Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten
Empirische Untersuchung eines Begegnungsprojekts zum interkulturellen Lernen
1210
2014
978-3-8233-7890-7
978-3-8233-6890-8
Gunter Narr Verlag
Katrin Biebighäuser
In virtuellen Welten können Nutzer zum einen
dreidimensional wirkende Umgebungen erkunden,
zum anderen können sie mit Hilfe ihrer Avatare,
virtueller Repräsentanten, mit anderen Nutzern
interagieren.
Die Studie geht der Frage nach, ob virtuelle Welten
im Fremdsprachenunterricht eingesetzt werden
können, um landeskundliches Lernen zu befördern.
Hierfür wird ein Kooperationsprojekt von deut schen
und polnischen Studierenden in der virtuellen Welt
Second Life, die gleichzeitig Begegnungsort und
Materiallieferant ist, untersucht.
<?page no="0"?> Katrin Biebighäuser Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten Empirische Untersuchung eines Begegnungsprojekts zum interkulturellen Lernen Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik <?page no="1"?> Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten <?page no="2"?> GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho <?page no="3"?> Katrin Biebighäuser Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten Empirische Untersuchung eines Begegnungsprojekts zum interkulturellen Lernen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-6890-8 <?page no="5"?> 5 Danksagung Diese Monographie ist eine leicht gekürzte Version meiner Dissertation. Eine wissenschaftliche Arbeit wird zwar von einer einzelnen Person geschrieben und verantwortet, doch tragen weitaus mehr Menschen zum Gelingen der Arbeit bei. Bei all jenen möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Zuerst danke ich den Teilnehmern der Studie für ihre Bereitschaft, sich auf das Projekt einzulassen, die Erlaubnis, ihre Daten zu verwenden und ihr Engagement in der Durchführung der Begegnungen. Ich danke dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst für die Möglichkeit, die Untersuchung im Rahmen der Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE) im Schwerpunkt Kulturtechniken und ihre Medialisierung zu beginnen. Den Kollegen am Zentrum für Medien und Interaktivität danke ich für viele inspirierende Gespräche. Sie haben mir ermöglicht, meinen Forschungsgegenstand interdisziplinär zu betrachten, ebenso wie das Gießener Graduate Center for the Study of Culture (GCSC). Ich danke den Professoren und Doktoranden des fremdsprachendidaktischen Kolloquiums der Justus-Liebig-Universität Gießen für kritische Nachfragen, ebenso wie der Sektion 8 des Gießener Graduiertenkollegs Kulturwissenschaften. Hier habe ich nicht nur kluge Kollegen, sondern auch Freunde gefunden. Insbesondere Marja Zibelius und Silke Jahns waren mir während jeder Phase der Arbeit unermüdliche Diskussionspartnerinnen, haben Entwürfe kritisch gegengelesen und mich immer wieder motiviert - ihnen gebührt mein besonderer Dank. Ich danke Prof. Dr. Vadim Oswalt für die bereitwillige Übernahme des Zweitgutachtens und seine große Unterstützung. Bei Frau Prof. Dr. Ingrid Miethe möchte ich mich für die wertvollen Hinweise zur qualitativen Sozialforschung bedanken. Mein größter Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Dietmar Rösler. Er hat nicht nur meine Dissertation betreut, sondern darüber hinaus meinen wissenschaftlichen Werdegang begleitet und gefördert. Zuletzt, aber doch an erster Stelle, danke ich Robert und meiner Familie für die fortwährende Unterstützung meiner akademischen Laufbahn. Sie haben stets an mich geglaubt, mich unterstützt und mich nicht vergessen lassen, dass es auch ein Leben neben der Hochschule gibt. Ihnen sei diese Arbeit von ganzem Herzen gewidmet. <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ................................................................................................13 2. Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen .......................................17 Teil I: Theoretische Basis ........................................................................ 19 3. Interkulturelles Lernen und Landeskunde im Fremdsprachenunterricht .....................................................................19 3.1. Kultur als Kern der Landeskunde .......................................................... 22 3.1.1. Der Kulturbegriff ................................................................................ 22 3.1.1.1. Zur Etymologie von Kultur ........................................................ 22 3.1.1.2. Weiter versus enger Kulturbegriff ............................................. 24 3.1.1.3. Der Wandel des Kulturbegriffs .................................................. 24 3.1.2. Kultur und Sprache ............................................................................ 27 3.1.3. Kulturbegriff und Landeskundediskussion..................................... 28 3.2. Ansätze der Landeskundediskussion ..................................................... 29 3.2.1. Kognitive Landeskunde ..................................................................... 31 3.2.2. Kommunikative Landeskunde.......................................................... 32 3.2.3. Interkulturelle Landeskunde und interkultureller Fremdsprachenunterricht .......................................................................... 34 3.2.3.1. Zur Kritik am interkulturellen Fremdsprachenunterricht...... 40 3.2.3.2. Inter- oder Transkulturalität? .................................................... 42 3.2.3.3. Kulturelle Deutungsmuster ........................................................ 48 3.2.3.4. Byrams Modell der interkulturellen Kompetenz...................... 53 3.2.3.5. Fremdverstehen ............................................................................ 59 3.2.3.6. Interkulturelles Lernen in Begegnungsprojekten.................... 62 3.3. Historisches Lernen im Fremdsprachenunterricht ......................... 70 3.3.1.Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht .......................................... 70 3.3.2. Kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung als Konzept für den Landeskundeunterricht................................................................. 77 3.3.2.1. Das kollektive Gedächtnis: Die Studie von Halbwachs ........... 78 3.3.2.2. Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis nach Assmann und Assmann ............................................................ 80 3.3.2.3. Erinnerungsorte nach Nora........................................................ 83 3.3.2.4. Gedächtnis, Erinnerung und (digitale) Medien ...................... 84 3.4. ... Fazit: Erinnerungsorte als Modell des historischen landeskundlichen Lernens.................................................................... 88 . <?page no="8"?> 8 4. Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien................................................ 93 4.1. Entwicklung und Potenziale ................................................................ 95 4.2. Kooperatives Lernen mit digitalen Medien ....................................... 100 4.2.1. Online-Tutorierung......................................................................... 103 4.2.2. Lernen im Tandem........................................................................... 107 4.3 Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten ..................................... 111 4.3.1. Virtuelle Realität und virtuelle Welten............................................. 112 4.3.2. Second Life ........................................................................................... 118 4.3.3. Second Life als Fremdsprachenlernumgebung ............................... 122 4.3.3.1. Second Life als Kommunikationsplattform ........................ 124 4.3.3.2. Second Life als Kulturplattform............................................ 127 Teil II: Methodisches Vorgehen ....................................................... 131 5. Zur Empirie der Untersuchung: Grundlagen qualitativer Forschung, die Form der Daten sowie ihre Erhebung, Aufbereitung und Auswertung...................................................................................131 5.1. Qualitative Forschung und ihre Validierung ................................ 131 5.1.1. Prinzipien qualitativer Forschung.................................................. 133 5.1.2. Bewertungskriterien qualitativer Forschung ................................ 135 5.1.2.1. Intersubjektive Nachvollziehbarkeit ........................................ 136 5.1.2.2. Reflektierte Subjektivität............................................................ 138 5.1.2.3. Indikation .................................................................................... 139 5.1.2.4. Limitation ................................................................................... 140 5.1.2.5. Kohärenz..................................................................................... 140 5.1.2.6. Relevanz ...................................................................................... 141 5.2. Festlegung des Untersuchungsdesigns ................................................... 141 5.2.1. Wahl des Mediums und der Orte innerhalb der virtuellen Welt.. 141 5.2.2. Die Teilnehmer der Untersuchung ................................................... 146 5.2.2.1. Das Fremdsprachenkolleg in Breslau....................................... 147 5.2.2.2. Die Studierenden in Gießen ...................................................... 148 5.2.3. Problematisierung meiner Rolle im Untersuchungsfeld................ 150 5.3. Der Prozess der Datenerhebung und Darstellung der gewonnenen Daten ........................................................................................................... 152 5.3.1. Ablauf des Projektes ............................................................................ 152 5.3.2. Die erhobenen Daten ......................................................................... 157 5.3.3. Videographie als Methode der Datenerhebung .............................. 159 .. .. .. .. .. <?page no="9"?> 9 5.3.3.1. Videographie in der Fremdsprachendidaktik......................... 161 5.3.3.2. Videographische Datenerhebung im vorliegenden Projekt.. 162 5.3.4. Weitere Formen der Datenerhebung............................................... 165 5.4. Die Aufbereitung und Auswertung der Daten........................................ 166 5.4.1. Die Wahl der Auswertungsmethode.............................................. 166 5.4.2. Das Sampling: Auswahl der Einzelfälle zur Untersuchung der Gruppencharakteristika .................................................................. 173 5.4.3. Die Datenaufbereitung der Screen-Capture-Videos.................... 173 Teil III: Auswertung der Daten ...................................................... 181 6. Untersuchung der Zusammenarbeit der Gruppen..........................183 6.1. Kooperatives Lernen - Grundlagen ................................................. 183 6.2. Gruppenbildung und Gruppenzusammenhalt................................ 185 6.2.1. Entwicklungsphasen einer Gruppe ................................................ 186 6.2.2. Der Gruppenzusammenhalt............................................................ 189 6.3. Theorien zur Führung von Gruppen: Leadership.............................. 190 6.4. Gruppenstrukturen und deren Auswirkungen auf die Zusammenarbeit ................................................................................... 193 6.4.1. Gruppe 1: Karla, Rina und Greta.................................................... 196 6.4.1.1 Das erste Treffen von Gruppe 1 ............................................... 197 6.4.1.2. Das zweite Treffen von Gruppe 1 ........................................... 201 6.4.1.3. Das dritte Treffen von Gruppe 1............................................. 204 6.4.1.4. Das vierte Treffen von Gruppe 1............................................. 210 6.4.1.5. Zusammenfassende Betrachtung von Gruppe 1................... 220 6.4.2. Gruppe 2: Hanna, Nadine und Mara............................................... 222 6.4.2.1. Das erste Treffen von Gruppe 2 .............................................. 223 6.4.2.2. Das zweite Treffen von Gruppe 2 .......................................... 237 6.4.2.3. Das dritte Treffen von Gruppe 2 ........................................... 248 6.4.2.4. Das vierte Treffen von Gruppe 2 ........................................... 253 6.4.2.5. Zusammenfassende Betrachtung von Gruppe 2 ................ 261 6.4.3. Gruppe 3: Michael, Neo und Anna ................................................ 263 6.4.3.1. Das erste Treffen von Gruppe 3............................................. 264 6.4.3.2. Das zweite Treffen von Gruppe 3 .......................................... 274 6.4.3.3. Das dritte Treffen von Gruppe 3 ........................................... 283 6.4.3.4. Das vierte Treffen von Gruppe 3 ........................................... 296 6.4.3.5. Zusammenfassende Betrachtung von Gruppe 3 ................ 306 6.4.4. Ergebnisse aus der Beobachtung der drei Fokusgruppen .......... 308 . <?page no="10"?> 10 7. Der Einfluss ausgewählter Kontextfaktoren der Lernumgebung auf die Zusammenarbeit von Gruppen in virtuellen Welten ...............319 7.1. Der Einsatz von Voice-Chat und Text-Chat....................................... 320 7.1.1. Sprachliche und didaktische Aspekte von Voice- und Text-Chat ............................................................................... 321 7.1.2. Medientheorien zum Einfluss der Kommunikationskanäle auf die Zusammenarbeit von Gruppen ......................................................... 325 7.1.2.1. Die Media Richness Theory .................................................. 325 7.1.2.2. Die Theorie des Grounding ................................................... 329 7.1.2.3. Der Einfluss des Mediums auf die Aufgabenbearbeitung bei Gruppenarbeiten .............................................................. 331 7.1.3. Voice- und Text-Chatverwendung innerhalb des Projektes - eine quantitative Annäherung ................................................................ 333 7.1.4. Voice- und Text-Chatverwendung innerhalb des Projektes - die qualitative Analyse .............................................................................. 339 7.1.5. Voice- und Text-Chatverwendung innerhalb des Projektes - die fremdsprachendidaktische Perspektive............................................ 344 7.1.6. Zusammenfassung: Voice- und Text-Chatverwendung im virtuellen Austauschprojekt ..................................................................... 347 7.2 Der Umgang mit den Aufgabenstellungen im virtuellen Austauschprojekt ................................................................................... 349 7.2.1. Aufgaben im Fremdsprachenunterricht..................................... 349 7.2.2. Die Umsetzung der Aufgabenstellungen.................................... 352 7.2.2.1. Zum Umgang mit der Aufgabenstellung in der ersten Woche .......................................................................................... 352 7.2.2.2. Zum Umgang mit der Aufgabenstellung in der zweiten Woche........................................................................................ 355 7.2.2.3. Zum Umgang mit der Aufgabenstellung in der dritten Woche ......................................................................................... 358 7.2.2.4. Zum Umgang mit der Aufgabenstellung in der vierten Woche .........................................................................................360 7.2.3. Zusammenfassung: Aufgabenstellungen in virtuellen Austauschprojekten................................................................................... 364 7.3. Die Rolle der Avatare für Begegnungen in virtuellen Welten .......... 366 7.3.1. Avatare: Identität und Inszenierung in virtueller Welten........... 366 7.3.2. Der Avatar als Personifikation des ‚Ich’ und des Anderen in fremdsprachlichen Begegnungsprojekten .............................................. 372 . <?page no="11"?> 11 7.3.3. Zusammenfassung: Die Bedeutung der Avatare für virtuelle Begegnungsprojekte .................................................................................. 376 7.4. Virtuelle Welten als Begegnungsort und Lernmaterial..................... 379 8. Landeskunde in der virtuellen Welt zwischen interkulturellem und historischen Lernen .............................................................................389 8.1. Nicht genutzte Chancen zum interkulturellen Lernen ..................... 390 8.2. Die Einordnung virtueller Erinnerungsorte in eigenes kulturelles Wissen ..................................................................................................... 392 8.3. Die Deutung virtueller Erinnerungsorte bei fehlendem kulturellen Wissen ..................................................................................................... 396 8.4. Das Erleben von Geschichte in simulierten Umgebungen ............... 400 8.4.1. Stufe 1: Die Beschreibung der Umgebung .................................... 400 8.4.2. Stufe 2: Bezugnahme auf den eigenen Erfahrungshorizont........ 401 8.4.3. Stufe 3: Historisch-faktenorientierter Austausch......................... 405 8.4.4. Stufe 4: Kulturübergreifender Vergleich von Themen ................ 407 8.5. Meine Rolle als landeskundliche Quelle.............................................. 410 8.6. Zusammenfassung: Chancen und Grenzen landeskundlichen Lernens in virtuellen Welten ................................................................ 412 9. Ergebnisse der Studie und Ausblick ..................................................419 9.1. Ergebnisse zur Zusammenarbeit der Gruppen .................................. 420 9.2. Ergebnisse zur Verwendung des Kommunikationskanals ............... 422 9.3. Ergebnisse hinsichtlich der Aufgabenstellung.................................... 424 9.4. Ergebnisse zur Rolle der virtuellen Welt ............................................. 425 9.5. Ergebnisse zum landeskundlichen Lernen.......................................... 427 Literaturverzeichnis ........................................................................................432 Abbildungsverzeichnis ...................................................................................461 Verzeichnis der Datenauszüge ......................................................................463 Anhang .............................................................................................................468 A 1 Beispielhafter thematischer Verlauf (Gruppe 1, Treffen 4)................ 468 A 2 Transkript zum Vergleich von Text-Chat und Voice-Chat: Text-Chat- Auszug zur Diskussion des Themas „Reise“ ....................................... 469 A 3 Transkript zum Verglich von Text-Chat und Voice-Chat: Voice-Chat- Auszug zur Diskussion des Themas „Kindererziehung“ .................. 471 <?page no="13"?> 13 1. Einleitung Das Internet hat einen enormen Einfluss auf die heutige Gesellschaft. Wissen ist überall und jederzeit verfügbar. Daraus resultieren erhebliche Veränderungen, auch in der Vermittlung des Wissens: Neben den Präsenzunterricht, bei dem Lernende 1 mit anderen Lernenden an einem gemeinsamen Ort den Unterrichtsstoff durch einen Lehrenden vermittelt bekommen, treten Lernszenarien, die mit Hilfe des Computers realisiert werden. Durch diese wird es nicht länger notwendig, dass sich alle Teilnehmer einer Unterrichtssituation am gleichen Ort befinden. Auch die Zeit, zu der gelernt wird, wird flexibler: Je nach Unterrichtssetting und genutztem Medium können Inhalte zu beliebigen Zeit rezipiert und Lernerprodukte erstellt werden. Die Anwendungen, in denen gelernt werden kann, entwickeln sich weiter. Bestand das Internet zu Beginn noch aus E-Mails und statische Textseiten, gibt es heute zahlreiche Programme, in denen Nutzer multimodal und multimedial lernen können. Eine Form solcher Programme stellen virtuelle Welten dar, von denen in dieser Arbeit eine exemplarisch im Hinblick auf ihr Potenzial für das Fremdsprachenlernen untersucht werden soll. Durch die Tätigkeit als Tutorin eines freien Konversationsangebotes des Goethe Instituts in der virtuellen Welt Second Life (vgl. Biebighäuser & Marques-Schäfer, 2009) kam ich das erste Mal in Kontakt mit virtuellen Welten und ihrer Verwendung durch Fremdsprachenlernende. Später führte ich in dieser Umgebung auch Kurse für Deutschlerner durch, wobei das didaktische Konzept für diese Kurse bereits vorlag: So gab es einen Klassenraum, an dessen einer Seite sich ein Pult für den Avatar des Lehrenden befand, auf der anderen Seite waren Stühle für die Lernenden angebracht. Mit Hilfe einer Steuerkonsole konnten diese Stühle in verschiedene Sitzordnungen arrangiert oder ganz entfernt werden. Es gab zudem eine Tafel, auf der man Bilder und Präsentationen zeigen konnte sowie die Möglichkeit, mit Hilfe von Notecards einfache Arbeitsblätter zu erstellen 2 . Das didaktische Setting war also größtenteils einem klassischen Unterrichtsraum nachempfunden. Eine Weiterentwicklung dieses Unterrichtsraumes gab es allerdings: Zusätzlich zum Entfernen der Stühle konnten auch 1 Ich habe mich dazu entschlossen, in dieser Arbeit das generische Maskulinum zu verwenden. Wenn es nicht ausdrücklich anders dargestellt wird, sind in den Personen oder Pronomina der männlichen Form stets auch weibliche Akteure mit eingeschlossen. 2 Zur genauen Funktionsweise von virtuellen Welten im Allgemeinen und Second Life im Besonderen, vgl. Kapitel 4.3. bzw. 4.3.3. <?page no="14"?> 14 zwei Kulissen in den Klassenraum eingeblendet werden: Die Lobby eines Hotels und ein Schalter am Flughafen konnten mit einem Tastendruck durch den Lehrenden in den Raum geholt werden, um hier situationsspezifische Rollenspiele zwischen den Lernenden stattfinden zu lassen. Basierend auf den Erfahrungen, die ich in diesen Lernangeboten machen konnte, stellte ich mir die Frage, ob man virtuelle Welten nicht in einer freieren Form für das Lernen von Fremdsprachen einsetzen könnte: Die Schaffung eines Klassenraumes, in dem sich die Avatare der Nutzer auf Stühlen niederließen, schien mir unnötig künstlich, zudem nutzt der Frontalunterricht, der auf die Präsentationen des Lehrenden und einfache Übungen auf den Arbeitsblättern ausgerichtet war, das Potenzial der virtuellen Welten meiner Ansicht nach nicht aus. Virtuelle Welten sind auf die Kommunikation der Nutzer untereinander ausgerichtet, zudem bieten sie in der dreidimensionalen Umgebung interessantes Material, das innerhalb des Fremdsprachenunterrichts verwendet werden kann. Ich begann darüber nachzudenken, in wieweit virtuelle Welten dazu geeignet sein könnten, das landeskundliche Lernen von Fremdsprachenlernern zu befördern und Lernszenarien zu entwickeln und zu erforschen. Mich interessiert, wie eine avatarvermittelte Kooperation von mulitnationalen Kleingruppen in einer virtuellen Welt, die gleichzeitig Begegnungsort und Materiallieferant ist, zum Landeskundeerwerb führt und wie wichtig die Aufgabenstellung für den erfolgreichen Erwerb ist. Ein derartiges Lernszenario wirft eine Vielzahl von Fragen auf, die in dieser explorativen Studie behandelt werden sollen. Dafür werde ich zunächst das Erkenntnisinteresse und die Forschungsfragen, die sich aus diesem ersten Interesse entwickelten, darlegen (Kapitel 2). Im Anschluss folgt im Teil I die Auseinandersetzung mit der theoretischen Basis, auf deren Grundlage diese Untersuchung beruht. Sie umfasst die Themen landeskundliches Lernen (Kapitel 3) und Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien (Kapitel 4). Diese Theoriekapitel sollen einen Überblick über die Forschungsfelder vermitteln, in denen sich diese Arbeit bewegt. Theoretische Überlegungen, die konkreter auf einzelne Aspekte meiner Untersuchung verweisen und diesen als Erklärungsansätze dienen, werden in die Datenauswertung in den Kapiteln 6 bis 8 integriert. Nach diesem ersten Teil folgt Teil II, der methodische Teil der Arbeit. In diesen werden das konkrete Setting, die Wahl der Auswertungsmethoden sowie die erhobenen Daten nachgezeichnet (Kapitel 5). Die Auswertung der Daten erfolgt in Teil III der Arbeit auf zwei Ebenen. In Kapitel 6 werden die Daten von drei ausgewählten Gruppen während des gesamten Projektes analysiert. Dabei werden vor allem Fragen der Gruppen- <?page no="15"?> 15 konstitution und der Kooperation innerhalb der Gruppen diskutiert. Für das 7. Kapitel wurden auf der Basis der erhobenen Daten aller Gruppen vier Schwerpunkte für die Analyse ausgewählt, die sich im Laufe der Arbeit als besonders relevant für die Erforschung des Fremdsprachenlernens in virtuellen Welten herausgestellt haben: Zunächst wird die Verwendung der Kommunikationskanäle Voice-Chat und Text-Chat analysiert (Kapitel 7.1). Im Anschluss wird die Bearbeitung der Aufgabenstellungen in allen Gruppen untersucht und die Form der Aufgabenstellung diskutiert (Kapitel 7.2). In Kapitel 7.3 untersuche ich die Rolle der Avatare in der Zusammenarbeit der Partner und Kapitel 7.4 thematisiert die Rolle der virtuellen Welt als Begegnungsort und Lernmaterial. In Kapitel 8 wird dann das landeskundliche Lernen innerhalb des Projektes untersucht. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung meiner Ergebnisse und dem Ausblick auf sich aus dieser Untersuchung ergebende weiterführende Fragestellungen (Kapitel 9). <?page no="17"?> 17 2. Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen Wie ich einleitend dargelegt habe, interessiert mich das Potenzial virtueller Welten für das gemeinsame Lernen von multikulturellen Gruppen, die sich an unterschiedlichen Orten befinden. Gegenstand der Treffen sind landeskundliche Inhalte zur Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands, die anhand historischer Erinnerungsorte (vgl. Kapitel 3.3.2.3) thematisiert werden. Derartige Projekte wurden bislang noch nicht durchgeführt. So ist zum einen die Nutzung von virtuellen Welten als Plattform für Begegnungen ein neuer Forschungsgegenstand, darüber hinaus dient die virtuelle Welt aber auch als Materialbasis. Auch die Nutzung virtueller Darstellungen für das landeskundliche Lernen von Gruppen wurde bislang nicht untersucht. Daher ist mein Erkenntnissinteresse sehr breit und die Forschungsfragen sind dementsprechend offen angelegt. Die Forschungsfragen betreffen die Zusammenarbeit der Gruppen, die Wirkung der virtuellen Welt auf die Teilnehmenden, das Design und die Durchführung der Aufgabenstellung, die Wahl des Kommunikationskanals zur Interaktion innerhalb der Gruppen sowie Aspekte des landeskundlichen Lernens. Nachfolgend sollen diese Kategorien zu konkreten Forschungsfragen präzisiert werden. Zusammenarbeit der Gruppen • Wie arbeiten Gruppen in virtuellen Welten zusammen? • Lassen sich in verschiedenen Gruppen unterschiedliche Rollenverteilungen feststellen? Wenn ja: Welchen Einfluss nimmt die Rollenverteilung innerhalb der Gruppe auf die Aufgabenbearbeitung? Rolle der virtuellen Welt • Welche Rolle spielen die Avatare, die figürlichen Repräsentationen der Nutzer in der virtuellen Welt, im Austausch der Gruppen? • Wie wirkt die Nutzung von virtuellen Welten als Materiallieferant und Begegnungsort auf die Lerner ? <?page no="18"?> 18 Aufgabenstellung: • Erfüllen die jeweiligen Gruppen die in der Aufgabenstellung intendierten Erwartungen? • Müssen für Aufgabenstellungen in virtuellen Welten besondere Aspekte berücksichtigt werden? Wahl des Kommunikationskanals • Benutzen die Gruppen den Text-Chat, den Voice-Chat oder eine Mischform beider Kanäle zur Aushandlung ihrer Aufgaben? • Unterscheiden sich die Aufgabenbearbeitungen von Gruppen, die den Text-Chat verwenden von denen der Gruppen, die den Voice-Chat nutzen? Aspekte landeskundlichen Lernens • Entnehmen die Lernenden die landeskundlichen Inhalte aus dem dargebotenen Material? • Findet ein Dialog zwischen dem Vorwissen der Lernenden und den dargebotenen landeskundlichen Informationen statt? • Findet historisches Lernen statt? • Findet interkulturelles Lernen statt? All diese Teilfragen sollen der Beantwortung der zentralen Forschungsfrage dienen: Welches Potenzial bieten virtuelle Welten für das landeskundliche Lernen und welche besonderen Herausforderungen dieses Mediums müssen berücksichtigt werden? <?page no="19"?> 19 Teil I: Theoretische Basis Die in Kapitel 2 formulierte Forschungsfrage fokussiert landeskundliches Lernen in virtuellen Welten. In diesem Teil der Arbeit soll zunächst die theoretische Basis zur Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung geschaffen werden. Hierzu werden die Themen ‚Landeskunde’ (in Kapitel 3) und ‚Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien’ (in Kapitel 4) behandelt. Es wird versucht, den aktuellen Stand der Forschung zu beiden Forschungsfeldern darzulegen, wobei der Fokus auf den für diese Arbeit relevanten Teilbereichen liegt. Dennoch wird an dieser Stelle eine eher breite theoretische Grundlage geschaffen. Forschung, die sich konkret auf Aspekte bezieht, die meine Forschungsfragen aufgreifen, wird hingegen den jeweiligen Analysekapiteln in Teil III vorangestellt. 3. Interkulturelles Lernen und Landeskunde im Fremdsprachenunterricht Landeskunde umfasst die Teile des Fremdsprachenunterrichts, die etwas über das Zielsprachenland vermitteln. Trotz dieser bedeutenden Rolle der Disziplin werden grundlegende Diskussionen um ihre Inhalte und Aufgaben geführt, die bis hin zur Diskussion um die Benennung des Faches reichen 3 . Seit den 80er Jahren wurde die Landeskunde wieder verstärkt Gegenstand von Reflexion und Diskussion: Es wurde gefordert, Landeskunde stärker wissenschaftlich zu fundieren; Landeskunde wurde Forschungs- und Praxisfokus (vgl. Wormer 2003, 437; 2004, 3). Trotz dieser Fokussierung hat die Landeskunde bis heute einen Sonderstatus, der sich in Bezeichnungen wie „Unfach“ 3 So gibt es für die Disziplin Landeskunde in der Diskussion im Fach DaF außerdem die Bezeichnung Deutschlandkunde (Picht 1972), Deutschlandstudien (Picht 1975), Kultur- und Landeswissenschaften (Picht 1989), Kulturkunde (Engel, Krumm & Wierlacher 1979), Kulturwissenschaft (Koreik 1995) oder auch interaktionelle Leutekunde (Göhring 1976). Wobei insbesondere die Bezeichnungen, die die -kunde im Namen tragen, sich immer wieder des Vorwurfs der Unwissenschaftlichkeit erwehren müssen (vgl. Wormer 2003, 435). Landeskunde hat sich dennoch als der „vitalste“ aller Begriffe erwiesen (ebd.). Daher werde ich nachfolgend ebenfalls die Bezeichnung Landeskunde verwenden. <?page no="20"?> 20 (Schmidt 1977) oder „unmögliches Fach“ (Gürttler & Steinfeld 1990) ebenso widerspiegelt wie in der Tatsache, dass für diese eine Disziplin des Fremdsprachenunterrichtes zalreiche Bezeichnungen vorliegen. Dabei war „der Kampf um die richtige Bezeichnung immer auch eine Auseinandersetzung um die Inhalte sowie um eine politisch-gesellschaftliche Ausrichtung“ (Koreik 1999, 11). Man könnte Landeskunde äußerst knapp definieren wie Buttjes (2003, 142): „Landeskunde meint alle Bezüge auf die Gesellschaften, deren Sprache im Fremdsprachenunterricht gelernt wird“. Diese Definition stammt zwar aus der auf den Englischunterricht bezogenen fremdsprachendidaktischen Diskussion, kann aber als Minimaldefinition auch für den DaF-Bereich angesehen werden. Dabei bleibt die Definition Buttjes sehr offen für unterschiedliche Deutungen, trotzdem wird auch sie schon nicht allen Positionen gerecht, denn ob man wirklich „alle Bezüge“ einer Gesellschaft im Landeskundeunterricht berücksichtigen soll, ist eher fragwürdig und suggeriert eine Beliebigkeit in der Auswahl des Kanons. Die genaue Auswahl dessen, was gelehrt werden soll, ist ein großer Unterscheidungspunkt innerhalb der verschiedenen landeskundlichen Positionen. Trotz aller Gegensätze innerhalb der Debatte kristallisiert sich in dieser Beziehung heraus, dass die Inhalte lernerbezogen sein müssen, sich also an den Bedürfnissen und Voraussetzung der Lerngruppe orientierten sollen. Landeskundliches Lernen ist kein Selbstzweck an sich, es geht nicht um die reine Anhäufung von Informationen zu den zielkulturellen Gesellschaften. Vielmehr wird immer wieder betont, dass landeskundliche Inhalte dazu dienen sollen, dass der Lernende sich in der Zielkultur zurechtfindet. Entsprechend dieser Tendenz teile ich die Definition von Veeck und Linsmayer (2001, 1160): Von hier aus lässt sich Landeskunde definieren als die Gesamtheit aller Informationen und Deutungstheorien, die dazu dienen, das Interaktionswissen (z.B. Begrüßungsformeln, Wahrnehmungs- und Mentalitätsunterschiede) eines jeweiligen Sprachlerners zu optimieren, sein Verständnis der Zielkultur und ihrer historischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern und ihn darüber hinaus in die Lage zu versetzen, sich der verschiedenen Mechanismen der fremdkulturellen Lern- und Wahrnehmungsprozesse bewusst zu werden. In der Definition werden drei Teilbereiche deutlich, die landeskundliches Lernen unterstützen sollte: Zum einen die konkrete Kommunikation in der Zielsprache mit entsprechenden Kommunikationsritualen und dem dazugehörigen Interaktionswissen, zum zweiten das Verständnis für die Kultur zu verbessern, um das Verhalten der Menschen besser nachvollziehen zu kön- <?page no="21"?> 21 nen 4 sowie zum dritten auf abstrakter Ebene die Bewusstmachung der Mechanismen von Wahrnehmungsprozessen 5 . Diese abstrakte Form erlaubt es, über eine konkrete Kultur hinaus eine Art von Metawissen zum Umgang mit anderskulturellen Menschen zu erwerben, indem verdeutlicht wird, dass die Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung kulturell geprägt ist. Dieses Wissen führt zu einer interkulturellen Kompetenz (vgl. 3.2.3). Obwohl nicht eindeutig definiert ist, welche Inhalte die Landeskunde umfasst, ist der Begriff der Kultur zentral, wenn es um die Inhalte der Landeskunde geht, da die Vermittlung der Zielsprachenkultur als Lehrziel der Landeskunde angesehen werden kann: Wie auch immer man das Kind dieser Saison nennen mag, ‚Transnationale Germanistik‘, ‚Interkulturelle Germanistik‘, oder auch mit dem bescheidenen Namen ‚Deutsch als Fremdsprache‘, unter dem es seinerzeit geboren wurde: unser Fach hat sich in allen seinen Komponenten durchgehend als eine Disziplin verstanden, die Germanistik als Kulturwissenschaft (vgl. Bausinger 1999) und zugleich unter dem zentralen Gesichtspunkt der kulturellen Vermittlung betreibt. (Kretzenbacher 2004, 1) Neben der Auffassung dessen, was als Kultur definiert wird, beeinflusst aber auch die Kultur- und Zeitgeschichte der jeweiligen Epoche selbst maßgeblich die Auswahl der landeskundlichen Inhalte. Mit der politischen Strömung und den gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten sich sowohl die Zielgruppe als auch die zentralen Lehrziele des Fremdsprachenunterrichts. Um den Begriff der Landeskunde darzustellen, der dieser Untersuchung zugrunde liegt, muss demnach zunächst der Begriff der Kultur konkretisiert werden (Kapitel 3.1). Im Anschluss wird versucht, die grundlegenden Positionen zu Inhalten und Methoden der Landeskunde zusammenzufassen (Kapitel 3.2). Da dieses Unterfangen droht, aufgrund der zahlreichen unterschiedlichen Bezeichnungen und Positionen den Rahmen zu sprengen, werde ich mich an der Kategorisierung der verschiedenen Ansätze nach Weimann und Hosch (1991) orientieren, die Pauldrach (1992) in die Debatte mit eingebracht hat und die Veeck und Linsmayer (2001, 1161) als „[d]en bisher überzeugendsten Versuch, typologische Klarheit in die ausufernde Landeskundediskussion zu bringen“ bezeichnen: die Unterteilung in kognitive, kommunikative und interkulturelle Landeskunde. Im Anschluss werden aktuelle Diskussionen der Landeskunde aufgezeigt, wobei Konzepte mit einem starken kulturwissenschaftlichen Bezug ausge- 4 In der Definition von Veeck und Linsmayer (2001) wird auch die Bedeutung der Geschichte hervorgehoben, auf die in Kapitel 3.3. noch näher eingegangen wird. 5 Diese drei Ebenen korrespondieren mit den drei Aspekten Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen, die Byram hervorhebt, vgl. Kapitel 3.2.3.4. <?page no="22"?> 22 wählt wurden, die den Fokus auf die Vermittlung historischen Wissens im Fremdsprachenunterricht legen (Kapitel 3.3). Im Abschluss wird dann das Modell des landeskundlichen Lernens vorgestellt, das der vorgelegten Untersuchung zugrunde liegt (Kapitel 3.4). 3.1. Kultur als Kern der Landeskunde Im Zentrum der Landeskunde liegt die Vermittlung von Kultur; allerdings wird ‚Kultur’ je nach didaktischer Strömung unterschiedlich ausgelegt. Um eine Basis für die Diskussion der Landeskunde herzustellen, wird daher im Nachfolgenden zunächst der Kulturbegriff erörtert (Kapitel 3.1.1) und verschiedene Konzepte vorgestellt, die Kultur umfassen und auf welche die Landeskundediskussion explizit Bezug nimmt. Danach wird der Zusammenhang zwischen Kultur und Sprache dargestellt (Kapitel 3.1.2). Abschließend werden die Ergebnisse aus der Diskussion um Kultur für die Landeskundediskussion zusammengefasst (Kapitel 3.1.3). 3.1.1. Der Kulturbegriff Der Begriff ‚Kultur‘ ist in unserer Alltagssprache allgegenwärtig; dennoch bezeichnen wir mit ihm je nach Situation unterschiedlichste theoretische Konstrukte 6 . Daher soll zunächst die Wortbedeutung von ‚Kultur‘ nachgezeichnet werden, um im Anschluss die verschiedenen Aspekte von Kultur zu beleuchten. 3.1.1.1. Zur Etymologie von Kultur Das deutsche Substantiv Kultur ist sprachgeschichtlich lateinischen Ursprungs und leitet sich vom Verb colo, colui, cultus her. Das Lexikon nennt für dieses Verb zwei Bedeutungen: 1. Pflegen, bebauen, bestellen und 2. Anbeten […]. (Hansen 2003, 14) In dieser Ableitung von Kultur zeigt Hansen (2003) die wesentlichen Bestandteile des Kulturbegriffes: Er führt aus, dass auf der einen Seite all jene Tätigkeiten als Kultur zu bezeichnen sind, die den Anbau von Nahrungsmitteln umfassen, welcher geplant und systematisch stattfindet. Im Sinne dieser Definition sprechen wir auch heute noch von Agrikultur, vom Kultivieren fremder Pflanzen oder auch von der Anzucht von Bakterienkulturen in der Medizin. Der zweite, religiöse Aspekt scheint damit zunächst wenig gemeinsam zu 6 Kroeber und Kluckhohn (1952) listen bereits 164 verschiedene Kulturbegriffe auf, wobei diese Auflistung nicht vollständig ist. <?page no="23"?> 23 haben: Die Verehrung eines höheren, göttlichen Wesens. Aus dieser zweite Bedeutung hat sich im Deutschen das Substantiv ‚Kult‘ abgeleitet. Hansen (ebd.) zeigt, dass beide Bedeutungen von Kultur grundlegende Eigenschaften der Menschen bezeichnen, die diese von Tieren abgrenzen: „Ackerbau und Götterverehrung sind jene Tätigkeiten, die den Urmenschen vom Tier unterscheiden“ (ebd., 14). Damit umschreibt Kultur all jene Tätigkeiten der Menschen, die sie bewusst planen und durchführen. Hansen (ebd.) macht deutlich, dass beiden Bedeutungsfeldern ebenfalls gemein ist, dass man den Ertrag der Tätigkeiten nicht unmittelbar nach der Tätigkeit selbst nutzen kann, sondern dass sich dieser erst zu einem späteren Zeitpunkt niederschlägt: Von der Aussaat bis zur Ernte vergehen mehrere Monate, auch göttliches Wohlwollen erfolgt nicht konkret nach dem Akt des Anbetens, sondern wird von den Gläubigen im Alltäglichen erlebt. Der Begriff der Kultur macht den Menschen damit zu einem vorausschauenden und abstrakt denkenden Wesen. Hansen (ebd., 15) betont die Eigenschaften der Vernunft sowie des Bewusstseins für das eigene Tun als Charakteristika des Menschen, der Kultur praktiziert. Damit trete der Mensch aus dem Naturzustand heraus und unterscheide sich von wilden Tieren. Nach Hansen (ebd.) ist dieses Heraustreten aus dem Naturzustand, die Gegenüberstellung von Natur und Kultur als sich gegenüberstehende Begriffe, ebenfalls ein zentraler Aspekt der Kulturdiskussion: Der Begriff Kultur bezeichne demnach ganz allgemein die Veränderung der Natur - sowohl der äußeren Natur im Sinne der Landwirtschaft als auch der Natur in einem Selbst im Sinne der Gottesverehrung 7 - durch Arbeit. Natur gelte als Ursprungszustand, so Hansen: alles, was weiterbearbeitet wird, wird Teil der Kultur. Kultur bezeichnet damit die von Menschen geschaffene Ordnung, welche den Naturzustand verdrängt hat und in dem Menschen miteinander leben. Da diese Ordnung in Teilen der Erde unterschiedlich aussieht, könne man zwischen eigener und fremder Kultur unterscheiden (vgl. Hansen 2003, 15). Die Auffassung von Kultur als Gegensatz zur Natur entspricht dem weiten Kulturbegriff, der nachfolgend ausgeführt und vom engen Kulturbegriff abgegrenzt werden soll. 7 Darüber hinaus umfasst diese Arbeit an der inneren Natur aber auch die Kontrolle der Triebe - als Manifestierung der ungezähmten Natur im Menschen - indem man seine Leidenschaften zähmt und nicht nur egoistisch denkt und handelt (vgl. Hansen 2003, 15). <?page no="24"?> 24 3.1.1.2. Weiter versus enger Kulturbegriff Im Gegensatz zu der sehr weiten Definition, nach der alles, was von Menschen bearbeitet, also alles, das nicht Natur ist, als Kultur gelten kann, gibt es in unserem Sprachgebrauch eine engere Sprachverwendung des Begriffes von Kultur: Häufig gilt ja in Deutschland ein enger und oft elitärer Kulturbegriff. Als wirkliche Kultur werden dann nur die künstlerischen Höchstleistungen beachtet, die Spitzenwerke in Literatur, Musik, bildender Kunst. (Bausinger 1999, 224) Kultur im Sinne dieses engen Kulturbegriffes trifft nur auf einen Bruchteil der Kulturgüter zu, die der weite Kulturbegriff umfasst. Kultur im Sinne des engen Kulturbegriffes könnte man mit ‚hoher Kunst‘ umschreiben. Nur besonders gelungene, wertvolle Produkte des menschlichen Daseins werden bei dieser Begriffsverwendung zu Kultur hinzugezählt. Dabei ist die Bewertung, was in diesem Sinne als besonders ‚gelungene‘ Produkte der Kultur gilt, in der Kultur selbst begründet: Die Gemeinschaft und ihre Werte entscheiden, was als besonders schön gilt. Die Produkte der ‚hohen Kultur‘ werden dadurch zur Manifestierung der Kultur selbst. Diese Ausprägungen von Kultur sind es, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, die in Institutionen wie Schulen vermittelt und in gemeinschaftsstiftenden Institutionen gezeigt werden. Bausinger (1985, 5) stellt aber fest, dass dieser enge Kulturbegriff nicht ausreicht, um die Kultur eines Landes zu erfassen. Insbesondere dann, wenn man „aus dem Binnenraum hinaustritt wird klar, dass ein weiterer Kulturbegriff notwendig ist, zu dem auch die Alltagskultur gehört“. Auch, wenn man den Landeskundeunterricht nach der Definition von Veeck und Linsmayer (2001, 1160; siehe S. 19) denkt, wird der Bedarf an einem weiteren Kulturbegriff deutlich. Aufgrund dieser Notwendigkeit sei, so Bausinger, auch innerhalb des Faches mittlerweile der weite Kulturbegriff etabliert: Die neue Fassung der Germanistik, besonders der Auslandsgermanistik, meint aber Kultur in einem umfassenderen Sinn, sie reflektiert auf den ethnologischen Kulturbegriff: Kultur als Art und Weise, mit dem Leben umzugehen und fertig zu werden. (Bausinger 1999, 224) Die Entwicklung dieses weiten Kulturbegriffs soll nachfolgend genauer beschrieben werden. 3.1.1.3. Der Wandel des Kulturbegriffs Wie bereits ausgeführt wurde, ändert sich die Vorstellung dessen, was mit Kultur bezeichnet wird, sie ist selbst ein Ausdruck der Kultur der jeweiligen <?page no="25"?> 25 Zeit. Eine sehr frühe 8 Definition von Kultur ist die von Tylor. Für ihn ist Kultur „im weitesten Sinne jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat“ (Tylor 1871, zitiert nach Hansen 2003, 37). Oder kurz gefasst: „Kultur umfaßt Standardisierungen, die in Kollektiven gelten.“ (Hansen 2003, 39.) Das Verhältnis von Kultur und Kollektiv ist doppelt zu sehen, sie bedingen sich gegenseitig: Zum einen wird die Kultur durch die Verabredungen eines Kollektivs hergestellt, zum anderen entsteht auch das Kollektiv selbst erst durch die Kultur: Nur indem wir miteinander interagieren, fühlen wir uns als Kollektiv (vgl. Hansen 2003, 158ff.). Die Interaktion miteinander ist regelgeleitet, die Regeln sind wiederum kulturell geprägt. Man fühlt sich als Kollektiv, weil man die gleichen kulturellen Standardisierungen teilt und sich damit von anderen Kollektiven abgrenzt. Diese Klassifizierung der Kollektive in einem steten Wandel begriffen: Der Kulturbegriff entwickelt sich gemäß zeitgenössischer wissenschaftlicher Strömungen weiter und unterschiedliche Aspekte der Kultur werden entsprechend betont. So wurde mit dem Einzug des Kognitivismus auch die mentale Seite der Kultur stärker fokussiert (vgl. z.B. Goodenough 1964; 36). Im weiteren Verlauf verbreiterte sich der Kulturbegriff immer stärker, nicht zuletzt durch die Cultural Studies wurde auch Gruppen, die sich nicht ethnisch definieren, eine eigene Kultur zugesprochen(vgl.hierzu Nünning & Nünning 2008). Im Zuge dieses Wandels wurde auch die Kritik an der Verwendung eines homogenisierenden Kulturbegriffs immer stärker: Es ist heute unbestritten, dass moderne Gesellschaften heterogen zusammengesetzt sind und neben der Zuordnung zu einer Nationalkultur viele unterschiedliche Subkulturen für die Identität von Menschen relevant sind. Diesen Umstand verdeutlicht Brunzels schematische Darstellung (vgl. Abb. 1) sehr anschaulich. 8 Diese Darstellung setzt zu Beginn des 19. Jahrhundert ein. Für eine umfassende Darstellung der Verwendung des Kulturbegriffs seit der Antike vgl. Ort (2008). <?page no="26"?> 26 Abb. 1: Schema der Hierarchie von Nationalkulturen und Subkulturen nach Brunzel (2002, 2) Aufgrund dieser Vielfalt von kulturellen Gruppen wird auch diskutiert, ob eine Unterordnung der Subkulturen unter die Nationalkultur heute noch angemessen sei (vgl. Hu 1996, 37). Ich denke, dass die nationale Zugehörigkeit heute zwar noch eine starke gruppenbildende Komponente darstellt, dass allerdings die dargestellte Heterogenität von Kultur unbedingt betont werden muss. Wie bereits deutlich wurde, geschieht die Verwendung des Kulturbegriffs uneinheitlich. In der Wissenschaft, insbesondere in den Kulturwissenschaften, wurde aber eine fächerübergreifende Präferenz für einen semiotischen, bedeutungsorientierten und konstruktivistisch geprägten Kulturbegriff erkennbar […]. Demzufolge wird Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefasst, der sich in Symbolsystemen materialisiert. (Nünning & Nünning 2008, 6) Brunzel (2002, 14) beschreibt die Definition von Hansen (1995) als „wissenschaftliche[n] Grundkonsenz“, nach der Kultur als „Veränderung der äußeren und inneren Natur des Menschen durch Handeln innerhalb eines Kollektivs“ beschrieben wird, und hebt hervor, dass diese Definition neben dem Produktcharakter auch den Prozesscharakter von Kultur umfasst, der häufig weniger beachtet werde, aber ebenfalls von zentraler Bedeutung im Konzept der Kultur sei. <?page no="27"?> 27 3.1.2. Kultur und Sprache Kultur und Sprache sind in zweierlei Hinsicht miteinander verwoben: Zum einen ist die Sprache ein Teil der Kultur selbst, zum anderen erlaubt es Sprache, Kultur zu abstrahieren und zu speichern. Kultur und Sprache bedingen sich damit gegenseitig. Sprache gilt als zentraler Aspekt der Kultur. Wie in Kapitel 3.1.1.3 bereits dargelegt wurde, definiert sich ein Kollektiv erst dann als Gruppe, wenn die einzelnen Mitglieder untereinander kommunizieren. Sprache ist ein Zeichensystem. Sie beruht darauf, dass ein Kollektiv sich gemeinsam auf abstrakte Bezeichnungen für konkrete Gegenstände geeinigt hat 9 : „Individuen, die bei der Interpretation von Zeichen weitgehend dieselben konventionellen Codes anwenden, betrachten wir als Mitglieder ein und derselben Kultur.“ (Posner 2008, 43) Da die Sprache nur innerhalb des Kollektivs gültig ist, ist sie selbst ein kulturelles Produkt eben dieser Sprachgemeinschaft. White (1949, 22) beschreibt die Verwendung eines Symbolsystems als Ursprung der Menschlichkeit, den Hansen - als Gegensatz zum Animalischen des Naturzustandes - in der Kultur sieht: „All human behavior originates in the use of symbols. It was the symbol which transformed our anthropoid ancestors into men and made them human“. Kultur schlägt sich immer in Abbildungen nieder und wird durch Artefakte greifbar. Neben dieser mittelbaren Manifestation von Kultur gibt es auch die unmittelbare Manifestation durch Zeichensysteme, insbesondere die Schrift, die es erlauben, Kultur zu beschreiben, sie aber auch zu sichern. Durch die Sprache können auch abstrakte Dinge, Gedanken und Vorgänge beschrieben werden. Durch Sprache können so Regeln aufgestellt werden, die das Zusammenleben in einer Gemeinschaft regeln. 9 Diese Zuweisung von Bedeutungen zu Zeichen hat Saussure (1916) deutlich gemacht. Allerdings hat die Anthropologie die Semiotik, die der Bedeutung von Zeichen nachging, Anfang des 20. Jahrhunderts nicht verfolgt, so dass deren Erkenntnisse erst später in die kulturwissenschaftlichen Diskussionen Einzug fanden (vgl. Hansen 2003, 49). Je nach Grad der Abstraktheit der Zeichen gibt es unterschiedliche Bezeichnungen: digitale Zeichen sind völlig willkürliche Zuweisungen, während analoge Zeichen (oder auch Symbole) weniger willkürlich sind, diese versuchen, das Original nachzubilden; Hansen (2003, 52) illustriert dies an Fußgängerüberweg-Schild, das als analoges Zeichen gilt, da hier ikonographisch der die Straße überquerende Fußgänger nachgestellt wird. Ein „Vorfahrt achten“- Schild hingegen sei völlig willkürlich definiert; die Dreiecksform rekurriere in keiner Weise auf die Bedeutung des Schildes, womit dieses als digitales Zeichen gelten kann. <?page no="28"?> 28 Der Schrift als graphemischem Niederschlag der Sprache kommt hierbei eine besondere Rolle zu 10 : Statt der bislang nur mündlichen Überlieferung erlaubt es die Schrift, das kulturelle Wissen auch außerhalb der Menschen zu speichern und zu verbreiten. Dadurch wird das Schreiben zum Kulturbeschleuniger: Die nur im Gedächtnis gespeicherte Kultur hielt starr und ängstlich an den flüchtigen Schätzen der Tradition fest. Mit der Haltbarkeit und einfachen Verfügbarkeit dieser Schätze ließ die Ehrfurcht jedoch nach, so daß die starre Traditionszugehörigkeit gelockert wurde und ein schnellerer Wandel als zuvor eintrat (Hansen 2003, 64). Die Schrift ist das Unterscheidungsmerkmal der Ethnologie zwischen Primitiv- und Hochkulturen. Während die Ethnologie die Primitivkulturen anhand von Beobachtungen untersucht, waren für die Hochkulturen Wissenschaften zuständig, die diese anhand ihrer schriftlichen Dokumente untersuchten: Anglistik, Germanistik, Romanistik etc. sind von ihrer Bezeichnung her zwar Disziplinen, die die Kultur des Landes in Gänze untersuchen, sie konzentrieren sich traditionell aber vorrangig auf deren Literatur. Mit der Öffnung der geisteswissenschaftlichen Fächer auf andere kulturelle Dokumente als die Literatur entstand die Etablierung der Kulturwissenschaft, die nachfolgend kurz dargelegt werden soll. 3.1.3. Kulturbegriff und Landeskundediskussion Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, ist Kultur ein sehr vielschichtiger und weitreichender Begriff, der sowohl die menschlichen Verhaltensweisen als auch Güter und nationale Eigenheiten umfasst und damit das komplette menschliche Leben bezeichnet. Kultur wird damit zum zentralen Gegenstand der Landeskunde. Diese hat zwar je nach Ausrichtung unterschiedliche Schwerpunkte, Kultur ist aber stets ein zentraler Inhalt des landeskundlichen Lernens im Fremdsprachenunterricht gewesen und hat sich als Begriff ebenso verändert wie die Ausrichtungen der Landeskunde. Dieser enge Zusammenhang zwischen Landeskunde und Kultur wird auch in der alternativen Bezeichnung von Landeskunde als ‚Kulturwissenschaft‘ oder ‚Kulturkunde‘ deutlich. Koreik (1995, 10) hebt in Anlehnung am Kramer (1976, 140) hervor, dass der Begriff der Kulturkunde durch seine geschichtliche Verwendung vor und im Nationalsozialismus ideologisch stark vorbelastet sei und sich aufgrund dessen der unbelastete Begriff der Landeskunde 10 Vergleiche hierzu auch das Kapitel zur Rolle von Medien für Erinnerung und Gedächtnis unter 3.3.2.4. <?page no="29"?> 29 durchgesetzt habe. Zudem sei im deutschsprachigen Raum der Begriff der Kultur bis dato auf ‚hohe Kultur‘ geprägt gewesen (vgl. Koreik 1995, 10). Mit einer anderen geschichtlichen Entwicklung wäre es also gut möglich, dass wir heute auch innerhalb der Fremdsprachendidaktik durchgängig von Kulturwissenschaft sprechen würden. Neben diesem inhaltlichen Schwerpunkt hat die Landeskunde auch mit der aktuellen Diskussion um Kulturwissenschaft(en) erhebliche Berührungspunkte. All jene Probleme und Diskussionen, die die Debatte um den Begriff der Kulturwissenschaft(en) prägen, treffen auch auf die Landeskundediskussion zu: Man könnte sagen, dass die Landeskunde, noch vor der Forderung einer Umorientierung der Geisteswissenschaften zur Kulturwissenschaft, die von den Kulturwissenschaften proklamierte interdisziplinäre Ausrichtung über verschiedene geisteswissenschaftliche Disziplinen hinweg hatte und noch immer hat. Darüber hinaus ist die Kultur für den Landeskundeunterricht, aber auch in den anderen fremdsprachlichen Teilbereichen, der Beschäftigung mit Sprache und Literatur, zentral: Texte können nur verstanden werden, wenn die Konzepte, die hinter einzelnen Begriffen stehen den Lesern bekannt sind: „Es geht nicht nur um den Text, sondern auch um Kontext- und dies ist immer kultureller Kontext“ (Bausinger 1999, 221). Nach dieser Beschäftigung mit dem Konzept der Kultur als Hintergrund sollen nun die Entwicklungen innerhalb der Landeskundediskussion nachgezeichnet werden, um aktuelle Debatten nachvollziehbar zu machen. 3.2. Ansätze der Landeskundediskussion Der unklaren Terminologie und Schwerpunktsetzung des Faches entsprechend gibt es wenige systematische Überblicke über Landeskunde als Disziplin, auch ein historischer Überblick der Entwicklung der Landeskunde fehlt bislang. Apelt (1967), Melde (1987) und Raddatz (1989) haben zwar Monographien über die Genese der Landeskunde verfasst, diese untersuchen aber jeweils lediglich relativ kurze Zeiträume. Eine Betrachtung der Entwicklung der Landeskunde wird hierdurch deutlich erschwert; da diese aber bereits in der jüngeren Vergangenheit erhebliche Wandlungen durchlaufen hat, werden auch bei einer Darstellung der Entwicklung der Landeskunde seit den 70er Jahren 11 ihre Charakteristika und die besondere Situation des Faches deutlich. 11 In den 1970er Jahren begründen Erdmenger und Istel mit der ersten Monographie zur Landeskunde „Didaktik der Landeskunde“ (1973) die moderne Landeskundediskussion (vgl. Holzäpfel 2000, 60). Erdmenger und Istel (1973, 21) betonen, dass <?page no="30"?> 30 Nach Weimann und Hosch (1991, 134-142) lassen sich die Entwicklungen innerhalb der Landeskunde seitdem in drei methodische Ausrichtungen unterscheiden: die kognitive, die kommunikative und die interkulturelle Landeskunde. Dabei ist hervorzuheben, dass diese methodischen Ausrichtungen „in der Praxis [...] selten in ihrer reinen Form vorkommen“ (ebd.). In Lehrwerken zeigen sich zumeist Mischformen aus zwei oder gar allen drei Ausprägungen der Landeskunde. Dennoch sind die unterschiedlichen Ausrichtungen aufgrund ihrer unterschiedlichen Auffassungen darüber, was unter Kultur zu verstehen ist und dementsprechend den Lernenden vermittelt werden solle, eindeutig zu unterscheiden. Aus den drei Ausrichtungen der Landeskunde resultieren ebenfalls unterschiedliche Methoden der Stoffvermittlung. Eine Darstellung der unterschiedlichen Ausrichtungen in ihrer theoretischen Reinform ist daher sinnvoll, wenn auch eine Realisierung in dieser Reinform didaktisch wenig gewinnbringend ist. Nicht zuletzt hat sich auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass „[d]ie Chance eines profunden und modernen Landeskundeunterrichts [...] in der Kombination der verschiedenen Ansätze [liegt]“ (Koreik 1999, 21). Das Wissen aller drei Ansätze für sich genommen reicht nicht aus, um zu einem Verständnis der deutschsprachigen Gesellschaften zu kommen oder sich in ihnen zu Recht zu finden. Gnutzmann (1994, 68) fasst diese Problematik der landeskundlichen Ansätze treffend zusammen: Wenn man die unterschiedlichen für den Fremdsprachenunterricht in seinen verschiedenen Phasen der letzten 20 Jahre jeweils gültigen Kompetenzbegriffe zugrundlegt, nämlich linguistische Kompetenz, kommunikative Kompetenz und jetzt interkulturelle Kompetenz, so fällt auf, daß sie jeweils eine (der diversen) Dimensionen [sic! ] menschlicher Kommunikation zwischen Menschen verschiedener sprachlicher und kultureller Herkunft thematisieren. Die in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts festzustellenden Pendelbewegungen resultieren daraus (vgl. Gnutzmann & Königs 1992: 22ff.), daß die (theoretische) Unzufriedenheit mit einer Dimension in einer bestimmten Phase (wahrscheinlich aufgrund vorangehender Überbetonung), die Fokussierung der nächsten unter Vernachlässigung der derzeit gültigen mit sich bringt. Landeskunde „Wissensvermittlung für die Bewältigung dieses Prozesses [der Kommunikationssituation, Anm. K.B.]