l’Allemagne, 1800-1939. De Friedrich à Beckmann“, die in der Hall Napoléon im Louvre zwischen dem 28.3. und dem 24.6.2013 gezeigt wurde. Dass die Ausstellung eine solche Kontroverse auslösen konnte, erklärt sich vor allem dadurch, dass sie nicht nur in einem kunsthistorischen, sondern auch einem politischen und diplomatischen Kontext rezipiert wurde. Deklariert als bedeutender Teil der Gedenkfeier der 50 Jahre des *Élysée-Vertrages, wenngleich das nicht von Anfang an geplant war, <?page no="172"?> De l’Allemagne 172 D zog sie schnell die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Nicht nur die großen überregionalen Zeitungen veröffentlichten Artikel, um die Ausstellung zu loben oder zu kritisieren, sondern auch in Fernsehsendungen bekam der Zuschauer einen Einblick in eine politisch höchst aufgeladene kunsthistorische Debatte, in der die einen die vermeintlichen Lücken, vor allem im Blick auf die Moderne, kritisierten und die anderen eine Illustration des Deutschen Sonderwegs erkennen wollten. Dabei hatte die Ausstellung erfolgreiche Vorgänger. 1976 brachte „La peinture allemande à l’époque du romantisme“ in der Orangerie in Paris zum ersten Mal eine große Zahl von Caspar David Friedrich-Gemälden nach Paris und zwei Jahre später widmete sich *„Paris-Berlin: 1900- 1933“ im Centre Georges Pompidou der deutschen Moderne und dem deutsch-französischen Kulturtransfer. Diese thematisch breit angelegten Ausstellungen umfassten dennoch eine relativ überschaubare Zeitspanne. Das Neue an der Ausstellung „De l’Allemagne“ war, dass sie weder eine einzelne Kunstbewegung noch eine kohärente Periode zeigte, sondern als eine Art Essay über deutsche Kunst und die kulturelle Bildung der nationalen Einheit von den Napoleonischen Kriegen bis hin zur Moderne konzipiert war. Das war nicht von Anfang an so geplant, sondern ergab sich vielmehr durch sukzessive Verschiebungen und eine gewagte Ausdehnung des Konzepts. Das *Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris hatte ursprünglich dem Louvre eine Ausstellung über die Weimarer Klassik vorgeschlagen, die sich dann allmählich zu einer großen Präsentation deutscher Kunst entwickeln sollte. Der Direktor des Louvres, Henri Loyrette, unterstützte das Projekt und regte die anderen Kuratoren an, die Ausstellung bis zur Moderne hin zu öffnen. Im Zuge dieser Umstrukturierung war auch das stark kritisierte Jahr 1939 als Schlusspunkt ausgewählt worden, womit die Ausstellung de facto das „Dritte Reich“ einschloss. Dass die persönlichen Beziehungen zwischen den Kuratoren Andreas Beyer, Johannes Grave, Henri Loyrette, Sébastien Allard und der Anfang 2012 hinzu gerufenen Philosophin Danièle Cohn immer schwieriger wurden, ist ein Grund dafür, dass trotz dieser Erweiterung das Konzept nie gründlich neu strukturiert wurde. Goethe blieb nach wie vor der Leitfaden durch die deutsche Kunst, und Anfang 2012 wurde ein neuer Teil hinzugefügt, der die Paradoxien der Moderne unter einer „faustischen“ Sicht präsentieren sollte. So bekam der Zuschauer eine dreiteilige Gliederung - eine Art dissertation à la française - zu sehen: 1. Antikensehnsucht: das Apollinische und das Dionysische, 2. Die Hypothese der Natur, 3. Ecce homo. Die ersten Artikel nach Eröffnung der Ausstellung waren zwar kritisch gegenüber der düsteren Darstellung Deutschlands und den Lücken in der Schilderung der Moderne, dennoch sprachen sie noch nicht von einem „kulturpolitischem Skandal“. Joseph Hanimann lobte in der „Süddeutschen Zeitung“ die Ausstellung wegen der gezeigten Werke, kritisierte jedoch den letzten Saal über die Moderne: die großformatigen Holzschnitte von *Anselm Kiefer, die „mit Inschriften wie Heine, Marx, Stefan George, Flosshilde, Wellgunde, Woglinde, Heidegger, Melancolia, der Rhein, Atlantikwall, Maginot in der Eingangsrotunde der Hall Napoléon massive Assoziationspflöcke in den Erwartungshorizont der Besucher [schlugen]“ und den „Thesenstrang vom dionysischen Freudenfest der Spätromantik zur politischen Leidensgeschichte der Zwischenkriegszeit“. Die Ausstellung wurde hier also zunächst weder als national-ideologisch noch als eine Schilderung des deutschen Sonderwegs wahrgenommen. Dieser Vorwurf kam erst eine Woche nach der Eröffnung auf. Am 4.4. verschärfte sich die Kritik in den Medien und mündete in eine polemisch geführte Debatte. Adam Soboczynski veröffentlichte in der „Zeit“ einen schneidenden Artikel, in dem erstmals der angeblich rote Faden der Ausstellung zwischen deutscher Romantik und der nationalsozialistischen Katastrophe angeprangert wurde. Niklas Maak entwickelte in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ eine ähnliche Argumentation gegenüber dem, was er als eine willentliche Illustration der These des deutschen Sonderwegs wahrnahm. Indes: Die dreiteilige Gliederung war nicht chronologisch-linear, und man hatte versucht, diese Interpretation durch verschiedene Mittel zu verhindern. Die drei Teile waren thematisch angelegt und liefen jeweils über eine lange Zeitspanne: Der erste Teil ging etwa von 1800 bis 1900 und behandelte das Thema des Apollinischen und des Dionysischen im Bezug zur Antike, der zweite <?page no="173"?> Derrick D 173 Teil über die Naturvorstellung von etwa 1800 bis 1900 und der dritte Teil schließlich von etwa 1840 bis 1939 und stellte den Menschen und seine Leiden im Krieg zentral. Gegen Ende des zweiten Teils wurde zudem eine Art Goethe- Kabinett in die Ausstellung integriert, das die chronologische Kette völlig sprengte. Nichtsdestotrotz gab es für viele Besucher und Kommentatoren durch die lineare Struktur der Ausstellung, den von *Kiefers Werk gelegten Erwartungshorizont, die Begleittexte und nicht zuletzt auch die Wirrnis des letzten Saales, in dem die Weimarer Republik auf gleicher Ebene wie das „Dritte Reich“ gezeigt wurde, genug Anspielungen auf die These des deutschen Sonderwegs. Seitens der französischen Medien, vor allem in „Le Monde“ und „Le Figaro“, wurde von einem deutsch-französischen Missverständnis im aktuell schwierigen politischen Kontext der europäischen Schuldenkrise gesprochen. Gleichzeitig wurde jedoch auch ein deutschfeindlicher Diskurs in die Öffentlichkeit getragen. Dennoch kann nur schwerlich behauptet werden, dass die französischen Besucher und Kunsthistoriker die Ausstellung einstimmig gelobt hätten. Die Artikel von Denis Thouard in der Zeitschrift „Esprit“, von Patrice Neau in *„Allemagne d’aujourd’hui“ oder Eric Michaud und Maria Stavrinaki in „Artforum“ haben aus unterschiedlichen Perspektiven die Ausstellung kritisiert. Die Bruchlinie schien sich weniger zwischen Deutschen und Franzosen als zwischen den Anhängern einer nationalen Geschichtsschreibung und den Verteidigern einer transkulturellen Historiographie zu ziehen. Die letzteren bedauerten, dass kein Hinweis auf kulturelle Transfers, u.a. den französischen Einfluss auf Liebermann, den Expressionismus oder die international geprägte Moderne des Bauhauses in der Ausstellung zu sehen war. In diesem Zusammenhang erschien die Kontroverse über die Ausstellung „De l’Allemagne“ weniger als ein Spiegel deutschfranzösischer Missverständnisse als vielmehr ein Streitgegenstand in der mit dem Projekt der Maison d’histoire de France (2008-2012) neuentstandenen Debatte über die nationalen Denkmuster der aktuellen Geschichtsschreibung. Joseph Hanimann, Die Kriegernation hat Kultur, in: Süddeutsche Zeitung, 28.3.2013; Adam Soboczynski, Auf dem Sonderweg, in: Die Zeit, 4.4.2013; Niklas Maak, De l’Allemagne im Louvre. Aus dem tiefen Tal direkt zu Riefenstahl, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.4.2013; Christian Joschke, Une exposition douteuse sur l’art allemand, in: Le Monde, 19.4.2013; Denis Thouard, De l’Allemagne au Louvre: pour et contre, in: Esprit, 3.5.2013; Patrice Neau, „De l’„Allemagne“ - mais de quelle Allemagne? , in: Allemagne d’aujourd’hui 204 (April-Juni 2013), S. 7-17; Éric Michaud, Maria Stavrinaki, De l’Allemagne, 1800- 1939, in: Artforum, Oktober 2013, S. 288-289. Christian Joschke Derrick Als der in Wuppertal geborene Schauspieler Horst Tappert (1923-2008) im Alter von 85 Jahren in München verstarb, zierte sein Photo die Titelseiten von „France Soir“, vom „Parisien-Aujourd’hui“ und selbst vom „Figaro“. In 12 Sprachen, 108 Ländern und eben auch in Frankreich wurde der „Inspektor mit Schlips und Anzug“, der anders als seine amerikanischen Kollegen nicht durch einen muskelgestählten Körper und halsbrecherische Actionszenen besticht, sondern durch seine ruhige, gleichmütige und vernunftgesteuerte Art, zu einem gerngesehenen Gast in den französischen Wohnzimmern. Sein Markenzeichen ist die viel zu große Brille im Retrolook und die stets korrekte Frisur, die sich auch bei der Verfolgung von Verbrechern nicht bewegt. Doch sind es weniger die Actionszenen, welche die Serie ausmachen, sondern die psychologisierenden Ansätze, mit denen der Kommissar Licht in das persönliche Umfeld des Opfers zu bringen versuchte. Die von Herbert Reinecker geschriebene Serie lief in Deutschland vom 20.10.1974 bis zum 16.10.1998 und ließ den Inspektor gemeinsam mit seinem Assistenten Harry Klein (Fritz Wepper) 281 Mal immer mit den neuesten BMW-Modellen auf Verbrecherjagd gehen. In Frankreich wurde „Derrick“ zum ersten Mal am 26.2.1986 auf La Cinq ausgestrahlt. Wiederholungen gab es auf France 2 und dann auf France 3, sodass Derrick Unsterblichkeit beschieden schien. Erst als im April 2013 bekannt wurde, dass Tappert während des Zweiten Weltkriegs Mitglied der Waffen-SS war, setzte auch das französische Fernsehen die Serie ab. Seine größte Anhängerschaft besaß er in Frankreich in der Altersgruppe über 60, die täglich nach dem Mittagessen den Nachmittag mit ihrem Lieblingskommissar einläuteten und - <?page no="174"?> Deutsche Buchhandlungen in Paris 174 D wie böse Zungen behaupteten - schnell in den Mittagsschlaf übergingen. Aller Kritik zum Trotz gehörte „Derrick“ wie selbstverständlich zum medialen Establishment in Frankreich und rettete die Programmkanäle, wenn die Zuschauerzahlen ausblieben und Spielshows nicht den erhofften Erfolg erzielten.In Deutschland wie in Frankreich war die Serie zu allen Zeiten Objekt von Kritik: die Mittelmäßigkeit der Schauspieler, die verblichenen Farben, der Paternalismus der Hauptdarsteller, die Konzentration auf die „besseren Viertel“ von München. Doch wie erklärt sich trotz aller Biederkeit der weltweite Erfolg von „Derrick“? Ist es nicht gerade der traditionelle Habitus des inspecteur , der in einer sich immer schneller wandelnden Welt als einer der letzten Pfeiler einer im Niedergang befindlichen Kultur wahrgenommen wird? Sein ruhiges, zurückhaltendes und immer akkurates Auftreten, was seine Kritiker als Ausdruck von Biederkeit auslegen mögen, verstehen seine Anhänger hingegen als eine Form der Redlichkeit und Anständigkeit, die sie in der heutigen Welt vermissen. Daran ändern auch die satirischen Parodien nichts, die ein weiteres Mal unterstreichen, dass „Derrick“ eine Referenz in Frankreichs Wohnzimmern ist. Die „Fatals Picards“ schrieben ein Lied mit dem Titel „À l’enterrement de Derrick“, das sich allgemein über die 1970er Jahre lustig macht. Vorbild für den Sketch „Henri Durieux, police … d’assurance“ der „Robins des Bois“ war ebenfalls der deutsche Fernsehkommissar, der auch in der Serie „Objectif Nul“ der „Nuls“ Pate für den „Inspecteur Merdick“ stand. Abschließend sei erwähnt, dass Max Boublil „Derrick“ bzw. Horst Tappert ein Lied widmete, als dieser am 13.12.2008 verstarb. Umberto Eco, Derrick oder Die Leidenschaft für das Mittelmaß, München 2000; Ulrike Kabyl, Derrick. Eine Erfolgsgeschichte des deutschen Fernsehens, Köln 2001; Thomas Sandoz, Derrick - L’ordre des choses, Charmey 1999; Horst Tappert, Derrick et moi, Paris 1999 [dt. Version: München 1999]. Ulrich Pfeil Deutsche Buchhandlungen in Paris Von den deutschen Buchhandlungen nach 1945 kann man kaum reden, ohne die Vorkriegszeit in den Blick zu nehmen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Nachkriegsbuchhändler standen in einer unbestreitbaren Traditionslinie mit ihren Vorgängern der Zwischenkriegszeit, deren Arbeit durch das Exil und den Kampf gegen den Faschismus geprägt war. Es gibt also eine Brücke zwischen der Zeit der Verfolgung und der Auflehnung gegen die Unterdrückung durch die Nationalsozialisten und der Zeit der sich neu formierenden Demokratie in Frankreich und Deutschland. Die deutschen Buchhandlungen in Paris und der Vertrieb deutscher Druckerzeugnisse waren während der 1930er Jahre mit einer politischen Aufgabe verbunden, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings keine Rolle mehr spielte. Das „Pariser Tageblatt“ - die Tageszeitung der deutschen antifaschistischen Opposition im Exil - hatte ab Juli 1935 einen eigenen Buchvertrieb organisiert, der sich auf die französische Buchhandelsvereinigung Agence de librairie française et étrangère stützen konnte: „Anfragen und Anregungen, die unsere Leser im In- und Ausland an uns richteten, haben uns veranlasst, einen Buchvertrieb einzurichten, der sich zum Ziel setzt, unseren Lesern die zeitgenössische Literatur zugänglich zu machen, vor allen Dingen die im Dritten Reich verbrannten und verbotenen Bücher“ (PTB, 28.7.1935). Es ging also darum, den Menschen im Exil die Möglichkeit zu geben, deutsche Bücher zu lesen, die man in Deutschland nicht mehr bekommen konnte. Die Exildeutschen der 1930er Jahre interessierten sich weniger für die deutsche Gegenwartsliteratur im Allgemeinen, als für jene andere deutsche Literatur („Widerstandsliteratur“), deren Vertreter sich wie sie im Exil befanden und die in den Niederlanden, in der Schweiz, in Schweden, Frankreich oder in der Tschechoslowakei herausgegeben wurde. Diese Literatur lässt sich insgesamt als Widerstandsliteratur bezeichnen, auch wenn viele Exilpublikationen ihrem Inhalt nach gar nicht in diese Kategorie gehören. Im Exil zu publizieren war per se ein Akt des politischen Widerstands. Die in Deutschland verbrannten Bücher, die von den nach Frankreich geflüchteten Intellektuellen gerettet wurden, erlangten dabei schnell Symbolstatus für die Verteidigung der Kultur gegen die Barbarei der nationalsozialistischen Ideologie. Vom 16. bis 23.11.1936 fand in Paris eine Ausstellung mit dem Titel „Das Freie Deutsche Buch“ statt, die vom Schutzverband Deutscher Schriftsteller und von der Deutschen Freiheits- <?page no="175"?> Deutsche Buchhandlungen in Paris D 175 bibliothek organisiert wurde. Beide Organisationen waren offenkundig dem linken Lager zuzurechnen und standen den Kommunisten nahe. Doch die Auswahl der Bücher beschränkte sich nicht auf die proletarische Literatur. Neben der Exilpresse, die solche Veranstaltungen publik machte, spielten auch die deutschen Buchhandlungen eine Rolle, wenn es darum ging, die Publikationen von Das Freie Deutsche Buch bekannt zu machen. Die deutschen Buchläden waren in der Regel meist von linken Emigranten, oft jüdischer Herkunft, gegründet worden, größtenteils von Sozialdemokraten, Kommunisten oder Trotzkisten. Einige von ihnen hatten bereits in Berlin, Hamburg oder Frankfurt als Buchhändler gearbeitet, andere waren Neulinge in diesem Beruf, der ihnen das Überleben im Exil sicherte. So konnten sie ihr antifaschistisches Engagement fortsetzen, das oft der Grund dafür gewesen war, dass sie Hitlerdeutschland so früh verlassen hatten. Die Konkurrenz der alteingesessenen französischen Buchhandlungen (Gibert Jeune, Messagerie Hachette) war hart, denn diese hatten schon seit längerem ausländische Literatur im Angebot und pflegten Kontakte zu den ausländischen Händlern. Einigen deutschen Buchhandlungen (zuweilen auch Leihbibliotheken, Antiquariate, Lesesalons, Cafés mit Mittagstisch wie das Eda in der Rue Blanche) gelang es, Exklusivverträge mit den deutschsprachigen Verlagen wie z.B. Allert de Lange und Querido (Amsterdam), Oprecht & Heibling (Zürich) oder Bermann-Fischer (Stockholm) zu schließen. Außerdem beschränkten sie sich nicht auf den Buchverkauf, sondern funktionierten zugleich als Leihbibliothek und Antiquariat. Einige stellten ihre Räumlichkeiten für Lesungen und Diskussionsveranstaltungen mit Autoren und Journalisten zur Verfügung. Die 1933 eröffnete Buchhandlung Eda in der Rue Blanche bot ihren Besuchern sogar eine Teestube mit preiswertem Mittagstisch in der ersten Etage. Die Inhaberin Hélène Kra, deren Familie 1884 aus Frankfurt emigriert war, entging 1941 nur knapp der Arisierung ihres Geschäfts, indem sie es einer nichtjüdischen Freundin überschrieb. 1945 konnte sie es wieder selbst übernehmen. Es gab zahlreiche andere Buchhandlungen: Neben der Agence de librairie française et étrangère (seit November 1935 von Ernst Strauss, einem ehemaligen Anwalt geführt), gab es noch die Buchhandlung Au pont de l’Europe (gegründet im März 1933 von Ferdinand Ostertag und Otto Wittenborn zusammen mit französischen Partnern), die Buchhandlung Science et littérature (eröffnet 1937 von Ernst Heidelberger in der Nähe der Sorbonne), die Librairie internationale Biblion (1934 von Paul Günzburg gegenüber dem Café du Dôme eingerichtet) und die Librairie franco-allemande, die der Anwalt Wilhelm Leo, Vater von *Gerhard Leo und ein linker Sozialdemokrat im Februar 1935 im 3. Arrondissement, in der Rue Meslay Nr. 17 eröffnet hatte. Die meisten mussten mit Beginn der deutschen Besatzungszeit schließen. Viele Buchhändler wie Ernst Strauss oder Ferdinand Ostertag überlebten die Barbarei der Nationalsozialisten nicht. Nach dem Verschwinden aller Buchhandlungen der antifaschistischen Exilanten blieb es in Paris nur eine deutsche Buchhandlung übrig, die sich mit Erlaubnis der Besatzungsmacht an einem symbolträchtigen Ort platzieren konnte: Am Place de la Sorbonne, an der Ecke zum Boulevard Saint- Michel. An diesem Ort befand sich einst das berühmte Café d’Harcourt, das Ende des 19. Jahrhunderts von Verlaine und den Studenten des Quartier Latin besucht wurde. Diese unter dem Namen Rive-Gauche firmierende deutsche Buchhandlung wurde im April 1941 eröffnet und blieb bis 1943 Aushängeschild des von Karl Epting geleiteten Deutschen Instituts. Die Rive-Gauche-Gruppe war bereits vor dem Krieg von Annie und Henry Jamet gegründet worden, die ihre eigene Vision des „wirklichen nationalsozialistischen Deutschland“ den antifaschistischen Exildeutschen entgegenstellen wollten. Der Name Rive-Gauche wurde beibehalten, um den Schein der Kontinuität zu wahren. Doch obwohl prominente Figuren der Kollaboration (Henry Jamet, Robert Brasillach, Alphonse de Chateaubriand, Lucien Rebatet und Maurice Bardèche) im Verwaltungsrat saßen und eine französische Kapitalgesellschaft gegründet worden war, blieben die Deutschen doch Mehrheitseigner der Buchhandlung. Die Buchhandlung Rive-Gauche war das Schaufenster NS-Deutschlands. Sie besaß als einzige das Recht, deutsche Bücher in Frankreich und französische Bücher nach Deutschland zu vertreiben. Das große Geschäft mit 61 Angestellten war nicht auf den Verkauf von deutschen Büchern und von Übersetzungen aus dem Deutschen (3/ 5 des Sortiments) beschränkt. Man zeigte zudem eine Ausstellung über <?page no="176"?> Deutsche Buchhandlungen in Paris 176 D deutsche Bücher und den Reichsarbeitsdienst. Außerdem traf sich dort ein Club von deutschen Intellektuellen, die - meist in Wehrmachtsuniform - in Paris lebten, mit französischen Kollaborateuren. Gleichwohl bestand die Klientel der Buchhandlung größtenteils aus Studenten und Lehrkräften der Sorbonne. Auch die Präsenz eines Pariser Lesepublikums wurde nie bestritten. Doch es kam zu Sabotageakten und einem Bombenattentat am 12.11.1941. Nach diesen schwarzen Jahren der Besatzung und der beschämenden Geschichte der Buchhandlung Rive-Gauche ist es verständlich, dass es für neue deutsche Buchhandlungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit schwer war, sich in Paris zu etablieren. Der Erfolg des (1947 gegründeten) Geschäfts von Martin Flinker erklärt sich aus mehreren Gründen: Zunächst, als er sich Anfang 1947 in Paris niederließ, wählte er einen eher zurückgezogenen Ort (Quai des Orfèvres). Nur Eingeweihte wussten, was sie erwartete, wenn sie über die Schwelle des Hauses am Quai des Orfèvres Nr. 68 traten. Flinker entstammte einer jüdischen Familie aus Czernowitz, die das schwere Schicksal des Exils erlebt hatte. Er hatte fast seine gesamte Familie in den Todeslagern von Theresienstadt und Auschwitz verloren. Sein Schicksal machte ihn in den Augen der Franzosen zu einer integren Persönlichkeit. Bis 1938 hatte er im Exil in Wien eine Buchhandlung geführt. Nun setzte er diese Aktivität fort. Seinen Pariser Kunden bot er mit Vorliebe moderne Wiener Autoren an: Joseph Roth, Robert Musil, Hermann Broch, Elias Canetti, Stefan Zweig, Arthur Schnitzler, Franz Werfel, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr. Er hatte sie vor dem Krieg persönlich kennengelernt, als er in seiner Wiener Buchhandlung unweit der Oper literarische Abendveranstaltungen organisierte. Aber auch die von Hitler verbannten Autoren des anderen Deutschland nahm er in sein Sortiment auf: *Heinrich und Thomas Mann und viele andere. Seine Pariser Buchhandlung wurde zu einem Ort des Austausches zwischen französischer und deutschsprachiger Literatur. Zum 80. Geburtstag von Thomas Mann gelang es ihm, zahlreiche französische Schriftsteller zu versammeln, von denen jeder dem großen deutschen Schriftsteller und würdigen Vertreter des oppositionellen Deutschland einen kleinen Text widmete: François Mauriac, Jean Cocteau, André Gide, Francis Carco, Jean Genet, Pierre-Jean Jouve, Valéry Larbaud, Daniel-Henry Kahnweiler, Pablo Picasso, Arthur Honneger, Darius Milhaud, Julien Green, *Michel Tournier zollten dem Literaturnobelpreisträger Thomas Mann ihren Tribut. Wie einige seiner Vorgänger der Vorkriegszeit betätigte sich Flinker auch als Verleger. Die Editions Martin Flinker brachten ein Dutzend französische Werke (Henri Michaux) und Übersetzungen aus dem Deutschen (Thomas Mann) heraus und legte einen berühmten Almanach auf, in dem - wie schon im „Wiener Almanach“ - Schriftsteller ihre noch unveröffentlichten Texte publizierten, beispielsweise *Paul Celan. Flinker selbst schrieb für die Ausgaben des Almanachs zahlreiche Essays über Thomas Mann, Hermann Broch, Robert Musil oder Joseph Roth. Er starb 1986, seine Buchhandlung schloss 1989 endgültig ihre Pforten. Was von diesem außergewöhnlichen Lebensweg des Literaturliebhabers Martin Flinker bleibt, ist vor allem seine Rolle als Vermittler zwischen den Kulturen. Oft war er Vorreiter. Andere folgten ihm oder verfolgten parallel zu seiner Arbeit das gleiche Ziel. Es war ihm eine Herzensangelegenheit, die deutschsprachige Literatur im kulturellen Feld Frankreichs zu verankern. Auch der Berliner Fritz Picard war vor den Nationalsozialisten geflohen. Mit seiner Frau, der Anwältin Ruth Fabian, hatte er seit 1946 in seiner Pariser Wohnung sämtliche Werke der deutschen Literatur gesammelt, die den Verbrennungsaktionen und der Beschlagnahmung durch die Gestapo entgangen waren. Ruth Fabian hatte außerdem mit ihrem ersten Ehemann Walter Fabian der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) angehört, der Partei des jungen Willy Brandt während seiner Widerstandsjahre. Picard und Ruth Fabian gründeten 1951, mit dem Grundstock ihrer eigenen Sammlung, das Antiquariat Calligrammes im 6. Arrondissement, in der Rue du Dragon. Annette Antignac, die Tochter von Walter und Ruth Fabian, war einige Zeit Assistentin ihres Stiefvaters, bevor sie 1965 das Geschäft übernahm. Sie entwickelte das Antiquariat zur Sortimentsbuchhandlung und öffnete die Buchhandlung mit Erfolg einer französischen Kundschaft. Deutschlehrer der Sekundarstufe und Germanisten sowie Schüler und Studenten gehörten künftig zur Kundschaft. Neben moderner Literatur und Klassikern konnte man bei Calligrammes auch Nachschlagewerke und Handbücher zur Methodik des Deutschunterrichts finden. Die Buchhandlung hielt darüber hi- <?page no="177"?> Deutsche Buchhandlungen in Paris D 177 naus die komplette Literatur zur Vorbereitung auf den CAPES und die agrégation bereit. In der Vorkriegstradition deutscher Buchhandlungen organisierte Annette Antignac außerdem Autorenlesungen. Günter Grass las 1980 bei Calligrammes, der Schriftsteller *Georges-Arthur Goldschmidt war 1998 der letzte Gast. Das Geschäft vergrößerte sich und zog in die Rue de Rennes. Der Erfolg währte aber nur einige Jahre, 1985 musste Annette Antignac ins 5. Arrondissement, in die Rue de la Collégiale ziehen. Ab Mitte der 1980er Jahre sanken die Umsatzzahlen kontinuierlich. Das lag zum einen an der neuen Adresse in einem zentrumsferneren Stadtteil, erklärt sich aber auch strukturell aus der Konkurrenz des Versandbuchhandels (des Vorläufers des Verkaufs per Internet), den langen Lieferzeiten sowie dem schwindenden Interesse der Franzosen. 1998 musste Calligrammes schließen. Die französische Germanistin *Nicole Bary hatte ausdrücklich den Wunsch geäußert, in die Fußstapfen von Martin Flinker zu treten, als sie Ende 1979 die Buchhandlung Le Roi des Aulnes am Boulevard du Montparnasse eröffnete. Sie verstand ihr Geschäft als Treffpunkt für französische und deutschsprachige Schriftsteller und Intellektuelle. Sowohl westwie ostdeutsche Autoren, als auch Schriftsteller aus der Schweiz, aus Österreich und aus dem rumänischen Banat (wie Herta Müller) folgten ihrer Einladung. Ihre Tätigkeit als literarische Beraterin für das Centre national du livre bei zahlreichen Kulturveranstaltungen und Buchmessen (Belles Étrangères, Salon du livre) ermöglichte es ihr, auch jene Autoren aus der DDR einzuladen, die von den ostdeutschen Autoritäten und dem Kulturzentrum der DDR in Paris aus ideologischen Gründen nicht gefördert wurden: Christoph Hein, Uwe Kolbe, Irmtraud Morgner, Stefan Heym … Auch wenn sich *Nicole Bary mit ihrer Buchhandlung auf zeitgenössische deutsche Literatur spezialisierte, vernachlässigte sie die universitäre Kundschaft nicht und versorgte diese mit der Literatur für den CAPES und die agrégation . Als Übersetzerin war *Nicole Bary die erste, die Herta Müller ins Französische übertrug. Als Herausgeberin arbeitete sie für den Straßburger Verlag La Nuée Bleue und für die Verlegerin Anne-Marie Métailié. 1991 schloss sie ihre Buchhandlung und wandte sich anderen Aktivitäten zu. Bereits 1983 hatte sie den Verein der Amis du Roi des Aulnes gegründet, um gemeinsam mit dem Ministère de la culture, dem *Heinrich-Heine-Haus, dem *Goethe-Institut Paris, dem Centre culturel suisse und dem Forum culturel autrichien Lesungen von deutschsprachigen Autoren anbieten zu können. *Nicole Bary ist übrigens die einzige Französin, die je eine deutsche Buchhandlung in Paris geführt hat. Andere Buchhandlungen entstanden: Die Hamburgerin Gisela Kaufmann eröffnete 1988 den Buchladen am Fuß des Montmartre, in der Rue Burq. Über die Hälfte ihres Sortiments umfasst zeitgenössische deutschsprachige Literatur, aber der Schwerpunkt liegt auch auf französischen Übersetzungen aus dem Deutschen. Sie hat selbst Übersetzungen angeregt (u.a. „Fuck America“ von Edgar Hilsenrath und Texte von Michael Kleeberg) und für deutschsprachige Autoren Lesungen in einem Café am Montmartre organisiert. Ursula Pusch führte von Mai 1994 bis Oktober 2008 einen kleinen Buchladen, Infobuch, in der Rue des Blancs Manteaux im Marais. Pusch hatte bereits in Deutschland als Buchhändlerin Erfahrungen gesammelt, war dann ab 1991 bei der FNAC in Paris für deutschsprachige Literatur zuständig gewesen, bevor sie sich selbständig machte, um Bücher zu Hause und auf Bestellung per Minitel zu verkaufen. Schließlich eröffnete sie ihre eigene Buchhandlung. Wie ihre Kolleginnen Annette Antignac und *Nicole Bary organisierte sie Autorenlesungen in Zusammenarbeit mit dem *Goethe-Institut und dem *Heinrich-Heine-Haus. Die deutsche Buchhandlung Marissal befindet sich seit 1981 in bester Lage, unweit des Centre Georges Pompidou. Diese Zweigstelle einer Hamburger Buchhandlung wurde zunächst von Jörg Huber geleitet, ab 1986 dann von Petra Kringel übernommen. Neben Klassikern und anspruchsvoller Gegenwartsliteratur bietet Marissa ein breites Spektrum bis hin zu Bestsellern und Krimis. Auch literarische, geschichtliche und geisteswissenschaftliche Übersetzungen aus dem Deutschen findet man dort. Die wichtigste Klientel der Buchhandlung sind Studenten und Lehrende der Germanistik. Petra Kringel hält deshalb auch Lehr- und Lernwerke der deutschen Sprache bereit sowie eine große Auswahl an Klassikern und philosophischen Werken des universitären Programms sowie Geschichts- und geisteswissenschaftliche Werke. Titel von Ger- <?page no="178"?> Deutsche Sprache in Frankreich 178 D manisten in deutscher und französischer Sprache liegen auf den Präsentationstischen. Inzwischen existieren nur noch zwei deutsche Buchhandlungen: Marissal und der Buchladen. Der Umsatz ist mehr oder weniger stabil. Noch gelingt es ihnen, die Funktion, die den deutschen Buchhandlungen nach 1945 als interkulturelle Vermittler zukam, zu erfüllen und fortzuführen. Einer der Gründe, die das tendenzielle Verschwinden der deutschen Buchhandlungen in Paris erklären, ist sicherlich im allgemein abnehmenden Interesse der Franzosen, Deutsch zu lernen, zu suchen. Darüber hinaus sind die Transport- und Bestellkosten für die Buchhändler so hoch, dass sie kaum Gewinne abwerfen können. Deutsche Bücher lassen sich inzwischen leicht und schnell per Internet bestellen. Aber auch die französische Buchbranche ist von strukturellen Veränderungen bedroht: Immer weniger junge Menschen interessieren sich für Literatur. Andere Medien machen dem Buch Konkurrenz. Die deutschen Buchhandlungen in Paris waren traditionell Vermittler zwischen den Kulturen. Die ersten Buchhändler kamen als Flüchtlinge aus NS-Deutschland. Nach dem Krieg lag es den Buchhändlern am Herzen, ihren französischen Kunden das wirkliche Gesicht der deutschsprachigen Literatur zu zeigen. Ihre französischen und westdeutschen Nachfolger haben diese Aufgabe bis heute mit Erfolg weitergeführt. Michaela Enderle-Ristori, Markt und intellektuelles Kräftefeld. Literaturkritik im Feuilleton von „Pariser Tageblatt“ und „Pariser Tageszeitung“ (1933-1940), Tübingen 1997; Eckard Michels, Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944. Ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1993; Heike Lehnerdt, Le livre allemand dans les librairies en France. Abschlussarbeit im Bereich Editionswissenschaften, Universität Paris 13 (1997); Helga Lux, Les nouvelles inédites de Martin Flicker dans le fonds de l’IMEC. Parcours d’un libraire viennois en exil à Tanger et à Paris. Masterarbeit, Universität Caen (2011). Daniel Azuélos Deutsche Sprache in Frankreich Lange Zeit war Deutsch in Frankreich die (moderne) Fremdsprache der Eliten. Die besseren Schüler konnten sich durch das Erlernen dieser als schwierig geltenden Sprache, die dementsprechend anspruchsvoll („grammatiklastig“) gelehrt wurde, gegenüber der Masse der anderen Schüler absetzen. A priori hatte das Deutschlernen folglich nicht zwangsläufig mit dem Wunsch oder dem positiven Bedürfnis zu tun, die Deutschen und deren Kultur kennen und schätzen zu lernen. In besonders angespannten und krisengeschüttelten Zeiten bot die Kenntnis der deutschen Sprache und Kultur vor allem die Möglichkeit, den Feind besser einzuschätzen zu können. Ein anderes Beispiel für die Auswirkungen der spezifischen Rollen des Deutschen gibt der Theatersektor: Viele Regisseure wie *Patrice Chéreau, *Bernard Sobel oder *Jean Jourdheuil, welche die Entwicklung des französischen Theaters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten, hatten im lycée oder den classes préparatoires Deutsch gelernt und trugen auf dieser Grundlage wesentlich zu einem lebhaften Kulturaustausch zwischen Frankreich, der BRD und der DDR bei (*Deutsches Theater in Frankreich) bei - für andere kulturelle Bereiche wie die Literatur gilt cum grano salis Ähnliches. Umgekehrt lässt sich schließen, dass die rückläufigen Tendenzen in diesen Bereichen nicht zuletzt auf der Tatsache gründen, dass Deutsch diese Anziehung als Distinktionsmerkmal in großen Teilen verloren hat. Während das Deutsche in Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die meistgewählte Fremdsprache war, setzte schon ab den 1930er Jahren ein stetiger Rückgang ein, der aber durch die positiven Impulse des *Elysée-Vertrages und die soziale Verbreiterung, was den Zugang zur höheren Schul- und Universitätsbildung betrifft, zunächst aufgehalten werden konnte. Zu Beginn der 1980er Jahre lernten 1,4 Millionen französische Schüler Deutsch, 14 % davon als erste Fremdsprache (Jean-Michel Hannequart). Von diesem Zeitpunkt bis ins Jahr 2005 ist eine ständige Erosion festzustellen, die nur kurzfristig und sporadisch aufgrund des wieder erwachten Interesses an Deutschland infolge der Wiedervereinigung unterbrochen wurde. Der Hauptgrund für den Niedergang liegt in der immer prominenter werdenden Rolle des Englischen und des Spanischen (als leicht zu erlernende Fremdsprache eines Nachbarlandes mit attraktivem Image). Die Prozentzahlen zeigen dies deutlich: Zwischen 1995 und 2013 sank der Anteil der schulischen Deutschlerner von 22,9 % auf 15,2 % (und dabei überproportional stark im Bereich der <?page no="179"?> Deutsche Sprache in Frankreich D 179 ersten Fremdsprache), während der der Englischlerner von 93 % auf 98,2 % und der Spanischlerner von 28,9 % auf 46,1 % stieg. Es hat lange Zeit gedauert bis sich in Frankreich die Einsicht in die unabdingbare Bedeutung des Englischen, die jeder höher gebildete Franzose sprechen sollte, durchzusetzen begann; nun steht zu befürchten, dass das Deutsche damit in Zukunft weiteren Raum einbüßen wird. Dies lässt sich momentan bereits im Primarbereich beobachten, wo Deutsch mit Ausnahme des Elsasses inzwischen keine Rolle mehr als erste Fremdsprache spielt. Zwar gehört Frankreich neben Polen und einigen anderen mittel- und osteuropäischen Nationen weiterhin zu den Ländern, in denen viel Deutsch gelernt wird, doch bedarf es ständiger großer Bemühungen von staatlicher Seite, von Interessensverbänden und Mittlerinstitutionen (*Goethe-Institut, *DAAD, *ADEAF) um diese Zahlen konstant zu halten. Ab 2005 konnte der Abwärtstrend dank der voluntaristischen sprachpolitischen Maßnahmen, die anlässlich der 40. Jahresfeier des *Elysée-Vertrags 2003 initiiert wurden, gestoppt und die schulischen Deutschlernerzahlen bei knapp einer Million stabilisiert werden. Insbesondere die Möglichkeit des gleichzeitigen Erlernens des Englischen und des Deutschen in den so genannten classes bilangues sowie die Stärkung der classes européennes haben sich positiv ausgewirkt (*Schulpolitik). Insgesamt ist die Attraktivität mehrsprachiger Schulausbildungen (z.B. durch das *AbiBac) in den Augen der Eltern und Schüler stark gestiegen ist (*Sprachenpolitik und Förderung der Nachbarsprachen). Leider ist zu konstatieren, dass sich verschiedene académies in Frankreich anschicken, diese Instrumente aus finanziellen Gründen in Frage zu stellen. Neben den Zahlen und Statistiken sind jedoch für die Frage der Fremdsprachenkenntnisse auch viele andere, kaum quantifizierbare Faktoren bedeutsam: Welche Möglichkeiten bietet die jeweilige Gesellschaft den Schülern und Erwachsenen, die erworbenen Sprachkenntnisse zu erhalten, auszubauen und später einzusetzen und als symbolisches oder berufliches Kapital zu nutzen? Auch wenn Fremdsprachenkenntnisse keine notwendige Voraussetzung des Kulturaustausches sind, wird man ihre Bedeutung hierfür wohl kaum in Zweifel ziehen wollen. Aus dieser Perspektive betrachtet, gibt es wohl keine moderne Fremdsprache, die in Frankreich so zahlreiche Zusatzangebote bereit hält: *DFJW, *BILD und *DFH bieten Deutschlernern eine Vielzahl an Austauschprogrammen sowie nachschulische Programme an; die Sprachförderung im Kontext der *Auswärtigen Kulturpolitik unterstützt die so genannten PASCH-Schulen (Partnerschaftsschulen, an denen besonders intensiv Deutsch gelernt wird); das *Goethe-Institut und seine Partner (wie das *DFJW und der Ministère de l’éducation nationale) organisieren zahlreiche Sonderaktionen wie Wettbewerbe, Theaterfestivals, Filmreihen oder Fortbildungen für Lehrende. Immer wieder werden Werbekampagnen ins Leben gerufen und Broschüren (wie z.B. „L’allemand - passeport pour l’avenir“) in hoher Auflage gedruckt, die sich an Lehrer, Eltern oder Schüler wenden, um mit rationalen und emotionalen Argumenten für Deutsch zu werben. Es fehlt nicht an Hinweisen auf die wirtschaftliche Bedeutung Deutschlands, die Vielzahl an sozioökonomischen Kontakten zwischen Deutschland und Frankreich, die nicht ausgeschöpften Arbeitsplatzkontingente in Deutschland sowie die Attraktivität des Landes als Arbeitsort, Ferien- und Kulturland, teilweise sogar in Verbindung mit dem Englischen: „Englisch ein Muss, Deutsch ein Plus“ (Jutta Limbach). Ein Deutschlernerboom - wie in Südeuropa infolge der Weltwirtschaftskrise 2008 - lässt sich in Frankreich trotz erheblicher Jugendarbeitslosigkeit jedoch nicht feststellen. Ein weiteres Problem stellt die Krise der Deutschlehrerausbildung und -rekrutierung dar. Zwischen 2006 und 2011 hat sich die Anzahl der Lehramtsstudenten an den Universitäten um 22 % verringert, einige kleinere Deutschabteilungen wurden geschlossen, weitere sind von Schließung bedroht. In derselben Zeit ist die Anzahl der titulaires, der verbeamteten Deutschlehrer von über 10 000 auf etwa 6 700 gesunken. Waren die Staatswettbewerbe CAPES und agrégation früher durch eine harte Konkurrenzsituation gekennzeichnet, erreicht die Anzahl der geeigneten Kandidaten zuweilen nicht mehr die (im Zuge der generationellen Erneuerung erhöhte) Anzahl der ausgeschriebenen Posten. Stattdessen strömen die Studenten in Studiengänge ohne scharf umrissene Berufsbilder wie Theater- und Medienwissenschaften. Auf den ersten Blick ist die- <?page no="180"?> Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) 180 D ser Rückgang angesichts der hohen Arbeitslosigkeit im Land schwierig zu verstehen. Autoritäts- und Sicherheitsprobleme, Unterricht an mehreren, zum Teil weit voneinander liegenden Schulen, schlechte Bezahlung und wenig öffentliche Anerkennung haben zu einem allgemeinen Verfall von Prestige des Lehrerberufs beigetragen, der wohl den hauptsächlichen Grund hierfür darstellt. Inzwischen haben die französischen Universitäten begonnen, attraktivere, mit anderen Fächern kombinierte Studiengänge anzubieten, die nicht unbedingt in den Lehrerberuf führen müssen, aber können. Mit der Werbeaktion ALLES (Allemand dans l’Enseignement Supérieure) versuchen *DAAD, *Goethe-Institut, *OFAJ zudem für das Deutschstudium zu werben, als Hauptfach oder als begleitend gelernte Fremdsprache. Abschließend ist auf die disparate geographische Verteilung des Deutschlernens hinzuweisen, welche die Gesamtzahlen in etwas anderem Licht erscheinen lassen: Lernen in der académie Strasbourg 2013 etwa 67 % der Schüler Deutsch, so sind es in Nizza oder Bordeaux nur 4,5 %. Dass es auch anders geht, hat jüngst die académie Aix-en-Provence/ Marseille bewiesen, wo sich die Deutschlernerzahlen durch kluge Schulpolitik prozentual erheblich erhöht haben. Jean-Michel Hannequart, L’enseignement de l’allemand en France. Bilan et perspectives, in: Documents 4 (2013), S. 25-29. Joachim Umlauf Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) Die Gründung der im Dezember 1963 in der 15, rue de Verneuil eröffneten Pariser Außenstelle des DAAD reiht sich ein in die Institutionalisierung der deutsch-französischen (Kultur-)Beziehungen nach 1945 und kann im Rahmen der *Auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik als Beispiel für das Zusammenwirken von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, Institutionen, gesellschaftlichen Kleingruppen und individuellen Akteuren herangezogen werden, die sich als Träger bzw. Vermittler von Ideen, Interessen und Werten betätigten. Bereits unter der Leitung ihres ersten Direktors *Hansgerd Schulte fungierte die Außenstelle als eine Schnittstelle zwischen Politik, Kultur und Wissenschaft. Über ihre Beratungs- und Finanzierungsfunktion sollte sie den organisierten Austausch auf dem Feld der bilateralen Wissenschaftsbeziehungen vertiefen und das Netzwerk der gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Austauschorganismen verdichten. Nach Gleichschaltung und ideologischer Vereinnahmung im Nationalsozialismus wollte sich der 1950 neugegründete und in Bonn angesiedelte DAAD auch organisatorisch von seiner Vorgängerorganisation absetzen und gab sich daher die Struktur eines eingetragenen Vereins privaten Rechts, dessen Verhältnis zum Staat von einem dialektischen Zusammenspiel gekennzeichnet ist. Als gemeinsame Einrichtung der bundesdeutschen Hochschulen für die wissenschaftlichen Beziehungen mit dem Ausland gehört der DAAD bis heute zu den Organen ihrer Selbstorganisation und (neben dem *Goethe-Institut und, im Wissenschaftsbereich, der Alexander von Humboldt-Stiftung) gleichzeitig zu den bedeutendsten deutschen Mittlerorganisationen im Rahmen der *Auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik. Diesen kommen Aufgaben zu, die der Staat aus Gründen institutioneller Selbstbeschränkung oder aus innenbzw. außenpolitischen Rücksichten nicht übernehmen kann oder will. Zudem müssen sie gemäß ihren Zielen und ihrem Selbstverständnis in Unabhängigkeit zur staatlichen Außenpolitik Akzente setzen, um - vor dem Hintergrund der politischen und militärischen Missetaten Deutschlands im 20. Jahrhundert - nicht in den Ruf eines ausführenden Organs der Bundesregierung zu kommen. Die neugegründeten DAAD-Außenstellen sollten die Botschaften entlasten und gleichzeitig als Auslandsvertretungen der westdeutschen Hochschulen auf akademischer und wissenschaftlicher Ebene verantwortlich tätig werden, eine Funktion, die auch über den Arbeitsbereich der Zentrale in Bonn hinausgeht. Schnell nach ihrer Gründung avancierte die Außenstelle in Paris zu einer oft frequentierten Kontakt- und Konsultationsstelle, die das fehlende Wissen über das Hochschulwesen und die Forschungslandschaft des Nachbarlandes kompensieren musste. Darüber hinaus profilierte sie sich als Initiator für den studentischen Austausch wie u.a. beim gemeinsam mit dem französischen Germanisten *Pierre Bertaux aufgelegten Sonderprogramm für junge Germanisten (programme Bertaux), das in den folgenden Jahrzehnten eine ganze Reihe von Deutschlandexperten in Frankreich <?page no="181"?> Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris (DFK) D 181 „produzierte“. Insbesondere in den ersten Jahren wurden viele internationale Programme des DAAD, ob sie nun Studierende und Doktoranden, Lehrende oder Hochschulen betrafen, in Frankreich entwickelt bzw. ausprobiert. Das besondere Verhältnis des DAAD zu Frankreich spiegelte sich auch darin wider, dass der erste Außenstellenleiter *Hansgerd Schulte zwischen 1972 und 1987 Präsident der Gesamtinstitution war; auch sein Nachfolger in diesem Amt, *Theodor Berchem, war Romanist und setzte sich stark für die deutschfranzösische Kooperation ein. Die Tatsache, dass die Außenstelle diese herausragende Rolle im Laufe der Zeit ein wenig verlor, hat verschiedene Ursachen: die Gründung von Einrichtungen, die spezifisch für den deutsch-französischen Wissenschaftsaustausch zuständig sind wie das Deutsch- Französische Hochschulkolleg, das später zur *Deutsch-Französischen Hochschule wurde; der Fall der Mauer, der zu einer Neuorientierung Richtung Mittel- und Osteuropa führte, wo man 40 Jahre Teilung des Kontinents aufzuholen hatte; schließlich die Hinwendung zu zukunftsträchtigen „Märkten“ der Wissenschaft wie China und Indien, mit denen die Beziehungen stark intensiviert wurden. Hinzu kommt ferner die Entwicklung der europäischen Mobilitätsprogramme wie Erasmus, die manche Programmlinien überflüssig machten. Lagen die Akzente der Programme anfänglich auf den Geisteswissenschaften (insbesondere der *Germanistik und der *Romanistik), so haben sich diese heute disziplinär verbreitert. Als Informationsstelle über Studienmöglichkeiten in Deutschland kommt der Außenstelle weiterhin zentrale Bedeutung zu. Bei den Bemühungen um einen lebendigen Kontakt zum Nachbarland und die sich daraus ergebende Möglichkeit einer besonders intensiven binationalen Sozialisation spielt bis heute das Programm für *Lektoren an französischen Hochschulen eine wichtige Rolle, denen gerade in den Anfangsjahren die Funktion zukam, Ressentiments abzubauen und *Stereotype im französischen Deutschlandbild aufzubrechen. Reinhart Meyer-Kalkus, Die akademische Mobilität zwischen Deutschland und Frankreich (1925-1992), Bonn 1994; DAAD (Hg.), Spuren in die Zukunft. Der Deutsche Akademische Austauschdienst 1925-2000, 3 Bde., Bonn 2000; Hans Manfred Bock, Le DAAD dans les relations franco-allemandes 1963-2003, in: Allemagne d’aujourd’hui 168 (2004), S. 116-139; Ulrich Pfeil, Die Pariser DAAD-Außenstelle in der „Ära Schulte“ (1963- 1972). Die Institutionalisierung der transnationalen Wissenschaftskooperation in den westdeutsch-französischen Beziehungen, in: Francia 32/ 3 (2005), S. 51-74; ders., „Dynamische, expansive Austauschpolitik auf allen akademischen Gebieten“. Die DAAD-Außenstelle in Paris, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007, S. 197-222; Joachim Umlauf, Das Lektorenprogramm des DAAD, in: Der Intellektuelle und der Mandarin (Für Hans Manfred Bock), hg. von François Beilecke, Katja Marmetschke, Kassel 2005, S. 748-766. Ulrich Pfeil, Joachim Umlauf Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris (DFK) Das Deutsche Forum für Kunstgeschichte (DFK) ist ein kunsthistorisches Forschungsinstitut in Paris. Vorrangige Aufgabe des DFK ist es, die deutsche Forschung zur Kunst in Frankreich zu unterstützen und zu konzentrieren, das Interesse der französischen Geisteswissenschaften an deutschsprachiger Kunstgeschichte und an der Kunst in Deutschland zu fördern sowie der internationalen Fachdiskussion ein Forum an zentralem Ort zu öffnen. Das DFK wurde 1997 mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zunächst als Projekt gegründet; infolge einer Empfehlung des Wissenschaftsrates gehört das DFK seit Juli 2006 - wie das *DHI Paris - zur Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland (DGIA), nun Max Weber Stiftung. Die Gründung des DFK geht auf die Initiative von Thomas W. Gaehtgens zurück, der das Institut bis Oktober 2007 leitete. Von November 2007 bis Januar 2009 wurde das Institut von Julia Drost kommissarisch geführt. Von 2009 bis Anfang 2014 war Andreas Beyer Direktor des DFK; sein Nachfolger, Thomas Kirchner, leitet das Institut seit Februar 2014. In allen inhaltlichen Fragen begleitet das DFK ein wissenschaftlicher Beirat, der sich aus Vertretern der universitären Kunstgeschichte und dem Museumsbereich in Deutschland und Frankreich zusammensetzt. Das DFK pflegt einen intensiven wissenschaftlichen Austausch mit kunsthistorischen Instituten weltweit ebenso wie mit Museen und der Denkmalpflege. Wichtige Kooperationspartner sind das Institut national d’histoire de l’art (INHA) in Paris, die Deutschen Historischen Institute (DHI) in Paris, Warschau und Moskau, die Bibliotheca Hertziana in Rom, das Kunsthistorische Institut in Florenz <?page no="182"?> Deutsches Historisches Institut Paris (DHI) 182 D sowie das Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Seit Juni 2003 ist das DFK Mitglied der internationalen Vereinigung der kunsthistorischen Forschungsinstitute (RIHA). Seit seiner Gründung ist das DFK mit einer Reihe langfristiger Forschungsprojekte befasst. In einem umfangreichen Projekt untersuchten von 1999-2009 zwei Forschergruppen die deutschfranzösischen Kunstbeziehungen von 1789 bis 1960, wie sie sich in Ausstellungen, Schriften, aber auch im Kunsthandel und in Künstlerkontakten widerspiegeln. Diese Arbeit mündete in einer frei einsehbaren Datenbank. Außerdem entsteht seit 2002 am DFK eine erstmals vollständig wissenschaftlich edierte und kommentierte Ausgabe der „Conférences de l’académie royale de peinture et sculpture“. Weitere Editionsprojekte betreffen den Briefwechsel zwischen den beiden Malern Henri Fantin-Latour und Otto Scholderer (2011 abgeschlossen) sowie eine kommentierte französische Ausgabe mit Auszügen aus dem Tagebuch von Harry Graf Kessler. Das DFK ist darüber hinaus seit 2002 im Auftrag der deutschen Botschaft mit der Erforschung der Baugeschichte, Innenausstattung und Sammlungsgeschichte des Palais Beauharnais, der Residenz des deutschen Botschafters in Paris, betraut. Neben der kuratorischen Betreuung des Palais werden am DFK detaillierte Restaurierungskampagnen für das Palais entworfen und durchgeführt. Seit 2009 untersucht eine Forschergruppe die ästhetischen Dimensionen kultureller Übersetzungsprozesse in der Weimarer Klassik. Die Forschungsarbeiten zu diesem, „Sinnlichkeit - Materialität - Anschauung“ überschriebenen Projekt mündeten u.a. in der Ausstellung *„De l’Allemagne“, die 2013 im Louvre gezeigt wurde. Der European Research Council hat 2010 zudem ein fünfjähriges Forschungsvorhaben bewilligt, das sich unter dem Titel „A chacun son réel“ dem Umgang mit dem Realen in der bildenden Kunst von den 1960er bis zum Ende der 1980er Jahre in Frankreich, Ost- und Westdeutschland sowie Polen widmet. Am Institut besteht überdies seit 2003 die vom DFK und von *Werner Spies ins Leben gerufene Max Ernst- Forschungsstelle. Zu ihren zentralen Aufgaben gehören die Vollendung des Œuvrekatalogs sowie die Konzeption und Beteiligung an internationalen Ausstellungen zu Max Ernst und von ihm beeinflussten Künstlern. In Kooperation mit deutschen und französischen Institutionen sind am DFK weitere Forschungsprojekte angesiedelt: Aus der Auswertung des im staatlichen russischen Sonderarchiv eingelagerten Teilnachlasses des deutschjüdischen Kunstkritikers Paul Westheim wurde eine kommentierte Quellenedition erstellt; mit einem deutsch-französischen Forschungsteam wird unter dem Titel ArtTransForm die transnationale Künstlerausbildung zwischen Frankreich und Deutschland von 1789-1870 erforscht. Die am DFK erarbeiteten Forschungsergebnisse werden in drei eigenen deutschen bzw. französischen Schriftenreihen (Passagen, Monographie, Passerelles) publiziert. In diesen Reihen erscheinen auch die Forschungsarbeiten eingeladener und assoziierter Wissenschaftler. Kernstück der Nachwuchsförderung des DFK ist die Arbeit an Jahresthemen. Junge Kunstwissenschaftler verschiedener Länder arbeiten hierbei gemeinsam, unter Leitung wissenschaftlicher Experten, an jährlich wechselnden Fragestellungen. Fester Bestandteil der Förderung des deutsch-französischen Austausches sind zudem Exkursionen für französische Studenten nach Deutschland. Das DFK baut seit seiner Gründung seine Bibliothek sukzessive zu einer wissenschaftlichen Spezialbibliothek zur deutschen Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte aus. Die aktuell etwa 80 000 Medieneinheiten umfassende Bibliothek des DFK bietet darüber hinaus einen Überblick über die deutschsprachige kunstwissenschaftliche Forschungsliteratur zu Frankreich und zu Methodenfragen. Seit 1999 konnten die Forschungsbibliotheken des Gründers des Bauhaus-Archivs, Hans Maria Wingler sowie von Hermann Wiesler, Jacques Lugand, Karl und Elfriede Ruhrberg, Christian Beutler sowie Thomas Lersch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Stefanie Rentsch Deutsches Historisches Institut Paris (DHI) Nach zwei gescheiterten Versuchen zur Gründung eines DHI Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts und während des Zweiten Weltkrieges gelang Mediävisten von der Universität Bonn unter maßgeblicher Initiative von *Eugen Ewig und Hermann Weber im Jahre 1958 die Schaffung einer deutschen historischen Forschungsstelle in der französischen Hauptstadt, deren offizieller Träger die am 2.4.1957 in Mainz gebildete Wis- <?page no="183"?> Deutsches Theater in Frankreich D 183 senschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen war, sodass die deutschen Gründungsväter der französischen Forderung nachkamen, eine Institution sur base universitaire zu gründen. Nachdem die Kommission anfänglich vom Bundesinnenministerium finanziert worden war, wurde die Forschungsstelle 1964 in ein Bundesinstitut umgewandelt und dem Bundesforschungsministerium unterstellt. Die ersten Jahre seiner Existenz waren von dem Bemühen der Mitarbeiter bestimmt, eine vertrauensvolle Arbeitsgrundlage zwischen den Historikern beider Länder herzustellen. Mit der Übernahme der Direktorenstelle durch *Karl Ferdinand Werner im Jahre 1968 ging das Institut in die Phase der Kooperation über und baute seine Aktivitäten kontinuierlich aus. Dazu gehörte die Gründung von eigenen Buchreihen und der hauseigenen Zeitschrift *„Francia“. Die Kooperation zwischen deutschen und französischen Historikern ist seit geraumer Zeit bereits zur Normalität geworden und hat u.a. die Publikation eines *deutsch-französischen Schulgeschichtsbuches ermöglicht. Auch das DHI Paris hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich weiter entwickelt, blieb aber immer eine wissenschaftliche Brücke zwischen den Historiographien beider Länder. Nachdem es über Jahre dem Wissenschaftsministerium unterstand, gehört es wie das *Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris und seine anderen Schwesterinstitute seit 2002 zur Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland (nun Max Weber Stiftung), die vom Wissenschaftsministerium in Berlin finanziert wird. Mit seinen wissenschaftlichen Veranstaltungen, den von den Historikern des Hauses betriebenen Forschungen - von der Geschichte des Mittelalters bis zur Zeitgeschichte - und der Mittlertätigkeit gegenüber der französischen *Geschichtswissenschaft trägt es zu einer Internationalisierung der Forschung bei. Darüber hinaus stellt es seine Infrastruktur wie z.B. die Bibliothek und die zunehmende Anzahl an Internetpublikationen ( openaccess-policy ) der interessierten Historikeröffentlichkeit zur Verfügung. Deutschen Historikern wird zudem ein Forschungsaufenthalt in französischen Bibliotheken und Archiven durch das *Karl- Ferdinand-Werner-Fellowship erleichtert. Nachdem das Institut 1958 im Geiste der französischen *Versöhnung und Annäherung gegründet worden war, stellt es heute eine Kommunikationsplattform zwischen den Historikern aus Deutschland und Frankreich sowie verschiedenen Drittländern dar. Ulrich Pfeil, Vorgeschichte und Gründung des Deutschen Historischen Instituts Paris. Darstellung und Dokumentation (Instrumenta, Bd. 17), Ostfildern 2007; ders. (Hg.), Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007; Das Deutsche Historische Institut Paris/ Institut historique allemand 1958-2008, hg. von Rainer Babel und Rolf Grosse, Ostfildern 2008. Ulrich Pfeil Deutsches Theater in Frankreich Während die deutschsprachige Dramatik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - im Gegensatz zu der im deutschsprachigen Raum sehr beliebten französischen Theaterliteratur - weitgehend unbeachtet blieb, hat sie nach 1945 nicht nur das französische Theater, sondern auch das künstlerische Selbstverständnis seiner Protagonisten stark beeinflusst. Eine Erklärung hierfür zu finden ist schwierig: Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Besatzungszeit haben sicherlich nicht dazu beigetragen, das Interesse an deutscher Dramatik zu verstärken und die nach dem Krieg einsetzende Versöhnungspolitik berührte künstlerische Belange bestenfalls am Rande. Von zentraler Bedeutung erscheinen hingegen die Bedingungen der Theaterarbeit und ihre länderspezifischen Eigenheiten: So lässt sich das plötzliche Interesse auf strukturelle Umwälzungen des französischen Theatersystems zurückzuführen, insbesondere auf die mit der décentralisation culturelle verbundene Expansion des französischen Theaterfeldes. Während Theater in Frankreich bis Ende der 1940er Jahre als ein ausschließlich auf Paris und französische Autoren konzentriertes System organisiert war, das vor allem auf die Unterhaltung des bürgerlichen Publikums zielte, änderte sich dies grundlegend mit der Einrichtung eines öffentlichen Sektors, der, ähnlich wie in Deutschland, einen kulturellen Bildungsauftrag verfolgt. Die Institutionalisierung des französischen Theaters begann 1947 mit den ersten Maßnahmen einer kulturellen Dezentralisierung durch die Kulturbeauftragte Jeanne Laurent, wurde 1959 unter Kulturminister André Malraux mit der Einrichtung der ersten maisons de la culture gefestigt, trotz beständiger finanzieller Probleme von seinen <?page no="184"?> Deutsches Theater in Frankreich 184 D Nachfolgern (und hier vor allem von *Jack Lang) bis in die 1990er Jahre fortgesetzt und kann heute als weitgehend abgeschlossen bezeichnet werden. Die Einrichtung eines flächendeckenden théâtre public mündete ab Mitte der 1950er Jahre in eine starke Intellektualisierung des Theaters, die vor allem durch den *Brecht-Verleger Robert Voisin sowie die beiden Redakteure der Theaterzeitschrift „Théâtre populaire“ Roland Barthes und Bernard Dort lanciert wurde. Ihre Kampfansage an das bürgerliche (Privat-)Theater sowie die Comédie- Française führte letztendlich zu einer Politisierung des Theaterfeldes, die wiederum ein steigendes Interesse für deutschsprachige Dramatik auslöste: So benötigten die neuen Theater politische Texte, welche die französische Tradition nicht bereithielt. Aufgrund dieser Mangelsituation avancierte Robert Voisin mit seinem Verlag *L’Arche zum Hauptimporteur deutschsprachiger Dramatik. Verstärkend wirkten dabei zum einen die Spätfolgen der euphorischen, bisweilen auch dogmatischen Interpretation von *Brecht (der im théâtre public zu dem neben Molière und Shakespeare meist gespielten Autor wurde) durch Barthes und Dort, zum anderen aber auch die linke, oft dezidiert kommunistische Überzeugung der jungen Theatermacher, die sich entsprechend stark auch für das „andere“ Deutschland, die DDR, interessierten und häufig sehr gut Deutsch sprachen. Der Anstieg an deutschsprachigen Stücken im théâtre public war seit jeher eng verbunden mit bestimmten Theatern und Regisseuren. Hier kommt dem Théâtre de la Ville in den 1950er Jahren - u.a. als der Hauptspielstätte des Festivals Théâtre des Nations - eine zentrale Bedeutung für die Entdeckung des deutschen Theaters und insbesondere *Brecht zu. Einen ähnlichen Initialcharakter besaß die Arbeit von Jean Vilar, der auf dem von ihm gegründeten Festival d’Avignon ab dem Ende der 1940er Jahre als erster deutsche Stücke von Büchner, Kleist oder *Brecht auf eine französische Bühne brachte und diese dann ins Repertoire des von ihm geleiteten Théâtre national populaire (TNP) in Paris übernahm. Die Tradition wurde in den 1960er Jahren unter der Leitung von Georges Wilson fortgeführt, der u.a. Stücke von Martin Walser mit großem Erfolg inszenierte und das TNP zu einer der wichtigsten Bühnen für deutsche Dramatik machte. Dass dieses Interesse letztlich keine Modeerscheinung blieb, sondern sich sogar von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigerte, ist vor allem den Protagonisten der décentralisation théâtrale der späten 1950er und frühen 60er Jahre (Roger Planchon, *Bernard Sobel, Gabriel Garran etc.) zu verdanken, die das französische Theater künstlerisch wie (kultur-)politisch über 40 Jahre nachhaltig bestimmten und eine starke Multiplikatorenfunktion besaßen. Die meisten Theatermacher der nachwachsenden Generationen (*Patrice Chéreau, Jean- Pierre Vincent, *Jean Jourdheuil, Bruno Bayen, Agathe Alexis, Jacques Lassalle oder *Stéphane Braunschweig) sind Schüler dieser Vorreiter und entsprechend stark geprägt von ihrer Orientierung an *Brecht, der Ablehnung der klassischen französischen Theatertradition und einer Vorliebe für das deutsche Theater. Nach der ersten *Brecht-Euphorie war in den 1960er und 1970er Jahren das Interesse für deutschsprachige Theaterstücke so groß wie nie zuvor. Vor allem Franz Xaver Kroetz, *Peter Handke, Tankred Dorst, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch, aber auch kanonisierte Autoren wie Georg Büchner, Frank Wedekind, Carl Sternheim und Ödön von Horváth konnten von den strukturellen Veränderungen im Feld profitieren. Besonders hervorzuheben sind in diesem Kontext das *Théâtre national de Strasbourg (TNS), das Théâtre de l’Est Parisien (TEP) sowie der Centre dramatique de Toulouse. Dabei ist der Anstieg an deutschen Stücken am TEP sowie in Toulouse in den 1970er Jahren u.a. auf das relativ spät einsetzende Interesse von Guy Rétoré bzw. Maurice Sarrazin an *Brecht zurückzuführen; der zu konstatierende Wandel am *TNS war hingegen Jean-Pierre Vincent zu verdanken, der 1975 die Leitung übernahm. Ein Rechtsruck im intellektuellen Feld führte ab Mitte der 1980er Jahre zu einer französischen Brechtkrise, wobei das (zumindest temporär) verminderte Interesse an *Brecht die Rezeption anderer deutschsprachiger Autoren eher stimulierte. So entdeckte die französische Theaterszene, mit einiger Verspätung, nun endlich sowohl Thomas Bernhard als auch einige (nicht systemkonforme) DDR-Autoren, die bis dahin nur selten gespielt wurden: *Heiner Müller, Christoph Hein und Thomas Brasch. In den 1990er Jahren ist zwar ein weiterer Anstieg deutschsprachiger Stücke, gleichzeitig aber, was die Entdeckung neuer Autoren anbelangt, ein deutlicher Rückgang zu konstatieren. Während bekannte und bewährte Autoren - von *Brecht bis zu Arthur Schnitzler - weiterhin viel gespielt wurden, besaßen immer weniger Re- <?page no="185"?> Deutsches Theater in Frankreich D 185 gisseure den Mut, unbekannte Dramatiker auf die Bühne zu bringen. Die abnehmende Präsenz deutschsprachiger Gegenwartsautoren nach 1990 scheint allerdings weniger einem Autorenmangel als vielmehr dem steigenden ökonomischen Druck und der damit verbundenen sinkenden Risikobereitschaft der Theatermacher geschuldet. Eine Ausnahme bildete Werner Schwab; die Stücke von Elfriede Jelinek stießen, von Ausnahmen abgesehen, bei französischen Regisseuren auf kein Interesse - was zum Teil auch daran liegen mag, dass die Akteure des neuen deutschen Regietheaters erst ab der Jahrtausendwende in Frankreich wirklich bekannt wurden. Was die Regisseure anbelangt, so spielte die produktivste Rolle für die Rezeption des deutschen Theaters nachweislich *Bernard Sobel, der neben *Bertolt Brecht oder *Heiner Müller auch eine ganze Reihe klassischer Autoren (Schiller und Lessing, Grabbe und Lenz) erstmalig zur Aufführung brachte. Auch Dramatiker wie *Heiner Müller, Christoph Hein, Volker Braun, Thomas Brasch und sogar Thomas Bernhard wurden in *Sobels Theater in Gennevilliers entdeckt. Neben *Sobel ist vor allem *Michel Bataillon (als Übersetzer, Dramaturg und secrétaire général des TNP in Villeurbanne) hervorzuheben. Er arbeitete zunächst als Dramaturg mit Gabriel Garran (*Peter Weiss), ab den 1970er Jahren dann mit Roger Planchon zusammen, der an seinem Théâtre national populaire in Villeurbanne zahlreiche Inszenierungen deutschsprachiger Dramatiker auf den Spielplan setzte und u.a. ein enges Verhältnis zu Manfred Karge und *Matthias Langhoff unterhielt, die er zeitweilig als Hausregisseure beschäftigte. Zum künstlerischen Umfeld Planchons gehörten im weiteren Sinne auch Jacques Rosner, *Patrice Chéreau und Georges Lavaudant, die ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der deutschen Dramatik einnahmen. Eine weitere zentrale Figur im deutsch-französischen Theaterfeld ist *Jean Jourdheuil, der als Übersetzer, Dramaturg, Regisseur und schließlich Agent nicht allein maßgeblich für die Entdeckung *Heiner Müllers verantwortlich war, sondern auch Autoren wie Karl Valentin dem französischen Publikum näher brachte. Auch Jean-Pierre Vincent ist von Bedeutung, insbesondere als Leiter des *TNS und durch seine Zusammenarbeit mit André Engel (der in Folge zahlreiche Stücke deutscher Autoren mit großem Erfolg inszenierte) sowie dem Dramatiker Michel Deutsch, der auch Texte von *Rainer Werner Fassbinder und Elfriede Jelinek übersetzte. Zudem stand Vincent in engem Kontakt zu *Klaus Michael Grüber und *Peter Stein und versuchte das Mitbestimmungsprinzip der *Schaubühne zu kopieren. Weitere Impulse für die Entdeckung und Etablierung deutscher Autoren gaben *Daniel Benoin, der Mitte der 1970er Jahre die von Jean Dasté gegründete Comédie de Saint- Étienne übernahm (an der Dasté schon in den späten 1950er Jahren *Brecht inszenierte) sowie Michel Dubois, der seit Anfang der 1970er Jahre die Comédie de Caen leitete und dort eng mit Claude Yersin zusammenarbeitete. Dubois und Yersin übersetzten Herbert Achternbusch sowie Martin Sperr und machten diese in Frankreich bekannt. Auch Philippe Adrien und Jean-Claude Fall, Gaston Jung, Jacques Kraemer, Jean-Louis Martinelli, der u.a. für die französische *Fassbinder-Rezeption wichtig war, *Hans Peter Cloos (Thomas Brasch), Claude Régy (*Peter Handke, Botho Strauß) sowie *Stéphane Braunschweig und Stanislas Nordey (Falk Richter) sind hervorzuheben. Neben den beschriebenen ökonomischen Problemen hat die allgemeine Europäisierung der Kulturpolitik und die damit verbundene intensivierte Verbreitung der Dramatik anderer Länder die herausgehobene Position der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik in Frankreich seit den 1990er Jahren relativiert. Daran konnte auch die verstärkte Unterstützung des *Goethe-Instituts Paris von Übersetzungen (*Übersetzung von Theaterstücken) und die Ausrichtung von szenischen Lesungen nur bedingt etwas ändern. Ein positiver Umschlag ist indes seit der Jahrtausendwende zu konstatieren, was vor allem am Hype für das deutsche Regietheater liegen dürfte. Insbesondere *Thomas Ostermeier und die „neue“ *Schaubühne, aber auch Frank Castorf, René Pollesch und neuerdings Nicolas Stemann sind mit Inszenierungen gern gesehene Gäste in Frankreich und beleben langsam auch wieder das Interesse an jungen deutschen Dramatikern. Neben Paris hat sich das Festival d’Avignon als feste Gastspielstätte des deutschen Regietheaters etabliert - nicht zuletzt dank Vincent Baudriller (künstlerischer Leiter bis 2013) und Ostermeier, der 2004 als erster artiste associé des Festivals die Möglichkeit bekam, dessen Programm zu gestalten und zahlreiche deutsche Regisseure einlud. Gleichzeitig ist eine eher konservative Perspektivierung des deutschen Theaters <?page no="186"?> Deutsch-französische Beziehungen im Bereich der bildenden Künste 186 D festzustellen: So entdeckte man am Ende der 1990er Jahre recht spät Claus Peymann (als Direktor des *Berliner Ensembles), dessen Arbeiten in seinen entscheidenden künstlerischen Perioden so gut wie nie in Frankreich zu sehen waren; *Luc Bondy, der 2012 die Leitung des Odéon übernahm und in seiner ersten Spielzeit u.a.*Peter Stein zu einer Inszenierung einlud, hat diesen Trend noch weiter verschärft. Robert Abirached (Hg.), La décentralisation théâtrale, 4 Bde., Arles 1994; ders., Le théâtre et le Prince 1981- 1991, Paris 1992; ATAC (Hg.), 25 ans de décentralisation. 3 Bde., Paris 1972-73; Nicole Colin, Deutsche Dramatik in Frankreich. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer, Bielefeld 2011; Marco Consolini, Théâtre Populaire 1953-1964. Histoire d’une revue engagée, Paris 1998; Jean-Claude François, Une opération originale du Goethe-Institut: la diffusion du théâtre allemand des années quatre-vingt-dix, in: Allemagne d’aujourd’hui, 149 (1999); ders., La réception du théâtre allemand en France depuis 1980, in: Allemagnes d’aujourd’hui, 104 (1988); Colette Godard, Francesca Spinazzi (Hg.), Theaterwege. De l’Allemagne à la France. Von Frankreich nach Deutschland, Berlin 1996; Denis Gontard, La décentralisation théâtrale en France 1895-1952, Paris 1973. Nicole Colin Deutsch-französische Beziehungen im Bereich der bildenden Künste Die deutsch-französischen Beziehungen im Bereich der bildenden Künste waren in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 zunächst grundlegend von Asymmetrie und, wie der gesamte Kulturbereich, von der Politik bestimmt. Französische Kunst war in den westlichen Besatzungszonen und später der BRD in hohem, in der DDR in geringerem Maße in Ausstellungen und Medien präsent und beeinflusste die künstlerischen Entwicklungen ebenso wie die kunstkritischen Debatten. Umgekehrt spielte deutsche Kunst in Frankreich nur eine geringe Rolle. Damit setzte sich das traditionelle Ungleichgewicht fort, das den deutsch-französischen Kunsttransfer vom 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit beherrscht hatte. Nach 1945 verstärkte das Ausstellungsprogramm der französischen Militärregierung, genauer der Direction de l’éducation publique in Baden-Baden unter Leitung von *Raymond Schmittlein und nach 1949 der Direction générale des affaires culturelles in Mainz die Präsenz französischer Kunst in Deutschland. Anstatt die in deutschen Sammlungen befindlichen Meisterwerke französischer Kunst als Reparationsleistungen nach Frankreich zu bringen, wie dort von manchen Stimmen gefordert worden war, wurden zwischen 1946 und 1949 vielmehr zahlreiche Ausstellungen französischer Werke in den westlichen Besatzungszonen und Berlin gezeigt. Ausgehend von Konstanz reiste ab 1946 „Französische Graphik der Gegenwart“ durch deutsche Städte, gefolgt von Wanderausstellungen mit Werken von Braque, Léger, Picasso und Matisse und der großen, vom Direktor des Pariser Musée national d’art moderne Jean Cassou zusammengestellten Ausstellung „Moderne französische Malerei“. Sie zog 150 000 Besucher an und war unter anderem im Berliner Schloss zu sehen. 1947 zeigte die französische Militärregierung im Berliner Zeughaus „Französische Skulptur von Rodin bis in unsere Tage“. Die 1946 durch die Franzosen lizensierte Zeitschrift „Das Kunstwerk“ informierte regelmäßig über französische Kunst und trug erheblich zur öffentlichen Meinungsbildung bei. Für Frankreich waren die Ausstellungen Teil der mission civilisatrice im Kontext der rééducation -Politik der Westalliierten. Das französische Kunstvorbild sollte den kulturell entwöhnten Deutschen wieder freiheitliche ästhetische Werte vermitteln. Dieser im französischen Selbstverständnis historisch verwurzelte zivilisatorische Missionsgedanke verband sich mit dem ebenso traditionellen Anspruch, Frankreich als - trotz Krieg und Okkupation - dominierende Kultur- und Kunstnation zu behaupten. Dies geschah nicht nur gegenüber den Deutschen, sondern auch den anderen Alliierten, denen man sich militärisch unterlegen sah, aber im Feld der Kunst überlegen glaubte. Auf deutscher Seite stießen die Ausstellungen auf großes Interesse. Sie boten die lang entbehrte Möglichkeit, Werke der Pariser Vorkriegsavantgarde von Picasso bis Léger zu sehen und jüngere Künstler der École de Paris um Jean Bazaine und Maurice Estève kennenzulernen. Sie regten nicht nur die heimischen Künstler an, sondern zugleich auch den Diskurs über die deutsche, unter den Nationalsozialisten als „entartet“ verfemte Moderne und trugen zur Findung eigener kultureller Identität bei. Doch es gab auch verstörte Reaktionen auf Werke, die in kubistisch-abstrahierender Formensprache das Menschenbild angeblich zertrümmerten. Aufgrund der Ungeübtheit des deutschen Publikums mit abstrakter Kunst, aber auch der Vor- <?page no="187"?> Deutsch-französische Beziehungen im Bereich der bildenden Künste D 187 behalte konservativer Pariser Kreise - die Abstraktion galt bis in die 1950er Jahre als unfranzösische, germanisch geprägte Kunstrichtung - legten die französischen Veranstalter zunächst einen Schwerpunkt auf die Klassische Moderne. Eine große Ausstellung deutscher Kunst fand, nach komplizierten kulturpolitischen Verhandlungen, zum ersten Mal 1950 in Paris statt, als in der Orangerie „Des Maîtres de Cologne à Albrecht Dürer. Primitifs de l’École allemande“ gezeigt wurden. Maßgeblichen Anteil daran sowie an der nach 1950 insgesamt stärker bilateralen Ausrichtung des Kulturaustauschs zwischen der BRD und Frankreich hatte der Kunsthistoriker *Wilhelm Hausenstein, seit Juli 1950 deutscher Generalkonsul in Paris. Ausstellungen der deutschen Vorkriegsavantgarde fanden dennoch keinen Weg in die französische Hauptstadt; über sie informierten lediglich Artikel meist deutscher Autoren in französischen Kulturzeitschriften. Wassily Kandinsky und Paul Klee, dem das Musée national d’art moderne 1948 eine Retrospektive widmete, wurden zwar von vielen Pariser Künstlern und Kritikern als Ahnväter der abstrakten Kunst verehrt, sie galten allerdings als russischer bzw. Schweizer Künstler. Deutsche Exilanten wie Max Ernst, Wols und *Hans Hartung zählten zur École de Paris. In den 1950er Jahren verband sich in der Bundesrepublik die Rezeption französischer Kunst mit dem Siegeszug der abstrakten Malerei. Schon 1948 war eine vom Sammler Ottomar Domnick zusammengestellte Wanderausstellung u.a. mit Werken von *Hartung, Pierre Soulages und Auguste Herbin durch Deutschland gereist; ab 1951 förderten auch die französischen Kulturbehörden Präsentationen abstrakter Kunst in deutschen Kunstvereinen und Museen; Sammlungen wurden (wieder- )aufgebaut, etwa im Museum Folkwang in Essen. Deutsche Künstler pilgerten nach Paris, um die neuesten Kunstentwicklungen kennenzulernen. Denn während die deutsche Szene noch über die Frage Figuration oder Abstraktion stritt, diskutierte man in Paris längst die unterschiedlichen Spielarten geometrischer und lyrischer Abstraktion bzw. des Tachismus und der Art brut. In Auseinandersetzung mit den Werken von *Hartung, Wols, Bryen, Riopelle und Soulages entwickelte eine junge Generation deutscher Künstler ihre ungegenständliche Malerei, Mitglieder der Münchner Gruppe ZEN 49 ebenso wie die der Frankfurter Quadriga und der Düsseldorfer Gruppe 53. Private Kontakte zwischen Künstlern, Kritikern und Galeristen ermöglichten auch Ausstellungen deutscher Gegenwartskunst in Paris. Schon 1948 hatten 19 deutsche Maler am Salon des Réalités nouvelles, einem Forum abstrakter Kunst, teilgenommen. Baumeister zeigte 1949 als erster deutscher Künstler nach dem Krieg eine Einzelausstellung in der französischen Hauptstadt. 1955 machten die jungen deutschen Maler des Informel um Bernhard Schultze und Karl Otto Götz auf der Ausstellung „Peintures et sculptures non-figuratives en Allemagne d’aujourd’hui“, die 98 Werke von 37 deutschen Künstlern im Cercle Volney zeigte, die Pariser auf sich aufmerksam. Wenig später führte die Freundschaft zwischen Yves Klein und den Mitgliedern der Gruppe ZERO dazu, dass diese Künstler schon am Beginn ihrer Karriere in Avantgardegalerien des jeweiligen Nachbarlandes ausstellten. In der BRD definierten einflussreiche Kunsthistoriker wie Will Grohmann und Werner Haftmann die abstrakte Kunst als einzig adäquaten Ausdruck der Epoche und als Sprache der freien Kunst. Die französische und deutsche Kunst galten als Schrittmacher der Avantgarde und ihrer folgerichtigen Entwicklung hin zur Abstraktion. Höhe- und Endpunkt dieser Argumentation waren die ersten documenta-Ausstellungen in Kassel. Die der Kunst bis 1945 gewidmete documenta von 1955 wurde von deutschen und französischen Werken dominiert und integrierte deutsche Kunst wieder ebenbürtig in den Kanon der europäischen Moderne. Die documenta 2 1959 zeigte Kunst nach 1945 und propagierte die „Weltsprache Abstraktion“. Doch die Werke des abstrakten Expressionismus aus den USA verdeutlichten, dass die Metropole aktueller Kunst nicht mehr Paris, sondern New York war. In der Folgezeit ebbte das starke deutsche Interesse für die französische Schule, das lange der Motor für die deutsch-französischen Kunstbeziehungen gewesen war, mehr und mehr ab; in Frankreich blieb deutsche Kunst weiterhin unterrepräsentiert. In der SBZ/ DDR wurde die französische Vorkriegsavantgarde im Zuge der Formalismuskampagnen ab 1948 von offizieller Seite als westlich dekadent und formalistisch abgelehnt, die aktuelle abstrakte Kunst ignoriert. Als warnendes Beispiel galt Picasso, der trotz seiner Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei in seiner Kunst auf formalistische Abwege geraten sei. Dennoch blieb er <?page no="188"?> Deutsch-Französische Filmakademie 188 D für viele Künstler, darunter Willi Sitte, ein wichtiges Vorbild. Die Galerie Eduard Henning in Halle und die graphischen Sammlungen ostdeutscher Museen zeigten in den 1950er Jahren Werke Picassos und seiner französischen Zeitgenossen in Ausstellungen wie „Von Menzel bis Picasso“ (Staatliche Galerie Moritzburg Halle 1957) oder „Pablo Picasso. Das graphische Werk“ (Berlin 1957). Die Zeitschrift „Bildende Kunst“ nutzte die liberalere Periode nach Stalins Tod, um 1955 eine Debatte über Picasso mit Beiträgen aus Ost und West anzustoßen und 1956 der französischen Kunst ein Sonderheft zu widmen. Über Kontakte zwischen Kritikern und Künstlern in Ost-Berlin und Paris ergaben sich Ausstellungsmöglichkeiten, so zeigte etwa Waldemar Grzimek 1956 Werke in der Pariser Maison de la Paix, elf Künstler um Herbert Sandberg und Arno Mohr wurden 1957 in der Galerie Badinier vorgestellt. Nach 1957 jedoch beschloss die Kulturkonferenz der SED die endgültige Umsetzung des sozialistischen Realismus und verurteilte dekadente westliche Einflüsse. Auch dies hielt eine jüngere Generation ostdeutscher Künstler bis in die 1970er Jahre nicht davon ab, Anregungen für ihre Arbeit u.a. in der französischen Moderne zu suchen. Zugleich scheiterten die Bemühungen der DDR-Kulturbehörden, der ostdeutschen Kunst in Paris größere und offizielle Präsenz zu verleihen am Widerstand der französischen Politik. Erst nach Abschluss des Kulturabkommens mit Frankreich konnte 1981 die Ausstellung „Peinture et gravure en République démocratique allemande“ im Musée d’art moderne de la ville de Paris stattfinden. Sie zeigte ein breites Spektrum, das von figurativer Malerei, etwa eines Bernhard Heisig und Werner Tübke, bis zu den abstrakten Werken Hermann Glöckners reichte, und wollte nicht zuletzt eine Replik auf die große Ausstellung „Art Allemagne Aujourd’hui. Différents aspects de l’art actuel en République fédérale d’Allemagne“ sein, mit der kurz zuvor am gleichen Ort die westdeutsche Avantgarde um Joseph Beuys, Palermo und ehemalige ostdeutsche Künstler wie Baselitz, Richter und Penck vorgestellt worden war. Sie zeigte in Paris erstmals, welche Vitalität und Weltgeltung diese Kunstszene - nun oft im Dialog mit der amerikanischen - erlangt hatte. Dennoch waren, überblickt man das gesamte 20. Jahrhundert, die deutsch-französischen Beziehungen ein zentraler Faktor der Entwicklung europäischer Kunst, was auch die Initiatoren des 1997 in Paris gegründeten *Deutschen Forums für Kunstgeschichte bewog, dieses Verhältnis in einer Forschungsstelle intensiv zu untersuchen. Marie-Amélie zu Salm-Salm, Échanges artistiques francoallemands et renaissance de la peinture abstraite dans les pays germaniques après 1945, Paris 2003; Martin Schieder, Im Blick des anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945-1959, Berlin 2005; Martin Schieder, Isabelle Ewig (Hg.), In die Freiheit geworfen. Positionen zur deutsch-französischen Kunstgeschichte nach 1945, Berlin 2006; Mathilde Arnoux, Les musées français et la peinture allemande 1871-1981, Paris 2007; Martin Schieder, Friederike Kitschen (Hg.), Art vivant. Quellen und Kommentare zu den deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945-1960, Berlin 2011. Friederike Kitschen Deutsch-Französische Filmakademie Académie franco-allemande du Cinéma Der französische Film hat seit Ende des Zweiten Weltkrieges regelmäßig Erfolge in Deutschland gefeiert. Der unaufhaltbare Vormarsch des amerikanischen Films und die Renaissance des deutschen Films ab den siebziger Jahren haben daran wenig geändert. Gründe hierfür waren u.a. auch der Durchbruch der *Nouvelle vague, die Beliebtheit vieler Schauspieler, aber auch die zusätzliche Unterstützungen von Staat und Institutionen. So wurden im Dezember 1974, Februar 1981 und Dezember 1984 Abkommen zwischen der BRD und Frankreich zur Förderung der Koproduktionen und des Absatzes von Filmen aus den gemeinsamen und nationalen Produktionen beider Staaten unterzeichnet. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Gründung der Deutsch-Französischen Filmakademie (Académie franco-allemande du cinéma) im Juni 2000 in Berlin durch Präsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder, mit deren Hilfe die Zusammenarbeit beider Länder im Bereich Film unterstützt werden sollte. Unter der Aufsicht des Centre national du cinéma et de l’image animée (CNC) und des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien sollte auf diese Weise die Abkommen zur Förderung deutschfranzösischer Koproduktionen erweitert werden. Im Mai 2001 wurde in Cannes dann ein sogenannter Mini-Vertrag unterzeichnet, in dem die Gründung eines gemeinsamen Koproduktionsfonds beschlossen wurde, mit dem Ziel die Beziehungen beider Länder im filmischen Bereich weiterzuentwickeln. Jede Seite zahlte 1,5 Millionen Euro in <?page no="189"?> Deutsch-Französische Geschichte D 189 den Fonds ein, die von einer gemeinsamen Kommission, bestehend aus Vertretern des CNC und der Filmförderungsanstalt (FFA), verwaltet werden sollten. Im Rahmen dieses Abkommens entstand auch eine Bildungszusammenarbeit zwischen der französischen Filmhochschule Fémis und der Filmakademie Baden-Württemberg in den Bereichen Produktion und Vertrieb: das Atelier Ludwigsburg- Paris, dem u.a. die Aufgabe zukommt, Kontakte zur deutschen und französischen Filmindustrie herzustellen. Schließlich entstanden 2003 die deutsch-französischen Filmtreffen mit dem Ziel, Koproduktionen zu erleichtern und den Vertrieb von französischen Filmen in Deutschland (und umgekehrt) zu unterstützen. Seit zehn Jahren erhalten im Durchschnitt zehn Koproduktionen pro Jahr eine Unterstützung, von der berühmte Regisseuren wie Claude Chabrol oder *Michael Haneke bereits ebenso profitiert haben wie Erstlingswerke von Newcomern. Wie von offizieller Seite festgestellt wurde, überwiegt bis jetzt der Anteil der französischen Produktionen. Was Koproduktionen mit mehrheitlichem französischem Anteil im Allgemeinen betrifft, so steht Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre an zweiter oder dritter Stelle, hinter Belgien und (manchmal) vor Italien. Gilbert Guillard Deutsch-Französische Geschichte Histoire franco-allemande Genauso wie das *deutsch-französische Schulgeschichtsbuch ist die deutsch-französische Geschichte (DFG) Ausdruck für eine konstruktive Kooperation auf dem Feld der *Historiker/ Geschichtswissenschaft. Sie stellt ein elfbändiges wissenschaftliches Werkzeug dar, um die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart in ihrem europäischen und weltgeschichtlichen Kontext besser zu verstehen. Die einzelnen Bände teilen sich nach Vorbild der Nouvelle Clio (PUF) und dem Grundriss der Geschichte (Oldenbourg) in drei Teile - Überblick, Fragen und Perspektiven, Bibliographie -, um den Leser erstens in die Thematik einzuführen und ihm ein Grundwissen zu vermitteln, zweitens Forschungsfragen zu diskutieren und Desiderata zu identifizieren und drittens über die Bibliographie zum Weiterlesen anzuregen. Damit richtet sich diese Reihe nicht alleine an Historiker, sondern zielt auf ein breiteres Publikum, das sich für die politischen, wirtschaftlichen, militärischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen interessiert. Das Projekt nahm Ende der 1990er Jahre seinen Ursprung und geht auf eine Kooperation zwischen dem *DHI Paris und der EHESS zurück. Unter der Leitung von Werner Paravicini (seit 2007 Gudrun Gersmann) für die deutsche und Michael Werner für die französische Seite erschien der erste Band in deutscher Sprache im Jahre 2005, in französischer im Jahre 2011 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt bzw. den Presses universitaires du Septentrion. Die Autoren sind deutsche und französische Historiker, die entweder alleine oder in binationalen Tandems à quatre mains die Bände verfasst haben und einen Beitrag zu einer transnationalen Geschichtsschreibung leisten wollen. Das Ziel dieses Werkes ist es nicht alleine, die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen zu schreiben. Vielmehr galt es mit einem multiperspektivischen Zugang, die deutsche und französische Geschichte in ihren jeweiligen Verflechtungen und Besonderheiten, ihren Austausch- und Abgrenzungsprozessen, ihren Perzeptionen und Rezeptionen darzustellen. Mag ein solcher Ansatz für die Gegenwart schnell einsichtig erscheinen, so stellt sich diese Frage für das frühe Mittelalter anders, als es Frankreich und Deutschland noch nicht gab. Für das 19. und 20. Jahrhundert ergaben sich andere Probleme, musste u.a. doch geklärt werden, wie sich Verflechtungen und Kulturtransfers in Zeiten des Nationalismus und der wechselseitigen Feindschaft (*Erbfeindschaft) gestalteten. Für die Periode der deutsch-französischen Verständigung nach 1945 war es zudem mit einem vergleichenden Ansatz wichtig zu zeigen, dass die langsame, aber tiefgreifende Annäherung der Gesellschaftsstrukturen und Lebensweisen der beiden Länder wesentlich zur deutsch-französischen Aussöhnung beigetragen haben, nachdem das reziproke Misstrauen in der Vergangenheit u.a. auch auf den fundamentalen Unterschieden der gesellschaftlichen Strukturen beruht hatte. Diese Beispiele geben einen kleinen Einblick in die Problemstellungen, die sich dem Historiker stellen, wenn er eine deutschfranzösische Geschichte von Karl dem Großen bis heute schreiben will. Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Comment écrire une histoire transnationale? , in: Michel Grunewald u.a. (Hg.), France-Allemagne au XX e siècle - la production de <?page no="190"?> Deutsch-Französische Gesellschaft der DDR (Deufra) 190 D savoir sur l’Autre = Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert - akademische Wissensproduktion über das andere Land, Bern 2011, S. 117-132; Werner Paravicini, L’Histoire franco-allemande, in: Bulletin des Deutsch-Französischen Komitees für die Erforschung der deutschen und französischen Geschichte, 17 (September 2006), S. 15-17. Corine Defrance, Ulrich Pfeil Deutsch-Französische Gesellschaft der DDR (Deufra) Als ostdeutsche Partnerorganisation der *EFA wurde am 17.2.1962 auf Beschluss der SED die Deufra gegründet, die nicht nur eine Koordinierungsstelle für die kulturpolitischen Beziehungen der DDR nach Frankreich war, sondern zugleich ein Kontrollinstrument für die Einbindung von „Vertretern der Intelligenz” wie u.a. *Anna Seghers und Stephan Hermlin in ihr außenpolitisches Gesamtkonzept. Nach der Ablösung des Gründungspräsidenten Georg Mayer übernahm der Frankreichemigrant *Franz Dahlem diese Funktion am 9.7.1964. Als Vizepräsident stand ihm ab 1965 *Gerhard Leo zur Seite. Von diesem Personalwechsel versprach sich die SED eine stärkere Politisierung der Gesellschaft und breitere Kontakte zum Kreis der französischen Widerstandskämpfer, die sie im Zeichen des Antifaschismus zu koordinieren hatte. Sie war Teil der „auslandsinformatorischen Arbeit“ der DDR in Frankreich und sollte ihre „internationale Autorität“ stärken. Über kulturelle, wissenschaftliche, sportliche und handelspolitische Kontakte galt es Beziehungen zu einflussreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Frankreichs herzustellen und gemeinsam mit der *EFA kulturelle Veranstaltungen über die DDR in Frankreich zu organisieren. Auf unterer Ebene förderte sie die Vermittlung von Delegationen französischer Politiker, Wissenschaftler und Studenten. Ihre Gründung war zugleich eine Reaktion auf den Abschluss des *Élysée-Vertrags und die verstärkte westdeutsch-französische Kooperation. Die Kultur war dabei ein Mittel der *auswärtigen Kulturpolitik der DDR, sich in einer Dreiecksbeziehung als gleichberechtigter Partner zu etablieren. Zu einem wichtigen Charakteristikum dieser Kaderorganisationen wurde ihr Mangel an Öffentlichkeit, bestand die Deufra in der Praxis doch nur aus dem Präsidium, das nach einem vom ZK der SED vorgegebenen Schlüssel von Mitgliedern der SED, der Blockparteien und der Massenverbände besetzt wurde. Instrukteure wachten darüber, dass „die Beschlüsse der Partei auf dem Gebiet der Auslandsinformation konsequent verwirklicht werden“, sodass sie zu keiner Zeit ein Forum von legitimierten Interessenauseinandersetzungen war. Durch inszenierte „unpolitische” Momente mit Persönlichkeiten aus dem kulturellen Leben versuchte die SED nach außen, die Freundschaftsgesellschaften als überparteiliche und intermediäre Organisationen zu präsentieren, doch war dies nur Ausdruck für ihren politischen und ideologischen Allmachtsanspruch. Von ihren Publikationen erhoffte sich die Deufra eine Multiplikatorenwirkung und die Verbreitung ihrer Ideen in weiteren Gruppen der französischen Gesellschaft. Ab Oktober 1955 vertrieb die Deufra die Zeitschrift „Nouvelles d’Allemagne“, die jedoch im April 1957 durch Verordnung des französischen Innenministeriums für ganz Frankreich verboten und durch die „Voix d’Allemagne“ ersetzt wurde. Gleichfalls monatlich erschien die „DDR-Revue“, die für Frankreich und Belgien mit einer Beilage unter dem Titel „Association Allemagne-France en République Démocratique Allemande - Échanges et aperçus“ versehen wurde, die den Leser sowohl über die Ziele und Aktivitäten der Deufra wie der *EFA informierte. Hinzu kam das „Écho d’Allemagne“, das dem französischen Leser auch vor Augen führen sollte, dass eine „echte Aussöhnung” nur unter Einbeziehung der DDR möglich sei. Ihr Mangel an Öffentlichkeit ließ sie jedoch nie zu einer Austauschorganisation wie die *Deutsch-Französischen Gesellschaften in der Bundesrepublik werden, sodass sie gemeinsam mit der DDR von der Bildfläche verschwand. Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln 2004, S. 300ff. Ulrich Pfeil Deutsch-Französische Gesellschaft für Wissenschaft und Technologie (DFGWT) Die Gründung der DFGWT geht auf die „Erste Gemeinsame Kulturerklärung der Staats- und Regierungschefs vom 6.2.1981 zurück (Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt). Im Abschnitt „Hochschulwesen, Forschung, angewandte Wis- <?page no="191"?> Deutsch-Französische Gesellschaften (DFG) D 191 senschaften, Technologie)“ der Erklärung heißt es hierzu: „Die kürzlich durch eine private Initiative gegründete Deutsch-Französische Gesellschaft für Wissenschaft und Technologie ist ein wichtiger Beitrag zur Annäherung zwischen Industrie und Wissenschaft.“ Mangels eines europarechtlichen Rechtsinstituts besteht das so entstandene Gebilde aus zwei gemeinnützigen Vereinen jeweils nationalen Rechts, die sich über einen Lenkungsausschuss über gemeinsame Vorhaben verständigen und bei deren Durchführung eng zusammenarbeiten. In Deutschland ist die DFGWT ein eingetragener Verein (e.V.), die AFAST hat in Frankreich die Rechtsform einer association loi 1901. Sie finanzieren ihre Tätigkeit durch Mitgliedsbeiträge, Spenden, kostendeckende Projekte unterschiedlicher Auftraggeber sowie aus Zuwendungen des deutschen und französischen Forschungsministeriums. Per 31.12.2010 hatte die DFGWT 87 persönliche und 13 korporative Mitglieder. DFGWT und AFAST verfügen über ein Netzwerk von Partnern in Deutschland und Frankreich, die ihre Kenntnisse der wissenschaftlichen und industriellen Landschaft des jeweiligen Partnerlandes einsetzen, um Technologietransfers und Partnerschaften zu erleichtern. Aktionsmittel von DFGWT/ AFAST sind: Durchführung von Kolloquien, Seminaren und Vorträgen, Unterstützung von Netzwerken zur Förderung der deutsch-französischen Zusammenarbeit, Förderung von Arbeiten an Hochschulen im Bereich von Wissenschaft und Technologie, Analysen, Aufbereitung und Austausch von wissenschaftlichen sowie wissenschaftspolitischen Informationen. Der erste Vorsitzende der DFGWT war seinerzeit Heinz Maier-Leibnitz, u.a. Gründungsrektor des deutsch-französischen *Instituts Laue- Langevin in Grenoble. Derzeitiger DFGWT-Präsident ist seit 2002 der Naturwissenschaftler Adolf Birkhofer (München). Vorsitzender von AFAST ist von deren Gründung an bis 2011 Pierre Laffitte, Senator der Alpes-Maritimes, président-fondateur des Forschungszentrums Sophia Antipolis und président honoraire de la Conférence des grandes écoles. Im Vorbereitungsstadium der Gemeinsamen Erklärung der Staats- und Regierungschefs vom 6.2.1981 war er die treibende Kraft zur Gründung von DFGWT/ AFAST. DFGWT/ AFAST haben aus Anlass ihres zwanzigjährigen Bestehens (1981-2001) ihre Arbeit in diesem Zeitraum in einer zweisprachigen Dokumentation im Einzelnen dargestellt. Seit dem Jahre 2002 waren Höhepunkte ihrer Arbeit: die Durchführung zweier deutsch-französischer Kolloquien „Energie in Europa“ (Paris, September 2003 und Oktober 2006), die Begleitung des 1., 2. und 3. Forums zur Deutsch-Französischen Forschungskooperation (Paris 2002, Potsdam 2005 und Paris 2008). Jüngere Projektbeispiele sind u.a. die Konferenz zur Finanzierung innovativer Unternehmen (Paris 2007), die Symposien zur Wechselwirkung zwischen gemeinnützigen Forschungsstätten und der Wirtschaft (München 2008), zur „Innovation in Europa“ (Elsass 2009), zur Versorgung Europas mit nichtenergetischen Rohstoffen (Paris 2010). 40 Jahre Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Forschung und Technologie: Bilanz und Perspektiven, Bonn, Berlin, Paris 2005; 20 Jahre Deutsch-Französische Gesellschaft für Wissenschaft und Technologie (DFGWT), Bonn 2002. Hermann Schmitz-Wenzel † Deutsch-Französische Gesellschaften (DFG) In vielen deutschen Städten existiert eine Deutsch- Französische Gesellschaft oder ein Verein ähnlicher Namensgebung, wie z.B. deutsch-französischer Club, deutsch-französischer Kreis usw. Zu verschiedenen Zeitpunkten und aus diversen Anlässen gegründet, in der Gestaltung von Satzung, Programm und medialem Auftritt frei und unabhängig, verfolgen diese Vereine auf unterschiedliche Weise ein gemeinsames Ziel: in ihrem Wirkungsbereich einen Beitrag zur Annäherung und besseren Verständigung zwischen den beiden Nationen und zur persönlichen Begegnung von Franzosen und Deutschen zu leisten. Viele aber nicht alle DFG gehören der *Vereinigung Deutsch- Französischer Gesellschaften für Europa e.V. (*VDFG) an, auf deren Webseite Name und Sitz der Mitgliedsgesellschaften verzeichnet ist. Anders als bei der 1928 in Berlin gegründeten, unter dem NS-Regime 1934 wieder aufgelösten Deutsch-Französischen Gesellschaft, die Ortsgruppen in einigen anderen Städten gebildet hatte, sind die nach 1945 gegründeten DFG keine lokale Sektion der *VDFG, sondern selbstständig und können über ihre Zugehörigkeit zur *VDFG frei ent- <?page no="192"?> Deutsch-französische Gipfeltreffen 192 D scheiden. Einige unter ihnen sind älter als die Bundesrepublik Deutschland, eine beträchtliche Anzahl älter als der *Élysée-Vertrag von 1963, der seinerseits den Anstoß zu vielen weiteren Gründungen gab. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Entwicklung verlangsamt, ohne je zum Stillstand gekommen zu sein. Die jüngste bekannt gewordene Neugründung einer DFG erfolgte im Jahr 2013 in Stade. Wie viele DFG insgesamt in Deutschland existieren, lässt sich nicht ermitteln, da nicht alle im Vereinsregister eingetragen und auch nicht alle Mitglieder der *VDFG sind. Während die DFG der Bundesrepublik Deutschland lokale oder regionale, jeweils aus privaten Initiativen entstandene bürgerschaftliche Vereine sind und ihre Ausgaben aus den Beiträgen ihrer Mitglieder und gelegentlichen Spenden finanzieren, gab es in der DDR innerhalb der Liga für Völkerfreundschaft eine *Deutsch-Französische Gesellschaft der DDR (Deufra). Sie wurde nach der Wende in eine mehrfach umbenannte und zuletzt als Deutsch-Französische Gesellschaft firmierende Dachgesellschaft mit Lokalkomitees umgewandelt, die sich 1992 aufgelöst hat. Bereits vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sind dort die ersten selbstständigen lokalen DFG gegründet worden, weitere folgten im Laufe der Jahre, einige davon sind der *VDFG beigetreten, andere nicht. Die DFG sind überparteilich und überkonfessionell, aber nicht apolitisch, insofern sie sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst für die *Versöhnung zwischen dem französischen und dem deutschen Volk, danach für die weitere Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich und seit dem Beginn der europäischen Integration auch für diese engagiert haben. Sie entfalten ihre Aktivitäten hauptsächlich im kulturellen Bereich und leisten vielfältige Beiträge zur Förderung der Partnersprache. Ihre Beziehungen zu den *Städtepartnerschaften sind in der Regel eng, aber unterschiedlichen Ursprungs. Während einige DFG in ihrer Stadt den Anstoß zur Begründung einer Partnerschaft mit einer französischen Stadt gegeben haben, sind andere DFG gegründet worden, um eine bestehende deutsch-französische *Städtepartnerschaft für die Bevölkerung mit Leben zu erfüllen. Hans Manfred Bock, Deutsch-Französische Gesellschaften der Weimarer Zeit, in: Dokumente 45 (1989), S. 226-231; Beate Gödde-Baumanns, Bürgerschaftliche Basis der Annäherung: Die Deutsch-Französischen Gesellschaften, in: Corine Defrance, Michael Kißener, Pia Nordblom (Hg.), Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945, Tübingen 2010, S. 137-157; Margarete Mehdorn, Deutsch-Französische Gesellschaften in Deutschland, ebd., S. 159-174. Beate Gödde-Baumanns Deutsch-französische Gipfeltreffen Die organisierte und ritualisierte Interaktion der Regierungen Frankreichs und Deutschlands in Form von Gipfeltreffen gehört heute zum Standardprogramm der politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Diese Normalität veranschaulicht die spektakuläre Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses im letzten Jahrhundert. Der politische Graben zwischen den Ländern zeigte sich nämlich lange auch in der Abwesenheit von offiziellen Begegnungen: So kam es zwischen 1871 und 1914 weder auf Staatsoberhauptnoch auf Regierungschef- und Außenministerebene zu einem einzigen offiziellen bilateralen Treffen. Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten dann einzelne Begegnungen, insbesondere zwischen den Außenministern Aristide Briand und Gustav Stresemann, und in den 1950er Jahren absolvierte Bundeskanzler Konrad Adenauer mehrmals kurze Arbeitsbesuche in Paris. Doch auch dann schien das Klima noch nicht reif für einen spektakulären offiziellen Besuch: So wurde 1955 das Vorfühlen von Bundespräsident Theodor Heuss nach einem Staatsbesuch in Paris abschlägig beschieden. Die Situation änderte sich mit dem Amtsantritt von Charles de Gaulle: neben verschiedenen Treffen mit Adenauer wurde mit Bundespräsident Heinrich Lübke 1961 erstmals seit fast hundert Jahren ein deutsches Staatsoberhaupt zu einem feierlichen Besuch in Paris empfangen. Vor allem folgten dann, im Juli und September 1962, die aufwändig inszenierten, spektakulären Staatsbesuche Adenauers in Frankreich und de Gaulles in der Bundesrepublik. Diese Besuche sollten veranschaulichen, dass die Zeit der Feindschaft nun überwunden war, und bildeten eine psychologische Vorbereitung der Gesellschaften und Eliten beider Länder auf eine nähere politische Zusammenarbeit. Diese fand wenig später ihren Ausdruck im *Élysée-Vertrag vom 22.1.1963, und insbesondere im Artikel 1, in dem zur Organisation der konkreten Annäherung regelmäßige Zusammentreffen der Staats- und Regierungschefs beider <?page no="193"?> Deutsch-französische Gipfeltreffen D 193 Länder vereinbart bzw. vorgeschrieben wurden und zwar „mindestens zweimal im Jahr”. Damit war das Fundament für regelmäßige deutsch-französische Regierungskonsultationen bzw. Gipfeltreffen gelegt. In der Folgezeit sind diese Treffen tatsächlich zu einer festen Institution geworden: Allen Fluktuationen des bilateralen Verhältnisses zum Trotz haben sie ihren festen Rhythmus entwickelt, jeweils abwechselnd halbjährlich in Frankreich bzw. in Deutschland. Seit 2003 hat sich ihr Charakter leicht verändert: Anlässlich des 40. Jahrestags des *Élysée-Vertrags wurde beschlossen, die Regierungskonsultationen als deutschfranzösische Ministerräte weiterzuführen, bei denen nunmehr nicht nur Kanzler und Präsident mit einzelnen Ministern, sondern die beiden kompletten Regierungen zweimal im Jahr zusammenkommen. Die Funktionen der Treffen sind dabei über die Jahrzehnte weitgehend dieselben geblieben: feste, institutionalisierte Momente des direkten und persönlichen Zusammentreffens zu schaffen, um zum einen bilateral gemeinsame Themen und Probleme besprechen und zum anderen das enge Verhältnis nach außen demonstrieren zu können. Dabei sind die Gipfeltreffen mit zwei Grundherausforderungen konfrontiert: Die erste stellt die Routinisierung der Treffen dar, aufgrund ihrer ständigen Wiederholung, gerade im Kontext der zunehmenden Normalisierung der Beziehungen. Der damit verbundenen Gefahr wachsender öffentlicher Gleichgültigkeit versuchen die beiden Regierungen, vor allem seit den 1980er Jahren, durch verschiedene Maßnahmen entgegenzutreten: So werden seitdem vermehrt gesellschaftspolitische und kulturelle Themen behandelt und dabei auch Begegnungen mit Akteuren aus diesen Bereichen eingebaut. Auch wurden in den 1990er Jahren die Treffen in die Provinz verlegt, an Orte, die weniger an Gipfelroutine gewöhnt sind. Die Verwandlung in Ministerräte 2003 illustriert den Zwang, sich immer wieder neu zu erfinden, ebenso wie die Durchführung der Blaesheim- Treffen seit 2001: Benannt nach dem Ort im Elsass, wo das erste solche Treffen stattfand, handelt es sich um Gespräche ohne feste Tagesordnung und im kleinen Kreis, zwischen Kanzler und Präsidenten plus Außenminister, die eine engere Abstimmung ermöglichen sollen - eine Art informelle Ergänzung der stärker durchorganisierten und aufwändigeren Gipfeltreffen. Die zweite Herausforderung betrifft die Frage der Diskrepanz zwischen Inszenierung und Realität: In der Tat wird den Gipfeln regelmäßig vorgehalten, sie würden zwar die Freundschaft beider Länder hochhalten, aber eigentlich wenig an existierenden Differenzen und Dissonanzen ändern und sich außerdem meist nur auf Absichtserklärungen beschränken. Unbestreitbar ist, dass die Gipfeltreffen bestehende Probleme nicht immer zu lösen vermögen. Aber die Tatsache, sich gerade auch zu treffen, wenn es um die Beziehung nicht zum Besten steht, stellt bereits einen Wert an sich dar, und ihr alleiniges Stattfinden zwingt zur Auseinandersetzung mit Differenzen und zum Nachdenken über mögliche Kooperationsprojekte. So waren Gipfeltreffen auch immer wieder Anlass, gemeinsame, sehr konkrete Initiativen zu lancieren: z.B. das Eurokorps beim Gipfel in La Rochelle im Mai 1992, oder, im kulturellen Bereich, das *AbiBac-Abkommen im Mai 1994 in Mulhouse und die *DFH im September 1997 in Weimar. Zumindest für aufmerksame Beobachter stellt jedes Gipfeltreffen einen guten Gradmesser dar, bei dem man anhand des Verlaufs, des Gesagten und auch des Nicht-Gesagten den momentanen Stand der Beziehungen ablesen kann. Insgesamt haben sich die Gipfeltreffen in den bald 50 Jahren ihres Bestehens gerade aufgrund ihrer Kontinuität zum deutlichsten Ausdruck einer engen deutschfranzösischen Zusammenarbeit und auch Normalität entwickelt. Schon 1966 bemerkte Außenminister Couve de Murville über den Gipfel von März 1966: „Das Resultat ist paradox: Es hat den Anschein einer deutsch-französischen Realität, auch wenn wir in den wichtigsten Fragen nicht übereinstimmen.“ Die Gipfel sind so sehr Teil und Verkörperung der deutsch-französischen Kooperation geworden, dass jedes Rütteln daran Zweifel am Engagement für die deutsch-französische Freundschaft aufkommen lässt. Als 2008 ein für März vorgesehenes Blaesheim-Treffen zwischen Nicolas Sarkozy und Angela Merkel um drei Monate verschoben wurde, wurde dieser ungewöhnliche Akt in politischen Kreisen als sehr verstörend empfunden. Abschließend ist zu bemerken, dass die deutsch-französischen Gipfeltreffen, in den 1960 Jahren in dieser Regelmäßigkeit ein neuartiges Experiment staatlicher Interaktion, Vorläufer und Vorbild für die Institutionalisierung von Gipfelkontakten wurden, wie sie heute z.B. auf EU- Ebene gang und gebe sind. <?page no="194"?> Deutsch-Französische Gymnasien 194 D Christoph Lind, Die deutsch-französischen Gipfeltreffen der Ära Kohl - Mitterrand 1982-1994: Medienspektakel oder Führungsinstrument? , Baden-Baden 1998; Nicolas Moll, Une campagne de séduction et de conquête: La visite du général de Gaulle en Allemagne en septembre 1962, in: Allemagne d’aujourd’hui 162 (2002), S. 54-62; Hans-Peter Schwarz, Begegnungen an der Seine. Deutsche Kanzler in Paris, Zürich 1993; Alexandre Wattin, Die deutsch-französischen Gipfeltreffen im Zeitraum 1991-2002, Bonn 2003. Nicolas Moll Deutsch-Französische Gymnasien Die drei deutsch-französischen Gymnasien - Saarbrücken, Freiburg/ Br. und Buc (bei Paris) - sind sowohl ein Erbe der französischen Kulturpolitik in Deutschland nach 1945 als auch ein Symbol für die Intensivierung der Verständigungsarbeit zwischen beiden Ländern nach dem *Élysée-Vertrag. Bereits Anfang Dezember 1945 hatten die Franzosen eine Schule für ihre Kinder im Saarland gegründet (*Schulen). 1947 wurde sie zum Lycée Maréchal Ney ausgebaut - der Name des in Saarlouis geborenen Feldmarschalls der Rhein-Armee und Napoleons sollte wohl die Verflechtung zwischen dem Saarland und Frankreich betonen - und bekam 1949 neue Räumlichkeiten in der Halbergstraße, die von Ministerpräsident Johannes Hoffmann und dem französischen hohen Kommissar Gilbert Grandval eingeweiht wurden. Nachdem 1957 die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik fast zur Schließung des französischen Gymnasiums, in dem die Hälfte der Schüler Saarländer waren, geführt hatte, wurde es im September 1961, nach drei Jahren Verhandlungen, in ein deutsch-französisches Gymnasium umgewandelt. Somit war im Sinne des 1954 verabschiedeten *Kulturabkommens, aber bereits vor dem *Élysée- Vertrag (1963) und vor dem Abkommen vom 10.2.1972 „über die Errichtung deutsch-französischer Gymnasien und die Schaffung des deutschfranzösischen Abiturs sowie die Bedingungen für die Zuerkennung des Abiturzeugnisses“, das erste deutsch-französische Gymnasium gegründet worden. Das auf dem *Élysée-Vertrag beruhende Abkommen von 1972, das im Juli 2002 durch das Schweriner Abkommen ersetzt wurde, führte dann zur Gründung von zwei weiteren Gymnasien: 1972 in Freiburg/ Br. und 1975 in Buc, bis 1981 als Sektion des Lycée Hoche. Das deutsch-französische Abitur, das „seinen Inhabern alle Berechtigungen, die mit dem Zeugnis des deutschen Abiturs in der Bundesrepublik Deutschland und des französischen baccalauréat in Frankreich verknüpft sind“ gibt, gilt als Vorreiter des *AbiBac und der Anerkennungspolitik der Schul- und Hochschulabschlüsse (*Schulpolitik). Hervorzuheben ist bei diesem Schultyp zudem das bibzw. interkulturelle Experiment. Sowohl deutsche als auch französische Schüler besuchen diese Gymnasien und ordnen sich in die jeweiligen zwei „nationalen“ Abteilungen ein - zumeist je nach kulturellem Hintergrund und Sprachkompetenz. Das gleichwertige Erlernen der Partnersprache sowie der Partnerkultur bleibt das wesentliche Ziel der deutsch-französischen Gymnasien, das sowohl durch einen intensiveren Sprachunterricht als auch durch die progressive Ausweitung derjenigen Fächer, die in der Partnersprache unterrichtet werden, erreicht werden soll. Nach wenigen Jahren, die der Anpassung der nicht zweisprachig aufgewachsenen Schüler dienen, werden der Fremdsprachunterricht und eine Reihe von ausgewählten Fächern (insbesondere Geschichte und Geographie, aber auch naturwissenschaftliche Fächer, Kunst, Sport oder Englisch) nur durch muttersprachliche Lehrkräfte aus dem Partnerland erteilt. Im Unterschied zu den heute weit verbreiteten „bilingualen Zügen“ bzw. sections européennes , wird dieser Unterricht nur in sogenannten „integrierten“ - d.h. aus beiden Abteilungen zusammengesetzten - Klassen abgehalten. So wird der Unterricht, der auf eigenen bzw. auf deutsch- und französischen Richtlinien beruht, nicht nur zum pädagogischen Erfahrungsort, sondern auch zur interkulturellen Begegnungs- und Verständigungsstätte, die allesamt zur angestrebten Verflechtung der jeweils existierenden deutschen und französische Abteilungen führen. Rolf Wittenbrock, Vom Collège Maréchal Ney zum Deutsch-Französischen Gymnasium, in: Deutsch-Französisches Gymnasium (Hg.), Deutsch-Französisches Gymnasium 1961-1986, Saarbrücken 1986, S. 17-29; ders., Deutsch-Französisches Gymnasium Saarbrücken, in: Rainer Hudemann u.a. (Hg.), Stätten grenzüberschreitender Erinnerung - Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert/ Lieux de la mémoire transfrontalière - Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19 e et 20 e siècles, Saarbrücken 3 2009. Bernard Ludwig <?page no="195"?> Deutsch-Französische Rektorenkonferenz D 195 Deutsch-Französische Hochschule (DFH) Université franco-allemande (UFA) Die Deutsch-Französische Hochschule (DFH) bzw. Université franco-allemande (UFA) in Saarbrücken ist eine Institution zur Förderung und Intensivierung der bilateralen Hochschulkooperation, hervorgegangen aus dem Deutsch-Französischen Hochschulkolleg (DFHK, 1988 bis 1999), dessen Aufgabe es war, integrierte binationale Studiengänge mit Doppeldiplomen zu initiieren, zu fördern und zu evaluieren. Die DFH, eine völkerrechtliche Einrichtung der beiden Staaten, verdankt ihre Gründung einer deutsch-französischen Vereinbarung, die auf dem Weimarer Gipfel 1997 unterzeichnet wurde. Sie hat Anfang 2000 ihre Arbeit am Sitz ihres Sekretariats in Saarbrücken aufgenommen. Organe der DFH sind der Präsident (mit Vize-Präsidenten), der paritätisch besetzte Hochschulrat, der die Politik der DFH bestimmt, die Vollversammlung der Mitgliedhochschulen (160) und das für die Umsetzung der Ziele zuständige Sekretariat mit etwa 40 Mitarbeitern und einem Jahreshaushalt von 10,5 Millionen Euro (2010). Auf gemeinsamen Antrag können eine deutsche und eine französische Hochschule als Mitglieder aufgenommen werden, wenn sie wenigstens ein integriertes deutsch-französisches Kooperationsprogramm anbieten, das positiv begutachtet wurde. Die DFH ist keine Hochschule im herkömmlichen Sinn, sondern ein Verbund von deutschen und französischen Hochschulen, an denen die geförderten Studierenden jeweils etwa die Hälfte ihres Studiums zu absolvieren haben, vorzugsweise in einer gemeinsamen Jahrgangsgruppe. Neben der übernommenen Aufgabe der Initiierung, Förderung und Evaluierung von integrierten Studiengängen (zur Zeit 130 genehmigte Studiengänge mit mehr als 4 000 Teilnehmern), die zwei Abschlussdiplome erwerben (Bachelor, licence , Master, Staatsexamen oder Diplom einer grande école ) versteht sich die DFH als Werber für ein Studium im jeweiligen Nachbarland, als Förderer einer engeren Zusammenarbeit und Abstimmung deutscher und französischer Hochschulen, als ein deutsch-französisches Hochschullabor zur Entwicklung von neuen Studienmodellen (Bologna-Prozess), als Experten- und Beratungsstelle für Reformen und Innovationen im Hochschulbereich beider Länder und als Einrichtung zur Förderung des akademischen Nachwuchs, von gemeinsamen Promotionsvorhaben und Forschungsprojekten, wofür jeweils spezifische Instrumente entwickelt wurden. Auch hat es sich die DFH zur Aufgabe gemacht, ihre Absolventen bei der beruflichen Eingliederung auf dem transnationalen Arbeitsmarkt zu unterstützen, insbesondere durch eine jährlich in Straßburg stattfindende Messe, das „Deutsch-Französische Forum“, auf dem Unternehmen, Hochschulen und Studierende zusammenkommen. Anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens konnte sich die DFH von ihren Geldgebern (Auswärtiges Amt, Bundesländer, Ministère des affaires étrangères, Ministère de l’enseignement supérieur et de la recherche) eine unerwartet erfolgreiche Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben bestätigen lassen. Fast 5 000 geförderte Teilnehmer an integrierten deutsch-französischen Studiengängen - vertraut mit zwei Sprachen und zwei Kulturen - sichern den in beiden Ländern benötigten Führungsnachwuchs in fast allen Bereichen von Verwaltung, Wirtschaft und Kultur. In der „Agenda 2020“ der deutsch-französischen Zusammenarbeit stellen die beiden Regierungen eine Verdoppelung der Studierenden der DFH als wünschenswertes Ziel dar. Die DFH übernimmt diesen Auftrag in der Überzeugung, dass sich in Zukunft auch 10 000 besonders begabte und engagierte deutsche und französische Studierende für ein langes Studium im jeweiligen Nachbarland motivieren lassen. Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Das Projekt einer deutschfranzösischen Hochschule seit 1963, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007, S. 309-337; dies., L’Université franco-allemande: médiateur académique, in: Allemagne d’aujourd’hui 201 (2012), S. 83-92; Jochen Hellmann, Binationale Integrierte Studiengänge: Akademischer Mehrwert durch Bilingualität und Bikulturalität am Beispiel der Studiengänge der Deutsch-Französischen Hochschule, in: Fremdsprachen Lehren und Lernen 41 (2012) 2, S. 84-96. Hermann Harder Deutsch-Französische Rektorenkonferenz Conférence franco-allemande des recteurs Die Konferenz der deutschen und französischen Hochschulrektoren, deren Vollversammlung zwischen 1958 und 1968 regelmäßig zusammentrat <?page no="196"?> Deutsch-französische Schriftstellertreffen 196 D und wichtige Beschlüsse bezüglich der Hochschulkooperation zwischen beiden Ländern fasste, geht auf eine Initiative des Generalsekretariats der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Direction de l’Office national des universités et écoles françaises zurück. Im Anschluss an die erste Vollversammlung im Februar 1958 in Berlin formierte sich eine Ständige Kommission, welche weitere Treffen organisieren und die Institutionalisierung der Konferenz voranbringen sollte. Tatsächlich fanden in den folgenden Jahren nicht nur regelmäßige Vollversammlungen statt, sondern es wurden auch zahlreiche Ausschüsse und Unterausschüsse gegründet, die sich mit inhaltlichen Fragen der deutsch-französischen Hochschulkooperation beschäftigten. Obwohl die Stellung der Rektoren in beiden Ländern sehr verschieden war, gab die Konferenz diesbezüglich wichtige Impulse; insbesondere verabschiedete sie eine ganze Reihe von Äquivalenzbestimmungen für verschiedene natur- und geisteswissenschaftliche Studiengänge und trug somit entscheidend zur Stimulierung des deutsch-französischen Austauschs im Hochschulbereich bei. Viele der damals bereits angesprochenen Probleme konnten erst Jahre später, u.a. von der *DFH gelöst werden. Nach der französischen Hochschulreform des Jahres 1968, welche unter anderem auch zu einer Entmachtung der Rektoren führte, waren zwar noch einzelne Gremien aktiv; die Vollversammlung trat jedoch nicht mehr zusammen, und es dauerte bis zum Jahr 1975, ehe es wieder zu regelmäßigen Kontakten zwischen der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Conférence des présidents d’universités (CPU) kam. Ansbert Baumann, La conférence franco-allemande des recteurs - moteur de la coopération universitaire en Europe? , in: Corine Defrance, Ulrich Pfeil (Hg.), France et Allemagne: entre compétition et coopération dans le processus de construction d’un espace scientifique européenne, S. 137-154; Corine Defrance, Les relations universitaires franco-allemandes avant 1963. Impulsions et initiatives privées, in: Lendemains 27 (2002) 107/ 108, S. 202-219. Ansbert Baumann Deutsch-französische Schriftstellertreffen 1947 beklagte der Frankreichkenner *Paul Distelbarth in seinem Werk „Franzosen und Deutsche“: „Wir stehen vor einem Trümmerhaufen [...]. Auch in unseren Beziehungen zu Frankreich ist alles zerstört: alle Brücken sind abgebrochen, alle Wege verschüttet, alle Bande zerrissen. Alles Vertrauen ist verwirtschaftet. Und dabei ist Frankreich unser nächster Nachbar! [...] Was können wir tun, um zu Frankreich wieder in ein erträgliches Verhältnis zu kommen? Den Franzosen von Verständigung reden, uns bei ihnen anbiedern, ist ausgeschlossen. Es wäre auch würdelos ...“ Doch schon im August 1947 ergriff der Jesuitenpater *Jean du Rivau die Initiative zur Einladung von Intellektuellen, zur vorsichtigen Wiederaufnahme des Dialogs auf einem ersten deutsch-französischen Schriftstellertreffen in Lahr im Schwarzwald. Unter dem Motto „L’écrivain dans la cité“ begegneten sich auf diesem ersten größeren Treffen seit Kriegsende Schriftsteller, Publizisten, Journalisten, Philosophen und Patres, darunter Intellektuelle wie *Emmanuel Mounier und Jean-Marie Domenach der Zeitschrift „Esprit“, Jean-Pierre Dubois-Dumée der Résistance-Zeitung „Témoignage Chrétien“, Robert Morel, Claude-Edmonde Magny, Eugen Kogon, Autor von „Der SS-Staat“, und Walter Dirks von den „Frankfurter Heften“, Franz Josef Schöningh, Herausgeber von „Hochland“, *„Dokumente“ und der „Süddeutschen Zeitung“, sowie *Joseph Rovan als Dolmetscher. Um nach den jüngst begangenen NS-Verbrechen miteinander in einen Dialog treten zu können, rief *du Rivau in seiner Eröffnungsrede dazu auf, sich gemeinsam konstruktiv der Zukunft zuzuwenden. Eckart Peterich begann seine Rede dagegen mit einem Eingeständnis der „deutschen Schuld” und verband mit dieser „heiligen Stunde“ die „heilige Hoffnung“, sich nach der Zwietracht als gute Nachbarn wiederzufinden. So resümierte Dubois-Dumée den Geist der Tagung mit den Worten: „Ich bin unter Brüdern“. Im August 1948 wurden dann deutsche Intellektuelle zu einem deutsch-französischen Schriftstellertreffen in die Zisterzienser-Abtei Royaumont bei Paris eingeladen. Diese Einladung kam aus deutscher Perspektive durchaus einer Sensation gleich und ist als wichtige frühe symbolische Geste zu werten. Neben den führenden Teilnehmern der Tagung in Lahr kamen dieses Mal ebenso herausragende französische Germanisten wie Robert d’Harcourt, *Edmond Vermeil, *Robert Minder und Albert Béguin, die die Einladung <?page no="197"?> Deutsch-französische Schriftstellertreffen D 197 nach Lahr 1947 noch ausgeschlagen hatten, sowie erstmals der junge *Alfred Grosser als „vermittelnder Teilnehmer und Dolmetscher“. Von deutscher Seite beteiligten sich erstmals u.a. die Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, der Theologe Karl Rahner sowie der Baudelaire-Übersetzer und Kunstkritiker der „Frankfurter Zeitung“ *Wilhelm Hausenstein. Die Frage nach dem Umgang mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigte zwangsläufig die Anwesenden. *Du Rivau rief zu Verdrängung und Vergessen in seiner Eröffnungsrede auf, was den heutigen Beobachter überraschen mag: „On dit dans un sens péjoratif que les peuples ont quelquefois la mémoire courte. Aujourd’hui, nous nous en félicitons.“ Daran schloss er sein jedoch zukunftsweisendes Credo einer neuen deutschfranzösischen Zusammenarbeit an: „Vous êtes Allemands, nous sommes Français ... Nous sommes ce que nous sommes les uns et les autres ... Il s’agit seulement de travailler ensemble et de vouloir travailler ensemble au bien commun“. Der Pariser Germanist Albert Béguin legte in seinem Eröffnungsvortrag „Du dialogue francoallemand“ seine pessimistische Vision eines unheilbaren Deutschland dar. Dennoch dürfe der Intellektuelle und die intellektuelle Elite nicht abdanken und sei, auch aus moralischen Gründen, zu einem Dialog ohne Misstrauen verpflichtet. Eugen Kogons Schlussvortrag umfasste eine Szenario-Analyse der internationalen Politik und ein Plädoyer für eine prosperierende europäische Föderation: Die Erneuerung und Einheit Europas müsse besonders von den europäischen Intellektuellen, Humanisten, Sozialisten und Christen vorangetrieben werden. Während auf dem Pioniertreffen in Lahr die persönliche Begegnung zwischen Franzosen und Deutschen im Vordergrund gestanden hatte und ein Neuanfang tatsächlich gelang, standen in Royaumont die gelehrten Vorträge im Vordergrund, war der Dialog der Intellektuellen dieses Milieus doch bereits weitgehend etabliert. 1950 ergriff der spiritus rector der Gruppe 47 Hans Werner Richter die Initiative zu einem deutsch-französischen Schriftstellertreffen mit der Gruppe 47. Dieses war gerichtet auf „konkrete Gespräche, die zu konkreten Handlungen führen können, […] dass deutsche Schriftsteller in Frankreich laufend publizieren können“. Das hieraus resultierende Treffen vom Mai 1950 in Schluchsee im Schwarzwald scheiterte jedoch nicht zuletzt daran, dass fünf Jahre nach Kriegsende kaum ein französischer Schriftsteller und Intellektueller bereit war, an einem Treffen aus deutscher Initiative und mit einer solchen Zielsetzung teilzunehmen. Dass es dabei nicht blieb, lag an *René Wintzen, 1946 bis 1949 in der französischen Besatzungszone für Jeunesse et Sports mitverantwortlich, lecteur d‘éducation populaire an der Volkshochschule Koblenz, Gründer der ephemeren Literaturzeitschrift „Vent debout“, später Chefredakteur von *„Documents“. Er begründete eine neue, Jahrzehnte anhaltende Tradition deutschfranzösischer Schriftstellertreffen, u.a. Schriftsteller der Gruppe 47 und des Nouveau roman begegneten sich dabei auf „unpolitischen“ literarisch-verlegerischen Arbeitstreffen. Die auf Wintzen zurückgehende Initiative zur ersten Parisreise der Gruppe 47 vom Mai 1953, unterstützt durch *BILD und *GÜZ, wurde ein voller Erfolg: Elf deutsche Schriftsteller der Gruppe 47, so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Heinrich Böll, Rudolf Hagelstange, Alfred Andersch, Luise Rinser, Günther Weisenborn, Paul Schallück, Hans Egon Holthusen, Rudolf Krämer-Badoni, Karl Krolow, Hans Bender und Rudolf Bongs trafen in Paris auf mondänen Empfängen, die von den Intellektuellen Jean Schlumberger, Mitbegründer der „Nouvelle revue française“ (NRF), und *Joseph Breitbach, Literat und generöser Literaturmäzen, vom deutschen Botschafter in Paris, von Verlagen und Zeitschriften bereitet wurden, auf ein tout-Paris führender Intellektueller und Persönlichkeiten: darunter auf französische Germanisten wie Robert d’Harcourt, *Edmond Vermeil, *Robert Minder, Albert Béguin und *Alfred Grosser, den Existenzphilosophen Gabriel Marcel, den Hegelianer Jean Wahl, die Exil-Literaten Annette Kolb und *Joseph Breitbach, Paul André Lesort, Maurice Boucher, Maurice Colleville, Manès Sperber, Maurice Nadeau sowie auf die Verleger der Éditions du Seuil, von Gallimard, Plon, Albin Michel und Calmann-Lévy. Nicolaus Sombart zog in seinem autobiographischen Werk „Pariser Lehrjahre“ entsprechend ein positives Gesamtfazit: „Das Treffen war ein voller Erfolg. Die französischen Verleger hatten die neuen deutschen Autoren kennen gelernt, die ihnen von ihren Lektoren so dringend empfohlen wurden. Für die ‚jungen deutschen Schriftsteller war es der erste Schritt ‘ <?page no="198"?> Deutsch-Französischer Journalistenpreis 198 D in die große Welt. Sie wurden mit offenen Armen aufgenommen. Eine neue Etappe in der langen Geschichte der deutsch-französischen Begegnungen, die eine Geschichte der fruchtbaren Missverständnisse ist, hatte damit begonnen.“ Drei Jahre später traf man sich in Vézelay wieder, wo die deutschen Teilnehmer den Nouveau roman als neue literarische Gattung entdeckten. Nach diesen vielversprechenden Anfängen, bei denen die Intellektuellen beider Länder betont hatten, sich in ihrer schriftstellerischen Arbeit gemeinsamen Maßstäben verpflichtet zu fühlen, verkümmerten die Kontakte jedoch schnell. Die Tagung in Hamburg im Jahre 1960 führte die auseinanderdriftenden Interessen gleichsam symbolisch vor Augen. Während das Tagungsthema „Der Schriftsteller und die Möglichkeiten der audio-visuellen Verbreitung“ den Deutschen am Herzen lag, verließen französische Kollegen das Seminar, nicht zuletzt weil sie zum damaligen Zeitpunkt für die zukünftige Bedeutung der audiovisuellen Medien weniger empfänglich waren. Schon vorher hatte es einige Enttäuschungen gegeben, z.B. als Louis Clappier und Antoine Wiss-Verdier vergeblich Anschluss an die Gruppe 47 gesucht hatten, die nicht bereit war, sich für französische Schriftsteller zu öffnen. Martin Strickmann, L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle: Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950. Diskurse, Initiativen, Biografien, Frankfurt/ M. 2004; ders., Französische Intellektuelle als deutsch-französische Mittlerfiguren, 1944-1950, in: Patricia Oster-Stierle, Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Am Wendepunkt - Deutschland und Frankreich um 1945. Zur Dynamik eines „transnationalen“ kulturellen Feldes, Bielefeld 2008, S. 17-48; Jérôme Vaillant, Die Gruppe 47 und die französischen Schriftsteller. Hoffnungen und Enttäuschungen in der Frühphase der Gruppe 47, in: Justus Fetscher u.a. (Hg.), Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik, Würzburg 1991, S. 67-84; René Wintzen, Les rencontres franco-allemandes d’écrivains (1945-1984), in: Allemagne d’aujourd’hui, 112 (1990), S. 93-103. Martin Strickmann Deutsch-Französischer Journalistenpreis Prix franco-allemand du journalisme Seit 1983 vergibt der Saarländische Rundfunk (*Hörfunk) in Zusammenarbeit mit *ARTE, dem Departement Moselle, dem *DFJW, Deutschlandradio, France Télévisions, Radio France, Radio France Internationale, der Robert Bosch Stiftung (*Stiftungen), der Tageszeitung „Le Républicain Lorrain“, der deutschen Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck sowie dem ZDF den Deutsch-Französischen Journalistenpreis. Wenn auch in den vergangenen Jahren immer wieder sogenannte „Ehrenpreise“ oder „Medienpreise“ an besonders prominente und verdiente Medienschaffende, Künstler oder Politiker verliehen worden sind, die in ihren eigenen Domänen zur deutsch-französischen Verständigung beigetragen haben und dem Preis dank ihrer Prominenz zu mehr Sichtbarkeit verhelfen (zuletzt etwa *Daniel Cohn-Bendit, zuvor Persönlichkeiten wie *Volker Schlöndorff, Simone Veil oder *Tomi Ungerer), so ist es doch die wesentliche - und erklärte - Absicht der Preisgeber, alljährlich herausragende journalistische Arbeiten in Frankreich und Deutschland auszuzeichnen, die zu einem besseren Verständnis des jeweiligen Nachbarlandes beitragen. Die Preisträger tragen so bekannte Namen wie *Daniel Vernet, Jean-Paul Picaper, Pascale Hugues, *Ulrich Wickert, *Georg Stefan Troller oder Joseph Hanimann, das Gros der Preise geht jedoch in den Sparten Fernsehen, Hörfunk, Printmedien, Internet und, besonders hervorzuheben, Nachwuchs an Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen in den verschiedenen Medien das journalistische Tagesgeschäft betreiben. Und gerade hier liegt, *ARTE hin, ein halbes Jahrhundert deutsch-französische Freundschaft her, einiges, wie es in der Selbstdarstellung des Journalistenpreises zutreffend heißt, im Argen. Die in den letzten Jahren Besorgnis erregende Abnahme des Interesses an der Sprache des Nachbarn hat zuletzt auch in den Redaktionsstuben beider Länder zu einem Verlust an Interesse und Kompetenz in Fragen, die Deutschland, beziehungsweise Frankreich betreffen, geführt. Beobachter verweisen in diesem Zusammenhang gerne darauf, dass der größte französische Fernsehsender, TF1, über keinen festen Korrespondenten in Berlin verfügt. Und auch sonst ist das französische Korrespondentennetz in Deutschland eher dünn geknüpft. Auf der Gegenseite sieht es zurzeit (wie lange noch? ) besser aus. Den Auswirkungen solcher Entwicklungen mag der Preis entgegenwirken. Flankierend mögen auch Gründungen zur Nachwuchsförderung wie die beiden Masterstudiengänge in deutsch-französischem Journalismus an den Universitäten Paris 3 (Sorbonne Nouvelle) <?page no="199"?