“ sei, wodurch die Nützlichkeit der Landeskunde für Alltagssituationen proklamiert wird und eine Abwendung vom humanistischen Bildungsideal stattfand, welche bis dahin in der Landeskundevermittlung vorherrschend war. Für eine Darstellung der Landeskunde vor 1970 vgl. Raddatz (1989), Neuner (1994), Christ (2002) sowie die sehr übersichtliche Darstellung von Lueger (1991), die auch in Penning (1995, 638) aufgegriffen wird. <?page no="31"?> 31 Die Erkenntnis, dass alle drei Ansätze miteinander kombiniert werden müssen, ist nicht neu, vor mehr als 85 Jahren kam schon Schücking (1927, 10) zu dem Ergebnis: Es klingt sehr gut: Nicht Kenntnis, sondern Erkenntnis! Nicht Wissen, sondern Fähigkeit zur Fragestellung! Aber Erkenntnis setzt zunächst einmal eine gewisse Kenntnis, die Fähigkeit zur Fragestellung setzt auch Wissen voraus. Reines Faktenwissen bedarf eines Anschlusses an den Alltag der Lernenden, um anwendungsrelevant zu sein, zudem hilft eine interkulturelle Perspektive, anderskulturelle Wertungen und Deutungen als solche zu erkennen. Die genaue Zusammensetzung der Inhalte kann nur in Bezug auf die Lerngruppe getroffen werden. Obwohl sie also nicht in Reinform vorkommen und eine Kombination der drei Ansätze auch didaktisch sinnvoll ist, sollen die Ansätze nachfolgend dargestellt werden, da an ihnen die unterschiedlichen Anforderungen deutlich werden, die an Landeskunde gestellt werden. 3.2.1. Kognitive Landeskunde Inhalt der kognitiven oder faktischen Landeskunde ist vor allem deklaratives Wissen - Fakten, die aus Bezugswissenschaften wie Geographie, Politologie oder Geschichte übernommen wurden. Ziel der kognitiven Landeskunde ist es, „ein beziehungsreiches, zusammenhängendes System deutscher Wirklichkeit zu vermitteln“ (Delmas & Vorderwülbecke 1982, 202), auch Holzäpfel (2000, 61) nennt als Ziel der Landeskunde „die Zielkultur in ihrer Gesamtheit darzustellen“. Davon abgesehen, dass es unmöglich sein dürfte, eine Kultur vollständig zu erfassen und dies im (zeitlich und sprachlich) begrenzten Umfang des Landeskundeunterrichts zu realisieren, prägt diese Vorstellung von Landeskunde auch die Ausgestaltung ihrer Vermittlung: Die Landeskunde erhält den Status eines komplexen, an den Bezugswissenschaften angelehnten, eigenständigen Faches. Sie ist nicht in den Sprachunterricht integriert und wird häufig in extra hierfür angesetzten Stunden unterrichtet. Aufgrund der Komplexität der Inhalte wird zudem als Unterrichtssprache häufig die Muttersprache der Lernenden verwendet. Dieser Ansatz birgt wie bereits dargestellt das Problem, dass all das geforderte Wissen unmöglich vollständig vermittelt werden kann. Zudem richtet er sich vornehmlich an fortgeschrittene Lernende. Doch gerade aufgrund des Interesses an einer fremden Kultur beginnen Lernende häufig mit dem Erwerb neuer Sprachen, und insbesondere in der Anfangsphase der Beschäftigung mit einer fremden Kultur tauchen Fragen und Unklarheiten auf. Zudem <?page no="32"?> 32 entsprechen die Inhalte, die im Fokus der faktischen Landeskunde stehen, nicht den Bedürfnissen der meisten Deutschlernenden, welche in der Auswahl des Curriculums keine Berücksichtigung finden. Es wird vielmehr das behandelt, was man unter ‚hoher Kultur‘ zusammenfassen kann, zudem wird das politische System Deutschlands eingehend erklärt. Eine ausführliche Behandlung des föderalen Systems oder der geographische Verortung der Bundesländer ist für die meisten Lernenden wenig brauchbarer Stoff, der aufgrund seiner Faktenlastigkeit schwer anzueignen ist (vgl. Holzäpfel 2000, 62). Zudem birgt die isolierte Betrachtung der Fakten über Deutschland die Gefahr, dass Lernende diese nicht für ihre Kontakte mit Deutschland oder der deutschen Sprache fruchtbar machen können. Spracherwerb und Faktenerwerb laufen nebeneinander ab, obwohl sie einander bedingen und sich daher gegenseitig befruchten sollten. Die aufgeführten Probleme, die eine faktenorientierte Landeskunde mit sich bringt, dürfen nicht dazu führen, dass man glaubt, die Beschäftigung mit einer für die Lernenden neuen Kultur könne ohne die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und historischen Fakten stattfinden. Die Kapitel 7.4 und 8.2 bieten gute Bespiele dafür, wie in Lernszenarien, die sich sehr von klassischer Landeskundevermittlung im Unterricht unterscheiden, eine Befassung mit Fakten ein selbstverständlicher Teil von Kommunikation in der Begegnung sein kann. Selbst im (nicht durch Aufgaben geleiteten) Kennenlernen der Projektpartner zeigt sich - beispielsweise in Kapitel 6.4.2.1, dass Fakten über die Herkunftsländer ausgetauscht werden, um den Alltag des Partners kennenzulernen und einordnen zu können. 3.2.2. Kommunikative Landeskunde 1974 setzte Hans-Eberhardt Piepho mit seinem Buch Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht eine intensive Diskussion innerhalb der Fremdsprachendidaktik in Gang, die mit der sogenannten ‚kommunikativen Wende‘ endete und zu einem Fremdsprachenunterricht führte, der versucht, den (kommunikativen) Bedürfnissen der Lernenden zu entsprechen. Hieraus resultierten tiefgreifende Veränderungen im Fremdsprachenunterricht, auch im Bereich der Landeskunde. Für die kommunikative Landeskunde wurden solche Inhalte als zentral definiert, die es den Lernenden erlaubten, sich in der zielsprachigen Umgebung zu orientieren und mit Muttersprachlern ins Gespräch zu kommen. Themen, die im Bereich der Alltagskultur angesiedelt sind, werden in der kommunikativen Landeskunde vorrangig behandelt. <?page no="33"?> 33 Ziel der kommunikativen Landeskunde ist nicht mehr die Vermittlung eines möglichst umfassenden, vollständigen Deutschlandbildes, sondern die kommunikative Kompetenz der Lernenden. Zwar werden durchaus auch Fakten vermittelt, der Ansatz geht aber davon aus, dass die Fremdsprachenlernenden sich später einmal selbstständig in einem zielsprachigen Land zurechtfinden können müssen. Im Lehrerhandbuch des Lehrwerkes ‚Themen’ fasst Gerdes (1987, 13) die Landeskundevermittlung im kommunikativen Ansatz treffend zusammen: Diese Form der Landeskunde kann entweder informations- oder handlungsbezogen sein. Ist sie informationsbezogen, dann vermittelt sie implizit oder explizit Wissen über die deutschsprachigen Länder, das vor allem für den diskursiven Sprachgebrauch (z.B. Meinungen äußern, argumentieren usw.) notwendig ist. Handlungsbezogene Landeskunde hingegen stellt Wissen zur Verfügung, das für sprachliche Handlungen in elementaren Lebensfunktionen in der zielsprachigen Umgebung unmittelbar wichtig ist. An diesem Zitat wird deutlich, dass im kommunikativen Ansatz keinesfalls der vollständige Abschied von Faktenvermittlung und Institutionenkunde stattfindet 12 , wie es von manchen Kritikern des Ansatzes häufig angemerkt wird. Vielmehr wird aus der Faktenfülle das herausgegriffen, was Lernende benötigen, um erfolgreich in der Zielsprache zu kommunizieren. Es ist offensichtlich, dass hierzu auch das Wissen zu grundlegenden Ereignissen, Verhaltensweisen in Institutionen usw. gehört. Dennoch ist die Handlungsbezogenheit auch beim Faktenwissen erkennbar und zieht sich als ein roter Faden durch den kommunikativen Ansatz. Alles das, was gelernt wird, muss ‚nützliches’ Wissen sein, das die Lernenden zur Anwendung bringen können. Damit unterscheidet sich der kommunikative Ansatz grundlegend von der klassischen Fremdsprachenvermittlung der ‚toten Sprachen‘, die weniger die Anwendbarkeit, sondern vielmehr die ‚geistige Schulung‘ als Ziel des Fremdsprachenunterrichts ansahen. Im Zuge des kommunikativen Ansatzes wurde Landeskunde als Hilfswissenschaft, als Mittel zum Zweck angesehen, um die Kommunikation gelingen zu lassen. Christ fasst dies lapidar zusammen: „Landeskunde wird unterrichtet, damit die Kommunikation zwischen Partnern zweier Sprachen funktionieren kann“ (Christ 1982, 21). Hierbei ist neben dem inhaltlichen Wissen vor allem der Aspekt der Verhaltenskonventionen zu nennen, deren Kenntnis nötig ist, um erfolgreich ein Gespräch zu führen. 12 Nicht zuletzt wurden in konkreten Lehrmaterialien ja, wie bereits angemerkt, zumeist die bislang existierenden Ansätze der Landeskunde miteinander kombiniert, so dass neben der kommunikativen Landeskunde auch weiterhin kognitive Aspekte vorhanden waren. <?page no="34"?> 34 Die Themenauswahl der kommunikativen Landeskunde findet durch eine Hierarchisierung der landeskundlichen Themen statt, wobei die Grundbedürfnisse der Menschen an oberster Stelle stehen und die Themen nach und nach differenzierter und abstrakter werden. Die Einführung der kommunikativen Landeskunde war ebenfalls in den Änderungen der politischen Rahmenbedingungen mitbegründet. So nennt Bausinger (1985) fünf Gründe für die „Entdeckung des Alltags“ (ebd., 3), welche vor allem mit den zeitgeschichtlichen Entwicklungen der 1970er Jahre zusammenhängen: Erstens sei die Konzentration auf den Alltag als Widerstand gegen aufkommende Änderungsimpulse zu verstehen. Eng verbunden hiermit ist der zweite Aspekt, die Gefährdung des Alltäglichen. Indem sie nicht mehr selbstverständlich erschienen, wurde man sich der alltäglichen Aspekte des Lebens wieder bewusst und fokussierte diese. Drittens führten die wachsende Mobilität und der Kontakt zwischen Menschen verschiedener Kulturen dazu, dass Einblicke in den Alltag fremder Kulturen gewonnen wurden und damit eigene alltägliche Rituale bewusst wurden. Viertens erfolgte auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften eine Rückbesinnung auf „elementare Lebensumstände“, die Kultur wandte sich der Gebrauchskunst zu. Fünftens führe die Kritik an der Hermetik der schulischen Bildung (die Ausblendung der Wirklichkeit) zu einer Neuausrichtung des Unterrichtsstoffes. Durch den engen Bezug von Sprachunterricht und Landeskunde wurde nun auch die bis dahin häufige Zweiteilung des Unterrichts aufgehoben. Mit der kommunikativen Wende wurde die Landeskunde als Inhalt in den Sprachunterricht integriert. Die Fokussierung auf praktische Umsetzbarkeit wurde von einigen Didaktikern auch negativ bewertet, da diese ein tiefergehendes Gesellschaftsverständnis nicht berücksichtige. Diese Kritik führt in den 90er Jahren zur Weiterentwicklung des kommunikativen Ansatzes hin zum interkulturellen Ansatz. 3.2.3. Interkulturelle Landeskunde und interkultureller Fremdsprachenunterricht Gnutzmann (1994, 63) legt dar, dass es vor dem Hintergrund des Anstiegs des Anteils an nichtdeutschen Mitgliedern der Gesellschaft in den siebziger Jahren in der Pädagogik und den Sozialwissenschaften unter dem Stichwort ‚Ausländerpädagogik’ erste Bemühungen gab, Kindern mit Migrationshintergrund den Einstieg in das deutsche Bildungswesen zu erleichtern. Er führt aus, dass durch Ergänzungsunterricht, vor allem im sprachlichen Bereich, Defizite der Schüler ausgeglichen werden sollten. Hierauf erfolgte unmittelba- <?page no="35"?> 35 re Kritik, da das Problem der Schüler weniger in der sprachlichen Dimension lag. Vielmehr waren die Hauptprobleme dieser Bevölkerungsgruppe sozialen und wirtschaftlichen Ursprungs (vgl. ebd.). Da die Ausländerpädagogik damit zu kurz griff und zudem zu einer Stigmatisierung eines Teils der Bevölkerung führte, geriet sie immer stärker in die Kritik. Der Ansatz der ‚Ausländerpädagogik’ wurde abgewandelt. Unter dem Stichwort ‚interkulturelles Lernen‘ bemühten sich Erziehungswissenschaftler und Pädagogen seit den achtziger Jahren, Konzepte zu entwickeln, die zur Toleranz und Empathie zwischen Menschen mit unterschiedlicher Herkunft führen. Das interkulturelle Lernen gilt als ein Prozeß, der Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts befähigt, in einer Gesellschaft möglichst friedlich und ohne gegenseitige Diskriminierung zusammenzuleben. (Schneider-Wohlfahrt et al 1990, 39) Die Erziehungswissenschaft formulierte den Anspruch, dass interkulturelle Erziehung in möglichst allen Unterrichtsfächern Berücksichtigung finden solle, insbesondere im Deutschunterricht (vgl. Hegele 1986). Auch der Fremdsprachenunterricht konnte sich daraufhin dem neuen Trend nicht länger verschließen. Interkulturalität ist innerhalb des Fremdsprachenunterrichts als Prinzip zu verstehen, das auf alle Bereiche des Sprachenlernens Anwendung findet. Zentral ist hierbei die Erkenntnis, daß die Lernenden die fremde Sprache und Kultur aus ihrer eigenen Perspektive wahrnehmen und daß es daher darauf ankommt, diese Differenz nicht zu überspielen, sondern ins Bewußtsein zu heben. (Bredella & Delanoy, 1999. S.11) Die breite Anwendung des Konzepts ‚Interkulturell‘ in verschiedenen Kontexten hat dazu geführt, dass interkulturelle Kommunikation immer wieder als neues „Zauberwort“ (Müller 1986, 33; Rieger 1991, 224; Pauels 1993, 341) der Fremdsprachendidaktik bezeichnet wird. Schon 1988 formuliert Rösler (1988, 221) den Verdacht „mit interkulturell sei nun eine neue Schublade - ein neuer Ansatz, eine neue Methode - geöffnet worden, für die die DaFler in den nächsten Jahren ihre akademischen Diskussionen führen dürfen“. Tatsächlich wurde die ‚Schublade des Interkulturellen‘ für sämtliche Disziplinen des Fremdsprachenunterrichts geöffnet und fand ihre Anwendung auf sie, so dass Literaturwissenschaft, Linguistik, Landeskunde und Didaktik ihre Inhalte in diese Schublade ablegten. Auch in der Lehrmaterialentwicklung konnte mit den beiden Lehrwerken Sichtwechsel (Hog et al. 1984) und Sprachbrücke (Mebus et al., 1987) gezeigt werden, dass eine grundsätzliche interkulturelle Ausrichtung von Lehrmaterial möglich ist und nicht nur auf Landeskunde beschränkt bleiben muss. <?page no="36"?> 36 Im Bereich der Linguistik war es ohnehin schon lange üblich, kulturelle Aspekte in die Behandlung von Sprache mit einzubeziehen; nicht zuletzt seit der Sapir-Whorf-Hypothese 13 war der Zusammenhang von Sprache und Kultur immer wieder diskutiert worden (vgl. auch Kapitel 3.1.2). Das Prinzip des Interkulturellen wurde in der Linguistik demnach weniger unter dem Stichwort ‚interkulturelles Lernen‘ als vielmehr unter ‚interkultureller Kommunikation‘ diskutiert, welche Knapp/ Knapp-Potthoff (1990, 66) verstehen als „interpersonale Interaktion zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen, die sich mit Blick auf die ihren Mitgliedern jeweils gemeinsamen Wissensbestände und sprachlichen Formen symbolischen Handelns unterscheiden“. Damit wird der Aspekt der Kultur nicht auf nationale Kulturgemeinschaften bezogen, sondern auf sämtliche soziale Gruppen mit unterschiedlichen Kommunikationstraditionen. Nach dieser Definition existiert prinzipiell kein Unterschied bei Verstehensschwierigkeiten in der Kommunikation zweier Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft mit der Kommunikation zweier Menschen aus einem Land, die aber unterschiedlichen Gruppen wie 13 Die Sapir-Whorf-Hypothese (Whorf, 1963) besagt, dass die Art, wie ein Mensch denkt, durch die Semantik seiner Muttersprache vorgeprägt sei; sowohl die Grammatik wie auch der Wortschatz der Sprache beeinflusse das Denken immens. Sie wurde von Benjamin Lee Whorf, aufgestellt, der eigentlich Chemiker war. Er berief sich dabei auf die Arbeiten des Linguisten Edward Sapir. Dieser hatte als zentrales Forschungsergebnis das Prinzip der sprachlichen Relativität aufgestellt, nach dem „die Sprachen die außersprachliche Wirklichkeit nicht alle in der gleichen Weise aufteilen“ (Pelz, 1996, 34). Je nach Relevanz für eine Kultur seien Gegenstände oder Konzepte mit unterschiedlich vielen Lexemen ausgestattet. Das prominenteste Beispiel der Sapir-Whorf-Hypothese ist die Feststellung, dass Eskimos einen sehr umfangreichen (hier schwanken die Angaben bis zu 100 unterschiedlichen Lexemen) Wortschatz im Hinblick auf Schnee besitzen. Diese Angabe wurde erstmals von Boas (1911) gemacht und auch von Sapir aufgegriffen. Sie gilt mittlerweile aber als widerlegt (vgl. Martin 1986); nicht nur, dass die Bezeichnung ‚Eskimo‘ sehr ungenau ist: „Das Problem ist nun, dass die Eskimo-Aleut- Sprachen eine aus Sicht der europäischen Sprachen sehr bemerkenswerte grammatische Struktur haben. Dort, wo das Deutsche Wortgruppen aus Adjektiv + Substantiv oder aus Substantiv + Relativsatz bildet, verwenden die Eskimo-Aleut- Sprachen Komposita und Derivata“ (Stefanowitsch 2007). Das bedeutet, dass Eskimo-Aleut-Sprachen im Prinzip unendlich viele Wörter für Schnee bilden können, so wie wir unendlich viele Sätze bilden können, in denen Schnee vorkommt. Wenn man aber nicht alle Komposita und Derivata als Wörter zählt und lediglich den Wortstamm als bedeutungstragende Einheit als Wort definiert, komme man ja nach Region und sprachlicher Varietät auf zwei bis maximal vier Bezeichnungen für Schnee (vgl. ebd.). <?page no="37"?> 37 beispielsweise Berufsfeldern entstammen, außer dass sich einer der beiden einer Sprache bedient, die nicht seine eigene sei 14 . Im Bereich der Literaturwissenschaft fand die Interkulturalität breite Resonanz. Die ‚Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik‘ wurde begründet und publizierte in einem breiten Feld zu interkulturellen Aspekten der Literaturvermittlung (vgl. z.B. Wierlacher 1985, Wierlacher 1987, Wierlacher 2001 u.a.). Die Auseinandersetzung mit dem Fremden in der und durch die Literatur, die in der kulturwissenschaftlichen Xenologie untersucht wird, ist der primäre Zugang der interkulturellen Germanistik: [D]er Perspektivenwechsel bei der Rezeption deutschsprachiger Literatur, das Lesen ‚mit fremden Augen‘ (Wierlacher 1985), welches wegen der kulturell bedingten ‚Lese-Unterschiede‘ zu einem ‚interkulturellen Leser-Gespräch‘ (Krusche 1985) führen kann und wegen der Möglichkeit ‚exemplarischer Erfahrungsbildung‘ (ebd.) auch sollte. (Koreik 1995, 40) Die Fokussierung auf literarische Texte, um mit ihrer Hilfe interkulturelles Lernen zu befördern, wird auch im Sammelband Interkultureller Fremdsprachenunterricht von Bredella und Delanoy (1999) deutlich. Die Herausgeber begründen die Arbeit mit literarischen Texten damit, dass durch diese die Lernenden erfahren [können], was es in einer fremden Kultur beispielsweise bedeutet Natur, Liebe, Tod, Raum und Zeit zu erfahren, bzw. ein Kind, eine Frau oder ein Angehöriger einer Minderheit zu sein. Auf diese Weise kann auch die Relativität der eigenen Sichtweise erkannt und ein Perspektivenwechsel ermöglicht werden. (Bredella & Delanoy 1999, 26) Der literaturdidaktische Ansatz der interkulturellen Germanistik wurde dahingehend kritisiert, dass zwar die Rezeption deutschsprachiger Literatur von Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund diskutiert wurde, umgekehrt aber die fremde Kultur selbst nie wirklich zum Thema wurde (vgl. Koreik 1995, 40). Besonders für die Landeskunde wurde der interkulturelle Ansatz als Chance gesehen, sich weiterzuentwickeln, so dass der Ansatz in diesem Arbeitsfeld vertieft aufgegriffen wurde. Das Konzept der interkulturellen Kommunikation war historisch unbelastet und versprach eine wissenschaftliche Fundierung des Faches Landeskunde, das bislang einen „wissenschaftlich ungesicherten Status“ (Gnutzmann 1994, 64) inne hatte. Zudem bestand durch diese Neuausrichtung die Möglichkeit, die deutsche Landeskundeforschung in die internationale Forschung zu integrieren (vgl. Buttjes 1991, 3). 14 Dieser Ansatz ist immer wieder kritisiert worden (vgl. z.B. Hinnenkamp 1990). Ihm entgegen steht das Konzept des Fremdverstehens, vgl. Kap 3.2.3.5. <?page no="38"?> 38 Der interkulturelle Ansatz des Landeskundeunterrichts versteht sich als Weiterentwicklung des kommunikativen Ansatzes. Im Vordergrund des Unterrichts stehen nicht mehr lediglich die Informationen zu einer fremden Kultur, es geht vielmehr „um die Entwicklung von Wahrnehmungs- und Empathiefähigkeiten sowie um die Entwicklung von Fähigkeiten, Strategien und Fertigkeiten im Umgang mit fremden Kulturen und Gesellschaften“ (Pauldrach 1992, 8). Wie auch bei der kommunikativen Landeskunde ist das Ziel des Unterrichts vor allem das Verstehen im Alltag, allerdings wird Verstehen in der interkulturellen Landeskunde nicht im engen, wortwörtlichen Sinne verstanden, sondern umfasst die Bedeutung von Begriffen mit all ihren soziokulturellen Komponenten. Indem Werte und Traditionen, die die eigene Wahrnehmung lenken, thematisiert und den entsprechenden zielsprachenspezifischen Phänomenen gegenübergestellt werden, soll die eigenkulturelle Prägung der Wahrnehmung den Lernenden bewusst gemacht werden. Dem dargestellten Prinzip der Interkulturalität entsprechend werden bei der interkulturellen Landeskunde also vor allem solche Themen behandelt, die zum einen für die Zielsprachenkultur der Lernenden relevant sind, die darüber hinaus aber als Werkzeug dienen sollen, um die Lernenden dazu zu befähigen, die Perspektivierung von Wertungen nachzuvollziehen, so dass es ihnen gelingt, die Perspektive der Zielsprachenkultur nachvollziehen zu können. Bereits 1989 stellte Gerhard Neuner im Zuge einer Auseinandersetzung mit den Lehrplaninhalten für den Deutsch-als Fremdsprache-Unterricht im Ausland argumentativ fest, dass die Beschäftigung mit landeskundlichen Inhalten einen „pragmatischen Sinn“ haben müsse, der die Anwendbarkeit des Wissens über das fremde Land beim Lerner berücksichtige sowie einen „pädagogischen Sinn“, der dazu beitragen solle, „daß der Schüler sich und die Welt besser versteht“ (Neuner 1989, 357). Neuner argumentiert, dass durch diese Orientierung der Inhalt des Landeskundeunterrichts von der eigenkulturellen Perspektive der Lernenden ausgehen müsse. Da sich das Schülerinteresse ändern könne und es demgegenüber Themen gebe, die in allen Kulturen relevant und anschlussfähig sind, plädiert Neuner dafür, „[u]niverselle Daseinserfahrungen als ‚Brücke’ für [eine] interkulturelle Themenplanung des DaF-Unterrichts“ (ebd., 369) zu nutzen. Diese universellen Daseinserfahrungen sind „elementare Sozialisations- und Enkulturationserfahrungen, wie sie alle Menschen machen, gleich welchem Kulturkreis sie angehören“ (ebd., 360f.). Nachfolgende Auflistung schlägt Neuner (ebd., 361f.) als universelle Daseinserfahrungen für den Deutsch-als-Fremdsprachunterricht vor: <?page no="39"?> 39 • Grundlegende Existenzerfahrungen (Geburt; Tod; Da-Sein in der Welt) • Persönliche Identität („Ich“-Erfahrung; persönliche Eigenschaften) • Soziale Identität: der private Bereich (die private Gemeinschaft, z.B: Familie; „wir“-Erfahrung) • Soziale Identität: der öffentliche Bereich (z.B. Nachbarschaft, Gemeinde, Staat, etc.: „sie“-Erfahrung) • Partnerbeziehung (Freundschaft; Liebe: „du“-Erfahrung • Behausung (Haus; Heim) • Umgebung jenseits der privaten Sphäre (Umwelt; Natur; Zivilisation; etc.) • Arbeit (Unterhaltssicherung) • Erziehung (Wertorientierung in einer Gemeinschaft) • Versorgung (Nahrung, Kleidung etc.) • Mobilität (Raum-Erfahrung, Mobilität etc.) • Freizeit/ Kunst (zweckfreie Lebensgestaltung) • Kommunikation (Benutzung von Zeichensystemen; Medien) • Gesundheitsfürsorge (Gesundheit; Krankheit; Hygiene) • Norm- und Wertorientierung (Ethische Prinzipien; religiöse Orientierungen; etc.) • Zeitlich-historische Erfahrung (Vergangenheit; Gegenwart; Zukunft) • Geistige und seelische Dimensionen (Selbstreflexion; Vorstellungskraft/ Phantasie; Erinnerung; Emotionen; etc.) Neuner betont, dass diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe und sehr abstrakt sei. Der Lehrende müsse aus dieser Liste erst noch auf seine Lerngruppe zugeschnittene Unterrichtsthemen entwickeln, die aufgelisteten Daseinserfahrungen können hierfür als „Suchkategorien“ (ebd., 362) dienen. Neuner weist zudem darauf hin, dass diese Themen entsprechend einer zyklischen Progression immer wieder im Verlauf des DaF-Unterrichts auftreten können und entsprechend des Lernstandes der Lerner neue Aspekte der jeweiligen Themen besprochen werden können. Es wurde deutlich, dass Interkulturalität in den verschiedenen Bereichen des Fremdsprachenunterrichts diskutiert wurde. Diese Diskussionen verliefen allerdings nicht immer positiv. Im folgenden Kapitel 3.2.3.1 sollen die häufigsten Einwände, die gegen einen interkulturellen Fremdsprachenunterricht vorgebracht wurden, aufgegriffen und diskutiert werden. <?page no="40"?> 40 3.2.3.1. Zur Kritik am interkulturellen Fremdsprachenunterricht Aus dieser Vielzahl der Zugänge zum Konzept des Interkulturellen wird deutlich, dass ein Problem der Interkulturalität in der Fremdsprachendidaktik seine Multiperspektivität ist. Obwohl das Phänomen ‘Interkulturalität‘ nun seit 30 Jahren in der Fremdsprachendidaktik diskutiert wird, gibt es keine eindeutige Definition dessen, was interkultureller Unterricht eigentlich ist. Dies ist zum einen in der Heterogenität der Verwendung des Begriffes in den diversen Bezugswissenschaften begründet, zum anderen wird mit interkulturellem Lernen vielmehr das oben umschriebene Prinzip als ein konkreter Unterrichtsgegenstand beschrieben. Die Landeskunde, die ohnehin schon mit dem Problem der fehlenden wissenschaftlichen Fundierung zu kämpfen hatte war, wird durch den unklaren Begriff des Interkulturellen noch diffuser und weniger konkret. Aufgrund dieser Unklarheit ist das Konzept der Interkulturalität Gegenstand einer intensiven Diskussion innerhalb der Fremdsprachendidaktik geworden, deren Höhepunkt in der Feststellung von Edmondson und House (1998, 161) gipfelte, dass interkulturelles Lernen ein „überflüssiger Begriff“ sei. Die Autoren kritisieren die vielseitige und interdisziplinär unterschiedliche Verwendung des Adjektivs „interkulturell“ und konstatieren, dass interkulturelles Lernen als Prinzip unabhängig von Fremdsprachenunterricht zu sehen sei und vielmehr als allgemeines Bildungsziel gelten sollte (ebd., 164). Adelheid Hu (1999) nimmt diese Kritik zum Anlass, sich mit den Hauptkritikpunkten am Konzept des interkulturellen Lernens von Seiten der Erziehungswissenschaften und der Fremdsprachendidaktik auseinanderzusetzen. Die erste Kritik, mit der sich Hu beschäftigt, beschreibt, dass interkulturelles Lernen „die tatsächlich herrschende Ungleichheit zwischen Minderheiten und Mehrheiten verdecke, faktische Diskriminierung kompensiere und somit rassistische Einwanderungspolitik unterstütze“ (Hu 1999, 279). Das Konzept der Kultur sei also nur konstruiert, um Ungleichheiten zu erklären und verschleiere damit die „sozialstrukturellen Unterdrückungsmechaniken“ (ebd.), die eigentlicher Grund dieser Ungleichheit sind. Neben den Erziehungswissenschaften, aus denen die obigen Zitate stammen, argumentiert auch Zimmermann (1989) als Vertreter des Faches Deutsch als Fremdsprache, die interkulturelle Germanistik „erzeuge den Schein kultureller Partnerschaft, um neokoloniale Abhängigkeiten zu verbrämen“ (Zimmermann 1989, 18). Stattdessen fordere der Erziehungswissenschaftler Hamburger (1990) „die Betonung transkultureller Gemeinsamkeiten“ (Hu 1999, 279). Hu entgegnet auf diese Forderung, dass sie die Lebenswirklichkeit der Lernenden ausblende, in der sehr wohl deutlich sei, dass subjektive Einstellungen zu unterschiedlichen Ländern von wirtschaftlichen Faktoren abhängen. Dies solle im interkulturellen Unterricht reflektiert <?page no="41"?> 41 werden: „Interkulturelle Konzepte, so wie ich sie verstehe, haben nicht nur das Potenzial, sondern die Aufgabe, ökonomische Ungleichheiten zur Sprache zu bringen und das Bewusstsein über Durchsetzung und Macht als konstitutive Merkmale von kultureller Rhetorik zu schärfen.“ (Hu 1999, 285). Auf die Kritik, die an die erste Anmerkung anknüpft, dass interkulturelle Konzepte künstlich Differenzen zwischen verschiedenen Kulturen schaffen, entgegnet Hu, dass kein statischer Kulturbegriff zugrunde gelegt werden dürfe, um eine Stereotypisierung zu vermeiden. Auf der anderen Seite existierten Stereotype bereits in den Köpfen der Lernenden und müssten thematisiert werden (vgl. Hu 1999, 286). Auch Hess (1992) kritisiere diese Herangehensweise, indem er die Annahme vertrete, dass Kultur die Realität des DaF- Unterrichts verschleiere und ihn anfällig für Stereotypisierungen mache. Für Hess sei der Leitbegriff Kultur gleichbedeutend mit Mythenbildung und Fiktion, er fordere vielmehr Fakten und situationsbezogene Analysen (vgl. Hu 1999, 280f.). Hu bemerkt hierzu, dass sie die durch Hess’ Kritik deutlich werdende Position, dass es eine objektive Realität gebe, so nicht teilen könne, da alle Deutungen und Darstellungen immer aus einer bestimmten kulturellen Perspektive erfolgten (vgl. Hu 1999, 286f.). In eine ähnliche Richtung geht Schüles (1998) Kritik, nach der interkulturelle Konzepte subjektivistisch seien und damit Unübersichtlichkeit beförderten. Hu reagiert hierauf mit dem Standpunkt, dass die heutige Gesellschaft nun mal unübersichtlich sei und nicht mehr nur homogen beschrieben werden könne. Die subjektivistische Beschreibung von Kultur müsse man hinnehmen; da wir „[h]inter die Erkenntnis, dass alle Wahrnehmung subjektiv ist, mit anderen Worten hinter die ‚kulturalistische Wende‘ (vgl. Hartmann und Janich, 1998), [...] nicht mehr zurück [können]“ (Hu 1999, 288). Aus dem Bereich der Fremdsprachendidaktik kritisieren Schüle (1998) und indirekt auch Edmondson und House (1998) die Abstraktheit und Theorielastigkeit der interkulturellen Konzepte. Nach Schüle vergrößern und rechtfertigen sie die „Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ (Schüle 1998, 12f.). Diese Einschätzung verdeutliche die Position, dass „theoretische Reflexion, die nicht unmittelbar von empirisch erforschtem Unterricht ausgeht, als didaktisch folgenlos [...]“ (Hu 1999, 289) bewertet werde. Ihrer Auffassung nach könne sich die Fremdsprachendidaktik ohne derartige theoretische Diskurse nicht als wissenschaftliche Disziplin ansehen; zumal die Verknüpfung von Kultur und Sprache ein „kompliziertes Terrain“ (Hu 1999, 290) sei und daher dieser „absolut notwendige[n] und faszinierende[n] Horizonterweiterung“ (ebd.) bedarf. Abschließend widerspricht Hu auch der von Edmondson und House (1998) aufgestellten These, dass interkulturelles Lernen für die Fremdsprachendidaktik ein überflüssiger Begriff sei. Edmondson und House bauten in <?page no="42"?> 42 ihrem Artikel durch die Verwendung von Dichotomien, die eigentlich aber keine Gegensätze seien einen „Eindruck von Überschaubarkeit und Ordnung“ für die Fachdisziplin auf, den es aber so nicht gebe, zumal die von ihnen verwendeten Begriffe sowie z.B. Kultur oder Kommunikation schon an sich nicht klar definiert sind. Hu sieht im Konzept des interkulturellen Lernens durchaus Gefahren, beispielsweise die in der ersten Kritik erwähnte Gefahr der „Kulturalisierung sozialstruktureller Phänomene“ (Hu 1999, 293, Herv. i. Orig.). Indem Machtpositionen immer mitdiskutiert werden, könne diese Gefahr umgangen werden; ebenso sieht sie die Gefahr der Tendenz, „durch essentialisisch-statische Annahmen über kulturelle und sprachliche Identität die Schülerinnen und Schüler einem Prozess der Ethnisierung zu unterziehen, Stereotypisierungen zu fördern und Fremdheit zu schaffen“ (Hu 1999, 294). Hu merkt an, dass Kultur stets im Unterricht Berücksichtigung zu finden habe, da sie „eine unhintergehbare Kategorie“ sei (Hu 1999, 299). Hu begründet dies damit, dass Kultur alltagssprachlich und damit in den Köpfen der Lernenden verwurzelt sei. Sie plädiert allerdings dafür, statt dieser alltagsprachlichen Konzepte von Kultur, die mit Nation gleichgesetzt werden und die dann wirklich die oben genannte Gefahr der Ethnisierung (ebd.) beinhalten, narrativ-konstruktivistische Konzepte von Kultur und Interkulturalität zu verwenden. Diese sehen Kultur eher als „diskursive Ereignisse“ (ebd., 297), als durch Erzählungen erfundene Wirklichkeit. Der Fokus des interkulturellen Lernens solle also vielmehr auf diese Erzählungen gelegt werden als auf nationale Zuordnungen: „ Entscheidend ist also nicht die ethnische Herkunft der Beteiligten, sondern die Qualität des stattfindenden Diskurses (ebd., 298, Herv. i. Orig.). Dieser Forderung Hus kommt das in dieser Arbeit im Hinblick auf seine Relevanz für das landeskundliche Lernen analysierte Konzept der Erinnerungsorte nach, welches in Kapitel 3.3.2 ausgeführt wird. 3.2.3.2. Inter- oder Transkulturalität? Johann Gottfried Herder (1774) beschreibt mit einem Kugelmodell sein Verständnis von Kultur. Darin vergleicht Herder jede Kultur mit einer Kugel, die andere Kugeln anstößt: „jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt“. (Herder 1967, 44f.) Um einen Mittelpunkt schaffen zu können, weist das Modell entsprechend einer Kugel einen Homogenisierungsdruck nach innen sowie eine Abgrenzung nach außen auf: <?page no="43"?> 43 Alles was mit meiner Natur noch gleichartig ist, was in sie assimiliert werden kann, beneide ich, strebe ich an, mache ich mir zu eigen; darüber hinaus hat mich die gütige Natur mit Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit bewaffnet; sie kann gar Verachtung und Ekel werden. (ebd., 45) Das Kugelmodell definiert Kultur als etwas Homogenes, in sich Geschlossenes, das anderen Kulturen gegenübersteht. Aus der Perspektive seiner transkulturellen Kritiker wird dem interkulturellen Ansatz vorgeworden, dass er diesem homogenen Kulturkonzept verhaftet bleibe. Demgegenüber wird im Konzept der Transkulturalität ein Kulturbegriff verwendet, der die Prozesshaftigkeit und das Durchdringen von unterschiedlichen Kulturen untereinander verdeutlichen soll. Das Transkulturalitätskonzept wird seit Anfang der 1990er Jahre vor allem durch Wolfgang Welsch beschrieben und als notwendig für die heutige Gesellschaft dargestellt (vgl. Löffelholz und Hepp 2002, 13). Welsch beschreibt in seinem Konzept der Transkulturalität eben diese Durchdringung unterschiedlicher Kulturen: ‚Transkulturalität‘ will, dem Doppelsinn des lateinischen transentsprechend, darauf hinweisen, dass die heutige Verfassung der Kulturen jenseits der alten (der vermeintlich kugelhaften) Verfassung liegt und dass dies eben insofern der Fall ist, als die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen, so dass diese nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. (Welsch 2010, 42; Herv. i. Orig., K.B.) Welsch will damit zum einen die Verbundenheit unterschiedlicher Kulturen in der heutigen Zeit in den Kulturbegriff mit einbeziehen, zum anderen aber auch die interne Hybridisierung des Kulturbegriffs betonen (vgl. ebd., 51). Kulturen sind heute nicht mehr an Nationen und territoriale Grenzen gebunden und das einzelne Individuum ordnet sich nicht mehr nur einer Kultur zu: „Die kulturelle Identität der heutigen Individuen ist eine patchwork- Identität“ (ebd., 46). Diese ‚innere Transkulturalität‘ der Individuen habe Auswirkungen auf ihr Verhalten anderen Kulturen gegenüber, der ‚äußeren Transkulturalität‘: Welsch argumentiert, dass ein Mensch, der eine Vielzahl von Kulturen in sich vereinigt, damit auch verschiedene kulturelle Muster und Praktiken kennt und lebt. Dadurch, dass seine eigene kulturelle Identität nicht nur durch ein Muster geprägt sei, erhöhe sich die Möglichkeit, Anschlussstellen an die kulturellen Muster von Anderen zu finden. So gehöre man vielleicht einer gleichen kulturellen Gruppe (Subkultur) an; zumindest aber relativiere sich das Bild von der Absolutheit des einen bekannten kulturellen Musters zugunsten der Bewusstheit einer Vielzahl an kulturellen Mustern und Verfahren. Hieraus resultiere ein verändertes Verhalten: Menschen, die Teil mehrerer Kulturen sind „werden in der Begegnung mit ‚Fremdem‘ <?page no="44"?> 44 eher in der Lage sein, statt einer Haltung der Abwehr Praktiken der Kommunikation zu entwickeln“ (ebd., 47). Welsch beschreibt auch, dass das Konzept der Transkulturalität aufgrund dieser Durchdringung von verschiedenen Kulturen entgegen dem Modell der Interkulturalität stehe. Transkulturalität sehe Kulturen als Geflecht; Interkulturalität gehe immer noch vom Kugelmodell der Kulturen aus und versuche, das sich Abstoßen der Kulturen zu minimieren: Das Konzept der Interkulturalität geht ebenfalls weiterhin von der alten Kugelvorstellung aus und ist dann bemüht, einen interkulturellen Dialog in Gang zu bringen, der zu einem gegenseitigen Verstehen zwischen den im Ansatz als hochgradig verschieden, ja inkommensurabel angesehenen Kulturen führen soll. (Welsch 2010, 49) Bredella (2010) bezieht sich auf Welschs Aufsätze und hierbei insbesondere auf Welschs Kritik am Konzept der Kultur und des Interkulturellen. Welsch vertritt in seinem Aufsatz „Transkulturalität - Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“ (1994), wie der Titel schon deutlich macht, die Auffassung, dass durch die Globalisierung keine Kulturen mehr existierten. Zudem wirft Welsch dem Begriff Kultur vor, dass er rassistisch sei, weil er nationale Grenzen aufrechterhalte: Ihm [dem Begriff der Kultur] ist eine Art von Rassismus eingebaut, der dort noch erhalten bleibt, wo man den biologisch-ethnischen Rassismus ablegt, wo man also die jeweilige Kultur nicht mehr auf ein Volkswesen hin definiert. Solange man nicht die Form des Kulturbegriffs verändert, sondern bloß seine völkisch-rassistische Fundierung abstreift, bleibt ein spezifisch kultureller Rassismus bestehen. (Welsch 1994, 152f. zitiert nach Bredella 2010b, 24, Einfügung i. Orig., K.B.) Welsch kritisiert damit die grundsätzliche Form von Kultur, die sich durch Abgrenzung von Anderen auszeichnet und fordert deren Abschaffung bzw. sieht diese zum Teil schon verwirklicht. Bredella bezweifelt, dass es möglich ist, Kultur als Unterscheidungsdimension unter Gruppen aufzuheben. Er führt an, dass jede Gruppe sich konstituiert, indem sie sich von anderen Gruppen abgrenzt. Diese Abgrenzung sei auch nicht als grundlegendes Problem zu sehen, so lange man versuche, mit anderen Gruppen in Kontakt zu kommen und diese anzuerkennen. Eben dieses in Kontakt kommen sei aber bei Menschen, die sich als transkulturell verstehen, unmöglich, „weil er [der transkulturelle Mensch, K.B.] die Anderen, die sich als kulturelle Wesen sehen und kulturelle Bindungen anerkennen, für rückständig hält.“ (Bredella 2010, 24). Der Hauptkritikpunkt, mit dem Bredella sich auseinandersetzt ist, dass <?page no="45"?> 45 diejenigen, die sich an dem Begriff der Transkulturalität von Welsch orientieren, ihn einsetzen, um Interkulturalität, Fremdverstehen, interkulturelle Kompetenz und interkulturelles Verstehen zu kritisieren. (Bredella 2010b, 25) So fordern Eckerth und Wendt (2003) die Abschaffung der kulturellen Unterscheidung, da sie Menschen stereotypisiere. Bredella stellt daraufhin die Überlegung auf, dass, wenn es keine kulturellen Unterschiede mehr gebe, der Begriff ‚Kultur‘ hinfällig sei und auch der Inhalt des transkulturellen Lernens für ihn damit nicht mehr ersichtlich werde. Den nächsten Vorwurf von Eckert und Wendt, die Didaktik des Fremdverstehens sehe Kulturen als homogen an, weist Bredella zurück. Er betont, dass der Didaktik des Fremdverstehens ein viel komplexerer Kulturbegriff zugrunde liege, als er von den Vertretern der Transkulturalität dargestellt werde und dass dieser weder homogen noch essentialistisch sei, was aber scheinbar für den von den Vertretern der Transkulturalität verwendeten Kulturbegriff zutreffe (vgl. Bredella 2010b, 26 ). Der Kulturbegriff der Interkulturalität sei offen, aber notwendig, da nur durch die klare Benennung von Kulturen die hybriden Kulturen beschrieben werden können, durch die sich eine multikulturelle Gesellschaft auszeichne: „So lässt sich beispielsweise von einer Chinese-American culture nur sprechen, wenn es auch eine Chinese culture und eine American culture gibt“ (Bredella 2010b, 28, Herv. i. Orig.). Damit stünde nach der Argumentation Welschs, der den Kulturbegriff verurteilt, die Transkulturalität genau dem Prinzip entgegen, das Freitag für sie benannt hat: Sie beschreibt das Transkulturalitätsmodell als dem Phänomen der kulturellen Hybridität, das „als Grundmerkmal heutiger Kulturen aufgefasst wird“ (Freitag 2010, 125). Nicht zuletzt weist Bredella in Anlehnung an Göhring et al. (2006, 9) darauf hin, dass „die Abschaffung kultureller Unterschiede wohl nicht so sehr auf einen friedlichen, sondern wohl eher einen gewalttätigen Prozess der Assimilation verweist“ (Bredella 2010b, 27).Auch die Gegenüberstellung von Fremden und Eigenem sei notwendig, wobei Bredella betont, dass das Fremde immer nur im Verhältnis zum Eigenen bestimmt werden kann und keine absolute Größe sei. Um das Fremde zu verstehen, muss man immer vom Eigenen ausgehen und - und das ist von besonderer Bedeutung - in einer Wechselwirkung immer wieder zwischen dem Eigenen und Fremden hin- und herwechseln. Diese Wechselbewegung entspricht dem hermeneutischen Zirkel. Bredella (ebd.31) verweist diesbezüglich auf die Beschreibung von Kimmerle (2006, 12): „Die Rückkehr ins Eigene ist der eine unvermeidliche Pol im Hin- und Hergehen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, das auch als ›hermeneutischer Zirkel‹ beschrieben wird“. Hieraus wird noch einmal die Notwendigkeit der Interkulturalität für Bredella deutlich: <?page no="46"?> 46 ‚Inter‘ bedeutet für Kimmerle das Hin- und Hergehen zwischen den Kulturen in Form einer Ellipse. Es unterscheidet sich daher wesentlich von dem ‚Trans‘, bei dem man aus einem Bereich heraustritt und ihn hinter sich lassen will. [...] [D]as ‚Inter‘ ist dem ‚Trans‘ vorzuziehen, weil es uns ermöglicht, sich zwischen den Kulturen zu bewegen. (Bredella 2010b, 36f.) Wormer (2003; 2004) bezieht das Konzept der Transkulturalität auf Landeskunde. In seinem Konzept der transkulturellen Landeskunde 15 macht Wormer die Abgrenzung von Transkulturalität zu Interkulturalität sehr explizit: „Der Wortbestandteil ‚trans-‘ ist gezielt kontrastierend zu dem üblichen ‚inter‘ gewählt“ (Wormer 2004, 6). Diese Kontrastierung mache sich an drei Aspekten fest: Zum einen verdeutliche ‚trans-‘ mit seiner Bedeutung ‚über… hinaus‘ das über etwas Hinausgehende (in Bezug auf das, was vor der Begegnung existiert habe), das durch die Begegnung entstehe. Zum anderen mache ‚trans-‘ den Ausgangspunkt der eigenen Perspektive sowie die Brückenfunktion der Landeskunde deutlich und nicht zuletzt werde durch ‚trans-‘ auch die wech selseitige Beziehung zwischen den Kulturen betont (vgl. Wormer 2003, 452). Die transnational-transkulturelle Landeskunde nimmt konsequent eine Haltung ein, die reflektierend auf der eigenkulturellen Prägung fußt und diese als Folie immer wieder ins Spiel bringt, indem sie sich von der eigenen Kultur zu je situativ verschiedenen Kulturen, ihrer Betrachtung und in Austausch mit ihnen begibt. (Wormer 2004, 7) Damit betont die transkulturelle Landeskunde nach Wormer die eigenkulturelle Perspektive, mit der jeder Mensch neue Kulturen und Erlebnisse einordnet und bewertet: In der Bezeichnung ‚transkulturelle, vergleichende Landeskunde‘ trägt der adjektivische Bestandteil die in der kulturellen Begegnung entscheidende Einsicht mit, daß der jeweilige landeskundliche Gegenstand im Wissen um die eigenkulturelle Geprägtheit und Relationalität reflektiert in die Begegnung mit dem Fremden eingebracht wird und sich nicht erst ex post aus der interkulturellen Begegnung als bestenfalls zusätzlicher Effekt ergibt (Wormer 2004, 8). Wormer (2003, 453) betont aber auch, dass die transkulturelle Landeskunde das „Fremde im Eigenen“ kenne: „Eine solche Landeskunde weiß um das Eigene, aus dem heraus sie agiert, weiß aber auch um das Fremde im Eigenen, 15 Dieses Konzept bezeichnet Wormer als transnational-transkulturelle Landeskunde (TNKL, Wormer 2003) bzw. als transnational vergleichende Landeskunde (Wormer 2004). - <?page no="47"?> 47 wie um die eigene Geschichte, wenn sie über den eigenen ‚Tellerrand‘ hinausschaut“ (ebd.). Damit geht Wormer nicht von einem homogenen Kulturbegriff aus, vielmehr wird die Prozesshaftigkeit und Multidimensionalität der Kultur deutlich. Diese kulturelle Geprägtheit des Verstehens („ethnorelationale […] Selbstreflexion“, Wormer 2003, 463), die Wormer als besonderes Charakteristikum seiner transkulturellen Landeskunde definiert, ist keineswegs neu, sondern wurde auch schon bei der interkulturellen Landeskunde mitdiskutiert; Wormer bezieht sich beispielsweise auf das Modell der hermeneutischen Entwicklungsspirale (vgl. Wormer 2004, 9), auf welches auch Christ (1997) im Konzept des Fremdverstehens Bezug nimmt. Wormer betont auch die Wichtigkeit des geschichtlichen Aspektes der Landeskunde, indem er sie als „historisch bewußte Landeskunde“ bezeichnet (Wormer 2003, 453). Damit folgt er einer Argumentation, die zeitgleich ebenfalls von zahlreichen Didaktikern verfolgt wird und die unter 3.3 weiter ausgeführt werden soll. Es wird deutlich: Auch wenn Vertreter der interkulturellen sowie der transkulturellen Ansätze ihre Konzepte gegenseitig angreifen, können die Konzepte im Kern doch alle auf dieselben Grundüberzeugungen zurückgeführt werden: Die Vorstellung vom Fremdsprachenunterricht als einem ‚dritten Ort‘, an dem Aushandlungsprozesse mit den jeweiligen Kulturen stattfinden, werden von Freitag (2010, 127) mit Bezug auf die Arbeit von Hallet (2002), wo er den third space als ‚transkulturellen Austauschraum’ bezeichnet, als transkulturelles Prinzip gesehen; Ebenso taucht das Konzept des dritten Ortes aber auch im Kontext des interkulturellen Lernens auf (vgl. Delanoy 1999; Kramsch, 1995 16 ). 16 Delanoy bezieht sich direkt auf Kramsch: „Dieser Theorierahmen geht von Claire Kramschs Vorstellung von interkulturellem Fremdsprachenunterricht als einem dritten Ort aus.“ (Delanoy 1999, 121). Allerdings ist bei Kramsch nie explizit der Fremdsprachenunterricht als dritter Ort benannt, vielmehr bezeichnet sie den Lerner und seine durch den Lernprozess entstehende kulturelle Identität als dritten Ort: „Je mehr der/ die Lernende sich die Fremdsprache aneignet, desto mehr Stimmen übernimmt er/ sie von anderen (vom Lehrwerk, vom Lehrer, von Muttersprachlern, von literarischen Erzählern), bis er [sic] seinen eigenen, dritten Ort findet“ (Kramsch 1995, 63) und noch deutlicher: „Ich möchte vorschlagen, daß sich Sprachlehrer weniger auf das scheinbar gefestigte, stabile kulturelle Wesen und die kulturelle Identität auf beiden Seiten nationaler Grenzen beziehen und mehr auf den neu entstehenden, sich verändernden dritten Ort im Sprachlerner/ in [sic] selbst konzentrieren“ (ebd., 62). Kramsch deutet ihren Begriff des dritten Ortes zudem keinesfalls in der Hinsicht, als dass - im Sinne der Transkulturalität - er Grenzen zwischen dem ersten und dem zweiten Ort auflöst: „third place did not propose to elimate these dichotomies, but suggested focusing on the relation itself <?page no="48"?> 48 Unbestritten ist heute, dass der Kulturbegriff im Fremdsprachenunterricht kein essentialistischer sein darf; Kultur muss als ein offenes Konzept angesehen werden, dass in jedem Individuum durch seine Zugehörigkeit zu verschiedenen kulturellen und subkulturellen Gruppen zu einer einzigartigen Mischform unterschiedlicher Kulturen führt. Diese Ansicht teilt auch Claus Altmayer, der das Konzept der ‚kulturellen Deutungsmuster‚ entwickelt hat und dieses als neuen Zugang für interkulturelle Landeskunde vorschlägt. Im nachfolgenden Kapitel 3.2.3.3 wird Altmayers Modell vorgestellt. 3.2.3.3. Kulturelle Deutungsmuster Claus Altmayer hat in den letzten Jahren die Diskussion um geschichtliche Inhalte im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht belebt, indem er das Konzept der kulturellen Deutungsmuster entwickelte. Ausgangspunkt der Überlegungen Altmayers ist die interkulturelle Landeskunde. Zwar folgt Altmayer der Ausrichtung des interkulturellen Lernens auf die „‘eigenkulturelle[]‘ Perspektive“ (Altmayer 2006a, 46) und grundsätzliche Wahrnehmungsmuster, nennt aber gleichzeitig einige Schwächen des interkulturellen Ansatzes. Zunächst bemängelt er die begriffliche Unschärfe des Begriffs ‚Interkulturell’. (vgl. ebd., 46f.). Dadurch, dass das Konzept der Interkulturalität in zahlreichen Geisteswissenschaften auftritt, gibt es je nach Wissenschaftszweig unterschiedliche Bezeichnungen für dieselben Phänomene, umgekehrt verstehen unterschiedliche Disziplinen unter demselben Begriff unterschiedliche Konzepte. Darüber hinaus kritisiert Altmayer den grundsätzlich homogenisierenden Gebrauch des Begriffs ‚Kultur‘, der die kulturelle Geprägtheit des Individuums auf seine nationale Zugehörigkeit reduziert (vgl. Altmayer 2006a, 48f.). Man könne nicht davon ausgehen, dass Menschen einer national definierten Gruppe eine homogene Einheit darstellen. Dies vor allem nicht vor dem Hintergrund der multikulturellen Gesellschaften, die heute zur Selbstverständlichkeit geworden seien. Migration und Familienbiografien mit verschiedenen nationalen Hintergründen sind heute weit verbreitet, zudem werden durch Globalisierung und Medien auch die Einflüsse anderer Kulturen immer relevanter. Auch wenn es homogene Nationalkulturen ohnehin nie gegeben habe heute sei dieses Verständnis von Kulturen „vollends obsolet“ (Altmayer 2006a, 46). Hieraus ergibt sich als weitere Kritik Altmayers, dass Lernende nur unter dem Aspekt ihrer nationalen Zugehörigkeit gesehen werden. Verand on the heteroglossia within each oft he poles“ (Kramsch 2009, 199), vielmehr macht der „dritte Ort [...] nur Sinn, wenn es einen ersten und zweiten Ort gibt“ (Bredella 2012, 91). <?page no="49"?> 49 treter des interkulturellen Ansatzes suggerierten, dass jeder Mensch durch seine Nationalkultur vorgeprägt sei, welche dessen „Verhalten, Wahrnehmung, Denken und Wertmaßstäbe weitgehend prägt, wenn nicht sogar determiniert“ (Altmayer 2006a, 46). Lernende seien aber vor allem Individuen, der Lernprozess ein sehr individueller Prozess, den man nicht aufgrund nationaler Zugehörigkeiten pauschalisieren könne. Zwar könne die Kultur eine beeinflussende Rolle spielen, sie sei aber keinesfalls so determinierend, wie es von Vertretern des interkulturellen Ansatzes beschrieben werde. Auch die Grundannahme, dass die Kommunikation von Mitgliedern unterschiedlicher Nationalkulturen problematisch und störungsanfälliger sei als die Kommunikation innerhalb einer Kultur kritisiert Altmayer. Weder sei die Erziehung eines Menschen derart monokulturell, wie es dargestellt werde, noch resultiere aus der Unterschiedlichkeit von Kommunikationspartnern automatisch ein Problem. Vielmehr sei in einer Kommunikationssituation von Menschen unterschiedlicher Herkunft davon auszugehen, dass es in solchen Interaktionen zur Schaffung eines eigenen mehr oder weniger offenen und flexiblen kulturellen Handlungsraums kommt, in dem die Existenz unterschiedlicher Verhaltensweisen und Wertmaßstäben von vornherein mitgedacht ist. (Altmayer 2006a, 50) Damit seien derartige Kommunikationssituationen tendenziell weniger störungsanfällig als Interaktionen zwischen Menschen des gleichen Herkunftslandes, da in interkulturellen Kommunikationssituationen ein größeres Maß an Toleranz für andersartige Verhaltensweisen vorherrsche. Altmayer kritisiert auch, dass sich die Landeskunde bislang vorrangig durch ihre Gegenstände definiert. Er plädiert stattdessen dafür, die „Lehr- und Lernprozesse“ (Altmayer 2006b, 183) in den Fokus der Betrachtung zu nehmen. Aufgrund dieser Kritikpunkte an der interkulturellen Landeskunde sieht Altmayer es für notwendig an, dass sich die Landeskunde „von dem bislang dominierenden ‚interkulturellen‘ Paradigma verabschiedet.“ (Altmayer 2006a, 50). Als neuen Weg der Landeskunde sieht Altmayer eine Zuwendung hin zu den Kulturwissenschaften, die Altmayer als „,Megatrend‘ innerhalb der Fremdsprachenwissenschaften“ (Altmayer 2007, 7) beschreibt. Hinsichtlich der Definition von Kultur schließt sich Altmayer Breitenbach und Zukrigl (2002, 24) an, die Kultur definieren als „Prozess, durch den Menschen der Welt in der sie leben, einen Sinn geben“. Hieraus resultierend versteht Altmayer Kulturwissenschaften als „eine Art innovatives Projekt, an dem viele verschiedene Wissenschaftsdisziplinen beteiligt sind“ (Altmayer 2006a, 50). Zentraler Aspekt der Kulturwissenschaften sei eine erkenntnistheoretische Grundannah- <?page no="50"?> 50 me, nach der die Wirklichkeit stets vor dem Hintergrund der subjektiven Muster, die man innerhalb der Sozialisation erlernt hat, interpretiert werde, so dass jede Wirklichkeit immer eine gedeutete Wirklichkeit sei. Damit ist Wirklichkeit „das Ergebnis eines permanenten Konstruktions- und Deutungsprozesses“ (Altmayer 2006b, 185). Diese Muster würden im Alltag als selbstverständlich vorausgesetzt und können durch verschiedene Sozialisationsinstanzen vermittelt werden. Handelt es sich bei diesen Mustern um „überlieferte, im kulturellen Gedächtnis einer Gruppe gespeicherte und abrufbare Muster von einer gewissen Stabilität“ (Altmayer 2006a, 51) spricht Altmayer von ‚kulturellen Deutungsmustern‘. Die Gesamtheit aller kulturellen Deutungsmuster einer Kommunikationsgemeinschaft ist nach Altmayer die Kultur dieser Gruppe. Altmayer betont, dass sich derartige Deutungsmuster nicht auf Nationalkulturen beschränken, sondern in allen Formen von Gemeinschaften vorkommen. So haben auch Familien oder Interessengemeinschaften spezifische Deutungsmuster, die sie nutzen, um untereinander zu kommunizieren. Damit ergeben sich verschiedene Quellen, aus denen das Individuum Deutungsmuster gewinnt. Diese Gesamtheit der Deutungsmuster - die Kultur - fungiert dann als „eine Art offener Fundus, aus dem sich die Individuen für die Deutung und Bewertung von Situationen, Texten usw. nach eigenem Gusto bedienen können.“ (Altmayer 2006b, 52f). Es gibt für jede Situation verschiedene Deutungsmuster, die miteinander konkurrieren. Das Individuum wählt das in der entsprechenden Situation als schlüssig scheinende Deutungsmuster aus, um die Situation zu deuten. Um erfolgreich miteinander kommunizieren zu können, ist es nun notwendig, dass diese Deutungsmuster bei beiden Kommunikationspartnern identisch sind: Jede kommunikative Handlung setzt bei den faktischen oder nur angenommenen Adressaten ein umfangreiches, als ‚normal‘ und selbstverständlich, als allgemein bekannt und unproblematisch geltendes Hintergrundwissen voraus. Kommunikation funktioniert nur auf der Basis einer gemeinsamen oder als gemeinsam unterstellten Weltdeutung. (Altmayer 2006c, 245) Wenn es die Aufgabe der Landeskunde ist, die Lernenden dazu zu befähigen, an deutschen Diskursen teilzuhaben, was wiederum für Altmayer der zentrale Aspekt ist, um die „Teilhabe am Leben eines Landes“ (Groenewold 2005, 517) zu ermöglichen, sind es die deutschen Deutungsmuster, die im Landeskundeunterricht vermittelt werden müssen. Diese beziehen sich nach Altmayer allerdings nicht auf Deutschland als Nation, sondern als Sprachgemeinschaft. Demnach sind ‚deutsche Deutungsmuster‘ <?page no="51"?