> Deutsch-Französischer Kulturrat D 199 und Freiburg/ Strasbourg greifen. Zu den Besonderheiten des Preises gehört es, dass Autoren sich nicht nur selbst bewerben können, sondern dass Leser, Hörer und Zuschauer Beiträge, die ihnen preiswürdig erscheinen, selbst zum Vorschlag bringen können. Jürgen Ritte Deutsch-Französischer Kulturrat Haut conseil culturel franco-allemand Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen haben, nicht erst mit der Gründung des *DFJW (1963), spezifische Einrichtungen und Gremien entstehen lassen, die von einem Willen zur weiteren, ständigen Vertiefung und kultureller Verflechtung zeugen und die Sonderstellung des deutsch-französischen Verhältnisses in Europa maßgeblich ausgestaltet haben, zu der es in anderen zwischenstaatlichen Beziehungen keine Äquivalente gibt. Zu diesen Institutionen zählt neben der *Deutsch-Französischen Hochschule (DFH/ UFA) auch der Deutsch-Französische Kulturrat (DFKR), dessen Wirkungskreis jedoch nicht zuletzt wegen mangelnder Finanzmittel zur Durchführung von Projekten und fehlender politischer Durchschlagskraft beschränkt geblieben ist. Nicht selten werden die Entscheidungen zu neuen Initiativen auf politischen oder kulturellen Gipfeltreffen zwischen Frankreich und Deutschland getroffen; entsprechend erfolgte die Gründung des Deutsch-Französischen Kulturrats 1988 nach dem deutsch-französischen Kulturgipfel in Frankfurt/ M. Als Expertengremium, besetzt mit Künstlern, hochkarätigen Vertretern aus der Kulturszene und einschlägigen Institutionen (Universitäten, Museen, kulturelle Einrichtungen), sollte der DFKR das gesamte Kulturspektrum abdecken (Film, Theater, Musik, Literatur, Bildende Kunst und Medien), die Szene beobachten und den Regierungen Empfehlungen geben. Enge Kooperation mit den beiden Außenministerien (die beobachtend im Gremium vertreten sind), der Kultusministerkonferenz (KMK) und dem Bevollmächtigten der Bundesrepublik Deutschland für die kulturellen Angelegenheiten im Rahmen des Vertrags über die deutsch-französische Zusammenarbeit (*Kulturbevollmächtigter) sowie dem Ministère de la culture sind gewünscht. Zwei Sekretariate - ein eigenständiges auf deutscher Seite in Saarbrücken sowie ein französisches, das beim Leiter der Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin angesiedelt ist - organisieren den Schrift- und Notenverkehr und richten zwei jährliche Sitzungen aus - je eine in Deutschland und eine in Frankreich. Nach einer Reform im Jahr 2009 wurde die Mitgliederzahl von zehn auf sechs pro Land reduziert (fünf Mitglieder plus je ein Präsident, daneben Ehrenpräsident und Generalsekretär). Die beiden Präsidenten werden für vier Jahre ernannt; 2014 sind dies der bekannte Theaterregisseur und künstlerische Leiter der Berliner *Schaubühne *Thomas Ostermeier für Deutschland sowie der ehemalige Kulturminister und im Juli 2014 von François Hollande zum Défenseur des Droits ernannte Jacques Toubon für Frankreich. Der DFKR hat sich in den letzten Jahren verschiedene Schwerpunktthemen gegeben - Kultur und Markt, exception culturelle versus diversité culturelle , Urheberrecht und kulturelle Vielfalt, *Weimarer Dreieck - und versucht in letzter Zeit von einzelnen Mitgliedern ausgehende Initiativen zu unterstützen, wie beispielsweise trinationale Treffen für Nachwuchsschauspieler. Um sich stärkeres Gehör zu verschaffen, entwickelt der DFKR Grundsatztexte, so auf der 48. Plenarsitzung im Juni 2012. Trotz zum Teil sehr prominenter und kompetenter Mitglieder wie *Patrice Chéreau, *Michel Bataillon, *Werner Spies, *Georges- Arthur Goldschmidt, *Michel Tournier und Jean- Marc Ayrault hat er den Rang eines von den Regierungen konsultierten und ernst genommenen politischen Beratungsgremiums nur sporadisch erfüllen können. Einige Male ist der DFKR mit Kolloquien - „Wege nach Europa. Die Kulturpolitik Deutschlands und Frankreichs - Strategien für eine europäische kulturelle Zusammenarbeit“ im Oktober 2008 im Berliner Rathaus; „Die Zukunft des europäischen Theaters“ 2006 in Amsterdam (initiiert und organisiert von Nicole Colin und der damaligen Präsidentin *Nele Hertling in Zusammenarbeit mit dem *Goethe-Institut) sowie Publikationen - „Künstlerisches Schaffen in der erweiterten EU. Mobilität und Verantwortung“ (2007) sowie „Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte“ (1996) bzw. „Allemagne-France: lieux et mémoires d’une histoire commune“ (1995) - in Erscheinung getreten. Man mag es bedauern, dass die Aktivitäten nicht fortgesetzt worden sind: Sie hätten dem DFKR unter Umständen mehr öffentliche Aufmerksam- <?page no="200"?> Deutsch-Französischer Parlamentspreis 200 D keit sichern können, als ihm gegenwärtig zukommt. Joachim Umlauf Deutsch-Französischer Parlamentspreis Prix parlementaire franco-allemand Im Jahr 2003 hat der Deutsche Bundestag gemeinsam mit der Assemblée nationale anlässlich des 40. Jahrestages der Unterzeichnung des *Élysée- Vertrages die Auslobung eines deutsch-französischen Parlamentspreises beschlossen. Mit ihm werden deutsche und französische wissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet, die zur besseren gegenseitigen Kenntnis beider Länder beitragen. Der Preis, der jeweils an einen deutschen und einen französischem Staatsbürger geht, ist mit je 10 000 Euro dotiert und wurde zunächst jährlich verliehen. Seit 2008 wird er alle zwei Jahre von den Präsidenten der beiden Parlamente vergeben. Um die Auszeichnung können sich deutsche und französische Staatsbürger bewerben, die ein juristisches, wirtschafts-, sozial-, politik- oder anderes geisteswissenschaftliches Werk in deutscher oder französischer Sprache verfasst haben. Über die Vergabe des Preises entscheidet eine Jury unter Vorsitz der Präsidenten der beiden Parlamente, die sich aus je zwei Abgeordneten und Wissenschaftlern aus Frankreich und Deutschland zusammensetzt. Der deutschen Jury gehörten im Auswahlverfahren 2012 neben dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, Andreas Schockenhoff, Herr Axel Schäfer, Helene Harth und Hartmut Kaelble an. Der französischen Jury gehörten im gleichen Jahr der Präsident der Assemblée nationale, Claude Bartolone, die Abgeordneten Pierre-Yves Le Borgn’ und Bruno Le Maire, Anne-Marie Le Gloannec und René Lasserre an. Nachdem die beiden nationalen Teiljurys in getrennten Sitzungen jeweils französische beziehungsweise deutsche Werke für die engere Wahl ausgewählt haben, ermittelt die gemeinsame deutsch-französische Jury in ihrer Sitzung den deutschen und den französischen Preisträger. Die Preisträger 2004-2012: 2012: Nicole Colin, „Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer“ und Nicolas Beaupré, „Le Traumatisme de la Grande guerre, 1918-1933“. 2010: Anne Kwaschik, „Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder“ und Evelyne und Victor Brandts, „Aujourd‘hui l Allemagne“. 2008: Tim Geiger, „Atlantiker gegen Gaullisten“ und Magali Gravier, „Good Bye Honecker! “. 2006: Matthias Waechter, „Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie 1940- 1958“ und Olivier Bobineau, „Dieu change en paroisse, une comparaison franco-allemande“. 2005: Martin Schieder, „Im Blick des Anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945-1959“ und Denis Goeldel, „Le tournant occidental de l’Allemagne après 1945. Contribution à l‘histoire politique et culturelle de la RFA“. 2004: Thilo Schabert, „Wie Weltgeschichte gemacht wird - Frankreich und die deutsche Einheit“ und Dominique Bourel, „Moses Mendelssohn, la naissance du judaïsme moderne“. Deutscher Bundestag Deutsch-Französisches Forschungsinstitut Saint-Louis Institut franco-allemand de recherches de Saint-Louis Das Deutsch-Französische Forschungsinstitut Saint-Louis (Institut franco-allemand de recherches de Saint-Louis - ISL) ist ein binationales Institut für Grundlagenforschung auf dem Gebiet des Waffenwesens. Ausgangspunkt für die Entstehung des Instituts war die Beschlagnahme des nach Biberach/ Riss ausgelagerten Ballistischen Instituts der Technischen Akademie der Luftwaffe durch französische Truppen im April 1945. Die Forscher um den renommierten Hubert Schardin wurden noch im Sommer 1945 für die französische Armee rekrutiert und ins oberelsässische Saint-Louis gebracht, wo sie ihre Arbeiten in den ehemaligen Fabrikationshallen der Gmöhling- Werke fortsetzten. Wohnen sollten die deutschen Wissenschaftler jedoch nicht auf französischem Hoheitsgebiet, sondern in den badischen Städten Weil und Haltingen, in der französischen Besatzungszone jenseits des Rheins. An ihrem Arbeitsort in Saint-Louis wurde ihnen ein französischer Mitarbeiterstab zur Seite gestellt, der überwiegend aus Militäringenieuren, aber auch aus Sekretärinnen und Handwerkern bestand. Die Leitung des Forschungslabors übernahm General Robert Cas- ’ <?page no="201"?> Deutsch-französisches Historikerkomitee D 201 sagnou, Professor Schardin fungierte als Technischer Direktor. Innerhalb von kurzer Zeit etablierten sich die ursprünglich eher als Übergangslösung eingerichteten Strukturen: Bereits 1946 wurde das „Laboratoire de recherches de Saint- Louis“ (LRSL) ein eigenständiges Institut des französischen Waffenamts (DEFA). Verantwortlich für den raschen Aufbau war wohl eine Symbiose aus privaten und politischen Interessen: Die deutschen Wissenschaftler konnten im besiegten Deutschland keinerlei berufliche Perspektiven erkennen und waren daher gerne bereit, sich in den Dienst der französischen Armee zu stellen, die wiederum großes Interesse am Fachwissen der so rekrutierten Spezialisten hatte. Die Situation änderte sich mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der kurz darauf einsetzenden Debatte um die deutsche Wiederbewaffnung. Kurzzeitig schien im Zusammenhang mit dem Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) die Möglichkeit gegeben, das Labor in ein Forschungsinstitut der EVG umzuwandeln; nach dem Scheitern der EVG-Pläne und der Unterzeichnung der Pariser Verträge 1954 war jedoch abzusehen, dass die nun entstehende Bundeswehr Interesse am Fachwissen der deutschen Mitarbeiter des Labors haben würde, dessen Fortbestand daher akut gefährdet zu sein schien. Vor diesem Hintergrund schlugen Schardin und Cassagnou vor, das Institut in eine binationale Einrichtung umzuwandeln. Nachdem die Regierungen diese Idee aufgegriffen hatten, konnte am 31.5.1958 das Gründungsabkommen zur Errichtung des deutsch-französischen Forschungsinstituts unterzeichnet werden, welches seine Tätigkeit am 22.6.1959 offiziell aufnahm und seither zu den weltweit führenden Einrichtungen seiner Art zählt. Ansbert Baumann, Die Gründung des Institut Saint-Louis, in: Ulrich Pfeil (Hg.), Kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, München 2007, S. 237-256. Ansbert Baumann Deutsch-französisches Historikerkomitee Das Deutsch-Französische Komitee für die Erforschung der deutschen und französischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts e.V. entstand 1988 (im ehemaligen Kloster Banz) infolge einer Initiative zweier Historiker, Raymond Poidevin (Straßburg) und Josef Becker (Augsburg). Zwei Jahre zuvor hatten die Entscheidungen des *deutsch-französischen Gipfels in Frankfurt abermals gezeigt, wie wenig Aufmerksamkeit die Politik den historischen Tatsachen schenkte und welche bedauerlichen Folgen das haben konnte, während auf dem Versailler Kulturgipfel die geringe Aufmerksamkeit gegenüber der Erforschung internationaler Beziehungen kritisiert wurde. Diesem Missstand galt es abzuhelfen. Außerdem machte die Zuständigkeit der EU bei der Vergabe verschiedener Forschungsförderungsmittel neue Strukturen notwendig. Last but not least wollten Poidevin und Becker eine sowohl inhaltliche wie methodologische Zusammenarbeit der Historiker auf der Basis eines transnationalen und vergleichenden Zugangs zu der Geschichte beider Länder im 19. und 20. Jahrhundert fördern. Es waren Ziele, die damals noch keineswegs selbstverständlich waren. So ging aus dem schwierigen Zustandekommen der Satzung z.B. auch hervor, wie schwierig bilaterale Unternehmungen innerhalb der sich aufbauenden europäischen Strukturen waren. Von den drei ursprünglichen Zielsetzungen erwies sich die dritte wohl als die wichtigste und erfolgreichste. Die im Rahmen der Mitgliederversammlung (im Zweijahresrhythmus) veranstalteten Tagungen trugen wesentlich dazu bei, die Verbindungen zu verdichten. Sie waren jeweils um ein wissenschaftliches Thema organisiert und bezogen sich entweder auf deutschfranzösische Vergleiche („Eliten“, „Nachkriegsgesellschaften“, „Machtstrukturen“ oder „Religion und Laizität“) oder auf Beziehungen nach außen („Deutschland - Frankreich - Nordamerika“, „Koloniale Politik“ usw.). Die methodenübergreifenden Vorträge waren Anlass zu Diskussionen, die für beiderseitige Forscher ebenso von Nutzen waren und noch sind wie die Debatten unter Spezialisten verschiedener interner Fachgebiete (Politik-, Wirschafts-, Kultur-, Gesellschaftsgeschichtler usw.). Auch entstand bei solcher Gelegenheit manche grenzüberschreitende Initiative und Zusammenarbeit. Die in Banz beschlossene Herausgabe eines Bulletins, das u.a. über die laufenden Arbeiten informiert, sowie die Tagungsbände, die alle zwei Jahre mit Beiträgen auf Deutsch und Französisch (in einer besonderen Reihe beim Franz Steiner Verlag) erscheinen, veranschaulichen einige Ergebnisse der Zusam- <?page no="202"?> Deutsch-Französisches Hochschulinstitut für Technik und Wirtschaft (DFHI) 202 D menarbeit innerhalb der dank des Komitees entstandenen grenzüberschreitenden Netzwerke. Zum Gründungsvorstand, dessen Sitz sich zunächst im *Centre d’études germaniques in Straßburg befand, gehörten Raymond Poidevin, Josef Becker, *Marieluise Christadler, Jacques Bariéty, Rainer Hudemann, Franz Knipping und der Germanist *Jean-Marie Valentin. Klaus- Jürgen Müller wurde zum ersten ordentlichen Vorsitzenden gewählt. Es folgten (jeweils für zwei Jahre) Georges-Henri Soutou, Rainer Hudemann, Louis Dupeux, Beatrix Bouvier, François Roth, Stefan Fisch, Chantal Metzger, Hartmut Kaelble, Jean-Paul Cahn, Dietmar Hüser, Jean-François Eck. Das Komitee zählt heute über 200 Mitglieder. Jean-Paul Cahn, Dietmar Hüser (Hg.), Préhistoire et naissance du Comité franco-allemand des historiens, in: Bulletin 19 (2010); Corine Defrance (in Zusammenarbeit mit Christiane Falbisaner-Weeda), Sentinelle ou pont sur le Rhin? Le Centre d’études germaniques et l’apprentissage de l’Allemagne en France (1921-2001), Paris 2008, S. 253-256. Jean-Paul Cahn Deutsch-Französisches Hochschulinstitut für Technik und Wirtschaft (DFHI) Institut supérieur franco-allemand de techniques, d’économie et de sciences (ISFATES) Das Deutsch-Französische Hochschulinstitut ist ein binationaler Studiengang der Université Paul Verlaine in Metz, - heute Teil der Université de Lorraine - und der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes in Saarbrücken in den Fachrichtungen Betriebswirtschaft, Maschinenbau, Elektrotechnik, Europäisches Baumanagement, Praktische Informatik und Logistik. Er war der erste Studiengang, der ein deutsch-französisches Doppeldiplom anbot: Bereits am 15.9.1978 wurde das Gründungsabkommen von den Außenministern beider Staaten unterzeichnet. Seither studieren die Teilnehmer alternierend an beiden Universitäten und erwerben dabei ein Doppeldiplom: ursprünglich die französische maîtrise und das deutsche Fachhochschul-Diplom. Nachdem das DFHI 1997 in die *Deutsch- Französische Hochschule integriert worden war, erfolgte im Jahr 1999 eine größere Umstellung des Studienplans und schließlich 2005 die Einführung der neuen Bachelor- und Master-Studienabschlüsse. Am Studiengang Bauingenieurswesen ist seit 2009 auch die Universität Luxemburg beteiligt; dieser trägt seither die Bezeichnung Europäisches Baumanagement und bietet die Möglichkeit, ein weiteres Diplom, den luxemburgischen bachelor professionnel en ingénierie , zu erwerben. Unterstützt wird die Arbeit des DFHI in beiden Ländern von einem 1990 gegründeten Förderverein. Rainer Reisel, Das Deutsch-Französische Hochschulinstitut, in: Dokumente 51 (1995) 3, S. 241f. Ansbert Baumann Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg (DFI) Das DFI ist das traditionsreichste und größte Zentrum bilateraler Informations- und Kontaktvermittlung, das im Deutschland der Nachkriegszeit gegründet wurde und mit Analysen, Dokumentation und Beratung seit mehr als 60 Jahren in der deutsch-französischen Zusammenarbeit aktiv ist. Es wurde im Juli 1948 als eingetragener Verein ins Leben gerufen und im Februar 1949 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sein Gründer *Fritz Schenk (1906-1985) bezog sich in seiner frühesten Antragsformulierung zustimmend auf eine Bestandsaufnahme der deutsch-französischen Beziehungen aus dem Jahre 1947, die der Leiter der Abteilung Éducation publique *Raymond Schmittlein in der französischen Militärregierung in Baden-Baden veröffentlicht hatte. Obwohl Ludwigsburg in der amerikanischen Besatzungszone lag, legte er demonstrativ Wert auf das Einvernehmen mit dem Machtzentrum der französischen Besatzungszone und dem *Institut français in Tübingen. Von deutscher Seite erhielt er die Unterstützung des Ludwigsburger Oberbürgermeisters sowie des dortigen Kulturamtes und der Industrie- und Handelskammer. Noch wichtiger für die Realisierung des Projektes war die aktive Förderung durch die überregional einflussreichen Politiker *Carlo Schmid (SPD) und Theodor Heuss (FDP). Die Errichtung des DFI wurde von Zeitzeugen der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen in der Tradition der *Deutsch-Französischen Gesellschaft der Weimarer Republik gesehen. Die Zielsetzung der Arbeit der Ludwigsbur- <?page no="203"?> Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg (DFI) D 203 ger Neugründung wurde im Antrag *Schenks formuliert: „Vermittlung der französischen Sprache, Literatur und Geisteswelt; Vertiefung und Verbreitung der Kenntnis von Frankreich, Land und Leuten; Förderung des geistig-kulturellen Austauschs zwischen beiden Ländern und damit der europäischen Zusammenarbeit“. In die Instituts-Satzung ging dann die konzisere Zweckbestimmung eines Diplomaten ein: „Förderung der deutsch-französischen Verständigung auf allen Gebieten des geistigen und öffentlichen Lebens.“ Als finanzielle Grundlage standen am Anfang obenan die Beiträge der korporativen und individuellen Mitglieder und der engeren Gebietskörperschaften (Kommune, Kreis und Land). Im Maße der überregionalen Anerkennung und Bekanntheit des DFI verlagerte sich seit den 1970er Jahren der Schwerpunkt seiner Finanzierung auf Bundesmittel (Auswärtiges Amt und *DAAD) und schließlich auch auf Drittmittel, die für laufende Projekte eingeworben werden und für die eine Reihe von Stiftungen großer Industrie-, Banken- und Versicherungsunternehmen die wichtigsten Quellen sind. In den Tätigkeitsbereichen des Instituts ist über die sechs Jahrzehnte seiner Existenz hinweg neben den Kontinuitätslinien ebenfalls eine Schwerpunktverlagerung konstatierbar. Die Kontinuität ist ausgeprägt in der Zusammenarbeit mit der französischen Partnerorganisation *Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle. Nach deren Auflösung im Jahre 1967 wurde 1982 auf französischer Seite (und unter dem Einfluss von *Alfred Grosser) eine neue auf Deutschland bezogene Informations- und Forschungsstruktur geschaffen, die als *Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC) agiert und von einem langjährigen französischen Mitarbeiter des DFI geleitet wird. Seit 2004 unterhält das DFI überdies eine Außenstelle in Paris, die sich seit 2011 im Goethe-Institut befindet. In der Gestaltung der verschiedenen Programme ist am deutlichsten eine Kontinuität zu registrieren in der Komponente der Studenten- und Journalisten- Seminare, die anfänglich im Zusammenhang des sozioprofessionellen Gruppenaustausches (Praktikanten und Werkstudenten) standen. Insgesamt jedoch wurde in den 1970er Jahren im Vergleich mit den Austauschaktivitäten die Veranstaltung von Wissenschafts- und Experten-Konferenzen stärker gewichtet, die auf dem Sockel der Seminare für Studenten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften aus beiden Ländern (aus Frankreich überwiegend der grandes écoles ) aufbauten. Thematisch standen in den 1970er Jahren vergleichende Politikfeldanalysen im Vordergrund, ab den 1980er Jahren zunehmend Fragen der europäischen Integration in beiden Ländern. Das DFI profilierte sich insbesondere durch seine seit 1985 jährlich abgehaltenen Frankreichforscher-Konferenzen und die auf ihren Beiträgen basierende Publikation des *„Frankreich Jahrbuchs“ sowie Expertengespräche mit Politikern und Vertretern der politischen Verwaltung. Im Rahmen seiner Beratungs- und Informationstätigkeit für die Wissenschafts- und Medien-Öffentlichkeit, traten in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Probleme der interkulturellen und transnationalen Kommunikation in den Vordergrund. Dokumentiert wird diese Tätigkeit u.a. in dem vierteljährlich erscheinenden „dfi-aktuell“. 1985 konstituierte sich der informelle Kreis Sozialwissenschaftliche Frankreichforschung, der maßgeblich beitrug zur Gestaltung der Frankreichforscher-Konferenzen und des *„Frankreich Jahrbuchs“, der sich jedoch 2002 infolge eines Generationenwechsels und der teilweisen thematischen Neuorientierung des DFI auflöste. Die Informations- und Beratungstätigkeit sowie die wissenschaftliche Nachwuchsförderung des Instituts erhielten eine solide Basis mit der 1990 gegründeten Frankreich-Bibliothek, die mit Stiftungsgeldern als ein gegenwartsbezogenes, sozialwissenschaftliches Dokumentationszentrum eingerichtet wurde. Die schon in der Gründungsphase begonnenen bibliographischen Arbeiten des DFI wurden damit auf eine breitere Grundlage gestellt. Die Frankreich-Bibliothek wurde dem Informationsverbund „Internationale Beziehungen und Länderkunde“ angeschlossen und damit in den Zusammenhang multilateraler und vergleichender Länder- und Beziehungsstudien gestellt. Der von ihr eingerichtete Literaturdienst Frankreich veröffentlicht eine bibliographische Reihe mit Büchern und Zeitschriften zu den französischen Außenbeziehungen sowie den deutschfranzösischen Beziehungen. Die programmatische Schwerpunktgestaltung des DFI wurde von den Zeitumständen und den Wechselfällen der bilateralen sowie der europäischen Beziehungen maßgeblich beeinflusst. Aber auch die wissenschaftlichen Prägungen und politischen Prob- <?page no="204"?> Deutsch-Französisches Internetportal 204 D lemwahrnehmungen seiner Direktoren hinterließen ihre Spuren. So trug der Historiker *Fritz Schenk von 1948 bis 1972 zur zeitgeschichtlichen und geisteswissenschaftlichen Akzentsetzung des Instituts bei. Der Soziologe *Robert Picht profilierte dessen Arbeit in den Jahren 1972 bis 2002 im sozialwissenschaftlichen Sinne. Unter der Leitung des seit 2002 amtierenden Romanisten Frank Baasner wendet sich das DFI zusätzlich den Problemen der interkulturellen Kommunikation und Semantik zu und bleibt Dienstleister für all jene Institutionen und Personen, die im öffentlichen oder privaten Sektor die deutschfranzösische Kooperation gestalten. Hans Manfred Bock (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998. Hans Manfred Bock Deutsch-Französisches Internetportal Portail franco-allemand Das Deutsch-Französische Internetportal ist die gemeinsame Internetseite des Ministère des affaires étrangères und des Auswärtigen Amtes und versteht sich als Informationsplattform der deutschfranzösischen Partnerschaft (www.deutschlandfrankreich.diplo.de, www.france-allemagne.fr). Ein Grußwort der beiden Beauftragten für die deutsch-französische Zusammenarbeit führt die Nutzer in diesen binationalen Netzauftritt ein, der sich mit gemeinsamen, zweisprachigen Inhalten an ein breites Publikum auch über die Grenzen von Frankreich und Deutschland hinaus richtet. Ursprünglich im Jahr 1999 auf dem 73. deutschfranzösischen Gipfel in Toulouse als deutschfranzösische Internetlink-Sammlung ins Leben gerufen, ging die deutsch-französische Website nach dem 40. Jahrestag des *Élysée-Vertrags im Jahr 2003 in die redaktionelle Zuständigkeit der Außenministerien Deutschlands und Frankreichs über. Die Seite bietet einen Überblick über die bilaterale Zusammenarbeit auf politischer, kultureller, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene sowie über die gesamte Bandbreite der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure des deutsch-französischen Netzwerks. Aktuelle Nachrichten, Grundlagentexte, praktische Hinweise zum Leben, Studieren und Arbeiten im jeweiligen Partnerland sowie Diskussionsforen runden das Angebot der Seite ab. Hilfreich ist überdies die weite Vernetzung mit den Portalen anderer Akteure im deutsch-französischen Umfeld, die es ermöglicht, die wichtigsten Themen schnell auf einschlägigen Websites zu vertiefen. Mit mehr als 30 000 Zugriffen pro Monat und einem sehr guten Ranking bei der Suchmaschine Google hat sich das Deutsch-Französische Internetportal als wichtige Informations- und Diskussionsbasis für die deutsch-französische Freundschaft etabliert. Für das deutsch-französische Jubiläumsjahr „50 Jahre *Élysée-Vertrag“ haben das Ministère des affaires étrangères und das Auswärtige Amt dem deutsch-französischen Internetportal eine Sonderwebsite angegliedert. Hier informiert ein interaktiver Veranstaltungskalender über die vielfältigen Projekte und Akteure in Frankreich und Deutschland im Jubiläumsjahr. Für eigene Veranstaltungen kann über diese Website das offizielle deutsch-französische Jubiläumslogo heruntergeladen werden. Ministère des affaires étrangères, Auswärtiges Amt Deutsch-Französisches Jugendwerk (DFJW) Office franco-allemand pour la jeunesse (OFAJ) Der *Élysée-Vertrag vom 22.1.1963 sah die Schaffung eines „Austausch- und Förderungswerk[s] der beiden Länder“ vor, „um die Bande, die zwischen der deutschen und französischen Jugend bestehen, enger zu gestalten und ihr Verständnis füreinander zu vertiefen“. Zum Ausbau der deutschfranzösischen *Jugendbeziehungen wurde daher am 5.7.1963 das DFJW gegründet. Im Verlauf seines Bestehens hat sich zwar manches in der Struktur (Sitz, Zusammensetzung des Verwaltungsrats, Amtszeit der Generalsekretäre usw.) und in den Programmen verändert, seine Grundprinzipien von 1963 blieben jedoch unangetastet. Über die Aufgaben des DFJW heißt es in der jüngsten Fassung des Abkommens (2005): „Das Deutsch-Französische Jugendwerk hat die Aufgabe, die Beziehungen zwischen Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und für die Jugendarbeit Verantwortlichen in beiden Ländern zu vertiefen. Zu diesem Zweck trägt es zur Vermittlung der Kultur des Partners bei, fördert das interkulturelle Lernen, unterstützt die berufliche Qualifizie- <?page no="205"?> Deutsch-Französisches Jugendwerk (DFJW) D 205 rung, stärkt gemeinsame Projekte für bürgerschaftliches Engagement, sensibilisiert für die besondere Verantwortung Deutschlands und Frankreichs in Europa und motiviert junge Menschen, die Partnersprache zu erlernen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk ist ein Kompetenzzentrum für die Regierungen beider Länder. Es fungiert als Berater und Mittler zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen sowie den Akteuren der Zivilgesellschaft in Deutschland und Frankreich.“ An der Spitze des Jugendwerks steht ein binationaler Verwaltungsrat. 2005 wurde er auf 14 Mitglieder (jeweils sieben Deutsche und sieben Franzosen) reduziert und besteht nur noch aus den beiden Vorsitzenden (den für Jugendfragen zuständigen Ministern bzw. Ministerinnen) sowie zwölf Mitgliedern, die paritätisch von jeder Regierung ernannt werden; sechs von ihnen vertreten die öffentliche Verwaltung der beiden Länder (Außenministerium, Finanzministerium und Ministerium für Jugendfragen), zwei vertreten die Gebietskörperschaften, zwei die Nationalversammlungen (Bundestag, Assemblée nationale) und zwei die Jugend. Der Verwaltungsrat ist die beschlussfassende Instanz des DFJW, sowohl für die organisatorischen und finanziellen als auch für die inhaltlichen Entscheidungen. Ein aus 24 Mitgliedern zusammengesetzter Beirat unterstützt die Arbeit des Verwaltungsrats. Er erarbeitet, unter maßgeblicher Mitwirkung der Partner und Adressaten des DFJW, Stellungnahmen und Empfehlungen hinsichtlich der Zielsetzungen und der Programme und lässt sie dem Verwaltungsrat zukommen. Neben den beiden Vertretungen der Jugendministerien umfasst der Beirat 22 Mitglieder (darunter vier Jugendliche), die nach Staatsangehörigkeit paritätisch von den beiden Regierungen ernannt werden; sie müssen aus den Bereichen der Zivilgesellschaft, der Bildung, der Universität, der Kultur, der Wirtschaft und der deutsch-französischen Institutionen kommen. Das Generalsekretariat ist das ausführende, mit der Verwaltung des DFJW beauftragte Organ des Verwaltungsrats. An seiner Spitze steht ein deutsch-französisches Tandem: Zwei Generalsekretäre, die Staatsangehörige einer der beiden Staaten und unterschiedlicher Staatsangehörigkeit sein müssen. Beide werden durch die beiden Regierungen für eine Amtszeit von jeweils sechs Jahren ernannt, die um drei Jahre zeitversetzt beginnt. Die 83 Mitarbeiter des Jugendwerks arbeiten in binational besetzten Referaten an den beiden Standorten Paris (dem Sitz des DFJW) und Berlin. Das DFJW verfügt über einen Haushalt, dessen Grundstock sich aus (gleich hohen) Beiträgen der deutschen und französischen Regierung zusammensetzt. Zusätzlich erhält es Mittel aus Sonderfonds, z.B. für den Austausch mit den mittel- und osteuropäischen Ländern oder für Programme zugunsten junger Arbeitsloser. Im Jahr 2012 betrug der Haushalt 20,8 Millionen Euro. Auf der Ausgabenseite ist zu bemerken, dass laut Tätigkeitsbericht des DFJW 2011 82,57 % der Zweckausgaben in die Gruppenaustauschprogramme geflossen sind (188 269 Teilnehmer) und 17,43 % in den Individualaustausch (5 445 Teilnehmer). Die Mittel verteilen sich auf die Referate: Schulischer und außerschulischer Austausch, Berufsausbildung und Hochschulaustausch, Interkulturelle Aus- und Fortbildung, Zukunftswerkstatt sowie Trinationale Begegnungen und Presse. Zu den Arbeitsbereichen des DFJW in den ersten Jahren (Schüler- und Lehreraustausch, Sportler-Begegnungen, Sprachkurse, Studienaufenthalte usw.) sind nach und nach andere Programme gekommen, die heute ein breit gefächertes Angebot von Möglichkeiten bieten, die Kenntnis des Nachbarlandes zu vertiefen, Kontakte zu pflegen und dabei auch das eigene berufliche Vorankommen zu begünstigen. Um hier nur einige Zahlen (aus dem Jahr 2008) zu nennen: - Schüleraustausch: 3 000 Begegnungen von Schulklassen mit über 67 000 Schülern der Sekundarstufe und 3 100 Schülern der Primarstufe; 3 200 Schüler im individuellen Austausch (Voltaire- und *Sauzay-Programm); Lehrerfortbildung im Bereich der Austauschpädagogik; - Studentenaustausch: 136 Programme mit über 3 500 Studenten; - Auszubildende, junge Arbeitssuchende, junge Berufstätige: mehr als 1 200 Begegnungen und 11 200 Jugendlich pro Jahr; außerschulische Jugendbegegnungen: 1 200 Programme mit über 36 000 Teilnehmern, durchgeführt von Jugendverbänden, Städtepartnerschaftskomitees, Sportvereinen und Vereinen aus dem Kunst- und Kulturbereich, Programme zu wissenschaftlichen und technischen Fragestellungen; - Erlernen der Partnersprache: 355 Programme, außerschulische Sprachkurse und sprachliche Vorbereitung des Austauschs, Ausbildung für Sprachanimateure, Gruppendolmetscher und Lehrer. <?page no="206"?> Deutsch-Französisches Kulturabkommen 206 D - Pädagogik des interkulturellen Lernens: 142 bi- und trinationale Aus- und Weiterbildungsprogramme zu Themen interkultureller Pädagogik mit rund 2 500 Teilnehmern, hinzu kommt auch eine intensive Forschungs- und Publikationsarbeit; - Drittländerprogramme: 226 trinationale Begegnungen mit 6 000 Jugendlichen aus Deutschland, Frankreich und 36 Drittländern; schwerpunktmäßig mit den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie den Ländern des Mittelmeerraums. Das DFJW arbeitet prinzipiell nach dem Subsidiaritätsprinzip und die Mehrzahl der Programme wird von Partnerorganisationen (Jugendverbänden, Verbänden aus den Bereichen Sport, Kultur, Wissenschaft und Technik, Schulen und Universitäten, Ausbildungszentren, Handwerkskammern, Partnerschaftskomitees, Organisationen, Ministerien, Stiftungen, Unternehmen usw.) getragen. Es unterstützt seine Partner bei finanziellen, pädagogischen und sprachlichen Fragen des Austauschs und leistet Hilfe bei der inhaltlichen Vorbereitung bzw. Analyse von Begegnungen, informiert und berät. Dabei greift das DFJW immer wieder aktuelle Themen auf, die die Jugend in beiden Ländern bewegen (Integration, bürgerschaftliches Engagement, Jugendkultur, Zukunft Europas, wissenschaftlich-technische Themen usw.). Die acht Millionen jungen Deutschen und Franzosen, die das DFJW seit 1963 in ca. 300 000 Austauschprogrammen zusammengeführt hat, sind gewiss ein entscheidender Beitrag für die positive Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen in der Nachkriegszeit. Durch eine vertiefte persönliche Kenntnis des Nachbarlandes, durch die vielfältigen dauerhaften Beziehungen zwischen seinen jungen Bürgern entstand ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit, das ein wertvolles Fundament der europäischen Einigung ist. Als Modell eines erfolgreichen Versuchs, tief verwurzelte Vorurteile und Missverständnisse zwischen benachbarten, lange Zeit verfeindeten Völkern durch systematische Pflege der Begegnung und des Austausch zwischen Jugendlichen zu überwinden, hat das DFJW eine exemplarische Bedeutung nicht nur für die beiden Länder, die dieses Experiment gewagt hatten, sondern auch für andere Regionen Europas. Henri Ménudier, L’Office franco-allemand pour la jeunesse, Paris 1981 (deutsch: Bonn 1991); Hans Manfred Bock (Hg.) Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003; Hans Manfred Bock, Corine Defrance, Gilbert Krebs, Ulrich Pfeil (Hg.), Les jeunes dans les relations transnationales. L’Office Franco-Allemand pour la Jeunesse 1963-2008, Paris 2008. Gilbert Krebs Deutsch-Französisches Kulturabkommen Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 maßen die Regierungen in Bonn und Paris dem Faktor Kultur für die beiderseitige Verständigung einen hohen Stellenwert zu. Doch zu einem bilateralen Kulturabkommen rangen sie sich erst fünf Jahre später, im Oktober 1954, durch. Dabei hatten erste Sondierungen zwischen dem Leiter des Kulturreferates der Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten im Bundeskanzleramt, Rudolf Salat, und dem Directeur général des affaires culturelles des Haut-Commissariat de la République Française en Allemagne (Bonn), *Raymond Schmittlein, bereits im Juli 1950 stattgefunden. Anfang Februar 1952 legte das Pariser Außenministerium dann einen Vorentwurf zum Kulturabkommen vor, der vom Bonner Auswärtigen Amt indes verworfen wurde, weil er die Einbeziehung der Bundesländer in die Verhandlungen vorsah und deren Vertragsmitzeichnung verlangte. Da die Bundesregierung die Gestaltung der auswärtigen Kulturbeziehungen für sich reklamierte, gestand sie den Ländern lediglich zu, ihre Auffassungen vor dem Abschluss eines Abkommens darzulegen. Nach mehrmonatigen Beratungen verständigten sich das Haut-Commissariat und das Auswärtige Amt im Juli 1953 auf einen neuen Vertragsentwurf. Darin erklärten sie sich bereit, den Austausch von Professoren, *Lektoren, Assistenten und Leitern kultureller Zusammenschlüsse zu organisieren, Ferienkurse für Lehrpersonal, Studenten und Schüler zu unterstützen, die Zusammenarbeit zwischen den Jugendorganisationen zu begünstigen sowie Beihilfen und Stipendien bereitzustellen. Beide Parteien verpflichteten sich außerdem dazu, auf eine Anerkennung von Diplomen und Zeugnissen hinzuarbeiten und kulturelle Veranstaltungen des Nachbarn zu begünstigen. Sie bekräftigten ferner den Wunsch nach freier Einfuhr von Werken und Dokumenten kulturellen Charakters, bestätigten, zur Lösung finanzieller Probleme beizutragen, die sich aus dem kul- <?page no="207"?> Deutsch-französisches Schulgeschichtsbuch D 207 turellen Wirken des Partners auf ihrem Gebiet ergäben, unterstrichen das Objektivitätsgebot in Lehrbüchern und äußerten die Absicht, sich im Hinblick auf die Wahrnehmung der gemeinsamen Kulturinteressen im Ausland gegenseitig zu konsultieren. „Soweit irgend möglich“ gedachten sie schließlich Sorge dafür zu tragen, dass Deutsch bzw. Französisch an den Schulen beider Staaten als erste oder zweite obligatorische moderne Sprache unterrichtet würde (*Sprachenpolitik, *Deutsche Sprache in Frankreich, *Französisch in Deutschland). Die Umsetzung dieser Bestimmung sollte Gegenstand besonderer Verhandlungen zwischen den Bundesländern und Frankreich sein. Zur Regelung aller Fragen, die sich aus der Durchführung des Vertrags ergäben, wurde die Bildung eines ständigen Kulturausschusses in Aussicht genommen. Die nun aufkeimende Hoffnung auf einen baldigen Vertragsabschluss erwies sich als trügerisch. Noch immer war die Bundesregierung nicht bereit, den Bundesländern ein Mitspracherecht einzuräumen. Zu einer Auflösung der Blockade kam es erst, als Adenauer die Angelegenheit im Vorfeld der Pariser Konferenzen vom Herbst 1954 zur Chefsache erklärte. In Übereinstimmung mit dem französischen Vorschlag vom Vorjahr willigte die Bundesregierung nun doch in einen Schriftwechsel zur Frage des Fremdsprachenunterrichts ein. Vier Tage nach diesem Zugeständnis unterzeichnete Adenauer mit Ministerpräsident Pierre Mendès France und Erziehungsminister Jean Berthoin am 23.10.1954 das Kulturabkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik, für die Bonner Republik das erste dieser Art. In seiner definitiven Form stimmte es wesentlich mit der Fassung vom Juli 1953 überein. Nur zwei Punkte hatten sich erheblich geändert. Die Vertragsdauer war nun auf „mindestens“ fünf Jahre festgelegt, und statt der Sondervereinbarung mit den Bundesländern richtete Mendès France ein Schreiben an Adenauer, in dem er die Erwartung äußerte, dass die französische Sprache und Literatur an höheren Schulen der Bundesrepublik analog zu den Bedingungen des Deutschunterrichts in Frankreich gelehrt würden. In seiner Antwort teilte Adenauer mit, dass die dargestellte Disposition seine „volle Unterstützung“ fände. Der Kunstgriff des Briefwechsels sollte die Crux des Abkommens, Dinge regeln zu wollen, die laut Grundgesetz zum großen Teil in die Zuständigkeit der Bundesländer fielen, nicht bereinigen. Noch ehe die Ratifikationsurkunden am 28.7.1955 ausgetauscht waren, erklärten die Regierungschefs der Bundesländer Englisch im Düsseldorfer Schulabkommen vom 16. und 17.2.1955 zur ersten Fremdsprache. Auch der mit erheblicher Verspätung 1957 ins Leben gerufene deutsch-französische Kulturausschuss konnte an dieser Prioritätensetzung nichts ändern. Obwohl der *Élysée- Vertrag vom 22.1.1963 die Absicht bekräftigte, die Zahl der Französisch lernenden deutschen Kinder zu erhöhen, schrieben die Bundesländer im Hamburger Schulabkommen vom 28.10.1964 Englisch als erste lebende Fremdsprache fest. Sieben Jahre später erfolgte zwar eine Revision, derzufolge den deutschen Schülern nun auch andere moderne Sprachen sowie Latein als erste Fremdsprache angeboten werden sollten. Da diese Bestimmung jedoch von der Wahrung der Einheitlichkeit des bundesdeutschen Schulwesens abhängig gemacht wurde, blieb der von Rudolf Salat und *Raymond Schmittlein 1950 geäußerte Wunsch nach einer kulturpolitischen „Meistbegünstigung“ zumindest in diesem Punkt unerfüllt. Margarete Sturm, Un texte tombé dans l’oubli: l’accord culturel franco-allemand du 23 octobre 1954, in: Allemagnes d’aujourd’hui 84 (1983), S. 9-22; Ulrich Lappenküper, „Sprachlose Freundschaft“? Zur Genese des deutsch-französischen Kulturabkommens vom 23. Oktober 1954, in: Lendemains 21 (1996) 84, S. 67-82; ders., Das deutsch-französische Kulturabkommen von 1954. Erträge und Defizite kultureller Verständigung zwischen der Bundesrepublik und Frankreich in den fünfziger Jahren, in: Martin Schieder, Isabelle Ewig (Hg.), In die Freiheit geworfen. Positionen zur deutschfranzösischen Kunstgeschichte nach 1945, Berlin 2006, S. 67-81. Ulrich Lappenküper Deutsch-französisches Schulgeschichtsbuch Im Sommer 2006 erschien in Deutschland und Frankreich bei den Verlagen Klett und Nathan ein gänzlich neues Produkt mit dem Titel „Histoire/ Geschichte. Europa und die Welt seit 1945“ auf dem Schulbuchmarkt. Das deutsch-französische Geschichtsbuch kann sich jedoch auf eine lange Vorgeschichte stützen. So finden sich seine Ursprünge bereits in den 1920er Jahren in den Versuchen von Historikern, Schulgeschichtsbü- <?page no="208"?