> 51 solche Muster, die in deutschsprachigen Diskursen zur deutenden Konstruktion von Wirklichkeit verwendet werden, und zwar unabhängig von ihrer ‚ursprünglichen‘ Herkunft. (Altmayer 2006a, 52) Das Konzept Altmayers sieht vor, dass die Lernenden durch die „inszenierte Teilhabe an deutschsprachigen Diskursen“ dazu angeregt werden, Lernprozesse zu starten, die Altmayer als ‚kulturelles Lernen‘ bezeichnet. Indem ein fremdsprachiger Lernender einen deutschen Text rezipiert, treffen zwei Formen der kulturellen Deutungsmuster aufeinander: zum einen die Deutungsmuster des Lernenden, die er durch seine Sozialisation erworben hat, zum anderen die kulturellen Deutungsmuster, die dem Text zu Grunde liegen. Wenn nun der Lernende seine kulturellen Deutungsmuster anwendet, um den Text zu deuten, kann es vorkommen, dass seine kulturellen Deutungsmuster nicht mit denen des Textes übereinstimmen. Mit diesem Spannungsverhältnis beginnt ein Lernprozess, den Altmayer ‚kulturelles Lernen‘ nennt: Von ‚kulturellem Lernen‘ soll also dann die Rede sein, wenn Individuen in der und durch die Auseinandersetzung mit ‚Texten‘ (in einem sehr weiten Sinn von Kommunikationsangeboten aller Art) über die ihnen verfügbaren Deutungsmuster reflektieren und diese so anpassen, umstrukturieren, verändern oder weiterentwickeln, dass sie den kulturellen Deutungsmustern, von denen die Texte Gebrauch machen, weitgehend entsprechen, sie diesen Texten einen kulturell angemessenen Sinn zuschreiben oder dazu angemessen (kritisch oder affirmativ) Stellung nehmen können. (Altmayer 2006a, 55) Diese Argumentation Altmayers ist auf den ersten Blick schlüssig und gut nachvollziehbar. Offen bleibt aber, wie der Lernende dazu gebracht wird, seine ‚kulturellen Deutungsmuster‘ anzupassen oder zu verändern. Altmayer scheint davon auszugehen, dass die Lernende eigenständig feststellen, dass ihre eigenen Deutungsmuster nicht zu der intendierten Aussageabsicht führen und zweitens dann die dem ‚Text‘ inne liegenden Deutungsmuster eigenständig anhand der Auseinandersetzung mit dem Text entdecken und mit ihren Deutungsmustern abgleichen. Diese Annahme halte ich für sehr gewagt. In Einzelfällen und bei kleinen Bedeutungsnuancen können derartige Anpassungen noch erfolgen, jedoch kann es in vielen Fällen auch dazu führen, dass die Lernenden die kulturellen Deutungsmuster, die dem Text inne wohnen, nicht nachvollziehen können und die weitere Beschäftigung mit der Thematik ablehnen. Oder sie ziehen falsche Schlüsse, woraus dann Fehlurteile resultieren. Hinsichtlich der kulturwissenschaftlichen Forschung sieht Altmayer die Kulturwissenschaft in Deutsch als Fremdsprache an als eine Text- und Kommunikationswissenschaft, die nach dem im ‚Texte‘ und Diskurse eingehenden, als selbstverständlich und allgemein bekannt geltenden <?page no="52"?> 52 kulturellen Hintergrund fragt und dieses Hintergrundwissen in ihren Textanalysen rekonstruiert und sichtbar macht. Dabei orientiert sie sich an dem Ziel, durch die Sichtbarmachung derartiger kultureller Wissensbestände und Deutungsmuster, die innerhalb einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft als allgemein bekannt gelten, Deutsch als Fremdsprache-Lernern ein Potenzial an kulturellen Bezügen bereit zu stellen, das diese für ihre individuellen Verstehens- und Sinnbildungsprozesse nutzen und mit ihrem eigenen kulturellen Potenzial in eine sinnvolle Verbindung bringen können (Altmayer 2006c, 247f). Die Frage, wie man die kulturellen Deutungsmuster in Diskursen identifizieren kann, kann auch Altmayer nicht beantworten. Er gibt zwar Hinweise, dass sich diese Analysen an Verfahrensweisen der diskursanalytischen Forschung anlehnen sollen, die jeweilige Beantwortung der Methodenfrage sei aber „allein im konkreten Forschungsprozess möglich“ (Altmeyer 2006b, 193). Die Ausführungen Altmayers, der sein Konzept als grundlegend neue Ausrichtung des landeskundlichen Lernens darstellt, sind allerdings nicht so neu, wie er sie darstellt. Vielleicht auch deshalb berücksichtigt Altmayer in seiner theoretischen Auseinandersetzungen nicht die Arbeiten von Byram. Bereits 1989 stellt dieser fest language learning can bring experience which produces modifications of existing culture-specific schemata acquired by children through their first language. (Byram1989, 103 ff.) Auch 1994 betont Byram gemeinsam mit Carol Morgan die Wichtigkeit der Thematisierung dieser unterschiedlichen kulturspezifischen Schemata, die für das Verständnis der Aussage, der Sprache und der ganzen Kultur zentral sind: It is no doubt also possible for learners to encode many but not all of their existing schemata in another language but in this case they are not learning a new language but a new code. It is if and when they recognize that the foreign language embodies a different set of beliefs, values and shared meanings, that they begin to shift of perspective which leads to reciprocity and reflection on both others and self. (Byram & Morgan 1994, 23) Da Byram ähnlich argumentiert wie Altmayer und er darüber hinaus versucht, die Herausbildung interkultureller Kompetenz zu operationalisieren, soll im nachfolgenden Kapitel 3.2.3.4 Byrams Konzept der interkulturellen Kompetenz beschrieben werden. <?page no="53"?> 53 3.2.3.4. Byrams Modell der interkulturellen Kompetenz Byram ist einer der wenigen Wissenschaftler, der den Begriff interkultureller Kompetenz operationalisiert (vgl. Bredella 2000, 146). Damit wird es möglich, vom abstrakten Konzept zu Kategorien mit konkreten Zielvorstellungen (objectives) zu gelangen, anhand derer sich messen lässt, ob jemand interkulturell kompetent ist. Byram arbeitet mit einem sehr pragmatischen Begriff von Kultur, indem er vor allem dessen Verwendbarkeit für den Fremdsprachenlehrer als Kriterium nennt. Er versteht unter Kultur „the beliefs and knowledge which members of a social group share by virtue of their membership“ (Byram 1997, 39). Er selbst verweist auf die Verwendung des Begriffes shared meanings, welcher die Verbindung zur Sprache verdeutlicht und betont, dass auch nonverbale Aspekte zur Kultur einer Gruppe zählen, diese aber im Fremdsprachenunterricht evtl. weniger relevant seien, gleichwohl der Fremdsprachenlehrer seine Schüler auf verschiedenste Situationen im Ausland vorbereiten muss. Mit seiner Kulturdefinition bezieht sich Byram unter anderem auf Clifford Geertz (1973, 89), der Kultur definiert als an historically transmitted pattern of meanings embodied in symbols, a system of inherited conceptions expressed in a symbolic form by means of which men communicate, perpetuate and develop their knowledge about attitudes towards life. Byram kritisiert diese Darstellung von Kultur, da sie zu statisch sei und Veränderungen innerhalb von Werten, Einstellungen und Deutungen aus dieser Definition nicht deutlich werden. Zudem sei diese Definition von Kultur zu homogenisierend (vgl. Byram 1997, 18). Vielmehr müsse verdeutlicht werden, dass Individuen verschiedene Identitäten und Kulturen in sich vereinen und eventuell nicht der dominierenden Gruppe innerhalb einer Nation angehören (vgl. ebd., 39). Die Kultur‘ einer Nation als solche existiere damit nicht. Vielmehr werde als Nationalkultur die Kultur einer dominierenden Gruppe wahrgenommen, die zudem nicht die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren müsse. Daher sei zu beachten, dass eine Nationalkultur nie die Gesamtheit der Bevölkerung umfasse und abbilde. Anstatt kulturelles Faktenwissen zu erwerben, sollen Lernende daran herangeführt werden, kulturelle Praxis zu bewerten und zu analysieren. Byram fordert daher eine Kombination aus faktischem und methodischem Wissen. Zwar werde bei der Vermittlung der (dominierenden) Kultur eventuell nicht die Kultur eines spezifischen Sprechers der Sprache berücksichtigt - das Verwenden einer Sprache als lingua franca macht deutlich, dass dies ohnehin nie möglich sei - die (dominierende) Kultur einer Nation soll, so argumentiert Byram, vielmehr exemplarisch vermittelt werden, um an ihr die Bedeutung kultureller Unterschiede zur eigenen Kultur der Lernenden deutlich zu ma- <?page no="54"?> 54 chen. Indem sie damit Methoden vermittelt bekämen, worin der eigentliche der Schwerpunkt des Unterrichts läge („emphasis on method“, ebd., 20), werde den Lernenden deutlich, dass die Kultur der Elite nicht der Kultur der Gesamtbevölkerung entsprechen müsse. Zudem könnten Lernende in Situationen, in denen sie auf Menschen aus anderen Kulturkreisen treffen, diese methodischen Kompetenzen anwenden, um den kulturellen Hintergrund dieser Personen zu analysieren und zu bewerten. Nicht zuletzt werde so die Aufmerksamkeit der Lernenden auf die eigene Kultur gelenkt. Lernende erführen so im Vergleich mit anderen Kulturen ihre eigene Kultur als eine von zahlreichen Alternativen und können diese differenzierter wahrnehmen und bewerten (vgl. ebd., 20). Durch die Schwerpunktsetzung auf das methodische Vorgehen sollen Lernende auch erfassen, dass jegliche Geschichtsschreibung subjektiv aus einer bestimmten kulturellen Perspektive erfolgt: Knowledge of the history of another country is through the stories from the history of one’s own nation-state, and is consequently a different interpretation to the story told within the foreign country (ebd., 36). Byram stellt den interkulturellen Sprecher (vgl. auch Kramsch 1998) als idealtypische Figur in das Zentrum seiner Überlegungen. Die Rolle des interkulturellen Sprechers wird von Byram wie folgt beschrieben: In particular, the individual needs to manage dysfunctions which arise in the course of interaction, drawing upon knowledge and skills. They may also be called upon not only to establish a relationship between their own social identities and those of their interluctor, but also to act as mediator between people of different origins and identities. It is this function of establishing relationships, managing dysfunctions and mediating which distinguishes an ‘intercultural speaker’ and makes them different from a native speaker . (Byram 1997, 38) Damit kehrt sich Byram vom native speaker als Idealmodell für den Fremdsprachenlerner ab; das Ziel des Lernenden solle es nicht sein, einen Muttersprachler zu imitieren; vielmehr solle er seinen Vorteil nutzen, aus einer anderen Kultur zu kommen und zum Vermittler zwischen den Kulturen werden. Um erfolgreich interkulturelle Gespräche führen zu können, müsse der interkulturellen Sprecher verschiedene Kompetenzen vorweisen (vgl. Abb. 2): <?page no="55"?> 55 Abb. 2: Das Modell der interkulturellen kommunikativen Kompetenz aus Byram (1997, 73) Er benötige zunächst die sprachliche Kompetenz, eine Sprache zu verstehen und sie zu produzieren, darüber hinaus aber auch die soziolinguistische Kompetenz, die Bedeutungen, die der Sprecher den einzelnen Wörtern seiner Sprache impliziert hat zu entschlüsseln und zudem eine Diskurskompetenz, die Fähigkeit, Strategien zur Interpretation von Texten entsprechend der Kulturkonventionen zu nutzen, zu entdecken und abzuleiten (vgl. Byram 1997, 48). Als vierte Kompetenz werde nun noch die interkulturelle Kompetenz benötigt, um der Besonderheit der Kommunikationssituation zwischen verschiedenen Kulturen in entsprechendem Rahmen Rechnung tragen zu können. Die interkulturelle Kompetenz nach Byram setzt sich wiederum aus verschiedenen Teilkompetenzen zusammen, die er in einem Modell(vgl Abb. 3) zu sam mengefasst hat (vgl. nachfolgend Byram 1997, 34ff.) <?page no="56"?> 56 Abb. 3: Das Modell der Teilkompetenzen interkultureller Kompetenz nach Byram (1997, 34) Die erste dieser Teilkompetenzen ist das Wissen (knowledge/ savoirs): Das Wissen umfasse alle Formen der Kenntnisse, welche ein Mensch in einer Gesprächssituation mit hinein bringt. Diese lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Zum einen das Wissen um soziale Gruppen und ihren kulturellen Hintergrund, zum anderen das Wissen über Interaktionsprozesse. Ersteres sei während der Kommunikation bewusst präsent. Es werde im Zuge der Sozialisation in Familie und Bildungssystem erworben und könne weiter ausgebaut werden. Im Zuge der Sozialisation im Bildungssystem würden Lernende häufig mit einer starken Dominanz der ‚Nationalkultur‘ sozialisiert und bildeten unterschiedliche Formen einer nationalen Identität aus. Neben dieser Identität würden für andere Gruppen, denen sich der Sprecher zugehörig fühlt, weitere Formen der Identität im Zuge der formalen und informellen Sozialisation herausgebildet. Das Wissen, das man über andere Kulturen erhalte, sei immer geprägt durch die eigene Kultur. Viele Einschätzungen erfolgten über Bewertungen im Verhältnis zur eigenen Kultur und auch geschichtliche oder politische Ereignisse würden auf Basis der eigenen Kultur interpretiert und aufgefasst. Mit zunehmender Nähe steige auch das Wissen über die andere Kultur, wobei Nähe nicht nur geographisch gemeint ist, sondern auch durch die Repräsentation der Kultur im öffentlichen Leben (z.B. Medien) entstehen kann. Als zweite Komponente der interkulturellen Kompetenz nennt Byram die Einstellungen (attitudes/ savoir être) des Sprechers, die ebenfalls als eine Vorbedingung für den Erwerb von Fähigkeiten (skills) zu sehen ist. Einstellungen, <?page no="57"?> 57 die man Menschen aus anderen Kulturkreisen entgegenbringe, beinhalteten Stereotype und Vorurteile, welche sowohl negativ als auch positiv behaftet sein könnten. Beide Formen von Vorurteilen seien keine Garanten für den Erfolg oder Misserfolg einer Kommunikation. Um eine erfolgreiche interkulturelle Kommunikationssituation herzustellen, sei eine offene Einstellung bezogen auf das Gegenüber hilfreich. Man solle bereit sein, Vorurteile zu revidieren und neugierig auf den Gesprächspartner zugehen. Auch die Bereitschaft, die Perspektive des anderen einzunehmen, sei förderlich für eine positive interkulturelle Gesprächssituation und gehört damit zu den wünschenswerten Einstellungen. Die dritte Fertigkeit bestehe in skills of interpreting and relating (savoir comprendre). Während man Dokumente aus seiner eigenen Kultur problemlos mit einer Mischung aus bewusstem und unbewusstem Wissen interpretieren könne, hängt die Interpretationsfähigkeit von Dokumenten aus anderen Kulturen von dem Wissen über die eigene sowie die fremde Kultur ab. Beim Übersetzen eines Dokumentes (sowohl wörtlich, aber auch im übertragenen Sinne beim Verstehen durch einen kulturfremden Rezipienten) tauchten Störungen und Gegensätze auf, die aus der Unterschiedlichkeit der Kulturen resultierten. Der interkulturelle Sprecher könne diese lösen, aber auch unlösbare Störungen aufdecken und benennen. Zuletzt zählen skills of discovery and interaction (savoir apprendre/ faire) zur interkulturellen Kompetenz Byrams. Die Entdeckungsfertigkeit werde in solchen Situationen relevant, in denen kein oder nicht ausreichendes Wissen zur Verfügung stehe, um eine Situation oder einen Text angemessen zu deuten. Sie versetze den Sprecher in die Lage, besondere Phänomene zu erkennen und hierfür benötigtes Wissen zu ermitteln und sich anzueignen. Ein Weg, dieses Wissen zu entdecken bestehe in der Interaktion mit Menschen aus dem jeweiligen Kulturkreis. Die Interaktionsfertigkeit beinhalte darüber hinaus die Kompetenz, mit den Unterschiedlichkeiten zwischen den jeweiligen Gesprächspartnern umgehen zu können. Byram plädiert dafür, diese Fertigkeiten auf Grundlage einer politischen Erziehung hin zu einem kritischen kulturellen Bewusstsein (critical cultural awareness, savoir s’engager) auszubilden, welches daher im oben abgebildeten Modell im Zentrum der Fertigkeiten und Einstellungen steht. Die politische Erziehung sieht Byram in Anlehnung an Doyé (1993) und Gagel (1983) durchaus in der Tradition der politischen Bildung im Sinne des deutschen Schulfaches. Für die politische Bildung benannte Gagel (1983) drei Formen der Orientierung, die als Lernziel zu vermitteln seien: kognitive, evaluative und aktive Orientierung. Mit kognitiver Orientierung beschreibt Gagel das Wissen, das ein Lernender benötigt, um sich in seiner Umwelt zurechtzufinden (Gagel 1983, 15). Die evaluative Orientierung vermittelt die Werte, nach <?page no="58"?> 58 denen die Lernenden ihre Umwelt bewerten können (ebd., 20) und die aktive Orientierung zielt darauf ab, Lernende dazu zu befähigen, selbst als politisches Wesen aktiv zu werden (ebd., 44f.). Diese Orientierungen seien auch auf das Lernziel der politischen Bildung im Fremdsprachenunterricht übertragbar, so Byram: Die kognitive Orientierung liefere das Wissen über andere Länder und Kulturen, die evaluative Orientierung leite dazu an, soziale Normen zu reflektieren, um zu einer politischen Urteilsfähigkeit zu gelangen. Die aktive Orientierung ziele schlussendlich darauf ab, den Lernenden darauf vorzubereiten, aktiv mit anderen - welche im Fremdsprachenkontext meist aus anderen Ländern stammen - in Kontakt zu treten (vgl. Byram 1997, 43f). Wie bereits dargestellt wurde, benennt Byram konkrete Lernziele (objectives) für alle einzelnen skills seines Modells 17 . Damit ist es nicht lediglich eine theoretische Diskussion um interkulturelles Lernen, sondern bietet Hinweise, welche Lernziele durch den Unterricht erreicht werden können. Allerdings sind diese Lernziele sehr offen formuliert und schwer abprüfbar, was schon in den verwendeten Formulierungen wie willingness, readiness, ability to identify oder knowledge of deutlich wird. Wie umfassend dieses Wissen sein muss oder worin sich Bereitschaft konkret ausdrückt, bleibt offen. Für das Wissen (knowledge) benennt Byram als Lernziele unter anderem die Kenntnis der historischen und zeitgenössischen Beziehungen zwischen dem eigenen Land und dem Zielsprachenland sowie das nationale Gedächtnis (national memory) des eigenen sowie des Zielsprachenlandes (vgl. Byram 1997, 59). Damit benennt Byram zwei zentrale Aspekte, die auch im Zusammenhang mit der Vermittlung historischen Wissens im Landeskundeunterricht als Lernziele diskutiert werden und auf die unter 3.3 noch genauer eingegangen wird. Wenn ein Sprecher in einer interkulturellen Gesprächssituation in seiner Muttersprache spricht, sind die oben dargestellten Kompetenzen für ihn genauso notwendig wie für den Fremdsprachennutzer. Daher plädiert Byram dafür, dass der Fremdsprachenunterricht auch die Gastgeberrolle in ihren Zielen und Methoden thematisieren solle (vgl. Byram 1997, 42). Weiterhin gesteht Byram ein, dass sein Modell sehr anspruchsvoll sei und dass nicht alle Aufgaben und Ziele, die er als Teil der interkulturellen Kompetenz benennt, durch klassische Formen des Unterrichts im Klassenraum realisierbar seien. Byram benennt drei Orte, an denen interkulturelle Kompetenz erworben werde kann: das Klassenzimmer, pädagogisch angeleitete Begeg- 17 Auf alle diese objectives kann hier nicht eingegangen werden, sie sind in einer Übersicht in Byram (1997) auf den Seiten 57-64 zu finden. <?page no="59"?> 59 nungssituationen sowie eigenständige Begegnungs-situationen. Bei der Vermittlung von Wissen im Klassenzimmer solle der Fokus auf der Thematisierung von Beziehungen liegen (vgl. Byram 1997, 66). Dies bringe den Vorteil mit sich, dass hierdurch schnell Verbindungen zu Kommunikation und Spracherwerb zu ziehen seien. Zudem habe der Klassenraum den Vorteil, dass ohne den zeitlichen Druck einer Begegnungssituation das Lesen von Dokumenten reflektiert werden könne. Begegnungssituationen seien demzufolge notwendig, um interkulturelle Kompetenz in Echtzeit herauszubilden. Während dieses Aufeinandertreffen bei angeleiteten Begegnungssituationen durch den Lehrer begleitet wird, erfolgt es im individuellen Austausch ungelenkt. Um beim individuellen Austausch einen Lerneffekt zu erreichen, müssen die Lernenden in der Lage sein, die Begegnung selbstständig zu reflektieren und ihr Wissen, ihre Einstellung und Fähigkeiten entsprechend dieser Reflexion weiter zu entwickeln und anzupassen. Byram betont damit die Wichtigkeit, die Austauschbegegnungen für die Ausbildung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz, sowohl real als auch virtuell (Byram 1997, 64). Da Begegnungen auch für das vorliegende Projekt bedeutsam sind, wird nachfolgend in Kapitel 3.2.3.6 auf sie eingegangen. Trotz möglicher Kritikpunkte an Byrams Modell ist festzuhalten, dass sein Operationalisierungsversuch sowohl für die Entwicklung didaktischer Konzepte als auch für die Erforschung interkultureller Aspekte des Fremdsprachenlernens von großem Einfluss war. In der Analyse der Daten aus den Begegnungen in Second Life wird z.B. in Kapitel 8.4 deutlich, dass die Zuordnung der Lerneräußerungen zu den Kategorien Byrams Einsichten in die interkulturellen Kompetenzen der Gruppenmitglieder liefern können. 3.2.3.5. Fremdverstehen Das Konzept des Fremdverstehens gründet auf dem hermeneutischen Konzept des Verstehens, „betont jedoch explizit Aspekte interkultureller Verständigung“ (Sommer 2008, 218). Es ist in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen vertreten und wird in diesen mit jeweils unterschiedlichen Zielsetzungen, Fragestellungen und Methoden untersucht. In der Literaturdidaktik wird das Fremdverstehen befördert, indem die unterschiedlichen Blickwinkel der Innen- und Außenperspektive bewusst gemacht werden, um eine Perspektivenübernahme und das Hinterfragen der eigenen Perspektive zu ermöglichen (ebd.). Kritiker des Konzepts des Fremdverstehens werfen ihm vor, dass das Fremde hier ebenfalls durch bekannte Schemata gedeutet wird, so dass es durch das Bekannte vereinnahmt wird. Weitere Kritik erfährt die explizite <?page no="60"?> 60 Unterscheidung von Fremdverstehen, da das Konzept des Verstehens bereits beinhalte, dass man etwas Fremdes zu deuten lernt, so dass alles Verstehen Fremdverstehen sei. Demgegenüber steht die Auffassung der Vertreter des Fremdverstehens, die im Fremdverstehen vor allem den „Dialogcharakter und die Prozesshaftigkeit“ (ebd.) des Fremdverstehens hervorheben. Zudem müsse beim Fremdverstehen etwas „doppeltes Fremdes“ (Bredella 2010, 120) gedeutet werden, indem die „Äußerungen und Verhaltensweisen von Personen einer fremden Kultur [...] in deren Bezugsrahmen gesehen werden [müssen].“ (ebd.) Von 1991 bis 2001 arbeitete das Gießener Graduiertenkolleg ‚Didaktik des Fremdverstehens‘ intensiv am Prozess des Fremdverstehens und erarbeitete den Begriff des interkulturellen Verstehens, welcher häufig mit Fremdverstehen synonym verwendet wird (vgl. Sommer 2008, 218; Bredella 2010a, 120). Um dieses interkulturelle Verstehen zu erreichen, sei es auf „transkulturelle Begriffe wie Geburt, Tod, Liebe, Hass [...] angewiesen“ (Bredella 2010a, 122f.), also auf Konzepte, die in allen Kulturen vorherrschen. Indem nun die unterschiedlichen Einschätzungen und Bewertungen dieser transkulturellen Begriffe aufgezeigt werden, werden unterschiedliche Perspektiven deutlich, wodurch das Fremdverstehen befördert wird: die Einsicht darin, „wie andere die Welt sehen und an welchen Wertvorstellungen und Motiven sie ihr Handeln ausrichten“ (ebd., 123). Bredella betont, dass es für eine Kultur nicht die eine Innenperspektive gebe, da Personen nicht nur auf ihre Kultur reduziert werden dürfen, sondern sie vielmehr „im spannungsreichen Verhältnis von individuellen und kollektiven Identitäten“ (ebd.) gesehen werden sollten. Laut Christ (2007, 51) ist Fremdverstehen „eine der Säulen interkultureller Kompetenz“. Er zeigt auf, dass Fremdverstehen im Fremdsprachenunterricht in sämtlichen Lerngegenständen zum Tragen kommt. Fremdverstehen spiele eine Rolle im Spracherwerb, bei der Auseinandersetzung mit Literatur, im Landeskundeunterricht, bei bilingualem Fachunterricht sowie in Austauschen, Begegnungen oder in Projekten, die von Teilnehmern unterschiedlicher Herkunft gemeinsam bearbeitet werden. Für den Bereich des landeskundlichen Lernens resultiert aus dem Prinzip des Fremdverstehens eine Abkehr vom Versuch, Kultur objektivistisch zu fassen und in ein Curriculum zu pressen. Christ (1996, 2) fasst zusammen, dass dieser Versuch nie gelingen konnte, da nicht klar abzugrenzen ist, was zur Kultur dazu gehört und welche Ausschnitte aus dem komplexen kulturellen Gebilde einer Gesellschaft für das Curriculum auszuwählen seien. Er argumentiert: Es ist daher zu überlegen, ob diese seit mehr als einem Jahrhundert in verschiedenen Formen und Varianten verfolgte Fragestellung letztlich fruchtbar <?page no="61"?> 61 und erfolgversprechend sein kann. Der Lerner erscheint in dieser als eine nachgeordnete Größe. Am Anfang der Frage steht nämlich jener Wirklichkeitsbereich, der Kultur genannt wird. Es wird nicht diskutiert, wie denn das Verhältnis der Lerner zu jenem Wirklichkeitsbereich zu sehen ist. (Christ 1996, 2) Mit dem Konzept des Fremdverstehens rückt der Lernende in den Mittelpunkt der Curriculumsgestaltung, da die eigene Perspektive Ausgangspunkt ist, um die Perspektive des Anderen zu entdecken und beide Perspektiven miteinander in Beziehung zu setzen. Christ weist darauf hin, dass für das Zustandekommen der Perspektive nicht nur kulturelle Prägungen verantwortlich sind, sondern jedes Individuum durch seine Biographie und seine Kontakte unterschiedliche Aspekte in seiner Perspektive vereinigt und damit eine einmalige Perspektive besitzt. Die relevanten Faktoren fasst Christ zusammen: Wir sind alle - wir und die anderen - Wesen, die nicht nur in der allgemeinen Geschichte unserer Gemeinschaft, unserer Nation, unseres Staates, unserer Gesellschaft, unserer Klasse und/ oder unserer Schicht gründen, sondern wir haben auch einen eigenen Beitrag zu unserer Sichtweise, zu unserer Kurzsichtigkeit und Weitsichtigkeit, zu unserer Umsichtigkeit und zu unserer Enge geleistet, und deshalb ist das, was wir uns selbst erarbeitet und erworben haben wie das, was von unserer Gemeinschaft geschichtlich überliefert ist, für uns von Bedeutung. Es ist ebenso das ins Kalkül einzubeziehen, was als „kollektives Gedächtnis“ (Halbwachs 1950/ 1985) bezeichnet wird, wie das, was in Büchern steht, also sowohl das, was unsere Familien, unsere Nachbarn und Freunde, unsere gleichaltrigen Freunde und die Älteren wissen, wie das, was sich in allgemein bekannten Daten niederschlägt - ob es nun das Jahr 1913 als letztes Normaljahr für Russen vor der Revolution oder das Jahre 1914 für Österreicher, Belgier, Deutsche und Franzosen vor Beginn des großen Weltbrandes ist. Die Jahreszahlen sind natürlich nur Beispiele für das, was wir als historische Daten gespeichert haben. Weiterhin ist das zu beachten, was sich in „Gedächtnisorten“ (lieux de mémoire - Pierre Nora 1984, 1986, 1993) festmachen läßt, wie auch das, was in volkstümlichen Traditionen seinen Ausdruck findet: Feste und Feiern, Speisen und Getränke, Kleidung und Schmuck und vieles andere mehr. Alles das gibt den festzustellenden und feststellbaren Perspektiven erst Kontext und Hintergrund. (Christ 1996, 16 f.) Christ beschreibt die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses und der lieux de memoire für die Perspektive des Sprechers. Diese Konzepte sind in didaktischen Überlegungen zur Vermittlung historischen Wissens im Landeskundeunterricht aufgegriffen worden und werden in Kapitel 3.3.2. erläutert. <?page no="62"?> 62 3.2.3.6. Interkulturelles Lernen in Begegnungsprojekten Begegnungsprojekte, also das Aufeinandertreffen von Fremdsprachenlernenden mit Muttersprachlern der Zielsprache, haben im Fremdsprachenunterricht schon immer eine besondere Rolle gespielt. Sie haben für das landeskundliche Lernen eine große Bedeutung, da sie es den Lernenden ermöglichen, Erfahrungen ‚aus erster Hand’ zu erhalten. Dabei haben sich die Ziele eines Austausches entsprechend der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und didaktischen Strömungen im Laufe der Zeit verändert. Während vor dem Hintergrund der Erfahrung beider Weltkriege in den 1950er Jahren Schüleraustausche vorrangig als Möglichkeit gesehen wurden, um eine Annäherung und Versöhnung der jeweiligen Länder zu erreichen, steht heute neben der authentischen Verwendung der Fremdsprache vor allem das interkulturelle Lernen im Vordergrund der Zielsetzungen (vgl. Grau 2001, 18). 18 In den letzten 20 Jahren wurde an der Austauschdidaktik kritisiert, dass in der traditionellen Form des Austauschs die Lernenden eher ein touristisches Programm absolvierten, statt sich wirklich mit der fremden Kultur und der Partnergruppe auseinander zu setzen (vgl. Smielowski 1999). Zentral ist hierfür auch die Abkehr von der sogenannten Kulturkontakthypothese, auf welche viele Austauschprogramme unhinterfragt gründeten: Die Kulturkontakthypothese, nach der angenommen wird, daß Menschen verschiedener Kulturen, die sich häufig begegnen, ihre gegenseitigen Vorurteile abbauen und gleichsam von selbst zu einem besseren Verständnis der jeweils anderen Kultur finden, wird allgemein als erwiesen angesehen, obwohl sozialpsychologische Studien aus dem Bereich der Vorurteils- und Stereotypenforschung erhebliche Zweifel an ihrer Gültigkeit aufkommen lassen. (Thomas 1988, 79) Gemäß der oben dargestellten Diskussion zum interkulturellen Lernen ist der Kulturbegriff auch in Begegnungssituationen heterogen, so dass die Teilnehmenden als Individuen wahrgenommen werden sollten. Dennoch werden in der Praxis aus pragmatischen Gründen die heterogenen Gruppen häufig gemäß des Herkunftslandes als Kollektiv bezeichnet, wobei aufgrund der multiethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung viele Teilnehmer aus unterschiedlichen Ländern stammen können: Auch wenn interkulturelle Kommunikation immer als ein Aushandeln zwischen Individuen verstanden wird, wird in der Praxis und in der folgenden Darstellung oft ‚Land’ mit ‚Kultur’ gleichgesetzt. Bei Formulierungen die ‚die Deutschen’ und ‚die Dänen’ handelt es sich also um Kompromisse, bei denen 18 Für eine detaillierte Darstellung der historischen Entwicklung der Schüleraustausche vgl. Krüger-Potratz 1994, Ménudier 1991 und Grau 2001. <?page no="63"?> 63 nicht außer Acht gelassen werden darf, dass es sich immer um in mehrfacher Hinsicht heterogene Gruppen handelt. So treffen in den meisten Schülerbegegnungen multiethnische Gruppen aufeinander, die nicht in das Bild von den ‚typischen’ Deutschen, Franzosen etc. passen, das sich manche ihrer Partner gemacht haben. (Grau 2001, 21f.). Heute werden Lernende in der Austauschforschung entsprechend dem Konzept der überlappenden Kategorisierung als zugehörige verschiedener sozialer Gruppen gesehen, die man nicht nur entsprechend ihrer nationalen Herkunft, sondern auch nach Hobbies, sozialer Zugehörigkeit etc. gruppieren kann. Die Aufgabe des Lehrers ist es, den Schülern diese möglichen Kategorisierungen aufzuzeigen, da diese weniger augenfällig sind als äußere Merkmale wie Sprache und Hautfarbe, welche eine nationale Zuschreibung verstärken (vgl. ebd.). Neu ist auch, dass heute Begegnungen zwischen drei oder mehr Schülergruppen aus unterschiedlichen Ländern realisiert werden. 19 Neben der organisatorischen Umstellung wird damit auch der inhaltliche Schwerpunkt verlagert, um das interkulturelle Lernen zu befördern und nicht etwa Stereotype zu verfestigen. Ein weiteres Kennzeichen der neuen Austauschkonzepte ist die Produktorientierung, indem gemeinsam erstellte Arbeitsergebnisse am Ende des Austausches veröffentlicht werden. Auch die Vor- und Nachbereitung von Begegnungsprojekten hat sich geändert, indem die Lernenden zum einen in die Programmgestaltung mit einbezogen werden, zum anderen aber schon im Vorfeld auf die andere Kultur vorbereitet und interkulturell sensibilisiert werden. Zudem sind die Austausche heute nicht mehr nur als kurzer gegenseitiger Besuch ausgelegt, sondern erstrecken sich über einen längeren Zeitraum, indem die Austauschpartner auch über die direkte Kontaktphase hinaus zusammenarbeiten (vgl. ebd., 23f.). Von zentraler Bedeutung hierfür ist natürlich auch die Weiterentwicklung der medialen Möglichkeiten, insbesondere des Internets. Hierdurch es möglich, mit dem Partner kostenlos und unkompliziert in Kontakt zu bleiben. Mittlerweile haben sich Begegnungen entwickelt, die nur noch virtuell ablaufen. Indem E-Mails ausgetauscht werden, gemeinsam an einem Projekt gearbeitet wird oder derselbe Lerngegenstand in Lerngruppen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund erarbeitet und dann gemeinsam diskutiert wird, können die Lernenden aus erster Hand Erfahrung mit dem Fremden machen, auch wenn sie ihren Austauschpartnern nie real begegnen. Durch immer schnellere Internetverbindungen und Anbieter entsprechender kos- 19 Diese Projekte nahmen unter anderem durch die Unterstützung der Europäischen Union mit Mitteln des Projektes SOKRATES bzw. speziell für Schulen COMENI- US schnell einen bedeutenden Platz ein (vgl. Grau 2010, 25f.). <?page no="64"?> 64 tenlosen Software sind heute auch Internettelefonie und Videokonferenzen in virtuellen Begegnungen oft genutzte Werkzeuge, in denen anstelle der schriftlichen asynchronen Kommunikation in E-Mails oder gemeinsamen Weblogs mündliche, synchrone Kommunikation erfolgt 20 . Belz (2007) hat basierend auf dem Modell Byrams untersucht, wie interkulturelle kommunikative Kompetenz in Telekollaborationsprojekten befördert werden kann. Sie kritisiert Byrams Modell hinsichtlich seiner Auffassung von Kultur, da er Kultur mit Nation gleichzusetzen scheine, was in den heutigen multiethnischen Gesellschaften nicht haltbar sei (ebd., 137). Allerdings betont Byram immer wieder, dass die dominierende Nationalkultur keinesfalls von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilt werde und diese wiederum weiteren Gemeinschaften angehörten, die ebenfalls eigene Kulturen herausbilden. Auch die sprachlich basierte Trennung zwischen interkultureller Kompetenz und interkultureller kommunikativer Kompetenz bewertet Belz als problematisch, da sie Unterschiede zwischen Mitgliedern der gleichen Sprachgemeinschaft marginalisiere. Auch innerhalb der eigenen Sprache seien linguistische Kompetenzen gefragt, beispielsweise beim Wechsel zwischen verschiedenen Registern. Zudem kritisiert Belz die Vorstellung einer Schwelle, die man überwinden müsse, um interkulturelle Kompetenz zu besitzen. Die Vorstellung einer Schwelle sei nur möglich bei einem einheitlichen Bezugspunkt, auf den sich diese Schwelle beziehe. In institutionellen Rahmen sei diese Schwelle häufig durch die dominierende Kultur definiert, was ebenfalls die Existenz anderer Kulturen herunterspiele. Trotz all dieser Kritikpunkte bezieht sich Belz in ihren Ausführungen auf das Modell Byrams und übertragt es auf Telekollaborationsprojekte. Telekollaborationsprojekte sind nach Belz (ebd.; 138ff.) in der Regel durch verschiedene lehrerzentrierte Aufgaben oder ein längeres Projekt gekennzeichnet. Beide Formen von Projekten erfolgten in drei Schritten: 1. Herausbildung einer persönlichen Beziehung Zu Beginn eines Tandemprojektes steht zumeist das persönliche Kennenlernen durch Vorstellung, Austausch biographischer Daten, unterschiedliche Formen der Selbstinszenierung oder durch erste Erfahrungen innerhalb des ersten gemeinsamen Arbeitsprozesses. Hierbei wurde ersichtlich, dass Bezie- 20 Eine nähere Auseinandersetzung mit den Formen medial vermittelter Begegnungen und ihrer sprachdidaktischen Implikationen folgt unter Punkt 4. An dieser Stelle soll vor allem die Begegnung und das interkulturelle Lernen dargestellt werden. <?page no="65"?> 65 hungen, die wertgeschätzt werden zu reichhaltigeren Kollaborationen führten (vgl. Belz 2002; O’Dowd 2003). Bereits beim Kennenlernen erhalten die Lernenden Einblicke in die Lebenswelt ihrer Partner. Umgekehrt müssen sie reflektieren, welches Wissen sie bei ihren Partnern als gegeben voraussetzen können und welche Aspekte ihrer Vorstellung weitergehender Ausführung und Erklärung bedürfen. Indem sie durch die Vorstellung ihres Partners einen anderen Lebensweltentwurf erhalten, erfahren die Lernenden, dass es verschiedene Wertsysteme gibt. Sie lernen eine andere Perspektive kennen, von der auf ihre eigene Kultur geblickt wird, und werden so dazu angeregt, ihre eigene Perspektive zu relativieren und kritisch zu beleuchten. Hierauf Bezug nehmend betont Belz die Wichtigkeit eines Gespräches im Klassenverbund nach einem ersten Kennenlernen der Parter, in welchem die Lernenden sich gegenseitig ihre Partner vorstellen und auf überraschende Informationen, Missverständnisse oder ihre Auffassung zu den Informationen der Partner eingehen können. Um sich gegenseitig kennen zu lernen sei es wichtig, dass die Lernenden zahlreiche informationssuchende Fragen an ihre Partner richten. Lehrer sollten ihre Schüler sowohl sprachlich als auch soziokulturell darauf vorbereiten, in angemessener Weise Fragen an ihre Austauschpartner zu stellen. Hierbei weist Belz darauf hin, dass die Fragen möglichst offen zu formulieren seien, damit der Antwortende seine eigene Perspektive in der Antwort deutlich machen könne. Hierfür eigneten sich nach Belz (2007) ‚Warum-Fragen‘ besonders gut, wohingegen ‚Was/ Wie/ Wann/ Wo-Fragen‘ zur Klärung persönlicher Informationen dienten und ‚Was/ Wie-Fragen‘ zur Verdeutlichung der persönlichen Meinung führten. Lehrende sollen ihre Schüler demnach ermuntern, insbesondere ‚Was/ Wie-Fragen‘ und ‚Warum-Fragen‘ an die Partner zu formulieren. Die Herausbildung einer persönlichen Beziehung und die Bedeutung dieser ersten Phase für das Zustandekommen erfolgreicher Kooperationen wird in Kapitel 6.2 theoretisch dargelegt und in den Kapiteln 6.4.1.1, 6.4.2.1 und 6.4.3.1 beispielhaft für drei Gruppen analysiert. 2. Das Entdecken sprachlich und kulturell reichhaltiger Punkte Mit reichhaltigen Punkten (rich points) bezeichnet Belz kulturspezifische Ideen, Überzeugungen oder Konstruktionen, die sich in der Sprache oder anderen Formen der Kommunikation manifestieren. Wenn zwei unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen und kulturspezifische Themen diskutieren, liegt dem Scheitern des Gespräches häufig fehlendes Verstehen für eine Situation oder Auffassung innerhalb des anderen Kulturkreises zu Grunde. Indem man Umfragen innerhalb der beiden Teilnehmergruppen zu einem kulturspezifischen Thema durchführt und die Antworten beider Gruppen gegen- <?page no="66"?> 66 überstelle, würden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Gruppen sichtbar. Die Lernenden erführen die Auffassungen und Einstellung ihrer Partner, aber ebenso ihrer Klassenkameraden. Lehrer können diese Aussagen auf eine verallgemeinerbarere Stufe heben, indem sie nationale Umfragen zu den entsprechenden Themen recherchieren und ihren Schülern präsentieren. Indem diskutiert wird, wieso die einzelnen Teilnehmer derartige Aussagen getätigt haben, werde die Interpretationsfähigkeit der Lernenden gefördert (Belz 2007, 149). Eine weitere Möglichkeit, reichhaltige Punkte entdecken und erörtern zu können, biete sich bei der parallelen Lektüre von literarischen Texten, welche im Anschluss zwischen den Gruppen diskutiert werden (vgl. Burwitz-Melzer 2001; Kinginger et al., 1999; Müller-Hartmann 2000). Indem man zwei Texte zur selben Thematik aus den jeweiligen Kulturen der Teilnehmerländer auswähle und miteinander vergleiche, würden unterschiedliche Umgangsweisen, Wertungen und Traditionen deutlich. Lehrer können hierbei Hilfestellungen leisten, indem sie den Lernenden diese kulturell reichhaltigen Punkte liefern und sicherstellen, dass die Lernenden in der Lage sind, ihre Meinung in der Fremdsprache zu artikulieren. Neben Novellen können auch kurze Texte für derartige Arbeiten herangezogen werden, wenn die Zeit für längere Texte nicht ausreichend ist. Auch Filme könnten für derartige Vergleiche genutzt werden, so Belz (2007, 150). 3. Produktorientierte interkulturelle Kollaboration Für die Arbeit der Gruppen betont Belz die Wichtigkeit ausreichend zur Verfügung gestellter Zeit sowie klarer Vorgaben für die Erstellung von Produkten, die Gruppen gemeinsam erzeugen sollen. Diese Vorgaben umfassen alle Bereiche der Präsentation (formale, inhaltliche, sprachliche sowie mediale Kriterien). Hierbei seien auch voneinander abweichende akademische Kalender und daraus resultierende Seminarzeiträume zu beachten wie auch die unterschiedlichen Anforderungen, welche die einzelnen Teilnehmergruppen innerhalb ihrer Studiengänge erbringen müssen. Der Erwerb interkultureller Kompetenz zeige sich nach der Überzeugung von Belz (ebd., 152ff.) nicht in positiven Äußerungen über die Kultur des Zielsprachenlandes. Vielmehr werde interkulturelle Kompetenz in Situationen deutlich, in denen Lernende ihre Äußerungen begründen und den Einfluss ihrer kulturellen Prägung hierbei berücksichtigen. Auch indem sie die Äußerungen ihrer Partner in deren Kulturkontext zu deuten wissen und Verständnis für deren Position aufbringen sowie in der Reflexion der eigenen Meinungsbildungsprozesse zeige sich interkulturelle Kompetenz (ebd., 154f.). Belz argumentiert: „in addition to the content of keypal interactions, teachers <?page no="67"?> 67 can look to the presence (or absence) of specific linguistic features in the transcripts of telecollaborative interactions as signpost of intercultural competence“ (ebd., 155) und nennt Fragen und Bewertungen als derartige sprachlichen Hinweise. Ich bewerte den automatischen Rückschluss, dass das Fehlen oder Auftreten von Beiträgen, die die eigenen Meinungsbildungsprozesse reflektieren, auf interkulturelle Kompetenz hinweist, als problematisch. Die Lernenden können das Thema auch aufgrund verschiedenster Umstände (wie die Beziehung zwischen den Partnern, Motivationsaspekte, äußere Einflüsse wie geringe Zeit, technische Probleme, anderweitige Tätigkeiten neben dem Verfassen der Nachricht an den Partner) nicht tiefergehend thematisiert haben. Es muss sehr sorgfältig versucht werden nachzuvollziehen, unter welchen Umständen die Beiträge verfasst wurden und was in den Lernenden dabei vorging. Ein retrospektives Interview oder Projekttagebücher können diesbezüglich Aufschluss geben. Weitere Anzeichen für das Vorhandensein eines interkulturellen Bewusstseins nach Belz ist das Deutlichwerden von Perspektivenwechseln, die Anpassung der Emotionalisierung von Antworten sowie die graduelle Abschwächung der eigenen Position als ‚einzig richtige’. Auch hier warne ich davor, das Fehlen derartiger Beiträge als fehlende interkulturelle Kompetenz zu werten. Auch Müller-Hartmann (2000) bezieht sich auf das Modell Byrams (1997) und untersucht in drei E-Mail-Projekten zwischen deutschen und USamerikanischen bzw. kanadischen Schulklassen die Herausbildung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz und die Rolle der Aufgabenstellung für die Herausbildung dieser Kompetenz. Innerhalb der E-Mail-Projekte lasen die Klassen nach einer Kennenlernphase 21 die gleichen Romane und diskutierten anschließend 22 in Kleingruppen mit Partnern aus dem anderen Land anhand unterschiedlicher Aufgabenformate den Inhalt der Lektüre. Die einzelnen Aufgabenstellungen, anhand derer diese Diskussionen erfolgten, waren unterschiedlich; ihnen allen war aber gemein, dass sie verschiedene Perspektiven auf den literarischen Text schufen und den Austausch zwischen den Gruppen anleiteten (vgl. Müller-Hartmann 2000, 140). Dabei konnte Müller- 21 Zur Bedeutung dieser Phase für virtuelle Kooperationen vergleiche Kapitel 6.1. Zusätzlich kommt bei Kooperationen zwischen Lernenden aus unterschiedlichen Ländern hinzu, dass die Lernenden durch die Kennenlernphase den kulturellen Kontext der Partner kennenlernen (vgl. Müller-Hartmann 2000, 136). 22 Müller-Hartmann weist auf die Bedeutung vorgeschalteter Lesetagebücher hin, in denen die Lernenden ihre eignen Gedanken und Gefühle zu den in den Romanen dargestellten Situationen artikulieren konnten. <?page no="68"?> 68 Hartmann feststellen, dass insbesondere freie Aufgaben zum kreativen Schreiben mehr und tiefergehende Diskussionen hervorriefen als andere Formen der Aufgabengestaltung. Müller-Hartmann betont auch, dass die Aufgaben lernerzentriert sein müssen. Er beschreibt Lernsequenzen, in denen zunächst Einzel- oder Kleingruppenarbeit zu den Briefen der Partner stattfindet, an welche sich dann eine Plenumsdiskussion innerhalb des ganzen Klassenverbandes zu zentral aufkommenden Themen anschließt, deren Ergebnisse dann wieder in Einzel- oder Kleingruppenarbeit in Briefe an die Partner umgesetzt werden. Durch diesen Wechsel der Arbeitsformen werden die Lernenden sich zunächst ihrer eigenen Perspektive (auf die Perspektive der Partner) bewusst, erfahren dann die Eindrücke ihrer Klassenkameraden und können hieraus Rückschlüsse ziehen, welche sie dann wieder in individueller Arbeit in Briefen umsetzen. Hierfür sei es notwendig, dass die Lehrer selbst eine hohe interkulturelle Kompetenz haben und die Nachrichten oder Meinungen für Plenumsdiskussionen auswählen, die vielversprechend sind, um die verschiedenen Perspektiven der Teilnehmer zu verdeutlichen. Derartige Inhalte können mit den rich points von Belz (2007) verglichen werden. Am Ende der Lektüre wurden dann nach Müller-Hartmann innerhalb der verschiedenen Projekte unterschiedliche Abschlussprodukte angefertigt. Allen Produkten war gemein, dass [b]y giving final form to their products, learners not only had to consider different perspectives and try to integrate them, but also had to accept different opinions, tolerate them, and integrate them to their texts, thus reflecting the different perspectives that were presented on the network (Müller- Hartmann 2000, 143). Tamme (2001) untersucht wie Müller-Hartmann interkulturelle Begegnungen, die durch den Austausch von E-Mails realisiert werden. Das Gießener Elektronische Praktikum 23 , das ihrer Studie zu Grunde liegt, fokussiert allerdings nicht die gemeinsame Auseinandersetzung mit Literatur, vielmehr untersucht sie (unter anderem) das landeskundliche Lernen in einer freien E- Mail Partnerschaft zwischen Gießener und Hongkonger Studierenden. Die inhaltliche Analyse des Gießener Elektronischen Praktikums durch Tamme weist einen Schwerpunkt in der „personalisierten Landeskunde” aus: die Ler- 23 Der Lehrstuhl Deutsch als Fremdsprache der Universität Gießen blickt auf eine langjährige Kooperation mit der Baptist University in Hongkong zurück Diese Kooperation manifestiert sich seit 1998 in Online-Projekten, die je nach didaktischer Ausgestaltung teilweise eher dem Konzept der Tutorierung (vgl. Tamme, 2001; Rösler & Würffel, 2004; 2010) entsprechen oder eher dem Tandemlernen (vgl. Chaudhuri & Puskás 2011, Chaudhuri, 2011) zuzuordnen sind und als ‚Gießener Elektronisches Praktikum‘ (GEP) bezeichnet werden. <?page no="69"?> 69 nenden aus Hong Kong interessieren sich ausdrücklich für die deutsche Kultur (vgl. ebd., 117 ff.) wobei der Austausch kultureller Themen stets an persönliche Erfahrungen gebunden war und sie anhand dieser illustriert wurden. Zudem zeigt Tamme, dass kulturelle Themen kontrastiv thematisiert werden, so dass die deutschen Tutoren auch viele Aspekte der chinesischen bzw. Hongkonger Kultur kennenlernen. Die dargestellten Ergebnisse machen deutlich, dass es von zahlreiche Faktoren abhängt, in wieweit das Potenzial von Begegnungssituationen für das interkulturelle Lernen ausgeschöpft werden kann. Bisherige Untersuchungen (Belz 2002; O’Dowd 2003) haben ergeben, dass eine hohe Vertrautheit der Partner für die inhaltliche Zusammenarbeit förderlich ist und bereits einen ersten Einblick in die Lebenswelt des Partners und damit in eine andere Kultur bieten kann. Tamme (2002) zeigt, dass im Konzept der personalisierten Landeskunde dieser Einblick in die Lebenswelt des Partners für interkulturelles Lernen gut genutzt werden kann: Informationen erscheinen relevanter und werden besser erinnert, wenn Lernende einen Bezug zu diesen Informationen herstellen können - beispielsweise durch die Biographie ihres Partners. Der Aspekt des Kennenlernens wird wie bereits angekündigt in den Kapiteln 6.2 und 6.4.1.1, 6.4.2.1, und 6.4.3.1 behandelt. Zudem gilt es, Themen zu finden, die entsprechend der rich points von Belz (2007) und den vielversprechend Beiträgen Müller-Hartmanns die kulturellen Unterschiede zwischen den Kulturen deutlich machen. Diesbezüglich sehe ich großes Potenzial im Konzept der Erinnerungsorte, welches in Kapitel 3.3.2.3 allgemein und in Kapitel 3.4 im Hinblick auf seine Anwendung im DaF-Unterricht diskutiert wird. In wieweit die in meiner Untersuchung ausgewählten Themen in dieser Hinsicht reichhaltig waren, wird in Kapitel 8 diskutiert werden. Bezüglich der von Belz geforderten Produktorientierung wird in Kapitel 7.2.4 deutlich werden, dass die Arbeit der Teilnehmer dieser Studie an einem gemeinsamen Produkt trotz einer - zum Zeitpunkt der Aufgabenstellung meiner Auffassung nach - klaren Aufgabenstellung zu Lasten der Organisation der Produktpräsentation ging. Ich werde in mögliche Gründe für das Verhalten der Teilnehmenden suchen und die gegebene Aufgabenstellung kritisch überprüfen. <?page no="70"?> 70 3.3. Historisches Lernen im Fremdsprachenunterricht Im vorangegangen Kapitel 3.2 wurde gezeigt, dass geschichtliche Inhalte in allen Ansätzen der Landeskundediskussion eine Rolle gespielt haben und mit unterschiedlicher Zielsetzung im Unterricht eingebracht wurden. Nachfolgend möchte ich zunächst eine Bestandsaufnahme der Behandlung von Geschichte im DaF-Unterricht machen, welche die eingesetzten Materialien fokussiert. Es wird deutlich werden, dass in aktuellem Lehrmaterial auch kulturwissenschaftliche Konzepte berücksichtigt werden. Diese werden im nachfolgenden Kapitel 3.3.2 vorgestellt, im anschließenden Kapitel 3.3.3. werde ich zu dem Ergebnis kommen, dass Erinnerungsorte und das kollektive Gedächtnis großes Potenzial haben, im Sinne der von Belz (2007) geforderten rich points (vgl. Kapitel 3.2.3.6) im interkulturellen Landeskundeunterricht eingesetzt zu werden. 3.3.1. Deutsche Geschichte im DaF-Unterricht Koreik (1995) untersucht in seiner Monographie Deutschlandstudien und deutsche Geschichte: die deutsche Geschichte im Rahmen des Landeskundeunterrichts für Deutsch als Fremdsprache die Behandlung der deutschen Geschichte im Landeskundeunterricht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es Lehrwerksautoren nach 1945 zunächst vermieden, geschichtliche Aspekte in den Lehrwerken zu behandeln. Zwar tauchen ab Mitte der 1970er Jahre erstmals auch wieder geschichtliche Themen in den Lehrwerken auf, allerdings nur sehr kurz und am Rande. In „Deutsch x3“ von 1974 wird innerhalb der Biographie einer Figur auf die deutsche Geschichte Bezug genommen, genauso wie auch im Lehrwerk „Aufbaukurs Deutsch“ durch die Biographie der Figur des Herr Lohmann die Zeit des Nationalsozialismus thematisiert wird. Auch „Deutsch als Fremdsprache II“ ergänzt eine Darstellung der Stadt Nürnberg am Ende mit einem Satz zur Rolle Nürnbergs in der Zeit des Nationalsozialismus (vgl. Koreik 1995, 71 ff.). Diese neue. personenbezogene Darstellungsweise stellen auch Delmas und Vorderwülbecke (1989, 173) fest und erklären sie mit dem Ziel, den „Lauf der Geschichte im Individuellen einzufangen“. Dementgegen bewertet Koreik (1995, 72) diese Darstellungen anders: Diese biographischen Texte kennzeichnen nun aber keineswegs die große Trendwende in der Form von Geschichtsdarstellungen in DaF-Lehrbüchern, sondern stellen für die seit 1945 erschienenen DaF-Lehrbücher überhaupt erstmalig eine ausführliche Auseinandersetzung mit historischen Aspekten dar. <?page no="71"?> 71 Die Verunsicherung, wie mit historischen Themen im DaF-Unterricht umgegangen werde soll, existiert schon lange. Bereits 1987 kommt Wierlacher zu dem Ergebnis: Doch eine noch ungelöste Aufgabe ist der praktische Einbezug der historischen Dimension, insbesondere der modernen (vor allem deutschen) Geschichte, in die landeskundliche Lehre und Forschung. (Wierlacher 1987, 323) Dabei ist die Wichtigkeit der Behandlung geschichtlicher Themen im Landeskundeunterricht unstrittig. Der Geschichte wird im Landeskundeunterricht die Aufgabe zugeschrieben, die Gegenwart zu erklären. In den ABCD-Thesen (1990, 307) findet sich dieser Anspruch explizit: Landeskunde ist in hohem Maße auch Geschichte im Gegenwärtigen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, auch historische Themen und Texte im Deutschunterricht zu behandeln. Solche Themen sollten Aufschluss geben über den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, über unterschiedliche Bewertungen sowie über die Geschichtlichkeit der Bewertung selbst. Die Bedeutung der Geschichte für den Landeskundeunterricht wurde demnach früh erkannt; schon fünf Jahre vorher formulierte auch die Bundesregierung in einem Bericht zur Stellung der deutschen Sprache in der Welt: „Beim Deutschunterricht im Ausland müssen vornehmlich Kenntnisse über Geschichte, Geographie, Politik und Kultur Deutschlands (aber auch der anderen deutschsprachigen Länder) und das Alltagsleben in Deutschland vermittelt werden“ (Auswärtiges Amt 1985, 34). Obwohl also die Relevanz historischer Kenntnisse für Deutschlerner klar war, lag kein didaktisches Konzept vor, nach dem historische Inhalte in den Landeskundeunterricht eingebracht werden konnten und nach dem - über die Vermittlung von Fakten hinaus - auch die Reflexion über historische Prozesse und die Verdeutlichung des von den ABCD-Thesen geforderten Zusammenhangs zwischen gestern, heute und morgen gelingen kann. Geschichte wurde zwar unterrichtet, aber [i]nsgesamt wurde die Geschichtswissenschaft innerhalb der Landeskundevermittlung meist unreflektiert als ein weitgehend homogenes Gebäude aus einzelnen Bausteinen gesehen, derer man sich für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache funktional bedienen kann. (Koreik 2001, 1275) Erstmals wendet sich Uwe Koreik (1995) empirisch dem Thema Geschichtsvermittlung in Landeskundeunterricht zu. Mithilfe einer Fragebogenstudie, die an ausländische Sommerkursteilnehmer an deutschen Hochschulen verteilt wurde, überprüft er ihr Wissen über zentrale Geschehnisse der deutschen Geschichte und fragt auch die inhaltliche und methodische/ mediale Behand- <?page no="72"?> 72 lung historischer Themen im bisherigen Deutschunterricht ab. Sein ursprüngliches Ziel, nationenspezifische Aussagen über die Behandlung der Geschichte im Deutschunterricht sowie den Zusammenhang von bestimmten Kenntnissen und dem verwendeten Lehrwerk zu treffen, kann Koreik nicht erfüllen, da die Teilnehmer zu unspezifische Angaben über die jeweilig verwendeten Lehrwerke machen und aus zu vielen verschiedenen Ländern kamen, so dass pro Land zu geringe Zahlen an Teilnehmern an der Studie beteiligt waren, um verlässliche Aussagen zu machen. Koreik kann aber signifikante Unterschiede zwischen Teilnehmern aus westeuropäischen und osteuropäischen Ländern aufzeigen - da die Studie 1991 durchgeführt wurde, schlugen sich in der Untersuchung noch die unterschiedlichen politischen Systeme nieder und spiegelten sich auch in den Ergebnissen der Studie. Koreik setzte den Fragebogen außerdem bei deutschen Schülern der Oberstufe ein und konnte damit feststellen, dass die westeuropäischen Studienteilnehmer in ihren Antworten den Antworten der deutschen Kontrollgruppe ähnelten (vgl. Koreik 1995, 104). Trotz der unterschiedlichen Aussagen und Bewertungen stellt Koreik fest: Insgesamt zeigte sich trotz aller bedenklichen Defizite bei den ausländischen Probanden, daß sie nicht wesentlich schlechter abschnitten als die deutsche Kontrollgruppe, bei einzelnen Aspekten sogar bessere Resultate erzielten. (ebd., 122) Nach der Untersuchung Koreiks hat sich bislang lediglich Silke Ghobeyshi 2002 der empirischen Untersuchung historischer Themen im Landeskundeunterricht zugewendet, allerdings fokussiert sie auf einen konkreten historischen Themenkomplex, indem sie die Behandlung des Nationalsozialismus sowie der Schoah im DaF-Unterricht mit folgender Zielsetzung untersucht: Auf der Grundlage eines Fragebogens sollte festgestellt werden, ob bezüglich der NS-Thematik eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht, das heißt: ob dem Thema Nationalsozialismus im DaF-Unterricht tatsächlich der Platz eingeräumt wird, der ihm den theoretischen Abhandlungen folgend gebührt. (Ghobeyshi 2002, 80) Wie auch Koreik setzt Ghobeyshi Fragebögen ein. Sie befragte 220 DaF- Lehrende an internationalen Universitäten hinsichtlich der Verbreitung und Akzeptanz des Themas Nationalsozialismus und Schoah im DaF-Unterricht, wobei die Studie lediglich die Existenz sowie die Art der Behandlung erfassen sollte und keine Aussagen zur Qualität des Unterrichts trifft (vgl. ebd., 81). Die Fragen Ghobeyshis thematisieren die persönliche Einschätzung 24 der 24 Wobei Ghobeyshi diese persönliche Einschätzung erheblich beeinflusst, indem sie die Wichtigkeit historischer Themen vorwegnimmt. Sie gibt unumwunden zu: <?page no="73"?