> DeutschMobil - FranceMobil 208 D cher von nationalistischen Perspektiven zu befreien und damit einen friedensstiftenden Beitrag zu leisten. Im gleichen Geist standen die Anfang der 1950er Jahre begonnenen deutsch-französischen Schulbuchgespräche, die sich unter Beteiligung von Georg Eckert, *Pierre Renouvin, *Jacques Droz u.a. systematisch mit den verschiedenen Epochen der Geschichte beschäftigten. So kam der Vorschlag des vom *DFJW organisierten Deutsch-Französischen Jugendparlaments im Jahre 2003, „ein Geschichtsbuch mit gleichem Inhalt für beide Länder einzuführen, um durch Unwissenheit bedingte Vorurteile abzubauen“, keineswegs aus dem Nichts. Bei dem fertigen Produkt handelt sich um das erste deutsch-französische Lehrwerk für Geschichte und ist nicht alleine für Schüler in Frankreich gedacht, die Deutsch bzw. Schüler in Deutschland, die Französisch lernen, sondern auch für den allgemeinen Geschichtsunterricht an Gymnasien und lycées geeignet. Der erste Band ist dabei für Schüler der 12. bzw. 13. Klasse ( terminale ) bestimmt, die sich auf das Abitur bzw. baccalauréat vorbereiten. Der im April 2008 erschienene zweite Band umfasst den Zeitraum von 1815 bis 1945 und ist für Schüler der 11. bzw. 12. Klassen konzipiert. Der dritte und letzte (im Frühjahr 2011 erschienene) Band des Lehrbuchs ist für 10. bzw. 11. Klassen bestimmt und zieht den Bogen von der Antike bis zur Napoleonischen Ära. Bei der praktischen Umsetzung des Projektes galt es zunächst, die bildungspolitischen Grundlagen zu schaffen und zentralistische mit föderalen Schultraditionen miteinander in Einklang zu bringen. Zudem mussten unterschiedliche pädagogische und didaktische Unterrichtstraditionen zusammengeführt werden, um anschließend einen gemeinsamen Lehrplan zu entwerfen. Unter der Leitung von Historikern und Geschichtslehrern aus beiden Ländern entwarfen dann deutsch-französische Autorentandems die einzelnen Kapitel, die einen Kompromiss der verschiedenen Traditionen darstellen. Das Echo in der deutschen und französischen Öffentlichkeit war von Beginn an sehr groß; darüber hinaus interessierten sich aber auch andere Länder für das binationale Schulbuch, um ihrerseits Anregungen für eigene Projekte zu finden. Mittlerweile gelten derartige Schulbuchprojekte als probates Mittel, um ehemals verfeindete Nachbarn miteinander zu versöhnen, doch gilt es dabei zu bedenken, dass das deutsch-französische Geschichtsbuch eine lange Vorgeschichte hat und auf einer institutionalisierten, aktiven und eingespielten Forschungskooperation aufbauen konnte. So war es nie als Mittel zur *Versöhnung konzipiert, sondern das Produkt politischen Willens und einer funktionierenden Zusammenarbeit zwischen den Historikern beider Länder. Ob es sich tatsächlich neben anderen Schulgeschichtsbüchern auf dem Markt durchsetzen kann, wird erst die Zukunft entscheiden. Rainer Bendick, Irrwege und Wege aus der Feindschaft. Deutsch-französische Schulbuchgespräche im 20. Jahrhundert, in: Kurt Hochstuhl (Hg.), Deutsche und Franzosen im zusammenwachsenden Europa 1945-2000, Stuttgart 2003, S. 73-103; Franziska Flucke, Das deutsch-französische Geschichtsbuch. Transnationale Potentiale und nationale Hindernisse in der pädagogischen Praxis, in: Dorothée Röseberg, Marie- Therese Mäder (Hg.), Le Franco-Allemand. Herausforderungen transnationaler Vernetzung. Enjeux des réseaux transnationaux, Berlin 2014, 163-178; Reiner Marcowitz, Ulrich Pfeil, Das deutsch-französische Schulgeschichtsbuch, in: Dokumente 62 (2006) 5; Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Historischer Perspektivenwechsel. Das deutsch-französische Geschichtsbuch: Vorgeschichte und Realisierung, in: Frankreich Jahrbuch 2009 (2010), S. 95-112. Corine Defrance, Ulrich Pfeil DeutschMobil - FranceMobil DeutschMobil ist eine Aktion zur Förderung der deutschen Sprache und Kultur an französischen Schulen, die auf Initiative des Gründungspräsidenten der *Föderation deutsch-französischer Häuser, Kurt Brenner, im Jahre 2000 ins Leben gerufen wurde. Es ist ein Gemeinschaftsprogramm der *Föderation deutsch-französischer Häuser und der Robert Bosch Stiftung (*Stiftungen), mit der Unterstützung von Mercedes-Benz France und des *DAAD. Träger war bis 2014 das deutsche Kulturinstitut Heidelberg-Haus in Montpellier, das auch Sitz der Geschäftsführung ist. Dieses deutsch-französische Kooperationsprojekt steht unter der Schirmherrschaft des jeweiligen Bevollmächtigten der Bundesrepublik für kulturelle Angelegenheiten mit Frankreich (*Kulturbevollmächtigter) und dem französischen Ministère de l’éducation nationale. Als *Lektoren eingesetzte junge deutsche Hochschulabsolventen besuchen Grundschulen, <?page no="209"?> Deutschsprachige Schriftsteller in Frankreich D 209 collèges sowie lycées , um dort für die Sprachenvielfalt sowie die deutsche Sprache und Kultur zu werben (*Sprachenpolitik). In so genannten Sprachanimationen werden den französischen Schülern erste deutsche Wörter sowie ein aktuelles Deutschlandbild vermittelt. Die Sprachwerbeaktion will sowohl den sinkenden Deutschlernerzahlen an französischen Schulen entgegenwirken, als auch das oft veraltete, einseitige Deutschlandbild der französischen Schüler aktualisieren und differenzieren. Schülergruppen, die bereits Deutsch lernen, werden darüber hinaus über Studien- und Karrieremöglichkeiten im deutsch-französischen Kontext, z.B. im Rahmen der von der *Deutsch-Französischen Hochschule angebotenen Studiengänge, informiert. Bei ihren Sprachanimationen reisen die DeutschMobil-*Lektoren in den von Mercedes-Benz bereitgestellten Vans von Schule zu Schule um Schüler, Eltern, Lehrer und Schulleiter vor Ort zu informieren und in Zusammenarbeit mit Repräsentanten anderer Fremdsprachen eine Orientierungshilfe bei der Fremdsprachenwahl zu geben. Zunächst wurden vier *Lektorate in den Regionen Languedoc-Roussillon, Burgund, Pays de la Loire und Provence-Alpes-Côte d’Azur geschaffen. Aufgrund des immensen Erfolges dieser Sprachwerbeaktion und der damit einhergehenden großen Nachfrage seitens der französischen Schulen, ist die DeutschMobil-Flotte inzwischen in sechs weiteren Regionen (Aquitaine, Ile-de-France, Lorraine, Midi-Pyrénées, Normandie und Rhône-Alpes) vertreten und deckt somit (fast) ganz Frankreich ab. Im Laufe der Jahre konnten weitere Träger für das Programm gewonnen werden: Auch das Auswärtige Amt und französische Gebietskörperschaften (die Regionen Aquitaine, Midi-Pyrénées sowie Rhône-Alpes) unterstützen das Projekt finanziell. In Städten ohne deutsch-französisches Kulturinstitut dienen *Goethe-Institute als logistische Anlaufstellen. Ferner treten das *DFJW, die Verlage Hueber, Klett und Langenscheidt sowie *ARTE als Partner in Erscheinung. Das Programm wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, zum Beispiel mit dem Initiativpreis Deutsche Sprache 2003, der durch den Verein Deutsche Sprache vergeben wird, und dem Europäischen Sprachensiegel 2011 der Agence Europe éducation formation France. Darüber hinaus erhielt das Projekt, gemeinsam mit seiner Schwesteraktion FranceMobil 2003 den *Prix de Gaulle-Adenauer. Als Parallelaktion zum DeutschMobil schuf die Robert Bosch Stiftung (*Stiftungen) gemeinsam mit der französischen Botschaft in Berlin 2002 das FranceMobil. Ähnlich wie beim Partnerprogramm liegen die pädagogischen Ziele dieses Projekts in der Vermittlung eines aktuellen, dynamischen Frankreichbildes, der Motivation des Fremdsprachenerwerbs und der Information über Studienmöglichkeiten und Karrierevorteile bei Beherrschung der französischen Sprache. Die angesprochene Zielgruppe umfasst sowohl Vorschulkinder und Schüler im Primarbereich als auch die der Sekundarstufe II. Jedes der insgesamt zwölf *Lektorate ist entweder an ein Centre culturel français oder an eines der *Instituts français in Deutschland angegliedert. Koordiniert wird das Programm von der französischen Botschaft in Berlin. Der französische Automobilhersteller Renault stellt zwölf Fahrzeuge zur Verfügung, in denen die FranceMobil-*Lektoren Kindergärten, Grund-, Real- und Berufsschulen sowie Gymnasien in ganz Deutschland besuchen, um Interesse an der Kultur und Sprache Frankreichs zu wecken. Projektpartner sind auch hier einige Schulbuchverlage sowie der deutsch-französische Kultursender *ARTE. 2014-2015 setzen die DeutschMobile ein Jahr aus, bevor sie unter stärkerer Einbindung des *DFJW und des *Goethe-Instituts mit erneuerter Konzeption ab Herbst 2015 wieder zum Einsatz kommen sollen. Cornelia Klingebiel Deutschsprachige Schriftsteller in Frankreich Im weitesten Sinne verstanden umfasst dieses Thema mit vielen Facetten, zumindest für die letzten Jahrzehnte, beinahe alle Autoren, denn sie dürften mit wenigen Ausnahmen zumindest als Besucher dort gewesen sein. Verhältnisse wie im Vormärz, wo Autoren wie Heinrich Heine ganz nach Paris übergesiedelt sind und andere wie Eduard Mörike, nicht einmal den Rhein gesehen haben, gibt es nicht mehr. Es riskiert auch niemand mehr, an der Grenze aus politischen Gründen verhaftet zu werden. So konzentriert sich unser Interesse auf Autoren, die in deutscher Sprache schreiben - prominente Ausnahmen sind sehr selten, im Gegensatz zu zahlreichen Autoren aus Südosteuropa - aber Frankreich für längere Zeit zum Lebensort gewählt haben. <?page no="210"?> Deutschsprachige Schriftsteller in Frankreich 210 D Ein längerer Aufenthalt in Frankreich kann viele Gründe haben, nicht immer sind sie bekannt. Autoren, die sich in Frankreich angesiedelt haben, ohne dass dies thematisch Niedergeschlag gefunden hätte. Die ersten Jahre nach Kriegsende sind noch weitgehend bestimmt von den beiden grundsätzlich differenten Erfahrungsweisen, die die deutschen Autoren vor 1945 in Frankreich machen konnten: als Soldat oder als Exilierter. *Ernst Jünger hat Frankreich als Soldat im Ersten („In Stahlgewittern“) und als hochrangiger Besatzungsoffizier im Zweiten Weltkrieg kennengelernt. Nach 1945 in der Bundesrepublik lebend, kehrte er, vom literarischen Frankreich bis hin zum damaligen Präsidenten François Mitterrand hoch geehrt, mehrere Male in offizieller Mission an symbolische Orte wie Verdun oder zum Jahrestag des *Élysée-Vertrags nach Paris zurück. Auch in seinem Werk spielte Frankreich eine Rolle. Sein kühler Enthusiasmus galt der vorrevolutionären, aristokratischen Vergangenheit Frankreichs, wie die beiden „Pariser Tagebücher“ (1949), sein Text über den Moralisten „Rivarol“ (1956) oder die Erzählung „Eine gefährliche Begegnung“ (1985) belegen. *Jüngers ästhetisiertes aristokratisches Frankreich ist in den folgenden Jahrzehnten weitgehend aus der deutschen Literatur verschwunden, teils, weil es sich aufgelöst hat, teils, weil die deutschen Autoren den Zugang hierzu mehr und mehr verloren haben. Aus dem französischen Exil führte erstaunlicherweise kaum ein direkter biographischer Strang zur deutschen Literatur in Frankreich nach 1945. In diesem Exil war zwischen 1933 und 1939 ein großer Teil der nennenswerten deutschen Literatur entstanden, bevor die deutschen Besatzer die Autoren vertrieben oder umbrachten. Nach 1945 kehrten die meisten von ihnen zurück in den deutschen Sprachraum, viele zunächst in die SBZ/ DDR, andere in die Schweiz, wenige in die Westzonen. Auch *Alfred Döblin kehrte als französischer Besatzungsoffizier nach Deutschland zurück, bevor er, zutiefst enttäuscht von dem, was er dort vorfand, erneut ins französische Exil ging. Sein spätes Tagebuch „Journal 1952/ 53“ zeigte ihn, krank und isoliert in einem Paris, das allen Glanz verloren hatte. Er war nicht der Einzige im „Exil nach dem Exil“, wie Marion Gees am Beispiel der Tagebuchliteratur von Thea Sternheim oder Unica Zürn gezeigt hat, aber er war der prominenteste. Die Grundzüge des Frankreichbilds, das die kritische Intelligenz der Bundesrepublik entwickeln sollte, findet sich paradigmatisch verdichtet in kleinen Texten von Heinrich Böll aus den 1950er Jahren, gewonnen auf Gruppenreisen deutscher Schriftsteller (*Deutsch-französische Schriftstellertreffen). Böll war fasziniert von der Weltstadt, die Deutschland fehlte, von der Traditionssättigung, er plädierte für Versöhnung und schrieb an gegen das überkommene Bild vom „Lusthaus“ Paris. Am auffälligsten ist, dass er das zumeist abwertend gemeinte deutsche Urteil, in Frankreich werde weniger gearbeitet, dahingehend umwertet, dass er dem „deutschen“ Prinzip der Effektivität und der Akkumulation das „natürliche“ der Bedürfnisdeckung gegenüberstellte. Günter Grass hingegen lebte zwischen 1956 und 1960 in Paris, kaum bekannt und kaum integriert. Freilich schrieb er damals nicht über Frankreich, sondern an seiner Danziger Trilogie. Das ist ein fortdauerndes Motiv für die zeitweise Ansiedlung deutscher Autoren in Frankreich: In der Fremde wird die Distanz zu den alltäglichen Verhältnissen gewonnen, die Voraussetzung für das Schreiben überhaupt ist - nicht nur zu den deutschen übrigens. Auch z.B. für den Schweizer Paul Nizon (u.a. „Die Innenseite des Mantels“, 1995) war die Fremdheit in Paris Voraussetzung literarischer Vision. In Grass‘ großem „Wenderoman“ „Ein weites Feld“ (1994) gewinnt dann Frankreich spät doch noch sichtbar Gestalt als Alpha und Omega deutscher Geschichte: So stehen am Anfang Preußens die Hugenotten und am Ende die ländliche, widerständisch protestantische Tradition der Cevennen. Damit wird Frankreich zum dritten Weg zwischen den beiden (falschen) Wegen der beiden deutschen Staaten. Das Werk *Lothar Baiers lebte von dieser Hoffnung und endete mit ihrer Enttäuschung, sowohl der Hoffnung auf die „Cevennen“ („Jahresfrist“, 1985 ) als auch auf die „Firma Frankreich“ (1988). Spuren davon finden sich auch noch im Werk von Birgit Vanderbeeke und Peter Kurzeck, beide zumindest zeitweise am Fuße der Cevennen angesiedelt. Genannt sei in diesem Zusammenhang auch Hubert Fichtes Bericht über seinen Aufenthalt in der Haute Provence „Versuch über die Pubertät“ (1974). <?page no="211"?> Dietrich, Marlene D 211 Die Motive des späten Exils, der Gegnerschaft zur Bundesrepublik, die den Völkermord an den Juden so lange verdrängte und der Suche nach Anerkennung in der Kunsthauptstadt Europas verknüpfen sich am engsten in den Biographien von *Paul Celan und *Peter Weiss, zwei Autoren, die Auschwitz entgangen waren. *Celan, staatenlos, besitzlos, arbeitslos, namenlos als er 1948 in Paris ankam, wurde 1955 eingebürgert, beherrschte die französische Sprache, fand eine französische Frau, prominente französische Freunde und eine angesehene Stellung an der ENS und lebte doch die Exilerfahrung des „gänzlich allein“ bis zu seinem Freitod im Jahre 1970. Was Frankreich für sein Werk bedeutet, harrt noch der Untersuchung, deutet sich aber an in der Schlusszeile des Gedichts „Erinnerung an Frankreich“: „Wir waren tot und konnten atmen“. Die lange Geschichte, die *Peter Weiss mit Paris verbindet, wurde von Günter Schütz gründlich erforscht. Weiss, auch er ein ewiger Exilierter, hat sich nie in Paris angesiedelt, aber die Stadt war der Fluchtpunkt seiner Suche nach künstlerischer Anerkennung und dann, später, seiner politischen Orientierung. Unzählige Briefe, Tagebucheintragungen, aber auch fiktionale Texte, u.a. „Die Ästhetik des Widerstands“ (Bd. 2, 1978) zeugen davon. Die Texte der jüngeren Autoren, (z.B. Jakob Arjouni, Undine Gruenter, Michael Kleeberg) die aufgrund französischer Erfahrungen entstanden und von Frankreich handeln, sind, wie die deutschfranzösischen Verhältnisse überhaupt, von den großen Erwartungen und ideologischen Projekten weitgehend entfrachtet. Die Autoren leben häufig an zwei Orten, ihr inneres Zerwürfnis mit Deutschland ist kaum noch fundamental zu nennen, von Exil kann keine Rede sein. Vielleicht ist trotz seiner Einzigartigkeit Peter Handke, der seit über 20 Jahren in der Nähe von Paris lebt und zahlreiche Tagebücher und Prosatexte („Mein Jahr in der Niemandsbucht“, 1994) in dieser Zeit verfasst hat, hier ein Vorläufer. Sein Schreibtisch bei Paris ist ihm „Bleibe“; er notiert, was er sieht, aber meidet den großen epischen Wurf. Marion Gees, Schreibort Paris. Zur deutschsprachigen Tagebuch- und Journalliteratur 1945 bis 2000, Bielefeld 2006; Karl Heinz Götze, Frankreichfaszination in der deutschen Literatur seit der Weimarer Republik. Fünf Beispiele: Tucholsky, Sieburg, Ernst Jünger, Böll, Grass, in: Dorothee Röseberg, Heinz Thoma (Hg.), Interkulturalität und wissenschaftliche Kanonbildung. Frankreich als Forschungsgegenstand einer interkulturellen Kulturwissenschaft, Berlin 2008; Günter Schütz, Peter Weiss und Paris. Prolegomena zu einer Biographie, 2 Bde., Sankt Ingbert 2004/ 2011. Karl Heinz Götze Dietrich, Marlene Die Liebe zu Jean Gabin und ihr politisches Engagement gegen den Nationalsozialismus brachten Marlene Dietrich (1901-1992) im September 1945 nach Paris. In den letzten beiden Kriegsjahren hatte sie die amerikanischen Truppen in Europa mit Shows moralisch unterstützt; nun sah sie ihre Zukunft mit Gabin in Frankreich. Sie tauchte tief ein in die europäische Kultur, wollte Gérard Philipe und Roberto Rossellini nach Amerika bringen und am liebsten gar nicht mehr filmen. Daraus wurde nichts und auch die Verbindung zu Gabin endete abrupt. Was blieb, war ihre Liebe zu Frankreich, deren Fundament schon im Jahr 1933 gelegt worden war, als Marlene, statt zurück nach Berlin und in die Arme des Dritten Reiches, nach Paris fuhr und vorerst keinen deutschen Boden mehr betrat. 1939 wurde sie amerikanische Staatsbürgerin, Frankreich jedoch entwickelte sich zu ihrer kulturellen Heimat - zunächst aus Neigung, nach 1945 aber auch als Reaktion auf die Vorwürfe aus der Bundesrepublik, sie habe mit ihrem Engagement im Zweiten Weltkrieg Deutschland verraten. Die Franzosen dagegen waren stolz auf sie - das Lothringer Kreuz sowie die Ernennung zum chevalier , später officier und schließlich sogar zum commandeur der Légion d’honneur verbanden Dietrich eng mit Frankreich. Als sie Anfang der 1950er Jahre eine neue Karriere als Sängerin begann, charakterisierte sie sich selbst zur großen Verwunderung der Amerikaner als diseuse . Sie sah sich in dieser großen, in Frankreich begründeten Tradition des Sprechgesangs, den sie auf der Berliner Bühne gelernt hatte und international bekannt machte. Édith Piaf, Yves Montand und Maurice Chevalier waren ihre französischen Freunde, dazu kam der Kreis um Jean Cocteau und all jene internationalen Künstler, die Paris zu ihrer Wahlheimat gemacht hatten. Natürlich kaufte sie ihre Kleider bei Chanel und Dior (*Mode); ihre große und uneingeschränkte Bewunderung galt dem Modeschöpfer Cristóbal Balenciaga. <?page no="212"?> Distelbarth, Paul H. 212 D Jahre, ja Jahrzehnte tourte Marlene mit ihrer Show aus deutschen, französischen und amerikanischen Songs durch die Städte der Welt. Als sie 1974 von der Bühne stürzte und sich wenig später in ihrer Wohnung in Paris die Hüfte brach, begann der letzte Teil ihrer Karriere, der auf immer mit Paris verbunden bleiben wird. Sie verließ ihre Wohnung nicht mehr, empfing mit Ausnahme ihrer Sekretärin und ihrer Familie niemanden und wurde zu einem noch größeren Mythos als je zuvor. Allein mit ihrer Stimme dokumentierte sie, dass sie nichts an Lebenskraft und Energie eingebüßt hatte; und diese Stimme ohne Gesicht rief jene Bilder hervor, die sie der Welt in den Jahren zuvor im Überfluss gegeben hatte - ungetrübt von Alter, Krankheit oder Gebrechlichkeit. Wahrscheinlich war sie der einzige lebende Mensch, der es geschafft hatte, gleichzeitig sichtbar und unsichtbar, real und imaginär zu sein. Paris war ihre Burg und ihre Festung geworden. In ihrer Autobiographie resümiert sie: „Wie ein Netz, das Schmetterlinge einfängt, wirft Paris das Liebesnetz über uns alle. Die Faszination, die Paris uns schenkt, ist genauso schwer zu erklären wie die Liebe zwischen Mann und Frau. Man kann ruhig leben in diesem Land der Schönheit, bis die Engel uns holen.“ Die Wiedervereinigung brachte sie zurück in ihre Geburtsstadt; mit dieser friedlichen Revolution, mit diesem Drängen nach Demokratie konnte sie wieder stolz sein auf ihr Vaterland. Eine Abschiedsfeier in der Madeleine, ihr Sarg bedeckt mit der Trikolore, und ein Begräbnis in Berlin waren das letzte Geschenk von Frankreich an Marlene und ihr letztes Geschenk an Deutschland. Marlene Dietrich, Nehmt nur mein Leben, Gütersloh 1979; Marlene Dietrich, Ich bin, Gott sei Dank, Berlinerin, Berlin 1998; Marlene Dietrich, Das ABC meines Lebens, München 2012; Maria Riva, Meine Mutter Marlene, München 1992. Werner Sudendorf Distelbarth, Paul H. Der in Böhmen geborene und aufgewachsene Paul H. Distelbarth (1879-1963) war ein Protagonist der deutsch-französischen Verständigung auf gesellschaftlicher Ebene und ein Advokat politischer Friedenssicherung in der späten Weimarer Republik in den 1930er Jahren und in der frühen Bundesrepublik. Nach dem Ersten Weltkrieg gab er seinen florierenden Handel mit Glasschmuckwaren (u.a. mit Paris) auf und baute in der Nähe von Heilbronn ein Obstgut auf. Als Offizier der Grande Guerre war er zum Pazifisten geworden und vertrat seine Botschaft mit Bezug auf die deutsch-französischen Beziehungen im sozialdemokratisch orientierten Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinterbliebenen und unter dem Einfluss des kulturprotestantischen Theologen Martin Rade. In Deutschland unterstützt durch die *Deutsch- Französische Gesellschaft (DFG) und durch den Stuttgarter Elektroindustriellen Robert Bosch, baute er ein enges Verbindungsnetz zur linksorientierten französischen Kriegsveteranen-Vereinigung (Union Fédérale) auf, die hunderttausende von Mitgliedern zählte und ihm eine intime Kenntnis der französischen Gesellschaft ermöglichte. Nach der NS-Machtübernahme 1933 geriet er in den Verdacht des militärischen Geheimnisverrats und beschloss, sein Recht von Frankreich aus zu verteidigen. Er lebte von 1933 bis 1939 in Paris und schrieb dort - in Abstand gleichermaßen zur nationalsozialistischen Repräsentanz und zu den deutschen Exilanten - sein Buch „Lebendiges Frankreich“ (1936). Das von Rowohlt verlegte Buch, eine Essaysammlung von sinnfälliger Darstellungskunst und sympathiestiftender Intensität, wurde zum Publikumserfolg in Deutschland und mit Hilfe seiner Freunde bei den Anciens Combattants ins Französische übersetzt. Es begründete trotz heftiger Kritik der Nationalsozialisten Distelbarths Ruhm als Schriftsteller und machte ihn neben *Friedrich Sieburg zum meistgelesenen Frankreich-Autor der 1930er Jahre. Sein von Klett verlegtes zweites Buch „Neues Werden in Frankreich“ (1938) enthielt ein Panorama der kulturellen Gegenwartskräfte in Frankreich, die ihm als Laboratorien der Zukunft des Landes erschienen. Es kam mit der aktiven Förderung seiner Freunde in der Intellektuellenvereinigung Union pour la Vérité um den Philosophen Paul Desjardins zustande. Distelbarths Bücher wurden zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verboten, obwohl „Lebendiges Frankreich“ noch immer nachgefragt war. Die Kriegsjahre verbrachte er politisch unbehelligt auf seinem württembergischen Besitz. Nach 1945 galt Distelbarth als „Patriarch der deutschfranzösischen Verständigung“ und einer der ganz wenigen Frankreich-Autoren, die nicht durch <?page no="213"?> Döblin, Alfred D 213 den Nationalsozialismus kompromittiert waren. Seine Essaysammlung „Franzosen und Deutsche. Bauern und Krieger“ (1946), eine nationalcharakterologische Deutung der bilateralen Beziehungen und ein Plädoyer für die französischdeutsche Gemeinsamkeit als „Rückgrat“ des neu zu bauenden Europas, wurde das am weitesten verbreitete Frankreich-Buch der ersten Nachkriegsjahre. Zu Beginn des Jahres 1946 erhielt Distelbarth von der amerikanischen Besatzungsmacht die Lizenz für die Herausgabe der Regionalzeitung „Heilbronner Stimme“, die bis Ende 1950 seine Tribüne für einen scharf konturierten Meinungsjournalismus wurde. Der konservativpazifistische Autor begrüßte in der Adenauer- Bundesrepublik die Montan-Union, verurteilte aber aufs Entschiedenste das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der deutschen Wiederbewaffnung. Er verweigerte sich der politischen Logik des Kalten Krieges und unternahm Reisen in die UdSSR und nach China, über die er Bücher veröffentlichte, die nach dem Vorbild von „Lebendiges Frankreich“ Feindbilder und *Stereotype korrigieren sowie mentale Antagonismen abbauen sollten. Die letzte von mehreren Nachkriegsausgaben von „Lebendiges Frankreich“ erschien 1956 in der DDR, wo sie aufgrund des eingeschränkten Gesellschaftsaustauschs im Kalten Krieg nicht unwesentlich zur ostdeutschen Frankreich-Wahrnehmung beitrug. Wolfgang Geiger, L’image de la France dans l’Allemagne nazie 1933-1945, Rennes 1999; Hans Manfred Bock (Hg.), Paul H. Distelbarth: Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kultur und Politik Frankreichs und zu den deutsch-französischen Beziehungen 1932-1955, Bern, Berlin 1997. Hans Manfred Bock Döblin, Alfred Der Name des Schriftstellers und Arztes Alfred Döblin (1878-1957) wird heute vor allem mit seinem Erfolgsroman „Berlin Alexanderplatz“ (1929) assoziiert, der zu Recht als das beste Buch des Autors gilt und ihm einen Platz in der Literaturgeschichte sichert. Döblins Bedeutung kann aber nicht nur auf sein literarisches Wirken reduziert werden, denn im Nachkriegsdeutschland wirkte er zugleich auch als kultureller Mittler zwischen Deutschland und Frankreich. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg feststellen musste, dass seine neuen Bemühungen im literarischen Bereich weitgehend auf Unverständnis stießen - sein Roman „Hamlet oder die lange Nacht nimmt kein Ende“ fand keinen Verleger - versuchte er, auf eine andere Weise tätig zu werden. Da er es für seine Pflicht hielt, sich am geistigen Wiederaufbau seines Landes zu beteiligen, war er bereits 1945 nach Deutschland zurückgekehrt. Hier wurde er zunächst als französischer Offizier bei der Kulturbehörde der französischen Militärregierung in Baden-Baden (*Raymond Schmittlein) angestellt. Als chargé des fonctions de chef du bureau des lettres war er damit beauftragt, die eingereichten literarischen Manuskripte durchzulesen und über die Möglichkeit einer Druckgenehmigung zu urteilen. Ein weiterer Aspekt seiner kulturellen Vermittlungstätigkeit bestand dann ab 1946 in der Herausgabe der kritischen Literaturzeitschrift „Das Goldene Tor“, deren Mitbegründer er war. Das Hauptanliegen der Zeitschrift sah er darin, Dichtung, Kunst und die freien Gedanken als Symbol der menschlichen Freiheit und der Solidarität der Völker zu fördern und gleichzeitig den Realitätssinn im Lande zu stärken. Nachdrücklich bezog er sich auf Frankreich als Land des geistigen Widerstands und erklärte damit den Nachbarn zum Modell für das neu entstehende Deutschland. Schon bald sollte Döblin von der Begrenztheit seiner Wirkung im Nachkriegsdeutschland aber bitter enttäuscht werden: Die Zeitschrift musste bereits 1951 ihr Erscheinen einstellen. Ähnliches widerfuhr ihm als Vizepräsident (der Abteilung Literatur) der neu gegründeten Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Hier bemühte er sich, die Intellektuellen einander näher zu bringen, wobei er mehrmals seine Missbilligung der steigenden Spannungen zwischen Ost und West zum Ausdruck brachte. Bald jedoch musste er erkennen, dass sein anfänglicher Glauben an eine geistige Erneuerung Deutschlands allzu optimistisch war. 1953 fasste er - enttäuscht über die mangelnde Anerkennung im eigenen Land - den Entschluss, sich in Paris niederzulassen. Frankreich verkörperte - in Gestalt des Hochkommissars *André François-Poncet und im akademischen Bereich des *Germanisten *Robert Minder - in seinen Augen einen (nicht nur aus finanziellen Gründen) besseren Wohnort. Seine späte Anerkennung in der DDR, wo sein Hamlet-Roman <?page no="214"?> Dokumente 214 D schließlich veröffentlicht wurde, konnte daran nichts mehr ändern. Alfred Döblin, Aufsätze zur Literatur, Olten, Freiburg/ Br. 1963; Matthias Prangel, Alfred Döblin, Stuttgart 1973; Michel Vanoosthuyse, Alfred Döblin, Théorie et pratique de „l’œuvre épique“, Paris 2005; Wilfried F. Schoeller, Döblin. Eine Biografie, München 2011. Frédéric Teinturier Dokumente Documents Die Einrichtung des Centre d’études culturelles, économiques et sociales (CECES), 1948 in *Bureau international de liaison et de documentation (BILD) umbenannt und um die *Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit (GÜZ) ergänzt, sowie die damit einhergehende Gründung der französisch-deutschen Schwester-Zeitschriften „Documents“ und „Dokumente“ durch den Militärseelsorger und Jesuitenpater *Jean du Rivau im August 1945, lediglich drei Monate nach Kriegsende, war die wohl wichtigste private Initiative zur deutsch-französischen Verständigung der unmittelbaren Nachkriegszeit in der französischen Besatzungszone. Gründungsvater *Du Rivau war ein bodenständiger Mann der Tat, „pas un intellectuel, mais un intuitif qui sut mettre les intellectuels en contact“. Sein Ziel bestand darin, trotz der jüngsten NS-Verbrechen auf der Basis wechselseitiger Information den Dialog zwischen französischen und deutschen Christen zu ermöglichen sowie eine supranationale Annäherung und Verständigung zwischen Franzosen und Deutschen zu fördern. „On commence par l’information“, lautete seine Losung. Diese spiegelt sich im Leitbild der Publikation wider, das er im Vorwort der ersten Ausgabe formulierte. Die Zeitschrift *„Documents“, die *Du Rivau nach dem Vorbild der „Dossiers de l’action populaire“ der Jesuiten von Vanves gründete, und die von seinem Talent, tragfähige soziale Netzwerke zu errichten, profitierte, informierte als erste französische Zeitschrift seit Kriegsende die Franzosen über Nachkriegsdeutschland und „Dokumente“ die Deutschen über Frankreich. Das Zeitschriftenpaar, welches trotz Phasen der Krise ohne Unterbrechung bis zur Gegenwart fortgeführt werden konnte, nutzte entsprechend anlässlich der jeweiligen Jubiläen stets die Gelegenheit, die Erinnerung an Père *du Rivau als „pionnier de la réconciliation franco-allemande“ wach zu halten und zu pflegen und leistete zugleich einen entscheidenden Beitrag zur Mythen- und Legendenbildung um seinen Gründungsvater und dessen Initiativen. Die ersten Ausgaben dokumentierten noch vornehmlich übersetzte päpstliche Kundgebungen, Hirtenbriefe deutscher katholischer Bischöfe, die etwa die NS-Verbrechen anprangerten, und Ansprachen evangelischer Pastoren. Bereits ab 1946/ 47 entwickelte sich „Documents - Revue des questions allemandes“ jedoch auch zum Sprachrohr deutscher Intellektueller wie Walter Dirks, Eugen Kogon, Karl Jaspers oder *Alfred Döblin und „Dokumente“ umgekehrt zum Forum französischer Intellektueller wie Georges Bernanos, *Emmanuel Mounier, Albert Béguin, Paul Claudel, Edgar Morin, Denis de Rougemont, *Albert Camus, *Raymond Aron oder Robert d’Harcourt, der „Documents “ als die „seriöseste Publikation über Deutschland“ bezeichnete. Den von *Jean du Rivau initiierten ersten *deutsch-französischen Schriftstellertreffen der Nachkriegszeit in Lahr 1947 und Royaumont 1948 wurde ebenfalls breiter Raum gewährt. Ab 1948 wurde die anfängliche Idee, Dokumente zu veröffentlichen, durch eine neues Konzept mit journalistischen Beiträgen und Rubriken zu den Schwerpunktthemen Christentum, Politik und Weltanschauungen, NS-Vergangenheit, Wirtschaft, Literatur sowie Jugend ersetzt und um eine Leserbrief-Sektion ergänzt. Trotz beträchtlicher Vertriebsanstrengungen in Frankreich gelang es nicht, die bei ca. 5 000 Exemplaren stagnierende Auflage von „Documents “ deutlich zu erhöhen. Die Auflage von „Dokumente“ stieg dagegen in den Zeiten der „Zeitschriftenblüte“ in den Besatzungszonen von 30 000 bis 40 000 im Jahre 1946 auf ca. 65 000 in den Jahren 1947 und 1948, bevor sie infolge der westdeutschen Währungsreform vom Juni 1948 wiederum massiv einbrach. Besonders unter der Leitung des bedeutenden deutsch-französischen Intellektuellen und Historikers *Joseph Rovan vertrat „Documents “ seit 1978 mit Nachdruck die Position, die Errichtung und Förderung eines Vereinigten Europas sei die „logische und notwendige Folge“ der deutschfranzösischen Verständigung und Zusammenar- <?page no="215"?> Droz, Jacques D 215 beit. Inzwischen sind die beiden Zeitschriften fusioniert und erscheinen als gemeinsame deutschfranzösische Ausgabe, deren Leitung der Journalist Gérard Foussier übernommen hat. Raïssa Mézières, Documents, une revue pour le dialogue franco-allemand, in: La Revue des revues 26 (1999), S. 65-84; Martin Strickmann, L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle: Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950 - Diskurse, Initiativen, Biografien, Frankfurt/ M. u.a. 2004, S. 126-134, S. 282-285; ders., Französische Intellektuelle als deutsch-französische Mittlerfiguren, 1944-1950, in: Patricia Oster- Stierle, Hans-Jürgen Lüsebrink, (Hg.), Am Wendepunkt - Deutschland und Frankreich um 1945. Zur Dynamik eines „transnationalen“ kulturellen Feldes, Bielefeld 2008, S. 17-48. Martin Strickmann Droz, Jacques Der in Paris geborene französische Historiker Jacques Droz (1909-1998) war nicht nur ein ausgewiesener Experte der neueren und neuesten deutschen Geschichte, sondern bemühte sich nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv um die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen den Historikern beider Länder. Nach dem Abitur am Lycée Louis-le- Grand erwarb er 1932 die agrégation im Fach Geschichte. Im Jahre 1934/ 35 lebte er im Rheinland und machte - wie u.a. auch *Gilbert Badia und *Raymond Aron - seine eigenen Erfahrungen im NS-Deutschland. Nach Frankreich zurückgekehrt, nahm er 1939 seine Arbeit als Gymnasiallehrer in Colmar auf; wechselte aber schon 1940 an das Lycée Pasteur in Neuilly, um seine Lehrerkarriere dann ab 1942 am Lycée Chaptal und schließlich am Lycée Fustel in Paris fortzusetzen. Dieser Berufsweg wurde 1939/ 40 durch den Wehrdienst unterbrochen, der ihn in „direkte Konfrontation mit der nationalsozialistischen Eroberungspolitik gegenüber seinem Vaterland“ (Möller) brachte. 1944 verteidigte er seine thèse de doctorat d’État und wurde zwei Jahre später maître de conférences an der Universität in Dijon. Von 1947 bis 1962 wirkte er als Professor an der Universität von Clermont- Ferrand, bevor er an die Pariser Sorbonne berufen wurde. Sein wissenschaftliches Werk besticht zum einen durch seinen epochenübergreifenden Ansatz, zum anderen seine thematisch-methodische Breite. Neben seinen Arbeiten zur Geschichte der internationalen Beziehungen machte er sich auf dem Feld der politischen Ideengeschichte und der historiographischen Analyse einen Namen. Seine Rezensionen - vor allem in der „Revue historique“ - von Werken deutscher Historiker beförderten zudem maßgeblich den wissenschaftlichen Transfer zwischen den Historiographien beider Länder. Droz gehörte seit der Gründung im Jahre 1950 zu den ständigen Gästen des *Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, wo er auch regelmäßig an den deutsch-französischen Lehrbuchgesprächen teilnahm, was ihn genauso wie *Pierre Renouvin zu einem der Urväter des 2006 herausgegebenen *deutsch-französischen Schulgeschichtsbuches macht. Bei diesen Treffen sollten die Schulbücher von nationalistischen Tendenzen „entgiftet“ werden, um auf diese Weise an der Transnationalisierung von Geschichtsbildern mitzuwirken. Droz’ Bestreben war es auf diesem Feld, „überkommene Perzeptionsmuster auf beiden Seiten einer kritischen Durchsicht zu unterziehen“ (Escherich). Er verwahrte sich gegen völkerpsychologische Deutungsmuster, was ihn u.a. von *Edmond Vermeil und anderen Vertretern der *französischen Germanistik unterschied. Gleichzeitig kritisierte er Ansätze, die eine Traditionslinie von Luther über Friedrich den Großen und Bismarck zu Hitler zogen. Auf deutscher Seite drängte er zu einer methodischen Öffnung von traditionellen Interpretationen der deutschen Geschichte und beteiligte sich an der Erosion des restaurativen Konsenses, wie sich u.a. an seinen Interventionen während der „Fischer-Kontroverse“ in den 1960er Jahren ablesen lässt. So prägte Droz nicht alleine die französische Deutschlandforschung, sondern entwickelte sich gleichzeitig zu einer wichtigen wissenschaftlichen Mittlerpersönlichkeit. Jacques Bariéty, Nekrolog Jacques Droz 1909-1998, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 827-829; Horst Möller, Jacques Droz (1909-1998), in: Francia 28/ 3 (2001), S. 195-198; Bernhard Escherich, Herausforderung Deutschland. Zum Deutschlandbild französischer Historiker 1945-1989, Hamburg 2003; Ulrich Pfeil, Jacques Droz und die Geschichtsbilder der deutschen Geschichte, in: Michel Grunewald u.a. (Hg.), Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert - Akademische Wissensproduktion über das andere Land, Bd. 2, Bern 2012, S. 231-246. Ulrich Pfeil <?page no="216"?> Échanges franco-allemands (EFA) 216 E E Échanges franco-allemands (EFA) Zum wichtigsten Sprachrohr für die diplomatische Anerkennung der DDR in Frankreich entwickelte sich die am 22.4.1958 gegründete Freundschaftsgesellschaft Échanges franco-allemands, association française pour les échanges culturels avec l’Allemagne d’aujourd’hui (EFA), zu deren Vorläufern der 1952 von *Gilbert Badia und Émile Bottigelli gegründete Cercle Heinrich Heine gehörte. Die EFA gaben sich als überparteiliche und pluralistische Gesellschaft aus, um in der französischen Gesellschaft stärkeres Gehör zu finden, tatsächlich verbarg sich jedoch hinter der zivilgesellschaftlichen Fassade eine kommunistische Vorfeldorganisation, die sich nach ihrer Gründung die diplomatische Anerkennung der DDR durch Frankreich und damit die Durchsetzung der Theorie der zwei deutschen Staaten zum Ziel gemacht hatte. Nach der offiziellen Anerkennung entschied sie sich am 13.5.1973 zu einem Namenswechsel und nannte sich fortan France-RDA, association française pour le développement des échanges et de la coopération entre la France et la RDA, womit versucht wurde, die Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich auf das gleiche Niveau anzuheben wie jene zwischen der Bundesrepublik und Frankreich. Zur Strategie der EFA gehörte es, dass der Präsident stets eine prominente nichtkommunistische Persönlichkeit aus der französischen Zivilgesellschaft war, wie z.B. der Historiker *Georges Castellan. Dafür lag die operative Arbeit in den Händen des Generalsekretärs, der die ideologische Vorherrschaft der Kommunisten absicherte. Zu den Mitgliedern gehörten jedoch auch Sozialisten und (Links-)Gaullisten (z.B. *Raymond Schmittlein), die eine gewisse Sympathie für die Existenz zweier deutscher Staaten zum Ausdruck brachten. Der Großteil der örtlichen „Freundschaftskomitees“ und ihrer Anhängerschaft befand sich in den industriellen Ballungszentren des Nordens und Ostens (Straßburg) sowie im „roten Gürtel” um Paris. Nach bescheidenden Anfängen (1962: 2 000) stieg die Mitgliederzahl in den folgenden Jahren stetig an (1970: 11 000), um kurz vor Ende der DDR ca. 15 000 Mitglieder zu erreichen. Somit konnten sich die EFA zur bedeutendsten nichtstaatlichen Organisation in Westeuropa entwickeln, die sich für die Anerkennung der DDR einsetzte. Ihre Finanzierung erfolgte nur zum Teil aus Mitgliederbeiträgen; ohne die erheblichen indirekten Zuwendungen seitens der DDR hätte die Gesellschaft jedoch nie ihre weitverzweigten Aktivitäten bestreiten können. Neben kulturellen Veranstaltungen organisierten bzw. unterstützten die EFA durch Zuschüsse Reisen französischer Schüler, Studenten, Lehrer, Wissenschaftler, Gewerkschafter, Sportler und Parlamentarierdelegationen in die DDR. Weiterhin richtete sie DDR-Studientage aus, war am Ausbau von *Städtepartnerschaften beteiligt und besaß mit den *„Rencontres francoallemandes“ auch eine Zeitschrift. Durch die Vielfalt ihrer Aktivitäten trug sie dazu bei, dass der ostdeutsche Staat in der französischen Öffentlichkeit mehr und mehr als staatliche Realität wahrgenommen wurde und sich als zweiter deutscher Staat etablieren konnte. Vor diesem Hintergrund erwies sich die association als Milieuöffner bei den Anstrengungen der DDR um größere Präsenz in der französischen Öffentlichkeit und fungierte hinter der überparteilichen Fassade als Instrument französischer und ostdeutscher Kommunisten bei ihrer ideologischen Auseinandersetzung im Zeichen der so genannten friedlichen Koexistenz. Auch wenn sie sich immer wieder zum Sprecher zivilgesellschaftlicher Interessen machte, benutzte sie die Zivilgesellschaft in Frankreich doch nur zur Durchsetzung ihrer politischen und ideologischen Ziele. Zu einer zivilgesellschaftlichen Masche innerhalb des deutsch-französischen Netzwerkes wurde sie erst nach dem Ende der DDR, als sie sich wieder EFA nannte. Gilbert Badia, L’association France-RDA, in: Ulrich Pfeil (Hg.), La RDA et l’Occident (1949-1990), Asnières 2000, S. 453-464; Ulrich Pfeil, Die „anderen“ deutschfranzösischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln 2004, S. 269ff. Ulrich Pfeil Eisner, Lotte H. Die deutsche Filmhistorikerin Lotte Henriette Eisner (1896-1983) hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine entscheidende Rolle für die Entdeckung und die Anerkennung der französischen und deutschen Kinoproduktion gespielt - und das in <?page no="217"?> Élysée-Vertrag E 217 beiden Ländern. Sie wurde in Berlin als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren, studierte Archäologie und erlangte ihren Doktortitel 1924 mit einer Arbeit über „Die Entwicklung der Bildkomposition auf griechischen Vasenbildern“. Eisner begeisterte sich für das Theater, verfolgte aufmerksam die Inszenierungen von Max Reinhardt und entdeckte das Theater von Erwin Piscator und *Bertolt Brecht, den sie 1921 kennenlernte. Ihre ersten Artikel schrieb sie für die „Literarische Welt“, später für das „Berliner Tageblatt“. Ab 1927 arbeitete sie für den „Filmkurier“, besuchte regelmäßig Filmstudios und wurde als erste Frau in Deutschland als professionelle Filmkritikerin tätig. Sie setzte diese Arbeit fort, bis sie im März 1933 Deutschland verlassen musste und nach Paris ging. Dort verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit verschiedenen Arbeiten und wurde Korrespondentin für die „Internationale Filmschau“ und „Die Kritik“. Da sie sich für das Archivprojekt Cinémathèque française interessierte, das der Filmesammler Henri Langlois und der Regisseur Georges Franju planten, nahm sie Kontakt zu ihnen auf und besuchte die Zusammenkünfte des von ihnen 1935 initiierten Cercle du cinéma. Bereits 1937 schrieb sie ihre ersten Artikel in französischer Sprache. Zur gleichen Zeit begann sie ehrenamtlich für die Cinémathèque zu arbeiten. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde sie im Lager von Gurs interniert, bis ihr die Flucht gelang. Dank der Unterstützung durch Langlois konnte sie 1941 in Figeac Zuflucht finden. Langlois hatte zuvor im Schloss von Béduer nahe Figeac Filme versteckt, die der Beschlagnahmung durch die Deutschen entgangen waren. Während der Besatzungszeit kümmerte sich Lotte H. Eisner um die Konservierung der Filme. Ab 1942 konnte sie dann mit einem falschen Personalausweis, ausgestellt auf den Namen Louise Hélène Escoffier, offiziell für die Cinémathèque française arbeiten. Nach Kriegsende war sie bis 1975 leitende Konservatorin der Cinémathèque. Sie war maßgeblich am Erwerb und am Aufbau der Sammlung beteiligt sowie 1972 an der Gründung des Musée du Cinéma. Daneben schrieb sie ihr wichtigstes Werk, „Die dämonische Leinwand“, das nachhaltig die Sicht auf den deutschen Stummfilm, besonders den Expressionismus, beeinflusste. Es folgten zwei Monografien - eine zu F. W. Murnau, die andere zu Fritz Lang. Sowohl ihr Engagement für die Cinémathèque als auch ihre Bücher prägten Generationen von Kinoliebhabern, unter ihnen zukünftige Filmemacher, Filmhistoriker und Filmkritiker. Als leidenschaftliche Zeugin einer wichtigen, aber schon fernen Periode der Entwicklung des deutschen Films trug sie dazu bei, eine lebendige Filmgeschichte zu vermitteln, die nicht zuletzt die jungen deutschen Regisseure stark beeinflusste. Damit schlug sie sowohl eine Brücke zwischen dem französischen und dem deutschen Kino, als auch zwischen dem Kino der Zeit vor 1933 und dem neuen deutschen Film der 1970er Jahre. Lotte H. Eisner, Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Memoiren, geschrieben von Martje Grohmann, Heidelberg 1984/ München 1988; dies., L’écran démoniaque. Les influences de Max Reinhardt et de l’expressionnisme, Paris 1952/ 1965; dies., Murnau, Frankfurt/ M. 1979; dies., Fritz Lang, Paris 1984; Sohab Sadi Saless, Les longues vacances de Lotte Henriette Eisner, Dokumentarfilm, Frankreich 1979. Nia Perivolaropoulou Élysée-Vertrag Der am 22.1.1963 von Adenauer und de Gaulle unterzeichnete Élysée-Vertrag ist heute das Symbol der deutsch-französischen *Versöhnung nach 1945, die jedoch nicht erst mit der Vertragsunterzeichnung begann. Vielmehr war der bilaterale Abschluss möglich, weil in den Jahren zuvor die Grundlagen für die Annäherung gelegt worden waren. Die dem Vertrag vorausgehende deutschfranzösische Erklärung bezeichnet die Aussöhnung zwischen dem deutschen und französischen Volk als ein „historisches Ereignis“, welche „das Verhältnis der beiden Länder zueinander von Grund auf neu gestalte“. Ein besonderer Platz in diesem Annäherungsprozess wird der Jugend beider Länder eingeräumt. Gleichzeitig wird betont, dass die bilaterale Kooperation ein unerlässlicher Schritt zum Vereinigten Europa sei. In dem mit „Organisation“ überschriebenen ersten Teil des Vertrages wird ein Konsultationskalender fixiert, der unabhängig von den politischen Notwendigkeiten regelmäßige Treffen vorsieht: für die Staats- und Regierungschefs mindestens zweimal jährlich, die Außen- und Verteidigungsminister sowie die für Erziehungs- und Kulturfragen zuständigen Minister mindestens alle drei Monate und für den Bundesminister für Familien- und Jugendfragen sowie seinen französischen Kollegen sogar alle zwei Monate. Schließlich <?page no="218"?