> 73 Relevanz historischer Themen im DaF-Unterricht allgemein sowie konkret des Nationalsozialismus. Sie erfragt, in wieweit das Thema im Unterricht behandelt wurde und welche Lehrmaterialien eingesetzt wurden sowie in welcher Sozialform (Lerngruppe, Curriculum) die Beschäftigung mit dem Thema Nationalsozialismus stattgefunden hat. Ghobeyshi kommt zu dem Ergebnis, dass der Nationalsozialismus häufiger im fremdsprachlichen Deutschunterricht thematisiert wird, als von ihr angenommen: 75% der befragten Lehrenden geben an, den Nationalsozialismus mindestens einmal über mindestens eine Unterrichtseinheit behandelt zu haben. Sie stellt aber auch einen Mangel an Lehrmaterialien zum Thema fest und konstatiert (wenig überraschend), dass es nicht einfach sei, im begrenzten Zeitbudget und mit den sprachlichen Vorrausetzungen der Lehrenden das Thema Nationalsozialismus angemessen zu behandeln (vgl. ebd., 114 f.). Entgegen Ghobeyshis Kritik am Mangel von Lernmaterialien hat seit den 80er Jahren die Beschäftigung der DaF-Lehrwerke mit historischen Themen zugenommen. Neben einzelnen Kapiteln in Lehrwerken, die sich mit historischen Themen auseinandersetzen, gibt es eigene Lehrerhandbücher und Lehrwerke, die ausschließlich der Behandlung historischer Themen im Fremdsprachenunterricht gewidmet sind. Besonders hervorzuhaben ist in der Hinsicht das Projekt des Tübinger Modells einer integrativen Landeskunde, da es Mog und Althaus gelungen ist, eine Vielzahl an anerkannten Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen zu vereinigen. Das Projekt ist kultur-kontrastiv angelegt; alle Aussagen zu Deutschland sind aus der nordamerikanischen Perspektive getroffen, Deutschland wird stets mit den Verhältnissen der USA verglichen. Koreik (1999, 153) bemerkt zurecht, „daß die Darstellung eine deutlich andere geworden wäre, wenn zum Beispiel der Kulturkontrast zu einem Staat oder mehrere Staaten Osteuropas die Grundlage gebildet hätte“. Die Erkenntnisse dieses Projektes wurden zum einen im Sammelband Die Deutschen in ihrer Welt (Mog & Althaus 1992), zum anderen im Lehrbuch Typisch Deutsch? (Behal-Thomson et al 1993) publiziert. Koreik (1999, 154 ff.) „Die Relevanz von Geschichte innerhalb der Landeskunde wurde in der Frage vorweggenommen und schlicht behauptet“ (Ghobeyshi 2002, 89). Auch den Einfluss dieser Lenkung auf das Antwortverhalten der Teilnehmenden stellt Ghobeyshi fest, ohne ihn tiefergehend zu problematisieren. Da zudem viele der Fragen von den Befragten nicht beantwortet wurden oder durch diese als „überflüssig“ kommentiert wurden, und da auch hinsichtlich der Korrelation von einzelnen Antworten miteinander keine Aussagen getroffen werden konnte, liefert die Studie Ghobeyshis nur einen ersten Überblick zur Behandlung des Nationalsozialismus im DaF-Unterricht und kann keine vertieften Einsichten für die vorliegende Untersuchung liefern. <?page no="74"?> 74 kritisiert allerdings, dass innerhalb der wissenschaftlichen Artikel in Die Deutschen in ihrer Welt viele Darstellungen sehr verkürzt dargestellt werden und weiterführende Literaturangaben fehlen; auch werden zahlreiche aufgestellte Thesen nicht belegt und bleiben für fachfremde Leser schwer verständlich. Zudem würden, so Koreik, die Tübinger Erkenntnisse aufgrund der erwähnten Perspektive nicht ohne weiteres in einem anderen Kontext als im Deutschunterricht in den USA eingesetzt werden können. Dennoch kommt Koreik zu einer positiven Abschlussbewertung des Projektes: Trotz der zahlreichen vorgebrachte Einschränkungen stellt dieses Tübinger Projekt mit dem daraus erwachsenen Sammelband sowie dem daraus aufbauenden Lehrwerk ‚Typisch Deutsch‘ (Behal-Thomson et al. 1993) ein herausragendes Ereignis für die Landeskunde des Fachs Deutsch als Fremdsprache dar [...]. Das Modellhafte an diesem Projekt ist [...], daß sich eine beeindruckend besetzte interdisziplinäre Arbeitsgruppe zusammengefunden hat, um - und das ist der zweite modellhafte Aspekt - die Deutschen in ihrer Welt kontrastiv zur amerikanischen Kultur und Geschichte zu beschreiben. (Koreik 1999, 161) Koreik wirft auch einen Blick auf die Behandlung geschichtlicher Themen in anderen Lehrwerken und mahnt an, dass häufig verkürzte Darstellungen erfolgen oder nur Teilfakten präsentiert werden 25 . Dies würde die Bildung von Legenden begünstigen. Sein Fazit: Der Unterricht in Deutsch als Fremdsprache ist kein Geschichtsunterricht; aber wenn es sich in seinem Rahmen um geschichtliche Themen handelt, wofür in dieser Arbeit schließlich auch plädiert wird, dann ist dies mit einer Gewissenhaftigkeit zu erfolgen, die Fehlinformationen möglichst ausschließt und Legendenbildungen oder deren Verstärkung entgegenwirkt! (Koreik 1995, 77) Zwölf Jahre nach der Untersuchung Koreiks gaben Schmidt und Schmidt (2007b) ein Landeskunde-Lehrwerk heraus, das auf dem Konzept der Erinnerungsorte beruht. Dieses Lehrwerk soll historisches Lernen im Fremdsprachenunterricht ermöglichen, dass „sich nicht im Auswendiglernen von Fakten, Daten und Biographien erschöpft“ (vgl. Schmidt & Schmidt 2007a, 5). 25 Diese eher kritische Bilanz von Koreik scheint von den von Ghobeyshi befragten Lehrenden geteilt zu werden, die Qualität der Themenbehandlung des Nationalsozialismus in Lehrwerken nur mit 1% als sehr gut und 21% als gut bewerten, wohingegen 36% der Befragten die Darstellung als mittelmäßig einschätzt, 17% sie als schlecht und 5% sie als sehr schlecht einschätzen. 20% der Befragten kannten sogar gar keine Lehrwerksbeschäftigung mit dem Thema. Da die verwendeten Lehrwerke der Befragten nicht erfasst wurden, lässt dieses Antwortverhalten keine weiteren Interpretationen zu, bestärkt aber die Annahme, dass DaF-Lehrende - zumindest hinsichtlich dieses einen Themenkomplexes - mit der Behandlung historischer Themen in Lehrwerken global gesehen wenig zufrieden sind. <?page no="75"?> 75 Das Lehrwerk richtet sich an fortgeschrittene Lerner ab Niveau B1 und besteht aus 13 Kapiteln, wobei in jedem Kapitel ein Erinnerungsort durch einen Autor vorgestellt wird. Die Autoren sind (oder waren) DAAD-Lektoren und achten auf eine lernerorientierten Darstellung der geschichtlichen Themen, die entsprechend dem Konzept der Erinnerungsorte (vgl. Kap. 3.2.3.3) nicht als historische Fakten dargestellt werden, sondern einen besonderen ‚Erinnerungsaspekt’ aufgreifen, der an diesem historischen Beispiel greifbar wird (vgl. Abb. 4). Es werden authentische Materialien verwendet, die unterschiedliche Perspektiven auf die jeweiligen Erinnerungsorte verdeutlichen sollen. Beispielhaft werden in Abb. 5 einzelne Aufgaben für den Erinnerungsort ‚Berliner Mauer’ gezeigt. Abb. 4.: Übersicht der Erinnerungsorte und ihrer besonderen Erinnerungsaspekte in Schmidt und Schmidt 2007b (aus: ebd., 11) <?page no="76"?> 76 Abbildung 5: Auszug aus einem Arbeitsblatt für die Kleingruppenarbeit zum Thema 'Berliner Mauer (aus: Schmidt & Schmidt 2007b, 21) Nach einer gemeinsamen Einführung sollen die Lernenden in Kleingruppen unterschiedliche Positionen und Perspektiven zu den einzelnen Erinnerungsorten erarbeiten, um sie im Anschluss dem Plenum vorzustellen und gemeinsam zu diskutieren. Kritisch könnte man anmerken, dass der Fokus der zusammengestellten Materialien auf der Aneignung von Wissen liegt (vgl. Altmayer 2009, 3). Zwar wird in den Aufgabenstellungen immer wieder auf Gefühle hingewiesen, die die Lernenden bei ihrer Herausarbeitung der Perspektiven berücksichtigen sollen, die klassische Arbeitsform der präsentierenden Kleingruppen fördert meiner Ansicht nach die Konzentration auf Faktendarstellungen zusätzlich. Dennoch liefert das Werk erstmals konkrete Ansätze, wie historische Themen so im Landeskundeunterricht eingebracht werden können, dass ihr Bezug zur aktuellen Gesellschaft deutlich wird. Das Konzept der Erinnerungsorte ist hierfür sehr vielversprechend. Im folgenden Kapitel 3.3.2 wird seine Genese auf Basis der Modelle des kolektiven Gedächtnisses von Halbwachs und des kulturellen Gedächtnisses von Assmann und Assmann nachgezeichnet sowie das Konzept der Erinnerungsorte ausführlich vorgestellt. <?page no="77"?> 77 3.3.2. Kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung als Konzept für den Landeskundeunterricht Im Zuge der Diskussion um interkulturelles Lernen ist das Lernen historischen Fachwissens im landeskundlichen Unterricht in den Hintergrund getreten. Zwar wird immer wieder gefordert und betont, dass es notwendig ist, historische Themen im Unterricht zu behandeln (vgl. ABCD-Thesen 1990), Uwe Koreik stellte aber bereits 1995 den Mangel an entsprechendem Unterrichtsmaterial fest (vgl. Koreik 1995 und Kapitel 3.3.1), der bis heute weiterhin besteht (vgl. Schmidt und Schmidt 2007b, 419). Dabei ist wichtig zu betonen, das aus fachdidaktischer Sicht (vgl. z.B. Fornoff 2009, 504) die Vermittlung der historischen Hintergründe im Rahmen des Landeskundeunterrichts kein Selbstzweck ist: In der Landeskunde ist weniger die Vermittlung von historischen Fakten als solche relevant, diese sollen vielmehr thematisiert werden, da sich hieraus Erklärungsansätze für die Gegenwart abzeichnen. Das in Kapitel 3.2.3.3 dargestellte Modell der kulturellen Deutungsmuster von Altmayer, wie auch die Ausführungen von Wormer zur „ethnorelationalen Selbstreflexion“ (Wormer 2003, 463,) und auch die Ergebnisse der Studie von Koreik führen letztlich zu der Erkenntnis, dass historisches Wissen relevant ist, um Aspekte der Kultur einer Gemeinschaft zu erklären, da diese Ereignisse zentral sind, um noch heute fortbestehende Verhaltensweisen zu erklären. Koreik formuliert dies explizit, indem er betont, dass weiterhin die Tatsache bestehen bleibe, daß Deutsche aufgrund der Medien und informeller Gespräche über ein assoziatives Alltagswissen zur deutschen Geschichte verfügen [...]. Ausländer/ innen haben dieses Assoziationswissen nicht in gleichem Maße zur Verfügung und müssen sich deshalb Kenntnisse gezielt aneignen. Sehr lohnenswert schiene eine explizite Thematisierung deutscher Geschichtslegenden und Mythen (wie „Hitler brachte Arbeit“), um ausländischen Besuchern Deutschlands eine konkrete Auseinandersetzung mit diesen im Alltag häufig zu vernehmenden Klischeevorstellungen zu ermöglichen. (Koreik 1995, 123) Das assoziative Alltagswissen Koreiks verstehe ich als ein kulturell vermitteltes Wissen und damit als Teil des kollektiven Gedächtnisses 26 , einem Konzept 26 An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass das Konzept des kollektiven Gedächtnisses nicht wörtlich zu verstehen ist. Es gibt kein Kollektivbewusstsein als gegenständliche Ressource, auf die eine Gemeinschaft zugreift. Vielmehr handelt es sich bei dem Begriff kollektives Gedächtnis um eine Metapher, um das geteilte Wissen einer Gemeinschaft zu bezeichnen. (vgl. Erll 2005, 96). Weinrich (1976, 294) merkt hierzu an: „Wir können einen Gegenstand wie die Memoria nicht oh- <?page no="78"?> 78 der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung. Die Erinnerungsforschung wird seit den neunziger Jahren in den Kulturwissenschaften sehr intensiv behandelt. Gerade auch für den Einsatz im historischen Landeskundeunterricht bietet sie einen viel versprechenden Ansatz, da sie wie die Fremdsprachendidaktik in der Geschichte eine Grundlage des heutigen Zusammenlebens sieht (vgl. Fornoff 2009, 504). Nachfolgend sollen zunächst ihre zugrundeliegenden Konzepte dargelegt werden, um die aktuelle Diskussion um Erinnerungsorte im Landeskundeunterricht zusammenzufassen und ihr Potenzial für das historische Lernen zu diskutieren. 3.3.2.1. Das kollektive Gedächtnis: Die Studie von Halbwachs 1925 veröffentlicht Maurice Halbwachs die Studie les cadres sociaux de la mémoire, die erste von insgesamt drei Schriften von Halbwachs, die sich mit seinem Konzept des kollektiven Gedächtnisses beschäftigt. Entgegen der damals vorherrschenden Meinung, dass Erinnerung ein rein individueller Akt sei (Vertreter dieser These waren zum Beispiel Henri Bergson und Siegmund Freud) betont Halbwachs, dass Erinnern ein kollektives Phänomen sei (vgl. Erll 2005, 14.) Mit ‚kollektives Gedächtnis‘ bezeichnet Halbwachs ein sozial konstruiertes Phänomen. Halbwachs erläutert, dass Erinnerungen rekonstruiert werden müssen, wenn diese wieder aktiviert werden. Rekonstruktion ist hierbei wörtlich zu nehmen: Jeder Mensch erschafft die Gedanken und Erinnerungen neu, wenn er sich an sie erinnert. Jede Erinnerung ist demnach subjektiv: Einzelheiten werden ausgeblendet, andere Details werden interpretiert und mit anderen Geschehnissen in einen kausalen Zusammenhang gebracht. Halbwachs fügt aber hinzu, dass die ‚Rahmen‘ der Rekonstruktion nicht rein individuell sind, sondern auch gruppenspezifisch. Diese sozialen Bezugsrahmen, die cadres sociaux, sind geprägt von den Menschen, in deren Gesellschaft Erfahrungen gemacht werden oder welche durch Kommunikation zu Wissenslieferanten werden. Aus diesen leiten sich schließlich Denkschemata ab, die die Deutung von Ereignissen beeinflussen. Cadres sociaux bilden demnach „den umfassenden, sich aus der materialen, mentale und sozialen Dimension kultureller Formationen konstruierenden Horizont, in den unsere Wahrnehmung und Erinnerung eingebettet ist“ (Erll 2005, 15). Die sozialen Rahmen beeinflussen die Weise, in der man das kollektive Gedächtnis interpretiert, sie perspektivieren es: ne Metaphern denken. Metaphern, zumal wenn sie in der Konsistenz von Bildern auftreten, haben den Wert von (hypothetischen) Denkmodellen“. <?page no="79"?> 79 Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen gesellschaftlichen Rahmen geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert. (Halbwachs 1985, 21). Das kollektive Gedächtnis entstehe in jeglichen Formen von Gruppen. Da jeder Mensch mehreren Gruppen angehöre (z.B. Familie, Religionsgemeinschaft, Kollegenkreis usw.), teile er auch verschiedene kollektive Gedächtnisse, die seinen individuellen Vorrat an Deutungsmustern bilden. Für die einzelne Gruppe ist ihr kollektives Gedächtnis von grundlegender Bedeutung. Es dient der Gruppenbildung und Identitätsbildung von Gruppen und sorgt damit für den Zusammenhalt und das Fortbestehen von Gruppen. Durch mündliche Erzählungen gelangen auch die Gruppenmitglieder an die Erinnerungen, an denen sie nicht selbst teilgenommen haben. Dabei erfolgt diese Erinnerung stark wertend. Halbwachs trennt aufgrund dieser wertenden Erinnerung das Gedächtnis scharf von der Geschichte ab und betont, dass beide Konzepte unvereinbar seien: Während die Geschichte objektiv und universal sei, sei das Gedächtnis subjektiv und wertend. Entsprechend seiner Funktion der Identitätsbildung sei das kollektive Gedächtnis selektiv: es werde vor allem das erinnert, was dem Selbstbild oder den Interessen der Gruppe entspricht (vgl. Erll 2005, 17). Das kollektive Gedächtnis steht in einer engen Wechselbeziehung zum individuellen Gedächtnis, denn das kollektive Gedächtnis wird immer im individuellen Gedächtnis realisiert. Nur durch diese Realisierungen in individuellen Gedächtnissen wird das kollektive Gedächtnis sicht- und beobachtbar. Umgekehrt speist es sich auch aus zahlreichen individuellen Gedächtnissen. <?page no="80"?> 80 3.3.2.2. Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis nach Assmann und Assmann Jan und Aleida Assmann haben das verbreitetste Modell der Erinnerungsforschung im deutschsprachigen Raum geprägt. Assmann und Assmann greifen das Modell von Halbwachs auf und differenzieren dieses aus: Sie trennen das kollektive Gedächtnis in zwei Formen der Erinnerung: Das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis (vgl. Assmann 1988) 27 . Überpointiert stellt Jan Assmann (2000 [1992], 51ff.) beide Modelle als gegensätzliche Formen des Erinnerns gegenüber um zu zeigen, dass sich die Formen des Erinnerns in Bezug auf die Inhalte, Modi und Funktionen dieser Erinnerungen grundlegend unterscheiden. Das kommunikative Gedächtnis umfasst nach Assmann (2000, 51) die aktiven Erinnerungen einer Gesellschaft und damit rund 80 Jahre. Diese Erinnerungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie persönlich erlebt, verbürgt und kommuniziert werden. Die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses werden durch das individuelle Erleben geschrieben und jeder, der an dem Ereignis teilgenommen hat, wird andere Erinnerungen damit assoziieren. Damit gilt jeder, der die Erfahrung gemacht hat, als kompetent, es gibt keine Spezialisten für die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses. Das kommunikative Gedächtnis wächst mit der Gemeinschaft mit und Teile daraus sterben ab, wenn die letzten Zeitzeugen des Erlebnisses sterben - außer, sie gehen vorher in das kulturelle Gedächtnis über. Für diese Entscheidung gilt die Hälfte des Erfahrungszeitraumes des kommunikativen Gedächtnisses, also 40 Jahre, als kritischer Grenzwert (vgl. Assmann 2000, 51): 40 Jahre nach einem relevanten Ereignis treten Zeitzeugen, die das Erlebnis als (junge) Erwachsene miterlebt haben, aus dem Berufsleben heraus und widmen sich nach Assmann (ebd.) nun nicht mehr vorrangig der Zukunft, sondern dem Erinnern. Daraus resultiert, dass rund 40 Jahre nach einem Ereignis verstärkt Dokumente auftauchen, die dieses Ereignis reflektieren und dokumentieren. Diese Dokumente können dann Grundlage dafür werden, dass das Erinnerte in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft übergeht. Assmann stellt dem kommunikativen Gedächtnis das kulturelle Gedächtnis gegenüber. Erinnerungen aus dem kulturellen Gedächtnis sind Ereignisse mit besonderer Bedeutung für die Gemeinschaft. Dabei sind es bereits Erinnerun- 27 Nicht nur Assmann und Assmann unterteilen die Erinnerung in zwei verschiedene Kategorien. John Bodnar (1992) spricht von vernacular und official memory, Hirst und Manier (2002) unterscheiden zwischen lived und distant memory und der Gießener Sonderforschungsbereich (vgl. Erll 2005) differenziert zwischen Erinnerungen dies- und jenseits der Erfahrungsschwelle. <?page no="81"?> 81 gen, auf die man sich geeinigt hat und nicht mehr faktische Geschichte: Erinnerungen im kulturellen Gedächtnis sind gleichförmig: Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte: „Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird“ (Assmann 2000, 52). Inhalte des kulturellen Gedächtnisses dienen der Identitätsstiftung der Gemeinschaft. Dies tun sie, indem sie als Mythen Antworten auf grundlegende Fragen der Gemeinschaft geben: zum einen geben sie normative, handlungsleitende Antworten in Bezug auf vorherrschende Normen und Werte, zum anderen beantworten sie die Frage nach der Herkunft der Gemeinschaft und grenzen sie zu anderen Gemeinschaften ab. Da die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses der Sinnstiftung dienen, werden für ihren Erhalt Spezialisten ausgebildet. Diese Spezialisten sind nach Assmann und Assmann zum Beispiel Archivare, aber auch Priester. Damit der Inhalt des kulturellen Gedächtnisses in seinem Fortbestehen gesichert ist, wird er in feste Ausdrucksformen überführt. Beim kollektiven Gedächtnis handelt es sich daher um „hochgradig gestiftete und zeremonialisierte Erinnerung“ (Erll 2005, 28). Die Definition von Assmann beschreibt das kulturelle Gedächtnis folgendermaßen: Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, - Bildern und -Riten zusammen, in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenheit stützt. (Assmann 1988, 13) Die Benennung der beiden Gedächtnisformen in ‚kommunikativ‘ und ‚kulturell‘ soll nicht darüber hinweg täuschen, dass beide sowohl kommunikativ als auch kulturell sind: Beide Formen werden durch Kommunikation vermittelt und beziehen sich auf kulturelle Geschehnisse. Die Bezeichnung ‚kulturell‘ verweist vielmehr auf die Verwendung des Wortes Kultur im Sinne von „Hochkultur“. Inhalte des kulturellen Gedächtnisses werden zum Bestandteil des Wissens über eine Gemeinschaft und gehen in die (Hoch-)Kultur dieser Gemeinschaft ein. Hierfür müssen die Erinnerungen aus den Individuen heraustreten und durch Medien gespeichert werden: „Der Übergang aus dem kommunikativen Gedächtnis ins kulturelle Gedächtnis wird durch Medien gewährleistet“ (Assman & Assmann 1994, 120). Zwischen dem kulturellen Gedächtnis und dem kommunikativen Gedächtnis existiert eine Lücke. All jene Geschehnisse, die nicht selbst erlebt wurden und die keine grundlegenden Funktionen für die Gemeinschaft erfül- <?page no="82"?> 82 len, werden nicht erinnert. Diese Lücke bezeichnen Assmann und Assmann in Anlehnung an Vansina (1985) als floating gap. Für die Konstitution der Erinnerungen spielt auch die Medialität der Erinnerungen eine entscheidende Rolle: Die Einführung der Schrift hat grundlegende Auswirkungen auf die Form der Erinnerungen. Kulturen, die auf mündliche Weitergabe der Erinnerungen angewiesen sind, formen diese gänzlich anders aus als schriftbasierte Kulturen. Orale Kulturen sind darauf angewiesen, dass sich Riten und Mythen immer genau wiederholen. Nur so kann ihr Weiterbestehen gesichert werden. Daher muss das kollektive Gedächtnis auf die zentralen Aspekte beschränkt bleiben, die Aufnahmefähigkeit eines menschlichen Gehirns limitiert die möglichen gemeinsamen Erinnerungen. Die schriftliche Fixierung der Erinnerungen erlaubt es, mehr zu erinnern. In schriftbasierten Kulturen besteht die Herausforderung nicht in der Konservierung der Erinnerungen, sondern in der Aneignung der Erinnerungen über die Generationen hinweg durch die Individuen der Gemeinschaft. Dabei werden die textuell fixierten Erinnerungen immer wieder neu interpretiert, ihr Sinn wird neu ausgelegt. Die überpointierte Gegenüberstellung der beiden Formen des Erinnerns im Assmanschen Modell birgt die Gefahr, dass alle ‚neuen’ Erinnerungen automatisch dem kommunikativen Gedächtnis zugeordnet werden. Allerdings können diese durchaus auch Teil des kollektiven Gedächtnisses sein, wenn sie grundlegend für die Struktur und das Selbstverständnis der Gemeinschaft sind. Es ist also nicht der Zeitpunkt von entscheidender Bedeutung bei der Zuordnung eines Erlebnisses zu einer der beiden Formen der Erinnerung, vielmehr stellt der Modus der Erinnerung das entscheidende Kriterium dar. Besonders komplex wird das Zusammenspiel der verschiedenen Formen von Erinnerung, wenn ein Ereignis sowohl Teil des kommunikativen als auch des kulturellen Gedächtnisses wird. „Wo historische Ereignisse einen Erinnerungsgegenstand sowohl kommunikativer als auch kultureller Gedächtnisse darstellen, resultiert ein Spannungsverhältnis in der Erinnerungspraxis“ (Erll 2005, 112). Denn meist entsprechen die individuellen Erinnerungen im kommunikativen Gedächtnis nicht den gesellschaftlich gesetzten, ritualisierten Erinnerungen des kulturellen Gedächtnisses. Nicht zuletzt sei anzumerken, dass sich kulturelles und kommunikatives Gedächtnis gegenseitig beeinflussen. So werden aufgrund von Wissensbeständen aus dem kulturellen Gedächtnis Schemata entwickelt, welche die Einordnung neuer Erfahrungen anleiten und diese vor dem Hintergrund dieser Schemata deuten. Welzer et. al. (2002) zeigten eindrucksvoll, dass ihre Studienteilnehmer, die in den 1980er Jahren geboren wurden, die Geschichten ihrer Großeltern über ihr Leben im Nationalsozialismus immer falsch <?page no="83"?> 83 erinnerten, indem sie die Erzählungen der Großeltern entsprechend der in Schulbüchern oder Massenmedien vermittelten ‚offiziellen Erinnerungskultur‘ abänderten.Umgekehrt können theoretisch auch persönlich gemachte Erfahrungen ein solches durch das kulturelle Gedächtnis vorgegebenes Schema abändern und das kulturelle Gedächtnis in Frage stellen; dies ist aber ungleich schwerer, weil damit das ganze Gesellschaftssystem, in dem das Individuum lebt, in Frage gestellt wird. 3.3.2.3. Erinnerungsorte nach Nora Nora erstellte in der Zeit von 1984 bis 1992 mit dem dreiteiligen Sammelwerk Les lieux de mémoire (Nora, 1984-1992) die Grundlage der heutigen sozialwissenschaftlichen Diskussion um Erinnerungsorte und prägte den Begriff. Dabei griff er auf eine Studie von Frances A. Yates zurück, die in den 1960er Jahren die antike Kunst der Rhetorik untersuchte und darauf hinwies, dass die hierfür erforderliche Gedächtniskunst das Erinnern erleichterte, indem für eine Rede jede Erinnerung mit einem Raum verbunden wurde. Diese so genannten loci memoire wurden dann, wenn die Rede vorgetragen werden sollte, nach und nach mental abgegangen und die Gegenstände der Rede wurden an diesen mentalen Orten wieder „aufgefunden“ (vgl. Fornoff 2009, 501). Erinnerungsorte im Sinne Noras sind nicht zwangsläufig geographische Orte. Der Begriff des Ortes ist in diesem Zusammenhang ein weitgefasster, der alle historischen und kulturellen Phänomene umfasst, „über die eine Nation, sei es bewusst oder unbewusst, ihre kollektive Erinnerung und Identität konstruiert und konstituiert“ (Fornoff 2009, 502; vgl. auch François und Schulze 2001, 18)). Noras Arbeit baut auf den Schriften Halbwachs‘ auf, und stimmt ihm zu, dass Gedächtnis und Geschichte eher als Gegensätze denn als Synonyme zu sehen seien. Man könnte meinen, dass Noras Erinnerungsorte als Manifestationen des kollektiven Gedächtnisses von Halbwachs gesehen werden können, allerdings spricht Nora der Gesellschaft seiner Zeit ab, ein kollektives Gedächtnis zu haben, da sich seiner Meinung nach die Gesellschaft in einem Übergangsstadium befinde, „in dem die Verbindung zu lebendigen, gruppen- und nationenspezifischen, identitätsbildenden Vergangenheit abreißt“ (Erll 2005, 23). Erinnerungsorte sind demnach vielmehr ein künstlicher Ersatz für das nicht mehr existierende kollektive Gedächtnis: „Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt“ (Nora 1998 [1990], 11). Während Nora die Erinnerungsorte Frankreichs definiert hat, haben François und Schulz (2001) Deutsche Erinnerungsorte zusammengetragen. In drei Bänden mit insgesamt 2252 Seiten werden über 120 verschiedene Erinnerungsorte vorgestellt (vgl. François & Schulz 2001). Es gibt bereits Konzepte <?page no="84"?> 84 dazu, wie diese deutsche Erinnerungsorte im DaF-Unterricht eingesetzt werden können. Diese Konzepte und meine Einschätzung zu Erinnerungsorten im DaF-Unterricht werden in Kapitel 3.4 dargelegt. 3.3.2.4. Gedächtnis, Erinnerung und (digitale) Medien Medien und das kollektive Gedächtnis stehen in einer engen Wechselwirkung zueinander. Erst durch Medien kann das Wissen einer gemeinsamen Vergangenheit gespeichert, verbreitet und rekonstruiert werden. Medien sind damit grundlegend, um ein individuelles Erlebnis zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses werden zu lassen. Die zentralen Funktionen von Medien für das Erinnern hat unter anderem der 1997 gegründete Sonderforschungsbereich (SFB) Erinnerungskulturen an der Justus-Liebig Universität Gießen untersucht (vgl. Erll 2005, 137ff). Die Speicherfunktion von Medien umfasst die Aufgabe, Inhalte zu speichern und dadurch über die Zeit hinweg verfügbar zu machen. In oralen Gesellschaften, die keine Schrift kennen, müssen Menschen selbst Medium sein und für die Weitergabe der Inhalte über die Zeit hinweg sorgen; indem durch Schrift, Bild und andere Medien Inhalte personenunabhängig gemacht werden und gespeichert werden können, wird es möglich, Inhalte von größerem Umfang zu sichern (vgl. Kapitel 3.3.2.2). Diese Feststellung teilt der SFB mit Assmann. Nach der Beschreibung Leggewies (2008, 21) hebt der SFB allerdings noch stärker die Bedeutung des Mediums für die Form des Erinnerns heraus: Medien sind keine neutralen Träger von Informationen, je nachdem, in welchem Medium eine Information vermittelt wird, ändert sich auch dessen Ausprägung: Medien übertragen nicht nur einfach Botschaften, sondern Entfalten eine Wirkkraft, welche die Modalitäten unseren Denkens Wahrnehmens, Erinnerns und Kommunizierens prägt [...]. ( Krämer 1998, 14f.) Die Vergangenheit wird so zu einem medialen Konstrukt, das auf Basis der kulturellen Rahmenbedingungen dekodiert wird. Aus der internen Verbindung von Medialität und Realität folgt nicht alle Wirklichkeit sei im Grund eine mediale Konstruktion. Es folgt lediglich, daß es mediale Konstruktionen sind durch die uns oder überhaupt jemandem so etwas wie Realität gegeben oder zugänglich ist. Realität ist nicht als mediale Konstruktion, sondern allein vermöge medialer Konstruktion gegeben (Seel 1998, 225, Herv. i. Orig.; K.B.) Neben der Sicherung über zeitliche Distanzen erfüllen Medien mit der Funktion der Zirkulation auch den Austausch von Informationen über weite Räu- <?page no="85"?> 85 me hinweg. Sender und Empfänger müssen nicht mehr am gleichen Ort sein, um Inhalte zu übermitteln, Medien können die Inhalte verbreiten. Dadurch wird es möglich, große Erinnerungsgemeinschaften zu schaffen, die über weite Strecken verteilt sind. Die dritte Funktion der Medien ist die Abruffunktion. Erinnerungen werden durch Abrufhinweise, sogenannte cues, in Gang gesetzt (vgl. Erll 2005, 138). Ein Medium kann ein solcher cue sein. Ist dies der Fall, wird das Medium selbst zur Botschaft. Medien, die als cues dienen, haben keinen spezifischen Sender oder Empfänger mehr. Diese Funktion wird besonders von symbolträchtigen Medien erfüllt, besonders Orte und Landschaften können diese Funktion erfüllen. Auch Noras Erinnerungsorte stellen derartige cues dar (vgl. Erll 2005, 138). Dabei hat die Erinnerungskultur den Ort zwar als Abrufhinweis anerkannt, was allerdings abgerufen wird ist keinesfalls homogen: Je nach persönlichen Erlebnissen oder ideologischen Überzeugungen kann die Erinnerung, die der cue auslöst, durchaus unterschiedlich sein. Durch die zunehmende Digitalisierung werden auch digitale Medien zunehmend dazu genutzt, Ereignisse, die für die Gesellschaft relevant sind, zu speichern und zu verbreiten. Durch den unbegrenzten Speicher, den das Internet zur Verfügung hat, gibt es keine Begrenzung dessen, was gespeichert werden kann. Hiermit geht die Gefahr einher, dass zwar vieles im Internet abgelegt wird, es aber später nicht mehr von Mitgliedern der Gesellschaft erinnert wird. Osten (2004, 72) spricht von einem „digitalen Gedächtnis-Dilemma“ und Alina Assmann bewertet das Internet als nicht zum Memorieren geeignet und befürchtet die „Zerstörung von historischem Gedächtnis“ (Assmann 2004, 55), Doch es finden sich im Internet immer mehr Angebote, die historische Ereignisse aufarbeiten oder den Austausch hierüber ermöglichen. Dabei sind diese nicht identisch zu bereits existierenden Informationen, vielmehr wird durch die Internetseiten eine Komplementarität der Quellen erreicht (vgl. Hein 2010, 27). Da aber gerade Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren das Internet als wichtigste Informationsquelle ansehen (ebd.), wird die Bedeutung von online verfügbaren Informationen zu historischen Ereignissen weiter steigen. Damit stellt sich auch die Frage, wie die Zukunft der Erinnerungskultur im Internet aussehen wird. Der Gießener Sonderforschungsbereich ‚Erinnerungskulturen‘ hat sich dem Phänomen der Erinnerung in digitalen Medien zugewandt und es interdisziplinär erforscht, vorrangig im Forschungsprojekt „Visualisierung und Virtualisierung von Erinnerung: Geschichtspolitik in der medialen Erlebnisgesellschaft“, welches die Grundannahme vertrat und prüfte, dass die mediale Realisierung die Vergegenwärtigung von Vergangenheit beeinflusst (vgl. Leg- <?page no="86"?> 86 gewie 2009, 21). Er kommt zu dem Ergebnis, dass „die Medienevolution einen erinnerungskulturellen Wandel hervorruft, beziehungsweise einen solchen widerspiegelt“ (ebd). Diese neue Art der Erinnerungskultur beschreibt Leggewie als „Individualisierte Massenkommemoration“, welche sich wie folgt beschreiben lässt: Geschichtserinnerungen werden eher gleichrangig kumuliert als durch Experten beziehungsweise Erinnerungsvirtuosen vorab ausgewählt und nachträglich zertifiziert, sie werden in kürzeren Abständen aktualisiert, und die interaktive Beteiligung durchkreuzt das Imperative jeder direktiven Inszenierung. (Leggewie 2009, 22) Das heißt, dass durch das Internet die Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses einer Gemeinschaft demokratisiert wird; die Inhalte kommen nicht länger mehr nur von den ausgewählten Experten, jedes Mitglied der Gesellschaft kann seine Erinnerung publizieren. Wird diese von der Gesellschaft angenommen, wird sie zum Teil des Wissens der Gemeinschaft, des kollektiven Gedächtnisses. Derartige Einflüsse hätten auch schon Zeitzeugen in Fernseh-Dokumentationen gehabt, allerdings wurde die Dokumentationen wieder durch die Produktionsfirma ausgewählt und in der Nachproduktion bearbeitet. Durch das Internet kann jeder seine Geschichte selbst veröffentlichen, indem er einen eigenen Platz dafür schafft 28 oder indem er hierfür zur Verfügung gestellte Internetangebote nutzt, wie die Rubrik ‚einestages‘ 29 von 28 Ein Beispiel für solche persönlichen Narrationen, das schnell große Bekanntheit erlangte, war das Tagebuch von Dieter Finzen, welches von seinen Nachfahren 93 Jahre nach dessen Niederschrift in einem Weblog (http: / / dieterfinzen.blogspot.com) veröffentlicht wurde. Indem der entsprechende Tageseintrag vor 93 Jahren digital veröffentlicht wurde, konnten die Leser des Blogs das Leben des Soldaten Dieter Finzen in den Jahren 1916 bis 1919 von 2009 bis 2012 zeitversetzt mitverfolgen. Meyer (2008, 180f.) gibt aber hinsichtlich der Homepages von Privatpersonen zu bedenken, dass nicht alle individuell erstellten Webseiten zu einem historischen Thema „zu einem Medium kollektiver Kommemoration avancieren“. Internetseiten müssen aktiv aufgesucht werden und da Nutzer häufig mit Hilfe von Suchmaschinen navigierten und hier nur die erste Seite der Ergebnisse rezipierten (vgl. Wiedmaier 2007, 24f.), würden viele von Laien erstellte Homepages nicht wahrgenommen (Meyer 2008, 181). 29 Die Seite selbst wirbt mit dem Slogan „Geschichte wird von Millionen erlebt aber nur von wenigen aufgeschrieben. Einestages will das ändern. Gemeinsam mit Ihnen wollen wir Zeitgeschichte sammeln - damit ein kollektives Gedächtnis unserer Gesellschaft entsteht“ (einestages 2012). Damit suggeriert das Angebot, dass es bislang kein kollektives Gedächtnis unserer Gesellschaft gibt, was nicht der Fall ist. Vielmehr werden hier viele Perspektiven - das individuelle kommunikative Gedächtnis der Teilnehmenden - auf Ereignisse, die das existierende kollektive Gedächtnis umfassen, gesammelt; <?page no="87"?> 87 Spiegel Online, in die Leser ihre Geschichten zu von der Redaktion vorgegebenen Ereignissen und Themen einsenden können. Nach demselben Prinzip verfahren auch die Rubrik ‚kollektives Gedächtnis‘ des Lebendigen virtuellen Museums Online (LeMO) oder die Homepage ‚zeitzeugengeschichte.de‘ (vgl. Meyer 2008, 192f.) Beide Angebote unterscheiden sich aber in der Selektion der von Nutzern eingestellten Inhalte: Während zeitzeugen.de keine Selektion vornimmt, behält sich die LeMO-Redaktion (wie auch die Redaktion von einestages.de) die Veröffentlichung der eingesendeten Beiträge vor. Aus diesen unterschiedlichen Verfahren werden verschiedene Zugänge deutlich: Während ‚zeitzeugen.de‘ tendenziell alles als für speicherungswürdig erachtet, selektiert LeMo und wählt Inhalte aus, die veröffentlichungswürdig sind. Ohne Selektion liegt es dann beim Nutzer, für ihn relevante Inhalte zu selektieren. Meyer komm diesbezüglich zu der Einschätzung Die Privilegierung personalisierter Darstellungsstrategien forciert in Kombination mit einem programmatischen Verzicht auf Selektivität die Tendenz zur Individualisierung von Geschichtsbildern und -erzählungen. (Meyer 2008, 194). Derartige Möglichkeiten zur Teilnahme der Nutzer an Erinnerungsgeschichte sind allerdings selten: Projekte, bei denen Besucher aufgefordert werden, mitzuarbeiten und Informationen mit erinnerndem Gehalt zu ergänzen, sind die große Ausnahme, obwohl hier genau die Stärke des Mediums Internet gegenüber den herkömmlichen Medien liegen kann. (Grellert 2007, 254) Zudem muss betont werden, dass derartige Projekte weniger ein kollektives als ein kommemoratives Gedächtnis (Meyer 2008) herausbilden: Das Wissen zu einem Ereignis wird von vielen Nutzern gemeinsam zusammengetragen. Hieraus resultiert aber keinesfalls, dass dieses akkumulierte Wissen in seiner ganzen Komplexität dann auch ins kulturelle Gedächtnis übergeht; im kulturellen Gedächtnis werden weiterhin durch Sozialisation oder prominente massenmediale Verbreitung vermittelte Perspektiven auf das jeweilige Ereignis vorherrschen. Kommemorative Projekte erlauben es aber, neben der vorherrschenden Deutung eines Ereignisses auch andere Aspekte, die von der Wertung der dominierenden Kultur abweichen 30 , anderen Nutzern zugänglich zu machen. 30 Hierfür ist es allerdings notwendig, dass diese Perspektiven der Prüfung durch die vorgeschaltete Redaktion Bestand hält, welche möglicherweise nur derartige Erinnerungen in ihren Korpus aufnimmt, welche das von ihr vertretene dominerte Bild der Erinnerung unterstützen. <?page no="88"?> 88 3.4. Fazit: Erinnerungsorte als Modell des historischen landeskundlichen Lernens Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses nach Halbwachs ist seit der Intensivierung der Diskussion um Geschichte im Landeskundeunterricht und durch die zeitgleiche Wiederbelebung des Modells durch Assmann schnell auch in die Landeskunde eingeflossen. Esselborn untersuchte schon 1991 das Potenzial von Märchen im Fremdsprachenunterricht, um an ihnen das kollektive Gedächtnis der fremden Kultur aufzuspüren (Esselborn 1991). Die Zuwendung zu den Konzepten von Halbwachs und Assmann war aber nicht nur dem Zeitpunkt des Aufkommens von Assmanns Theorien geschuldet; die Konzepte beschreiben Aspekte, die nach Einschätzung Koreiks (1995, 64) auch als Inhalt im Landeskundeunterricht zentral sind: Für die Fragestellung, was in der inhaltlichen Vermittlung der Landeskunde im Fach Deutsch als Fremdsprache alles relevant ist - insbesondere, wenn es um die Geschichte geht - , sind selbstredend die Frage nach Existenz, Funktionsweise, dem Erinnern selbst und möglichen Auswirkungen eines ‚kollektiven Gedächtnisses‘ und einer damit möglicherweise im Zusammenhang stehenden ‚Kulturellen Identität‘ von allergrößter Bedeutung. Auch Schmenk und Hamann (2007) plädieren dafür, den Ansatz Assmanns in den DaF-Unterricht zu integrieren. Sie befürworten das Konzept Assmanns, das betont, dass jeder Sprecher Teil mehrerer Kommunikationsgruppen sei, da hierdurch die Heterogenität von Kultur verdeutlicht würde. Darüber hinaus betone das Konzept die aktiven Rolle des Individuums bei der (Re-) Konstruktion von Erinnerungen (vgl Schmenk & Hamann 2007,383). Sie heben hervor: „[L]ooking at a cultural memory is markedly different from looking at historical or cultural facts“ (ebd., 384), wodurch die Notwendigkeit deutlich wird, nicht nur historische Fakten im Unterricht zu vermitteln, sondern vielmehr zu verdeutlichen, wie diese die Gesellschaft beeinflusst haben; wie diese historischen Fakten also im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft gewertet werden und vor allem, warum diese Ereignisse für das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft relevant sind (vgl. ebd.). Ein Problem bei der Umsetzung des Assmannschen Modells für den Fremdsprachenunterricht stellt seine Abstraktheit dar. Die sehr theoretischen Konzepte des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses sind für Lernende mit einem begrenzten Wortschatz schwer erfassbar; auch bleiben sie wenig greifbar ohne konkrete Manifestationen des kulturellen Gedächtnisses. Diese Vergegenständlichung des abstrakten Konzepts des kulturellen Gedächtnisses liefert das Konzept der Erinnerungsorte. <?page no="89"?> 89 Wie unter 3.3.2.3. verdeutlicht wurde, gelten bei Nora Dinge oder Ereignisse als Erinnerungsorte, die für ein bestimmtes Ereignis stehen und in denen die Kultur, die hinter diesem Ereignis steht, sichtbar gemacht werden kann. Als Beispiele deutscher Erinnerungsorte können die Berliner Mauer, der VW- Käfer, aber auch die Currywurst oder die Fußball-Nationalmannschaft angesehen werden (vgl. François & Schulz 2001): Über ihre eigentliche Bedeutung hinaus stehen diese Erinnerungsorte für Erlebnisse oder Werte, an die ein Gemeinschaftsgefühl der Deutschen geknüpft wird - für Teile des kulturellen Gedächtnisses. Diese Erinnerungsorte verbinden damit die Geschichte mit der Gegenwart und greifen so ein Konzept der Geschichtsvermittlung auf, welches seit langem für die Vermittlung historischen Wissens im Landeskundeunterricht gefordert wurde. Statt über abstrakte Themen aus der Vergangenheit zu reden, können die Lernenden an Erinnerungsorten durch Bilder und konkrete Gegenstände Geschichte erfahren. Auf der einen Seite spricht diese Plastizität der Erinnerungsorte für ihre Thematisierung im Unterricht, da sie ‚besser greifbar’ sind als das abstrakte Konzept der Kultur, zum anderen sind Erinnerungsorte Symbole mit einer sehr vagen Bedeutungszuschreibung: Für was genau sie stehen, ist für Außenstehende nicht ersichtlich und muss ihnen vermittelt werden, damit sie die Bedeutung des Erinnerungsortes für die Kultur ermessen können. Allerdings ist aber auch für die Mitglieder der Kulturgemeinschaft das Konzept, für welches dieser Erinnerungsort steht, nicht immer eindeutig; häufig sind es abstrakte Konzepte und Begriffe, die jeder individuell mit eigenen Zuschreibungen füllt (vgl. das Konzept der cues in Kapitel 3.3.2.4.). Als Beispiel kann die Freiheitsstatue in New York dienen, welche heute die Zuschreibung „Symbol der Freiheit“ erhalten hat. Was genau man unter Freiheit versteht, ist individuell unterschiedlich. Diese unklaren Bedeutungszuschreibungen sind für die Kulturgemeinschaft aber immens wichtig: Rational gesehen, mag das Diffuse unbefriedigend sein, doch andererseits kann es gerade deshalb eine Ausstrahlung besitzen und über eine mythische Aura wirksam werden. Für die Kultur sind die diffusen Zeichenbedeutungen eventuell wichtiger als die exakt definierten. (Hansen 2003, 53) Die Bedeutsamkeit der Erinnerungsorte ist auch darin begründet, dass diese diffusen Zeichenbedeutungen häufig aus einem gewachsenen Prozess entstanden sind; Die Zeichen wurden nicht geplant eingeführt, sondern haben sich im Laufe der Zeit verbreitet - ein Hinweis dafür, dass sie aus der Basis der Kulturgruppe heraus aufgekommen sind und nicht von oben diktiert wurden, was die Akzeptanz der Zeichen begünstigt haben dürfte. Wie ich bereits dargestellt habe, griff Esselborn auf Märchen als Vergegenständlichung des Konzepts des kulturellen Gedächtnisses zurück, auch <?page no="90"?> 90 François und Schulze (2001) benennen Grimms Märchen als einen deutschen Erinnerungsort. Becker (2009) legt dar, dass die Beschäftigung mit Erinnerungsorten auch eingebunden in andere Lernkontexte und nicht auf den Landeskundeunterricht beschränkt ist. Sie zeigt, dass im Curriculum des DaF-Studiums an der Universität Stockholm auch im Bereich der schriftsprachlichen Kompetenzen auf Texte zurückgegriffen wird, die landeskundlich relevantes Wissen vermitteln und einfordern. Becker zeigt am Beispiel einer Zusammenfassung, die ein schwedischer Studierender zur Erzählung Die Schwedenfähre von Claudia Rusch (2003) angefertigt hat, dass die Erzählung nicht angemessen zusammengefasst wurde, da dem Lernenden die nicht explizit im Text formulierten Hintergründe 31 dafür, „[w]arum man mit der ‚Schwedenfähre’ nicht nach Schweden fahren konnte“ (Becker 2009) fehlen. Becker bringt in ihrem Artikel Altmayers Ansatz der kulturellen Deutungsmuster (vgl. Kapitel 3.2.3.3) mit den Erinnerungsorten zusammen, indem sie argumentiert, dass es ein Lernziel das landeskundlichen Unterrichts ist, „die Fähigkeit, die in einem deutschsprachigen Text vorhandenen kulturellen Deutungsmuster zu entdecken und zu verstehen“ (Becker 2009, 34) zu entwickeln. Dies geschehe im Stockholmer Curriculum anhand von Erinnerungsorten, welche sie anschließend beispielhaft aufführt und ihre Behandlung im Unterricht illustriert. Dabei beschreibt Becker auch, in wieweit diese Themen sinnstiftend für das kollektive Gedächtnis der deutschen Bevölkerung und damit von aktueller Relevanz sind. Auch Schmenk und Hamann (2007, 384f.) nennen das Konzept der Erinnerungsorte als Möglichkeit, das Konzept Assmanns im DaF-Unterricht zu konkretisieren. Sie verdeutlichen am Beispiel der Behandlung der Berliner Mauer aus (faktisch) landeskundlicher, interkultureller oder erinnerungsörtlicher Perspektive die Unterschiede der jeweiligen Zugänge und sehen drei Vorteile in der Verwendung der Erinnerungsorte: Sie verhinderten erstens, dass die Menschen stereotypisiert dargestellt werden, sie verhinderten zweitens, dass die historischen Ereignisse mit nur einem historischen Narrativ, also einem dominierenden Fokus, dargestellt werden und drittens verdeutliche der Zugang zur Mauer als Erinnerungsort, dass das Thema noch heute eine große Bedeutung für die deutsche Gesellschaft habe (vgl. Schmenk & Hamann 2007, 387). Aus ihrer umfangreichen Sammlung deutscher Erinnerungsorte (vgl. Kapitel 3.3.2.3) haben François und Schulz eine Auswahl erstellt, die aus dieser 31 Diese liegen in der die Teilung Deutschlands, aufgrund derer es mit der Schwedenfähre von Saßnitz in der DDR nicht mehr möglich war, nach Trelleborg in Schweden zu fahren. <?page no="91"?> 91 Sammlung die 29 bedeutsamsten Erinnerungsorte herausgreift. In dieser Auswahl ist auch die Mauer enthalten (François & Schulz 2005). Unabhängig davon ist die Mauer „vermutlich [...] eines der am häufigsten behandelten Themen im Landeskundeunterricht“ (Becker 2013, 43). Da die Mauer auch in den Lehrplänen der deutschen Schulen präsent ist, kann davon ausgegangen werden, dass sowohl Muttersprachler als auch Deutschlernende Kenntnisse bezüglich der Mauer haben. Das in dieser Arbeit untersuchte Projekt fand im November 2009, zeitgleich mit dem 20-jährigen Jubiläum des Mauerfalls, statt, so dass zusätzlich zur historischen Bedeutung ein aktueller Bezug des Themas gegeben war 32 . Auf Grund all dieser Argumente beschloss ich, den Erinnerungsort ‚Mauer’ aufzugreifen und die Teilung Deutschlands sowie die Wiedervereinigung als landeskundliches Thema des Projektes zu wählen, und die Lernenden hierzu in der virtuellen Welt entsprechende Orte aufzusuchen zu lassen. Dabei verspreche ich mir von Second Life einen besonderen Mehrwert zu anderen Materialien 33 , der in der Mehrkanaligkeit der virtuellen Welt begründet liegt. Schmidt und Schmidt betonen mit Blick auf die Medienvielfalt ihres Lehrwerks, in dem Erinnerungsorte durch Bilder, schriftliche Quellen und Tondokumente an die Lernenden herangetragen werden: Erinnerung ist per se mehrkanalig: wir erinnern uns an Erlebnisse, an Bilder, Geräusche, Gerüche, Emotionen, Berührungen. Die Komplexität des Erinnerungsvorgangs fordert und erfordert mediale Vielfältigkeit in der Materialauswahl, -bearbeitung und -präsentation. (Schmidt & Schmidt 2007b, 423) Diese geforderte Mehrkanaligkeit bieten virtuelle Welten. Sie erlauben durch die Dreidimensionalität der Umgebung ein Eintauchen in das Medium 34 . In 32 Dieses Jubiläum wurde medienwirksam inszeniert. Neben einer großen Feier am Brandenburger Tor wurden entlang des ehemaligen Mauerstreifens rund 2 Meter hohe Dominosteine aufgestellt, die am Abend in einer Kettenreaktion zu Fall gebracht wurden, um den Fall der Mauer zu inszenieren (vgl. Hamann 2011, 195. 33 Auch Koreik (1995, 71) konstatiert in Anlehnung an Cavalli (1991), dass „sich der Zugang zum kulturellen Gedächtnis von anderen Gemeinschaften ‚durch die Expansion der visuellen Medien‘ (ebd.) in einem außerordentlichen Maß erweitert hat [...]“. Neben den visuellen Medien hebt er besonders das Potenzial „interaktive[r]Videos“ (ebd.) für diesen Aneignungsprozess hervor. Da sich das kulturelle Gedächtnis im visuellen Medium durch Symbole, durch Erinnerungsorte manifestiert, lässt sich diese Aussage auch auf Erinnerungsorte übertragen. 34 Kansteiner (2008, 30) wagt sogar die These, dass „Erzählkultur und Geschichtsbewusstsein bald vollständig durch interaktive Medien vermittelt“ werden. Er untersucht die Geschichtsdarstellung in Videospielen, welche er am Ende einer medialen „evolution of make-belief“ (Ritterfeld/ Weber 2006, 401) sieht: Neben der narrativen Struktur von Büchern und der visuellen Stimulation, die durch Fernseher hinzukam, können Mediennutzer in Videospielen selbst im Medium intera- <?page no="92"?> 92 dieser Arbeit möchte ich daher untersuchen, ob simulierte Umgebungen und Nachbildungen historischer Orte in virtuellen Welten als Erinnerungsorte fungieren können. In Kapitel 8 werde ich unterschiedliche virtuelle Orte daraufhin untersuchen, wie sich Lernende mit den in diesen Umgebungen darstellten historischen Themen auseinandersetzen und in der Analyse darauf eingehen, in wieweit die dargestellten Orte der Theorie nach Erinnerungsorte - als Vergegenständlichung kultureller Konzepte, aus denen sich das kollektive Gedächtnis zusammensetzt - sind und die Lernenden die Orte entsprechend behandeln, indem sie die kulturellen Konzepte, die hinter den Orten stehen, zum Ausdruck bringen. Der Umstand, das sowohl die Rezeption des potentiellen Erinnerungsortes wie auch die Kommunikation über diesen Ort medial vermittelt in der virtuellen Welt stattfindet, dass die virtuelle Welt damit also eine Doppelfunktion als Kommunikationskanal und Informationsmedium erhält, wird in Kapitel 7.4 diskutiert, ebenso werden andere Kontextfaktoren der Lernumgebung, die die Auseinandersetzung mit der den virtuellen Erinnerungsorten beeinflusst haben könnten, in den Untergliederungen des Kapitels 7 behandelt Die genaue Auswahl der Orte in Second Life, wie auch alle andere Faktoren des Projektablaufes werden in Kapitel 5.2 näher ausgeführt. Zuvor soll in Kapitel 4 zunächst die Rolle der digitalen Medien im Fremdsprachenunterricht skizziert werden, um dann näher auf das Medium der virtuellen Welten einzugehen und meine Vorstellungen zu deren Potenzial für das historischkulturelle Lernen erläutern. gieren. Wenn die Graphik von Videospielen an die des Fernsehers heranreicht, prognostiziert Kansteiner (2008, 38) eine „Verschmelzung von realer und virtueller Welt, in welcher jeder selbst virtuell Geschichte erleben kann und damit nicht mehr auf das kulturelle Gedächtnis der Gemeinschaft angewiesen sei, da er die entsprechenden historischen Erfahrungen selbst im Videospiel machen kann. Ich teile seine Auffassung nicht: Zwar sehe ich in virtuell reproduzierten Welten Potenziale, historische Ereignisse zu erleben; da sich das Storyboard der virtuellen Umgebung allerdings an den real stattgefundenen Ereignissen orientiert, wenn diese als solche wiedererkannt werden sollen und da der Nutzer ja schon im Vorfeld mit bestimmten Einstellungen zu diesen Ereignissen sozialisiert wurde, sehe ich keine isolierte Geschichtsentwicklung durch Videospiele und virtuelle Welten. <?page no="93"?> 93 4. Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien Das Konzept ‚digitale Medien’ dient als Sammelbegriff für all jene Medien, die auf Inhalte in digitaler Form zugreifen, diese speichern, aufzeichnen oder verbreiten. Der Begriff des Mediums ist bis heute nicht eindeutig definiert, was in seiner Komplexität begründet liegt. Wörtlich übersetzt bedeutet ‚Medium’ Mittel. Bis in die 60er Jahre bezeichnete man mit Medium die vier Elemente Erde, Feuer, Wasser und Luft oder aber auch das Medium im spirituellen Sinn, einen Menschen, durch den höhere, göttliche Wesen sprechen (vgl. Hörisch 1998, 28). Lasswell definierte 1948 das Forschungsfeld der Kommunikationswissenschaft mit dem Satz „who [Kommunikator] says what [Inhalt] in which channel [Medium] to whom [Publikum] with which effect [Wirkung]” (Lasswell 1948, 37). Dementsprechend können als Medium alle Kanäle bezeichnet werden, über die Menschen miteinander kommunizieren. Ich verwende hier diese sehr offene Definition von Medien, da alle anderen Definitionen meist bestimmte Medien im Blick haben oder auf einen besonderen Fokus verweisen. So gilt die Definition von Holly (1997), Medien seien "materiale, vom Menschen hergestellte Apparate zur Herstellung/ Modifikation, Speicherung, Übertragung oder Verteilung von sprachlichen (und nicht-sprachlichen) Zeichen” (69 f.) vor allem für die sogenannten Tertiärmedien, für die man nicht nur zur Produktion (Sekundärmedien), sondern auch zur Rezeption technische Hilfsmittel benötigt. Demgegenüber kommen Primärmedien ohne jegliche Technik aus (wie beispielsweise die Rede); Quartärmedien greifen auch bei der Distribution auf Technik zurück, womit alle digitalen Meiden umschrieben werden können. Hollys Definition weist darauf hin, dass Medien nicht nur dazu genutzt werden, um den Akt der Kommunikation zu realisieren, sondern auch, um Informationen herzustellen, abzuändern und zu sichern, ein Aspekt, der im Zuge der Digitalisierung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Synonym zur Bezeichnung ‚digitale Medien’ wird mitunter auch von ‚neuen Medien’ gesprochen. Allerdings wurde die Bezeichnung der ‚neuen Medien’ auch für Radio und Fernsehen genutzt, als diese auf den Markt kamen: 1982 bezeichnete Ratzke (1982, 16) alle Verfahren und Mittel (Medien), die mit Hilfe neuer oder erneuerter Technologien neuartige, also in dieser Art bisher nicht gebräuchliche Formen von Informationserfassung und Informationsbearbeitung, Informationsspeicherung, Informationsübermittlung und Informationsabruf ermöglichen <?page no="94"?> 94 als neue Medien. Damit sind neue Medien breiter zu fassen als digitale Medien, zudem ist der Begriff weiterhin unscharf. Da zudem mit fortschreitender Zeit die Bezeichnung ‚neu’ für verschiedene Medienformen nicht mehr zutreffend ist - das World Wide Web wurde 1993 entwickelt und ist damit mittlerweile schon über 20 Jahre alt - habe ich mich dazu entschlossen, im Folgenden die Bezeichnung ‚digitale Medien’ zu verwenden. Darüber hinaus verweist der Begriff auf grundlegende Nutzungsveränderungen, die durch die digitale Speicherung erfolgt sind: Im Gegensatz zu analogen Speichermedien können digitale Inhalte einfacher kopiert, bearbeitet und verbreitet werden, was einen erheblichen Einfluss auf das Nutzerverhalten hat: Durch die Digitalisierung von Inhalten können Nutzer nicht nur zu Rezipienten, sondern auch zu Produzenten und Bearbeitern werden. Zudem können unterschiedliche digitale Medienformate miteinander verknüpft und gemeinsam dargeboten werden. Digitale Medien sind sowohl multimedial wie auch multimodal. Multimodalität bezeichnet die Verwendung mehrerer Modi, also beispielsweise Schrift, Bild oder Ton, um eine Nachricht zu übermitteln. Der Begriff umschreibt, welche Sinne ein Empfänger einsetzen muss, um die Nachricht zu entschlüsseln. Das Konzept der Multimodalität wird wissenschaftliche sowohl empirisch als auch kategorial verwendet: In empirischer Perspektive umschreibt Multimodalität die Veränderungen bisheriger Kommunikationspraxen. Diese Veränderungen resultieren vorrangig aus der Verwendung heutiger Massenmedien, welche aufgrund dessen in der Analyse der Multimodalität ebenfalls berücksichtigt werden müssen (vgl. Sachs-Hombach & Schirra 2009, 399). In dieser empirischen Betrachtungsweise ist die von Kress und van Leeuwen (2001) konstituierte multimodale Diskurstheorie zu verstehen. Demgegenüber steht die kategoriale Verwendung des Konzeptes der Multimodalität, welche davon ausgeht, dass alle Form menschlicher Kommunikation multimodal ist (vgl. Iedema 2003, 39), da stets weitere Informationsquellen mit der Informationsvermittlung einher gehen: So ist das Sprechen stets auch von Tonfall, Mimik und Gestik begleitet (vgl. Norris 2004). In der Kommunikationsanalyse müsse daher eine neue Form der Betrachtung Einzug halten: Alle Kommunikationsanalyse muss demnach multimodal ausgerichtet sein (vgl. Bucher 2011). Der Begriff der Multimedialität verweist auf eine Mehrzahl von Medien, die zum Transport der Inhalte genutzt werden und damit auf die technische Umsetzung der Nachrichtenübermittlung. Um digitalisierte Inhalte lesen zu können benötigt man ein computergestütztes Lesemedium (wie beispielsweise DVD-Player, Mp3-Player, E-Book- Reader), zudem können alle digitalen Inhalte auf einem Computer wiedergegeben werden, der damit zum Zentrum der Mediennutzung wird. Das Inter- <?page no="95"?