> Engelmann, Peter 218 E sind interministerielle Kommissionen auf beiden Seiten vorgesehen, die die Aktivitäten zwischen beiden Ländern koordinieren sollen. Dieser organisatorische Rahmen wird im Programmteil des Vertrages (II.) präzisiert. Erstens soll es auf dem Feld der Außenpolitik (II.A.) vor jeder wichtigen Entscheidung, insbesondere bei Fragen gemeinsamen Interesses, zu Konsultationen kommen, die den Zweck verfolgten, „so weit wie möglich zu einer gleichgerichteten Handlung zu gelangen“. Auch im Bereich der Verteidigung (II.B.) wollen sich beide Länder bemühen, „ihre Auffassungen einander anzunähern, um zu gemeinsamen Konzeptionen zu gelangen“. Im dritten Teil präzisieren beide Seiten ihre Kooperation auf dem Gebiet der „Erziehungs- und Jugendfragen“ (II.C.). Neben der Intensivierung der Vermittlung der Partnersprache sieht der Vertrag eine Regelung in der Frage der Gleichwertigkeit der Diplome sowie einen Ausbau der wissenschaftlichen Beziehungen vor. Wie bereits in der einleitenden deutsch-französischen Erklärung wird dem Jugendaustausch ein besonderer Platz eingeräumt. Zu diesem Zweck wird die Einrichtung des *Deutsch-Französischen Jugendwerkes (DFJW) beschlossen. Keine Aufnahme in den Vertrag fand die wirtschaftliche Kooperation, doch bestand zu diesem Zeitpunkt bereits ein dichtes Netz institutionalisierter bilateraler und multilateraler Kontakte. Obgleich es üblich ist, in Bezug auf den Abschnitt II.C. von dem kulturellen Teil des Élysée-Vertrages zu sprechen, muss festgehalten werden, dass das Wort „Kultur“ im Vertragstext nicht vorkommt. Dies mag erstaunen, denn zwischen 1945 und 1963 hatten sich die staatlichen Instanzen nie aus den kulturellen Beziehungen herausgehalten, wie u.a. der Abschluss des *Deutsch-Französischen Kulturabkommens vom 23.10.1954 zeigt. Wenngleich das im Élysée-Vertrag formulierte Ziel einer „gleichgerichteten Haltung“ im außenpolitischen Handeln tatsächlich nie erreicht werden sollte, gelang es beiden Ländern doch, einen Schlussstrich unter eine unheilvolle Vergangenheit zu ziehen und die Grundlage für einen in die Zukunft weisenden positiven Neuanfang zu schaffen. Zwar führte er zu keinem Kraftzentrum in der Mitte Europas, doch erwies er sich als lebensfähig und sorgte gerade ab den 1970er Jahren für eine kontinuierliche Arbeit am Projekt der deutsch-französischen Verständigung. Abschließend bleibt die Frage nach der symbolischen Wirkung des Élysée-Vertrages. Nachdem bei seinem runden Geburtstag in den 1970er Jahren Routine dominierte und Enthusiasmus nur schwerlich nachzuweisen ist, stellte die Rede von François Mitterrand vor dem Bundestag im Januar 1983 einen Wendepunkt dar, von dem an der Tag der Vertragsunterzeichnung für die Bestätigung der bilateralen Kooperation, aber auch zur Mystifikation des deutsch-französischen „Paares“ benutzt wurde. Seit 2003 wird der 22. Januar als Deutsch-Französischer Tag begangen, der gerade in den Bildungseinrichtungen beider Länder zum Anlass genommen werden soll, um über die unterschiedlichen Aspekte der deutsch-französischen Freundschaft zu diskutieren. Im gleichen Jahr richteten Frankreich und Deutschland zur weiteren Vertiefung der bilateralen Beziehungen einen gemeinsam finanzierten Fonds zur Förderung von Kulturprojekten in Drittstaaten ein, um die enge deutsch-französische Zusammenarbeit auch im Ausland sichtbar und erfahrbar zu machen. Corine Defrance, Ulrich Pfeil (Hg.), Der Élysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 - 1963 - 2003, München 2005; dies., Deutsch-Französische Geschichte. Eine Nachkriegsgeschichte in Europa 1945-1963, Darmstadt 2011; dies. (Hg.), La France, l’Allemagne et le traité de l’Élysée 1963-2013, Paris 2012; Ulrich Lappenküper, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949-1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“, München 2001; Horst Möller, Klaus Hildebrand (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949-1963, 3 Bde., München 1997; Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Stuttgart 1997. Corine Defrance, Ulrich Pfeil Engelmann, Peter 1947 in Ost-Berlin geboren, begann der deutsche Verleger Peter Engelmann ein Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, geriet jedoch in Konflikt mit der Staatssicherheit und wurde 1972 zu zwei Jahren Haft verurteilt; nach einem Jahr Gefängnis wurde er 1973 von der Bundesrepublik freigekauft. Engelmann setzte sein Studium zunächst an der Universität Bremen fort, promovierte hier mit einer Arbeit über Hegel und ging nach Paris, wo er mit führenden französischen Intellektuellen der Zeit in Kontakt <?page no="219"?> Erbfeindschaft E 219 kam. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland setzte er sich als einer der ersten für einen Transfer des philosophischen Programms der französischen Postmoderne und des Dekonstruktivismus ins Deutsche ein und bemühte sich zunächst vergeblich, deutsche Verlage für Übersetzungen der postmodernen französischen Texte zu interessieren. Anders als die Arbeiten von *Michel Foucault, deren Rezeption schon früh einsetzte, stießen Arbeiten von Jacques Derrida oder Jean- François Lyotard, obwohl in den USA wichtiger Bestandteil des philosophischen Diskurses, in den 1980er Jahren auf den Widerstand der mehrheitlich marxistisch orientierten westdeutschen Intellektuellen (*Merve Verlag). Diese machten auch in Verlagen und Medien ihren Einfluss geltend, um - so ihre Kritik an den französischen Autoren - der Gefahr einer anti-aufklärerischen, neoirrationalen oder auch politisch neokonservativen, reaktionären Haltung zu begegnen. Engelmann wehrte sich gegen diese vorschnelle Kritik, vor allem gegen den „philosophischen Reduktionismus des Marxismus“ - nicht zuletzt motiviert durch seine Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus und dem intellektuellen Klima der DDR. Dabei sah er in den französischen Philosophien der Differenz eine Möglichkeit, die Abstraktionen unserer Kultur durch ein möglichst großes Verständnis von Komplexität zu ergänzen. 1987 gründete er in Wien den *Passagen- Verlag. Daneben trat er selbst immer wieder als Autor und Herausgeber sowie als Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten in Erscheinung. 1994 wurde er zum Chevalier, 1998 zum Officier und 2004 zum Commandeur de l’ordre des arts et des lettres ernannt; zudem erhielt er 2010 im Rahmen des Bruno-Kreisky-Preises für politische Essayistik den Sonderpreis des Sozialdemokratischen Wirtschaftsverbandes Österreich für verlegerische Leistungen. Thomas Weber Erbfeindschaft „Ich hasse alle Franzosen ohne Ausnahme im Namen Gottes und meines Volkes [...]. Ich lehre meinen Sohn diesen Hass“, schrieb der deutsche Dichter Ernst Moritz Arndt 1814 in „Blick aus der Zeit auf die Zeit“. Mit dieser und anderen Schriften erwarb sich Arndt den Ruf eines „Franzosenhassers“ und gilt vielen bis heute als Begründer der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“, die zu jenen Geschichtsbildern und intellektuellen Konstrukten gehört, welche gerade in den deutsch-französischen Beziehungen „ein besonders zerstörerisches Werk der Indoktrinierung vollbracht haben“ (Gilbert Ziebura). Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ließ sie den Antagonismus als Fatalität erscheinen, als etwas von der Natur Gegebenes, als etwas Unausweichliches. Der Höhepunkt wurde während des Nationalsozialismus erreicht, als die damaligen Machthaber eine historische Linie des französischen Aggressionswillens aufzeichneten, um ihre eigenen Expansionsabsichten und Kriegsvorbereitungen zu legitimieren. Dabei erweist sich die These, ethnische Säuberungen hätte es in der deutsch-französischen Grenzregion bereits unter Ludwig XIV. gegeben, die Hitler historisch zu untermauern versuchte, ebenso wie die Unterstellung von einer jahrhundertealten Rivalität als historischer Unfug. Für den Sonnenkönig war „Deutschland“ einzig ein geographischer Begriff, und sein Hauptaugenmerk galt der spanisch-habsburgischen Monarchie, von der er sich eingekreist fühlte. Der während der Französischen Revolution entstehende Nationalismus richtete sich ideologisch nicht gegen Deutschland; vielmehr wurde der Expansionismus mit dem neuen französischen Selbstverständnis vom Land der Menschenrechte begründet. Und auch für Napoleon war Deutschland nur Durchgangsstation, um - neben England - den eigentlichen Hauptwiderpart Russland zu besiegen. Trotz aller zweifellos existierender Klischees und *Stereotype ließ sich zu dieser Zeit keine Germanophobie auf französischer Seite ausmachen. Das 1810 fertiggestellte und 1813 veröffentlichte Deutschlandbuch „De l’Allemagne“ von Madame de Staël deutet eher auf die Faszination, welche damals von der „Kulturnation“ Deutschland in Frankreich ausging. Der aufbrechende deutsche Nationalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts speiste sich hingegen aus antifranzösischen Ressentiments und einer Gallophobie, der eine integrative Kraft nach innen zukommen sollte. Einen ersten Höhepunkt erreichten die nationalistischen Aversionen in Deutschland während der Befreiungskriege gegen Napoleon, als u.a. die „Völkerschlacht“ bei Leipzig (1813) zur nationalen Wiedergeburt stilisiert und in der Folge inszeniert wurde. Während der Restauration nach 1815 <?page no="220"?> Erbfeindschaft 220 E wurde der Gegensatz in den feudalen Staaten des Deutschen Bundes weiter geschürt, um ein Überschwappen von Liberté - Égalité - Fraternité über den Rhein zu verhindern. Vermittelnde Stimmen wie die Heinrich Heines, dessen Schriften zunehmend der Zensur zum Opfer fielen und der daher 1831 nach Paris übersiedelte, wurden in den Hintergrund gedrängt. Während der „letzte Dichter der Romantik“ den Rhein keiner der beiden Nationen zuschlagen wollte, dichteten Nikolaus Becker 1840 „Sie sollen ihn nicht haben den freien deutschen Rhein“ bzw. Max Schneckenburger „Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! “ So blieb auch die revolutionäre Solidarität im deutschen und französischen (Klein-)Bürgertum während der Revolution 1848 nur ein Strohfeuer. Dass jedoch bei allem Antagonismus von „Erbfeindschaft“ keine Rede war, lässt sich u.a. daran ablesen, dass die Elsass- Lothringen-Frage 1848 keine Rolle spielte, während der Krieg um Schleswig-Holstein die nationalistischen Gefühle weiter entfachte. Zum einschneidenden Ereignis bei der Herausbildung der „Erbfeind“-These wurde der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71. Der Gegensatz zu Frankreich entwickelte sich zur Staatsraison des im Spiegelsaal von Versailles am 18.1.1871 gegründeten Deutschen Reiches, das den bezwungenen Kriegsgegner mit der Wahl dieses Ortes für eine solche Zeremonie bewusst demütigen wollte. Während der Kriegsmonate hatte die Presse den nationalen Hass geschürt, sodass auf deutscher Seite die Franzosen die Türken ablösten, die seit der frühen Neuzeit als Bedrohung für das christliche Abendland galten. Die Frankophobie wurde im Reich nun „in den Rang eines nationalen Glaubensbekenntnisses erhoben“ (Ziebura) und bekam durch die Annexion von Elsass-Lothringen (Moselle) eine völkische Komponente. Der Verlust der beiden Provinzen als Folge der Niederlage beflügelte auch in französischen Zeitungen und Schriften eine antideutsche Grundstimmung und war eng verbunden mit revanchistischen Stimmen, die nach Wiedergutmachung für die erlittene Demütigung schrien. Galt seit dem Mittelalter England als französischer „Erbfeind“, so erhielten diesen Titel vor allem in nationalistischen Kreisen (u.a. die Schriftsteller Maurice Barrès und Charles Maurras) westlich des Rheins nun die boches . Verstärkt wurde der Argwohn durch die militärische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und demographische Dynamik des deutschen Nachbarn in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, der die ganze französische Nation vor eine große Herausforderung stellte. Interessant ist in dieser Hinsicht der beachtliche Tourismus in östliche Richtung, denn Franzosen aus allen Sektoren der Gesellschaft wollten die Gründe für die deutsche Überlegenheit vor Ort studieren und ihre in Deutschland gemachten Erfahrungen für die Stärkung der eigenen Nation umsetzen. Dass die hierbei erfolgten Begegnungen nicht alleine konfrontativen Charakter hatten, sondern auch Anlass für kulturelle Transferprozesse war, sollte nicht unter den Tisch gekehrt werden. Eine Mehrheit in Deutschland und Frankreich war jedoch vor 1914 immer stärker davon überzeugt, dass die Prädispositionen für einen militärischen Konflikt gelegt waren, und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschien als eine logische Folge der nach 1871 begonnenen deutsch-französischen „Erbfeindschaft“. Die Schlachten in und um Verdun wurden zum Symbol für die „Nationalisierung der Feindschaft“ (Michael Jeismann), bei denen es nicht alleine um Leben und Tod des einzelnen Soldaten ging; vielmehr sahen sich beide Nationen in einem Kampf um die eigene Existenz. So kann es nicht überraschen, dass es nach Kriegsende zu keiner mentalen Demobilisierung kam. Das Wechselspiel von Sieg und Niederlage, Demütigung und Revanche setzte sich fort und machte sich 1919 an der Wahl des Ortes für die Friedensverhandlungen fest: Versailles. Die Franzosen wollten Vergeltung üben und die Garantie für zukünftige Sicherheit. Die Deutschen sahen sich mit dem Kriegsschuldparagraphen konfrontiert, nachdem sie sich noch nicht einmal die eigene Niederlage eingestanden hatten. Versailles wurde zum Synonym für das „Diktat der Sieger“, dessen Revision nach 1919 parteiübergreifend angestrebt wurde. Hier konnte Hitlers Außenpolitik 1933 anknüpfen, der 1936 die Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland einmarschieren ließ, was die meisten Deutschen als Genugtuung für die Rheinlandbesetzung von 1918-1930 verstanden. Dieses symbolträchtige Ping-Pong-Spiel setzte sich nach dem deutschen Sieg 1940 fort, als Hitler darauf pochte, den Waffenstillstand in Compiègne zu unterzeichnen, in dem Eisenbahn- <?page no="221"?> Erinnerungsorte E 221 wag on, in dem die Deutschen am 11.11.1918 mit ihrer Unterschrift das Ende der Kampfhandlungen besiegelten. Nach der deutschen Besatzung und Massakern wie in Oradour-sur-Glane 1944 war es nicht selbstverständlich, dass Deutsche und Franzosen den Weg aus der Gewaltspirale herausfanden. Doch mit der Wiederanknüpfung der *Historikerbeziehungen, der Säuberung der Schulbücher von überkommenen Nationalismen (*deutschfranzösisches Schulgeschichtsbuch) und dem bewussten Versuch, bisherige als gegeben angesehene Geschichtsbilder zu revidieren (*Vergangenheitsaufarbeitung, *DHI Paris), stellten Deutsche und Franzosen unter Beweis, dass die „Erbfeindschaft“ ein Konstrukt war, das durch politischen Willen und zivilgesellschaftliches Engagement aufgebrochen werden kann. Der Rückblick auf die verschiedenen Initiativen zur deutschfranzösischen *Versöhnung nach 1945 hat heute vielfach das Narrativ einer Erfolgsgeschichte angenommen, die sich in dem geflügelten Satz „Von der ‚Erbfeindschaft’ zur ‚Erbfreundschaft’“ spiegelt. Doch auch hier handelt es sich um ein Geschichtsbild mit teleologischer Ausrichtung, das einen stringenten Annäherungsprozess suggeriert, dabei aber ausblendet, dass sich die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 durch den Willen auszeichneten, Divergenzen zu überwinden und Kompromisse zu finden, um die jeweils eigenen Interessen in Einklang zu bringen. Das ist kein abgeschlossener Prozess, sondern auch in Zukunft eine Herausforderung für beide Länder. Wolfgang Bergsdorf u.a. (Hg.), Erbfreunde: Deutschland und Frankreich im 21. Jahrhundert, Erfurt 2007; Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992; Franz J. Felten (Hg.), Frankreich am Rhein - vom Mittelalter bis heute, Stuttgart 2009; Jacques Morizet, Horst Möller (Hg.), Allemagne-France. Lieux et mémoire d’une histoire commune, Paris 1995; Ulrich Pfeil (Hg.), Mythes et tabous des relations franco-allemandes au XX e siècle. Mythen und Tabus der deutschfranzösischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Bern 2012; Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Stuttgart 1997. Ulrich Pfeil Erinnerungsorte Lieux de mémoire Seit über 20 Jahren gibt es in unseren Gesellschaften einen veritablen Erinnerungsboom. Für die *Geschichtswissenschaft stellt diese Entwicklung eine wichtige Herausforderung dar, wird die Erinnerung doch häufig als das Gegenteil von Geschichte definiert. Eine der wichtigsten Antworten auf die Erinnerungsdebatten geben die von Pierre Nora bereits Anfang der 1980er Jahre konzipierten und realisierten „Lieux de mémoire“. Unter Erinnerungsorten versteht Nora „Fixpunkte in der Vergangenheit, die materieller wie ideeller Natur sein können und durch den Willen der Menschen bzw. die Zeit eine symbolische Funktion für die Erinnerungslandschaft einer spezifischen Gemeinschaft erhalten haben“. Der von ihm gewählte Ansatz beruhte in einem doppelten Sinne auf der Historisierung dieser Erinnerungsorte: ihrer Dekonstruktion und Kontextualisierung. Nun stellte sich die Frage, ob dieser sehr französische Ansatz ein charakteristischer Ausdruck für die spezifische Beziehung ist, welche die französische Gesellschaft zu ihrer Vergangenheit unterhält oder ob er sich auch auf andere Länder übertragen lässt. Die Vielzahl der zwischenzeitlich erschienenen Veröffentlichungen, in denen Erinnerungsorte aufgelistet werden, ist bereits eine Antwort auf diese Herausforderung. Hierzu gehören auch die von *Étienne François und Hagen Schulze editierten und beim Münchener Verlag Beck herausgegebenen „Deutschen Erinnerungsorte“ (2001), die dann in einer Auswahl 2007 unter dem Titel „Mémoires allemandes“ auch bei Gallimard in Frankreich erschienen. Zwei Motive bewegten die Herausgeber als sie 1995 begannen, das Projekt zu konzipieren. Zum einen die Skepsis gegenüber den Reaktionen vieler deutscher Historiker, die bei der Publikation des ersten Bandes von Pierre Noras französischen Erinnerungsorten kategorisch behaupteten, dass eine Übertragung eines solchen Projekts auf Deutschland zum Scheitern verurteilt sei, da das Verhältnis zwischen deutscher Identität und Geschichte gestört bzw. von Brüchen (vor allem dem Zivilisationsbruch zwischen 1933 und 1945) bestimmt sei. Zum anderen der Befund, dass Deutschland wegen seiner „geschichtlichen Last“ vielleicht wie kein anderes Land von der Erinnerung „heimgesucht“ wird, die ähnlich wie in Frankreich permanente g <?page no="222"?> Erinnerungsorte 222 E Kontroversen hevorruft. Diese besitzen eine politische, ethische, emotionale und konfliktgeladene Dimension, derer man sich erst bewusst wird, wenn man tief in die Geschichte des Landes eintaucht. Hinzu kommt, dass die Wiedervereinigung den Debatten zur Gegenwart der Geschichte neue Aktualität verliehen hatte: Deutschland sah sich jetzt mit zwei sehr verschiedenen, bisweilen antagonistischen Erinnerungen konfrontiert und war zudem gehalten, die Erinnerung an den Nationalsozialismus nicht zu relativieren. Wie konnte Deutschland, das - gewissermaßen ohne es zu wollen - wieder ein Nationalstaat geworden war, es schaffen eine kritische Bestandsaufnahme seines historischen Erbes mit seinen nationalen Dimensionen zu unternehmen? In Seminaren an der FU Berlin wurden die Fragen der Machbarkeit anfangs diskutiert, vergleichbare Arbeiten auf internationaler Ebene herangezogen und die neuestes Studien zur kollektiven Erinnerung berücksichtigt (Marie-Claire Lavabre, *Paul Ricœur, Reinhart Koselleck, Jan und Aleida Assmann). Schnell zeigte es sich, dass eine 1: 1-Übertragung des für Frankreich praktizierten Ansatzes auf Deutschland in eine Sackgasse führen würde. Daher erarbeitete man eine Liste möglicher Themen und traf dann eine Auswahl. Die Erinnerung ähnelt jedoch der Büchse der Pandora und schnell stellte sich das Problem, dass die Zahl der möglichen Einträge kontinuierlich anstieg. Schließlich einigten sich die Herausgeber auf 121 Einträge, die von der Antike bis in die heutige Zeit reichen und zum einen allgemeinen Erwartungen entsprechen (Brandenburger Tor), zum anderen aber auch eher unkonventionell sind (Schrebergärten). Bei der Präsentation und der Zusammenstellung der Artikel orientierten sich die Herausgeber an drei Richtlinien: Erstens sollte das Werk einem offenen Labyrinth ähneln, das fünf bis sieben Einträge um einen zentralen und in der Regel unübersetzbaren Begriff - z.B. Bildung, Heimat, Reich, Schuld, Volk - gruppiert, um zu zeigen, dass es nicht nur eine deutsche Erinnerung gibt, sondern vielmehr verschiedene in ständigem Wandel befindliche Erinnerungen; zweitens wurde bei der Auswahl der Autoren - was ihr Alter, aber auch ihre fachliche Herkunft (Historiker, Literaturwissenschaftler, Journalisten usw.) betraf - versucht, ein breites Spektum abzudecken, denn die deutschen Erinnerungen sollten nicht alleine die Sache von Experten sein und sowohl Ausländer wie Deutsche ansprechen; drittens wurde der Entschluss gefasst, auf kurze Artikel zu setzen, die neue Wege aufzeigen, Neugier wecken und den Interessierten zum Weiterlesen und -denken anregen sollen. Die wichtigsten Erträge dieses Projekts, das über 120 Autoren vereint, lassen sich auf vier Aspekte konzentrieren. Der erste ist die zentrale Rolle der Erinnerung an das „Dritte Reich“ in den deutschen Erinnerungen. Vergleichbar ist dies - ex negativo - mit der Stellung der Französischen Revolution in den Erinnerungen westlich des Rheins; in Deutschland ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus, genauer an den Holocaust, der erste Bezugspunkt, der die Architektur der deutschen Erinnerungen strukturiert und mit dem sich - explizit oder implizit - alle anderen auseinandersetzen müssen. Im Personenindex der drei Bände kommt Hitler (weit vor Goethe oder Bismarck) am häufigsten vor, weil sein Name in sehr vielen Einträgen auftaucht, sodass bewusst darauf verzichtet wurde, ihm einen eigenen Eintrag zu widmen. Der zweite Ertrag des Unternehmens liegt darin, dem Reichtum eines länger zurückreichenden Erinnerungserbes einen herausragenden Platz einzuräumen. Zu Anfang war geplant, Gedächtniskonstruktionen zu privilegieren, die sich auf die Herausbildung der deutschen Nation im heutigen Verständnis beziehen. Doch je weiter das Projekt voranschritt, umso stärker drängte sich die Notwendigkeit auf, die Perspektive zu erweitern. Außer der Tatsache, dass eine Reihe von Erinnerungskonstruktionen des 19. Jahrhunderts Reinterpretationen des länger zurückliegenden nationalen Erinnerungserbes sind (das Beispiel von Richard Wagner ist hier sinnbildhaft), ist dieses Erbe selbst, ob es nun bis in die Antike reicht (wie die „Germania“ von Tacitus), ins Mittelalter (wie der Begriff des „Reichs“) oder in die frühe Neuzeit (der Dreißigjährige Krieg), sehr viel reicher und komplexer als anfangs angenommen, was wiederum die Existenz einer nationalen deutschen Realität vor der ersten staatlichen Einheit im Jahre 1871 bestätigt. Der dritte Ertrag ist darin zu sehen, dass der eingangs oft formulierte Einwand entkräftet werden konnte, wonach es nicht eine, sondern mehrere deutsche Erinnerungen gebe, die nicht miteinander in Einklang zu bringen seien. Die Vielzahl <?page no="223"?> Études germaniques E 223 der deutschen Erinnerungen, katholische und protestantische Erinnerung, nationale und regionale Erinnerung, westliche und östliche Erinnerung, hat sich zweifellos bestätigt (deswegen auch der Titel „Mémoires allemandes“ für die französische Ausgabe der „Deutschen Erinnerungsorte“). Doch hinter dieser konstitutiven Pluralität (die selber untrennbar vom Föderalismus ist) verbarg sich ein unsichtbares Raster, das sich aus den vielen impliziten Verweisen zwischen den Artikeln ergab, die wiederum die ausgewählten Fragmente der Erinnerung miteinander verbanden. Wenn es schon keine einheitliche deutsche Erinnerung gibt, so gibt es doch eine spezifisch deutsche Herangehensweise an die Vergangenheit, die das gemeinsame Kulturerbe der verschiedenen deutschen Erinnerungen bildet. Die Tatsache, dass Erinnerungskonstruktionen immer geteilt werden, ist der letzte Ertrag unserer Erhebung. Geteilt, denn sie formen erstens ein Kulturerbe, das mehrere Gruppen für sich beanspruchen können, zweitens sind diese Ansprüche aber durchaus unterschiedlich und bisweilen umstritten. Was sich in Frankreich in Bezug auf die Revolution und die Résistance feststellen lässt, findet sich im deutschen Fall bei der Reformation oder der Berliner Mauer. Die kontroversen Aneignungen finden sich auch zwischen verschiedenen Ländern bzw. Erinnerungskulturen. Doch sind diese „geteilten Erinnerungsorte“ besonders häufig im deutschen Fall, weil sich Deutschland in der Mitte Europas befindet, sich seine Grenzen kontinuierlich verändert haben und es zu permanenten Interaktionen mit den Nachbarn in einem Prozess kam, in dem sie sich wechselseitig bedingten. Auschwitz als deutscher Erinnerungsort par excellence ist auch ein jüdischer Erinnerungsort, doch zugleich polnisch, europäisch und weltumspannend; Napoleon gehört zum deutschen Erinnerungsinventar, doch auch zum französischen, englischen, italienischen, spanischen und russischen, was u.a. die große Anzahl von „geteilten Erinnerungsorten“ in den Bänden erklärt. In Deutschland fand das Projekt ein breites Echo, was sich sowohl an den zahlreichen Rezensionen ablesen lässt, als auch an der Auflagenhöhe (über 50 000), dem Einsatz in der Schule und an der Universität sowie an den nachfolgenden Veröffentlichungen, die sich explizit auf die „Deutschen Erinnerungsorte“ bezogen. Auch das Echo in Frankreich war durchaus ermutigend. Der Transfer eines zunächst in Frankreich erprobten Ansatzes nach Deutschland und sodann sein geglückter Reimport von Deutschland nach Frankreich führen zu der Annahme, dass die Ähnlichkeiten der Erinnerungskulturen zwischen den Ländern stärker sind als oftmals angenommen. Die Publikation der „Deutschen Erinnerungsorte“ (2001) und der nur zwei Jahre später erfolgte Beschluss zur Erarbeitung eines *deutsch-französischen Schulgeschichtsbuches sprechen für diese Annahme, nicht zuletzt weil verschiedene Autoren der Erinnerungsorte auch maßgeblich am Schulbuch beteiligt waren. Die Zukunft gehört nun transnationalen und europäischen Projekten. Sie können sowohl auf den „Deutschen Erinnerungsorten“ bzw. den „Mémoires allemandes“ sowie auf dem *deutschfranzösischen Schulgeschichtsbuch aufbauen, deren Rahmen jeweils bereits ein europäischer war und im letzteren Fall den Anspruch vertrat, eine europäische bzw. eine Weltgeschichte zu präsentieren. Vorbereitet wird momentan von deutschen und polnischen Historikern eine vierbändige Ausgabe von 90 deutsch-polnischen Erinnerungsorten, was für die These spricht, dass die Konjunktur der Erinnerung eine transnationale Realität ist und die Antworten, welche eine neue Generation von Historikern beitragen wird, auch nur transnational sein können. Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1984ff.; Étienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001ff./ 2009; dies. (Hg.), Mémoires allemandes, Paris 2007; Tilmann Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung, Göttingen 2009; Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis, Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2012; Étienne François, Thomas Serrier, Lieux de mémoire européens, Paris 2012. Étienne François Études germaniques Am 29.1.1928 beschlossen französische Deutschlandexperten aus unterschliedlichen Fächern und methodisch ursprünglich getrennten Ausrichtungen eine Société des études germaniques (als eingetragenen Verein) ins Leben zu rufen, die es sich, ausgestattet mit der Bibliothèque Maurice Cahen und angelehnt an das Institut germanique der Sorbonne, zum Ziel setzte, die Erforschung von Sprache, Literatur und Kultur des deutschen Sprachraums zu fördern. Bald hinzu kamen die <?page no="224"?> Europäische Konföderation der Oberrheinischen Universitäten (Eucor) 224 E neu eingeführten Fächer Skandinavistik und Niederlandistik. Ein mit der Zeit immer wichtigeres Anliegen war, die deutsch-französischen Beziehungen auf Grund wissenschaftlicher Ansätze zu analysieren. Damit vollzog sich explizit ein klarer Bruch mit der Praxis des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, in der Journalisten und Schriftsteller das Deutschlandbild prägten. Zu den aktivsten Mitgliedern der société gehörten zwar von nun an Vertreter der germanischen Philologie bzw. Altgermanisten (Fernand Mossé, Antoine Meillet), und der Mediävist Tonnelat, zusammen mit seinem Schüler Jean Fourquet, aber auch der Soziologe Marcel Mauss, der Goethe- und Nietzsche- Spezialist Henri Lichtenberger oder Charles Andler, der insgesamt sechs Bände über Nietzsches Vorläufer verfasste und eine bestens dokumentierte Materialsammlung zum Thema „Pangermanismus” erstellte. Zu nennen wäre ferner die Andler-Schülerin Geneviève Bianquis, die berühmt wurde, weil sie die erste Professorin an einer Philosophischen Fakultät in Frankreich (Dijon) war und sich als Hölderlin-Übersetzerin einen Namen machte. Nachdem die Gesellschaft zwischen 1940 und 1944 ihre Aktivitäten eingestellt hatte, wurde sie 1946 neu gegründet, wobei fortan die Publikation einer Vierteljahresschrift, die „Études germaniques“, zentral stand. Das bald international renommierte Organ ist von Anfang an von allen offiziellen Institutionen unabhängig gewesen, was dem Herausgebergremium die größtmögliche wissenschaftliche Freiheit gewährleistet. Gleichermaßen ist es vertraglich an einen Verlag (zunächst Didier Érudition, dann Klincksieck und jetzt Les Belles Lettres) gebunden, der seine ökonomische Existenz sichert und einen professionellen Vertrieb gewährleistet. Entscheidend war der neue Kurs, der Ende der 1980er Jahre einsetzte. Obwohl Paris nach wie vor als Sitz der société fungiert, stammen die Vize-Präsidenten und die Mitherausgeber seither mehrheitlich aus anderen Universitäten. Ein zweites Merkmal ist der sich gleichzeitig vollziehende Internationalisierungsprozess. Im comité scientifique international sitzen Wissenschaftler aus Deutschland, der Schweiz, Italien, Belgien, Ungarn, Rumänien, Polen, Spanien, USA, Norwegen, Japan und China. Derselben Tendenz begegnet man bei der geographischen Verortung der 600 Abonnenten, unter denen Nordamerika, der deutsche Sprachraum und Italien am stärksten vertreten sind. Da viele Autoren außerhalb der frankophonen Länder leben, wird in Hinsicht auf die Sprache der publizierten Aufsätze eine deutsch-französische Parität angestrebt. Damit versuchen die „Études germaniques“ ihrer Mission im Rahmen der nicht-deutschen Germanistiken gerecht zu werden. Dem „Blick von draußen” kommt eine zentrale Bedeutung zu. Germanistik ist hier nicht nur mit „deutscher Sprach- und Literaturwissenschaft” gleichbedeutend. Komparatistik, Ideengeschichte, Kulturtransfer, Literatur und Soziologie, Literatur und Kunst/ Ästhetik stehen ebenfalls im Blickpunkt des Interesses. In diesem Sinne lässt sich unbestreitbar eine Kontinuität seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges feststellen, die, mit Anpassungsfähigkeit, Toleranz und Flexibilität gepaart, einer effektiven, ideologiefreien Zusammenarbeit der französischen, deutschen, europäischen und außereuropäischen Germanisten sehr zugute gekommen ist. Dass die verantwortlichen Herausgeber - in erster Linie Charles Andler, *Robert Minder, *Claude David und *Jean-Marie Valentin - ausnahmslos aus dem Osten bzw. Nordosten Frankreichs stammen, ist so gesehen wohl kein Zufall. Jean-Marie Valentin Europäische Konföderation der Oberrheinischen Universitäten (Eucor) Eucor, die Europäische Konföderation der Oberrheinischen Universitäten, umfasst fünf Universitäten der Oberrheinregion: die Universität Basel, die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die Université de Strasbourg, das Karlsruher Institut für Technologie und die Université de Haute-Alsace Mulhouse-Colmar. Ähnlich wie die *Université de la Grande Région (UGR) hat die Konföderation ihren Ursprung in zahlreichen bilateralen Beziehungen, die schon lange bestanden und im Februar 1984 zur Gründung der Konferenz der Rektoren und Präsidenten der Oberrheinischen Universitäten führten. Im Januar 1987 folgte dann die gemeinsame Erklärung der Präsidenten und Rektoren, die der Gründung von Eucor vorausging. Die Gründungsvereinbarung, die anschließend 1989 in Basel unterzeichnet wurde, führt die grund- <?page no="225"?> Ewig, Eugen E 225 legenden Prinzipien und Ziele dieser grenzüberschreitenden Konföderation auf. Eucor ist ein deutsch-französisch-schweizerisches Metanetzwerk im Grenzgebiet zwischen Vogesen und Schwarzwald. Es erstreckt sich über eine Fläche von 21 518 km² mit fast sechs Millionen Einwohnern; die Eucor-Universitäten mit ihren etwa 190 000 Studierenden und mehr als 11 000 Wissenschaftlern stellen den Hauptteil des Forschungs- und Hochschulpotentials der Region dar. Die Konföderation verfügt über eine gemeinsame Führungsinstanz, die im Turnus von einem der Präsidenten und Rektoren der Eucor-Universitäten geleitet wird. Sie wird von einer Koordinationsstelle, die die Zusammenarbeit unterstützt und fördert zwischen den Akteuren und Abteilungen, die an Kooperationsprojekten beteiligt sind, gewährleistet. Durch den Eucor-Studierendenausweis hat die Gründungsvereinbarung sofort die Idee eines trinationalen Campus ohne Grenzen konkretisiert. Alle Studierende genießen die gleichen Rechte an den Partneruniversitäten, die Möglichkeit zum Besuch von Lehrveranstaltungen, und können Dienstleistungen in Anspruch nehmen (Bibliotheken, Mensen, Online-Dienste). Die Lehrenden können an den Partneruniversitäten unterrichten und forschen. Zahlreiche Netzwerke und bedeutende Projekte sind aus dieser grenzüberschreitenden Initiative hervorgegangen, in den Naturwissenschaften (Netzwerk der Neurowissenschaften, École supérieure de biotechnologie, Sommeruniversität für Umweltwissenschaften, Veröffentlichung eines regionalen Klimaatlasses) wie auch in den Geisteswissenschaften (Netzwerke der Altertumswissenschaften und der Skandinavistik). Studiengänge, wissenschaftliche Kolloquien, Sport- und Kulturveranstaltungen vervollständigen das Angebot der Konföderation. Auf der Verwaltungsebene haben die Eucor-Universitäten ebenfalls das lokale Angebot erweitert. Das Bibliothekennetzwerk ermöglicht den Studierenden und Mitarbeitern beispielsweise den Zugang zu den (virtuellen und physischen) Beständen der Partneruniversitäten und großen Bibliotheken der Region. Mehr als zehn Millionen Bände stehen zur Verfügung. Jacques Sparfel Ewig, Eugen Frühe räumliche und intellektuelle Prägungen im katholisch-abendländischen Milieu des Rheinlandes hatten den Blick des Bonner Mediävisten Eugen Ewig (1913-2006) bereits in frühen Jahren in Richtung Frankreich gerichtet und ihn in den 1950er und 1960er Jahren zu einem Mittler in den *Historikerbeziehungen zwischen beiden Ländern gemacht. Im Gegensatz zu nicht wenigen Vertretern der deutschen Historikerzunft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Frankreich für ihn zu keinem *Erbfeind geworden. Während des „Dritten Reichs“ erlag er nicht dem ideologischen Anpassungsdruck, wurde nicht Mitglied der NSDAP und widersetzte sich der Tendenz, mit Hilfe der historischen Disziplin den Ausdehnungsdrang des Regimes wissenschaftlich zu unterfüttern. Ewig gelang es, die ihm u.a. von seinem Bonner Lehrer Wilhelm Levison vermittelten wissenschaftlichen Standards zu wahren. Er entwickelte bereits in dieser Zeit eine transnationale Sensibilität, auf deren Grundlage er nach 1945 Brücken über den Rhein baute und zum ersten deutschen *Lektor an der Universität in Nancy nach dem Krieg wurde. Als Gründungsdirektor und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des *DHI Paris bewegte er sich bisweilen zwischen Politik und Wissenschaft, aber zumeist in einer Dialektik von wissenschaftlicher Kompetenz und zivilgesellschaftlichem Engagement, mit der er sich in die sich entwickelnden transnationalen Dialogstrukturen zwischen beiden Ländern einbringen konnte. Ewig musste auf den christlich-abendländischen Zug nicht erst aufspringen, zeugten sein bisheriges Lebenswerk und sein Denken doch gerade auf diesem Feld von einer beachtlichen Kontinuität über die politischen Brüche in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hinweg. Das in Netzwerken und freundschaftlichen Beziehungen erworbene soziale Kapital konnte er in seinen Mittlerfunktionen nun nicht alleine bei der Gründung und Institutionalisierung des *DHI Paris einbringen; auch in anderen Bereichen beteiligte er sich an der Verdichtung der deutsch-französischen *Historikerbeziehungen. Mögen diese Aktivitäten auch auf einen kleinen elitären Kreis beschränkt geblieben sein, so besteht doch kein Zweifel, dass Eugen Ewig zu jener relativ breiten Generation von Mittlern gehörte, die im deutsch-französischen <?page no="226"?> Existentialismus 226 E Kontext ab Ende der 1950er Jahre innerhalb der gesellschaftlichen bzw. wissenschaftlichen Austauschinstitutionen heranwuchsen. Die bislang nur unzureichenden Informationen über ihre Lebenswege und identitätsstiftenden Schlüsselerlebnisse sollten für die Forschung Grund genug sein, sich ihrer in Zukunft verstärkt anzunehmen. Ulrich Pfeil, Eugen Ewig. Ein rheinisch-katholischer Historiker zwischen Deutschland und Frankreich, in: François Beilecke, Katja Marmetschke (Hg.), Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock, Kassel 2005, S. 527-552; ders. (Hg.), Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz, München 2007. Ulrich Pfeil Existentialismus Rein begrifflich verweist die Existentialismus genannte Denkrichtung, die sich in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts in mehreren Strömungen entwickelte, auf die Existenzphilosophie; gleichzeitig überschreitet bzw. radikalisiert sie jedoch deren Position - einer radikalen Philosophie der Subjektivität (Sören Kierkegaard) - in Richtung einer ontologisch-phänomenologisch fundierten Philosophie des Daseins, für die das „Wesen des Daseins in seiner Existenz“ (*Martin Heidegger) liegt. Ihr philosophisches Fundament ist die Überzeugung, dass die Existenz (existentia) der Essenz (essentia) vorausgeht. War Kierkegaards Existenzphilosophie nichts anderes als der großangelegte Versuch, Hegels universalistischer Geistphilosophie - mit ihrer Aufopferung des Partikularen gegenüber dem objektiven Weltgeist - ein radikales Denken des Subjekts entgegenzusetzen, dessen wesentliches Erkennen die Existenz in der Erfahrung des Religiösen betrifft (für Kierkegaard ist der Glaube ein nichtrationales Verhältnis zum Absoluten), so dominiert im Existentialismus des 20. Jahrhunderts und insbesondere bei *Heidegger das Bestreben, dieses Denken in der Existenz - jenseits aller theologischen Bindungen und aller Transzendenz - in eine „fundamentalontologische existenziale Daseinsanalytik“ umzudeuten, in der die „Seinscharaktere des Daseins“ als „Existenzialen“ gefasst werden. Bei der Einführung von *Heideggers Existenzialontologie in Frankreich spielten Emmanuel Lévinas (De l’existence à l’existant, 1947; En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, 1949), *Jean-Paul Sartre (L’être et le néant, 1943) und Jacques Derrida (Violence et métaphysique, 1967) eine wichtige Vermittlerrolle. Dieser Ideentransfer über den Rhein führte jedoch gleichzeitig auch zu einem Differenzierungsprozess, insofern der Einfluss, den die phänomenologische Ontologie *Heideggers auslöste, keineswegs identisch war mit einer totalen und unkritischen Einverleibung aller Thesen und philosophischen Theoreme des „Hüters des Seins“ aus Todtnauberg, sondern in der Regel beschränkt blieb auf die Übernahme der existential-ontologischen Perspektive Heideggers sowie einzelner wesentlicher Denkmotive von „Sein und Zeit“ bei gleichzeitiger „Korrektur“ bzw. Abwandlung anderer fundamentaler Heideggerscher Begriffsbildungen. So vermeidet z.B. *Jean-Paul Sartre, der während seines Deutschlandaufenthalts im Jahre 1933 vor allem das Werk von *Edmund Husserl studierte und sich erst in den Jahren 1939-1940 (u.a. im Kriegsgefangenenlager bei Trier) intensiv mit der *Heidegger’schen Philosophie beschäftigte, den Terminus „Fundamentalontologie“, dem er den Begriff „phänomenologische Ontologie“ entgegenstellt. In „Das Sein und das Nichts“ übt er zudem ausdrücklich Kritik an *Heideggers Begriff des „Mit-Seins“ sowie dessen Konzeption der „Koexistenz“ der diversen Ausdruckformen des „Bewusstseins“ im „In-der- Welt-sein“ als dem eigentlichen „Seinsgrund“. Er unterstreicht, dass der Begriff des „Mit-Seins“ bei Heidegger nicht die klare Beziehung des Individuums zu einem anderen Individuum beschreibt, sondern eher die „dumpfe gemeinsame Existenz des Kapitäns eines Schiffes zu seiner Mannschaft“ unter Vernachlässigung des „Adversitätskoeffizienten“, der den eigentlichen Gegensatz des Bewusstseins charakterisiert. Wichtig wäre gewesen, so *Sartre, aufzuzeigen, wie sehr das „Sein mit Peter“ bzw. das „Sein mit Annie“ zur konstitutiven Struktur meines eigenen konkreten Seins geworden ist. Die Kritik ist für *Sartre jedoch kein Hinderungsgrund sich „produktiv“ eine ganze Reihe *Heidegger’scher Begriffe positiv anzueignen, wie z.B. den zentralen Begriff des Seins als „Dasein“, den Begriff des „Nichts“ ( néant ) und der „Nichtung“ ( néantisation ), denjenigen des Seins als „In-der-Welt-Sein“ ( être-dans-le-monde ), den der „Verzeitlichung“ (temporalisation) und schließlich auch denjenigen der „Eigentlichkeit“ ( authenticité ). Hier aber besteht *Sartre sofort auf <?page no="227"?