> 95 net steht ebenfalls im Zentrum der Nutzung digitaler Medien, da die digitalisierten Inhalte durch das Internet versendet und empfangen werden können. Informationen werden durch die Speicherung orts- und endgerätunabhängig. Mit der Weiterentwicklung des Internets zum ‚Web 2.0’ (vgl. Kapitel 4.1) können Nutzer auch ohne Programmierkenntnisse selbst Inhalte im Internet publizieren. Seitdem wächst die Menge der verfügbaren Informationen im Internet immer schneller an. Das Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien stellt besondere Herausforderungen an den Lehrenden, es bietet aber auch neuartige Möglichkeiten. Im Folgenden soll zunächst die Entwicklung des Fremdsprachenlernens mit digitalen Medien zusammengefasst werden, wobei besondere Potenziale digitaler Medien für das Fremdsprachenlernen hervorgehoben werden (Kapitel 4.1), um auf Basis dieses Überblickes auf das kooperative Lernen als eines dieser Potenziale genauer einzugehen (Kapitel 4.2). Hierbei wird die Online- Tutorierung (Kapitel 4.2.1) sowie das Tandemlernen (Kapitel 4.2.2) besonders fokussiert, da diese beiden Konzepte als didaktisches Szenario für die vorliegende Untersuchung eine besondere Rolle spielen. Vor dem Hintergrund der Diskussion dieser Modelle wird begründet, warum im Forschungsprojekt letztendlich gleichberechtigte Tandems (bzw. Tridems) gebildet wurden. Im Anschluss wird dann der Fokus auf die virtuellen Welten gelegt. Diese werden zunächst allgemein vorgestellt (Kapitel 4.3) und begrifflich von virtuellen Realitäten abgegrenzt (Kapitel 4.3.1). Nachfolgend wird Second Life vorgestellt, die virtuelle Welt, in der die Untersuchung stattfand (Kapitel 4.3.2). Diese Vorstellung findet zum einen im Hinblick auf Fremdsprachenunterricht statt (Kapitel 4.3.2.1), zum anderen mit dem Fokus auf kulturelles Lernen (Kapitel 4.3.2.2). 4.1. Entwicklung und Potenziale Medien haben im Fremdsprachenunterricht stets eine große Rolle gespielt. Durch sie ist es möglich, auch außerhalb des fremdsprachlichen Raums authentische 35 Dokumente, Gespräche oder Situationen in den Klassenraum zu 35 Die Authentizität des Fremdsprachenunterrichts wird genauso häufig gefordert, wie das Konzept der Authentizität problematisiert wird. Befürworter eines authentischen Fremdsprachenunterrichts bemängeln die Künstlichkeit der Sprachverwendung im Fremdsprachenunterricht. Sie fordern, dass Texte aus dem ‚wirklichen Leben’ Einzug in den Unterricht halten sollen; also beispielsweise Texte aus Zeitschriften, Dialoge aus Fernsehserien oder Geschäftsbriefe. Texte, die nicht explizit für die Verwendung im Fremdsprachenunterricht erstellt wurden und die <?page no="96"?> 96 bringen. Durch den Computer und die damit verbundene Multimedialität 36 erfährt der Einsatz der Medien eine zentrale Erleichterung: Der Lehrende muss nun nicht mehr mehrere Abspielgeräte wie Kassettenrecorder, Projektor oder Videowagen bedienen 37 , der Computer kann verschiedenste Formate wie Bilder, Audio- und Videodateien wiedergeben. Mit der Entwicklung des Internets nahm der Einsatz des Computers im Fremdsprachenunterricht um weitere Anwendungsbereiche zu: seit 1993 gibt es das World Wide Web und erste graphikfähige Browser erlaubten es, auch ohne spezifische Computerkenntnisse online zu gehen. Mit dem Eingang des neuen Mediums in die Gesellschaft sollte das Internet auch im Unterricht Niederschlag finden. Es wurde schnell als große Chance für den Fremdsprachenunterricht gesehen: 1995 fassen Eck, Legenhausen und Wolff vier didaktische Chancen des Internets 38 für den Fremdsprachenunterricht zusammen: Schülerorientierung, Interdisziplinarität, interkulturelles Lernen sowie die Authentizität der Sprache und Interaktion (vgl. Eck, Legenhausen & Wolff 1995, 113ff.). Neben den didaktischen Erwartungen wurden auch Hoffnungen laut, dass das Internet „Bildung für alle” (Döring 2002, 251) ermögliche, da man durch das Internet schnell und einfach Informationen zu den verschiedensten Themen recherchieren kann. Die Hoffnungen wurden zunächst enttäuscht. Es gab noch keine didaktischen Konzepte die aufzeigen, in welcher Weise das Internet sinnvoll in den Fremdsprachenunterricht eingebunden werden kann. Vielmehr wurden bekannte Konzepte in identischer Weise auf des neue Medaher nicht ausschließlich auf das Sprachrepertoire zurückgreifen, das die Lerner zum jeweiligen Zeitpunkt zur Verfügung haben (vgl. z.B. Rüschoff 1997). Umgekehrt sollen auch Lernerprodukte stärker an die Welt außerhalb des Klassenzimmers angebunden werden, indem diese inhaltlich Themen aufgreifen, die für die Lernenden relevant sind (vgl. Kapitel 7.2.1) aber auch durch die Publikation von Lernerprodukten an ein Publikum außerhalb des Klassenraumes (vgl. für beispielhafte Projekte Legutke, 2006; Kraus, 2007; Raith & Raith, 2008 oder Schmidt, 2009). Rösler (2012) hebt hervor, dass die Künstlichkeit einiger Aufgaben, vor allem bei formfokussierenden Übungen, durchaus auch ihre Berechtigung hat; die Relevanz der Authentizität der jeweiligen Aufgabe muss immer auch abhängig vom Lernziel der jeweiligen Aufgabe oder Übung betrachtet werden. 36 Entsprechend obenstehender Definition von Medien gilt als Multimedialität „[...] der Trend, diese Kanäle mit den Mitteln der Informationswissenschaft über alle Quellen zu integrieren und als Gesamtheit für die Kommunikation zu nutzen”(Henning 2007,19). 37 Gleichzeitig wurde das Bedienen der Gerätschaften immer komplexer, so dass der Lehrende auch stetig mehr Technik-Kompetenz entwickeln musste. Diese ist allerdings auch heute noch für die Bedienung des Computers vonnöten. 38 Hier konkret am Beispiel von E-Mail-Projekten. <?page no="97"?> 97 dium übertragen. Beispielsweise wurden schnell analog zu den Sprachlaboren der 70er Jahre Computerlabore eingerichtet, in denen Lernende einzeln in Reihen nebeneinander an Computern arbeiten konnten. In diesen Computerlaboren wurden vor allem Drillübungen mit einfachen Lernprogrammen durchgeführt. Diese erlaubten zwar das individuelle Üben und gaben den Lernenden sofortige Rückmeldungen, der Unterricht wurde dadurch allerdings weniger kommunikativ. Das Potenzial der digitalen Medien, mit Anderen zu kommunizieren, das gerade für den Fremdsprachenunterricht eine interessante Möglichkeit zur authentischen Verwendung der Zielsprache bot, wurde in diesen Computerräumen nicht ausgeschöpft 39 . Auch mit der Einführung des Internets änderte sich zunächst wenig an diesem Prinzip: Das Internet hielt zunächst Einzug in den Unterricht ohne ein entsprechendes didaktisches Konzept. Das Vorgehen übersah, dass die alleinige Existenz neuartiger Möglichkeiten des Lernens und Lehrens durch das Internet nicht auch automatisch dazu führte, dass die Lernenden diese Potenziale des Internets auch wirklich nutzen konnten. Erste didaktische Konzepte für das kommunikative Fremdsprachenlernen mit dem Internet kamen direkt aus der Praxis. Donath (1995) entwickelte ein Konzept, mit dem man die traditionellen Klassenpartnerschaften nun per E-Mail führen konnte, statt wie bislang mit der herkömmlichen Post. Nun konnten Nachrichten innerhalb weniger Sekunden übermittelt werden, nach und nach konnten auch immer umfangreichere Anhänge in Form von Bildern und später sogar Audio- oder Videodateien mit gesendet werden. Es wird - wie auch bei allen anderen Medienformaten - deutlich, dass das „Primat des Didaktischen” (Rösler 2006, 69) zu befolgen ist: „Der Einsatz der digitalen Medien ist nur da sinnvoll, wo er sinnvoll ist” (ebd.), also da, wo sie einen echten Mehrwert gegenüber der Verwendung traditioneller Medienformen bieten. Dieser Mehrwert kann je nach Verwendung der Medien auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt werden: Das Potenzial der digitalen Medien für Lernen und Lehren erstreckt sich auf zahlreiche Aspekte wie Lernmaterialien, Lernformen, zeitlich-räumliche Organisation des Lernens, Formen der Interaktion bzw. der Kommunikation und Kollaboration und die Betreuung bzw. Unterstützung des Lernens (Schnaithmann, 2008, 17.). 39 Zum Konzept der Authentizität vgl. Fußnote 37. <?page no="98"?> 98 Reimann (2005, 76 ff.) unterscheidet fünf Hauptfunktionen digitaler Medien, welche man nutzen kann, um das Potenzial der digitalen Medien zu systematisieren 40 : • Distribution (die zeit- und ortsunabhängige Verfügbarkeit von Informationen und Materialien), • Repräsentation (multi- und hypermediale Darstellung von Informationen), • Exploration (exploratives Lernen durch Interaktion und Bearbeitung von Informationen), • Kommunikation (Interaktion mit anderen Nutzern) und • Kooperation bzw. Kollaboration (das gemeinsame Arbeiten mehrerer Nutzer). Durch die neuartige Form der Distribution können Lernmaterialien schnell, einfach und kostenfrei an alle Teile der Welt gelangen. Gerade für Orte, die vom Zielsprachenland entfernt sind, können so erstmals tagesaktuelle Texte rezipierbar werden; Auch Lehrmaterial wie beispielsweise Audioergänzungen zu Texten können so einfach verfügbar gemacht werden, wodurch sich neue Nutzerkreise erschließen (vgl. Rösler 2008). Die multi- und hypermediale Repräsentation von Informationen im Internet spricht verschiedene Lerntypen an und erlaubt es, Lernende auch affektiv und emotional anzusprechen (vgl. Euler & Wilbers 2002, 9). Zudem können durch Hypermediastrukturen komplexe Zusammenhänge und durch die multimediale Gestaltung von Lernmaterial vielschichtige Bedeutungszusammenhänge aufgezeigt werden. Die Exploration, das Interagieren mit Material, erlaubt es Fremdsprachenlernern in Planspielen oder Simulationen die Fremdsprache in einem authentischen Verwendungszusammenhang zu verwenden 41 . Gerade für fortgeschrittene Lerner ist dies eine gute Möglichkeit, die Fremdsprache in unterschiedlichen Situationen anzuwenden (vgl. Schnaithmann 2008, 23). Dieser Aspekt hat zusätzlich an Bedeutung gewonnen, da es durch das soge- 40 Rösler (2007) nennt drei Verwendungsformen der digitalen Medien: Die Kommunikation, Distribution und Information. Prinzipiell entspricht diese Einteilung der Kategorisierung Reimanns, welche lediglich die Informationsfunktion weiter aufteilt in Repräsentation als die reine Abbildung von Informationen, sowie Exploration, die das Interagieren mit Informationen bezeichnet sowie die Kommunikation in reine Kommunikation und Kollaboration/ Kooperation unterteilt. Da dieser Aspekt für die vorliegende Arbeit zentral ist und differenziert betrachtet werden soll, wird die Kategorisierung Reimanns verwendet. 41 Insbesondere dieser Faktor wird im hier vorgestellten Szenario relevant, da die Lernenden in der virtuellen Welt frei in der Fremdsprache interagieren. <?page no="99"?> 99 nannte Web 2.0 möglich ist, selbst Inhalte im Internet zu gestalten, ohne einer Programmiersprache mächtig zu sein. Der Begriff Web 2.0 wurde 2003 in einem IT-Fachmagazin von Eric Knorr (2003) erstmals verwendet, verbreitet hat ihn Tim O’Reilly (2005). Er verwendete diesen Begriff gemeinsam mit Dale Dougherty anlässlich einer Konferenz, um damit die neue Art des Internets zu beschreiben, in welcher die kollektive Intelligenz und Motivation aller Nutzer genutzt wird, um neue Inhalte zu erschaffen. Heute bezeichnet Web 2.0 vor allem diejenigen Angebote des Internets, die es Nutzern erlauben, einfach und kostenlos selbst Inhalte zu publizieren, zu kommentieren oder diese mit anderen zu verknüpfen und damit vielen Nutzern zugänglich zu machen. Dies sind beispielsweise Weblogs, digitale Tagebücher, um private Gedanken zu veröffentlichen, Video- und Bildportale wie YouTube oder flickr, in denen man selbst gedrehte Videos und selbst gemachte Fotos mit anderen austauschen kann und in denen diese bewertet werden können, Wikis, in denen zahlreiche Autoren zusammen Texte erstellen, Podcasts, in denen eigene Rede- oder Videobeiträge veröffentlicht werden können und zahlreiche weitere Programme. Durch das Web 2.0 ist der Internetnutzer nicht länger nur Rezipient, er wird auch zum Produzenten, was im Englischen mit dem Kunstwort prosumer 42 verdeutlicht wird. Die Kommunikationsfunktion digitaler Medien erlaubt es, mit Muttersprachlern oder anderen Lernenden in Kontakt zu kommen und die Fremdsprache in einer authentischen Situation über den Klassenraum hinaus zu verwenden. Die Kommunikation in digitalen Medien kann durch unterschiedliche Formen realisiert werden: Sie kann schriftbasiert oder mündlich, synchron oder asynchron, mit einem Partner oder in Gruppen stattfinden. Hierdurch werden sowohl alle vier Grundfertigkeiten, als auch unterschiedliche Kommunikationsstrategien in der Fremdsprache trainiert, was zu einer erheblichen Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit der Lernenden in der Fremdsprache beitragen kann (vgl. Schnaithmann 2008, 23). Die Potenziale, die in der Kooperation und Kollaboration mit anderen Lernenden liegen, sind für das hier dargelegte Szenario von besonderer Bedeutung (vgl. Kapitel 6). Daher soll dieser Punkt im Folgenden intensiver diskutiert werden. 42 Der Begriff prosumer wurde bereits 1980 von Alvin Toffler in dem Buch The Third Wave als Bezeichnung von Nutzern verwendet, die gleichzeitig producer und consumer der von ihren produzierten Güter sind (vgl. Toffler 1980). <?page no="100"?> 100 4.2. Kooperatives Lernen mit digitalen Medien Neben den Möglichkeiten, das Internet als Materialquelle zu nutzen, um eigenständig eine neue Sprache zu erlernen, können durch die zahlreichen Kommunikationskanäle des Internets Lernende auch in Kontakt zu anderen Lernenden oder Lehrenden treten, damit diese ihren Lernprozess begleiten oder unterstützen. Wenn man völlig allein mit Hilfe der digitalen Medien lernt, erfordert dies enorm viele Kompetenzen vom Lernenden: Er muss sich selbst immer wieder motivieren, weiter zu lernen, er muss in der Lage sein, sich selbstständig aufkommende Fragen zu beantworten und er muss sich das angebotene Lernmaterial selbstständig strukturieren. Auf Dauer ist das Lernen allein vor dem Computer daher eher kritisch zu sehen. Felix (2001, 54) hat von Lernenden benannte Nachteile des alleinigen Fremdsprachenlernens mit dem Internet ohne didaktische Betreuung gesammelt, in denen sich dieses Bedürfnis nach einer menschlichen Komponente widerspiegelt: „lack of speaking practice, no interaction with peers, inadequate feedback und absence of teacher”. Auch Barker (2002, 5) hebt die Bedeutung der menschliche Komponente für einen positiven Lernprozess hervor: [D]espite the high levels of automation that can be achieved with respect to educational delivery, human resources still play a vital role in nearly all effective online learning systems. Um diesem Bedürfnis nach menschlicher Interaktion im Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien zu begegnen, bietet es sich an, die digitalen Medien zu nutzen, um die Lernenden in Gruppen kooperativ oder kollaborativ arbeiten zu lassen. Würffel (2007, 5) stellt eine Vielzahl an unterschiedlichen Begriffsverwendungen der beiden Termini ‚kooperativ’ und ‚kollaborativ’ fest. Sie kommt zu dem Ergebnis: In der Literatur werden diese beiden Begriffe meist entweder im Hinblick auf die Strukturiertheit der Aufgabenstellung und der gemeinsamen Aufgabenbearbeitung oder aber auf einer lerntheoretische Ebene im Hinblick auf die Art und Weise der Konstruktion von Wissen unterschieden. Bei vielen Autoren steht der Begriff des kooperativen Lernens für eine Form des gemeinsamen Lernens, die stark durch die Aufgabe (und eventuell auch durch die Angaben zum Prozessverlauf) gesteuert wird; der Begriff des kollaborativen Lernens steht dagegen für ein Lernen, bei dem die Lernenden ihre Ziele und Vorgehensweisen selbst bestimmen (vgl. u.a. Hron, Hesse & Friedrich 2002, 83f. oder Arnold 2003, 33). Auf der lerntheoretischen Ebene bleibt das Konzept des kooperativen Lernens ein individueller Akt, wohingegen in der <?page no="101"?> 101 Theorie des kollaborativen Lernens Lernen als Ko-Konstruktion von Wissen zwischen den Lernenden stattfindet (vgl. Carell 2006 21ff.). Dooly sieht als wichtigsten Punkt des kollaborativen Lernens „that students are responsible for one another’s learning as well as their own” (Dooly 2008, 22). Mit dieser Betonung der gegenseitigen Verantwortlichkeit wird kollaboratives Lernen sehr eng an das Tandemkonzept angebunden (vgl. Kapitel 4.2). Damit die Arbeit in Gruppen gelingen kann, muss beachtet werden, dass jede Gruppenarbeit in verschiedenen Phasen abläuft. Diese sind wichtig für de Sozialisation der Gruppe und die Organisation der Aufgabenbearbeitung (vgl. Kapitel 7.1). Beim Online-Lernen werden diese unterschiedlichen Phasen noch prägnanter, da neben den didaktischen Aspekten auch technische Hilfestellungen gegeben werden müssen. Salmon (2000) fasst diese Phasen des Online-Lernens in einem fünfstufigen Modell zusammen, bei dem in jeder Stufe sowohl technische als auch soziale Aufgaben von den Lernenden erfüllt werden müssen. Salmon beschreibt, wie Lehrende diese Aufgaben unterstützen können (vgl. Abb. 6). Abb. 6: Modell des Online-Lernens nach Salmon (2000, 26) Zunächst sei es in der ersten Phase von zentraler Bedeutung, den Zugang der Lernenden zum benutzen Lernmedium sicherzustellen sowie ihre Motivation <?page no="102"?> 102 für das bevorstehende Projekt zu verstärken. In einem nächsten Schritt, der Online-Sozialisation, stellen die einzelnen Teilnehmer kulturelle und individuelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede untereinander fest und lernen sich kennen. In dieser Phase sei es wichtig, dass ein positives Gruppenklima entstehe, welches Grundvoraussetzung für eine produktive Arbeit darstelle. In der dritten Phase beginne der Informationsaustausch zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern. Hierzu gehöre auch, dass die Gruppe Verfahren, Zeitspannen und Verantwortlichkeiten der gemeinsamen Arbeit festlegt. Die Lehrperson solle den Lernenden durch präzise Aufgabenstellungen klare Vorgaben machen, was von ihnen erwartet werde und sie bei der Benutzung der verschiedenen Anwendungen am Computer unterstützen, damit die Lernenden die Materialien und Medien so effektiv wie möglich einsetzen können. Im nächsten Schritt, der vierten Stufe, wird das gemeinsame Wissen konstruiert. Über den Austausch von Informationen hinaus müssen verschiedene Positionen ausgehandelt werden, so dass sich an dieser Stelle Methoden wie Zusammenfassungen, Diskussionen und Debatten anbieten. Im letzten Schritt ist die Reflexion ein zentraler Aspekt: die Lernenden sollen zum einen den Lernerfolg im Hinblick auf das behandelte Thema resümieren, sich aber auch bewusst werden, was sie im Hinblick auf Online-Kollaboration und die Arbeit in interkulturellen Gruppen gelernt haben. Durch die Diskussion darüber, was sie über sich und ihre Partner während dieses Gruppenarbeitsprozesses gelernt haben, werde auch interkulturelles Lernen befördert. Die stufenhafte Anordnung der Phasen im Modell Salmons macht deutlich, dass die einzelnen Phasen nicht linear nacheinander ablaufen. Vielmehr bauen die Phasen aufeinander auf, wobei jede einzelne Phase bis zum Ende des Gruppenprozesses weiterläuft, während zusätzliche Phasen hinzukommen. So lernen sich die Gruppenmitglieder auch in der inhaltlichen Arbeit weiter kennen und auch die Benutzung der jeweiligen Medien wird im Laufe des Arbeitsprozesses immer vertrauter werden. Die gemeinsame Arbeit mit Hilfe digitaler Medien kann in verschiedenen didaktischen Szenarien realisiert werden. Zwei zentrale Konzepte sind hierbei zum einen die Online-Tutorierung, bei der ein Sprachenexperte den Lernenden individuell durch Kommentare und Hilfestellungen im Lernprozess unterstützt, zum anderen das Lernen in Tandems, bei dem zwei Lernende gemeinsam arbeiten, um ihren Lernprozess zu optimieren. Im Folgenden sollen beide Konzepte dargelegt werden. Insbesondere die Unterschiede im Rollenverständnis und der Interaktion miteinander sollen dabei hervorgehoben werden, um zu entscheiden, welches Konzept für das vorliegende Szenario geeigneter erscheint. Mit dem Gießener Elektronischen Praktikum soll zudem <?page no="103"?> 103 ein Projekt vorgestellt werden, in dem beide Modelle zur Anwendung kamen. Die Erfahrungen, die im Rahmen des Gießener Elektronischen Praktikums innerhalb der unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit gesammelt wurden, haben die Ausgestaltung des vorliegenden Projektes erheblich beeinflusst. 4.2.1. Online-Tutorierung Ein Online-Tutor ist eine Person, die den Lernprozess einer anderen Person betreut, den diese durch das Internet absolviert. Diese Definition klingt einfach und plausibel, doch wird sehr schnell deutlich, dass sie verkürzt ist, da zahlreiche Fragen offen bleiben. In welcher Art, auf welcher Ebene und in welcher Form diese Betreuung erfolgt, wird immer wieder anders beschrieben und ist stark von dem jeweiligen Lernszenario und dem Lernenden selbst abhängig. Damit gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Modellen, in denen Online-Tutorierung realisiert werden kann. Diese Vielzahl der Modelle spiegelt sich auch in der Vielzahl an Bezeichnungen wider, die für das weite Feld der Online-Tutorierung verwendet werden. So wird ein Begriff je nach Autor unterschiedlich definiert. Zudem haben sich neben dem Online-Tutor diverse Benennungen etabliert 43 : Tele-Teacher, Tele-Trainer, E-Trainer, E- Moderator, Tele-Coach (vgl. Rautenstrauch 2001), Tele-Tutor (Böhm 2006), Online-Facilitator, Online-Coach (Ojstersek 2009), E-Tutor (Czerwionka & de Witt 2006), E-Learning-Manager oder Tele-Dozent (Dittler & Jechle 2004) und E-Instruktor (vgl. Bett & Gaiser 2004). Diese Bezeichnungen variieren, es gibt keine eindeutige Klassifikation, in welchem Setting welche Bezeichnung angemessen ist. Es werden sowohl die Offenheit der Lernsituation (vorgegebenes Material bzw. Kurs versus individuelle Themenaushandlung), die Größe der Lerngruppe pro Tutor (Kleingruppe versus individueller Lernender) als auch die Art der Unterstützung 44 als Unterscheidungsmerkmal zwischen den einzelnen Bezeichnungen verwendet. Die zahlreichen Kompetenzen, die ein Online-Tutor aufweisen muss, lassen sich prinzipiell mit denen einer traditionellen Lehrperson vergleichen: Er 43 Aufzählung entnommen aus Rösler & Würffel (2010, 35). 44 Bett und Gaiser (2004) unterscheiden in Anlehnung an Hron, Hesse und Friedrich (2003) hierbei die organisatorisch-administrative, die motivational-emotionale, die inhaltliche sowie die didaktisch-vermittelnde Betreuung. Allerdings beziehen sie diese auf die Aufgaben eines E-Moderators, der in ihren Ausführungen Gruppen von Online-Lernenden mit vorgegebenem Lehrmaterial (z.B. in einem Online-Kurs) betreut (vgl. Bett & Gaiser 2004, 4ff.). <?page no="104"?> 104 muss über Fachwissen verfügen, um dem Lernenden inhaltliche Hilfestellungen zu geben, er muss didaktische Kompetenzen ausweisen, um den Lernprozess sinnvoll zu gestalten und er muss den Lernprozess moderieren und den Lernenden motivieren. Dabei besteht die Schwierigkeit bei der Formulierung dieser Kompetenzen darin, dass es keine feststehenden Katalog aus Fertigkeiten geben kann, die ein Online-Tutor aufweisen muss; sie sind immer abhängig vom jeweiligen Kontext: So lange man nicht weiß, in welchen Kontexten eine Online-Tutorin bzw. ein Online-Tutor arbeiten wird, kann man eine Auswahl aus dem für einen Fremdsprachenlehrer notwendigen Wissen kaum treffen (Rösler & Würffel 2010, 39f.). Zusätzlich zu den Aufgaben eines traditionellen Lehrers kommen bei der Online-Tutorierung die räumliche und je nach verwendetem Medium auch die zeitliche Distanz zwischen Lernendem und Lehrendem sowie die techische Komponente als zusätzliche Herausforderungen hinzu: So muss der Tutor auch bei auftretenden Problemen mit der Computerausstattung dem Lernenden unterstützend beiseite stehen und zusätzliche Aspekte, die das Lernen am Computer betreffen, berücksichtigen, wenn er mit dem Lernenden interagiert. Durch die räumliche und zeitliche Trennung ist es schwierig, das Ausbleiben von Antworten des Tutee 45 zu deuten und eine langfristige Zusammenarbeit zu erreichen, bei der der Lernende durchgängig motiviert ist. Hierfür sind Motivation und der Aufbau einer persönlichen Beziehung zwischen Tutor und Tutee zentral, da nur durch diese der emotionale und affektive Zugang zum Tutee erreicht werden kann. Da der Lernende und der Tutor nicht am gleichen Ort sind, ist der Aufbau einer sozialen Bindung womöglich schwerer herzustellen, als dies im klassischen Präsenzunterricht der Fall ist. Mediendidaktisches Grundwissen ist dabei ebenfalls notwendig. Neben den umfassenden Kompetenzen im Bereich des Fachwissens haben auch soziale Fertigkeiten und sogar individuelle Charaktereigenschaften wie Kommunikativität, emotionale Intelligenz und Offenheit Einfluss auf den Erfolg eines Online-Tutors. Bei dieser Fülle an Anforderungen und Erwartungen laufen insbesondere Online-Tutoren zu Beginn ihrer Tätigkeit Gefahr, schnell überfordert zu werden. Daher empfiehlt es sich, die ersten Erfahrungen als Online-Tutor in enger Rückkopplung an eine didaktische Reflexion durchzuführen. Rösler und Würffel (2010) konnten zeigen, dass durch die enge Kopplung von Online-Tutorierung mit der Reflexion eigener Erfahrungen sowie dem Input theoretischer Grundlagen zu verschiedenen Schwerpunktbereichen der 45 Als Tutee wird der Lernende bezeichnet, der vom Tutor betreut wird. <?page no="105"?> 105 Tutorierung in einem begleitenden Seminar zum einen die theoretischen Inputs vertiefter rezipiert wurden und direkte Anwendung fanden, zum anderen auch die Probleme der Tutoren im Laufe des Tutorierens durch den Austausch mit anderen Tutoren relativiert und aufgefangen werden konnten. Eine besondere Herausforderung für Online-Tutoren ist die Bestimmung ihrer Rolle innerhalb der Tutorierungssituation. Um den Lernenden zu motivieren und ihm emotionalen Rückhalt geben zu können, und da Tutoren häufig nur wenig älter sind als die Studierenden 46 , baut sich eine sehr persönliche und vertrauensvolle Beziehung zwischen vielen Tutoren und ihren Tutee auf, die als freundschaftliches Verhältnis beschrieben werden kann. Gleichzeitig sind durch die fachliche Beratung und die damit verbundenen unterschiedlichen Positionen hinsichtlich der Kompetenz schon ein gewisses Maß an Distanz zu beobachten, dass dem klassischen Lehrer-Schüler-Verhältnis entspricht. Viele Tutoren sehen in diesen beiden Rollen, in der persönlichen und der professionellen Art der Beziehung, zwei nicht miteinander vereinbare Konzepte der Online-Tutorierung (vgl. Rösler & Würffel 2010). Nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrung in klassischen Lernsituationen agieren nach Rautenstrauch (2008, 366) viele Tutoren eher als klassische Lehrperson, die dem Lernenden wenig Raum geben, um selbst Sachverhalte zu entdecken. Sie würden vielmehr Input liefern und den Lernenden eher als Konsumenten statt als aktive Konstrukteure des Wissens betrachten. Rösler und Würffel (2010, 160 ff.) beschreiben, dass die Tutoren, die eine persönliche Beziehung zu ihrem Tutee aufbauen, es vermeiden, Aufgaben zu stellen, da sie eben nicht wie eine klassische Lehrperson wirken wollen. Interessanterweise finden sich in diesen Kontakten dennoch Aufgabenstellungen, allerdings werden diese nicht explizit als Aufgaben gestellt, sondern vielmehr im Laufe der Unterhaltung als Fragen oder Anregungen formuliert und immer wieder abgeschwächt, um dem Lernenden ein Gefühl der Souveränität und Gleichwertigkeit zwischen Tutee und Tutor zu geben In derartigen Paarungen sprechen die Tutoren von ihrem Tutee immer wieder als ‚Freund’ oder ‚E-Mail-Freund’. Entsprechend kommen private Beziehungen auch vor 46 Zumindest im universitären Kontext sind Tutoren im klassischen Sinne Studierende höheren Semesters, die begleitend zu einer Vorlesung ein Tutorium anbieten, in dem einzelne Aufgaben und Übungen vertieft besprochen werden. Im Gegensatz zur Vorlesung, die in einer sehr großen Gruppe stattfindet, wird ein Tutorium in kleinen Gruppen durchgeführt, so dass individuelle Fragen und Probleme hier thematisiert werden können. Diese individuelle Betreuung ist wohl ein zentraler Aspekt, weshalb die Betreuer von Lernenden in Online- Lernsituationen ebenfalls als Tutoren bezeichnet werden, wobei es wie oben genannt hier auch zahlreiche andere Bezeichnungen gibt. <?page no="106"?> 106 allem dann auf, wenn Tutor und Tutee ähnliche Interessen aufweisen oder sich für die Interessen und Aussagen des Anderen interessieren. In diesen Paaren kann der Fokus auf der persönlichen Beziehung in dem Moment problematisch werden, in dem ein Konflikt im Lehrkontext der Tutorierung entsteht. Wenn also beispielsweise der Tutee nicht im erwarteten Umfang auf eine E-Mail oder einzelne Fragen des Tutors reagiert, kann dieser das Verhalten auf sich als Person beziehen und ausbleibende Antworten als Zurückweisung seines ‚Freundes’ empfinden (vgl. ebd., 65ff.). In derartigen Fällen ist es wichtig für ein begleitendes Seminar, mit den Tutoren ihr individuelles Rollenverständnis zu diskutieren und damit den Tutoren bewusst zu machen, dass zwischen der Lernsituation und der persönlichen Beziehung zwischen Tutor und Tutee unterschieden werden muss. So können die Tutoren selbst erkennen, dass Tutees häufig andere Gründe für fehlende oder geringe Aufgabenbearbeitungen haben und diese nicht länger auf sich als Person beziehen. Hierdurch soll der Tutor zu der Einsicht gelangen, dass Sympathie und gegenseitiges Interesse nicht im Widerspruch zur ‚professionellen’ Beziehung zwischen Tutee und Tutor stehen müssen. Da in einer Tutorierungssituation der Tutor immer eine stärkere Verantwortung für Aufgabenstellungen, Fortführung des Kontaktes und Themenfindung übernimmt (vgl. Rösler & Würffel 2010, 71) und damit automatisch immer in irgendeiner Form in die Situation kommt, dass er eine Lehrrolle einnimmt, plädieren Rösler und Würffel (ebd., 70) dafür, die Tutoren darin zu unterstützen, „mit ihrer Rolle als Lehrende/ r bewusster umzugehen und gezielt Schritte zum Aufbau und Ausgestaltung einer formalen Beziehung gehen zu können”. Ein Ort, um derartige Hilfestellungen zu leisten sind Begleitseminare, die ein derartiges Tutorium auf der Metaebene reflektieren und damit einen wichtigen Beitrag zum Lernfortschritt der Tutoren machen. Rösler und Würffel (ebd.) machen die Beobachtung, dass sich ein Großteil der Reflexionen innerhalb des Begleitseminars um das Thema der Rolle des Tutors dreht. Offensichtlich empfinden die Tutoren diesbezüglich eine große Unsicherheit und thematisieren diesen Aspekt der Beziehung immer wieder. Wenn die Beziehung zwischen beiden Partnern absolut gleichberechtigt ist, man sich also bewusst dafür entscheidet, mit einem ‚Online-Freund’ und keinem Lernenden in Kontakt zu stehen, ist dies nicht länger ein Tutorium. In dieser Situation sind beide Teilnehmer gleichermaßen verantwortlich und gleichberechtigt im Bezug auf Themensetzung und Fortführung des Kontaktes. Im Idealfall sind auch die Kompetenzen gleichberechtigt verteilt, so dass beide Partner Experte in einem Feld sind, in dem der andere Partner noch Mängel hat. Bei einer derartigen Situation spricht man von einem Tandem. <?page no="107"?> 107 4.2.2. Lernen im Tandem Mit dem Begriff Tandem wird ursprünglich ein Fahrrad bezeichnet, das für zwei Personen konzipiert ist. Sie sitzen dabei hintereinander, die Tretkraft beider Fahrer wird gleichermaßen genutzt, um vorwärts zu kommen. Im fremdsprachlichen Kontext spricht man von einem Tandem bei Lernerpaaren, bei denen beide Lernende eine unterschiedliche Muttersprache besitzen, welche die Zielsprache des Gegenübers ist. Die Lernenden unterstützen sich gegenseitig beim Erwerb der jeweiligen Fremdsprache, beispielsweise hilft ein deutscher Polnischlernender einem polnischen Deutschlernenden und umgekehrt. Da die „Grundidee der gegenseitigen Abhängigkeit und Hilfe beim gemeinsamen Vorankommen” (Bechtel, 2003,15) dieser Lernpaare mit der des Fortbewegungsmittels übereinstimmt, wurde das Tandem als Metapher in den Sprachlernkontext für Sprachpaare übernommen. Doch die Metapher ist ein wenig trügerisch, denn während beim ursprünglichen Tandem lediglich der vordere Fahrer die Richtung bestimmen kann, da er das Tandem lenkt, zeichnen sich fremdsprachliche Tandems durch Gleichberechtigung aus: Beide Lernende müssen miteinander den Lernweg aushandeln und sich sowohl im Hinblick auf die Geschwindigkeit als auch die einzuschlagende Richtung einigen. Scherfer (1982) bezeichnet daher diese Form des Lernens als „Sprachlehr- und Sprachlernprozesse[...] auf Gegenseitigkeit”. Nach Brammerts und Hedderich (1998, 253) seien das „Lernerautonomieprinzip” und das „Gegenseitigkeitsprinzip” Merkmale des Tandemlernens. Das Gegenseitigkeitsprinzip besagt, dass beide Tandempartner in gleichem Maße zur gemeinsamen Arbeit beitragen und von der Zusammenarbeit profitieren sollen. Das setzt voraus, dass die Tandempartner bereit und in der Lage sind, ebensoviel für ihr Gegenüber zu tun, wie sie es von ihm erwarten. Das Prinzip der Gegenseitigkeit findet seinen Ausdruck zum einen darin, dass bei der Arbeit im Tandem beiden Sprachen gleich viel Zeit gewidmet wird, zum anderen darin, dass beide Tandempartner gleich viel investieren, was das Engagement für den Lernerfolg des Gegenübers sowie die Aufmerksamkeit betrifft, die seinen Ausdrucks- und Verständnisproblemen zukommt. (Bechtel 2003, 15) Das Lernerautonomieprinzip besagt, dass Lernende die Verantwortung für ihren Lernprozess selbst übernehmen und diesen eigenständig planen, durchführen und überwachen. Hierbei werden sie ihr Selbst-Management verbessern, was auch beinhaltet, dass sie die Fertigkeit besitzen, ihre individuellen Ziele zu bestimmen und zu erreichen (vgl. Kötter 2003, 36.). Da dieser Anspruch gerade für unerfahrene Lernende sehr hoch sein kann und Lernende, die in ihrem Tandem völlig auf sich gestellt sind, vielleicht scheitern könnten, <?page no="108"?> 108 gibt es unterschiedliche Formen der Unterstützung. Tandems können sowohl innerhalb eines institutionellen Rahmens stattfinden, als auch frei ablaufen. Tandems, die innerhalb eines institutionellen Rahmens ablaufen, werden auch als Tandemkurse bezeichnet. In Tandemkursen kommen zwei Lerngruppen zusammen, die zahlenmäßig idealerweise gleich groß sind, so dass es für jeden Lernenden aus der einen Gruppe einen entsprechenden Partner der anderen Lerngruppe gibt. Tandemkurse werden durch einen (oder mehrere) Kursleiter didaktisch angeleitet, es gibt Aufgabenstellungen und bei Problemen stehen die Kursleiter als Ansprechpartner zur Verfügung. Zudem kann es bei Tandemkursen zu unterschiedlichen Phasen kommen, so dass nicht immer im Tandem gearbeitet wird, sondern auch die beiden Lerngruppen für sich unterrichtet werden oder Gruppenarbeit stattfindet (vgl. Bechtel 2003, 26.). Das Lernen in einem Tandem weist sowohl Merkmale des gesteuerten (didaktische Leitung von außen durch Kursleiter, didaktische Rahmung von innen durch Absprachen der Tandempartner) als auch des ungesteuerten (natürliche, authentische, informelle Kommunikation) Lernens auf. Damit vereine sie für das Fremdsprachenlernen nach Rost-Roth (1991, 37) und Rösler (1994, 12f.) die Vorteile des natürlichen Zweitspracherwerbs mit dem Fremdsprachenlernen in einem institutionellen Kontext (vgl. Bechtel 2003, 23). Im Unterschied zu gelenkten Tandems stehen die freien Tandems, die ohne jegliche Steuerung von außen ablaufen. Diese Einzeltandems 47 müssen sich selbst organisieren und werden nicht betreut, lediglich die Vermittlung läuft über Sprachschulen, Foren oder andere Vermittlungsstellen. Die Entscheidung, wie stark die Steuerung eines Tandems von außen erfolgen soll, ist abhängig von verschiedenen Faktoren. Kötter (2003, 38) nennt die individuellen Bedürfnisse der Lernenden, ihren erreichten Grad an Autonomie, ihre vorangegangen Lernerfahrungen und ihren Grad der Beherrschung der entsprechenden Fremdsprache als derartige Faktoren. Neben der Organisationsform kann auch die Präsenz der Tandempartner als Unterscheidungskriterium herangezogen werden: So gibt es Tandems, bei denen die Partner vor Ort miteinander lernen und sich real treffen („Präsenztandem”, Brammerts und Little 1996), aber auch computervermittelte Tandems. Während sich diese zu Beginn noch vorrangig per E-Mail austauschten, nutzen Tandems heute alle Formen der Kommunikation via Internet wie Videotelefonie, Lernplattformen oder Web 2.0-Tools. 47 Je nach Literatur werden die Einzeltandems auch als Individualtandem (Herfurth 1993, 246-251, DFJW 1999, 11), freie Tandems (Müller 1988, 28; Ehnert 1987, 81) oder autonome Tandems (Brammerts 1993, 122; Brammerts & Hedderich 1998, 251) bezeichnet. Aufzählung nach Bechtel (2002, 15f.). <?page no="109"?> 109 Die verwendete Sprache und der Wechsel von einer Sprache in die andere muss in den Tandems ausgehandelt werden, bei Tandemkursen kann sie auch durch die Kursleiter vorgegeben werden. Grundsätzlich bestehen verschiedene Möglichkeiten, so können beide Lernende entweder in ihrer Muttersprache oder in ihrer Fremdsprache reden. Am didaktisch sinnvollsten 48 ist die Variante, in der beide Partner zunächst in der einen, später in der anderen Sprache kommunizieren, da hierdurch sowohl die Produktion als auch die Rezeption der Fremdsprache trainiert werden kann. Wird die Sprachverwendung nicht explizit vereinbart, sind zumeist spontane Wechsel von einer in die nächste Sprache zu beobachten, aus welchen sich ein „Sprachenmix” ergibt (vgl. Bechtel 2003, 31). Wie an den oben stehenden Ausführungen deutlich wurde, ist das Konzept des Tandemlernens vorrangig auf den reinen Spracherwerb bezogen diskutiert und untersucht worden. Diesbezüglich konnten positive Resultate ermittelt werden, da die Lernenden durch die Tandemsituation eine höhere Frequenz an fremdsprachlichen Redebeiträgen produzierten und sich die gleichberechtige Lernsituation positiv auf Sprachhemmungen auswirkte. Die Lernenden fühlten sich zum einen ihrem Partner gegenüber gleichberechtigt, so dass keine hierarchischen Beziehungen wahrzunehmen waren, die Hemmungen befördern. Zum anderen stellen Lerner fest, dass auch der Partner Fehler macht, was ebenfalls Hemmungen abbaut. Bechtel (2003) konnte in seiner Untersuchung nachweisen, dass sich das Tandemlernen auch als Modell für das interkulturelle Lernen eignet. Er betont die Individualität des Lernprozesses beim interkulturellen Lernen, welche daran deutlich werde, dass der Lernprozess in verschiedenen Tandems sehr unterschiedlich abgelaufen sei. Das interkulturelle Lernen sei ein individueller Lernprozess, welcher „prinzipiell nicht vorhersagbar und "von außen" nur „bedingt steuerbar “ (Bechtel 2003, 365) sei. Damit weist Bechtel auf die Perspektivität im interkulturellen Lernen hin (vgl. Kapitel 3.2.3): Jeder Teilnehmer nimmt die Welt aufgrund seiner eigenen Erlebnisse und Werte unterschiedlich war. Indem im Tandem jedem Lerner ein Vertreter der anderen Kultur gegenüber tritt, kann er dessen Perspektive kennen lernen. Diese ist konkreter als abstrakte Vorstellungen über die Werte einer Gruppe und kann vom Partner narrativ vermittelt werden (vgl. Biebighäuser & Marques-Schäfer 2011). Gerade aufgrund dieser individuellen Perspektive können Tandems 48 Mit Bezug auf das Gesamtsetting und den Fokus des Sprachtrainings. Je nach Aufgabenstellung kann es durchaus auch interessant sein, wenn beide Lerner ihre Muttersprache verwenden, um z.B. an inhaltlich anspruchsvollen Themen zu arbeiten. <?page no="110"?> 110 einen Mehrwert bieten: Sie können viel individueller agieren und auf die Perspektive des Einzelnen eingehen, als es Gruppendiskussionen vermögen. Zudem eignen sich Themen für Tandems sehr gut, die „sich auf den unmittelbaren Erfahrungsbereich der Tandempartner beziehen” (Bechtel 2003, 32). Alltagserfahrungen und kulturelle Besonderheiten sind damit für Tandems gewinnbringende Inhalte. Diesen Vorteil der Paarungen für interkulturelles Lernen konnte auch Tamme (2001, 198). feststellen. Tamme beschreibt das Verhältnis der Paarungen im von ihr Untersuchten Gießener Elektronischen Praktikum als gleichberechtigt, so dass es in dieser Hinsicht als Tandem beschrieben werden kann. Teilweise erfüllt das Projekt aber auch die Kriterien einer Tutorierungssituation, indem das Geben von Feedback und Korrekturen die deutsche Sprache betreffend einen wichtigen Teil des Austauschs der Gießener und Hongkonger Studierenden darstellt. Aufgrund der Erkenntnisse Bechtels und Tammes scheint die Gleichberechtigung der Partner ein wichtiger Aspekt für das interkulturelle Lernen in Paarsituationen zu sein: Durch die Gleichberechtigung beider Partner in einem Tandem findet der Austausch über beide Kulturen statt, in klassischen Tutorien sieht sich der Tutor als Experte und ‚belehrt’ den Tutee, eine Wechselwirkung wie im Tandem ist nicht anzutreffen. Doch gerade dieser wechselseitige Austausch ist für das interkulturelle Lernen von zentraler Bedeutung, da hierdurch die Perspektivenübernahme des anderen erst ermöglicht und die Empathie beider Teilnehmer befördert wird. „Kristallisationspunkte für interkulturelles Lernen finden sich […] dort, wo die Tandempartner Bezug aufeinander nehmen und eine Vermittlerrolle zwischen eigener und fremder Perspektive einnehmen” (Bechtel 2003, 365). Zusätzlich sind die Tandems selbst Orte, an denen interkulturelles Lernen seine Anwendung findet. Im Umgang mit dem Partner müssen die Teilnehmer selbst die Fähigkeit aufbringen, die Perspektive des anderen einzunehmen. Bechtel betont, dass Tandems immer vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Hintergründe beider Partner stattfinden. Zusätzlich zu diesen erwähnt er auch die Umgebung, an der das Tandem stattfindet und welche „für die Tandempartner entweder eine muttersprachliche oder fremdsprachliche Umgebung ist” (Bechtel 2003, 19.). Im Unterschied zu Präsenztandems, bei denen dies zweifellos der Fall ist, sind Tandems, die durch internetbasierte Kommunikation realisiert werden, hierbei ein Sonderfall: Es gibt keinen gemeinsamen geographischen Ort, an dem man sich befindet. Ein gemeinsamer Ort im kommunikativ-kulturellen Sinn muss von beiden Partnern erst konstruiert werden; findet diese Aushandlung nicht statt, erfolgt die Kommunikation miteinander ohne eine räumliche Bezugsgröße. Einen Sonderfall stellt diesbezüglich allerdings das <?page no="111"?> 111 vorliegende Szenario dar: In virtuellen Welten finden Tandempartner einen gemeinsamen Ort, auf den beide referieren können. Dieser Ort ist zwar nur digital, weist aber georeferenzielle Eigenschaften wie ‚oben’ und ‚unten’, ‚rechts’ und ‚links’ auf. Es gibt eine graphisch realisierte Umgebung, in der man sich bewegen kann und auf die man Bezug nehmen kann (zur Definition von virtuellen Welten vgl. Kapitel 4.3.1). Da die virtuelle Welt zudem für beide Partner ein ‚neuer’ Ort ist, der nicht auf ihrem kulturellen Hintergrund beruht 49 ist keiner der beiden Tandempartner im Vorteil; beide können sich gleichgestellt begegnen und der ‚dritte Ort’ 50 bietet die Möglichkeit, mit einer neuen Perspektive auf die eigene Kultur zu schauen. Im hier untersuchten Projekt werden Aufgaben von außen an die Lernenden heran getragen, so dass das gemeinsame Lernen nicht selbstbestimmt stattfindet. Allerdings agieren die Lernenden aus Gießen und Breslau gleichberechtigt miteinander, in dem Sinne, dass ein beidseitiges Lernen stattfindet. Obwohl die Gießener Teilnehmenden teilweise Muttersprachler des Deutschen sind und der Kultur angehören, deren Erinnerungsorte im Projekt aufgesucht werden sollen, kennen sie die Umgebungen und die Aufgabenstellungen nicht. Durch die Fragebögen und das gegenseitige Kennenlernen zu Beginn des Projektes wird diese gleichberechtigte Situation noch befördert. Es wird sich allerdings in Kapitel 6.4 zeigen, dass sich die Gießener Partner in einigen der untersuchten Gruppen verantwortlich für die Organisation der gemeinsamen Arbeit fühlten. Sie waren zwar inhaltlich keine Experten und die Wissensaushandlung fand gemeinsam statt, dennoch taten sich diese Studierenden dadurch hervor, dass sie Aufgabenstellungen aufgriffen, Ergebnisse zusammenfassten, Nachfragen stellten oder Absprachen einforderten. Die Auswirkungen dieser Gruppenmoderation werden in den Kapiteln 7 und 8 immer wieder beobachtet und diskutiert und abschließend in Kapitel 9 zusammengefasst. 4.3 Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten Das Medium nimmt immer auch erheblichen Einfluss auf die Lernprozesse, die in diesem Medium realisiert werden. Wie in den Forschungsfragen darge- 49 Zwar werden in der virtuellen Welt Bezüge auf real existierende Umgebungen genommen, diese sind aber aufgrund der comichaften Graphik und die Verwendung von Avatare verfremdet. Es wird daher davon ausgegangen, dass die Lerner hier bewusst anders agieren als in der Realität und den virtuellen Ort als solchen wahrnehmen, vgl. hierzu auch Kapitel 4.3.2. 50 vgl. zum Konzept des dritten Ortes Kramsch (1995). <?page no="112"?> 112 legt wurde, interessieren mich die Potenziale des Fremdsprachenlernens, insbesondere des landeskundlichen Lernens, in virtuellen Welten. Nachfolgende Ausführungen sollen den theoretischen Rahmen für die Auseinandersetzung mit dem Medium virtuelle Welt bilden. Dafür werden zunächst virtuelle Welten und das Konzept der virtuellen Realität, auf dem virtuelle Welten beruhen, im Hinblick auf ihre Entwicklung, ihre medialen Besonderheiten und ihre gesellschaftlichen Implikationen vorgestellt (Kapitel 4.3.1). Dann erfolgt die Darstellung der virtuellen Welt Second Life, in der die Untersuchung stattfand (Kapitel 4.3.2) Diese Darstellung erfolgt sowohl im Hinblick auf die Möglichkeiten der Sprachverwendung und Kommunikation (Kapitel 4.3.2.1) als auch bezogen auf die Darstellung kultureller Inhalte in virtuellen Welten (Kapitel 4.3.2.2). 4.3.1. Virtuelle Realität und virtuelle Welten Der Begriff ‚virtuelle Realität’ scheint widersprüchlich, besteht er doch aus zwei Antonymen. Das Wort virtuell kommt aus dem Lateinischen und bedeutet hier „der Kraft, dem Vermögen nach, potentiell” (vgl. Eisler 1910, 1676); in den Naturwissenschaften wird das Adjektiv virtuell genutzt, um etwas zu definieren, das gedacht ist und aufgrund „praktischer Schwierigkeiten nicht ausgeführt werden kann”. (Bormann 1994, 23). Das Duden Fremdwörterbuch definiert virtuell als „der Kraft oder Möglichkeit nach vorhanden” (vgl. Keil- Slawik, 1994, 207). Damit ist all jenes virtuell, was scheinbar vorhanden ist. Die Realität gilt als die erlebte Wirklichkeit. Marotzki und Nohl verweisen auf Alfred Schütz, der Begründer der phänomenologischen Soziologie. Solange es der Fall ist, dass wir etwas „[…]als fraglos gegeben annehmen und unsere Handlungen erfolgreich sind“ (Marotzki & Nohl 2004, 350), sei es für Schütz real. In der Philosophie hat die Diskussion um Realität seit jeher eine zentrale Rolle gespielt. Den Vertretern des Realismus zufolge gibt es eine objektive Realität, die sich für alle Menschen gleich darstellt und welche als verbindlich gilt. Im Gegensatz hierzu beschreibt der Idealismus die Realität als eine relative Wirklichkeit. Auch der Konstruktivismus weist darauf hin, dass sich jeder Mensch eine eigene Realität erschafft, welche durch seine Erfahrungen, Wertungen und Voraussetzungen beeinflusst wird. Übersetzt man nun beide Begriffe - virtuell und Realität - gemeinsam, bedeuten diese „scheinbare Wirklichkeit”. Diese Benennung ließe sich auf praktisch alle Massenmedien übertragen; sind Medien doch schon ihrer Bedeutung nach Vermittler (vgl. Kapitel 4.1). Medien bilden einen Teil der Wirklichkeit ab und transportieren diese oder erschaffen fiktive Wirklichkeiten. Castells (2001, 426) weist darauf hin, dass nicht nur die Medien, sondern <?page no="113"?> 113 jede Form der Kommunikation letztlich, die Wirklichkeit in Symbolen repräsentiert und damit interpretiert, um diese im Anschluss auszutauschen. Diese Sichtweise mündet schließlich in der Argumentation des Konstruktivismus, demzufolge jede Form der erlebten Wirklichkeit immer virtuell sei, da es die Wirklichkeit als solche nicht gebe, sondern sie immer unter dem Einfluss bisheriger Schemen gedeutet und interpretiert werde. Castells (ebd.) resümiert daher: Wenn also Kritiker der elektronischen Medien argumentieren, die neue symbolische Umwelt repräsentiere keine „Realität”, so beziehen sie sich implizit auf eine in absurder Weise primitive Vorstellung von einer „uncodierten” realen Erfahrung, die es nie gegeben hat. Alle Wirklichkeit wird durch Symbole kommuniziert. Es wurde gezeigt, dass strenggenommen alle Formen der Kommunikation und des Erlebens der Umwelt als virtuell umschrieben werden könnten. Doch mit virtueller Realität wird ein besonderes Feld der medial vermittelten Erfahrungen umschrieben: Unter Virtueller Realität (VR) werden Techniken verstanden, die es erlauben, einen Menschen unmittelbar in Computer-generierte Welten zu integrieren. Als Mensch-Maschine-Schnittstelle der Zukunft angesehen, sprechen Techniken der Virtuellen Realität mehrere Sinne des Menschen zugleich an, beispielsweise Gesichts-, Hör- und Tastsinn.‘ Kennzeichnen für Virtuelle Umgebungen sind dreidimensionale Präsentations- und Interaktionstechniken, die der Nutzerin / dem Nutzer den Eindruck vermitteln sollen, er befände sich innerhalb des dargestellten Szenariums. (Schulz-Zander 1997, 273) Im Unterschied zu traditionellen Massenmedien repräsentiert die virtuelle Realität also nicht nur eine Welt; sie soll dem Nutzer den Eindruck vermitteln, Teil dieser Wirklichkeit zu sein und ihm erlauben, innerhalb der virtuellen Realität zu agieren. Reinhard Keil-Slawik betont, dass virtuelle Realitäten aber nie den Eindruck erwecken wollen, die existierende Realität zu ersetzen: „Die Kraft des Virtuellen entfaltet sich nur, wenn man in Teilbereichen so arbeiten kann, ‚als ob’, sich dabei aber der damit verbundenen Einschränkungen und Idealisierungen bewusst ist” (Keil-Slawik 1994, 207). Dabei seien gerade die Reduktionen, die virtuelle Realitäten im Bezug auf die Wirklichkeit vornehmen, dafür verantwortlich, neuartige Erfahrungen machen zu können. Indem Gefahren, Umwelteinflüsse oder Naturgesetze in virtuellen Welten außer Kraft gesetzt werden, können Nutzer hierin so agieren, wie es in der Wirklichkeit nie möglich wäre. Er bringt dieses Potenzial virtueller Realitäten auf die Formel „Erweiterung von Erfahrung durch Reduzierung von Erfahrung” (Keil-Slawik 1994, 209). <?page no="114"?> 114 Das Konzept der virtuellen Realität wird in unterschiedlichen Projekten umgesetzt, die sich als virtuelle Umgebungen oder virtuelle Welten bezeichnen lassen. So futuristisch, wie das Konzept der virtuellen Welten anmutet, ist es aus Sicht der Entwickler gar nicht. Ginsu Yoon, Mitarbeiter der Second Life-Betreiberfirma Linden Lab meint hierzu: Virtuelle Welten sind Teil eines Trends, den es seit mindestens 20 Jahren in Form von interaktiven Netzwerken gibt - oder, wenn Sie es im größeren Maßstab betrachten, den es seit einigen 1000 Jahren gibt. Seit der Erfindung von Papier, seitdem Nachrichten auf Papier geschickt werden - bis hin zu den neuen elektronischen Formen der Kommunikation. Web 2.0, virtuelle Welten, nichts davon ist grundlegend neu, sondern nur der nächste logische Schritt. Wir haben einige Visionäre hier bei Linden Lab, aber die meisten von uns sind keine Visionäre. Ich auch nicht. Wir machen nur das, was uns offensichtlich erscheint. Für uns ist klar, dass der nächste Schritt bei der Kommunikation Umgebungen sind, in die man versinken kann, virtuelle Welten also. (zitiert nach Lober 2007,121) Nicht nur Software-Entwickler haben virtuelle Welten vorhergesehen: Die zukünftige Existenz von computergenerierten Welten wurde schon 1984 von William Gibson in seinem Science-Fiction Roman ‚Neuromancer’ beschrieben (Gibson 1984). Gibson war es auch, der den Begriff Cyberspace schuf. Cyberspace wird in den meisten Veröffentlichungen synonym zu Virtual Reality benutzt. Manche Definitionen betonen aber beim Cyberspace verstärkt den Charakter der Vernetzung, der in virtuellen Welten nicht zwangsläufig vorliegen muss. Der literarischen Vision Gibsons war die Entwicklung der MOOs vorangegangen. Die Abkürzung MOO steht für Object-Orientated Multiple-User Domains. MOOs sind simply a database, running on a server. When users sign on to a MOO they are dropped in to a text-based virtual reality; a database that is ‚divided’ into many rooms and locales. The user is virtually in this room and the room will have a description, may contain other objects [...] and allows synchronous communication with other users in the room. (Sanchez 1996,146) MOOs sind also textbasierte virtuelle Welten. Die erste MOO ‚The Land’ wurde 1979 in Anlehnung an das Rollenspiel ‚Dungeons and Dragons’ von Roy Trubshaw erschaffen (vgl. Rheingold 1992, 155). Man betrat einen Raum, der durch Beschreibungen dargestellt wurde und mit weiteren Räumen verbunden war. Auf der Suche nach magischen Objekten und Gegnern ‚durchschritt’ man den Raum, indem man verschiedene Befehle eingab und so in immer weitere Räume kam, in denen man auch mit anderen Nutzern interagierte. 1982 wurde mit LambdaMOO die erste öffentlich zugängliche soziale MOO <?page no="115"?> 115 geschaffen, in der sich hunderte Nutzer trafen und austauschten. Ihr Programmiercode war öffentlich zugänglich, so dass zahlreiche weitere MOOs auf Basis von LambdaMOO erstellt wurden, unter ihnen auch zahlreiche MOOs, die für Lernzwecke erstellt wurden (vgl. Kötter 2003, 48f.). 1989 wurde der Begriff Virtual Reality (VR) von Jaron Lanier, dem Gründer der Firma VPL, einer der wichtigsten Firmen für kommerzielle virtual realities, geprägt. Lanier fasst unter diesem Begriff Projekte zusammen, die einen Einblick in eine neue Welt ermöglichten. Dies geschieht durch interaktive Grafiken, die dreidimensionale Modelle erzeugen und die in Echtzeit veränderbar sind. Dreidimensionalität und Interaktion sind die zentralen Kennzeichen dieser Projekte, die man einzeln als virtuelle Welten bezeichnen kann. In seinem Buch Virtuelle Welten berichtet Howard Rheingold schon 1992 von seinen Erfahrungen, die er mit verschiedenen Formen der virtuellen Realität gesammelt hat. Rheingold bereiste dafür weltweit Forschungsinsitutionen, die sich mit VR beschäftigen und beschrieb die von ihm besichtigten und getesteten Projekte. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches waren VR noch ein sehr neues Forschungsgebiet, dennoch sagte Rheingold voraus: In der Zukunft wird man solche Erlebnisse mit weniger aufwendigen Technologien erzeugen können. Die Computer werden immer leistungsfähiger und zugleich preiswerter, so dass die Erfahrungen noch wirklichkeitsgetreuer sein werden Immer mehr Menschen werden dann in der Lage sein, in ihren Genuß zu kommen. (Rheingold 1992, 19) Die Projekte, die Rheingold besichtigte, waren in naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschungseinrichtungen angesiedelt. In ihnen wurde erforscht, wie man mittels spezifischer Hardware zu einem Teil einer virtuellen Welt wird und in dieser agieren kann. Mit Hilfe von Datenbrillen sieht man die simulierte Welt, mit speziellen Handschuhen kann man in dieser Welt agieren und virtuelle Gegenstände beeinflussen. So werden Mechaniker mit Hilfe dieser Form von virtuellen Welten geschult, um neue Autotypen zusammenzusetzen, die Eigenschaften von chemischen Teilchen werden selbst erfahrbar (vgl. Rheingold 1992, 16ff.) oder neuartige Operationsverfahren können trainiert werden. Im Unterschied zu virtuellen Umgebungen, die unter Zuhilfenahme von speziellen Geräten den Nutzer in die Welt selbst hinein versetzten, gibt es virtuelle Welten, die nur auf Software beruhen. Diese virtuellen Welten sind Computerprogramme, die eine wirkliche Welt simulieren. In ihrem Zentrum steht Televirtualität, die Verbindung von Telekommunikation und Virtuali- <?page no="116"?