> Existentialismus E 227 einer wichtigen Differenzierung, indem er den Begriff der „Eigentlichkeit“ nicht - wie *Heidegger - primär und exklusiv auf das Sein allgemein, sondern konkret auf den „Menschen“ angewendet sehen will. In seiner programmatischen Schrift „L’existentialisme est un humanisme“ vom Oktober 1945, in der sich *Sartre weiter von Heidegger abgrenzt, wird diese Differenz nochmals vertieft durch die explizite Vindizierung des von *Heidegger verworfenen und im Namen des Kampfes gegen die „Seinsvergessenheit“ abgelehnten „Humanismus“. So setzt *Sartre bewusst gegen *Heideggers Auffassung des „Wesens der Wahrheit“ als „Wahrheit des Wesens“ einen vom subjektiven Sein als Bewusstsein bestimmten Wahrheits- und Erkenntnisbegriff, in dem das „cogito“ Descartes‘ immer noch seinen berechtigten Platz hat. Zudem lehnt er auch *Heideggers Schlussfolgerung ab, dass das Dasein als Grundstruktur der „Entbergung des Seins“ ständig zwischen der „Irrung“ (dem Selbstvergessen des Seins) und dem „vergessenen Mysterium“ hin- und her schwanke (*Sartre, Vérité et existence, 1989). Während bei *Heidegger das Wesen der Wahrheit ausschließlich im Wesen des Seinsgrunds veranschlagt wird, behauptet *Sartres Existentialismus eine enge dialektische Verbindung (Verschlingung) des (objektiven) Seins mit der (subjektiven) Freiheit, wobei die Grundlage dieser Freiheit das „Für-sich-sein“ ist, dessen „intentionales Bewusstsein“ (Husserl) stets auf die Verwirklichung eines „Projekts“ in der Welt zielt. Dementsprechend skizziert *Sartre in seiner phänomenologischen „Ontologie der Freiheit“ das Sein als den Prozess eines im „Projekt“ sich ständig entwerfenden Für-sich-Seins, das in seiner Praxis zum verantwortlichen Handeln in der Freiheit verpflichtet ist. In der „Kritik der dialektischen Vernunft“ (1960) entwickelt *Sartre diesen phänomenologischen Praxisbegriff in zugleich existenzialer und materialistischer Perspektive weiter: a) zu einem Begriff der Praxis als organisierendem Projekt der durch die Arbeit verwandelten Materie und b) zum Begriff einer „Praxis als Prozess“ als der wichtigsten Bestimmung der Praxis einer organisierten gesellschaftlichen Einheit (Gruppe oder Klasse) in der Geschichte. Somit spannt er den Bogen von einem Begriff der individuellen Praxis als „Totalisierung“ eines Projekts im Praxisfeld zur Analyse der konkreten Implikation der Praxis von „Fusionsgruppen“, Individuen und sozialen Klassen im Prozess einer Dialektik, bei der „jede geschichtliche Dialektik primär auf der individuellen Praxis als vorweg bereits dialektischer“ beruht. Dabei widmet er auch dem Problem des sozialen Konflikts sowie demjenigen der Dialektik von Gewalt und Gegengewalt im Prozess revolutionärer geschichtlicher Ereignisse (Französische Revolution, Algerienkrieg etc.) große Aufmerksamkeit. Anders als *Sartre bemüht *Albert Camus hingegen den Begriff des „Absurden“ im Rahmen einer Philosophie der Revolte, des individuellen Sich-Auflehnens, des Aufbegehrens gegen das Äußere, die dem Leben an sich jeglichen „Sinn“ abspricht. Für *Camus hat das „Absurde“ seinen Ursprung in der Diskrepanz zwischen „einem Tatbestand und einer bestimmten Realität, zwischen einer Handlung und der Welt, die stärker ist als sie. In „Der Mythos des Sisyphos“ (Le mythe de Sisyphe, 1942) bezeichnet er das Absurde als etwas, „das unsere elementaren Hoffnungen“ zerstört: „Es ist jener Zwiespalt zwischen dem sehnsüchtigen Geist und der enttäuschenden Welt“. Sein typischer Repräsentant ist Sisyphus, der dazu verdammt ist, im Zuge einer ewig sinnlosen Tätigkeit immer wieder einen Felsbrocken auf den Berggipfel zu rollen. In seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“ (L’homme révolté, 1951), dessen Thesen 1952 zum Bruch der langjährigen Freundschaft mit *Sartre führte, rechtfertigt *Camus - in theoretischem Rückgriff auf Stirner („Der Einzige und sein Eigentum“, 1844) und Nietzsche - die Revolte als den einzig angemessenen Seinsmodus der Selbstbehauptung des Ichs gegen das Äußere bei gleichzeitiger Kritik des Stirner’schen „Nihilismus“ und aller - kollektivistischen - revolutionären Gewalt. Dabei setzt sich *Camus auch explizit mit Stirners und Nietzsches radikalem Atheismus auseinander und zentriert diese Analyse von Anfang an stark auf dessen Verhältnis zum Nihilismus. Wie *Camus unterstreicht, richtet sich Stirners „Nihilismus“, d. h. seine „Verneinung“ (die eigentliche Antriebskraft seiner Revolte), unwiderstehlich gegen jegliche Bejahung, aber auch - paradoxerweise - gegen die Revolution, denn „um Revolutionär zu sein“, so Stirner, „muss man ja schon an etwas glauben, da, wo es nichts mehr zu glauben gibt“. Folglich gibt es, so *Camus, für Stirner nur eine einzige <?page no="228"?> Fassbinder, Klara Marie 228 F wirkliche und authentische Form der Freiheit, nämlich die je meinige, d.h. meine Macht, und nur eine Wahrheit: den „strahlenden Egoismus der Sterne“. Victor Farias, Heidegger et le nazisme, Lagrasse 1987; Arno Münster, Sartre et la praxis (Ontologie de la liberté et praxis dans la pensée de Jean-Paul Sartre), Paris 2005; Arno Münster, Pariser Philosophisches Journal (Von Sartre bis Derrida), Frankfurt/ M. 1987; Thomas R. Flynn, Sartre and Marxist Existentialism, Chicago 1984; Ingrid Galster (Hg.), La naissance du phénomène Sartre. Raison d’un succès (1938-1945), Paris 2001; Hans-Heinz Holz, Die abenteuerliche Rebellion. Bürgerliche Protestbewegungen in der Philosophie (Stirner, Nietzsche, Sartre, Marcuse, Neue Linke), Darmstadt-Neuwied 1976; Wolfgang Janke: Existenzphilosophie, Berlin 1982. Arno Münster F Fassbinder, Klara Marie Klara Marie Fassbinder (1890-1974) war eine katholische Vorkämpferin für die Friedenssicherung und die Frauenrechte, die aufgrund ihrer romanistischen Ausbildung vor allem als gesellschaftliche Mittlerin und als Übersetzerin vom Französischen ins Deutsche wirkte. Von einem katholisch-konservativen Elternhaus geprägt, machte sie 1913 in Münster ihr Abitur und studierte in Bonn Geschichte, Französisch, Deutsch und Philosophie. Ihr freiwilliger Hilfsdienst 1918 an der Front in Frankreich bewirkte ihr lebenslanges Engagement für die Friedenssicherung, für das sie das (reform-)katholische Milieu zum Ausgangspunkt nahm. 1920 wurde sie mit einer konventionellen Dissertation über einen französischen Troubadour in Bonn promoviert und vertiefte von Saarbrücken aus ihre Kontakte nach Frankreich, vermittels ihrer Teilnahme an den Veranstaltungen von Marc Sangnier und an den Semaines sociales von 1927 bis 1939. Beeindruckend waren für sie die Décades de Pontigny, zu denen sie zweimal eingeladen wurde. Im Deutschland der 1920er Jahre trat sie in aktive Beziehung zum Friedensbund deutscher Katholiken sowie zur Frauen-Bewegung um Helene Lange. Sie schrieb u.a. für die reformkatholische „Rhein-Mainische-Volkszeitung“ sowie das Publikationsorgan der *Deutsch-Französischen Gesellschaft. Fassbinder vertrat eine Strategie interpersonaler Völkerverständigung, in die nationalcharakterologische Prämissen eingingen, und nicht die antipatriarchalische Frauenemanzipation, die bei den spezifischen Frauen- und Müttereigenschaften als Basis der Friedensarbeit ansetzte. Schon früh von Paul Claudels Dichtungen beeindruckt, begann sie einzelne seiner Werke zu übersetzen und machte 1937 seine Bekanntschaft, aus der eine freundschaftliche Beziehung erwuchs. 1933 erteilte man ihr Berufsverbot als Lehrerin. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erhielt sie eine Professur an der Pädagogischen Hochschule in Bonn und erweiterte ihre Beziehungen zu Frankreich, die unverändert im Mittelpunkt ihres interpersonellen Wirkens standen. In die politische Öffentlichkeit trat sie 1952 mit der Gründung der Westdeutschen Frauenfriedensbewegung und der von ihr herausgegebenen Monatsschrift „Frau und Frieden“, die gegen die Wiederbewaffnungspolitik Adenauers stritten. Von den pazifistischen Prämissen ihrer Bewegung ausgehend knüpfte sie auch demonstrativ gesellschaftliche Beziehungen nach Polen und Russland. Sie setzte sich damit der politischen Anschuldigung des Kryptokommunismus aus und verlor 1953 ihre Bonner Dozentur. 1960 war sie an der Gründung der Deutschen Friedens- Union beteiligt. In Frankreich wurde sie 1955 als Gast des *Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle gewürdigt als „eine der treusten Freunde Frankreichs und der französischen Kultur“. Als sie 1956 für ihre Claudel-Übertragungen mit den Palmes académiques geehrt werden sollte, unterband der amtierende Bundespräsident Heinrich Lübke diese Auszeichnung aufgrund ihrer politischen Missliebigkeit. Ein Unrecht, das 1969 durch Bundespräsident Gustav Heinemann dann rückgängig gemacht wurde. Klara Marie Fassbinder, Der versunkene Garten. Begegnungen mit dem geistigen Frankreich des Entredeux-guerres 1919-1933, Heidelberg 1968; Vera Bücker, Klara Marie Fassbinder (1890-1974). Unermüdliche Kämpferin für den Frieden, in: Alfred Pothmann, Reimund Haas (Hg.), Christen an der Ruhr, Bottrop 2002, S. 92-105; Uta Apel, Klara Marie Fassbinder. Katholische Pazifistin und Mittlerin zwischen Deutschland und Frankreich, in: Lendemains 86/ 87 (1997), S. 76-92; Irene Stoehr, Friedensklärchens Feindinnen. Die Friedensaktivistin Klara-Marie Fassbinder und das antikommunistische Frauennetzwerk in den 1950er Jahren, in: Ariadne 58 (2010), S. 12-21. Hans Manfred Bock <?page no="229"?> Fassbinder, Rainer Werner F 229 Fassbinder, Rainer Werner Die französische Wirkungsgeschichte des deutschen Autors, Regisseurs, Schauspielers und Theatermachers Rainer Werner Fassbinders (1945-1982) begann im Film wie auf dem Theater 1974: Es ist das Jahr, in dem die „Cahiers du cinéma“ Fassbinder zum ersten Mal einen Artikel widmeten (*Neuer Deutscher Film); gleichzeitig präsentierte Michel Dubois mit „Bremer Freiheit“ an der Comédie de Caen die erste französische Inszenierung eines Fassbinder Stückes. Obwohl Fassbinder selber stärker vom amerikanischen als vom französischen Film beeinflusst wurde, er auch selten mit französischen Schauspielern oder ausgehend von französischen Texten arbeitete - eine der Ausnahmen bildet sein letzter Film „Querelle“ (1982) nach dem Roman von *Jean Genet (*Film) - und ihm hohe Auszeichnungen auf dem Festival de Cannes (anders als *Wim Wenders oder *Michael Haneke) verwehrt blieben, ist seine Bekanntheit in Frankreich und sein Einfluss im künstlerischen Feld enorm. Trotz einer beachtlichen Anzahl an Inszenierungen seiner Texte konnte sich Fassbinder dabei als Dramatiker in Frankreich jedoch nicht im gleichen Maße etablieren wie als Filmregisseur. Das zeigt nicht zuletzt das Programm des Festival d’Automne, das Fassbinder 1989 eine Retrospektive widmete - jedoch ausschließlich seine Filme zeigte. Insgesamt erscheint die Rezeption Fassbinders als Theaterautor in Frankreich einigermaßen diffus. Neben Michel Dubois, der ihn auch übersetzte, können für die 1980er Jahre vor allem Dominique Quéhec und Jean-Louis Hourdin hervorgehoben werden. Gérard Gelas inszenierte mit seiner Compagnie Théâtre du Chêne noir „Le Café“; einen wirklichen Erfolg erlebte jedoch erst Jean-Louis Martinelli auf dem Festival d’Avignon mit zwei Fassbinder-Texten (*Deutsches Theater in Frankreich) sowie der Sänger Michel Hermon mit seiner Inszenierung von „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ am Théâtre national de la Colline in Paris. Die Fassbinder-Affäre 1985 in Frankfurt/ M. um die verhinderte Uraufführung des Stückes „Der Müll, die Stadt und der Tod“ scheint keinen negativen Einfluss auf die französische Fassbinder-Rezeption genommen zu haben. So befand sich das französische Interesse an Fassbinder nach seinem unerwarteten Tod 1982 im Gegenteil zwischen 1985 und 1995 auf dem Höhepunkt: 1988 fand eine große Retrospektive seiner Filme in Paris statt (*Neuer Deutscher Film). Mitte der 1990er Jahre machten sich gewisse Abnutzungserscheinungen bemerkbar. Der in Paris lebende Regisseur *Hans Peter Cloos, der 1977 gemeinsam mit Fassbinder und anderen deutschen Filmemachern (u.a. *Volker Schlöndorff, *Alexander Kluge und Edgar Reitz) den Episodenfilm „Deutschland im Herbst“ realisierte, will in den 1990er Jahren sogar eine (wenngleich schnell vorüber gehende) Fassbinder-Aversion in Frankreich festgestellt haben. 1995 brachte *ARTE ein großes, viel beachtetes Porträt des Künstlers, das Colette Godard in „Le Monde“ ausführlich kommentierte; 1997 fand zudem eine weitere große Fassbinder-Retrospektive statt, über die mehrfach in großen Zeitschriften berichtet wurde. Im Jahr 2000 machte François Ozon mit seinen Film „Gouttes d’eau sur pierres brûlantes“ nach Fassbinders gleichnamigem Theaterstück Furore. Das (bis dahin in Deutschland immer noch nicht aufgeführte) Skandal- Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ wurde 2003 von Pierre Maillet am Théâtre de la Bastille in Paris inszeniert, wobei der angekündigte Skandal ausblieb; die Kritiken waren gespalten bis negativ. Ein weiterer interessanter Nebenschauplatz der französischen Wirkungsgeschichte Fassbinders stellt der Werdegang der beiden als Fassbinder-Musen bekannt gewordenen Schauspielerinnen *Hanna Schygulla und *Ingrid Caven dar, die sich in den 1990er Jahren in Frankreich als Chanson-Sängerinnen bzw. diseuses profilierten, wobei es ihnen nur bedingt gelang, aus dem Schatten des Meisters herauszutreten - wie indirekt Jean-Jacques Schuhls Roman „Ingrid Caven“ über seine Lebensgefährtin und Fassbinders Ex-Frau zeigt, der 2002 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Die zahlreichen Fassbinder-Festivals und -Retrospektiven sowie Artikel - beispielsweise die Kritiken von Jacques Siclier und Jean-François Rauger in „Le Monde“ - belegen das auch nach der Jahrtausendwende weiterhin ungebrochene Interesse an seinen Filmen. Auch auf jüngere Künstler übt Fassbinder immer noch eine starke Anziehung aus: François Ozon (Jahrgang 1967) bestätigte anlässlich einer Retrospektive 2004 in Paris, den großen Einfluss, den Fassbinder auf <?page no="230"?> Fédération des associations franco-allemandes pour l’Europe (FAFA) 230 F seine eigene Arbeit hatte und der 1975 geborene französische Schriftsteller Alban Lefranc (*Französischsprachige Schriftsteller in Berlin) verfasste gleich mehrere, von Fassbinder inspirierte Werke - unter anderem die beiden fiktiven Biographien „Attaques sur le chemin, le soir, dans la neige“ (2005) und „Fassbinder. La mort en fanfare“ (2012). Nicole Colin, Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945, Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer, Bielefeld 2011; Pierre Gras, Good Bye Fassbinder! Le cinéma allemand depuis la réunification, Paris 2011; Heike Hurst, Heiner Gassen (Hg.), Kameradschaft-Querelle. Kino zwischen Deutschland und Frankreich, München 1991. Nicole Colin Fédération des associations francoallemandes pour l’Europe (FAFA) Die Fédération des associations franco-allemandes pour l’Europe (FAFA), bis 1993 „Fédération des associations franco-allemandes en France et en Allemagne“, ist aus der *Vereinigung Deutsch-Französischer Gesellschaften in Deutschland und Frankreich (VDFG) hervorgegangen, deren französische Mitgliedsgesellschaften 1984 die juristisch selbständige FAFA gründeten. Trotz der formellen Trennung blieben die Verbundenheit in der gemeinsamen Zielsetzung - Engagement für die deutsch-französische Annäherung und die europäische Integration -, die daraus resultierende enge Zusammenarbeit und die vereinspraktische Verklammerung zwischen FAFA und *VDFG erhalten. Die Mitgliedsgesellschaften der FAFA sind beitragsfrei gestellte Mitglieder der *VDFG mit beratender Stimme, der Präsident der FAFA ist stimmberechtigtes Vorstandsmitglied der *VDFG, und jeweils umgekehrt, der alljährliche Kongress bzw. die conférence der Mitgliedsgesellschaften aus beiden Ländern wird gemeinsam vorbereitet, abwechselnd nach Frankreich und nach Deutschland und jeweils in eine andere Stadt einberufen. Es finden jährlich gemeinsame Vorstandssitzungen und eine gemeinsame Mitgliederversammlung statt, bei denen Resolutionen, z.B. zur Förderung der Partnersprache, zur Forderung nach intensiver Nutzung des *deutsch-französischen Schulgeschichtsbuches etc. verabschiedet werden. Es gibt kein vergleichbar integriertes Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen in zwei Ländern. Alle Vorstandsarbeit wird ehrenamtlich geleistet. Die Unterschiede zwischen FAFA und *VDFG erklären sich aus den unterschiedlichen Gegebenheiten in Frankreich und Deutschland. Der FAFA gehören einige Gemeindeverwaltungen, mehr *Städtepartnerschafts-Comités und weniger Kulturvereine an als der *VDFG. Die Mitgliedsgesellschaften der FAFA bieten häufiger Kurse zum Erwerb der Partnersprache an als die der *VDFG, weil in Deutschland die Volkshochschulen diese Aufgabe erfüllen. Insbesondere unterscheidet sich die Binnenstruktur. Während die *VDFG in direktem Kontakt mit ihren einzelnen Mitgliedsgesellschaften steht, hat die FAFA mit der Union régionale eine Zwischenebene geschaffen, von denen zurzeit fünf existieren: Union francilienne (UFAFA) für die Île de France, UAFARL für die Region Lothringen, UCBRP (Union pour la coopération Bourgogne/ Rhénanie-Palatinat) für das Burgund, URB für die Bretagne und AFAPE- RA (Acteurs franco-allemands pour l’Europe) für Rhône-Alpes. Hinzu kommt die themenbezogene Fédération des chorales franco-allemandes. Die Zahl der Mitgliedsgesellschaften ist abhängig von deren pünktlicher jährlichen Beitragszahlung und schwankt zwischen 100 und 140. Die Gesamtzahl der persönlichen Mitglieder der Einzelgesellschaften liegt über 14 000. Georges Koch, La FAFA, in: Henri Ménudier (Hg.), Le couple franco-allemand en Europe, Asnières 1993, S. 314-319. Beate Gödde-Baumanns Fernsehen Seit dem Frühjahr 1935 gab es sowohl in Deutschland als auch in Frankreich ein regelmäßiges Fernsehprogramm: Am 22.3. begann die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft an drei Abenden pro Woche Sendungen auszustrahlen, und am 26.4. nahm der Fernsehsender des französischen Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen seinen Betrieb auf. Die anfangs mangelhafte Bildqualität sollte rasch verbessert werden. Zu diesem Zweck schloss die deutsche Telefunken Gesellschaft bereits 1936 ein Kooperations- und Patentaustauschabkommen mit der französischen Compagnie des Compteurs. Diese Zusammenarbeit wurde durch den Ausbruch des Krieges nur kurz unterbrochen und bildete während der deutschen Besatzung eine wichtige Basis für die Entstehung des deutsch-französischen Fernsehsenders Paris, <?page no="231"?> Fernsehen F 231 der zwischen August 1942 und August 1944 ein zweisprachiges Programm ausstrahlte. Nach Kriegsende nahm das französische Personal des Senders bereits im Oktober 1945 die modernen technischen Anlagen wieder in Betrieb, sodass Frankreich bei der Entwicklung der Fernsehtechnik zu einem Vorreiter in Europa wurde. Um diese Stellung auszubauen, nahm man schon Ende des Jahres 1946 die Kooperation mit der deutschen Telefunken wieder auf; dementsprechend wurde zunächst auch die deutsche Fernsehtechnologie beibehalten. Allerdings legte die französische Regierung im November 1948 fest, dass künftig ein von dem Fernsehpionier Henri de France entwickeltes hochauflösendes Fernsehsystem die französische Standardnorm darstellen solle. Somit entwickelte sich in den folgenden Jahren eine starke Konkurrenz zwischen der französischen Standardnorm mit 819 Zeilen und der deutschen mit lediglich 625 Zeilen, welche beispielsweise auch von der Firma Philips für die Niederlande übernommen wurde. Dabei ging es letztlich um die Frage, welche Übertragungstechnik sich als standardisierte Norm in Europa durchsetzen werde. Als in der Bundesrepublik Deutschland der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) im Dezember 1952 mit der Ausstrahlung eines regelmäßiges Fernsehprogramms begann, war es auf europäischer Ebene noch immer zu keiner Einigung gekommen, sodass man sich gezwungen sah, die beiden unterschiedlichen Sendenormen nolens volens hinzunehmen - außer in Frankreich wurde auch das Fernsehprogramm im Saarland ab 1953 über den Privatsender Telesaar mit der französischen 819 Zeilen-Norm ausgestrahlt. Ab November 1954 wurde ein bundesweites Gemeinschaftsprogramm der Arbeitsgemeinschaft der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) unter dem Namen Deutsches Fernsehen mit dem 625-Zeilen-Standard ausgestrahlt. Angesichts der unterschiedlichen Technologien war es somit nicht möglich, mit einem deutschen Fernsehgerät das französische oder saarländische Programm zu empfangen; gleiches galt für die französischen Geräte in Bezug auf das deutsche Programm. Immerhin konnte auf europäischer Ebene eine Kooperation der Fernsehanstalten begonnen werden: 1954 wurde die Eurovision ins Leben gerufen, die den Austausch und die gemeinsame Produktion von Fernsehprogrammen unter den europäischen Sendeanstalten voranbringen sollte. Der „Austausch von Rundfunk- und Fernsehsendungen, die der Verbreitung von Kulturgut gewidmet sind“, sollte auch mit dem *Deutsch- Französischen Kulturabkommen vom 23.10.1954 gefördert werden, und tatsächlich wurde bereits 1955 ein Fernsehvertrag zwischen der Radiodiffusion-télévision française (RTF) und der ARD unterzeichnet, in welchem sich beide Seiten zum gegenseitigen Austausch von Nachrichtenfilmen, zu einer vertieften Berichterstattung über das Partnerland und zur Förderung von Koproduktionen und des Personalaustauschs verpflichteten. Zwar hatte dieser Vertrag aufs Ganze gesehen in den folgenden Jahren keine größeren Auswirkungen; immerhin unterhielten jedoch die Sendeanstalten der ehemaligen französischen Besatzungszone und des Saarlandes, also der Südwestfunk (SWF) und nach dem Beitritt im Jahre 1957 auch der Saarländische Rundfunk (SR) recht gute Austauschbeziehungen mit der RTF - beispielsweise übertrug der Saarländische Rundfunk ab 1960 die Tour de France auch im Fernsehen. Die im Anschluss an den *Élysée-Vertrag von 1963 unternommenen Initiativen brachten im Hinblick auf das Fernsehen kaum substantielle Fortschritte. So wurde zwar innerhalb des neu gebildeten Deutsch-Französischen Rundfunkrats (*Hörfunk) neben der Hörfunkkommission auch eine eigene Fernsehkommission etabliert; die Arbeit dieser Kommission lief jedoch eher schleppend an, und nach der Umstrukturierung des französischen Fernsehens im Jahr 1974 trat sie überhaupt nicht mehr zusammen. Die institutionelle Zusammenarbeit beschränkte sich daher in den folgenden Jahren im Wesentlichen auf Kooperationsvereinbarungen zwischen einzelnen Sendeanstalten. Erschwerend kam hinzu, dass sich der Graben, der im Hinblick auf die unterschiedliche Fernsehtechnologie zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich bestand, mit der Einführung des Farbfernsehens in beiden Ländern noch weiter vertiefte: 1956 hatte der Franzose Henri de France das SECAM-System entwickelt, Walter Bruch kurze Zeit später bei der Telefunken das PAL-System. Schon Mitte der 1960er Jahre wurde deutlich, dass es zu keiner Einigung auf einen europaweiten Standard, son- <?page no="232"?> Film 232 F dern zu einem konkurrierenden Wettstreit zwischen dem bundesdeutschen und dem französischen System kommen würde. Hinter der Kontroverse standen letztlich aber weniger technische als vielmehr politische Gründe: Während in der Bundesrepublik mit dem Fernsehurteil die föderale Struktur der Rundfunkanstalten bestätigt und die politischen Einflussmöglichkeiten extrem beschränkt worden waren, war das Fernsehen für die französische Innen- und Außenpolitik jener Jahre von hoher Relevanz - die Tatsache, dass Frankreich sein SECAM-System 1965 an die Sowjetunion und 1969 an die DDR verkaufte, während sich im restlichen Europa die PAL-Norm durchsetzte, verdeutlicht, dass die PAL-SECAM-Kontroverse mehr war als ein technischer Wettstreit. Es sollte noch weitere 40 Jahre dauern, ehe die fernsehtechnologischen Unterschiede mit der Einführung der digitalen DVBT-Norm (ab 2002 in Deutschland und ab 2005 in Frankreich) überwunden werden konnten, was dann endlich einen länderübergreifenden Empfang ermöglichte. Im Hinblick auf das Fernsehprogramm gab es zwar schon früh einzelne Gemeinschaftsprojekte, wie eine 1964 ausgestrahlte, anspruchsvolle Dokumentationssendung über den Ersten Weltkrieg; insgesamt überwog jedoch eine gewisse Diskrepanz, da in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren viele Sendungen zur französischen Geschichte und Kultur ausgestrahlt wurden, in welchen man um ein differenziertes Frankreichbild bemüht war, während die Darstellung des deutschen Nachbarn im französischen Fernsehen häufig von Klischees und Rückgriffen auf die nationalsozialistische Vergangenheit bestimmt wurde. Diese Entwicklung konnte auch der spektakuläre Programmaustausch vom 30.6.1978 nicht korrigieren, als der französische Fernsehsender TF1 ab 20.35 Uhr das Programm der ARD und die ARD das Programm von TF1 übernahm - die Initiative löste in beiden Ländern eher Befremden aus. Erst im Jahr 1988 wurde wieder konkret über ein deutsch-französische Gemeinschaftsprojekt im Bereich des Fernsehens nachgedacht, was schließlich zur Gründung des Kulturkanals *ARTE führte. Andreas Fickers, „Politique de la grandeur“ versus „Made in Germany“. Politische Kulurgeschichte der Technik am Beispiel der PAL-SECAM-Kontroverse, München 2007; Christina Kanyarukiga, Deutschland im französischen Fernsehen seit 1963, Gerlingen 1986; Henri Ménudier, L’Allemagne à la télévision française depuis 1963, Gerlingen 1986; Michael Rother, Kooperation - Kollaboration - Konkurrenz. Deutsches und französisches Fernsehen bis 1963, Berlin 2008. Ansbert Baumann Film Die Exporteinnahmen französischer Filme in Deutschland betrugen in den letzten zehn Jahren zwischen 13 und 24 Millionen Euro jährlich. Damit nimmt der französische Film den zweiten bzw. dritten Platz unter den ausländischen Filmen ein - wenngleich mit großem Abstand zu den Amerikanern. Für die französische Filmwirtschaft ist Deutschland umgekehrt der erste europäische Markt, noch vor Italien. Vor allem die Kommunalen Kinos zeigen viele französische Filme. Auf der Website der französischen Botschaft in Deutschland (www.deutschland-frankreich.diplo.de) ist entsprechend zu lesen: „In Deutschland erscheint das französische Kino als eine echte Alternative zum Kino aus Hollywood.“ Die Filmfestivals in Frankreich und Deutschland sind seit Jahrzehnten Begegnungsplatz deutscher und französischer Filme, von denen nicht selten neue Impulse ausgegangen sind. Dies war zum Beispiel 1987 der Fall, als anlässlich der 750. Jahrfeier Berlins das internationale Frauenfilmfestival in Créteil, Films de Femmes, in Zusammenarbeit mit dem *Goethe-Institut Paris ein Symposium mit dem Titel „ Pariserinnen-Berlinerinnen“ veranstaltete. Seit 1984 finden jährlich in Tübingen und Stuttgart die Französischen Filmtage (Festival du film francophone) statt, mit einer deutsch-französischen Jury, die Preise an Filme aller Länder der Frankophonie verteilt; Unifrance-Film fördert den französischen Film im Rahmen der Semaine du film français in Berlin und der ehemalige Centre d’information cinématographique des *Institut français in München mit seiner Revue CICIM stimulierte ebenfalls lange Zeit die deutsch-französischen Filmbeziehungen. Was die französischen Schauspieler betrifft, so besitzen viele eine große Popularität in Deutschland, allen voran Jean Gabin, Jean-Paul Belmondo und Alain Delon. Bei den Frauen standen Simone Signoret, Jeanne Moreau, Catherine Deneuve, Brigitte Bardot, Isabelle Adjani und Isabelle Huppert hoch in der Gunst des Publi- <?page no="233"?> Fink, Gonthier-Louis F 233 kums; eine Sonderrolle spielen *Romy Schneider in ihren französischen Filmen sowie *Marlene Dietrich. Umgekehrt erscheinen viele deutsche Schauspieler in berühmten französischen Filmen: So spielte beispielsweise Curd Jürgens an der Seite von Brigitte Bardot die Hauptrolle in „Et Dieu… créa la femme“ (1956) von Roger Vadim oder Oskar Werner in François Truffauts „Jules et Jim“ (1962), der, ausgehend von der Geschichte zweier Männer und einer Frau, eine tiefgehende Reflexion über die deutsch-französischen Beziehungen vor und nach dem ersten Weltkrieg liefert (*Stéphane Hessel). Heinz Rühmann, damals König der deutschen Komiker, stellte Jean-Pierre Mocky in „La bourse et la vie“ (1966) seinem französischen Pendant Fernandel an die Seite. François Truffaut ließ Heinz Bennent den Mann von Catherine Deneuve in „Le dernier Métro“ (1980) spielen und Bulle Ogier spielte in *Fassbinders „Die dritte Generation“ (1979). In neuerer Zeit engagierte Christian Petzold Aurélien Recoing in „Gespenster“ (2005) und Sylvie Testud wurde bekannt durch ihre Rolle der Lara in Caroline Linkes „Jenseits der Stille“ (1995). Es gab zahlreiche Verfilmungen literarischer Werke vom Nachbarn: „Eine Liebe von Swann“ (1984) nach Proust mit Alain Delon sowie *Michel Tourniers „Le Roi des Aulnes“ (1996) - beide von *Volker Schlöndorff; *Fassbinders „Querelle“ nach dem Roman von *Jean Genet mit Jeanne Moreau oder umgekehrt Eric Rohmers „Die Marquise von O…“ (1976) nach der Novelle von Kleist in deutscher Originalfassung mit Bruno Ganz und Edith Clever. Betrachtet man die Liste der Goldenen Bären bei der Berlinale, so erhielten bis 1965 fünf französische Filme diese Auszeichnung, dann jedoch erst wieder 1995 und 2001. Die Silbernen Bären (für die beste Regie) gingen an französische Filmemacher wie Eric Rohmer (zweimal), Alain Resnais (zweimal), Agnès Varda, Yves Boisset, Yves Robert, Philippe de Broca und Eric Heuman, während die ältere Garde durch André Cayatte, Robert Bresson und Christian-Jaque vertreten wurde, wobei Christian-Jaque, ebenso wie Bertrand Tavernier und Patrice Chéreau, jeweils Gold und Silber erhielten. Die ausgezeichneten französischen Schauspieler waren Jean Gabin, Jean-Pierre Léaud, Michel Simon, Jean- Louis Trintignant, Michel Piccoli und Jacques Gamblin; unter den Schauspielerinnen findet man Anna Karina, Simone Signoret, Stéphane Audran, Isabelle Adjani und Anouk Grinberg. Heike Hurst, Heiner Gassen (Hg.), Kameradschaft-Querelle. Kino zwischen Deutschland und Frankreich, München 1991; dies., Tendres Ennemis. Cent ans de cinéma entre la France et l’Allemagne, Paris 1991; Annika Darsdorf (Hg.), Der Französische Film: prägende Regisseure und Schauspieler, Fastbook Publishing 2011. Gilbert Guillard Fink, Gonthier-Louis Der in Karlsruhe im Jahre 1928 geborene Gonthier-Louis Fink ist ein Literaturwissenschaftler von internationalem Ruf, der sich über den deutsch-französischen Grenzraum hinaus dauerhafte Meriten für die Transnationalisierung von Wissenschaft erworben hat. Fink studierte Germanistik und Romanistik in Rennes, Nancy, Mainz und Paris. Er begann als *Lektor in Reims und an der Universität Dijon und arbeitete dann drei Jahre lang (1956-1959) am CNRS. Fink bekam einen Lehrauftrag an der Universität Besançon und Straßburg. Nachdem er sich 1967 an der Sorbonne habilitiert hatte, wurde er auf einen Lehrstuhl für „Littérature et civilisation allemande“ an der Universität Straßburg berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1993 lehrte. Er beteiligte sich aktiv an der akademischen Selbstverwaltung insbesondere als Dekan und Prorektor. Er gründete die Zeitschrift *„Recherches germaniques“ im Jahre 1971, die er bis 1996 leitete und die literarische, kultur- und sozialwissenschaftliche sowie komparatistische Aufsätze in französischer und deutscher Sprache veröffentlicht. Als Mitglied bzw- Vorstandsmitglied verschiedener wissenschaftlicher und kultureller Institutionen (DFG, Goethe-Stiftung Basel, Goethe-Gesellschaft in Weimar) leistete er einen bedeutenden Beitrag zur akademischen Zusammenarbeit in Europa und zum interkulturellen Dialog. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Gründung und der Arbeit der trinationalen germanistischen Regioseminare, an denen Dozenten und Studenten der Universitäten Freiburg, Basel und Straßburg teilnahmen und die bis 1993 einen grenzüberschreitenden Unterricht boten. Fink gründete zudem die Société Goethe de France, deren Vorsitz er bis 2005 führte. Als Schüler *Robert Minders war Fink immer bestrebt, die literarischen Phänomene in ihrem historischen Kontext und vor dem Hinter- <?page no="234"?> Föderation deutsch-französischer Häuser 234 F grund der ideologischen, sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen. Viele seiner Arbeiten - es sind fast zweihundert - befassen sich mit der Epoche der Aufklärung und dies oft in einer komparatistischen Perspektive, wobei er sich besonders intensiv mit den Wechselbeziehungen zwischen dem französischen und dem deutschen Kulturraum beschäftigt. Auch das Werk Johann Wolfgang von Goethes bildet einen der Schwerpunkte seiner Arbeit. Seine theoretischen Interessen kreisen um die Begriffe „Narratologie“ und „Imagologie“. Mit dem letzten Forschungsfeld beschäftigte er sich in den letzten Jahren besonders intensiv (nationale Vorurteile und *Stereotype, Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbild). Seine Publikationen basieren stets auf einer genauen und breit angelegten Quellenforschung, sodass sie - wie seine Habilitationsschrift „Naissance et apogée du conte merveilleux en Allemagne“ - zu Standardwerken wurden. Darüber hinaus gehört Fink zu den am häufigsten in der Forschungsliteratur zitierten französischen Germanisten. Die Verdienste Finks als Forscher und Lehrer führten die Universitäten Jena, Freiburg und Saarbrücken dazu, ihm die Ehrendoktorwürde zu verleihen, wozu noch zahlreiche andere offizielle Ehrungen kamen, so der Ordre du mérite, die Palmes académiques, das Bundesverdienstkreuz, die Goldmedaille der Goethe-Gesellschaft in Weimar sowie die Jakob-Burckhardt-Medaille in Gold. Adrien Finck, Gertrud Gréciano (Hg.), Germanistik aus interkultureller Perspektive, en hommage à Gonthier-Louis Fink, Straßburg 1988; Raymond Heitz, Christine Maillard (Hg.), Neue Einblicke in Goethes Erzählwerk/ Nouveaux regards sur l’œuvre narrative de Goethe, Zu Ehren von/ En l’honneur de Gonthier- Louis Fink, Heidelberg 2010. Roland Krebs Föderation deutsch-französischer Häuser Fédération des maisons francoallemandes Als in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund der Gründung zahlreicher *Goethe-Institute in Mittel- und Osteuropa Diskussionen um die Notwendigkeit staatlich geförderter Kulturpräsenz in Westeuropa geführt wurden, das *Goethe-Institut 1998 sein Institut in Marseille schloss (um dort übrigens 2013 erneut ein Verbindungsbüro zu eröffnen) und an vielen anderen Instituten in Frankreich erhebliche Einsparungen vornehmen musste, trafen die Leiter einiger voneinander unabhängiger deutscher bzw. deutsch-französischer Kulturhäuser (Kurt Brenner, Heidelberg-Haus in Montpellier, Till Meyer, Haus Rheinland-Pfalz in Dijon, Joachim Rothacker, Deutsch-Französisches Kulturzentrum in Aix-en-Provence und Joachim Umlauf, *Heinrich-Heine-Haus in Paris) die Entscheidung ihren Wirkungskreis zu vergrößern, indem sie sich gemeinsam mit dem Centre franco-allemand Nantes 1997 zu einer Föderation zusammenschlossen. Später kam noch die Maison de l’Allemagne in Brest hinzu. Gemeinsam bilden diese Institutionen ein aktives Netzwerk, das immer wieder landesweite Projekte im Bereich (deutscher und französischer) Kultur, Bildung und Sprache lanciert. Viele dieser Institutionen haben ihren Ursprung in lokalen Initiativen, die stark durch zivilgesellschaftliches Engagement und den Wunsch nach deutsch-französischer Annährung geprägt waren. Sie beruhen auf *Städtepartnerschaften und Universitätsbeziehungen in Montpellier (mit Heidelberg) und Aix-en-Provence (Tübingen), auf einer Regionalpartnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz mit dem Burgund in Dijon, auf Universitätspartnerschaften in Nantes. In Deutschland gibt es in Heidelberg (Montpellier- Haus) und Mainz (Haus Burgund) entsprechende Gegenstücke, die allerdings keinen eigenen Verbund bilden und zudem neben kulturellen, regionale bzw. touristische Programmschwerpunkte setzen. Die intensive lokale Einbettung der Häuser in Frankreich sorgt dafür, dass auf spezifisch örtliche Gegebenheiten angemessen reagiert und langfristig eingegangen werden kann und dass sie als integraler Bestandteil der französischen Kulturszene der jeweiligen Stadt betrachtet werden. Das aktive Centre franco-allemand in Aix-en- Provence hat eine Reihe von Aufgaben des ehemaligen *Goethe-Instituts in Marseille übernommen, so beispielsweise das Sprachkursangebot. Gemeinsam mit Partnern wie dem der Föderation assoziierten Kulturverein Les Amis du Roi des Aulnes von *Nicole Bary und dem *Goethe- Institut Paris engagierte sich das Haus stark im Rahmen der Capitale européenne de la culture Marseille-Provence 2013 und richtet seit 2011 ein Literaturfestival mit deutschsprachigem und eu- <?page no="235"?> Foucault, Michel F 235 ropäischem Fokus in Aix aus. Die Maison de Heidelberg in Montpellier war bis 2014 Trägereinrichtung des *DeutschMobil. Der Sitz der Föderation befand sich im Jahr 2014 an der Maison de Rhénanie-Palatinat in Dijon, Präsident war (der ebenfalls als Honorarkonsul tätige) Till Meyer, der ein aktives Institut leitet und innovative Projekte anstößt. Neben diesen drei großen Kulturzentren, die im weiteren Sinne kleineren *Goethe-Instituten in ihren Aufgaben und Angeboten ähneln (mit Bibliotheken, Sprachkursen, Kulturprogramm und Fortbildungsangeboten für Deutschlehrer), gibt es das Centre franco-allemand Nantes (das enge Verbindungen zur Université Nantes und zum *DAAD unterhält, von einem *DAAD- Lektor geleitet wird und in ein europäisch ausgerichtetes Zentrum eingebettet ist) sowie das Studentenwohnheim und Kulturzentrum *Heinrich-Heine-Haus in der Cité internationale universitaire de Paris. Mit Ausnahme des vom *DAAD finanziell und personell administrierten *Heine-Hauses gehören alle, auch die Maison de l’Allemagne in Brest, zudem zum Kreis der vom Auswärtigen Amt auf Projektbasis finanziell geförderten Kulturgesellschaften, von denen es in Frankreich noch einige weitere in Tours, Caen, Rennes, Avignon sowie Paris (Les Amis du Roi des Aulnes) gibt. Die finanzielle Förderung, inhaltliche Betreuung und Beratung der Kulturgesellschaften ist im Jahre 2008 weltweit dem *Goethe-Institut übertragen worden mit dem Ziel einer inhaltlichen Stärkung und Professionalisierung der Kulturarbeit. Im Sinne eines gemeinsamen Auftritts (auch im Internet) des Gesamtnetzwerkes, d.h. der *Goethe-Institute, der Föderation und weiterer Kulturgesellschaften wie dem 2014 in den Kreis der Geförderten aufgenommenen Institut Heinrich Mann in Pau, sollen mehr gemeinsame Projekte lanciert werden, wozu das 50. Jubiläum des *Élysée-Vertrages bereits Anlass gab. Paradepferd unter den Projekten der Föderation ist sicherlich das vielfach mit Preisen ausgezeichnete *DeutschMobil, das internationale Nachahmung u.a. in Polen, Italien, Belgien und den Niederlanden gefunden hat, als *FranceMobil in Deutschland unterwegs ist und an dem viele weitere Partner wie die *Robert Bosch Stiftung, der *DAAD, das *Goethe-Institut sowie Mercedes-Benz beteiligt sind. Nach bald fünfzehn Jahren erfolgreicher Arbeit legt das *DeutschMobil 2014/ 2015 eine Pause ein um den Partnern eine Neukonzeption zu erlauben. Die Häuser arbeiten nicht nur in diesem Zusammenhang mit Institutionen wie dem *DFI in Ludwigsburg oder dem *Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW), den politischen Stiftungen und vielen lokalen Organisationen zusammen. Sie engagieren sich zudem in erheblichem Maße im Berufs- und Bildungssektor durch ausführliche Informationen, das Vermitteln von Praktikumsplätzen und ähnliches. Dabei werden sie finanziell von französischer Seite direkt (durch Zuschüsse der jeweiligen Stadt oder Region) und indirekt (durch Sachleistungen, Räumlichkeiten etc.) erheblich unterstützt - was ihr Selbstbewusstsein und öffentliches Ansehen stärkt, aber auch Finanzierungsprobleme in Zeiten der Krise oder bei Einsparungen mit sich bringen kann. Vor Ort verstehen sie sich als Informations- und Kompetenzzentren deutsch-französischer Beziehungen und haben je nach Orientierung und Ausrichtung große Flexibilität bei der Ausgestaltung ihrer Aktivitäten. Die Föderation ist ein gutes Beispiel für die dezentrale, lokale und inhaltliche Ausdifferenzierung der deutsch-französischen Kulturszene und das hohe Maß an zivilgesellschaftlichem Engagement, das weiterhin eine bedeutsame Rolle in den deutsch-französischen Beziehungen spielt. Tanja Wielgoß, Die Fédération des maisons francoallemandes: Frischer Wind im deutsch-französischen Kulturgeschäft, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 55 (1999) 3, S. 239-245. Joachim Umlauf Foucault, Michel Über die eigenen Arbeiten hinaus hat der in Poitiers geborene Michel Foucault (1926-1984) in Deutschland die Aufmerksamkeit in kaum zu unterschätzendem Umfang auf das gelenkt, was seitdem als „französische Theorien“ bezeichnet wird und einen der bedeutsamsten Stränge im Feld der deutsch-französischen Kulturbeziehungen darstellt. Die wichtigsten Linien der Perzeption seines eigenen Werkes bzw. Denkens in Deutschland kartographieren zu wollen, würde zunächst eine Reihe von Spezialuntersuchungen erfordern, da eine auch nur annähernd vollständige Wirkungsgeschichte „viele der innovativsten humanwissenschaftlichen Debatten und Grundlagendiskussionen der letzten 40 Jahre enthalten“ müsste, wie Axel Honneth und Martin Saar im Vorwort ihrer Bestandsaufnahme feststellen. Ansätze dazu sind <?page no="236"?> FplusD 236 F nach ersten, noch vorsichtig als „Anschlüsse“ deklarierten Versuchen unmittelbar nach Foucaults Tod, für den deutschsprachigen Raum erst in jüngster Zeit wieder unternommen worden. Auf ihrer Basis lassen sich einige Strukturelemente der deutschen Rezeption Foucaults festmachen. 1. Verspätete Rezeption: Für viele Wissenschaftsdisziplinen im deutschsprachigen Raum kann man von einer verspäteten Wahrnehmung Foucaults sprechen: Auf eine erste Phase relativ strikter Ablehnung bzw. Marginalisierung folgte seit Ende der 1980er Jahre vielfach zunächst von den Rändern der jeweiligen Disziplinen her (*Peter Engelmann, *Passagen, *Merve Verlag) eine umso produktivere Rezeption, die Foucault inzwischen zum Standardautor vieler Fächer gemacht hat. Als Grund dafür wird neben anderen die späte Veröffentlichung der Vorlesungen genannt, die im deutschsprachigen Raum erst mit einigen Jahren Versatz in Übersetzung erschienen, was zu Verzögerungen in der Wahrnehmung von bis zu 20 Jahren führte, aber auch zu jeweils neuen Foucault-Konjunkturen. 