> 116 tät. 51 Der Nutzer sitzt vor dem Bildschirm seines Computers und schaut auf die virtuelle Welt. Häufig dient eine Figur - der sogenannte Avatar - als Repräsentant des Nutzers innerhalb der virtuellen Welt. Quasi durch die Augen des Avatars (oder auch über dessen Schulter) schaut der Nutzer in die virtuelle Welt, kann sich (bzw. den Avatar) hier frei bewegen und die Welt erforschen. Zum Bewegen muss der Nutzer aber weiterhin Computereingabegeräte wie Tastatur, Joystick oder Maus verwenden. Zudem blickt er auf dem Bildschirm und sieht auf diesem die virtuelle Welt abgebildet, ist aber nicht Teil der Welt. Eine tiefere Auseinandersetzung mit Avataren in technischer und soziologischer Hinsicht erfolgt in Kapitel 8.3.1, wo diese Auseinandersetzung als Basis der Diskussion um die Nutzung der Avatare innerhalb des Forschungsprojektes erfolgt. Diese softwarebasierte Form von virtuellen Welten fasst Bormann (1994) noch unter dem Terminus ‚künstliche Realitäten’ zusammen. Künstliche Realitäten erschaffen neue Welten, die sich nicht an die Gesetzmäßigkeiten der wirklichen Welt halten (müssen) und in denen die Umgebung frei gestaltbar ist. Zudem erfährt der Nutzer ein Erlebnis in der dritten Person, da er nicht selbst in der virtuellen Welt integriert ist (wie dies bei virtuellen Welten, die durch Datenbrillen virtuelle und wirkliche Welt überlagern möglich ist). Bormann weist darauf hin, dass ein Zusammenfallen dieser Begriffstrennung mit den Begriffen VR und Cyberspace zu erwarten ist. Dies ist bislang nicht eingetroffen. Vielmehr hat sich für virtuelle Welten ein weiterer Begriff, der des ‚Metaversums’ etabliert. Der Begriff Metaversum geht auf den Roman Snow Crash (Stephanson 1992) zurück. In dem Buch bezeichnet Metaversum eine parallele digitale Welt, die alle Lebensbereiche der realen Welt abdeckt: 51 Wie konkret und zutreffend die Erwartungen zu Beginn des virtuellen Zeitalters auch im Hinblick auf die technische Umsetzbarkeit virtueller Welten waren, zeigt sich an folgendem Zitat von Reinhard Keil-Slawik, das die Schaffung von virtueller Welten und Avataren (vgl. Kapitel 7.3.1) vorhersah: „Die technische Voraussetzung für die hier vorgestellte Offenheit verbirgt sich hinter dem Begriff Televirtualität (Televirtuality), der die Verbindung von Telekommunikation und computererzeugter Bildwelt bezeichnet. Die Kernidee besteht darin, statt der aufwendigen Übertragung komplexer Bilder lediglich symbolische Beschreibungen der in der Zeit erfolgten Veränderungen der Bilder zu übertragen. Jeder, der über die entsprechende Synthesesoftware verfügt, kann dann die Bilder vor Ort wieder zusammensetzen bzw. die jeweiligen Veränderungen berechnen. Aufwendige Breitbandnetze zur Übertragung größerer Datenströme werden nicht benötigt. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig; sie reichen vom gemeinsamen ‚erwandern’ einer Datenwelt von verschiedenen Orten aus bis zu der Möglichkeit, die an der Wanderung beteiligten Personen über graphische Clones, das sind aus einfachen graphischen Elementen zusammengesetzte Repräsentationen von Teilnehmern, miteinander in Verbindung treten zu lassen” (Keil-Slawik 1994, 224f.). <?page no="117"?> 117 Arbeit, Bildung, aber auch Freizeit und Kontaktpflege. Der Cyberspace war immer ein sehr technisch fixierter Raum, der durch Datenmengen und Codes repräsentiert wurde. Im Metaversum tritt diese ‚Backbone-Struktur’ vollends in den Hintergrund. Heute lässt sich feststellen, dass sich für softwarebasierte Anwendungen, die eine dreidimensionale Welt auf dem Computerbildschirm abbilden, der Begriff der virtuellen Welten durchgesetzt hat. Vor allem in der Unterhaltungsbranche werden diese virtuellen Welten genutzt. Virtuelle Gemeinschaften gelten als Weiterentwicklung von Chatrooms. In virtuellen Welten kann man neue Kontakte knüpfen, aber auch Schulungen durchführen oder an Konferenzen teilnehmen (siehe Kapitel 4.3.3). Im Englischen sind für derartige virtuelle Welten zwei Begriffe gebräuchlich: virtual worlds oder immersive worlds. a virtual or immersive world is an interactive environment often although not exclusively in 3D or animated graphics […]. These immersive worlds can be used by many users at the same time. (de Freitas 2008,7) Im Gegensatz zu den softwarebasierten virtuellen Welten werden virtuelle Umgebungen, die durch Datenbrillen oder -handschuhe das Erleben und Steuern in der Umgebung unmittelbarer machen, also die Projekte, die auch Rheingold besichtigte, als virtuelle Realitäten bezeichnet. Auch die virtuelle Realität hat Einzug in die Wohnzimmer gehalten: Spezielle Spielkonsolen filmen Bewegungen von Spielern vor dem heimischen PC oder Fernseher und übertragen diese auf die Spielfigur. Oder sie arbeiten mit Datenhandschuhen, -schlägern oder -brettern, die reale Bewegungen in das Videospiel übertragen. Ähnlich zu diesen Welten ist die Technik der Augmented Reality: 52 Dabei werden virtuelle Aspekte direkt in die reale Welt hineinprojiziert, Realität und Virtualität überlagern sich. So können Mechaniker anhand einer Datenbrille Hinweise zur Reparatur komplexer Automobiltechnik erhalten, indem die nächsten Schritte angezeigt werden (vgl. Zeiss, 2004). Auch für Operationen (vgl. Fischer-Colbrie, 2002) sind derartige Zusatzinformationen hilfreich. Für den Privatnutzer bieten sich Augmented Reality- Szeanarios ebenfalls an, so kann man über sein Smartphone Bilder der Umgebung machen, welche dann anhand von GPS-Standortdaten und Internetanbindung durch touristische Informationen angereichert werden. Entwicklungen wie diese lassen Marotzki und Nohl die Gegenüberstellung von Realität und Virtualität in Frage stellen: 52 Augmented Reality bedeutet wörtlich übersetzt erweiterte Realität; innerhalb der technischen Diskussion dominiert allerdings der englischsprachige Begriff, daher wird er im Folgenden beibehalten. <?page no="118"?> 118 Angesichts neuester und zukünftiger Entwicklungen muss allerdings in theoretischer Sicht die Frage gestellt werden, ob die Trennung von Realem und Virtuellem aufrecht zu erhalten oder besser von einer zunehmenden Verzahnung von virtuellen und realen Welten zu sprechen ist? ( Marotzki und Nohl 2004, 335) Im Zuge der Popularisierung virtueller Realitäten wurden immer stärker auch Kritiker laut, die die Gefahren von Virtualität für den Nutzer hervorhoben. Insbesondere der Missbrauch für pornographische, gewalttätige oder andere illegale Inhalte wurde betont. Ein prägnantes Beispiel hierfür sind unbemannte Militärflugzeuge, die sogenannten Drohnen, die heute bereits Alltag sind. Die Flugzeuge werden von Operatoren gesteuert, die tausende Kilometer vom tatsächlichen Einsatzort entfernt in einem Büro sitzen und die Umgebung des Flugzeuges per virtueller Realität erleben. Es entsteht der Eindruck eines Computerspiels, die Konsequenzen ihrer Einsätze sind allerdings äußerst real. In den USA werde heute schon mehr Operateure für unbemannte Flugzeuge als traditionelle Kampfpiloten ausgebildet (vgl. Marsike, 2010). Neben dem militärischen Einsatz haben virtuelle Welten auch für private Nutzer Konsequenzen. Eine Gefahr virtueller Welten wird mit dem Stichwort ‚Realitätsverlust’ umschrieben. Durch das Eintauchen in virtuellen Welten verschwimmen die Grenzen zwischen Virtualität und Realität. Gegner befürchten, dass Menschen von der virtuellen Welt abhängig werden könnten, da sie hier Dinge ausleben können, die ihnen in der realen Welt nicht möglich sind, und sich ein zweites Leben aufbauen. Diese Idee wird von Anderen aber auch positiv bewertet und wurde Namensgeber der noch immer größten und bekanntesten virtuellen Welt: Second Life. Second Life wird nachfolgend zunächst vorgestellt (Kapitel 4.3.2). Im Anschluss wird am Beispiel von Second Life die Bedeutung von virtuellen Welten für das Fremdsprachenlernen dargestellt, (Kapitel 4.3.2.1) nicht zuletzt, da dort zahlreiche Angebote für das Fremdsprachenlernen vorhanden sind. 4.3.2. Second Life Es gibt rund 80 virtuelle Welten für den privaten Unterhaltungsmarkt, wobei Second Life die bekannteste unter ihnen ist (vgl. De Freitas, 2008). Second Life gibt es seit 2003. Im Mai 2007 waren 6.860.473 Nutzer in Second Life registriert, wobei 507.844 hiervon regelmäßig aktiv waren (vgl. Hiller 2007, 5.) Fünf Jahre später, Am 25. August 2013, wurde die Marke der 35 Millionen Mitglieder von Second Life überschritten. 53 Dabei ist anzumerken, dass für diese Statistik alle registrierten Nutzer mitgezählt werden. Viele der Nutzer- 53 vgl. http: / / echtvirtuell.blogspot.de/ 2013/ 08/ 35-millionen-sl-anmeldungen.html. <?page no="119"?> 119 konten werden aber nicht mehr genutzt, zudem gibt es Nutzer, die mehrere Konten registriert haben, um sich mit unterschiedlichen Avataren ausleben zu können (vgl. Kapitel 8.3.1). Betrachtet man die Zahlen der Nutzer, die gleichzeitig angemeldet sind, ist ein Rückgang der Nutzerzahlen zu verzeichnen. Waren zu Höchstzeiten fast 20 000 Nutzer online, sind es heute noch um die 11 000 Nutzer. Damit ist Second Life keineswegs tot wie es in manchen Medien dargestellt wird, allerdings verschieben sich die Nutzungsgewohnheiten der User: Waren zu Anfangszeiten noch viele Nutzer in Second Life, um sich mit Fremden zu unterhalten, sind heute vor allem kulturelle, künstlerische oder wissenschaftliche Projekte und Veranstaltungen die Ereignisse, die Nutzer an sich binden können. Ökonomische Hoffnungen, wie sie von vielen Firmen verfolgt wurden, die in Second Life virtuelle Güter verkaufen wollten, erfüllten sich nicht, da hierdurch konnte kein großer Gewinn erwirtschaftet werden konnte. Auch aufgrund neuer virtueller Welten, die in der Navigation einfacher zu bedienen oder grafisch ansprechender sind, gehen die Nutzerzahlen weiter zurück 54 . Zum Erhebungszeitraum dieser Studie war Second Life allerdings die größte und bekannteste Plattform, zudem bot sie Inhalte, die für die vorliegende Untersuchung von Interesse waren (vgl. Kapitel 5.2.1). Für das Jahr 2007 stellte Hiller die Verteilung der Nutzer fest: Ein Großteil der Second Life-Nutzer kommt aus den USA (39,95%), gefolgt von Deutschland (11,74%), Frankreich (7,82%) und England (5,87%) (vgl. Hiller 2007, 5.). Wie bereits dargestellt sind Nutzer in Second Life durch Avatare repräsentiert. In Bezug auf die Gestaltung der Avatare sind die Nutzer sehr frei, sie können Aussehen und Geschlecht frei wählen. Hierfür stehen vorgefertigte Avatare zur Verfügung, die durch eine Vielzahl von Schiebereglern in Aspekten wie Größe der Augen, Lippenform, Breite der Hüften usw. modifiziert werden können. Zusätzlich kann man selbst Oberflächenstrukturen wie Haare oder Hautoberflächen programmieren oder in Second Life erwerben. So können auch komplette Avatare individuell gestaltet gekauft werden, sogar Tiere und Fantasiefiguren stehen zur Verfügung. Das Alter der Avatare ist standardisiert auf junge Erwachsene von ungefähr 30 Jahren. Mit entsprechend programmierten Haut- und Haarstrukturen sind aber auch jüngere oder ältere Avatare simulierbar, die jedoch recht selten anzutreffen sind. Die Mehrzahl von jun- 54 So haben sich auch die Betreiber des virtuellen Berlins, in dem ein Teil der Erkundungsgänge erfolgte, entschlossen, ihre Welt in Second Life zugunsten der neuen Plattform ‚Cloud Party’ aufzugeben (vgl. Horchert, 2013). Cloud-Party war browserbasiert, so dass keine Software installiert werden muss, zudem sind die Preise für virtuelles Land in Cloud Party sehr viel günstiger (vgl. Gallacher 2013). Cloud Party wurde allerdings an Yahoo verkauft und ist derzeit offline. <?page no="120"?> 120 gen Erwachsenen innerhalb der Gruppe der Avatare entspricht auch der größten Altersgruppe der Nutzer in Second Life: Die 25 bis 34-jährigen stellen 38.47% der Nutzer, gefolgt von den 18-24-Jährigen (27,34%) und den 35-44- Jährigen (21,13%) 55 . Für minderjährige Nutzer gab es zunächst eine eigene virtuelle Welt, Teen Second Life (auch als Teen Grid bezeichnet). Zu dieser Welt hatten nur Jugendliche sowie Pädagogen, die in dieser Welt Angebote für Jugendliche machen wollten, Zutritt. Grund für diese eigene Plattform war die in Second Life möglicherweise dargestellte Gewalt und Prostitution, welche den Jugendschutz gefährden könnten. Zum 31.12.2010 wurde der Teen Grid allerdings abgeschaltet und das Mindestalter für die Nutzung von Second Life auf 16 gesenkt. Laut Linden war Grund hierfür der Wunsch vieler Teenager, die weitläufigere Umgebung und den größeren Bestand an Waren, die im ‚Erwachsenen Grid’ zur Verfügung stehen, nutzen zu können. Innerhalb der Welt von Second Life können einzelne Umgebungen nun als nicht jugendfrei gekennzeichnet werden, so dass Nutzer unter 18 Jahren zu diesen keinen Zugriff erhalten. Umgekehrt gibt es aber keine Orte mehr, die ausschließlich für Jugendliche reserviert sind. Auch wenn Second Life durch die freie Gestaltung der Avatare und der Umwelt unbegrenzte Möglichkeiten mit sich bringt, ist ein wesentlicher Inhalt der virtuellen Welt das Kommunizieren der Nutzer untereinander: „Ohne Begegnungen mit anderen Avataren wirkt die virtuelle Welt von Second Life schnell langweilig und sinnlos, da sie auf Interaktion und Partizipation angelegt ist.” (Raith 2008, 10). Um Kontakt zu anderen Nutzern aufzunehmen, stehen diverse Kommunikationskanäle zur Verfügung: Es gibt einen Text-Chat und einen Voice- Chat. Beide Kanäle gibt es zum einen als öffentliche Chats, bei denen alle Avatare, die sich in Sichtweite des entsprechenden Avatars befinden, die Äußerungen lesen bzw. hören können, aber auch als private Chaträume, in denen man gezielt andere Nutzer, die gerade online sind, kontaktieren kann, selbst wenn diese sich nicht in unmittelbarer Nähe befinden. Diese Möglichkeiten reagieren auf das Problem, dass in Second Life nicht nur die zeitliche, sondern auch die räumliche Präsenz der Avatare relevant ist. Um den Voice- Chat zu nutzen, benötigt der Nutzer lediglich ein Mikrofon, das er an seinem Computer anschließt. Über einen Knopf im Menü von Second Life kann er das Mikrofon aktivieren und damit den Voice-Chat nutzen. Beim öffentlichen 55 Hier ist anzumerken, dass die erste Altersspanne nur sechs Jahre umfasst, die darauf folgenden zehn Jahre. Statistisch verfälscht dies die prozentuale Zuordnung der Second Life Nutzer in den Gruppen. <?page no="121"?> 121 Voice-Chat können ihn daraufhin alle Nutzer hören, deren Avatare sich in Sichtweite des Avatars befinden. Dabei nimmt die Lautstärke proportional zur Nähe zum Avatar zu, so dass auch hierdurch das Gefühl der Räumlichkeit verstärkt wird. Beim Voice-Chat bleiben die Mikrofone aller Nutzer stets offen, so dass prinzipiell alle gleichzeitig reden könnten. Für die asynchrone Kommunikation gibt es Instant Messages, die wie E- Mails zielgerichtet an einen bestimmten Avatar gesendet werden können und vom Nutzer empfangen werden, wenn er sich das nächste Mal in Second Life einloggt. Es gibt auch Gruppen in Second Life, die sich zu den verschiedensten Themen bilden und wie in einem Forum durch den Gruppenchat miteinander reden können. Neben den hier gezeigten Kommunikationskanälen gibt es noch die Möglichkeit, mit Notecards Informationen zu verteilen. Notecards sind frei gestaltbare Dokumente, die man zum einen zielgerichtet an einzelne Nutzer verteilen kann. Durch automatische Notecard-Spender kann man zum anderen jedem Avatar, der einen Ort betritt, an dem ein solcher Spender steht, automatisch eine Notecard aushändigen. Damit können über Notecards beispielsweise Informationen zur Umgebung vermittelt werden. Der Inhalt der Notecards kann frei gestaltet werden, so dass sie nur wenige Zeilen, aber auch umfangreichen Text oder Links enthalten können. Diese Notecards, vor alle aber die parallele Existenz von Text-Chat und Voice-Chat, waren für die in dieser Arbeit untersuchten Begegnungen von großer Bedeutung. In Kapitel 7.1 wird ausführlich die unterschiedliche Verwendungsweise der beiden Chat- Varianten untersucht. Die virtuelle Welt wird von den Nutzern selbst gestaltet. Man kann Land anmieten, auf dem man dann Landschaften oder Gebäude erschaffen kann. Auf eigenem Land oder hierfür freigegebenen Orten ist es den Nutzern darüber hinaus erlaubt, Gegenstände zu entwerfen. Landschaften wie auch Gegenstände sind dreidimensional und können im Anschluss von den Avataren betreten, betrachtet und benutzt werden. Erzeugte Gegenstände können von einem Nutzer den Anderen zur Verfügung gestellt werden, entweder kostenlos oder gegen einen frei festlegbaren Preis. Denn Second Life hat ein Wirtschaftssystem mit eigener Währung - den Linden Dollars. Diese kann man entweder mit Kreditkarte kaufen oder in Second Life erwerben, indem man selbst Güter verkauft oder seinen Avatar Tätigkeiten verrichten lässt, die mit Linden-Dollar entlohnt werden. So gibt es beispielsweise Orte, bei denen der Aufenthalt von Avataren finanziell entlohnt wird. Dies ist eine effektive Werbemaßnahme, da in der Weltkarte von Second Life angezeigt wird, an welchen Orten sich viele Avatare befinden. Dies suggeriert eine aktive Community oder eine interessante Veranstaltung; weitere Nutzer werden hierdurch angelockt. <?page no="122"?> 122 Mit der Erstellung der Umgebung durch die Nutzer geht Second Life einen Schritt weiter als bisherige Web 2.0-Anwendungen. Im Web 2.0 können sich Internetnutzer einbringen, indem sie selbst Texte verfassen können, Bilder oder Videos hochladen und derartige Produkte anderer Menschen kommentieren können (vgl. Kapitel 4.1). In Second Life kommen zu diesen bisherigen medialen Produkten dreidimensionale Abbilder von Gegenständen oder ganze Umgebungen hinzu, die der Avatar betrachten oder durchlaufen kann. Die Nutzer erstellen nicht nur Inhalte der Plattform, sie können die Plattform selbst gestalten. Auch kann man in Second Life andere Nutzer, die gerade am selben virtuellen Ort sind und die gleichen Inhalte rezipieren sehen, und mit ihnen interagieren. Durch die dreidimensionale Umgebung ermöglicht Second Life das Eintauchen in die virtuelle Welt. Dieses Phänomen des Eintauchens wird als Immersion bezeichnet (vgl. Kapitel 8.3.1). Aufgrund der Immersion resultiert für die Interaktion mit anderen Nutzern, dass diese viel unmittelbarer ist als bisherige Formen der computervermittelten Kommunikation. Durch die Präsenz des Avatars des Gesprächspartners kann man diesen bei der Kommunikation fokussieren, man kann im Gespräch auf Aspekte der Umgebung verweisen und damit einen gemeinsamen Bezugsrahmen konstruieren. Raith bezeichnet diesen Effekt der dreidimensionalen Umgebung auf die Kommunikation als „Eindruck einer echten Begegnung” (Raith 2008,11). Für meine Untersuchung wichtig war, dass in Second Life Orte wie die Berliner Mauer oder der Ausschnitt einer Straßenszene mit Kaufhaus und Wohnungen aus der DDR bereitstanden, so dass an diesen Orten Begegnungen mit landeskundlichem Fokus von multinationalen Kleingruppen stattfinden konnten. All diese genannten Aspekte von Second Life scheinen vielversprechend für Bildungsprozesse zu sein. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, in wieweit sich Second Life für Lernkontexte und insbesondere für das Fremdsprachenlernen eignet. 4.3.3. Second Life als Fremdsprachenlernumgebung Nachdem im Jahr 2007 ein wahrer ‚Second Life-Boom’ ausgebrochen war, bei dem viele Firmen in Second Life strömten, haben sich diese mittlerweile zurückgezogen, wohingegen Bildungsinstitutionen weiterhin in Second Life präsent sind - wenn auch nicht mehr in dem Umfang, in dem sie in den Jahren 2007 und 2008 in Second Life anzutreffen waren Insbesondere amerikanische Universitäten eröffneten damals einen virtuellen Campus in Second Life, zwischenzeitlich waren 80 staatliche Bildungseinrichtungen in Second Life zu finden, welche unterschiedlichste Zielgruppen ansprachen und aus diversen Herkunftsländern kamen. Die meisten der Schulen und Hochschulen sind <?page no="123"?> 123 mittlerweile nicht mehr in Second Life zu finden. Vermutlich resultierte aus einer Phase des Experimentierens mit dem neuen Medium die Einsicht, dass der Nutzen, den die Institutionen aus Second Life ziehen, den Kosten nicht gerecht werden konnte. Weiterhin nutzen viele Lehrer und Wissenschaftler Second Life aber als Plattform des Austauschs mit internationalen Kollegen. Ein derartiger Austausch erfolgt z.B. in der jährlich stattfindenden Konferenz der Fremdsprachenlehrer in Second Life - der Slanguages. 2009 waren auf dieser Konferenz 359 Fremdsprachenlehrer aus der ganzen Welt anwesend. Aufgrund der unterschiedlichen Zeitzonen dauerte die Konferenz 24 Stunden. Die Anwesenden tauschten sich in Vorträgen und Workshops über die Potenziale von Second Life im Unterricht aus und erlernten in Workshops neue Techniken, die sie im Unterricht in Second Life einsetzen können (vgl. Dudeney 2009) . Lernanlässe gibt es in Second Life auf unterschiedlichen Ebenen. So können Simulationen durchgeführt werden, bei denen beispielsweise medizinisches Personal in der virtuellen Welt einen Notfall trainiert. Es können Modelle erstellt und mit Hilfe des Avatars erkundet werden. So existiert ein Modell des Sonnensystems ebenso wie chemische Verbindungen. Second Life besitzt mit Sloodle eine Schnittstelle zur Lernplattform Moodle (vgl. Biebighäuser 2012a). Es können Kurse aus Second Life heraus belegt werden und Aktivitäten in der virtuellen Welt können mit der Moodle-Plattform verknüpft werden. So lassen sich virtuelle Blended Learning-Szenarien durchführen 56 . Die grundsätzlich sehr offenen Möglichkeiten von Second Life für Bildungsprozesse sind didaktisch aber doch stark eingeschränkt. Michael Lange kommt zu dem Ergebnis, dass Second Life weniger für den „Transfer von Faktenwissen” geeignet sei, vielmehr seien Lernprozesse, bei denen die soziale Interaktion im Vordergrund stehe geeignet, in die virtuelle Welt übertragen zu werden (vgl. Lange 2008, 256). Nattland teilt diese Einschätzung und begründet das kommunikative Potenzial von Second Life mit der Immersion, welche „für eine intensivere Teilnahme am Geschehen und einen höheren Grad der Bindung zwischen den einzelnen Teilnehmern” (Nattland 2008, 9) sorge. Hierdurch scheinen virtuelle Welten gerade für Kooperationsprojekte mit Teilnehmenden an unterschiedlichen Orten vielversprechend zu sein (vgl. Falloon, 2010, 109). So können Simulationen durchgeführt oder gemeinsam 56 Für Lernende, die in Second Life autonom ein Angebot suchen wird dies durch de fehlende didaktische Konzeption der virtuellen Welt erschwert: Es gibt kein systematisches Verzeichnis aller Lehrangebote in Second Life. Man hat lediglich die Möglichkeit durch eine Stichwortsuche entsprechende Angebote zu finden, wobei man hier auf die Formulierung der passenden Schlüsselwörter auf Seiten des Anbieters und des Nutzers angewiesen ist. <?page no="124"?> 124 dreidimensionale Modelle betrachtet werden. Im traditionellen E-Teaching wurde von Teilnehmern oft der mangelnde Austausch innerhalb der Gruppe kritisiert (vgl. Apelt & Kraft 2003, 10; Da Rin 2005, 149). In Second Life wird die gemeinsame Anwesenheit besonders realitätsnah simuliert. Das Potenzial von virtuellen Welten für den Fremdsprachenunterricht lässt sich in zwei inhaltliche Bereiche unterteilen: den schon hervorgehobenen Kommunikationsaspekt und den Kulturaspekt. Bereits erschienene Artikel unterstreichen vor allem die Kommunikationspotenziale, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Im Anschluss sollen auch Potenziale für das kulturelle Lernen dargelegt werden, 4.3.3.1. Second Life als Kommunikationsplattform In der virtuellen Welt können Lernende in ihrer Fremdsprache mit Muttersprachlern oder anderen Lernenden interagieren. Hierbei wird die Sprache Mittel zum Zweck. Die Sprachverwendung steht nicht im Fokus, sie wird notwendig, um sich in der virtuellen Welt mitteilen zu können und mit anderen zu interagieren. Dabei geben die Lernenden von sich selbst nur so viel preis, wie sie möchten; der Avatar mit fiktivem Namen und Identität steht zunächst im Vordergrund. Hierdurch, und aufgrund des spielerischen Charakters von virtuellen Welten, werden die Hemmungen der Lernenden abgebaut (vgl. Beck 2008, 3). Es droht kein Gesichtsverlust für die Lernenden, wenn sie die Fremdsprache fehlerhaft anwenden, da gewissermaßen der Avatar agiert, nicht die Lernenden selbst 57 . Zudem lassen sich in virtuellen Welten verschiedenste Redeanlässe schaffen und Gespräche werden authentisch, da sie die Grenzen des Klassenraumes überwinden. Virtuelle Welten bieten vielfältige Kommunikationskanäle. Neben dem Text-Chat steht auch ein Voice-Chat zur Verfügung. Es können Privatnachrichten versendet werden und Internetseiten, Videos und Bilder auf entsprechende Projektionsflächen in die virtuelle Welt eingebunden werden. Damit 57 Der Aspekt der Vermeidung des Gesichtsverlusts ist ein häufig diskutiertes Konzept im Fremdsprachenerwerb und führte zu einer Reihe sogenannter alternativer Methoden, vorrangig der Dramapädagogik, die seit Ende der 80er Jahre im Fremdsprachenunterricht diskutiert wird (vgl. z.B. Bolton 1979, Schewe 1993, Müller 2008). Durch dramapädagogische Elemente, wie der Schaffung ‚neuer Identitäten’ in der Zielsprache für Fremdsprachenlerner soll der Aspekt des Anderen, der redet, auch hier aufgegriffen werden. Eine noch deutlichere Verbindung zu virtuellen Welten wird bei der Verwendung von Masken deutlich, hinter denen sich Lernende verbergen können, wenn sie in der Zielsprache agieren (vgl. Dufeu 1994). <?page no="125"?> 125 bieten sie für den Sprachunterricht zahlreiche Möglichkeiten, Sprache zu rezipieren und zu produzieren. Der Voice-Chat ermöglicht es den Lernenden, eine beinahe authentische Gesprächssituation zu schaffen und die im Unterricht bislang wenig geförderten Kompetenzen Sprechen und Hören zu schulen. Neben den unterschiedlichen Kommunikationskanälen werden auch durch Visualisierungen zahlreiche Informationen angeboten. Virtuelle Welten sprechen so verschiedene Lernertypen an (vgl. Foremann 1999). Peterson (2005) hat Kommunikationsvorgänge von Fremdsprachenlernern in virtuellen Welten untersucht. Hierbei wurden 15 japanische Englischlerner eines universitären Englischkurses dazu aufgefordert, in der virtuellen Welt Active Worlds über die verschiedenen Möglichkeiten des Englischerwerbs zu diskutieren. Peterson konnte beobachten, dass die Teilnehmer verschiedene kommunikative Möglichkeiten der Avatare nutzen. Sowohl parasprachlich (indem sie anderen Avataren zuwinkten), vor allem aber durch den Text-Chat innerhalb der virtuellen Welt. Hierbei konnte beobachtet werden, dass Strategien des traditionellen Chattens auf die virtuelle Welt übertragen wurden 58 . So wurde häufig mit Abkürzungen gearbeitet, und einzelne Sprachbeiträge wurden in unterschiedliche Beiträge aufgeteilt, um das schnelle Absenden von Redebeiträgen zu ermöglichen. Zudem wurde durch Adressatennennung innerhalb der Äußerungen signalisiert, an wen sich die Äußerung richtet. Peterson stellt fest, dass die Lernenden weniger mit der Erfüllung der gegebenen Aufgabe beschäftigt waren, was auch mit der neuen Umgebung zu tun hatte: So hatten die Lernenden Probleme mit der Navigation und konzentrierten sich vielmehr auf die neue Umgebung. Peterson kommt daher zu dem Ergebnis: „projects involving virtual worlds require computer literate students and a period of preparation” (Peterson 2005, 38.) Wie wichtig diese Medienkompetenz der Lernenden für das Gelingen der Kommunikation ist, wird beispielsweise in Kapitel 6.4.2.1 deutlich werden. Dennoch sieht Peterson großes Potenzial in virtuellen Welten. Raith weist darauf hin, dass Peterson zu dem Ergebnis kommt, dass „der Erwerb einer Fremdsprache durch Interaktionen in chatbasierten Welten gefördert werden kann.” (Raith 2008, 10). Insbesondere Interaktionsmuster wie das Negieren von Vermutungen und metakognitive Lernstrategien würden durch den Einsatz virtueller Welten von den Lernenden herausgebildet werden: In terms of supporting second language acquisition, studies claim that real time interaction in virtual environments offers a number of potential benefits to language learners. These include target language-based learning interactions and collaborative knowledge construction involving a wider range of in- 58 vgl. hierzu auch Kapitel 7.1. <?page no="126"?> 126 terlocutors than is possible in many conventional learning contexts. (Peterson 2005, 29). Auch Antonacci et al. (2008, 4.) kommen zu dem Ergebnis, dass Lernende in virtuellen Welten sehr komplexe geistige Leistungen erbringen, wie das Interpretieren, Analysieren, Entdecken, Bewerten, Schauspielern und Problemlösen. Werden Aufgaben in Gruppen gelöst, müssen diese komplexen Vorgänge verbalisiert werden, wodurch die Fremdsprache anwendungsbezogen auch in komplexen Redeanlässen verwendet wird. Für die kollaborative Arbeit hat Second Life darüber hinaus den Vorteil, dass aufgrund der Visualisierung der Teilnehmer durch die Avatare ein Gefühl von Nähe und Gemeinsamkeit entsteht. Die Lernenden erfahren, dass sie zeitgleich mit ihrem Partner an einem Ort sind, sie können sich (bzw. ihren Avatar) im gleichen (virtuellen) Raum wie ihren Kooperationspartner (bzw. dessen Avatar) sehen und erleben. Auch dies kann sich positiv auf die Fremdsprachenverwendung der Lernenden auswirken. Die Umgebung befördert also die Kommunikation der Lernenden untereinander, sie baut die Hemmungen der Lernenden in der Fremdsprachenverwendung ab, aber sie kann auch selbst Gegenstand von Kommunikationsprozessen werden. Die von Nutzern erstellten Gegenstände und Landschaften eignen sich in besonderem Maße dazu, in Lernprozesse eingebunden zu werden, sie dienen als Anschauungsobjekte und Gesprächsanlässe: A further novel feature of this environment is the authoring component, that enables users to create trough programming, immersive virtual worlds that utilize advanced 3D graphics. This feature of Active Worlds facilities the creation of online learning objects that encompass communication via chat. (Peterson 2005, 31) Virtuelle Welten haben deshalb das Potenzial, gleichzeitig Begegnungsort und Materiallieferant zu sein und damit ein besonders hohes Immersionspotenzial 59 . Dies wird in Kapitel 8.4 ausführlich behandelt werden. Durch diese 59 Rösler beschreibt hierzu bereits im Jahr 2000 ein - noch immer - utopische Szenario in der die Kommunikation von Zielsprachensprechern und Fremdsprachenlernern ersetzt wird „durch ein komplettes vielfach verzweigten Cyber-Skript, das dem Lernenden zu jedem Zeitpunkt die Wahrnehmung des ungesteuerten Fern- Erlebenes gibt, obwohl er sich in einer in diesem Umfang noch nie dagewesenen Weise in einem gesteuerten Lernprozess befindet. Alle Kommunikationspartner in der virtuellen Welt, alle landeskundlichen Informationen, alle Verhaltensweisen, interkulturellen Mißverstehens- oder Glückmomente usw. wären in dieser Variante durchgehend simuliert. Wahrnehmbar wären entweder Kunstfiguren und künstliche Räume oder aufgenommene authentische Originaltöne, -bilder und schauplätze, die aber bearbeitet wurden und dem Primat des Gesteuerten unterlie- <?page no="127"?> 127 Gleichzeitigkeit von Materialpräsentation und Begegnungsort bietet Second Life auch die Möglichkeit des landeskundlichen und des interkulturellen Lernens. Die besonderen Potenziale virtueller Welten für das kulturelle Lernen sollen im Folgenden aufgezeigt werden. 4.3.3.2. Second Life als Kulturplattform Virtuelle Welten bieten mit ihren reichhaltigen Umgebungen interessantes Material auch für das Kennenlernen kultureller Besonderheiten. Nachbauten berühmter Sehenswürdigkeiten können besucht werden, so gibt es in Second Life einen Nachbau des Kölner Doms, der Münchner Innenstadt und vieler zentraler Plätze Berlins wie den Alexanderplatz oder das Brandenburger Tor. Insgesamt wurden Teile von fünf deutschen Städten in Second Life nachgebaut 60 , die sich zu ‚Germany in 3D’ zusammengeschlossen haben. Allerdings ist dazu anzumerken, dass diese Ore mittlerweile nicht mehr existieren. Lediglich das virtuelle München ist zu diesem Zeitpunkt noch erhalten Es gilt zu beachten, dass es neben diesen modellhaften Nachbauten auch virtuelle Orte gibt, die zwar den Namen von real existierenden Orten tragen, diese aber in keiner Weise widerspiegeln. So existiert zwar ein Schloss Neuschwanstein, dieses ist aber eine fantasiereiche Ritterburg, die für historische Rollenspiele verwendet wird und dem echten Schloss Neuschwanstein nicht im Geringsten ähnlich sieht. Auch ein Ort mit Namen Hamburg existiert, dieser ist allerdings nur ein kleines Fischerdorf mit südländischem Flair. Wie bei Materialien, die im Zuge des Web 2.0 im Internet zur Verfügung stehen, muss auch in gen, oder gefilmte schauspielerische Leistungen wie in einem Sprachlernfilm, den die Lernenden sich nun allerdings nicht mehr ansehen, sondern in den sie direkt hineinsteigen. Sie bewegen sich scheinbar völlig frei in einer zielsprachigen Umgebung, die auf ihr sprachliches und nicht-sprachliches Verhalten reagiert und entsprechende Konsequenzen zieht, die sich über ihre landeskundliche Unkenntnis amüsiert oder ihnen hilft, sie zu verringern, die ihnen freundlich gesinnt ist oder auch nicht usw. Das vielfach verzweigte Skript reagiert quasi-natürlich auf ihre Äußerungen und Handlungen, es läuft also nicht ein Film ab, sondern die Lernenden laufen einen Film ab.“ (Rösler 2000, 129). 60 Hierbei handelt es sich um die Städte Berlin, Frankfurt, Köln, München und Koblenz, wobei mit Ausnahme Münchens alle Orte - einschließlich Berlin mit den in dieser Studie verwendeten Simulationen der DDR Umgebung und des Brandenburger Torszum Ende dieser Studie im Januar 2014 nicht mehr zur Verfügung standen. Da jeder Ort je nach Größe monatliche Kosten verursacht und diese Projekte meist privat betrieben werden, kommt es immer wieder dazu, dass Orte wieder von der virtuellen Landkarte verschwinden. Die Betreiber von Germany 3D haben ihre Bemühungen nun auf die neue virtuelle Welt ‚Cloud Party‘ konzentriert, vgl. Fußnote 56 und Gallacher (2013). Diese wurde allerdings kurze Zeit später geschlossen. <?page no="128"?> 128 Second Life sehr genau geprüft werden, in wieweit es sich bei den in Second Life erstellten Orten um ‚korrekte’ Nachbauten von realen Orten handelt oder ob das Material ‚falsch’ ist, da die Autoren nicht bekannt sind 61 . In nachgebildeten Städten tummeln sich in Second Life häufig Nutzer, die wirklich aus diesen Städten oder zumindest den entsprechenden Ländern stammen. Lernende können Kontakt zu Nutzern aus dem Zielsprachenland aufbauen und so authentische Einblicke in die Lebenswelt des Zielsprachenlandes erhalten. Auch Raith betont, dass Second Life keine Spielwelt ist, sondern dass die kulturellen Hintergründe der Nutzer von Bedeutung sind und sich in der virtuellen Welt widerspiegeln: Die virtuelle Welt von Second Life kann man als interkulturell bezeichnen. Das zeigt sich daran, dass es sowohl Repräsentationen von Kulturen und Sprachen gibt, wie sie in der echten Welt vorkommen, als auch Bewohner, die zwar als Avatare neutral sind, aber in Wirklichkeit vielfältige kulturelle und sprachliche Hintergründe haben. (Raith 2008, 11) Obwohl dieses Potenzial augenscheinlich ist, gibt es bislang nur wenige Untersuchungen zum kulturellen Lernen in virtuellen Welten. O’Brian und Levy (2008) führten eine Studie in einem Deutschkurs aus 42 Studierenden der Universität Calgary (Kanada) durch. Diese wurden in einer extra für die Erhebung erstellten virtuellen Abbildung der österreichischen Stadt Salzburg 62 mit dem Lösen einer Aufgabe betraut, die an Computerspiele erinnert: Die Tochter des Bürgermeisters wurde entführt und indem sie entsprechenden Hinweisen auf Nachrichten oder in gesprochenen Dialogen nachgehen, sollen die Lernenden das Mädchen finden und befreien. Eigentlicher Untersuchungsgegenstand der Erhebung war aber, in wieweit die Lernenden hierbei kulturelle Praktiken und Produkte aus Österreich wahrnehmen und Ähnlichkeiten und Unterschiede zur kanadischen Kultur feststellen. Dieser Fokus wurde den Lernenden zunächst vorenthalten. Im Nachhinein sollten sie einen Fragebogen ausfüllen, bei dem unter anderem erhoben wurde, welche Aspekte der virtuellen Umgebung sie erinnern. Hierbei wurden vor allem Gebäude, 61 Es gibt virtuelle Welten, in denen der Nutzer die Umgebung nicht selbst erstellen kann. So ist die virtuelle Welt von Twinity vorgegeben und entspricht einem Teil der Berliner Innenstadt, der ständig erweitert wird. Hier können die Nutzer davon ausgehen, dass Berlin wirklich korrekt nachgebildet wird. Allerdings ist es hier dann auch nicht möglich, didaktische Orte wie virtuelle Museen einzurichten, die für die hier dargestellte Erhebung bedeutsam sind. Da sich diese Umgebung zudem zum Erhebungszeitraum noch im Aufbau befand (die offene Betatestphase begann im September 2008), wurde Twinity nicht als Untersuchungsort gewählt. 62 Dieser Nachbau wurde mit dem Programm Autodesk 3ds MAX erstellt und in die Entwicklungs- und Implementierungsplattform Virtools importiert. <?page no="129"?> 129 der Marktplatz und das Kopfsteinpflaster genannt, welche im Gegensatz zu den kanadischen Stadtbildern stünden, in denen es keine abgeschlossenen Marktplätze und erst recht kein Kopfsteinpflaster und alte Gebäude gebe. Es wurden aber auch Gemeinsamkeiten genannt, wie die Namen der Geschäfte, das gleiche öffentliche Transportsystem und die Art der Wegbeschreibung von Passanten. Damit wurden von den Lernenden, ohne dass hierauf besondere Aufmerksamkeit durch die Aufgabenstellung gelenkt wurde, sowohl Produkte als auch Praktiken des zielsprachigen Kulturkreises erinnert; es konnten Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt werden. O’Brien und Levy hoben hervor, dass die Studierenden zudem durch die Art der Antworten 63 deutlich machten, dass sie sich in die virtuelle Umgebung hinein versetzt hatten. Sie kommen zu dem Ergebnis: “Students clearly showed that they experienced the target culture in new and meaningful ways” (O’Brien & Levy, 2008, 679). Während in diesem Beispiel das landeskundliche Lernen in einem Spiel quasi nebenbei erfolgte, wird es in meiner Untersuchung zum zentralen Gegenstand: Erinnerungsorte werden von multinationalen Tandems und Tridems aufgesucht, sie nehmen Nachbauten historisch relevanter Orte wie das Brandenburger Tor und alltagsrelevante Orte wie eine Kaufhalle wahr, sehen zeitgenössische Fernsehnachrichten und Nachbildungen künstlerischer Auseinandersetzungen mit der Geschichte wie Ausschnitte der Eastside Gallery und tauschen sich dabei über ihre Avatare zu dem Erlebten aus. 63 „the city feels a lot older” (O’Brien und Levy 2008, 678; Hervorhebung im Origial, K.B.) <?page no="131"?> 131 Teil II: Methodisches Vorgehen In diesem Teil soll die Methodik des Forschungsprojektes dargestellt werden. Dabei orientiert sich die Darstellung an der Einteilung qualitativer Forschung nach Flick (2008), der fünf aufeinanderfolgende Schritte beschreibt: Festlegung des Untersuchungsdesigns, Datenerhebung, Datenaufbereitung, Datenanalyse sowie Ergebnispräsentation. 5. Zur Empirie der Untersuchung: Grundlagen qualitativer Forschung, die Form der Daten sowie ihre Erhebung, Aufbereitung und Auswertung Bevor ich mich dem Design der vorliegenden Untersuchung zuwende, werden zunächst allgemeine Aspekte der qualitativen Forschung diskutiert, die bei dieser Ausgestaltung von Relevanz waren (Kapitel 5.1). Anschließend wird die Gestaltung und Festlegung des Untersuchungsdesigns hinsichtlich des Untersuchungsmediums und der Teilnehmergruppen beschrieben (Kapitel 5.2). In einem dritten Teilkapitel folgen die Darstellung der Datenerhebung sowie der unterschiedlichen Formen der erhobenen Daten (Kapitel 5.3). Da die Datenaufbereitung und die Methode der Datenanalyse einander beeinflussen, werden sie gemeinsam dargestellt (Kapitel 5.4). Die aus der Datenanalyse gewonnenen Ergebnisse werden in den folgenden Kapiteln der Arbeit (Kapitel 6 bis 8) dargestellt. 5.1. Qualitative Forschung und ihre Validierung In den vorangegangenen Kapiteln ist deutlich geworden, dass zum Untersuchungsgegenstand dieses Projektes bislang keine Studien durchgeführt wurden. Insbesondere die Neuartigkeit des Mediums, aber auch das Vorgehen, historisch geleitet interkulturelle Diskussionen befördern zu wollen, sind bislang nicht Gegenstand von Forschung zu fremdsprachendidaktischen Begegnungsprojekten gewesen. Der Forschungsgegenstand ist sehr komplex, <?page no="132"?> 132 zudem sind die Hypothesen, die der Untersuchung zu Grunde liegen, nicht eindeutig und nicht empirisch basiert. Aufgrund dieser Neuartigkeit und Komplexität des Forschungsgegenstandes scheiden quantitative Verfahren 64 für eine Untersuchung aus, da bei quantitativer Forschung theoriebasierte Annahmen als Hypothesen formuliert werden, um diese im Anschluss empirisch überprüfen zu können. In der vorliegenden Untersuchung wird vielmehr explorativ vorgegangen, um erste Erkenntnisse über die Interaktion von Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten zu gewinnen. Die Fragestellungen der Untersuchung sind dementsprechend sehr offen formuliert (vgl. Kapitel 2). Aus der Explorativität der Untersuchung, der Offenheit der Fragestellungen und nicht zuletzt der relativ kleinen Untersuchungsgruppe ergibt sich, dass das Untersuchungsdesign dieser Studie qualitativ 65 angelegt sein muss: Qualitative Forschung ist immer dort zu empfehlen, wo es um die Erschließung eines bislang wenig erforschten Wirklichkeitsbereiches („Felderkundung”) mit Hilfe von ‚sensibilisierenden Konzepten’ (Blumer 1973) geht. (Flick, von Kardoff & Steinke 2012, 25) 64 Quantitative Forschung geht analytisch-nomologisch vor: Es werden basierend auf bisherigen Forschungsergebnissen Hypothesen aufgestellt, welche zunächst operationalisiert werden, um sie messbar zu machen. Im Anschluss werden diese Hypothesen mit Hilfe einer großen Menge repräsentativer Daten überprüft, um als Ergebnis eine Validierung oder Falsifikation der Hypothesen zu erhalten. Quantitative Methoden arbeiten daher häufig mit Statistiken. Anhand von standarisierten Fragebögen oder quantitativen Interviews (in den Sozial- und Geisteswissenschaften) oder der Durchführung eines identischen Untersuchungsaufbaus, in dem kontrolliert ein Faktor verändert wird (in den Naturwissenschaften), werden Korrelationen zwischen Faktoren hergestellt. Ziel der quantitativen Forschung ist die Reduktion von Daten zugunsten eines Modells, das Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Faktoren verdeutlicht (vgl. Raithel 2006; Bortz & Döring 2005). 65 Caspari et al. (2003) unterscheiden nicht zwischen qualitativer und quantitativer Forschung, sondern wählen die Dichotomie analytisch-nomologischer versus explorativ-interpretativer Forschung. Auch Schmelter (2004, 352) wählt diese Bezeichnung und begründet dies damit, dass die Dichtonomie qualitativ - quantitativ nicht alle Implikationen der unterschiedlichen Forschungsstile angemessen aufgreift. Ich bin mir der Diskussion um die Bezeichnung beider Forschungsrichtungen bewusst, habe mich hier aber bewusst dafür entschieden, nachfolgend von qualitativer bzw. quantitativer Forschung zu sprechen. Meiner Ansicht nach bezeichnet qualitative Forschung nicht lediglich die Form der Datenauswahl und untersuchung. ‚qualitative Forschung‘ bezeichnet für mich ein ganzes Forschungsverständnis. <?page no="133"?> 133 Qualitative Forschung ist stark anwendungsorientiert. Sie hat den Anspruch, „Lebenswelten ‚von innen heraus‘ aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben” (Flick, von Kardoff & Steinke 2012, 14.). Dieses grundlegende Verständnis von qualitativer Forschung teilen auch Lincoln und Gumba: Although some people may refer to a piece of research as ‚qualitative‘ because of the methods used or the type of data collected, these arguments tend to simplify a much more complex and nuanced set of distinctions. (Lincoln & Guba, 1985, zitiert nach Freemann 2009, 27) Auch ich teile die Auffassung, dass bei der Analyse des Verhaltens von Menschen qualitative Forschung zur Anwendung kommen sollte, da komplexe Wirkungs-zusammenhänge durch qualitative Beschreibungen wirkungsvoller aufgezeigt werden können. Da auch ich mich vielmehr für die Zusammenhänge als für einzelne Faktoren interessiere, habe ich mich für die Durchführung einer qualitativen Studie entschieden. Dabei ist anzumerken, dass in einzelnen Untersuchungsfragen, beispielsweise hinsichtlich der Verwendung des Voice- und Text-Chats, durchaus quantitativ gearbeitet wird. Beispielsweise wurden Redeanteile und produzierte Wörter ausgezählt, um die Produktionsbedingungen in unterschiedlichen Kommunikationsformen miteinander zu vergleichen. Dies geschah, um ergänzend Erkenntnisse zu gewinnen und könnte methodisch im Rahmen eines Mixed Methods-Ansatzes verortet werden (vgl. Kapitel 5.3.2). Ich fühle mich dennoch den Prinzipien der qualitativen Forschung verpflichtet, welche ich daher nachfolgend darlege. 5.1.1. Prinzipien qualitativer Forschung Qualitativ angelegte Forschungsvorhaben können in ihrer Ausgestaltung sehr unterschiedlich ausfallen. Sie alle befolgen aber grundlegende Forschungsprinzipien: Offenheit, Flexibilität und Reflexivität. Das Prinzip der Offenheit entspricht dem explorativen Vorgehen innerhalb der Untersuchung. Die theoretische Vorstrukturierung des Untersuchungsgegenstandes soll insbesondere bei wenig erforschten Gegenständen möglichst gering ausfallen. Forschungsfragen sollen möglichst offen formuliert sein (vgl. Flick, von Kardorff & Steinke 2012, 23; Hu 2001, 18). Dies ist aber keinesfalls gleichbedeutend mit der Forderung, ein qualitativer Forscher solle unvoreingenommen in das Untersuchungsfeld gehen. Meiner Ansicht nach ist es nicht möglich, sein komplettes Vorwissen oder Erwartungen bezüglich eines Untersuchungsgegenstandes auszublenden. Bereits vorhandene Wissensbestände oder zugrundeliegende Annahmen zum Untersuchungsgegenstand sollten daher vielmehr expliziert werden, um sie Außenstehenden <?page no="134"?> 134 nachvollziehbar zu machen (vgl. Kapitel 5.1.2.1). Wenn sich aus den Vorannahmen des Forschers Hypothesen ableiten lassen, müssen diese so formuliert werden, dass sie offen genug sind, um auch gegenteilige Erkenntnisse zu ermöglichen und diese zur Generierung der Theorie nutzbar zu machen: Die in der qualitativen Methodologie geforderte Offenheit für die potenzielle Besonderheit des Untersuchungsfeldes wird also nicht durch den Verzicht auf eine Explizierung des Vorwissens gefördert, sondern durch eine bewusste Handhabung von Methoden, die eine ‚Abweichung’ des Feldes vom Erwarteten erkennen und protokollieren lassen - was aber nicht zuletzt voraussetzt, dass eine solche Erwartung bewusst ist. (Meinefeld 2000, 273) Diesem Prinzip entsprechend bin ich in der Formulierung der Forschungsfragen sehr offen geblieben, sowohl was die Formen der Interaktion der Lernenden in der virtuellen Welt betrifft, als auch in Hinsicht auf Hypothesen zum historischen und interkulturellen Lernen der Teilnehmenden. Direkt aus dem Prinzip der Offenheit resultiert das Prinzip der Flexibilität. Aufgrund der explorativen Untersuchung kann eine Anpassung der Forschungsfragen oder des methodologischen Vorgehens innerhalb der Datenerhebung notwendig werden. Derartige Anpassungen sind innerhalb des explorativen Settings ausdrücklich erwünscht, allerdings müssen sie dargelegt und protokolliert werden. Nur so lässt sich erreichen, dass die Untersuchungsergebnisse weiterhin transparent nachvollziehbar sind und der Forscher sich nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit im Hinblick auf sein methodologisches Vorgehen aussetzt (vgl. Flick 1995; Steinke 1999). Flexibilität war auch im Laufe meiner Datenerhebung, insbesondere aber der Datenauswertung, vonnöten, was in Kapitel 5.4.1 dargelegt werden wird. Das Prinzip der Reflexivität greift die innere Haltung des Forschers auf, die mit der oben beschriebenen Flexibilität einhergehen sollte. Nicht nur die Anpassung von methodologischen und empirischen Entscheidungen innerhalb der Untersuchung, sondern auch die ganze Untersuchung muss immer wieder in hohem Maße reflektiert und getroffene Entscheidungen müssen im Rahmen der Niederschrift der Ergebnisse dargelegt werden. Innerhalb von qualitativen Untersuchungen wird „[d]ie Kommunikation des Forschers mit dem jeweiligen Feld und den Beteiligten zum expliziten Bestandteil der Erkenntnis” (Flick 1995, 15). Damit wird die Subjektivität des Forschenden verdeutlicht und bewusst in den Forschungsprozess miteinbezogen. Durch ein hohes Maß an Reflexivität, bei dem der Forschende sein Vorgehen und mögliche Einflüsse seiner Subjektivität auf Interpretationen reflektiert und darstellt, wird es möglich, diese Subjektivität und Interaktion des Forschen- <?page no="135"?> 135 den mit dem Untersuchungsgegenstand zuzulassen und dennoch zu empirisch verwertbaren Ergebnissen zu kommen (vgl. Kapitel 5.1.2.2.). 5.1.2. Bewertungskriterien qualitativer Forschung Die vorgestellten Forschungsprinzipien schlagen sich in Bewertungskriterien für Forschungen nieder, anhand derer das durchgeführte methodologische Vorgehen reflektiert und bewertet werden kann. Nur so kann eine Aussage über die Qualität der durchgeführten Forschung erzielt werden: Erst wenn explizite Gütekritierien vorhanden sind, ist ein rationaler Diskurs über die Güte einer bestimmten Forschungsmethode möglich. Eine Diskussion der jeweiligen Gütekriterien ist somit von zentraler Bedeutung für die Bewertung einer bestimmten Methodologie. (Grotjahn 1993, 234) Für Untersuchungen in der quantitativen Forschung sind die drei Kriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität allgemein anerkannt. Im Hinblick auf qualitative Untersuchungen haben sich noch keine eindeutigen Gütekriterien durchgesetzt. Steinke (1999, 43ff.; 2012, 319 ff.) beschreibt drei unterschiedliche Grundpositionen innerhalb des qualitativen Forschungsdiskurses hinsichtlich der Formulierung von Gütekriterien: • die Übernahme der quantitativen Kriterien für die qualitative Forschung • die Entwicklung eigner Kriterien für die qualitative Forschung • die postmoderne Ablehnung von Kriterien Die Übernahme der Gütekriterien der quantitativen Forschung sieht Steinke kritisch, da diese für die Bewertung von Forschung entwickelt worden seien, die auf grundlegend anders begründeten Methodologien, Wissenschafts- und Erkenntnistheorien basieren: Da deren Grundannahmen kaum mit qualitativer Forschung vereinbar sind, ist es nicht gerechtfertigt, von ihr zu erwarten, dass sie den Kriterien qualitativer Forschung entsprechen kann oder soll. Quantitative Kriterien können insbesondere aufgrund der vergleichsweise geringen Formalisierbarkeit und Standardisierbarkeit qualitativer Forschung nicht unmittelbar auf diese übertragen werden. (Steinke 2012, 322) Eine vollständige Ablehnung von Kriterien negiert Steinke aber ebenfalls: „Die Zurückweisung von Kriterien [...] birgt die Gefahr der Beliebigkeit und Willkürlichkeit qualitativer Forschung” (ebd., 321f.). Hieraus resultiert die Notwendigkeit der Formulierung eigener Kriterien für die qualitative Forschung. Diese können, wie Steinke (1999, Kapitel 5) zeigt, durchaus Anregungen auf Basis der quantitativen Gütekriterien erhalten, dennoch müssen sie <?page no="136"?> 136 „Kennzeichen, Zielen, wissenschaftstheoretischen und methodologischen Ausgangspunkten” (Steinke 2012, 322) der quantitativen Forschung Rechnung tragen. Da qualitative Untersuchungen sehr unterschiedlich ausgestaltet sein können, können nach Steinke auch Bewertungskriterien qualitativer Forschung nicht in einem „universellen, allgemein verbindlichen Kriterienkatalog” formuliert werden (ebd., 323), sondern müssen hinreichend flexibel sein, um den unterschiedlichen Anforderungen einzelner Untersuchungen gerecht werden zu können. Steinke (ebd., 324) schlägt daher vor, zunächst Kernkriterien festzulegen, die verschiedenste Bereiche abdecken und an denen jegliche qualitative Forschung bemessen werden muss. Diese Kernkriterien sollen aber in ihrer konkreten Anwendung flexibel sein, sie sollen erst im Hinblick auf die jeweilige Fragestellung und die dazugehörigen Erhebungsmethoden konkretisiert werden. Diesem Ansatz entsprechend sollen im Folgenden die von Steinke vorgeschlagenen Kernkriterien beschrieben und im Hinblick auf diese Studie erörtert werden. 5.1.2.1. Intersubjektive Nachvollziehbarkeit Intersubjektive Nachvollziehbarkeit ist dann erreicht, wenn Außenstehende die einzelnen Schritte der Forschung nachvollziehen können 66 . Steinke bezeichnet die intersubjektive Nachvollziehbarkeit als „Hauptkriterium” (Steinke 2012, 324) qualitativer Forschung: Das Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit dient dazu, Forschung intersubjektivierbar zu machen, d.h. eine (kritische) Verständigung über eine empirische Studie zwischen Forschern bzw. zwischen Forscher (der eine Studie durchgeführt hat) und Leser (der Studie) zu ermöglichen. (Steinke 1999, 207; alle Einschübe im Original, K.B.) 66 Intersubjektivität spielt in zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen eine zentrale Rolle. Unter anderem im Bereich der Ethik und Philosophie, der politischen Theorie sowie in den Sozialwissenschaften wird das Konzept der Intersubjektivität immer wieder diskutiert und problematisiert. Intersubjektivität gilt dabei als Voraussetzung dessen, dass sich zwei Menschen verstehen. Dafür ist es notwendig ist, dass die Bedeutungen von Symbolen von unterschiedlichen Individuen geteilt werden, also intersubjektiv sind. Hierfür ist ein gemeinsamer Wissensbestand, auf den die Individuen zugreifen, notwendig. Fehlt dieser gemeinsame Wissensbestand, muss das der Deutung zugrundegelegte Wissen explizit gemacht werden, um dem Gegenüber das Verstehen der eigenen Position zu ermöglichen. Die Hermeneutik versucht, diesen Verstehensprozess methodisch kontrolliert nachzuzeichnen, um die „alltägliche Praxis von Menschen, also die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit [, zu] durchschauen”(Soeffner & Hitzler 1994, 29). <?page no="137"?> 137 Qualitative Studien lassen sich nicht standardisieren; das erneute Durchführen einer Studie unter identischen Voraussetzungen, die „[i]dentische Replikation”(Steinke 2012, 324) einer Studie ist nicht möglich. Werden Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, ist es für Außenstehende unmöglich, die Ergebnisse der Studie durch das erneute Durchführen der Untersuchung zu überprüfen. Das Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit begegnet diesem Umstand, indem durch die genaue Dokumentation des Forschungsprozesses sowie der Aufbereitung und Auswertung der Daten zumindest die Nachvollziehbarkeit der Untersuchung gegeben wird. Hierbei sollten verschiedene Faktoren, die das Zustandekommen des Ergebnisses beeinflussen, dargelegt werden: Das Vorverständnis der Forschers hinsichtlich der erwarteten Ergebnisse, die Erhebungsmethoden und der Erhebungskontext, die Darlegung verwendeter Transkriptionsregeln, die Darstellung der Daten mit Angabe der jeweiligen Informationsquellen, die gewählte Auswertungsmethode, die Darlegung zentraler Probleme und Entscheidungen sowie Kriterien, nach denen die Arbeit bemessen werden sollen, müssen hierzu aufgeführt werden (vgl. ebd., 324f.). Zudem schlägt Steinke (ebd., 326) vor, die intersubjektive Nachvollziehbarkeit zu erhöhen, indem die Interpretation der Daten durch Forschergruppen erfolgen soll, so dass nicht die Perspektive einer Person die Interpretation der Daten bestimmt. Nicht zuletzt sorge auch die Anwendung kodifizierter Verfahren für eine Erhöhung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, da durch ein einheitliches methodisches Vorgehen die Interpretation der Daten auch von Außenstehenden nachvollzogen werden könne. Das Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit wird in dieser Untersuchung erfüllt, indem ich zum einen zunächst die theoretische Basis dargelegt habe, die mein Vorwissen in Bezug auf die Untersuchung wiedergibt, zum anderen indem ich auf den nachfolgenden Seiten dieses Kapitels das Vorgehen der Datenerhebung, die Form der Datenaufbereitung sowie die Auswahl der Auswertungsmethode ausführlich darlege und begründe. Die Auswertung der Daten durch eine Forschergruppe ist im Rahmen eines Dissertationsprojektes schwer zu realisieren; allerdings habe ich in Forschungskolloquien und Methodenworkshops die Wahl meiner Auswertungsmethode sowie zentrale Entscheidungen im Hinblick auf die Fokusgruppen dargelegt und mit anderen Forschenden diskutiert. Dabei wurden einzelne Auszüge meiner Daten gemeinsam ausgewertet und diskutiert. Nicht zuletzt habe ich meine Daten zu zwei verschiedenen Zeitpunkten betrachtet und ausgewertet und so die intrapersonale Nachvollziehbarkeit zu erhöhen versucht. Mit den Verfahren der dokumentarischen Methode sowie der qualitativen Inhaltsanalyse habe ich sehr gut dokumentierte empirische Methoden verwendet, wel- <?page no="138"?> 138 che es auch Außenstehenden ermöglichen, die Auswertung der vorliegenden Daten nachzuvollziehen. 5.1.2.2. Reflektierte Subjektivität Da Forschende bei qualitativen Erhebungen häufig selbst in den Forschungsprozess eingebunden sind, muss diese Subjektivität berücksichtigt werden. Dies geschieht durch das Kriterium der reflektierten Subjektivität: Reflektierte Subjektivität fordert, dass die konstituierende Rolle der Subjektivität des Forschers für die Theoriebildung reflektiert wird. Dies ist einerseits für den Forscher wichtig, der die Untersuchung durchführt, da er sich zum methodisch bewussten Umgang mit der eigenen Subjektivität im Forschungsprozess anregen sollte, andererseits aber auch für Leser einer Studie, um nachzuvollziehen, wie die Annahmen des Forschers die Theoriebildung mitkonstituiert haben (vgl. Steinke 1999, 231). Im Zuge der Bewertung der reflektierten Subjektivität sollte geprüft werden, ob sich der Forschende während des Forschungsprozesses einer Selbstbeobachtung unterzogen hat. Die Beziehung zwischen Forscher und Beforschten sollte ebenso wie der Einstieg ins Forschungsfeld reflektiert werden (vgl. Steinke 2012, 331). Dieses Kriterium ist für meine Studie von besonderer Bedeutung: da ich nicht nur externe Forscherin bin, sondern als Seminarleiterin der Studierenden in Gießen zum einen Bezugs- und Respektsperson der Teilnehmer bin, zum anderen aber aufgrund der Datensicherung (vgl. Kapitel 5.3.1) selbst in Second Life online und damit für alle Teilnehmenden gegenwärtig war 67 . Ich war nicht nur Forscherin, ich war auch Lehrende und damit Teil der beforschten Begegnungssituation. Meine Rolle werde ich in einem eigenen Kapitel (5.2.3) diskutieren. Ich muss annehmen, dass meine Anwesenheit das Verhalten der Lernenden beeinflusst haben könnte. Nicht zuletzt haben auch meine Erfahrungen und Einschätzungen zu verschiedenen Forschungsmethoden, Positionen zu fachdidaktische Ansichten oder andere gemachte Erfahrungen im Kontext meiner Arbeit die Gestaltung der Untersuchung mit beeinflusst. Indem meine Vorannahmen und Auffassungen sowohl zu theoretischen Grundlagen wie zur Wahl der Methode in den vorangegangenen Ka- 67 Ich habe mich zwar in die Interaktionen der Gruppen untereinander nicht eingemischt bzw. nur, wenn es Probleme und Fragen gab und ich direkt angesprochen wurde, auch meinen Avatar habe ich mit Abstand von der Gruppe positioniert, dennoch zeigen die Fragen, die die Teilnehmer an mich gerichtet haben, dass ihnen meine Präsenz bewusst war. Zudem war ich für mindestens einen Gießener Teilnehmenden auch physisch in gleichen Raum zugegen, als die Treffen stattgefunden haben. <?page no="139"?> 139 piteln ausführlich dargelegt wurden, hoffe ich, der reflektierten Subjektivität genüge getan zu haben. Um meine Erfahrungen und Eindrücke während der Datenerhebung festzuhalten, habe ich ein Forschungstagebuch geführt. Darin wurde der Verlauf der einzelnen Sitzungen dokumentiert und reflektiert, ich habe aber auch meine eigenen Gefühle und Erwartungen, insbesondere auch Enttäuschungen und Entscheidungen festgehalten, um sie im Nachhinein zugänglich zu halten. Die Daten dieses Forschungstagebuches werden nicht systematisch dargelegt, wohl aber spielen sie eine zentrale Rolle bei meinen Reflexionen im Bereich der Doppelrolle Forscherin/ Lehrende. Meine Aufzeichnungen dienten zudem als erster Zugang bei der Auswahl der drei Fokusgruppen, so dass das Forschungstagebuch insbesondere in den Bereichen dieser Arbeit, die diese Aspekte thematisieren, seinen Niederschlag findet. Nicht zuletzt bewahrten mich diese Reflexion des Forschungsprozesses und meiner Rolle hierin noch während des Untersuchungszeitraumes davor, mich zu sehr mit den Untersuchten zu identifizieren (going native). Durch diese Selbstbeobachtung wird ein weiterer Aspekt der reflektierten Subjektivität abgedeckt. 5.1.2.3. Indikation Das Kriterium der Indikation umfasst die Angemessenheit der Forschungsmethodik. Dabei geht die Indikation nach Steinke (1999; 2012, 326 ff.) allerdings über die Gegenstandsangemessenheit der verwendeten Erhebungs- und Auswertungsmethoden hinaus, da diese allein nicht ausreiche, um die Angemessenheit der Forschung zu beurteilen (vgl. Davis 1995). Steinke fasst das Kriterium weiter und versteht darunter auch die Angemessenheit der Auswahl aus den vorhandenen Datensätzen 68 , in wieweit die verwendeten Methoden miteinander kompatibel sind, nach welchen Regeln Transkription und (Roh-) Datenauswertung erfolgen und ob die Bewertungskriterien der Studie transparent sind (Steinke 1999, 215). Die Methoden müssen so gewählt werden, dass sie die Vorannahmen des Forschenden, die dieser immer aufgrund seines Vorwissens und der Hypothesen, mit denen er an den Untersuchungsgegenstand herangeht, irritieren oder widerlegen können, wenn die Daten den Vorannahmen widersprechen. Auch muss sichergestellt werden, dass der Forschende hinreichend Abstand zu den Daten hat, um diese angemessen auswerten zu können. Dies ist insbesondere dann kritisch zu betrachten, wenn der Forschende - wie im hier beschriebenen Fall - selbst im Feld war. Die Darlegung der Involvierung des Forschenden zählt daher ebenso zum Kriterium der Indikation, woran auch 68 Also ob die Auswahl methodisch begründet ist, systematisch erfolgt oder rein zufällig stattfindet und in wieweit diese Auswahl offengelegt wird. <?page no="140"?> 140 die Überschneidungen mit den Kriterien der interpersonalen Nachvollziehbarkeit und der reflektierten Subjektivität deutlich wird. Mit der ausführlichen Darlegung und Begründung des Vorgehens in den nachfolgenden Kapiteln hoffe ich, dem Kriterium der Indikation Genüge zu tun. Zudem wurden die Daten in zwei Durchgängen gesichtet, wobei der zweite Durchgang mit einem erheblichen zeitlichen Abstand zur Datenerhebung stattfand. Hieraus resultierte eine Erweiterung der gewählten Auswertungsmethode (vgl. Kapitel 5.4.1). Die Hinzunahme einer weiteren Auswertungsmethode zeigt, dass ich die Wahl der Methoden immer wieder intensiv reflektiert und letztendlich zugunsten ihrer Angemessenheit hinsichtlich der Forschungsfrage abgeändert habe. 5.1.2.4. Limitation Das Kriterium der Limitation entspricht dem besonderen Charakter qualitativer Studien, welcher durch eine relativ geringe Menge der Probanden gekennzeichnet ist. Qualitative Forschung erhebt eben nicht den Anspruch, alle Fälle, die innerhalb eines bestimmten Untersuchungsfokusses auftreten, zu erfassen oder statistische Auswertungen über die Häufigkeit dieser Fälle zu erbringen. Sie geht vielmehr von einzelnen Fällen aus und beschreibt diese genauer. Dennoch sind die Ergebnisse, die der Forschende innerhalb der qualitativen Forschung erzielt, nicht nur für seine Untersuchung gültig, sondern sollen auch darüber hinaus verallgemeinernde Aussagen machen können. In diesem Spannungsverhältnis ist das Kriterium der Limitation angesiedelt: „Das Kriterium der Limitation dient dazu, im Sinne von ‚testing the limits‘, die Grenzen des Geltungsbereiches, d.h. der Verallgemeinbarkeit einer im Forschungsprozess entwickelten Theorie, herauszufinden” (Steinke 1999, 227). Demnach müssen die empirisch gewonnenen Theorien und Erkenntnisse sehr genau in ihren Grenzen beschrieben werden, wenn sie verallgemeinert werden. Indem die Kontexte und Bedingungen, unter denen sich die gewonnenen Einsichten verallgemeinern lassen, beschrieben werden, kann diese Eingrenzung der Verallgemeinbarkeit vorgenommen werden. Wünschenswert ist es zudem, wenn explizit auch Bedingungen für die Gültigkeit der aufgestellten Ergebnisse benannt werden. Eine derartige Abschätzung erfolgt am Ende meiner Arbeit im Kapitel 9. 5.1.2.5. Kohärenz Das Kriterium der Kohärenz formuliert den Anspruch an eine im Forschungsprozess entwickelte Theorie, dass diese in sich schlüssig ist und sich nicht selbst widerspricht. Wenn innerhalb der Interpretation der Daten Widersprüche auftreten, müssen diese dargelegt werden, ebenso muss beschrie- <?page no="141"?> 141 ben werden, wie mit diesen Widersprüchen umgegangen wird. Auch ungelöste Fragen im Bezug auf die entwickelte Theorie sollten offen gelegt werden (vgl. Steinke 2012, 330). Die Ergebnisse dieser Untersuchung und ihre theoretische Einordnung erfolgen in Kapitel 9. Treten bei der Analyse der Daten Widersprüche oder Unsicherheiten auf, wird dies direkt in der Diskussion der Daten in den Kapitel 6 bis 8 thematisiert. 5.1.2.6. Relevanz Nicht zuletzt nennt Steinke das Kriterium der Relevanz der durchgeführten Forschung als Bewertungskriterium für gelungene qualitative Untersuchungen. Hierbei ist zu fragen, welchen Beitrag die entwickelte Theorie für das Forschungsfeld liefert, ob sie neue Deutungen oder Erklärungen bietet und in wieweit die Ergebnisse verallgemeinerbar sind (vgl. Steinke 2012, 330). Nur wenn die durchgeführte Untersuchung und ihre Ergebnisse für das Forschungsfeld relevant sind und neue Erkenntnisse bringen, ist die Forschung qualitativ hochwertig. Auch dieses Kriterium wird Gegenstand einer abschließenden Betrachtung in Kapitel 9 sein. Die hier vorgestellten Kriterien wurden dem Forschungsprojekt zugrunde gelegt. Die Einschätzung der Ergebnisse der Arbeit - auch in Hinblick auf die Qualitätskriterien - wird in der Abschlussbetrachtung unter Kapitel 9 vorgenommen. 5.2. Festlegung des Untersuchungsdesigns Nachfolgend sollen die Entscheidungen, die hinsichtlich der Konzeptionierung der Untersuchung zu treffen waren, nachgezeichnet werden. Hierzu zählen vor allem die Wahl der Untersuchungsumgebung, also welche virtuelle Welt für die Datenerhebung ausgewählt wurde, sowie die Suche der Partnergruppe. Zudem werden die Studierendengruppe in Gießen und die Partnergruppe in Breslau vorgestellt. 5.2.1. Wahl des Mediums und der Orte innerhalb der virtuellen Welt Auslöser für mein Forschungsinteresse und die konkrete Fragestellung der vorliegenden Arbeit war meine Tätigkeit als Lehrerin von Deutschkursen in der virtuellen Welt Second Life für das Goethe Institut (vgl. Kapitel 1). Der Aufbau der virtuellen Welt und die Benutzersteuerung in Second Life waren mir hierdurch bereits vertraut. Second Life galt zum Erhebungszeitraum (und auch heute noch) als größte virtuelle Welt. Nicht zuletzt aufgrund seiner <?page no="142"?> 142 Thematisierung in zahlreichen deutschen Boulevardmedien (vgl. Casati et al., 2007) war zum Erhebungszeitraum Second Life in Deutschland in hohem Maße bekannt. Dennoch ging ich zunächst sehr offen mit der Wahl des Untersuchungsmediums um; vor allem die angebotenen Inhalte der jeweiligen virtuellen Welt sollten ausschlaggebend für die Wahl des Mediums sein, da es für die Untersuchung nicht realisierbar war, eine eigenen Umgebung mit entsprechenden Inhalten zu programmieren, auch wenn dies aus didaktischer Perspektive sicherlich wünschenswert gewesen wäre. Nicht zuletzt sollten auch die Benutzerfreundlichkeit und die technischen Bedingungen der einzelnen virtuellen Umgebungen für die Wahl der virtuellen Welt ausschlaggebend sein. Andere virtuelle Welten boten spannende Alternativen. So wird in der virtuellen Welt Twinity 69 die Stadt Berlin originalgetreu nachgebaut. Da hier nicht die Nutzer, sondern die Betreiberfirma die Umgebung liefert, kann davon ausgegangen werden, dass die Orte, die in Twinity abgebildet werden, authentisch nachgebaut worden sind. Demgegenüber verbirgt sich in Second Life häufig hinter dem Namen einer bekannten Stadt oder Sehenswürdigkeit eine rein fiktive Umgebung (vgl. Kapitel 4.3.2). Da für die dieser Arbeit zu Grunde liegende Untersuchungsfrage virtuelle Erinnerungsorte zentral waren, benötigte ich aber vor allem eine Umgebung, in der historisch interessante Orte virtuell nachgebaut zur Verfügung standen, idealerweise gebaut von Institutionen, die als seriös und sachkundig gelten. Ich nahm daher Kontakt zu verschiedenen Museen auf, die sich mit deutscher Geschichte und der Teilung Deutschlands beschäftigen, und fragte bei diesen an, ob sie bereits über ein Engagement in einer virtuellen Welt verfügten oder darüber nachdachten. Tatsächlich war das DDR-Museum Berlin gerade dabei, in Second Life eine typische Wohnsiedlung der DDR um 1962 nachzustellen und erklärte sich bereit, mir diese für meine Untersuchung zur Verfügung zu stellen; allerdings befand sich die Umgebung noch im Aufbau. 69 http: / / www.twinity.com/ de; Hier finden sich neben Berlin auch Nachbauten der Städte London, Singapur, Miami sowie New York, wobei sich die Nachbauten auf die touristisch bekannte Innenstadtbereiche beschränken. <?page no="143"?> 143 Abb. 7: Der Eingang in die Simulation der DDR-Umgebung Um in die Umgebung des DDR-Museums zu gelangen, musste eine Grenze passiert werden (vgl. Abb. 7). Dahinter erstreckte sich eine Straßenszene, im Verlauf der Straße waren unterschiedliche Gebäude angeordnet, die teilweise betreten werden konnten. Die Gebäude, in die man hineingehen konnte, waren eine Kaufhalle, in der in den weitgehend leeren Regalen einige typische ostdeutsche Produkte abgebildet waren (vgl. Abb. 8), ein Café, das ebenfalls weitgehend leer war und in dem insbesondere im Hinterzimmer des Cafés eine Bühne auffiel, die mit Flaggen und Bannern dekoriert war, sowie ein Wohnhaus mit 5 verschiedenen Wohnungen auf einem Flur. In einer dieser Wohnungen befand sich eine Kamera, die an einem Fenster positioniert war. Diese Wohnung sollte offenbar das Thema Staatssicherheit und Überwachung thematisieren. Zusätzlich gab es an der Straße einen Kiosk, hier konnte man die Titelblätter alter Zeitungen und Zeitschriften der DDR erkennen. <?page no="144"?> 144 Abb. 8. Die Kaufhalle in der DDR-Umgebung von außen (links) und von innen (rechts), mit Gruppe 3 Durch Foren in Second Life wurde ich zudem auf die Ausstellung ‚The Wall’ aufmerksam, die ein amerikanischer Privatmann realisiert hatte und die die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands anhand von Informationstafeln, Bildern und einem Videobeitrag zeigte, wobei die Ausstellung in einem virtuellen Mauerstreifen realisiert wurde. Die Informationsmedien wurden an die Mauer gehängt, man musste durch den Todesstreifen gehen, um sich zu informieren. Das Video am Ende des Rundganges war auf Deutsch und umfasst den Mitschnitt einer Nachrichtensendung zum Fall der Mauer. Die Informationstexte der Ausstellung waren auf Englisch geschrieben. Während das Video und die Bilder, die für die Ausstellung ausgewählt wurden, auch ohne englische Sprachkompetenzen betrachtet werden konnten, benötigten die Teilnehmenden für die Informationstafeln Kenntnisse der englischen Sprache. Es gab 14 Informationstafeln mit je 200 bis 250 Wörtern. Obwohl ich mir bewusst war, dass damit eine weitere Fremdsprache in dass Projekt Einzug hält und einige Teilnehmende nicht besonders gute Englischkenntnisse hatten, entschloss ich mich, die Umgebung dennoch zu benutzen. Die Inszenierung der Ausstellung im Mauerstreifen versprach, das Gefühl der Unfreiheit und Gefahr, dass von der Mauer ausging, aufzugreifen und es schien mir, dass dieser Ort als Erinnerungsort (vgl. Kapitel 3.3.2.3) wirken könnte. Die dargestellten historischen Inhalte waren ausgewogen ausgewählt und dargestellt 70 . 70 Ich besichtigte die Ausstellung im Vorfeld der Datenerhebung und überprüfte die dargestellten Inhalte hinsichtlich ihrer Korrektheit und der Perspektive auf die deutsche Geschichte, die durch die Auswahl der Exponate vermittelt wurde. <?page no="145"?> 145 Abb. 9: Darstellung der Ausstellung 'The Wall' mit Informationstexten am Mauerstreifen Auch fand initiiert von der Berlin Tourismus und Kongress GmbH anlässlich des zwanzigjährigen Mauerfalljubiläums, welches zum Zeitpunkt der Datenerhebung stattfand, eine Sonderausstellung am Brandenburger Tor im virtuellen Berlin statt. Auch hier gab es den Nachbau eines Teils der Berliner Mauer, diesmal war daran eine Chronologie der Deutschen Teilung und Wiedervereinigung angebracht. Zudem gab es eine Videoleinwand, an der der Tagesschau-Beitrag des 9. Novembers 1989 ausgestrahlt wurde, der vom Fall der Berliner Mauer berichtete (vgl. Abb. 10). Ein Bereich der Umgebung war so gestaltet, dass sich die Umgebung alle zwei Minuten veränderte: Zum einen war dort der Todesstreifen mit einem Toten am Fuße der Mauer nachgestellt, nach dem Wechsel erschien dort ein Nachbau der East Side Gallery (vgl. Abb. 32) und eine moderne Installation von leuchtenden Glasquadern. Aufgrund dieser thematisch ansprechenden Orte entschied ich mich, die Untersuchung in Second Life und an den drei genannten Orten durchzuführen. <?page no="146"?> 146 Abb. 10: Am virtuellen Brandenburger Tor betrachtet eine Gruppe den Tagesschaubeitrag zum Fall der Berliner Mauer. 5.2.2. Die Teilnehmer der Untersuchung Nach der Konzeptionierung des Projektes begann ich mit der Suche nach möglichen Teilnehmern für meine Studie. Ich benötigte sowohl eine Gruppe deutscher Studierender, als auch ausländische DaF-Lernende auf fortgeschrittenem Niveau, um das von mir erstellte Konzept umsetzen zu können. In Bezug auf die Probandengruppe der deutschen Teilnehmer eröffnete sich mir mit der Möglichkeit, die Untersuchung im Rahmen einer Lehrveranstaltung durchzuführen, ein einfacher Zugang. Allerdings waren damit auch Herausforderungen verbunden, welche ich nachfolgend bei der Beschreibung der Teilnehmergruppe aus Deutschland darstellen werde (Kapitel 5.2.2.2). Die Suche nach einer geeigneten Teilnehmergruppe aus dem Ausland gestaltete sich komplexer, weshalb sie zunächst dargestellt werden soll. Alle Personen, die innerhalb dieser Arbeit dargestellt werden, wurden anonymisiert: Die Studierenden erhalten fiktive Vornamen und auch ihre Herkunft wird soweit verschleiert 71 , dass eine Zuordnung der im Buch darge- 71 Die Herkunft spielt bei einigen kulturellen Themen eine Rolle, daher werden hier Länder oder Regionen angegeben. <?page no="147"?> 147 stellten Personen zu den Identitäten der Teilnehmer nicht mehr möglich sein soll. Teilweise sind diese anonymisierten Vornamen an die fiktiven Namen angelehnt, die die Teilnehmenden ihren Avataren gegeben haben. Diese entsprechen aber ebenfalls nicht den realen Namen der Studierenden, so dass Abbildungen, die die Namen der Avatare beinhalten, abgedruckt werden können. 5.2.2.1. Das Fremdsprachenkolleg in Breslau Aufgrund der synchron stattfindenden Kommunikation in der virtuellen Welt entschied ich, einen Kooperationspartner im nahen Ausland zu suchen, bei dem keine Zeitverschiebung das Kooperationsvorhaben erschwerte. Da ich aufgrund der Thematik gerne Studierende als Kooperationspartner gewinnen wollte, deren Land eine kommunistische Vergangenheit aufweist, wurden Tschechien, Polen und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion Wunschkandidaten meiner Suche nach Kooperationspartnern. Der Kontakt zum Fremdsprachenkolleg für Lehrerausbildung Wroclaw (Breslau 72 ,) entstand mehr oder weniger zufällig; im Mai 2009 schrieb Frau Nowak 73 , eine Lehrerin dieses Kollegs, meinen Doktorvater Prof. Dr. Dietmar Rösler an und erkundigte sich nach der Möglichkeit, gemeinsam ein Online- Projekt durchzuführen. Für ein neues Studienfach, welches das computerbasierte Deutschlernen thematisierte, war sie auf der Suche nach einem Projekt, welches die im Unterricht thematisierten theoretischen Konzepte mit praktischen Erfahrungen ergänzt. Die Studierenden, für die sie dieses Projekt anstrebte, seien im dritten Studienjahr und beherrschten Deutsch auf dem Niveau B2/ C1. Das Projekt sollte ihrer Einschätzung nach vier bis fünf Wochen umfassen, wobei sie in der Ausgestaltung der Terminierung des Projektes sehr frei sei. Mit dieser Anfrage beschrieb Frau Nowak meine ideale Partnergruppe, so dass ich sofort Kontakt mit ihr aufnahm und ihr mein Forschungsvorhaben als Projektidee anbot. Am 08. August 2009 fand ein Treffen zwischen Frau Nowak und mir in Dresden statt, bei dem wir den Ablauf des Projektes durchsprachen und sie zudem die Vorkenntnisse der polnischen Studierenden im Hinblick auf digitalen Medien erläuterte. Nach weiteren Planungsgesprächen, die in Second Life stattfanden und bei denen ich Frau Nowak in die Bedienung der virtuellen Welt einführte, konnte das Projekt Ende Oktober starten. 72 Aufgrund der besseren Lesbarkeit werde ich nachfolgend die deutsche Bezeichnung der Stadt verwenden. 73 Der Name der Lehrerin ist, wie alle folgenden Namen von Studierenden sowie die Angabe von Orten, die auf die Identität der Teilnehmenden Rückschlüsse zulassen würden, anonymisiert. <?page no="148"?> 148 Leider traten zu Beginn des Projektes erhebliche Probleme auf polnischer Seite auf: zahlreiche Studierende meldeten bei Frau Nowak Probleme beim Download der Second Life Software. Einige gaben an, seitdem Viren auf ihren Computern zu haben, andere hatten zu langsame Computer, auf denen sich Second Life nicht starten ließ. Indem ihnen die Möglichkeit gegeben wurde, auf einen Computerraum des Kollegs oder dessen Internetverbindung zuzugreifen konnten einige der auftretenden Probleme gelöst werden. Glücklicherweise war für die Einrichtung der Software auf den Computern der Teilnehmer ausreichend Zeit eingeplant, so dass nach einer Woche des Problemlösens noch eine ausreichend große Gruppe von Studierenden gefunden werden konnte, die bereit war, am Projekt mitzumachen 74 . Die Gruppe der Studierenden in Breslau besteht aus 14 Studierenden (13 weiblich, 1 männlich) polnischer Staatsangehörigkeit zwischen 21 und 23 Jahren, die gemeinsam im 5. Semester des Germanistikstudiums sind. Ungefähr die Hälfte der Gruppe war schon einmal in Deutschland, ihr Sprachniveau ist, wie die Lehrerin angekündigt hat, fortgeschritten und zwischen Niveau B2 und C1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen anzusiedeln. Allerdings ist den Studenten, die schon über längere Zeit in Deutschland waren, dies deutlich anzumerken; sie sprechen wesentlich flüssiger als ihre Kommilitonen. 5.2.2.2. Die Studierenden in Gießen Wie bereits dargestellt, sollte die Gruppe auf deutscher Seite durch die Teilnehmenden eines Seminares abgedeckt werden. Dies bot den Vorteil, dass ich sicher davon ausgehen konnte, dass Studierende an dem Projekt teilnehmen werden, zudem konnten die Treffen in Second Life innerhalb des Seminars vor- und nachbereitet werden und nicht zuletzt stieg durch die Einbindung des Projektes in den Seminarkontext die Verbindlichkeit der Teilnahme. Die Studierenden, die das Seminar belegten, waren verpflichtet, auch die Treffen in Second Life durchzuführen 75 . 74 Aufgrund und der Tatsache, dass das Projekt während des regulären Semesters am Kolleg stattfand, war es für die polnischen Studierenden nicht verpflichtend, aber in ein vorhandenes Seminar eingebunden. Nicht zuletzt aufgrund der hier geschilderten Probleme war letztendlich nicht die komplette Klasse der polnischen Lernenden in das Projekt eingebunden, sondern nur ein Teil der Klasse, der sich freiwillig in dem Projekt engagieren wollte. 75 In der Seminarbeschreibung im Vorlesungsverzeichnis wurde dies bereits angekündigt, in der ersten Seminarsitzung wurden dann die Erwartungen an die Studierenden von mir explizit erläutert. Da das Seminar aufgrund des Projektes vorwiegend in der ersten Hälfte des Semesters stattfand und zahlreiche zusätzliche Termine sowie ein Wochenendblock angesetzt wurden, fand das Seminar lediglich <?page no="149"?> 149 Die Eingebundenheit der Teilnahme im Projekt hatte allerdings auch Nachteile: Bis zum Beginn des Semesters Anfang Oktober war für mich nicht abschätzbar, wie viele Studierende das Seminar belegen würden und wie die Studierendengruppe zusammengestellt sein würde. Dieser Umstand erschwerte die Konzeption des Projektes erheblich, zumal in den ersten zwei Wochen des Semestern noch mit Fluktuationen innerhalb der Teilnehmergruppe gerechnet werden muss. Da in Gießen der Masterstudiengang Deutsch als Fremdsprache nur für eine kleine Gruppe von Studierenden ausgerichtet ist 76 und es eine Parallelveranstaltung gab, ging ich von einer Teilnehmergruppe zwischen 10 und 15 Studierenden aus. Bei der ersten Seminarsitzung stellte ich fest, dass 25 Studierende am Seminar teilnehmen wollten. Aufgrund der Neuzulassung von Deutsch als Fremdsprache als Nebenfach eines weiteren Masterstudienganges kam es zu diesem Anstieg der Studierendenzahlen. Die Studierenden dieses anderen Studienganges verfügten über keinerlei Vorkenntnisse in Bezug auf fremdsprachendidaktische Fragestellungen, waren aber in Gegensatz zu den multinationalen DaF-Studierenden ausschließlich Muttersprachler des Deutschen. Die Gießener Studierenden waren zwischen 22 und 28 Jahre alt, die Gruppe setzte sich wie folgt zusammen: • 10 Studierende (2 männlich, 8 weiblich) des Masterstudienganges Deutsch als Fremdsprache im Hauptfach, davon 4 mit chinesischer Nationalität, eine Kolumbianierin, eine Kasachin, vier Deutsche; • 3 Studierende (1 männlich, 2 weiblich) mit Deutsch als Fremdsprache als Nebenfach in einem linguistischen Masterstudiengang, davon eine Chinesin, eine Russin und ein deutscher Studierender; • 12 Studierende (1 männlich, 11 weiblich) mit Deutsch als Fremdsprache als Nebenfach in einem pädagogischen Studiengang, alle deutscher Muttersprachler. Das Seminar begann am 15.10.2009, die Treffen in Second Life begannen gut vier Wochen später ab dem 09.11.2009. Um der heterogenen Zusammensetzung der Gruppe Rechnung zu tragen und auch die Studierenden ohne Kenntnisse im Bereich Deutsch als Fremdsprache auf das Projekt vorzubereiten, wurden im Vorfeld im Seminar die Themen Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien, Landeskundekonzepte sowie interkulturelles Lernen themabis zu den Weihnachtsferien statt, so dass die Termine in Second Life zur Gesamtstundenzahl des Seminars hinzugezählt wurden. Hierdurch fanden sich zahlreiche Studierende fanden, die das Seminar trotz Mehrbelastung belegten. 76 Das Masterstudium kann nur im Wintersemester begonnen werden, hierfür stehen jeweils rund 30 Studienplätze zur Verfügung. <?page no="150"?> 150 tisiert 77 . Zusätzlich fanden zwei Ganztagessitzungen statt, in denen die Teilnehmer zum einen jeweils eine Einführung in Second Life erhielten, zum anderen erarbeiteten sie sich in Kleingruppen die Deutsche Geschichte von 1949 bis 1989 überblicksartig 78 . 5.2.3. Problematisierung meiner Rolle im Untersuchungsfeld Wie oben beschrieben fand die Datenerhebung in Rahmen eines von mir gehaltenen Seminars statt. Da auch auf polnischer Seite die Einbindung an ein Seminar gegeben war, bestand der Vorteil einer hohen Verbindlichkeit des Projektes für alle Teilnehmenden. Umgekehrt führte dieser Umstand aber auch zu Nachteilen. Ich war nicht ausschließlich Forscherin, sondern gestaltete das Setting der Datenerhebung selbst. Da die polnische Lehrkraft weder über Erfahrungen mit virtuellen Welten, noch mit der Diskussion um historische Gegenstände in transnationalen Tandems verfügte, fiel die Gestaltung der Treffen komplett mir zu; zudem habe ich im Vorfeld die polnische Lehrkraft im Umgang mit der virtuellen Welt Second Life geschult und ihr eine Umgebung zur Verfügung gestellt, in der ihre polnischen Lernenden in einem Selbstlernparcours die Benutzung der virtuellen Welt erlernen sollten. Da diese Einführung der polnischen Studierenden nach Angaben von Frau Nowak, der polnischen Lehrerin, leider nicht im Vorfeld des Projektes stattfinden konnte, und da immer wieder technische Probleme auftauchten, entstanden im Laufe des Projektes immer wieder Situationen, in denen sich Lernende gezielt mit Fragen oder Problemen an mich wandten. Dies geschah bei den Gießener Studenten sehr häufig und unmittelbar, da wir uns im gleichen Raum befanden (vgl. Kapitel 5.3.1), die polnischen Studierenden sowie deutsche Partner, die nicht von meinem Büro aus an den Treffen teilnahmen, kontaktierten mich ebenfalls bei Problemen durch die virtuelle Welt und die gezielte Ansprache meines Avatars. Generell habe ich mich während der Treffen zurückgehalten, mein Avatar war allerdings ab den 2. Treffen aus Datensicherungsgründen immer mit 77 Aufgrund der begrenzten Zeit konnte die Behandlung der dargestellten Themen nur überblicksartig erfolgen, zudem wurden insbesondere die Aspekte diskutiert, die auch für das nachfolgende Projekt relevant sein könnten. 78 Die Thematisierung der Deutschen Geschichte war für mich vor allem deshalb relevant, da 28% der Teilnehmer auf deutscher Seite aus dem Ausland kamen und ich nicht davon ausgehen konnte, dass diese in ihrem bisherigen Studium die neuere deutsche Geschichte behandelt hatten. Für den Fall, dass sie später allein in einem Tandem mit den polnischen Studierenden interagieren, sollte so sichergestellt sein, dass sie über grundlegendes Wissen zur Teilung Deutschlands verfügten. <?page no="151"?> 151 anwesend (vgl. Kapitel 5.3.1), ich hielt ihn im Hintergrund oder ließ den Avatar über der Gruppe der Studierenden schweben, so dass er sich nicht in deren Blickfeld befand. Da die Studierenden aber dennoch immer die Namen der Avatare in ihrer Umgebung angezeigt bekommen, muss davon ausgegangen werden, dass sie meine Anwesenheit wahrgenommen haben. Aus der doppelten Rolle resultierten vielfältige Aufgaben, die ich während des Projektablaufs zu erfüllen hatte. Im Vorfeld hatte ich die Orte in Second Life ausgewählt, Kontakt zu deren Betreibern aufgenommen und Aufgabenstellungen entworfen. Ich habe die Fragebögen, die die Teilnehmenden vor und nach dem Projekt ausfüllen sollten, konzipiert und in einem Online- Fragebogentool verfügbar gemacht. Anschließend habe ich Frau Nowak in die Bedienung in Second Life eingeführt und ihr Schulungsmaterial für ihre Studierenden zur Verfügung gestellt. Im Begleitseminar, das die Gießener Gruppe zum Projekt durchführte, habe ich ebenfalls eine Einführungen in die Nutzung virtueller Welten gegeben. Als Koordinationsmedium für das ganze Projekt habe ich einen Blog erstellt, in dem der komplette Ablauf des Projektes sowie die Aufgabenstellungen der jeweiligen Treffen veröffentlicht wurden 79 . Als das Treffen schließlich begann, habe ich die Gruppeneinteilung koordiniert und jeder Gruppe ebenfalls einen Blog eingerichtet, den diese als Kommunikationstool nutzen konnte und in dem die Gruppe ihre Lerntagebücher verfasste. Während der einzelnen Treffen habe ich die Studierenden, die in meinem Büro waren, technisch unterstützt, die anderen Teilnehmer konnten sich bei technischen Fragen über den Text-Chat von Second Life an mich wenden. Neben den geplanten Aufgaben kamen weitere unvorhergesehene Aufgaben auf mich zu: Als beispielsweise unerwartet Absprachen von Seiten der Kooperationspartner nicht erfüllt waren und das Betreten einer Simulation zum verabredeten Zeitpunkt nicht möglich war (vgl. Kapitel 6.4.1.2, 6.4.2.2, 6.4.3.2 sowie 7.3.2), musste ich in meiner Rolle als Projektorganisatorin schnell Abhilfe schaffen und Lösungen anbieten, die mir als Forscherin nicht behagten. Ich entschied, die Inhalte der Treffen der zweiten und dritten Woche zu tauschen. Zudem wendeten sich die Teilnehmenden nicht nur bei technischen Fragen an mich, sondern stellten auch inhaltliche Rückfragen an mich, was in Kapitel 8.5 weiter ausgeführt wird. Über die Vielfalt an Aufgaben, die ich während des Datenerhebungsprozesses zu erfüllen hatte, hinaus resultierte auch für meine Forschung aus der Doppelrolle Lehrende und Forscherin, in der ich mich befand, eine problema- 79 Die Treffen fanden wöchentlich von Montag bis Freitag statt, jeden Samstag wurde die Aufgabenstellung der kommenden Woche veröffentlicht. <?page no="152"?> 152 tische Situation. Obwohl jegliche qualitative Forschung immer auch im gewissen Maße individuelle Zuschreibung und Interpretation ist (vgl. Kapitel 5.1.2.2), verschärft sich möglicherweise die fehlende Objektivität in einem derartigen Fall. Während des Projektes verdeutlichte ich mir dies durch das Führen eines Forschungstagebuchs, in dem ich Gründe für mein Handeln offenlegte und Entscheidungen reflektierte. Im Prozess der Datenauswertung versuchte ich diese mögliche fehlende Objektivität zu kompensieren, indem die Auswertung der Daten mit Kolleginnen diskutierte (vgl. ebd.). 5.3. Der Prozess der Datenerhebung und Darstellung der gewonnenen Daten Um den Ablauf der Untersuchung nachvollziehen zu können, werden nachfolgend sowohl der Prozess der Datenerhebung sowie die gewonnenen Daten dargestellt. Dazu wird zunächst der Ablauf des Projektes überblicksartig dargestellt (Kapitel 5.3.1). Im Anschluss werden die gewonnenen Daten beschrieben (Kapitel 5.3.2). 5.3.1. Ablauf des Projektes Aufgrund der letztlichen Teilnehmerzahl von 14 Studierenden auf polnischer Seite wurden 14 Gruppen mit Studierenden aus Gießen und Breslau gebildet. Da die Teilnahme der Gießener Studierenden an den Treffen in Second Life zur Sicherung der Daten in meinem Büro stattfinden mussten, war es notwendig, dass sich alle vierzehn Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten in Second Life treffen. Die Gruppenbildung erfolgte demnach sehr pragmatisch in der Art, dass bei den einzelnen Studierenden jeweils mögliche Zeitfenster abgefragt wurden, in der die wöchentlichen Treffen stattfinden können. Anschließend wurden dann die Partner durch mich einander zugeteilt. Aufgrund der Überzahl der Gießener Studierenden wurden fast immer Paare gebildet 80 , die gemein- 80 Diese Paare wurden je nach den angegebenen Zeiten zusammengestellt. Hierbei ist nicht auszuschließen, dass sich die Gießener Studierenden in Paaren zusammengetan haben und Absprachen getroffen haben, bevor sie mögliche Zeitfenster angaben (vgl. dazu Kapitel 6.4.2: Hanna und Nadine als enge Freundinnen hatten identische Zeitfenster angeben). Dies kann nicht kontrolliert werden, ist aber aus den zusammengestellten Gruppen zu vermuten. Andererseits haben die Studierenden der unterschiedlichen Studiengänge vermutlich aber auch sehr ähnliche <?page no="153"?> 153 sam mit einem polnischen Partner kooperierten. Lediglich drei Gießener Studierende hatten einen polnischen Tandempartner allein. Für diese Tandems wurden gezielt muttersprachliche DaF-Studierende im fortgeschrittenen Semester angesprochen. Bei den Paaren der Gießener Studierenden wurde angestrebt, dass mindestens einer der beiden Muttersprachler ist. Dies konnte aufgrund der unterschiedlichen Stundenpläne der verschiedenen Studiengänge nicht immer realisiert werden. Die Zuordnung der polnischen Partner erfolgte, indem mögliche Termine auf beiden Seiten abgeglichen wurden. In vielen anderen Begegnungsprojekten erfolgt die Zuteilung von Partnern mithilfe von Steckbriefen: Eine Gruppe stellt sich anhand eines Briefes vor, die Teilnehmer der anderen Gruppe können sich anhand der Briefe einen ‚passenden’ Partner (also einen Partner mit ähnlichen Interessen) aussuchen. Dieses Vorgehen unterstützt die Gruppenidentität, da Gemeinsamkeiten Verbundenheit schaffen. (vgl. Kapitel 7.1) Da in diesem Projekt das Treffen in der virtuellen Welt und dadurch das synchrone Kommunizieren und Arbeiten gelingen mussten, diente die verfügbare Zeit als zentrales Kriterium der Partnereinteilung. Durch zusätzliche berufliche Verpflichtungen oder lange Distanzen zwischen Studienort und Heimatort waren die möglichen Zeiträume bei vielen Teilnehmern stark eingeschränkt. Das Projekt verlief über eine Dauer von sechs Wochen. Nach der Zuteilung der Gruppen wurde jeder Teilnehmer gebeten, eine Vorstellungsemail an seine(n) Partner zu schicken. Die Aufgabenstellung umfasst eine Mindestmenge an Wörtern, um die Teilnehmer dazu anzuregen, eine hinreichende Menge an Informationen über sich mitzuteilen. In der Aufgabenstellung befanden sich zusätzlich Themen, auf die die Teilnehmer in ihrer E-Mail eingehen konnten (vgl. Abb. 11), um eine möglichst vielschichtige Darstellung bei dem bzw. den Partnern zu erreichen. Beispiele für solche Themen waren ihr familiärer Hintergrund, eine Beschreibung ihrer Wohnsituation, ihre Erfahrungen in Bezug auf das Fremdsprachenlernen und ihre Erwartungen an das Projekt. Die genaue Aufgabenstellung zum Verfassen der Mails ist in Abbildung 11 wiedergegeben. Stundenpläne bzw. verpflichtende Veranstaltungen, so dass es innerhalb der Gruppen jedes Studienganges ähnliche Angaben bei den möglichen Zeiten gab. <?page no="154"?> 154 Abb. 11: Aufgabenstellung zum Verfassen der Vorstellungs-E-Mails Jede der gebildeten Gruppen erhielt überdies einen gruppeneigenen Blog, in dem die Lernenden zum einen die Aufgabenstellungen der einzelnen Treffen schon im Vorfeld finden konnten, zum anderen wurden sie gebeten, in diesem Blog nach jedem Treffen die Begegnung zu reflektieren und zu bewerten. Da diese Reflexion für alle Gruppenmitglieder lesbar war, ist fraglich, in wieweit hier offen Kritik geübt werden konnte; dennoch entschied ich mich für dieses Verfahren der Evaluation der Treffen, da durch die Blogs das Gruppenbewusstsein gefördert werde sollte und zudem schnell überprüft werden konnte, ob alle Teilnehmenden ihre Reflexionen angefertigt hatten. Hallo liebe Projektteilnehmer! Unser Projekt beginnt damit, dass Sie sich Ihren Tandempartnern (bzw. wird es bei einigen ja Dreiergruppen geben, da den Tridempartnern) per E-Mail vorstellen werden. Die Vorstellung sollte Ihren Partnern einen Einblick davon geben, wer Sie sind, was Ihnen wichtig ist und welche Interessen Sie haben. Versuchen Sie auch, durch Ihren Schreibstil zu zeigen, wer Sie sind! Schreiben Sie eine Selbstvorstellung von mindestens 1 1/ 2 Seiten (500 Wörtern). Gehen Sie hierbei (zum Beispiel) auf die folgenden Kategorien ein: * Name, Alter, Herkunft * Familie, Familiengeschichte * Wichtige Ereignisse in Ihrem Leben * Bildungsweg * Einstellungen zu Traditionen und Religionen * Dinge, die Ihnen wichtig sind, Freizeit * Mögen Sie Musik? Filme? Bücher? Welche und warum? * Ihre Geschichte als Fremdsprachenlerner * Was wünschen Sie sich für die Zukunft? * Was erhoffen Sie sich von dem Projekt? Schreiben Sie die Vorstellung in einem Textverarbeitungsprogramm (z.B. Microsoft Word) und schicken Sie sie bis zum 07.11.2009 per E-Mail an Ihre Tandemgruppe und an mich (bitte verwenden Sie hierzu die Adresse [...]). Wenn Sie die E-Mail Ihrer Partners erhalten haben, lesen Sie die Vorstellungen und notieren Sie sich dabei Fragen, die Sie Ihren Partnern stellen möchten oder Themen, die Sie mit ihm besprechen möchten. Ihre Vorstellungen werden als Redeanlass der ersten Begegnung in Second Life dienen! <?page no="155"?> 155 Zudem wollte auch die polnische Lehrerin das Medium Blog im Projekt verwurzelt wissen und legte Wert auf das regelmäßige Verfassen deutschsprachiger Blogbeiträge durch ihre Studierenden. Im Anschluss an den Austausch der E-Mails trafen sich die Tandems und Tridems das erste Mal in Second Life. Auf Gießener Seite war diesem Treffen ein ganztägiger Einführungsworkshop in Second Life vorangegangen, in dem die Teilnehmer bei der Installation des Programmes auf privaten Rechnern unterstützt wurden und die grundlegenden Funktionen und Möglichkeiten der virtuellen Welt vorgestellt und ausprobiert wurden. Im Anschluss durchliefen die Teilnehmer einen Parcours, der schrittweise in die vielfältigen Funktionen von Second Life einführte. Auf polnischer Seite fand ein solcher Einstieg trotz entsprechender Vereinbarung leider nicht statt. Auch der Link zum Parcours, der der Breslauer Seite zur Verfügung gestellt wurde, wurde nicht in Anspruch genommen. Vielmehr wurden die Breslauer Teilnehmer einzeln unmittelbar vor dem Treffen innerhalb von ca. 20 Minuten von der Lehrerin in das Programm eingewiesen. Alle Treffen der Gruppen waren auf 45 Minuten ausgelegt. Die Gruppen konnten diese Zeit ausdehnen, sofern sie dies wünschten, die Möglichkeiten waren aber durch das Erscheinen der nächsten Gruppe begrenzt. Die Gruppen kamen stets zur vollen Stunde in die virtuelle Welt und einige Termine folgten unmittelbar aufeinander, so dass die Gruppen in diesem Fall nur die 15 Minuten, die zwischen den Treffen zweier Gruppen lagen, zusätzlich in Anspruch nehmen konnten. Das erste Treffen diente vor allem dem gegenseitigen Kennenlernen und dem gemeinsamen Erkunden von Second Life 81 . Laut Aufgabenstellung hatten die Gruppen die Aufgabe, Nachfragen zu den Vorstellungs-E-Mails der Partner zu formulieren. Dementsprechend wurde der Fokus bei diesem Treffen vor allem auf die Kommunikation miteinander gelegt; Die Umgebung spielte nur eine untergeordnete Rolle. Das Treffen fand an einem Punkt des Einstiegsparcours statt. An diesem Ort stehen ein virtuelles Gasthaus und eine Schule in einer idyllischen Naturlandschaft 82 . Das zweite Treffen sollte ursprünglich den Besuch des virtuellen DDR- Nachbaus des DDR-Museums Berlin zum Inhalt haben (vgl. Abb. 7 und 8), aufgrund kurzfristig aufgetretener technischer Probleme konnte diese Umge- 81 Der Wortlaut der Aufgabenstellung ist in Abb. 26 in Kapitel 7.2.2.1. abgebildet. Dort werden die Aufgabenbearbeitung und die Formulierung der Aufgabe kritisch reflektiert. 82 Diesen Treffpunkt habe ich gewählt, weil ich davon ausgegangen bin, dass alle Teilnehmer den Einstiegsparcours im Vorfeld der Treffen absolvieren. So wollte ich sicherstellen, dass alle den Treffpunkt einfach finden. Dies gelang auch, obwohl die Breslauer Studierenden den Parcours im Vorfeld nicht besuchten <?page no="156"?> 156 bung nicht von den Teilnehmern besucht werden. Daher entschloss ich mich, ihnen die Mauerausstellung ‚The Wall’ (Abb. 9) sowie das virtuelle Brandenburger Tor (Abb. 10) zu zeigen, bei welchem aufgrund des 20-jährigen Jubiläums der deutschen Wiedervereinigung ebenfalls Informationstafeln und Videos zur Wiedervereinigung ausgestellt waren. Die Aufgabenstellung zu dieser Umgebung lieferte ich den Gruppen aufgrund der spontanen Neuausrichtung des Treffens per Text-Chat direkt zu Beginn der Treffen 83 . Demnach sollten sie gemeinsam durch die Ausstellung und die Umgebung am Brandenburger Tor gehen und über die Ausstellung bzw. die Darstellungen am Brandenburger Tor sprechen. Zusätzlich wurde in der zweiten Woche das Thema des gemeinsamen Projektes von den Tandems/ Tridems gewählt. Es gab eine Liste mit Themen 84 (angelehnt an Neuners universelle Daseinserfahrungen, vgl. Kapitel 3.2.3.), von welcher die Gruppen ein Thema wählten. Dieses Thema sollten sie nun gemeinsam erarbeiten im Hinblick darauf, wie sich dieses Thema in der DDR, aber auch in ihrer eigenen Kultur und in der BRD zur entsprechenden Zeit (sechziger bis achtziger Jahre) darstellte. In der dritten Woche konnte der für die zweite Woche geplante Besuch der DDR-Umgebung nachgeholt werden; wenn auch weiterhin mit technischen Problemen: Die Umgebung war noch nicht fertig gestellt und nicht öffentlich zugänglich (vgl. Kapitel 5.2.1). Der Voice-Chat war in dieser Umgebung aufgrund dessen nicht nutzbar, so dass die Gespräche der Teilnehmer auf den Text-Chat beschränkt blieben. Die Gruppen bekamen die Aufgabe 85 , gemeinsam durch die Umgebung zu laufen und vier bestimmte Gebäude aufzusuchen. Währenddessen sollten sie miteinander darüber sprechen, was sie sehen und insbesondere auf Beobachtungen eingehen, die sie überraschen oder die ihnen aus anderen Gründen auffallen. Der Entwickler der DDR- Umgebung bat mich zudem, die Nutzung von virtuellen Trabbis mit meinen Studierenden zu testen, die die Entwickler für die Umgebung erstellt hatten. Ich sagte zu, dass meine Studierenden diese Trabbis gern ausprobieren würden, sofern wir innerhalb der Treffen noch Zeit für eine Beschäftigung mit den Autos haben. In dem Fall sollen die Trabbis am Ende der Treffen an die Teilnehmenden verteilt werden. 83 Zur genauen Aufgabenstellung vgl. Abb. 27 in Kapitel 7.2.2.2. 84 Die Themen, die zur Verfügung standen, waren ‚Erziehung und Bildung’, ‚Sicherheitspolitik’, ‚Familie’, ‚Frauen’, ‚soziale Sicherung’, ‚Religion und Kirche’, ‚Presse und Kommunikation’, ‚Reisen und Mobilität’, Musik’, ‚Jugendkulturen’, ‚Sport’, ‚Wirtschaft, und ‚Wohnen’. 85 Die Aufgabenstellung findet sich ebenfalls in einem späteren Kapitel der Arbeit, sie ist in. Abb. 28 in Kapitel 7.2.2.3., zu finden. <?page no="157"?> 157 Nach einer einwöchigen Pause, in der die polnischen Studierenden eine Exkursion nach Deutschland unternahmen, trafen sich die Gruppen wieder in Second Life und diskutierten über die von ihnen recherchierten Themen. Die Aufgabenstellung 86 forderte von den Teilnehmenden, dass sie sich zunächst gegenseitig ihre Rechercheergebnisse vortragen, um im Anschluss Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihren Heimatländern festzustellen. Auf Basis festgestellten Unterschiede sollte dann die Präsentation geplant werden, die die Gruppe in der darauf folgenden Woche der Gesamtgruppe in Second Life präsentieren sollte. Diese Präsentationen in der sechsten Woche bildeten den Abschluss des Projektes. Sie fanden vor allem aufgrund des Wunsches der polnischen Lehrerin statt, die am Ende des Projektes über ein bewertbares Produkt verfügen wollte 87 . 5.3.2. Die erhobenen Daten Die Beantwortung der Forschungsfragen erfolgt vorrangig auf Grundlage der Videos, welche von den Treffen der jeweiligen Tandems bzw. Tridems mitgeschnitten wurden. Insgesamt lagen rund 64 Stunden Videomaterial vor. Der genaue Prozess der Erhebung der Videodaten wird unter 5.3.3.2. dargestellt. Zusätzlich wurden zwei Fragebögen von den Teilnehmenden ausgefüllt: Ein Fragebogen vor Beginn des Projektes einer danach. Im Vorab-Fragebogen wurden biographische Daten der Teilnehmenden erfasst sowie ihre Vorerfahrungen im Bezug auf die Arbeit mit digitalen Medien und ihre Einstellung zur Behandlung geschichtlicher Themen. Außerdem wurden erste Assoziationen zum Thema ‚Teilung Deutschlands und Deutsche Wiedervereinigung’ abgefragt. Der zweite Fragebogen war offener gehalten. Diesmal sollten die Teilnehmenden die Möglichkeit haben, Rückmeldungen zum Ablauf des Projektes zu geben: ihre Zufriedenheit hinsichtlich der Zusammenarbeit in der Gruppe wurde abgefragt, ebenso sollten sie den Ablauf des Projektes und die besichtigten Orte in Second Life bewerten. Dieser Fragebogen wurde anonym erhoben, da ich hierdurch hoffte, offenere Aussagen der Teilnehmenden zu erhalten. Neben den Fragebögen gab es zudem die Tagebucheinträge der jeweiligen Gruppenmitglieder im gemeinsamen Gruppenblog. Im Blog sollte jeder Teilnehmer nach einem Treffen dessen Inhalt zusammenfassen und angeben, was 86 Zur genauen Aufgabenstellung vgl. Abb. 29 in Kapitel 7.2.2.4., hier wird die Aufgabenbearbeitung und die Formulierung der Aufgabe kritisch reflektiert. 87 Diese Produktorientierung beeinflusste im hohen Maße den Ablauf der vierten Treffen. Die Lernenden diskutierten hier alle sehr engagiert den Aufbau und die Organisation der Präsentation, allerdings weniger die inhaltlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der einzelnen Länder, vgl. Kapitel 7.2.2.4. <?page no="158"?> 158 ihm am Treffen gefallen oder gestört hat. Die genaue Aufgabenstellung zum Führen der Tagebücher findet sich in der nachfolgenden Abbildung 12. Da diese Einträge auch für andere Gruppenmitglieder sichtbar waren, ist die Offenheit der Aussagen fraglich, allerdings war das Führen des Blogs ein Zugeständnis an die begleitende Lehrerin der Partnergruppe und konnte nicht durch eine privatere Form der Reflexion ersetzt werden (vgl. Kapitel 5.3.1) Abb. 12: Aufgabenstellung zum Verfassen der Lerntagebücher Wie bereits ausgeführt, waren die Videomitschnitte meine primäre Datenquelle. Die anderen erhobenen Daten nahm ich hinzu, um zu versuchen, das Verhalten der Teilnehmenden zu erklären. Bei den Videomitschnitten konzentrierte ich mich auf die einzelnen Gruppentreffen. Auch die gemeinsame Präsentation der Gruppenarbeiten am Ende des Projektes habe ich mitgefilmt, diese wurde aber nicht in die Datenauswertung mit einbezogen. Die einzelnen Präsentationen waren zeitlich sehr stark begrenzt, jede Gruppe hatte nur rund fünf Minuten Zeit, ihre Ergebnisse vorzustellen. Diesem Umstand geschuldet wurden die Präsentationen der Studierenden im Anschluss nicht diskutiert, es gab auch keine Rückfragen der anderen Teilnehmer. Das Verhalten der Vortragenden war durch die Vorgabe der Präsentationsform in Aufgabenstellung zum Verfassen der Lerntagebücher In Ihren Tandemblogs sollen Sie neben der Dokumentation Ihrer Projekte auch ein Lerntagebuch führen. Dazu gibt es für jeden Partner eine eigene Kategorie. Nach jedem Treffen mit Ihrem Partner in Second Life sollen Sie das Treffen kurz in einem neuen Artikel in Ihrem Lerntagebuch reflektieren. Sie haben natürlich die Möglichkeit, alles hier aufzuschreiben, was Ihnen einfällt. Hier ein paar Leitfragen, die Sie als Anregung für das Lerntagebuch verstehen können: • Was haben Sie gemacht? Wie sind Sie vorgegangen? • Wo in Second Life waren Sie? • Wie war die Atmosphäre? • Gab es besondere Ereignisse/ Probleme/ Missverständnisse? • Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen? • Haben sich Ihre Vermutungen bestätigt? • Haben Sie Erklärungen für die Ergebnisse? • Welche neuen Fragestellungen haben sich daraus entwickelt? • Wie werden Sie weiter vorgehen? • Wie beschreiben Sie die Sitzung alles in allem? Die Artikel müssen keinen festgelegten Umfang aufweisen, aber Sie sollten sich dafür Zeit nehmen und die Eindrücke so schnell wie möglich nach dem Treffen festhalten. <?page no="159"?> 159 hohem Maße fremdbestimmt; viele lasen ihre Rechercheergebnisse einfach der Reihe nach vor. Aufgrund dessen konnte ich nach einer ersten Sichtung des Materials keine Daten aus diesen Videodateien ermitteln, die Auskunft über die Forschungsfragen gaben und entschloss mich dazu, die Präsentationssitzung nicht mit auszuwerten. Da der Fokus der Datenerhebung auf den Videos lag, soll nachfolgend der Prozess der Erhebung von Videodaten, die Videographie, zunächst theoretisch ausgeführt werden. Im Anschluss wird die Videographie in diesem Forschungsprojekt beschrieben. 5.3.3. Videographie als Methode der Datenerhebung Mit Videographie wird in der empirischen Forschung eine Methode bezeichnet, bei der Daten mittels Videoaufzeichnungen dokumentiert werden. Dabei ist anzumerken, dass der Begriff Videographie als solcher - analog zum Begriff der Fotographie - lediglich beschreibt, dass die Daten auf einem Videoband aufgezeichnet werden. Die Videographie als Forschungsmethode geht über diese wörtliche Definition hinaus und umfasst auch theoretische Konzepte zur Validierung der Videoaufnahmen sowie unterschiedliche Konzepte, Zugang zu den erhobenen Daten zu finden. Die Videographie wird vor allem in der Ethnographie eingesetzt, um Studien fremder Kulturen durchzuführen (vgl. Jacknis 1988), doch war auch die Didaktik eine der ersten Forschungsfelder, die sich der Videographie bediente, um Unterrichtsgeschehen zu dokumentieren und der Analyse zugänglich zu machen (vgl. Kapitel 5.3.3.1). Dinkelaker und Herrle (2009, 10) unterscheiden die Studien, die Videodaten nutzen, um Aussagen über Erziehung und Bildung zu tätigen, von Filmanalysen, welche das Video als Unterrichtsgegenstand untersuchen, also die videogestützte Unterrichtsqualitätsforschung und die erziehungwissenschaftliche Videographie. Während die videogestützte Unterrichtsqualitätsforschung aufgrund von theoretisch aufgestellten Hypothesen Häufigkeiten von Merkmalen messe und diese dann in einem Rating in quantitative Daten überführe, um die eingangs aufgestellten Hypothesen zu bestätigen oder zu verwerfen, analysiere die erziehungswissenschaftliche Videographie möglichst eng an den erhobenen Videodaten. Ziel der erziehungswissenschaftlichen Videographie sei es, „[d]ie Interaktion prägenden Prozesse und Muster des Lehr-Lern-Geschehens in ihrer Komplexität zu rekonstruieren” (Dinkelaker und Herrle 2009, 11). Damit ist die Videographie qualitativ ausgelegt und versucht, Zusammenhänge unterschiedlicher Merkmale aufzudecken, um neue theoretische Konzepte zu generieren. Auch wenn diese Definition sich aus einer erziehungswissenschaftlicher Per- <?page no="160"?> 160 spektive ergibt, lässt sie sich auch auf die videographischen Analysen in Fachdidaktiken übertragen, wobei hier vor allem fachspezifische und unterrichtsmethodische Aspekte Teil der Untersuchung sind, während die erziehungswissenschaftliche Perspektive die Lernenden als Personen in den Fokus ihrer Untersuchungen rückt. Dabei muss betont werden, dass die Videographie eine Erhebung- und keine Forschungsmethode darstellt. Zur Auswertung der Daten müssen gesonderte empirische Methoden verwendet werden, so können videographisch erhobene Daten analysiert werden mit Hilfe der Objektiven Hermeneutik (vgl. Oeverman u.a. 1979), der Konversationsanalyse (vgl. Bergmann 1981), der Dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2001) oder der Grounded Theorie (vgl. Glaser/ Strauss (2010) [...] [wie auch durch] ethnografische (vgl. Geertz 1987) und praxistheoretische (vgl. Reckwitz 2003) Zugänge. (Dinkelaker und Herrle, 2009, 12) Obwohl damit ein breites Spektrum an Methoden zur Datenauswertung zur Verfügung steht, sind diese Methoden vorrangig für textuelle Daten konzipiert. Häufig müssen für Videodaten Anpassungen der unterschiedlichen Methoden vorgenommen werden; vereinzelt wurden derartige Weiterentwicklung von den Schulen, aus denen die jeweiligen Methoden entstammen, selbst vorgenommen, zumeist obliegt diese Aufgabe aber dem jeweiligen Forschenden 88 . Die Notwendigkeit für derartige Anpassungen liegt in der Komplexität von Videodaten begründet: Videoaufnahmen erfassen neben allen Geräuschen, die innerhalb des Untersuchungskontextes erfolgen, auch Bilddaten. Für den Unterricht bedeutet das, das neben dem Unterrichtsgespräch je nach Fokus der Videokamera auch Gesten und Mimiken von Lernenden und/ oder Lehrern aufgezeichnet werden, ebenso den Aufmerksamkeitsfokus der Lernenden (Schauen sie nach vorne oder reden sie mit Tischnachbarn? ), Unterrichtsmaterialien wie der Tafelanschrieb oder (bei Nahaufnahmen) Notizen der Schüler an ihrem Platz: Weil Videodokumente sowohl Hörbares als auch Sichtbares konservieren und das Zusammenspiel von Ereignissen auf beiden Wahrnehmungsebenen zu erfassen in der Lage sind, können über sie tiefere Einblicke in das Interaktionsgeschehen gewonnen werden. Interaktion erweist sich auf dieser Datengrundlage als ein überaus komplexes Geschehen, in dem verbale Kommunikation mit dem stetigen Wandel von Körperhaltungen, Gesten, Gesichtsausdrücken und Blicken im Raum einhergeht und in dem jenseits des dominanten Interaktionsgeschehens immer auch weitere Äußerungen, Ereignisse und Zustände 88 Wobei der Forschende hierbei immer sehr sorgfältig und reflektiert vorgehen muss, um die Qualität der Forschung nicht zu gefährden, insbesondere die in Kapitel 5.1.1 und Kapitel 5.1.2 genannten Prinzipien und Bewertungskriterien qualitativer Forschung müssen eingehalten werden. <?page no="161"?> 161 zu beobachten sind. Die Vorstellung eines linear geordneten Ablaufs der Interaktion, wie sie sich bei der Beschränkung auf den verbalen Austausch einstellt, erweist sich vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen als Vereinfachung. Audiovisuelle Aufzeichnungen ermöglichen es, die für Interaktionen konstitutive Komplexität der nacheinander stattfindenden Gleichzeitigkeit unterschiedlichster visueller und auditiver Äußerungen und Ereignisse in phänomenologischer Weise zugänglich zu machen (Dinkelaker und Herrle, 2009, 15). Videoaufzeichnungen erfassen denoch nicht Alles, sondern nur das, worauf die Videokamera fokussiert ist. Der Forscher muss sich demnach im Vorfeld sehr sorgfältig überlegen, worauf er den Fokus richten möchte und ob er mehrere Kameras benötigt; selbst bei mehreren Kameras muss aber deutlich werden, dass nie alle Aspekte des Unterrichts erfasst werden können, zumal andere Sinneseindrücke wie Gerüche, Temperaturen und Tastsinn nicht berücksichtigt werden. Videos müssen, um verwertbar zu sein, weiter aufbereitet werden; die Transkription von Videos, um sie in eine textuelle Form zu überführen, ist bislang zwingend notwendig und Ausgangspunkt der Analyse der Daten. Diese Transkription ist allerdings auch immer interpretierend (vgl. Kapitel 5.4.2). 