2. Umwege und Re-Import: In zeit-räumlicher Hinsicht kommt hinzu, dass wichtige Perzeptionslinien ihren Ausgang in Frankreich im Schüler- und Mitarbeiterkreis Foucaults hatten, dann nach Großbritannien und in die USA führten und von dort aus wieder zurück in die deutschsprachigen Länder. Dort traf die nach Europa re-importierte Foucault-Forschung auf frühere direkte französisch-deutsche Rezeptionslinien. Symptomatisch dafür ist die Gouvernementalitätsproblematik. Einzelne Publikationen fungierten dabei als diskursive Ereignisse, durch die ein Rezeptionsstrang in neue Räume oder auf weitere wissenschaftliche Disziplinen ausgedehnt wurde. 3. Aneignung über Einführungen: Auffällig ist weiter, dass die Implementierung foucaultschen Denkens im deutschen Wissenschaftsbetrieb nicht über einzelne Fragestellungen oder die Lektüre einzelner seiner Werke erfolgte, sondern über das Genre der „Einführungen“. Ihre spezifische Funktion lag darin, die kaum mögliche Zuordnung des foucaultschen Werks zu einer Einzelwissenschaft für eine erste Kontaktaufnahme zu nutzen, sein Denken aber zugleich noch auf Distanz zur eigenen Disziplin zu halten. 4. Kopplung von Rezeptionssträngen: Dort, wo sich in Deutschland einzelne Rezeptionsstränge zusammenschlossen, verfestigen sich Felder der Foucault-Forschung, was sich in Deutschland u.a. am Dispositiv-Begriff beobachten lässt. 5. Expansion bestehender Rezeptionsstränge: Ist foucaultsches Denken in einer Disziplin erst einmal verankert, dann gibt es die Tendenz, auch die bisher nicht berücksichtigten Theoreme, Schriften und Denkansätze auf ihren Erkenntniswert für die jeweiligen Fächer zu prüfen und selektiv in bereits bestehende Ansätze zu integrieren. Das führte zu einer zwar insgesamt zunehmenden, zugleich aber auch spezialistisch ausdifferenzierten Foucault-Rezeption. 6. Kombination foucaultscher Theoreme mit denen anderer deutscher und französischer Forscher: In jüngster Zeit lässt sich darüber hinaus eine Tendenz zur Kombination bzw. Verdichtung mehrerer Theorieklassiker zu einer stabilen Konstellation beobachten, so in Deutschland zum Theoriendreieck Michel Foucault - *Pierre Bourdieu - Niklas Luhmann. Insgesamt ist Michel Foucault heute in Deutschland als Klassiker anzusehen. Gesa Dane u.a. (Hg.), Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault, Tübingen 1985; Axel Honneth, Martin Sahr (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt/ M. 2003; Clemens Kammler, Rolf Parr (Hg.), Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2007; Clemens Kammler, Rolf Parr, Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart, Weimar 2008. Rolf Parr FplusD Das deutsch-französische Internetportal FplusD (www.fplusd.org) bietet alle wichtigen Informationen für Französisch- und Deutscheinsteiger. Die bilinguale Internetseite wurde vom Auswärtigen Amt und vom Ministère des affaires étrangères online gestellt. Auf deutscher Seite kümmern sich zudem der Bevollmächtigte für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen (*Kulturbevollmächtigter) sowie das *Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) um das Portal. Es soll grundlegende Informationen über erste Anlaufstellen, Alltagshilfen und Institutionen auf deutscher und französischer Seite geben. Die Redaktion hat jeweils fünf junge französische und deutsche Mitglieder. Die Rubriken „Französisch/ Deutsch lernen“, „Austausch und Begegnung“, „Arbeit und Beruf“ und „Kultur und Alltagsleben“ sollen wichtige Starthilfen für Frankreichbzw. Deutschlandin- <?page no="237"?> Francia F 237 teressierte geben - ebenso für Schüler, Studenten, Arbeitssuchende und für Kulturfreunde. Die Seite bietet auch Tipps für Sprachanfänger, wo und wie sie am besten französisch lernen können und gibt Anreize durch die Veröffentlichungen von Wettbewerben, Links zu Sprachschulen sowie Hinweise zu Sprachtests. FplusD enthält zudem ausführliche Artikel zum deutschen und französischen Schul- und Universitätssystem und gibt Hinweise, wie man das Studium im jeweils anderen Land am besten angeht. Neben wichtigen praktischen Hinweisen enthält diese Rubrik aber auch viele Erfahrungsberichte von deutscher wie französischer Seite - vom Bildungsstreik bis zum WG-Leben. Für Arbeitssuchende hält das Portal zahlreiche Artikel über die Möglichkeit eines Praktikums, einer Stelle, eines Austausches oder temporären Jobs, z.B. als Au Pair bereit. Dabei versteht sich das Portal nicht als Seite für Stellenangebote, von denen es immer nur eine kleine Auswahl gibt, sondern vor allem als Rat- und Ideengeber: Was genau will man im anderen Land machen und auf welche Bedingungen muss man sich einstellen? Wo hat man die besten Chancen und was sind die Probleme und Herausforderungen eines Jobs im Ausland? Vor allem gibt die Rubrik einen Überblick, welche staatlichen Strukturen bereits existieren, die den Austausch zwischen beiden Ländern fördern. Im kulturellen Bereich bietet das Portal FplusD einen Pool aus Artikeln über die deutsch-französischen Gemeinsamkeiten aber auch spezifischen Besonderheiten des anderen Landes, der ständig durch neue Erfahrungsberichte oder Ankündigungen kultureller Ereignisse aktualisiert wird. Das Spektrum reicht von politischen und historischen Themen über Literatur und die Theaterlandschaft bis hin zu kulinarischen Gebräuchen beider Länder. Die Artikel sind in einem lockeren Stil gehalten und zeichnen sich - obwohl für Einsteiger geschrieben - dennoch durch die Vermittlung von profundem Wissen beider Kulturen aus, bei der auch so mancher deutsch-französische Experte noch einiges lernen kann. Susanne Götze Francia In höherem Maße als bei anderen historischen Zeitschriften ist die Entstehung der „Francia“ mit dem historiographischen Konzept und den Visionen einer Person verknüpft: *Karl Ferdinand Werner, von 1968 bis 1989 Direktor des *DHI Paris. Entsprechende, bereits vor 1968 bestehende Planungen wurden von ihm und seinen engeren Mitarbeitern (darunter die späteren Redakteure Jürgen Voß und Martin Heinzelmann) gleich zu Beginn der Pariser Amtszeit aufgenommen, auch wenn ein erster Band der „Francia“ wegen problematischer Verlagsbeziehungen erst 1973 beim Wilhelm Fink Verlag München erschien; ab Band 2 (1974) waren der Artemis Verlag Zürich/ München, ab Band 11 (1983) der Thorbecke Verlag Stuttgart und Ostfildern zuständig. Die Kosten wurden und werden bis heute vollständig vom Etat des Instituts getragen, Herausgeber ist der jeweilige Direktor des *DHI Paris. Die Zeitschrift war zunächst als Jahresband konzipiert, erschien aber seit dem Ende der Amtszeit *Werners (1989) unter der Direktion von Horst Möller in drei Teilbänden: Mittelalter, Frühe Neuzeit, 19. Jahrhundert und Zeitgeschichte. Unter der Direktorin Gudrun Gersmann wurde diese Dreiteilung 2008 aufgehoben, nachdem der Rezensionsteil ausgegliedert worden war und seitdem nur noch viermal pro Jahr online erscheint ( www.perspectivia.net/ content/ publikationen/ francia/ ). Unter der gleichen Adresse sind alle Beiträge früherer Bände, bis auf die jeweils beiden letzten Jahrgänge, zugänglich. Die Wahl des Namens „Francia“ mit dem Untertitel „Forschungen (ursprünglich „Beiträge“) zur westeuropäischen Geschichte“ sollte auf die Zielsetzung verweisen, als bisher einzige deutsche historische Zeitschrift das Hauptinteresse auf den gallisch-fränkisch-französischen Ursprung der europäischen Geschichte zu richten. Gleichzeitig erschien der Terminus „Francia“, der ursprünglich nur Nordgallien, dann das Karolingerreich (oder ein Teil davon), und schließlich das Franken- oder Franzosenreich bezeichnen konnte, konzeptuell dafür geeignet, nicht nur die gallischen Staaten (mit Schweiz und Benelux) einzuschließen, sondern auch Deutschland und die iberische Halbinsel, ja sogar die britischen Inseln. Durch diese franko- oder eher noch gallozentrische Zielsetzung, die einer - entsprechend den wissenschaftlichen Themenbereichen des *DHI Paris selbst - in den Anfangsjahren stärkeren Gewichtung des Mittelalterteils entspricht, wurde eine Alternative zur Ausrichtung der Zeitschrift des traditionsreichen älteren Schwesterinstituts in Rom aufgezeigt, den <?page no="238"?> François, Étienne 238 F „Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken“ (Band 1, Rom 1898), in der die auf Italien ausgerichtete römisch-imperiale Konzeption der älteren deutschen Geschichtsforschung im Vordergrund stand; für beide Zeitschriften gilt freilich als gemeinsame Aufgabenstellung die Erschließung der Originaldokumente aus den reichen Bibliotheken von Rom und Paris. Als Sprachrohr des Instituts, bis auf wenige Ausnahmen mit entsprechenden Tätigkeitsberichten des Direktors und der Mitarbeiter, wandte sich „Francia“ über die im engeren Sinn wissenschaftlichen Adressaten und Bibliotheken hinaus in besonderem Maße an ein gelehrtes französisches Publikum, dem die Benutzung durch einen moderaten Bandpreis sowie französische, deutsche und englische Resümees oder französischsprachige Aufsätze sogar deutscher Autoren erleichtert werden sollte; der Rezensionsteil verstärkte das Bestreben, deutsche Publikationen in französischer Sprache (ebenso wie umgekehrt) oder in Englisch zu rezensieren. Die Akten der vom Institut veranstalteten Kolloquien wurden ursprünglich ebenfalls in den umfangreichen Bänden publiziert, später wegen Platzmangel gesondert herausgegeben. Aktuelle Herausforderungen bestehen vor allem in der Erweiterung der Informationspolitik durch ein erhebliches Anwachsen der online-Rezensionen, die sich aufgrund der Flut an Veröffentlichungen als notwendig erweisen. Rolf Große, Francia. Ein Forum westeuropäischer historischer Forschung, in: Bulletin der Société des amis de l’Institut historique allemand, 15 (2010) S. 95- 103; Martin Heinzelmann, Die Zeitschrift Francia, in: Das Deutsche Historische Institut Paris 1958-2008, hg. von Rainer Babel und Rolf Große, Ostfildern 2008, S. 171-195. Martin Heinzelmann François, Étienne Der 1943 in Bois-Guillaume (Normandie) geborene Étienne François gehört zu den wichtigsten wissenschaftlichen Mittlern zwischen Deutschland und Frankreich und wirkt prägend auf die *Historikerbeziehungen zwischen beiden Ländern ein. Nach dem Abitur in Nancy im Jahre 1960 begann François das Studium der Geschichte und Geographie an der École normale supérieure (ENS) in Paris und machte seinen Abschluss an der Sorbonne. Im Jahre 1968 legte er erfolgreich die agrégation in Geschichte ab und sechs Jahre später wurde er an der Universität Paris X mit einer Studie zu „Population et société à Coblence au XVIII e siècle“ promoviert. Auch für seine Habilitation im Jahre 1986 an der Universität Straßburg 2 (Marc Bloch) hatte er ein deutsches Thema gewählt („La frontière invisible. Protestants et catholiques à Augsburg, 1648-1806). Nach seinen ersten Lehrerfahrungen an der Universität Nancy 2 wurde er 1979 zum Direktor der Mission historique française en Allemagne (*Institut français d’histoire en Allemagne) ernannt, an deren Spitze er bis 1986 blieb. Für drei Jahre kehrte er dann an seine Heimatuniversität nach Nancy zurück, bevor er 1989 an die Universität Paris 1 (Panthéon- Sorbonne) wechselte, die ihn 2003 emeritierte. Zwischen 1999 und 2006 lehrte er parallel als Professor am Frankreich-Zentrum der TU Berlin, das 2007 an die FU Berlin umzog. Sehr symbolträchtig hielt François hier am 14.7.2008 seine letzte Vorlesung. Dieser deutsch-französischer Karriereverlauf prädestinierte ihn 1992, zum Gründungsdirektor des *Centre Marc Bloch zu werden, dessen Leitung er bis 1999 behielt. Er hatte dabei den wissenschaftlichen Zeitgeist erkannt und gab dem Zentrum eine interdisziplinäre Richtung, die es für viele deutsche Partner schnell zu einer wichtigen Adresse machte. Hier entwickelte er in Anlehnung an Pierre Noras französische „Lieux de mémoire“ gemeinsam mit Hagen Schulze das Projekt der deutschen *Erinnerungsorte, das ihn vor die Herausforderung stellte, ein sehr französisches Verständnis von dem Zusammenhang von Geschichte und Erinnerung auf den deutschen Fall zu übertragen. Sowohl an der Spitze der *Mission historique française en Allemagne, des *Centre Marc Bloch wie auch des Berliner Frankreich-Zentrums ging es Étienne François darum, die Kontakte und Kooperationen zwischen den Sozial- und Geisteswissenschaftlern beider Länder auszubauen. Nachdem die Vergangenheit immer wieder Anlass für Antagonismen zwischen beiden Ländern gewesen war, sollte die Beschäftigung mit der Geschichte nun ein Vektor der Annäherung und der Zusammenarbeit werden. Auch wenn seine Forschungsfelder in erster Linie in der frühen Neuzeit liegen, erforderten seine Funktionen eine Ausweitung der wissenschaftlichen Interessen; darüber hinaus sah er es stets als seine Aufgabe an, sich in historische und intellektuelle <?page no="239"?> François-Poncet, André F 239 deutsch-französische Debatten und Fragen zur Aktualität einzumischen. Seine wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeiten wurden dabei - nach *Pierre Bourdieu - zu symbolischem Kapital, das seinem Wort Autorität in beiden Ländern verleiht. Seine Projekte wie auch seine öffentlichen Statements machten ihn zu einem passeur bzw. soziokulturellen Mittler. Er erklärt Deutschen, Franzosen und auch Dritten als transkultureller Übersetzer bzw. supranationaler Schrittmacher, die besonderen Denk- und Sichtweisen des Anderen und wirbt für Verständnis und Annäherung. So gelang es Étienne François in der Vergangenheit immer wieder als Wissenschaftler, zivilgesellschaftlicher Akteur und créateur , das deutsch-französische Netzwerk auf der Ebene der Zivilgesellschaft zu verdichten. Für seine Leistungen und Verdienste erhielt er u.a. den Prix France-Allemagne des Senats (1990), den *Prix Strasbourg (1991) sowie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1996). Ulrich Pfeil François-Poncet, André Der in Provins geborene André François-Poncet (1887-1978) war ein Germanist und Publizist, der von 1931-1938 als Botschafter seines Landes in Berlin und von 1949-1955 als französischer Hochkommissar in Bonn amtierte. Er wurde durch sein bürgerliches Elternhaus dazu bestimmt, sich dem Studium Deutschlands zuzuwenden und erwarb dort als Schüler (1901/ 1902) und Student in Berlin und München (1907/ 1908) erste Eindrücke und Kenntnisse. Als Student der École normale supérieure (ENS) und des Germanisten Henri Lichtenberger (Sorbonne) bestand er 1910 die agrégation als Jahrgangsbester. Er engagierte sich politisch-publizistisch als Vertreter der Génération d’Agathon auf dem rechten Flügel des republikanischen Lagers und veröffentlichte 1913 eine kritische Schrift über die damalige deutsche Jugend. Durch den Ersten Weltkrieg von seiner universitären Karriere abgebracht, spezialisierte er sich in den 1920er Jahren auf die wirtschaftsnahe Informationssammlung und -aufbereitung und ab 1921 auf seine Abgeordneten-Tätigkeit, bevor er ab 1928 die Funktion eines Staatssekretärs in verschiedenen Ministerien übernahm. Als „moderner Republikaner“ vertrat er eine liberal-autoritäre Staats- und Wirtschaftsauffassung und plädierte nachdrücklich für die ökonomische Kooperation mit dem Deutschen Reich, da diese im wohlerwogenen Interesse Frankreichs liege. Er war überzeugt von der wirtschaftlichen Überlegenheit und politischen Gefährlichkeit Deutschlands seit Bismarck ebenso wie vom hohen kulturellen Wert der Tradition der deutschen Klassik. Im „Dritten Reich“ als Diplomat wohl gelitten, wurden seine Berichte aus Berlin an den Quai d’Orsay zunehmend kritisch. In den Anfangsjahren des Vichy- Regimes zogen seine Kommentare im „Figaro“ 1941/ 42 autoritäre Schlüsse aus dem von ihm vertretenen „republikanischen Elitismus“. Ab 1943 fiel der vormalige Botschafter in Ungnade bei der deutschen Besatzungsmacht und wurde bis 1945 in Prominentenhaft genommen. Nach der Befreiung kehrte er Ende 1948 als Deutschland-Berater von Robert Schuman in die Politik zurück und wurde als französischer Hochkommissar im Sommer 1949 der höchste Vertreter seines Landes in der gerade gegründeten Bundesrepublik. Er veränderte seine Vorstellung von Deutschland nicht wesentlich, passte sie aber in der Ausübung seines Amtes der Konstellation des Kalten Kriegs an: Die „deutsche Gefahr“ war zu einem „Reflex der russischen Gefahr“ geworden. Als Hochkommissar plädierte er am nachdrücklichsten für eine längere politische Kontrolle der Bundesrepublik und für deren gleichzeitige westeuropäische Integration. Als Liberaler prinzipiell an die Selbstregulierungsfähigkeit von Wirtschaft und Kultur glaubend, förderte er gleichwohl den Ausbau des kulturpolitischen Netzes der *Instituts français in der Bundesrepublik. Zudem unterstützte er als führendes Mitglied politiknaher Gesellschaftsvereinigungen den Ausbau der deutsch-französischen *Jugendbeziehungen und war als Präsident der Cité universitaire entscheidend beteiligt an der Ermöglichung des Baues eines Deutschen Hauses (*Heinrich-Heine-Haus). Nach Beendigung seiner Mission in der Bundesrepublik blieb er aktiv als Publizist und u.a. als französischer Vorsitzender der im Oktober 1954 gegründeten Deutsch-Französischen Kulturkommission. Hans Manfred Bock (Hg.), Les Rapports mensuels d’André François-Poncet 1949-1955. Les débuts de la République fédérale d’Allemagne, 2 Bde., Paris 1996; Hélène Miard-Delacroix, Question nationale allemande et nationalisme. Perceptions françaises d’une problématique allemande au début des années cinquante, <?page no="240"?> Frankreich Jahrbuch 240 F Villeneuve d’Ascq 2004; Claus W. Schäfer, André François-Poncet als Botschafter in Berlin (1931-1938), München 2004. Hans Manfred Bock Frankreich Jahrbuch Das seit 1988 erscheinende „Frankreich Jahrbuch“ realisiert (bis 2002 im Verlag Leske + Budrich, seitdem im VS Verlag) ein schon in der Locarno- Ära geäußertes Desiderat. Es veröffentlicht Beiträge zu Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur des gegenwärtigen Frankreichs, wobei die historische Dimension einbezogen wird, sofern die Thematik dies erfordert. Ziel des Jahrbuchs ist es, „Zusammenhänge zu erschließen und sie so darzustellen, dass sie für alle diejenigen aufschlussreich sind, die sich in Politik, Wirtschaft, Kultur und Bildung mit französischen Fragen befassen oder sich ganz allgemein für unseren wichtigsten Nachbarn interessieren“, ist im Vorwort der Herausgeber des ersten Bandes zu lesen. Das Jahrbuch wird vom *Deutsch-Französischen Institut (DFI) in Ludwigsburg in Verbindung mit einer Gruppe von Wissenschaftlern herausgegeben, die unterschiedlichen, vor allem sozialwissenschaftlichen Disziplinen angehören. Im Vergleich zu den kürzeren, eher journalistischen Aufsätzen in *„Dokumente“ erheben die längeren Analysen des Jahrbuchs einen wissenschaftlichen Anspruch, sind aber dennoch um Allgemeinverständlichkeit bemüht. Das Jahrbuch ist die Frucht einer Initiative von *Robert Picht, dem damaligen Direktor des *DFI. Gemeinsam mit *Gilbert Ziebura, dem „Altmeister“ der Frankreichforschung, sowie mit Gerhard Kiersch, damals Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin, unternahm er den - geglückten - Versuch, die an verschiedenen Universitäten und Instituten verstreut und isoliert arbeitenden Frankreichforscher wenigstens einmal im Jahr zusammenzuführen, um Kontakte zu intensivieren, Zusammenarbeit zu fördern, Kompetenzen zu bündeln und somit das wissenschaftliche Potential stärker zu aktivieren. Die erste dieser seither jährlich in Ludwigsburg beim *DFI stattfindenden Tagungen fand 1985 statt. Dabei wurde der Entschluss gefasst, eine Auswahl der dabei gehaltenen Referate zu publizieren. Das Thema der jeweiligen Jahrestagung bildet den Schwerpunkt des Jahrbuchs. Eingeleitet wurde es (bis 2006) durch einen Essay, i.d.R. von einem der Herausgeber geschrieben, der die politischen Ereignisse und Entwicklungen des zurückliegenden Jahres in Frankreich schwerpunktmäßig analysierte. Das Jahrbuch bot also eine interpretatorische Fortschreibung des politischen Geschehens des „Nachbarn am Rhein“. Neben dem Schwerpunkt finden sich im Jahrbuch weitere Rubriken: Die „Beiträge“ (im Herausgeber-Jargon „Orchideen“) enthalten Aufsätze, die den meist sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt kulturell (im weiten Sinn verstanden) ergänzen. Literatur, Theater und Film, Malerei, Museen und Popmusik finden sich hier ebenso behandelt wie die Medien, die Frauenfrage oder die Fußball-WM. Ein weiterer Teil enthält Rezensionen von Büchern zur französischen Politik, Zeitgeschichte und den deutsch-französischen Beziehungen. Abgeschlossen wird das Jahrbuch durch eine Dokumentation, in der sich neben einer Auswahlbibliographie (deutschsprachige Literatur zu Frankreich) eine Chronik, Wahlergebnisse sowie ökonomische und gesellschaftliche Basisdaten finden. Dieser Serviceteil macht das Jahrbuch zu einem willkommenen Nachschlagewerk und Arbeitsinstrument. Aus dem Bestreben, im Jahrbuch das gegenwärtige Frankreich möglichst umfassend, in seinen verschiedenen Dimensionen, also mit einem weit gefassten Politikbegriff zu berücksichtigen, ergab sich von selbst die Verpflichtung zu einem multidisziplinären Ansatz, der verschiedene Sozial- und *Kulturwissenschaften einschließt. Da zu den Tagungen von Anfang an auch französische Kolleginnen und Kollegen eingeladen wurden, finden sich unter den Autoren des Jahrbuchs häufig französische, selten englische Namen. Ein besonderes Bemühen galt der Einbeziehung des wissenschaftlichen Nachwuchses, sodass auch eine Reihe (inzwischen oft nicht mehr) unbekannter Namen vertreten ist. Ungeachtet mancher Schwächen und Lücken hat das „Frankreich Jahrbuch“ rasch einen festen Platz in jeder Bibliothek gefunden, die sich mit Frankreich beschäftigt. Wer zuverlässige, in die Tiefe gehende Informationen und Interpretationen über Politik, Gesellschaft und Kultur des gegenwärtigen Frankreich sucht, wird über kurz oder lang zum „Frankreich Jahrbuch“ greifen, dem „aktuellsten Handbuch über unser wichtigstes Nachbarland“ (so ein Rezensent). Adolf Kimmel <?page no="241"?> Frankreich-Zentren F 241 Frankreich-Zentren Die Entstehung der mittlerweile insgesamt sechs deutschen Frankreich-Zentren in Freiburg/ Br., Berlin, Saarbrücken, Leipzig, Köln und Münster ist eng mit dem Begriff und der Konzeption der „Area Studies“ (Kulturraumstudien) verknüpft. Im Anschluss an entsprechende Institutionen, die nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in den USA gegründet wurden, entstanden in Westdeutschland u.a. das J.-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien (1963), das Lateinamerika-Institut (1970) der FU Berlin und das Afrikazentrum der Universität Bayreuth (1981). Die Frankreich- Zentren wurden, im Vergleich zu anderen Area- Studies-Zentren, trotz der seit den 1960er Jahren auch im wissenschaftlichen Bereich zunehmend intensiveren deutsch-französischen Kooperation erst relativ spät gegründet: 1989 entstand, mit Unterstützung des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth und des Deutschen *Romanistenverbandes (DRV) und seines Vorsitzenden *Fritz Nies, das Frankreich-Zentrum der Universität Freiburg/ Br. Es folgten 1993 das Frankreich-Zentrum der Universität Leipzig, 1996 das Frankreich-Zentrum an der *Universität des Saarlandes in Saarbrücken und 1998 an der Technischen Universität Berlin (seit 2006 an der FU Berlin) und schließlich 2010 das Centrum für Interdisziplinäre Frankreich- und Frankophoniestudien (CIFRA) in Köln, eine gemeinsame Gründung des *Institut français Köln und der Universität zu Köln, sowie das im November 2011 gegründete Interdisziplinäre Frankreich-Forum (iff) an der Universität Münster. Die Aktivitäten des Leipziger Frankreich-Zentrums wurden 2008 in das Global and European Studies Institute (GESI) der Universität Leipzig integriert. Befördert wurden die Gründungen der Frankreich-Zentren von der Intensivierung der deutsch-französischen Wissenschaftskooperation seit Ende der 1980er Jahre u.a. durch die Entstehung des *Procope-Programms (Projektbezogener Personenaustausch Deutschland-Frankreich) des *DAAD im Jahr 1986, die Gründung des Deutsch-Französischen Hochschulkollegs (DFHK) 1988 und die hiermit verbundene Schaffung integrierter deutsch-französischer Doppeldiplomstudiengänge, sowie die Gründung der *DFH (1999), der Nachfolgeorganisation des DFHK. Trotz sehr unterschiedlicher rechtlicher und administrativer Strukturen weisen die seit 1997 in der Arbeitsgemeinschaft der Frankreich-Zentren (AGFZ) zusammengeschlossenen Institutionen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Ihr gemeinsames Ziel liegt in der interdisziplinären Förderung und Koordination frankreichbezogener Lehre und Forschung, der Veranstaltung interdisziplinär ausgerichteter Sommeruniversitäten, Vortragsreihen und Kolloquien und der Herausgabe von Publikationsreihen wie der „Deutsch-Französischen Kulturbibliothek“ in Leipzig, der Reihe „Vice- Versa. Deutsch-französische Kulturstudien“ und des „Jahrbuch des Frankreich-Zentrums der *Universität des Saarlandes“ in Saarbrücken sowie der „Studien des Frankreich-Zentrums“ in Freiburg. An mehreren Frankreich-Zentren, vor allem in Freiburg und Berlin, lehren regelmäßig französische Gastdozenten. Obwohl die Romanistik an allen Frankreich-Zentren beteiligt ist und vor allem in Freiburg, Berlin, Leipzig und seit Kurzem auch in Saarbrücken eine führende Rolle in der Leitung eingenommen hat, zeichnen sich alle Frankreich- Zentren durch eine breite interdisziplinäre Grundlegung der beteiligten Fächer und der Leitungsgremien aus, die von den Geisteswissenschaften über die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften bis zur Medizin und den Naturwissenschaften (u.a. Chemie, Physik) reicht. Letztere stellten in Saarbrücken über Jahre hinweg auch den Direktor und sind im dortigen Vorstand gleichberechtigt vertreten. Zugleich lassen die einzelnen Frankreich-Zentren unterschiedliche Schwerpunkte erkennen. Die Frankreich-Zentren in Freiburg, Berlin und (bis 2008) Leipzig sind unmittelbar in die Organisation interdisziplinärer Studiengänge eingebunden. Das Frankreich-Zentrum in Saarbrücken, rechtlich eine zentrale Einrichtung der Universität, koordiniert lediglich frankreichbezogene Studien- und Forschungsaktivitäten, informiert hierüber und weist einen Schwerpunkt in der grenzüberschreitenden Praktikantenvermittlung sowie in frankreichbezogenen Bewerberseminaren auf, die gezielt auf den französischen Arbeitsmarkt vorbereiten. Die Frankreich-Zentren in Freiburg und Saarbrücken sind aufgrund ihrer Traditionen und ihrer geographischen Lage eng in grenzüberschreitende Kooperationsnetzwerke eingebunden: die *Europäische Konföderation der Oberrheinischen Universitäten (Eucor) und die *Université de la Grande Région (UGR), die Universitäten im Saar- <?page no="242"?> Franz-Hessel-Preis 242 F Lor-Lux-Raum, Rheinland-Pfalz und Wallonien umfasst und auf der 1984 unterzeichneten Charte de coopération universitaire Saar-Lor-Lux mit dem Ziel einer verstärkten grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Hochschulen in Lehre und Forschung aufbaut. Das Frankreich- und Frankophoniezentrum in Köln (CIFRA) wiederum bietet in erster Linie gemeinsame Veranstaltungen der Fächer Politikwissenschaft, *Geschichtswissenschaft, Linguistik und Literaturwissenschaft an, auch im Bereich der Lehrerausbildung. Ebenso wie in Saarbrücken und Leipzig zielt das Kölner Zentrum ausdrücklich und mit einem deutlichen Schwerpunkt auch auf die frankophonen Literaturen, Kulturen und Gesellschaften außerhalb Frankreichs, vor allem des subsaharischen Afrika und erweitert hiermit seine kulturraumbezogene Ausrichtung auf den frankophonen Sprach- und Kulturraum in seiner Gesamtheit. Rolf G. Renner, Fernand Hörner (Hg.), Deutsch-französische Berührungs- und Wendepunkte. Zwanzig Jahre Forschung, Lehre und öffentlicher Dialog am Frankreich-Zentrum, Freiburg/ Br. 2009; Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes. Deutsch-französische Schwerpunkte in Forschung und Lehre. Entwicklungen, Vernetzungen, Perspektiven, Redaktion: Manfred Schmeling u.a. Saarbrücken 1996; Katrin Foldenauer, Matthias Middell, Antje Zettler (Hg.), Repertorium der deutschen Frankreich- und Frankophonieforschung 2003, Leipzig 2003; Hans-Jürgen Lüsebrink, Kulturraumstudien und Interkulturelle Kommunikation, in: Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften, Stuttgart 2003, S. 307-328. Hans-Jürgen Lüsebrink Franz-Hessel-Preis Prix Franz Hessel Mit dem Franz-Hessel-Preis für zeitgenössische Literatur, der am 10.12.2010 in Freiburg zum ersten Mal verliehen wurde, ehrt eine elfköpfige deutsch-französische Jury jeweils einen deutschen und einen französischen Autor. Voraussetzung für eine Nominierung sind eine Veröffentlichung im Jahr der Preisvergabe und eine beabsichtigte Übersetzung des Werkes in die jeweils andere Sprache. Mit Blick auf Franz Hessels Biografie sollen dabei besonders „Publikationen berücksichtigt [werden], die vorrangig die Gegenwart reflektieren und die [...] zu einem Brückenschlag ins jeweils andere Land einladen“. Die Preisverleihung findet jährlich, abwechselnd in Deutschland oder Frankreich statt. Ins Leben gerufen wurde der Preis von der Villa Gillet in Lyon und der *Stiftung Genshagen, die damit einen Beitrag zur „Vertiefung des literarischen Dialogs zwischen Deutschland und Frankreich“ leisten und im Nachbarland noch unbekannte Autoren fördern wollen. Der mit 10 000 Euro dotierte Prix Franz Hessel steht unter der Schirmherrschaft des *Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und des französischen Kulturministers und wird von den Ministerien beider Länder gefördert. Er ist Teil der deutsch-französischen Agenda 2020, die von den Regierungen beider Länder im Frühjahr 2010 zur Gestaltung ihrer Zusammenarbeit im nächsten Jahrzehnt beschlossen wurde. Namensgeber des neuen Literaturpreises ist der deutsche Schriftsteller, Übersetzer und Lektor Franz Hessel (1880-1941). Der in Stettin geborene Hessel verbrachte seine Jugend und Studienzeit in Berlin und München, wo er erste literarische Arbeiten veröffentlichte . Von 1906 bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg lebte Hessel in Paris, wo er neben vielen anderen Künstlern auch die Malerin Helen Grund kennenlernte, die er 1913 heiratete. Dieser Ehe entstammt der französische Diplomat und Widerstandskämpfer *Stéphane Hessel. In den 1920er Jahren arbeitete Hessel als Lektor im Berliner Rowohlt Verlag. In diese Zeit fallen auch seine Übersetzungen von Werken von Stendhal, Balzac und Proust (gemeinsam mit Walter Benjamin). Trotz Berufsverbots blieb Franz Hessel bis 1938 im NS-Deutschland als Lektor im Rowohlt Verlag tätig. Erst kurz vor dem Novemberpogrom 1938 emigrierte er widerstrebend nach Paris und später ins südfranzösische Sanary-sur-Mer. Gemeinsam mit seinem Sohn Ulrich wurde er 1940 im Gefangenenlager Les Milles bei Aix-en- Provence interniert. Er starb 1941 kurz nach seiner Entlassung in Sanary-sur-Mer an den Folgen der zweimonatigen Lagerhaft. Christin Niemeyer Französische Filme über den Zweiten Weltkrieg Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde eine Reihe von Filmen über die Résistance gedreht, unter denen „La bataille du rail“ (1946) von René Clément bis heute der Film par exellence der französischen Bahnarbeiter geblieben ist. Clément drehte weitere mit dem Krieg verbundene Werke, <?page no="243"?> Französische Filme über den Zweiten Weltkrieg F 243 wie „Jeux interdits“ (1952) über die tragischen Folgen der Flucht vor dem Anrücken der Wehrmacht im Mai und Juni 1940 oder „Les Maudits“ (1946), die Geschichte von der Flucht von Nazis und Kollaborateuren an Bord eines U-Bootes, sowie vor allem „Paris brûle-t-il? “ (1965) mit Gerd Fröbe in einer Hauptrolle, eine große historische Freske über die Befreiung von Paris im August 1944. Viele namhafte Regisseure haben sich bis Ende der 1980er Jahre des Themas der deutschfranzösischen Beziehungen durch das Prisma des Krieges angenommen, angefangen mit Jean-Pierre Melville in „Le silence de la mer“ (1947), einem beinahe intimistischen Nachdenken über die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen und die eventuelle Möglichkeit trotz Besatzung einen Dialog herzustellen. 20 Jahre später schuf Melville mit „L’Armée des ombres“ (1969) eine bittere, eiskalte und unheroische Chronik über die Widerstandsbewegung, ein Thema, das Robert Guédiguian in „L’armée du crime“ (2009) wieder aufnahm. Robert Bresson begriff in „Un condamné à mort s’est échappé“ (1956) das Individuum als Zentrum seines Nachdenkens über Unterdrückung, Einsperrung und Tod; es kam die Zeit, in der das Image eines im Widerstand vereinigten und heroischen Frankreich zu bröckeln begann. In „La traversée de Paris“ (1955) zeigte Claude Autant-Lara ein Paris, in dem man ebenso viele Schwarzhändler wie Widerstandskämpfer findet, und einen deutschen Offizier, der sowohl menschlich als auch gebildet erscheint. In „Le Franciscain de Bourges“ (1967) stellt Autant-Lara eine Maximilian Kolbe ähnliche Figur dar (gespielt von Hardy Krüger), ein Deutscher, der bis zur Selbstaufgabe geht, um verfolgten Franzosen zu helfen. Dies reihte sich in einen allmählichen Wandel des Deutschenbildes im Kriege ein, parallel zum politischen Prozess der Versöhnung. 1955, dem Jahr, in dem Alain Resnais seinen Dokumentarfilm *„Nacht und Nebel“ (Nuit et Brouillard) über die Konzentrationslager drehte, war man davon aber noch weit entfernt. Dem Druck der deutschen Botschaft in Paris nachgebend, gelang es dem französischen Außenministerium, den Film aus dem Wettbewerb für das Festival de Cannes zu nehmen. Er wurde jedoch außerhalb des Festivals gezeigt, machte unerhörten Eindruck auf das Publikum und bekam den Preis Jean Vigo. Als er schließlich in West-Berlin präsentiert wurde, bemerkte der Senatspräsident: „Wir dürfen nie vergessen.” Heutzutage wird er regelmäßig in Deutschland vorgeführt, auch an Schulen. Es entstanden ebenfalls Spielfilme über die Konzentrationslager. So „L’enclos“ (1960) von Armand Gatti, der die von SS-Wächtern organisierte dramatische Konfrontation zweier Häftlinge darstellt, von denen der eine den anderen töten soll, um zu überleben. Einen ganz anderen Aspekt der deutsch-französischen Beziehungen evozierte Resnais in „Hiroshima mon amour“ (1959) nach einem Drehbuch von Marguerite Duras: Eine junge Französin verliebt sich in einen deutschen Soldaten, er stirbt und sie wird wegen ihrer Kollaboration (aus Liebe) geschoren. Auch diesmal gelangte der Film in Cannes aus diplomatischen Gründen - diesmal wirkten allerdings die Amerikaner darauf ein - nicht in den Wettbewerb. Die ganze Härte der Besatzung durch eine feindliche Macht und das Aufteilen eines Landes in zwei getrennte Zonen wurde in Claude Chabrols „La ligne de démarcation“ (1966) sowie in „Les patates“ (1969) von Autant-Lara dargestellt. In „Partir, revenir“ (1985) erzählte Claude Lelouch die Geschichte einer jüdischen Frau, deren Familie deportiert wurde, wobei wiederum der Antisemitismus und die Denunziationswut der Franzosen angeprangert wurden. Robert Enrico stellte noch einmal die Brutalität mancher Besatzer in „Le vieux fusil“ (1975) dar, wobei die Tatsache, dass die von randalierenden SS-Soldaten ermordete Frau von *Romy Schneider gespielt wurde, dem Film eine besondere Dimension gab. Louis Malle erinnerte in „Au revoir les enfants“ (1987) an das Schicksal derjenigen, die Juden zu schützen versuchten. Dafür, dass der Pfarrer von der Gestapo verhaftet wird, ist aber ein junger Denunziant verantwortlich. Die berühmt berüchtigte Rafle du Vel d’Hiv (1942), die große Razzia mit Hilfe der französischen Polizei, bei welcher auch an die tausend jüdische Kinder verhaftet und in Konzentrationslager deportiert wurden, stand im Zentrum der Filme von Michel Mitrani „Les Guichets du Louvre“ (1973) und Roselyne Bosch „La Rafle“ (2010). Mehr und mehr gerieten im französischen Film die Kollaborateure ins Visier - angefangen mit Marcel Carnés im pessimistischen Ton seiner früheren Filme gedrehte „Les portes de la nuit“ (1946), in dem ein Verräter seine mit einem Kollaborateur verheiratete und in einen Wider- <?page no="244"?> Französische Germanistik 244 F standskämpfer verliebte Schwester denunziert. In „Lacombe Lucien“ (1974) entwirft Louis Malle die Figur eines unentschlossenen Jungen, der schließlich der milice beitritt, weil er von der Résistance abgewiesen wurde; damals erregte diese scheinbare Austauschbarkeit der Rollen heftige Kritik. In François Truffauts „Le dernier métro“ (1980), der im Theatermilieu des besetzten Paris spielt, ist der eigentliche Bösewicht der als Theaterkritiker arbeitende Kollaborateur. Die sympathische Figur des jüdischen Theaterdirektors wurde von Heinz Bennent gespielt. Der Film war der größte kommerzielle Erfolg Truffauts, heimste zehn Césars ein und wurde auch in Deutschland sowohl von der Kritik wie vom Publikum sehr positiv aufgenommen. Im Kriegsfilm selber wird der Deutsche nicht mehr als eingefleischter Nazi, sondern als kämpfender Soldat dargestellt, so in „Un taxi pour Tobrouk“ (1961) von Denys de la Patellière, wo Lino Ventura und Hardy Krüger allmählich zur beinahe freundschaftlichen gegenseitigen Wertschätzung gelangen. Die Darstellung des deutschen Offiziers als komische Figur ist eine Variante, die eine Abmilderung der feindseligen Haltung bewirkte. Zur Zeit der politischen Versöhnung entsprachen Komödien wie „Babette s’en va t’en guerre“ (1959) von Christian-Jaque insofern dem Zeitgeist, als die Résistance-Heldin Brigitte Bardot eher durch ihren Charme als durch ihr politisches Engagement die Zuschauer einnahm, während Francis Blanche als Offizier „Papa Schulz“ eine groteske, lachhafte Figur abgab. Durchaus bissiger war „La grande vadrouille“ (1968), bis heute der drittgrößte Erfolg der französischen Kinogeschichte. Indem er den französischen Zuschauer über die Besatzungszeit zum Lachen brachte, gelang es Gérard Oury, nachhaltig ein Tabu zu brechen. Eine weitere Komödie von Oury ist „L’As des As“ (1982), dessen Handlung in Deutschland während der Olympischen Spiele 1936 spielt. Zum Teil in München gedreht - mit Xaver Schwartzenberger, dem Kameramann von *Rainer Werner Fassbinder, und Rolf Zehetbauer als Szenograph, während Jean-Paul Belmondo, der damals in Deutschland eine große Beliebtheit genoss, die Hauptrolle spielt, war dieser Film auch an das deutsche Publikum gerichtet. Zudem gibt es einen bemerkenswerten Dokumentarfilm, in dem authentische Bilder mit historischen Kommentaren versehen sind, nämlich die Chronik einer Kleinstadt während der Besatzungszeit: „Le Chagrin et la Pitié“ (1971) von Marcel Ophüls, dem Sohn Max Ophüls’. Dieser Film brach endgültig mit dem Mythos von der Résistance als Mehrheitsphänomen; er zeigt, dass es eigentlich nur eine Minderheit Widerstandskämpfer und viel mehr Kollaborateure gab, als anfänglich gedacht. Gilbert Guillard Französische Germanistik In den Nachkriegsjahren markierte das nachlassende Interesse der französischen Germanistik an deutscher Landeskunde eine Zäsur in der Geschichte des Faches. Michel Espagne und Michael Werner machen darauf aufmerksam, dass die Deutschlandstudien seit ihren Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts „den Anspruch hatten, das Land nicht als reines Studienobjekt, sondern in seiner kulturellen Komplexität zu erfassen“. An der Sorbonne bzw. an der Universität Straßburg - seit 1918 in herausgehobener Position - ging es Charles Andler, Henri Lichtenberger und *Edmond Vermeil darum, die deutsche Kultur der Vergangenheit und der Gegenwart bis hin zu wirtschaftlichen und sozialen Aspekten im Hinblick darauf zu erforschen, in welcher Weise die Entwicklung Deutschlands für Frankreich bedrohlich oder beispielhaft sein könnte. Bereits nach dem verlorenen Krieg von 1870/ 71 hatten sich die französischen Eliten intensiv mit den Gründen für die deutsche Überlegenheit beschäftigt. Dies führte u.a. zu einer am deutschen Modell orientierten Universitätsreform. Mit dieser Ausrichtung hatte die französische Germanistik den Vorteil, Deutschland umfassend zu erforschen; allerdings war damit der Nachteil verbunden, es allzu sehr durch die politische Brille zu sehen und darüber hinaus die Existenz einer einheitlichen Nationalkultur - wenn nicht gar einer zeitlosen deutschen „Seele“ - zu postulieren. Nach 1945 wurde die Ideengeschichte von der - meist werkimmanent angelegten - Interpretation großer literarischer Werke in den Hintergrund gedrängt. Die Dominanz der Literaturwissenschaft ist bis in die 1960er Jahre hinein bemerkbar. Dieser Befund bestätigt sich auch mit Blick auf die Themen der Doktorarbeiten, die von einem kleinen Kreis namhafter Germanisten betreut wurden. Auch die vom Germanistischen Institut der Sorbonne herausgegebene, älteste Germanistik- Zeitschrift *„Études germaniques“ spiegelte die <?page no="245"?> Französische Germanistik F 245 Vorliebe für mittelalterliche und moderne Literatur wider. Kultur- und ideengeschichtliche Forschungen konzentrierten sich auf einzelne historische Figuren (besonders Karl Marx, Friedrich Engels, Rosa Luxemburg) und beschäftigten sich seltener mit kulturellen Strömungen oder Institutionen. Zudem gab es in dieser Zeit eine verschwindend geringe Zahl an sprachwissenschaftlichen Forschungen. Diese Ausgangslage erklärt das Engagement von *Pierre Bertaux, der sich gemeinsam mit *Pierre-Paul Sagave, *Gilbert Badia, *Alfred Grosser und *Joseph Rovan in den 1960er und 1970er Jahren dafür einsetzte, die Position der Landeskunde an den damals existierenden ca. 20 Germanistik-Instituten zu stärken. Einige der genannten Professoren hatten ihre Forschungen im Bereich der Literaturwissenschaft begonnen (vgl. auch *DDR-Literatur in Frankreich) und dabei die Grenzen einer zu wenig kontextorientierten Herangehensweise erkannt. Die Universitätsreform nach 1968 ermöglichte es *Bertaux an der Sorbonne Nouvelle das *Institut d’allemand d’Asnières zu gründen. Die Erweiterung des Arbeitsfeldes der französischen Germanistik in Lehre und Forschung fiel in eine Phase des Ausbaus der Universitäten. Das nach dem damaligen Bildungsminister Edgar Faure benannte Gesetz von 1968 ermöglichte die Gründung neuer Universitäten. Die Zahl der germanistischen Fakultäten stieg innerhalb weniger Jahre von etwa 20 auf über 40. Zahlreiche Nachwuchskräfte wurden dort als Assistenten eingestellt. Diese neuen Institute in der Provinz setzten auf Selbstverwaltung,