5.3.3.1. Videographie in der Fremdsprachendidaktik Die Videographie ist in der Fremdsprachendidaktik sei über 35 Jahren eine übliche Methode, die insbesondere für die Analyse von Unterrichtsdiskursen verwendet wird (vgl. z.B: Sinclair/ Coulthard 1975; Ehlich/ Rehbein 1976a, 1977; Lörscher 1983). Die Didaktik war damit eine der ersten Wissenschaften, welche Untersuchungen mit Hilfe von Videos durchführte und diese Forschung zu einem sehr frühen Zeitpunkt bereits sehr stark differenzierte, weshalb sich auch zahlreiche andere Fachwissenschaften methodologisch auf fremdsprachendidaktische Arbeiten beziehen (vgl. Schramm/ Aguado 2010, 188.). Diese lange Forschungstradition ist in der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes Unterricht begründet: Für die Untersuchung von ‚Kommunikation unter Anwesenden’ ist die Videographie [...] unverzichtbar, weil nur sie es ermöglicht, die Kommunikation in ihrer ‚räumlichen Situierung und personellen Gesamtheit’ (Nolda 2007: 480) zu erfassen. (Schramm und Aguado 2010, 196). Die Videographie hat in fremdsprachendidaktischer Forschung in den letzten Jahren noch zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Nicht zuletzt aufgrund der immer günstiger werdenden Aufzeichnungsgeräte, insbesondere aber auch durch die Digitalisierung der Daten und die damit wesentlich einfachere Auf- <?page no="162"?> 162 bereitung und Auswertung von Videomaterial greifen immer mehr Studien innerhalb der Fremdsprachendidaktik auf Videoaufnahmen als eine Form der Datenerhebung zurück. Wie oben bereits erwähnt wurde, ist die Videographie als solche keine wissenschaftliche Methode, sondern eine Form der Datenerhebung. Da viele Forschungsvorhaben lediglich die Videographie als ihre Erhebungsmethode betrachteten und sich darüber hinaus auf keine empirischen Methoden bezogen, kam Wild (2003, 98) zu der Einschätzung, dass viele der videographischen Studien innerhalb der Fremdsprachendidaktik „daher in der Regel auch nicht den üblichen methodologischen Ansprüchen empirischer Forschung [entsprachen]”. Videographie bildet nur das Beobachtbare ab. Interpretationen oder Befindlichkeiten der betroffenen Personen oder zusätzliche Informationen können nicht ermittelt werden, so dass zusätzlich zur Videographie die Erhebung weiterer Daten als notwendig erachtet wird (vgl. Knoblauch 2006). Es wurde deutlich, dass in der traditionellen Verwendungsweise der Videographie innerhalb der Fremdsprachendidaktik vor allem Unterrichtsbeobachtungen im Zentrum standen. Die hier beschriebene Untersuchung unterscheidet sich in erheblichem Maße von diesen Erhebungen. Die Lernenden befinden sich in keinem lehrerzentrierten Unterrichtssetting, sondern in einer Tandemsituation. Zudem findet der Austausch nicht face-to-face statt, sondern über eine Plattform im Internet mit Hilfe eines Avatars. Die Besonderheiten, die hieraus für die Videographie resultieren, sollen nachfolgend dargelegt werden. 5.3.3.2. Videographische Datenerhebung im vorliegenden Projekt Im Gegensatz zu dem in Kapitel 5.3.3.1 dargestellten Einsatz der Videographie im Fremdsprachenunterricht findet das hier beschriebene Forschungsprojekt nicht in einem Klassenzimmer statt, sondern untersucht das Lernen in einer virtuellen Welt. Die Lernsituation wird also mit Hilfe eines Computers realisiert und findet auf dem Computerbildschirm statt. Bei Untersuchungen von computergestütztem Lernen ist das Bildschirmgeschehen von besonderer Bedeutung. Das genaue Vorgehen und Agieren der Lernenden kann gerade für die Untersuchung von Lernprozessen entscheidend sein, da hierdurch eingeschlagene Lösungswege oder potentielle Probleme der Lernenden bei der Bewältigung einer Aufgabe deutlich werden. Um dieses Bildschirmgeschehen aufzuzeichnen und für die weitere Auswertung nutzbar zu machen, kann man eine sogenannte Screen-Capture Software verwenden. Dabei handelt es sich um ein Programm, dass im Hintergrund auf dem Computer mitläuft und die Aufzeichnung von allen <?page no="163"?> 163 Vorgängen ermöglicht, die auf einem Computerbildschirm vorgenommen wurden. Innerhalb der Einstellungen dieser Software kann individuell entschieden werden, ob der komplette Bildschirm oder aber auch nur bestimmte Programmfenster oder Bildschirmausschnitte erfasst werden. Zusätzlich werden fakultativ auch Mausbewegungen und Töne (sowohl aus der Umgebung als auch innerhalb des Programms) aufgezeichnet. Man benötigt also keine Videokamera, um die Interaktionen der Lernenden zu filmen, das Programm arbeitet weitgehend ‚unsichtbar’ im Hintergrund, so dass die Lernenden bei der Interaktion nicht beeinträchtigt oder gestört werden. Es gibt verschiedene Screen Capture-Programme. Für diese Arbeit wurde die weit verbreitete Software Camtasia Studio 89 gewählt. Camtasia ist sehr intuitiv in der Bedienung und bietet zu einem günstigen Preis vielfältige Optionen, beispielsweise einen automatischen Zoom auf aktive Teile des Bildschirms, die zusätzliche Aufnahme von Außengeräuschen oder des Lernenden via Webcam 90 . Der Untersuchungsaufbau und -ablauf gestalteten sich wie folgt: Jeweils ein Studierender aus Gießen befand sich an einem Computer, auf dem die für die Aufzeichnung erforderliche Software Camtasia installiert war, und loggte sich dort in die virtuelle Welt Second Life ein. Bei Tridems befand sich die zweite Person fakultativ ebenfalls im gleichen Raum 91 . Ich begleitete das Treffen an meinem eigenen Rechner und konnte so das Geschehen direkt in der Realität und der virtuellen Welt begleiten. Das Programmfenster von Second Life nahm den kompletten Bildschirm ein und wurde mit allen Aktionen, die auf dem Bildschirm sichtbar waren, aufgezeichnet. Zusätzlich wurden alle weiteren Signale aufgenommen, die über den Audioausgang des Computers hörbar waren sowie ebenfalls der externe Ton innerhalb des Raumes. Auf diese Weise wurde simultan erfasst, wenn die Studierenden Rückfragen oder Kommentare an mich richteten. Aufgrund der Tatsache, dass lediglich der Computerbildschirm aufgezeichnet wurde, sind die Mimik und Gestik der Teilnehmer nicht erfasst worden. Um die Lernenden genauer zu beobachten, hätte eine Videokamera zusätzlich im Raum aufgestellt werden können, die das Gesicht des Lernenden erfasst. Auf polnischer Seite bestand nicht die Möglichkeit eine Videokamera 89 Camtasia Studio wurde von der Firma TechSmith entwickelt. Unter http: / / www.techsmith.de/ camtasia.asp kann man einen ersten Einblick in die Software gewinnen sowie eine 30-tägige, kostenlose Testversion der Software herunterladen. 90 Auch andere Arbeiten in der fremdsprachendidaktischen Forschung haben zur Erfassung von Bildschirmgeschehen Camtasia verwendet, so beispielsweise Schmidt (2007). 91 Dies geschah auf Wunsch der Studierenden und je nach privater Computerausstattung und Internetverbindung. <?page no="164"?> 164 aufzubauen, so dass lediglich Mimik und Gestik eines Gießener Studierenden zur Verfügung gestanden hätten. Da diese aber für meinen Untersuchungsgegenstand ohnehin nicht zentral waren und die Auswertung nur eines Gruppenteilnehmers die Interpretation der Daten vermutlich beeinflusst hätte, habe ich mich entschieden, ausschließlich die Interaktion der Lernenden miteinander in der virtuellen Welt auszuwerten. Zwar erfolgt die Aufnahme der Daten auch aus der Perspektive eines Lernenden, so dass ich als Forschende immer genau das sehe, was auch einer der Gruppenteilnehmer sieht 92 , so dass die Fokussierung der anderen Gruppenteilnehmer im Zweifel weniger genau nachgezeichnet werden können; allerdings werden hierdurch auch nur all die Informationen im Video berücksichtigt, die auch der Lernende im Interaktionsprozess zur Verfügung hatte. Darüber hinaus muss betont werden, dass die aufgezeichneten Daten vor allem hinsichtlich der verbalen und getippten Gespräche der Gruppe untereinander von Bedeutung waren, sowie hinsichtlich der virtuellen Exponate und Erinnerungsräume, die die Gruppen sich zum Gesprächszeitraum jeweils ansahen. Zudem waren die Teilnehmenden durch ihre Avatare repräsentiert, welche hinsichtlich der Blickrichtung, Gestik und Mimik nicht bewusst gelenkt wurden. Diese Aspekte, die in der klassischen Videotranskription von Bedeutung sind, müssen dadurch nicht berücksichtigt werden. Umgekehrt kamen neben den verbalen Gesprächen die Text-Chats als weiterer Kommunikationskanal hinzu und mussten mit aufbereitet und ausgewertet werden (zur Aufbereitung der Daten vgl. Kapitel 5.4). Die ersten Datenerhebungen wurden ausschließlich mit Camtasia durchgeführt, die Aufnahmen umfassten die maximale Größe des Bildschirmfensters. Bevor man in Camtasia aufgenommene Videos mit herkömmlichen Video- Playern betrachten kann, müssen die Rohdaten konvertiert werden. Dieser Zwischenschritt ermöglicht es, dass Video nach der Aufzeichnung zu bearbei- 92 Dazu muss angemerkt werden, dass auch die Aufnahme der Daten aus der Perspektive eines Teilnehmers schon die Interpretation des Videomaterials beeinflusst haben dürfte. Da ich nach dem ersten Tag der Datenerhebung einen zweiten Computer in die Datenerhebung involvierte, auf dem das Geschehen von dritter Seite aufgenommen wurde (vgl. nachfolgende Ausführungen) konnten hier zwei verschiedene Perspektiven trianguliert werden. Es wäre wünschenswert gewesen, auch von den anderen Teilnehmenden Prozessdaten zu haben (so konnten von dem Teilnehmer, der gefilmt wurde, beispielsweise auch nicht abgeschickte Text- Chat Beiträge oder Think-Alouds ermittelt werden), dies hätte aber zwei zusätzliche Lizenzen der Aufnahmesoftware bedurft und wäre vermutlich auf polnischer Seite nicht zu organisieren gewesen. Da für die Fragestellungen innerhalb der Untersuchung keine Prozessdaten notwendig waren, wurde auf die Erfassung aller drei Computerbildschirme verzichtet. <?page no="165"?> 165 ten. Da ich aber eine unbearbeitete Darstellung des Computerbildschirmes verwenden wollte, um die Daten nicht zu verfälschen, war eine derartige Nachbearbeitung der Aufnahme nicht nötig. Durch den Prozess der Konvertierung kam es allerdings zu immensen zeitlichen Verzögerungen. So konnte die Überprüfung der Vollständigkeit und Qualität der Aufzeichnungen nicht zeitnah zu deren Aufnahme erfolgen, sondern erst nach Beendigung der Aufnahmen des ersten Tages 93 . Am Ende des ersten Tages der Datenerhebung musste ich dann feststellen, dass die Hardwareanforderungen durch den gleichzeitigen Einsatz von Second Life und Camtasia für den für die Datenerhebung gewählten Computer zu hoch waren. Dies hatte zur Folge, dass eine Überlastung des Arbeitsspeichers zum frühzeitigen Abbruch der Aufzeichnungen geführt hatte, wodurch die ersten Daten nicht optimal verwendbar waren. Aufgrund dieser Problematik wurde das Bildschirmgeschehen der folgenden Sitzungen nun in einem verkleinerten Bildschirmfenster mit niedrigerer Auflösung gefilmt und somit die benötigte Leistung des Arbeitsspeichers verringert. Ergänzend wurde zur Sicherung parallel mit einem zweiten Aufnahmegerät, bestehend aus meinem privaten Macbook und der Aufzeichnungssoftware IShowU 94 gearbeitet, welche durch mich bedient wurde. 95 Mit der so angepassten Hard- und Softwareausstattung verliefen die Aufnahmen der weiteren Treffen problemlos. 5.3.4. Weitere Formen der Datenerhebung Neben den aufgezeichneten Treffen der einzelne Gruppen stehen als weitere Daten die Gruppenblogs zur Verfügung, insbesondere die hier geführten Tagebücher der einzelnen Lernenden, in denen sie nach jedem Treffen diese Begegnung reflektiert und bewertet haben. Darüber hinaus wurden sowohl zu Beginn des Projektes als auch im Abschluss Fragebögen von allen Teilnehmenden ausgefüllt. Während die Vorab- Fragebögen die Vorerfahrung der Lernenden mit einzelnen computergestütz- 93 Erschwerend kam hinzu, dass in der Regel drei bis fünf Gruppen direkt hintereinander ihre Treffen abhielten, da die Studienpläne der Studierenden gerade in Polen identisch waren und nur bestimmte Zeitfenster zur Durchführung der Treffen zuließen. 94 Zum Zeitpunkt der Datenerhebung war Camtasia Studio noch nicht für Macintosh-Computer verfügbar, dies hat sich mittlerweile geändert. 95 Das Filmen aus meiner Perspektive war notwendig, da die Bedienung von Second Life am Macbook anders erfolgt als am PC und die Studierenden mit der Bedienung des Macbooks nicht geübt waren. <?page no="166"?> 166 ten Arbeitsschritten sowie ihre Einstellung zu historischen Themen allgemein und der neueren Deutschen Geschichte im Speziellen abfragte, war der zweite Fragebogen offener gehalten. In diesem wurde um Rückmeldung der Lernenden hinsichtlich des Projektes gebeten sowie gezielt die Zusammenarbeit im Team hinterfragt. Die Gießener Studierenden fertigten zusätzlich resümmierende Hausarbeiten an, in die die Reflexionen der einzelnen Treffen mit einflossen, diese aber auch mit den theoretischen Texten der Seminarsitzungen und dem Projekt als Ganzes in Beziehung gesetzt wurden. Alle hier erwähnten Daten wurden triangulierend hinzugezogen, um Vermutungen, die auf der Analyse der Videos basierten, zu unterstützen oder zu widerlegen oder um zusätzliche Erklärungsansätze zu liefern. 5.4. Die Aufbereitung und Auswertung der Daten Da die Wahl der Methode, nach der die Daten im Anschluss ausgewertet werden, auch Einfluss auf die Form der Datenauswahl und -aufbereitung hat, sollen die folgende Punkte hier gemeinsam dargestellt werden. Die Beantwortung der aufgestellten Forschungsfragen soll vor allem mit Hilfe Analyse der Screencapture-Aufnahmen erfolgen (vgl. Kapitel 5.2), wobei zusätzliche Materialien wie die Lerntagebücher triangulativ hinzugezogen werden. 5.4.1. Die Wahl der Auswertungsmethode Bei der Wahl der Auswertungsmethode bestimmten folgende Kriterien meine Entscheidungen: Die Auswertungsmethode musste flexibel genug sein, um die neuartige Form des Datenmaterials (Screen Capture-Aufnahmen mit Voice-Chat und Text-Chat) damit auswerten zu können, zudem sollte sie es erlauben, den Verlauf der einzelnen Treffen genauer zu untersuchen und Aussagen über Kriterien zu machen, die relevant sind, um derartige Projekte gelingen zu lassen. Zunächst hatte ich geplant, die Daten ausschließlich entsprechend der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2008, 2000) auszuwerten. Mayring betont, dass die Inhaltsanalyse immer auf ihren jeweiligen Gegenstand angepasst werde müsse. Sie sei keine feststehende Technik, sie werde stets unterschiedlich ausgestaltet (vgl. Mayring 2008, 42). Damit trägt die qualitative Inhaltsanalyse zum einen der Offenheit der Fragestellung, die qualitative Forschung kennzeichnet, Rechnung; zum anderen bietet sie eine klare Struktur, nach der die Datenanalyse vorzunehmen ist: die Kategorienbildung. Bei der <?page no="167"?> 167 qualitativen Inhaltsanalyse werden die Daten ausgewertet, indem sie einzelnen Kategorien zugeteilt werden. Diese Kategorien erlauben es dann, Aussagen zum Verhalten der Probanden zu machen. Bei der Kategorienbildung wird zwischen dem deduktiven und dem induktiven Vorgehen unterschieden. Beim deduktiven Vorgehen ergeben sich die Kategorien aus Vorüberlegungen, aus dem bisherigen Forschungsstand oder aus neu entwickelten Theoriekonzepten. Die Kategorien stehen also fest, bevor das Material betrachtet wird. Die Datensätze werden dann den bestehenden Kategorien zugeordnet. Bei der induktiven Kategorienbildung werden die Kategorien direkt aus dem Material abgeleitet, ohne sich zuvor auf Theoriekonzepte bezogen zu haben. Dieses Vorgehen versucht, das Material möglichst gegenstandsnah abzubilden, ohne es durch Vorannahmen des Forschers zu verfälschen (vgl. Mayring 2008, 74f.). Indem die Kategorien am Ende der Auswertung auch ausgezählt werden können, also die Häufigkeit des Auftretens einzelner Kategorien in den Daten zueinander in Beziehung gesetzt werden können, stellt die Qualitative Inhaltsanalyse einer Methode dar, die zwar qualitativ durchgeführt wird, durchaus aber auch quantitative Aspekte beinhaltet. Es wurde eine Auswertung nach der qualitativen Inhaltsanalyse von Mayring durchgeführt (vgl. Biebighäuser 2012b). Hierzu wurde eine Mischform aus induktiver und deduktiver Kategorienbildung genutzt 96 : Die Oberkategorien wurden anhand der aufgestellten Hypothesen erstellt, die einzelnen Unterkategorien, die zur konkreten Beantwortung der Hypothesen benötigt werden, wurden aber im Prozess der Kodierung entwickelt. Da bislang noch keine Forschung im Bereich des landeskundlichen Lernens in virtuellen Welten existierte, war es nicht absehbar, welche Aspekte von Interesse sein würden, so dass dieses offene Herangehen unabdingbar war. Die Auswertung nach der qualitativen Inhaltsanalyse förderte Ergebnisse zutage, die in Kapitel 7 und 8 diskutiert werden: verschiedene Aspekte des Lernens in virtuellen Welten werden hier in allen Gruppen beleuchtet und anhand der Kategorienbildung konnten Aussagen zur Rolle des Kommunikationsmediums, zur Funktion der Avatare, zum Umgang mit den gestellten Aufgaben, zu virtuellen Welten als Begegnungsort sowie zum historischen Lernen in virtuellen Welten getätigt werden (vgl. Kapitel 7.1 bis 7.4 sowie Kapitel 8). 96 Ich vermute, dass das rein induktive Vorgehen ohnehin schwer durchführbar ist, da der Forscher immer mit vorhandenem Vorwissen im Forschungsfeld an die Daten herangeht und dementsprechend auch zu Beginn der Datenauswertung Hypothesen und Erwartungen an die Daten anlegt, die bei der Gestaltung von Kategorien zumindest unterbewusst eine Rolle spielen. <?page no="168"?> 168 Während der Datenauswertung wurde ein Merkmal der qualitativen Inhaltsanalyse besonders augenfällig: Indem die einzelnen Datenkorpora zerteilt werden und die jeweiligen Abschnitte den unterschiedlichen Kategorien zugeordnet werden, geht die Sequenzialität des Korpus verloren. Für verschiedene Kategorien können unterschiedliche Belege aufgerufen werden, allerdings bleibt unklar, in welchen Zusammenhang diese Datenstellen ursprünglich aufgetaucht sind und ob möglicherweise eine typische Abfolge von Handlungen bzw. Kategorien in der Sequenz eines Korpus zu erkennen ist. Die qualitative Inhaltsanalyse geht also horizontal durch die Daten und ist damit in der Lage, im kompletten Datenmaterial verschiedene Formen von Verhalten entsprechend einer Kategorie aufzuzeigen; dies aber nur isoliert, der Gesamtzusammenhang geht verloren. Für die Frage nach der Interaktion der Gruppen untereinander und die Herausbildung von Rollenzuweisungen innerhalb der Gruppe lieferte mir die Methode allerdings keine ertragreichen Ergebnisse, da hierfür die Entwicklung der einzelnen Gruppen und der Verlauf ihrer Treffen in hohem Maße relevant sind. Zur Beantwortung dieser Frage wurde es notwendig, die Daten mit Hilfe einer anderen Auswertungsmethode noch einmal zu betrachten, die der benötigten Chronologie Rechnung trägt. Für diese chronologische Auswertung kam die dokumentarische Methode nach Bohnsack für mich in Betracht. Diese Methode bietet den Vorteil, dass sie - ursprünglich für Gruppendiskussionen (Bohnsack 1989) entwickelt - mittlerweile für verschiedenste Formen von Daten wie Interviews (Nohl 2006), historische Texte, Bilder (Bohnsack 2003, 2007) und Videos (Wagner-Willi 2007) angewendet wurde, so dass es Anleitungen zur Auswertung unterschiedlichster Daten gab, an denen ich mich orientieren konnte. Die dokumentarische Methode entstammt den Sozial- und Erziehungswissenschaften und hat darüber hinaus eine breite Anwendung gefunden. Sie wird mittlerweile aber auch in anderen Bereichen wie der Medizin oder der Wirtschaftsforschung eingesetzt (vgl. Bohnsack 2010, 31). Zentral für die dokumentarische Methode ist, dass ihre Analyseverfahren einen Zugang „nicht nur zum reflexiven, sondern auch zum handlungsleitenden Wissen der Akteure und damit zur Handlungspraxis” (Bohnsack, Nentwing-Gesemann & Nohl 2007, 9) herstellen. Als handlungsleitendes Wissen bezeichnet Bohnsack all jene Wissensbestände, die das praktische Handeln der Akteure anleiten. Die dokumentarische Methode baut damit auf der Wissenssoziologie 97 Karl 97 Die Wissenssoziologie Mannheims stellt eine neue Form der Erkenntnislogik dar: Mit ihr wandte sich Mannheim gegen die Übertragung der naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen auf humanwissenschaftliche Forschungsfelder, da sie nicht alle Erkenntnisquellen berücksichtigen (vgl. Pryzborski & Wohlrab-Sahr 2010, 271). <?page no="169"?> 169 Mannheims (1952) auf. Mannheim bezeichnet dieses Wissen, welches die Alltagspraxis leitet, als atheoretisches Wissen, welches im Gegensatz zum theoretischen Wissen steht. Das atheoretische Wissen lässt sich auch als implizites Wissen bezeichnen, da es all jene Wissensbestände beschreibt, über die man zwar verfügt, und auf die man auch ständig zurückgreift, welche man sich aber nicht bewusst macht 98 . Damit stellt die dokumentarische Methode das Handeln nicht sozialen Strukturen gegenüber, „[v]ielmehr verlagert sie Ursprung und Wirkung sozialer Struktur in das Handeln selbst. Das Wissen, das in Handlungs- und Wahrnehmungspraxen eingelassen ist, wird in dieser Perspektive als strukturbildend betrachtet” (Pryzborski & Wohlrab-Sahr 2010, 275. Herv. i. Orig.). Die dokumentarische Methode will nun dieses handlungsleitende, implizite Wissen explizit machen, indem es durch Explikation „für den sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozess fruchtbar” (Pryzborski & Wohlrab-Sahr 2010, 275) gemacht wird. Die Explikation anhand einer Datenanalyse erfolgt in vier Schritten. Zunächst wird das Ausgangsmaterial ein erstes Mal gelesen/ gehört, wobei der thematische Verlauf innerhalb der Daten notiert wird. Eine Phase, in der ein Thema behandelt wird, wird Passage genannt. Der Wechsel von einer Passage in die nächste ist ein grundsätzlich interessanter Punkt, weil hier Assoziationen und Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Themen deutlich werden. Neben dem thematischen Verlauf wird zudem die formale Struktur der Daten festgehalten, also beispielsweise ob die Gesprächspartner hier häufig überlappend sprechen, ob das Gespräch eher stockend verläuft, oder ob eine hohe thematische Dichte vorliegt. Dichte Datenabschnitte sowie solche, in der die Untersuchten ein hohes Mitteilungsbedürfnis haben, sind ebenfalls potentiell von Interesse. Nach den oben dargestellten Kriterien werden nun Passagen ausgewählt, die für eine weitergehende Untersuchung potentiell interessant sind. Bei Audio- oder Videomaterial werden nur diese transkribiert: „Gespräche, Gruppendiskussionen oder Interviews dauern - wenn sie gelingen - in der Regel zwischen einer und vier Stunden. Eine vollständige Transkription und Auswertung des Materials ist nicht notwendig.” (Pryzborski & Wohlrab-Sahr 2010, 286). Interessante Passagen sind zum einen die, die als erste Reaktion auf eine Frage erfolgen (Eingangspassagen), Passagen, die sich formal auffällig von anderen Passagen unterscheiden, die eine hohe interaktive oder metaphorische Dichte haben (Fokussierungsmetaphern) oder Passagen, die für die jeweilige Forschungsfrage inhaltlich relevant sind. 98 Damit weist das Konzept des atheoretischen Wissens von Mannheim Parallelen zum Konzept des kulturellen Wissens auf. <?page no="170"?> 170 Nach der Auswahl der Passagen und der Transkription erfolgt als zweiter Schritt die formulierende Interpretation. Hierbei wird das, was innerhalb der Passage gesagt wird, reformuliert. Das Ziel der formulierenden Interpretation ist es, die Gliederung des Textes, also seine thematische Struktur nachzuzeichnen (vgl. Przyborski 2004, 53). Dabei werden Oberthemen und Unterthemen aufgeschlüsselt, so dass eine Feingliederung des Gesprächs erstellt wird. Textstellen, deren immanenter Sinn nicht entschlüsselt werden kann, und Stellen, die den Kern des Gesprächssinnes treffen, werden als Zitate übernommen. Bei Bildern erfolgt eine Bildbeschreibung, bei Texten eine thematische Gliederung, die die Struktur des Gesprächs widergibt. Damit wird die Auffassung des Forschenden zum Inhalt der Passage intersubjektiv nachvollziehbar, zudem wird der Blick des Forschers von der individuellen Antwort auf die kollektive Texterstellung gelenkt. Der folgende Schritt ist die reflektierende Interpretation. Hier wird der dokumentarische Sinngehalt untersucht. Über die bloße Abbildung des Gesagten hinaus sollen hier die Prinzipien, die hinter den konkreten Äußerungen stehen, gefunden werden. Nachdem im vorangegangen Schritt also aufgezeigt wurde, was gesagt wurde, geht es in der reflektierenden Interpretation darum, wie und warum es gesagt wurde. Um durch die reflektierende Interpretation das zugrundeliegende Orientierungswissen explizit zu machen, wird in der reflektierenden Interpretation versucht, drei Strukturmerkmale des Diskurses offen zu legen: Zum einen wird der positive Horizont aufgezeigt, also ein positives Ideal, eine Orientierung, die aufgestellt wird. Demgegenüber steht der negative Gegenhorizont, eine mit dem positiven Horizont verknüpfte Entwicklung, Einschränkung oder Richtung, die abgelehnt wird. Als drittes Merkmal wird das Enaktierungspotenzial der Orientierung eruiert. Das Enaktierungspotenzial schätzt die Realisierungsmöglichkeiten dieses positiven Horizontes durch die Gesprächsgruppe ein. Es wird also ermittelt, wie wahrscheinlich es ist, dass die Gesprächsgruppe das bestmögliche Ergebnis erzielt. Um herauszufinden, in wieweit der dargestellte Orientierungsrahmen innerhalb der Gruppe geteilt wird, reicht es nicht aus, einzelne Gesprächsbeiträge zu analysieren. Vielmehr muss der Gesprächsdiskurs (mindestens drei aufeinander folgende Äußerungen) betrachtet werden. Dieser Schritt erfolgt in der Analyse der Diskursorganisation . Das, was in diesen dramaturgisch herausragenden Passagen elaboriert wird, z.B. die szenischen Darstellungen, die entfaltet werden und in die Hinweise auf den existenziellen Hintergrund eingelassen sind, gewinnen zumeist metaphorischen Charakter, d.h., es sind hier Aussagen enthalten, es werden Orientierungen zum Ausdruck gebracht, die nicht allein die in der szenischen Darstellung konkret thematisierte Situation[...] charakterisieren, sondern die <?page no="171"?> 171 geeignet sind, die gesamte soziale Beziehung (z.B. die Geschlechterrollenbeziehung) zu charakterisieren. (Bohnsack 1989, 384) Dadurch, dass die untersuchte Person die getätigte Aussage gewählt hat, wird der Orientierungsrahmen deutlich, der hinter den Aussagen der Person steht. Für die Beschreibung der Diskursorganisation haben sich in der dokumentarischen Analyse feste Bezeichnungen etabliert 99 , denen die einzelnen Aussagen zugeordnet werden und deren Verwendung das Musters, das hinter dem Gespräch steht, verdeutlichen soll (vgl. Przyborski 2004, 61ff., zur Anwendung vgl. Martens 2010, 120ff.). Nachdem eine Sequenz derart herausgestellt wurde, gilt es im nächsten Schritt, im gleichen Datenausschnitt weitere Passagen zu finden, die diesen Orientierungsrahmen bestätigen, sowie in anderen Datenauszügen nach möglichen gleichen Orientierungsrahmen zu suchen, um sicherzustellen, dass hier keine fallspezifische Besonderheit sichtbar gemacht wurde. Es bietet sich nach Przyborski und Wohlrab-Sahr (2010, 177 f.) im Sinne eines theoretical samplings (vgl. Glaser & Strauss 1967) an, in anderen Gruppen nach thematisch möglichst ähnlichen Passagen zu suchen (Prinzip des minimalen Kontrastes). Durch den minimalen Kontrast, wird versucht, die ermittelten Orientierungsrahmen zu einer Basistypik zu verallgemeinern, die dem Erkenntnisinteresse der Untersuchung entsprechend Aussagen machen kann. Dieses Herausarbeiten verschiedener Ausprägungen einer Basistypik bezeichnet man als sinngenetische Typenbildung (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr 2010, 298f.). Hat man diese Basistypik ermittelt, gilt es, diese durch maximale Kontraste von anderen Einflüssen abzugrenzen. Hierdurch hofft man, die Basistypik einer bestimmten soziologischen Gruppe, der die Untersuchten angehören, zuordnen zu können, beispielsweise der geschlechtlichen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeit der Untersuchten. In diesem Schritt, der soziogenetischen Typenbildung, steht also die Frage der Genese der Orientierung im Vordergrund. Die dargestellte Ermittlung einer Basistypik macht allerdings nur Sinn, wenn viele Fälle untersucht werden und diese auf ein ähnliches Verhalten verallgemeinert werden sollen, von dem aus dann abweichende Verhalten festgestellt werden können. Für die vorliegende Studie spielt die Typenbildung keine Rolle. Da ich mich auf die Untersuchung weniger Fälle beziehe, nutze ich lediglich das Prinzip des maximalen Kontrasts, um unterschiedliche 99 Dabei wird zwar schon seit längerem mit diesen Begriffen gearbeitet, die erste theoretische Aufarbeitung des Begriffsinventars mit einer Explikation der einzelnen Begriffe liefert aber erst Przyborski (2004), auf deren Darlegungen sich meine Beschreibung stützt. <?page no="172"?> 172 Handlungsmuster innerhalb der Gruppen zu finden. In Kapitel 6 soll untersucht werden, ob die Art der Gruppeninteraktion und die Einstellungen der einzelnen Gruppenmitglieder zur Gruppe Auswirkungen auf den Erfolg der gemeinsamen Zusammenarbeit und die Qualität der Gespräche innerhalb der virtuellen Welt haben. Aufgrund des explorativen Charakters des Projektes und der vielfältigen Fragestellungen, die ich an die Untersuchung heran getragen habe, wurden vielfältige Daten erhoben. Wie oben bereits dargelegt wurde, soll die Untersuchung hauptsächlich anhand der Screen Capture-Aufnahmen durchgeführt werden, die Lernertagebücher sowie die resümierenden Hausarbeiten der Gießener Studierenden sollen ergänzend hinzugezogen werden. Wie ich bereits in Kapitel 5.1 dargelegt habe, habe ich zum Teil auch quantitativ gearbeitet, indem ich die prozentualen Anteile der einzelnen Sitzungen zu unterschiedlichen Verhaltenswesen wie ‚Begrüßung’, ‚Aufgabenbearbeitung’, ‚Umgang mit Technik’ aber auch ‚Stille’ zugeordnet habe. Diese Verteilung gab Aufschlüsse zum Umgang der jeweiligen Gruppen mit den Aufgabenstellungen, die in Kapitel 8.2. diskutiert werden. Ein beispielhafter thematischer Verlauf, auf dessen Basis ich diese prozentualen Erhebungen gemacht habe, findet sich im Anhang (A1). Auch zur Verwendung des Text- und Voice-Chats habe ich quantifizierend gearbeitet, indem ich die durchschnittliche Länge der Redebeiträge, Menge der Wörter im Verhältnis zur Zeit etc. ermittelt habe, um Hinweise auf Unterschiede in der Informationsübermittlung in der jeweiligen Kanälen zu erhalten. Dies wird in Kapitel 8.1 eingehend dargestellt. Die Vermischung von qualitativen und quantitativen Methoden folgte dem Prinzip der Mixed Methods (vgl. Cresswel, 2009). Diese verwenden sowohl qualitative als auch quantitative Verfahren zur Beantwortung aufgestellter Forschungsfragen. Die Erkenntnisse der unterschiedlichen Methoden werden miteinander verschmolzen, um möglich aussagekräftige Ergebnisse im Bezug auf die Forschungsfrage zu erhalten. Patton argumentiert, dass die Verwendung von Mixed-Method Designs dem Forschungskriterium der Angemessenheit entspricht: Methodological appropriateness means that designs should be judged on the extent to which they answer the inquiry question at hand, not whether they adhere to some preordinate standard. (Patton, 2006, i) <?page no="173"?> 173 5.4.2. Das Sampling: Auswahl der Einzelfälle zur Untersuchung der Gruppencharakteristika Der erste Schritt der dokumentarischen Methode, das genaue Ansehen und die Erstellung eines thematischen Verlaufs für alle Gespräche, wurde für alle Videos, also für je vier Treffen von 16 Gruppen, durchgeführt. Insgesamt wurden damit rund 64 Stunden Videomaterial einer ersten Analyse unterzogen. Der thematische Verlauf wurde mit Zeitmarken versehen, die einzelnen Passagen wurden zudem unterschiedlichen Kategorien zugeordnet, so dass deutlich wurde, wie die Verteilung von aufgabenbezogenen Diskussionen zu allgemeinem Smalltalk oder zur Auseinandersetzung mit technischen Aspekten der Lernumgebung in den jeweiligen Gruppen aussah (vgl. Anhang A1, in dem ein thematischer Verlauf beispielhaft dargestellt wird). Auf Basis dieser thematischen Verläufe, sowie im Rückgriff auf meine Notizen im Forschungstagebuch, in denen die Interaktion der Gruppen ebenfalls notiert wurde, wurde eine Auswahl von drei Gruppen getroffen, die für eine nähergehende Betrachtung, die im nachfolgenden Kapitel 6 erfolgen wird, von Interesse waren. Ausschlaggebend für die Auswahl der Gruppen war die unterschiedliche Dichte ihrer Gespräche: Während einige Gruppen sehr engagiert miteinander diskutierten, erfüllten andere Gruppen zwar die Aufgabenstellung, arbeiteten aber nicht miteinander sondern jeder Teilnehmende für sich selbst; andere Gruppen redeten zwar miteinander, kamen aber nicht zu einer Diskussion über das Thema des Treffens. Entsprechend dieser unterschiedlichen Verhaltensweisen wurden drei Gruppen ausgewählt, die die oben dargestellten maximalen Kontraste zueinander abbildeten. Für die Auswertung der Fragestellungen bezüglich der Verwendung von Voice-und Text-Chat, der Befolgung der Aufgabenstellung, der Rolle der Avatare, die Wirkung der virtuellen Welt als Begegnungsort und Materiallieferant sowie der Form des landeskundlichen Lernens, die in Kapitel 7 und 8 ausgeführt werden, wurden die Daten aller 16 Gruppen herangezogen. 5.4.3. Die Datenaufbereitung der Screen-Capture-Videos Die Daten lagen nach der Aufnahme durch die Screen Capture-Software als Videodateien vor: Neben der Bildschirmaufzeichnung der virtuellen Umgebung und den darin agierenden Avataren enthielt jede Videodatei den Voice- Chat als Audioaufnahme, den Text-Chat innerhalb des im Bild eingeblendeten Chatfensters und die aufgezeichneten spontanen think-alouds und Rückfragen der Teilnehmer. Für die Auswertung der Daten nach vorhandenen sozialwissenschaftlichen Methoden ist es erforderlich, die Daten in Textform zu überführen. Hierfür stellt das Verfahren der Transkription eine bewährte <?page no="174"?> 174 Methode dar, welche insbesondere in der Gesprächsanalyse seit langem praktiziert wird. Die Transkription ist der Versuch, ein flüchtiges akustisches Gesprächsereignis zur besseren Vergegenwärtigung in schriftlicher Form abzubilden. Bei jeder Transkription werden das Gespräch sowie para- und nonverbale Aspekte der Kommunikation wie Prosodie, individuelle Sprachstile und Aussprache, Mimik und Gestik reduziert; je nach Untersuchungsinteresse werden gewisse Aspekte vernachlässigt, andere hervorgehoben. Jede Transkription ist daher immer schon Interpretation des Gesprächs, da selbst Transkripteure, die die gleichen Qualifikationen aufweisen, vollständig verschiedene Transkripte von ein- und demselben Material anfertigen können (vgl. Institut für Deutsche Sprache 2004,1). Das Analyseziel ist ein essentielles Kriterium, nach dem die Transkriptionsart bestimmt und die Transkription vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet wird. Dementsprechend haben sich vielfältige Formen von Transkriptionssystemen entwickelt, von Systemen, die sprachliche Besonderheiten betonen wie das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT, vgl. Selting u.a. 1998) über Systeme, die in Partiturschreibweise arbeiten, um die Simultanität in Gesprächen zu verdeutlichen wie die Halbinterpretative Arbeitstranskription (HIAT, vgl. Ehlich & Rehbein, 1976b) bis zu eher freieren Gesprächstranskriptionen, die vor allem in den Sozialwissenschaften verwendet werden. Für die dokumentarische Methode wurde das Transkribiersystem TiQ (Talk in Qualitative Research) entwickelt. Es ist ein vereinfachtes Transkribiersystem, das weniger auf die sprachliche Genauigkeit fokussiert, sondern vielmehr den Gesprächsverlauf abbildet. Die Prinzipien und Konventionen von TiQ bauen auf GAT auf, Notation von Überlappungen und Konventionen für parasprachliche Notationen sind identisch. Während GAT aber auch die sprachlichen Realisierungen durch ein sehr komplexes Notationssystem abzubilden versucht, ist TiQ in dieser Hinsicht deutlich vereinfacht (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr 2010, 165). Damit ist TiQ nicht für sprachwissenschaftliche Analysen geeignet, „für die meisten anderen Erkenntnisinteressen, die mit rekonstruktiven Methoden bedient werden können, hat es sich jedoch sehr gut bewährt.” (ebd.). Die Feinheit der Transkription ist demnach reduziert zugunsten einer einfachen und schnellen Möglichkeit, die Gespräche transkribieren zu können. Die Transkription 100 erfolgt in Anlehnung an die deutsche Schriftsprache, Nomen und Anfänge von Redebeiträgen 100 Die Regeln der TiQ werden erstmals von Przyborski 1998 explizit gemacht und vereinheitlicht, die Transkripte älterer Arbeiten werden den folgenden Ausführungen teilweise nicht gerecht. Zu den hier aufgezeigten Regeln vgl. Przybroski 1998; Bohnsack 2003, 235 ff.; Przyborski 2004, 331 ff.) <?page no="175"?> 175 werden groß geschrieben. Allerdings dienen Satzzeichen der Interpretation, so dass es keine orthographische Anzeige von Satzgrenzen gibt; entsprechend werden auch Satzanfänge innerhalb eines Redebeitrags klein geschrieben. Jede am Gespräch beteiligte Person wird durch ein Buchstabenkürzel anonymisiert, wobei die Buchstaben am Anfang des Alphabets durchlaufend verwendet werden, zudem bekommt jeder Sprecher die Ergänzung ‚m’ oder ‚f’ entsprechend seines Geschlechtes. Auch Ortsangaben oder Namen, die im Interview genannt werden, werden verfremdet. Die Zeilen der Transkription werden fortlaufend durchnummeriert, zudem steht vor jedem Transkript ein Transkriptionskopf, in dem die Bezeichnung des Gesprächs, die Dauer der Aufzeichnung und der Transkripteur notiert werden. Für die Darstellung der metasprachlichen Informationen hat sich ein System einfacher Transkriptionszeichen etabliert (vgl. Abb. 13). <?page no="176"?> 176 Abb. 13: Transkriptionszeichen für TiQ. (Aus: Bohnsack 2003, 235) Für die Transkription von Videos und Bildern dient in der dokumentarischen Methode das auf TiQ basierende, erweiterte System MoViQ (Movies and Videos in Qualitative Research, vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr 2010, 169ff.). MoViQ wird in Partiturschreibweise durchgeführt, wobei die einzelnen Gesprächsbeiträge bzw. Geräusche direkt unter Standbilder des entsprechenden Filmabschnittes notiert werden. Die Dauer des Redebeitrags soll synchron an der Zuordnung zum Standbild ablesbar sein, dies kann durch Dehnung bzw. Verschmälerung der Schrift erreicht werden. Bei der Partiturtranskription bekommt jeder Sprecher eine eigene Spur, zusätzlich können Spuren für Hintergrundmusik oder zusätzliche Geräusche vergeben werden. Die Transkriptionskonventionen entsprechen den Konventionen von TiQ. Die ersten Transkriptionen zur Aufbereitung der Daten wurden in Partiturschreibweise mit dem Transkriptionssystem HIAT durchgeführt. Dieses ähnelt MoViQ, ist aber durch vielschichtigere Transkriptionskonventionen <?page no="177"?> 177 komplexer. Dieses Verfahren wurde verwendet, um die Bildebene des Videos im Transkript ebenfalls abbilden zu können; hierfür wurde im Partitursystem eine eigene Spur angelegt (vgl. Biebighäuser 2012b, 105f.) Bei diesem Vorgehen wurde deutlich, dass sich die Bilder der Videoaufnahme weniger relevant erwiesen als zunächst erwartet wurde. Dies liegt zum einen daran, dass die Teilnehmer sich häufig nicht bewegten, so dass das Bild über lange Zeit identisch blieb, zum anderen erfolgte der Bezug auf die Umgebung weniger explizit. Entsprechend bliebt die Partiturspur der Bildebene häufig leer oder stand nicht in Bezug zu den Äußerungen. Letztendlich habe ich mich daher bei der Transkription der Daten für die TiQ-Transkription entschieden, wobei ich diese entsprechend der nachfolgenden Ausführungen an meine Bedürfnisse angepasst habe. Die Bilder sollen weiterhin in die Transkription und Auswertung mit einfließen, allerdings in einer verkürzten Form. Wenn sich Bilder ändern oder Teilnehmende verstärkt mit der Umwelt interagieren, indem sie beispielsweise Tafeln lesen oder mit ihrem zu einem Ausstellungsstück hinlaufen wird dies in der Transkription verdeutlicht, indem in separaten Zeilen in kursiver Schrift im Transkript eine Beschreibung der Bildebene eingefügt wird. In Bezug auf die Beschreibung der virtuellen Welt ist anzumerken, dass alles, was die Nutzer in Second Life erleben, durch die Avatare erlebt wird. Man müsste also in der Beschreibung stets die Aktionen des Avatars beschreiben, beispielsweise ‚Tim lenkt seinen Avatar vor eine Tafel, der Avatar bleibt davor stehen’. Da diese Referenz auf Dauer sehr umständlich ist, benenne ich die Teilnehmer, wenn ich derartige Szenarien beschreibe, also ‚Tim läuft zu einer Tafel und bleibt vor ihr stehen’. Ich bin mir bewusst, dass alle Handlungen in der virtuellen Welt von den Avataren ausgeführt werden, möchte aber zu lange Passivkonstruktionen und umständliche Referenzen (ich kann den Avatar nicht direkt benennen, sondern muss immer den Nutzer hinzufügen) vermeiden. Lediglich in einigen Fällen, in denen ich besonders darauf hinweisen möchte, dass etwas mit dem Avatar geschieht und nicht mit dessen Nutzer, betone ich dies, indem ich den Avatar benenne. Zudem wurden die Transkriptionsregeln dahingehend modifiziert, dass an Stelle der Buchstabenkürzel mit Geschlechtszuweisung der Sprecher, wie Bohnsack sie verwendete, die Teilnehmenden in den Transkripten durch den Anfangsbuchstaben ihres anonymisierten Vornamens repräsentiert wurden. Zusätzlich wurde hinter diesen ‚vc’ bei der Verwendung des Voice-Chats und ‚tc’ bei der Verwendung des Text-Chats eingefügt. Der Text-Chat wird zudem in einer anderen Schriftart (Courier New) dargestellt, um den Unterschied der Kanäle zu verdeutlichen. Zusätzlich wurden direkte Gespräche, die in meinem Büro stattgefunden haben und von der Aufnahmesoftware ebenfalls erfasst wurden, in das Transkript mit aufgenommen. Diese wurden mit <?page no="178"?> 178 dem Anfangsbuchstaben des Sprechers und dem in Klammern gesetzten Anfangsbuchstaben des Empfängers gekennzeichnet. Die Daten des Text-Chats konnte ich aus Second Life exportieren, wobei alle Rechtschreibfehler, Auslassungen etc. aus dem Text-Chat übernommen wurden. Lediglich Namen von Personen und Orten wurden anonymisiert. Der Voice-Chat wurde entsprechend der oben dargelegten Kriterien nach TiQ transkribiert und in den Verlauf des Textchats entsprechend des Auftretens der Beiträge eingefügt. Da der Text-Chat automatisch die Zeit, zu der ein Beitrag veröffentlich wurde, mitgeschnitten hat, konnten diese Zeitmarken als Orientierung des Chatverlaufs hinzugezogen werden. Die Uhrzeiten sind dabei nicht der deutschen Zeit entsprechend, sondern entsprechen der Zeit in Second Life. Da die Betreiberfirma in San Francisco liegt, gilt in Second Life die Pacific Daylight Time (PDT), die der Deutschen Zeit um 8 Stunden voraus ist 101 . Im automatischen Chat-Protokoll von Second Life sind allerdings nur Stunden- und Minutenangaben zu finden, eine Sekundengenauigkeit liegt nicht vor. Zudem sind die Zeiten, in denen Beiträge per Voice-Chat realisiert wurden, nicht aufgezeichnet worden. Ich versuche der Ungenauigkeit der Zeitangaben des Text-Chats sowie die fehlende zeitliche Einordnung der Voice-Chat-Angaben zu begegnen, indem ich längere Pausen zwischen einzelnen Beiträgen messe. Dabei wurden in Text-Chats die Zeiten ermittelt, in denen auch kein Beitrag von einem Nutzer getippt wurde: Da das Eingeben von Textnachrichten mit einer entsprechenden Geste der Avatare und Tippgeräuschen in Second Life sichtbar gemacht wird, konnte diese Produktionsphase genau ermittelt werden. Die Dauer dieser Pausen gebe ich in Klammern zwischen den jeweiligen Äußerungen an. Die Pausen wurden von mir gezählt und nicht gemessen, daher sind ihre Angaben als ungefähre Werte zu verstehen. Kurze Pausen, die vor allem innerhalb einzelner Voice-Chat-Beiträge auftauchten, wurden entsprechend der TiQ Transkription je nach Länge der Pause mit einem bis drei Punkten gekennzeichnet. An dieser Stelle sei besonders noch einmal auf das Sonderzeichen ˪ hingewiesen, welches Überlappungen von Beiträgen kennzeichnet. Wörter, die simultan gesprochen werden oder Textbeiträge, die simultan im Chatfenster erscheinen, werden mit diesem Zeichen gekennzeichnet und im Chatverlauf so eingerückt, dass gleichzeitig realisierte Äußerungen übereinander stehen. 101 Da die Umstellung der Sommerzeit in der PDT zu einem anderen Zeitpunkt stattfindet als bei uns, kommt es im Sommer zu einer Zeitspanne, in der der Zeitunterschied zu Deutschland 9 Stunden beträgt, wohingegen er im Winter teilweise nur 7 Stunden umfasst. Diese Besonderheit war aber für den Erhebungszeitraum nicht relevant. <?page no="179"?> 179 Wenn Text- und Voice-Chat parallel verwendet wurden, wird dieses Zeichen auch für die Kennzeichnung gleichzeitiger Voice- und Text-Chat-Beiträge verwendet. Die nachfolgende Abbildungen 14 fasst die Ausführungen der Transkriptionskonventionen noch einmal zusammen. Abb. 14: Darstellung der angewendeten Transkriptionskonventionen <?page no="181"?> 181 Teil III: Auswertung der Daten Nachdem zu Beginn der Arbeit die Genese meines Forschungsinteresses (Kapitel 1) und die Forschungsfragen dargestellt wurden (Kapitel 2), wurde in Kapitel 3 deutlich, dass im Bezug auf das landeskundliche Lernen derzeit zwei Schwerpunkte diskutiert werden: Zum einen wird der Zielsetzung einer interkulturellen Kompetenz noch immer enorme Bedeutung beigemessen, zum anderen werden aber auch historische Themen wieder häufiger als bedeutsam angeführt. Die Behandlung historischer Themen erfolgt allerdings mit Bezug auf das interkulturelle Lernen, indem Themen behandelt werden, die für das kulturelle Gedächtnis der Zielsprachenkultur von besonderer Bedeutung sind und anhand einprägsamer Symbole thematisiert werden können, die als Erinnerungsort fungieren. Dieser neuen Fokussierung folgend habe ich in Kapitel 4, basierend auf der Geschichte des computervermittelten Fremdsprachenlernens, virtuelle Welten als Medium vorgestellt, das diese Erinnerungsorte virtuell nachbilden kann. Damit bieten virtuelle Welten meiner Ansicht nach großes Potenzial dafür, die Auseinandersetzung mit Geschichte unter der Zielsetzung des interkulturellen Lernens anhand von virtuellen Erinnerungsorten durchzuführen. Die zentrale Forschungsfrage: „Welches Potenzial bieten virtuelle Welten für das landeskundliche Lernen und welche besonderen Herausforderungen dieses Mediums müssen berücksichtigt werden? “ untergliedert sich in die in Kapitel 2 dargestellten Teilfragen, die an dieser Stelle vergegenwärtigt werden sollen. Zusammenarbeit der Gruppen • Wie arbeiten Gruppen in virtuellen Welten zusammen? • Lassen sich in verschiedenen Gruppen unterschiedliche Rollenverteilungen feststellen? Wenn ja: Welchen Einfluss nimmt die Rollenverteilung innerhalb der Gruppe auf die Aufgabenbearbeitung? Rolle der virtuellen Welt • Welche Rolle spielen die Avatare, die figürlichen Repräsentationen der Nutzer in der virtuellen Welt, im Austausch der Gruppen? Aufgabenstellung: • Erfüllen die jeweiligen Gruppen die in der Aufgabenstellung intendierten Erwartungen? <?page no="182"?> 182 • Müssen für Aufgabenstellungen in virtuellen Welten besondere Aspekte berücksichtigt werden? Wahl des Kommunikationskanals • Nutzen die Gruppen präferiert den Text-Chat, den Voice-Chat oder eine Mischform beider Kanäle zur Aushandlung ihrer Aufgaben? • Unterscheiden sich die Aufgabenbearbeitungen von Gruppen, die den Text-Chat verwenden von denen der Gruppen, die den Voice-Chat nutzen? Landeskundliches Lernen • Entnehmen die Lernenden die landeskundlichen Inhalte aus dem dargebotenen Material? • Findet ein Dialog zwischen dem Vorwissen der Lernenden und den dargebotenen landeskundlichen Informationen statt? • Findet historisches Lernen statt? • Findet interkulturelles Lernen statt? Die Fragen zur Zusammenarbeit der Gruppen werden in Kapitel 6 basierend auf der Beobachtung dreier Tridems beantwortet. Im Anschluss an diese chronologische Beschreibung werden in Kapitel 7 Daten aller dreizehn Gruppen nach Schwerpunktthemen entsprechend der Forschungsfragen geordnet ausgewertet und dargestellt, um systematisch Aussagen zu den weiteren Fragestellungen machen zu können. In Kapitel 8 wird schließlich die Frage des landeskundlichen Lernens in virtuellen Welten, die ja im Zentrum der Untersuchung steht, beleuchtet. <?page no="183"?> 183 6. Untersuchung der Zusammenarbeit der Gruppen Im vorliegenden Kapitel 6 wird die Zusammenarbeit der Gruppen in der virtuellen Welt untersucht. Dazu werden zunächst theoretische Grundlagen des kooperativen Lernens und der Bildung von Gruppen erläutert. Im Anschluss sollen dann anhand von drei Fokusgruppen unterschiedliche Gruppenkonstellationen und die Entwicklung ihrer Zusammenarbeit untersucht werden. Hierbei soll mit Bezug auf die Forschung zum kooperativen Lernen diskutiert werden, in wieweit die Verhaltensweisen der Gruppenmitglieder und möglicherweise erkennbare Rollenverteilungen die Zusammenarbeit innerhalb der Gruppen beeinflussen. 6.1. Kooperatives Lernen - Grundlagen In der Forschung zum kooperativen 102 Lernen gilt als Konsens, dass für das Herausbilden einer Gruppe die Existenz von positiver Interdependenz unter den Gruppenmitgliedern eine wichtige Grundlage ist. Als positive Interdependenz bezeichnet man die positive wechselseitige Abhängigkeit von Personen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Die Individuen sind aufeinander angewiesen und können ihr Ziel nur gemeinsam erreichen. Ihnen ist bewusst, dass sie sich aufeinander verlassen müssen und dass sie dies auch guten Gewissens tun können, da die anderen Gruppenmitglieder das gleiche Ziel verfolgen (vgl. z.B. Johnson & Johnson 1994 und1999). Ihr gegenüber steht die negative Interdependenz als konträres Lernprinzip, welches in Konkurrenzsituationen vorzufinden ist. Hier kann nur einer erfolgreich sein, indem er alle anderen mit seiner Leistung übertrifft. Die negative Interdependenz ist Prinzip jeglichen Wettkampfes, in dem es nur einen ‚Sieger’ geben kann. Nach Borsch (2010, 28f.) kann positive Interdependenz durch unterschiedliche Anreize erreicht werden: In dem Bewusstsein, dass das Ziel nur erreicht werden kann, wenn alle Gruppenmitglieder erfolgreich sind, wirkt die Zielinterdependenz 103 als Anreiz. Ein weiterer Anreiz kann in einer Grup- 102 Die Unterscheidung zwischen Kooperation und Kollaboration wurde bereits in Kapitel 4.2 thematisiert. Dieser Unterscheidung entsprechend ist die angestrebte Zusammenarbeit der Gruppenmitglieder kooperativ. Daher werden nahfolgend die Kennzeichen Kooperativen Arbeitens dargelegt. 103 Würffel (2007,9) kritisiert die redundante Verwendung von positiver Interdependenz und positiver Zielinterdependenz, da sie in beiden Begriffen keine Bedeutungsunterscheidung erkennen kann. Borsch (2010, 28) betont für die positive <?page no="184"?> 184 penbelohnung liegen: Wenn die Gruppe erfolgreich war, erhält jeder Teilnehmer der Gruppe die entsprechende Anerkennung (z.B. in Form von Noten). Positive Interdependenz kann auch durch eine Beschränkung von Ressourcen erreicht werden, indem beispielsweise eine geringe Zeitvorgabe ein arbeitsteiliges Vorgehen notwendig macht oder indem das unterschiedliche Wissen, über das die einzelnen Gruppenmitglieder verfügen, zusammengetragen werden muss - beispielweise indem den einzelnen Mitgliedern unterschiedliches Material zur Verfügung gestellt wird. Dabei ist es wichtig, dass die Mitglieder dieses unterschiedliche Wissen untereinander austauschen und aus allen ihren Ressourcen heraus gemeinsam Wissen konstruieren 104 . Man kann dies forcieren, indem die Gruppenmitglieder auch zur Herstellung des gemeinsam zu erstellenden Produktes beschränkte Ressourcen erhalten, beispielsweise, indem nur ein Stift benutzt werden kann oder ein gemeinsames Lösungsblatt ausgefüllt werden muss. Auch eine starke Gruppenidentität wirkt sich verstärkend auf die positive Interdependenz aus: durch einen gemeinsamen Namen sowie die Betonung vom Gemeinsamkeiten wird der Zusammenhalt der Gruppe gestärkt. Für eine starke positive Interdependenz ist es weiterhin wichtig, dass die Mitglieder der Gruppe unterschiedliche Rollen übernehmen und sich damit innerhalb der Gruppenarbeit für unterschiedliche Aufgaben zuständig fühlen. Auf diese Weise werden die einzelnen Gruppenmitglieder zu Experten ihrer jeweiligen Teilbereiche. Weiterhin müssen Aufgaben so gestellt werden, dass die Gruppenmitglieder ihr Expertenwissen miteinander austauschen und es gemeinsam zur Lösung der Aufgabe nutzen (vgl. ebd.). Borsch (ebd.) beschreibt auch, dass der Wettbewerb mit anderen Gruppen positive Interdependenz fördern kann: Um besser zu sein als die anderen Gruppen, und durch die in diesem Wettbewerb herrschende negative Interdependenz (nur eine Gruppe kann die beste sein), wird das Gruppengefühl und damit die positive Interdependenz innerhalb der Kleingruppen gestärkt. Dieser Ansatz ist jedoch nicht unumstritten (vgl. Ehrman & Dörnyei 1998, 249 ff.). Ein wesentlicher Aspekt der positiven Interdependenz ist die individuelle Verantwortlichkeit jedes Einzelnen: Jeder muss sich für die Gruppenarbeit und die ihm übertragenen Aufgaben verantwortlich fühlen und seinen Teil zum Erfolg der Gruppenleistung beitragen. Geschieht dies nicht, kommt es beispielsweise zu ‚Trittbrettfahrern’ in den einzelnen Gruppen, die sich selbst Zielinterdependenz die Bewusstmachung, dass das Erreichen des eigenen Zieles vom Erfolg der anderen abhängt. Diese Bewusstmachung soll der Begriff der Zielinterdependenz betonen. Ich stimme Würffel dennoch in ihrer Kritik zu, da der Bedeutungsunterschied meiner Auffassung nach minimal ist. 104 Andernfalls liegt lediglich kollaboratives Arbeiten vor, ein Wissensaustausch findet hier nicht statt. <?page no="185"?> 185 nicht einbringen und vom Engagement der Partner profitieren. Dies wiederum führt zur Frustration der anderen Gruppenmitglieder, die in Zukunft möglicherweise nicht mehr bereit sind, sich zu engagieren. Um das Auftreten von ‚Trittbrettfahrern’ zu verhindern und die individuelle Verantwortlichkeit zu stärken schlagen Johnson und Johnson (1999) vor, dass die Lernerfolge jedes einzelnen Gruppenmitglieds dokumentiert werden sollen. Man könne zudem im Arbeitsprozess willkürlich ein Gruppenmitglied nach dem aktuellen Stand der Gruppenarbeit befragen, so dass alle sich aufmerksam am Prozess beteiligen, um bei einer möglichen Befragung Auskunft geben zu können. Es sei auch wichtig, dass der Lehrer die Gruppenarbeitsprozesse beobachte und die Beteiligung der einzelnen Gruppenmitglieder registriere. Insbesondere die Gruppengröße sei für die individuelle Verantwortlichkeit wichtig: Je kleiner die Gruppen seien, umso stärker empfinde jedes Gruppenmitglied die individuelle Verantwortlichkeit. Johnson und Johnson (1994) betonen auch, dass es besonders wichtig sei, dass sich die einzelnen Gruppenmitglieder gegenseitig ermutigen und unterstützen, so dass eine positive Gruppenatmosphäre herrscht. Grundsteine für die positive Gruppenatmosphäre werden bereits bei der Gruppenbildung gelegt. Nur wenn diese erfolgreich verläuft, kann die Gruppe einen Zusammenhalt entwickeln, der sich förderlich auf die Gruppenatmosphäre auswirkt. Die Gruppenbildung wird daher nachfolgend dargelegt. 6.2. Gruppenbildung und Gruppenzusammenhalt Um aus mehreren Individuen eine Gruppe zu bilden, müssen sich nach einer Minimaldefinition von Brown (2000, 3) zwei oder mehr Personen als Gruppe verstehen und auch Außenstehende sie als Gruppe wahrnehmen. Ehrman und Dörnyei (1998, 72) geben eine umfassendere Definition von ‚Gruppe‘. Demnach müssen Gruppenmitglieder miteinander interagieren, sich als eine Einheit verstehen, ein gemeinsames Ziel verfolgen und über einen längeren Zeitraum als Gruppe bestehen; die Gruppe muss eine interne Struktur mit Regeln entwickeln. Resultierend hieraus kann die gesamte Gruppe für die Taten einzelner Mitglieder verantwortlich gemacht werden. Ehrman und Dörnyei (1998) beschreiben vier Stufen in der Entwicklung einer Gruppe: 105 Die Gruppenbildung (group formation), den Übergang (tran- 105 Das hier dargestellte Modell von Ehrman und Dörnyei beruht auf dem Modell von Tuckman (1965), der die Herausbildung einer Gruppe in den Stufen forming (Die Gruppe wird gebildet, Konflikte werden vermieden) - storming (Unterschiedliche Ideen und Zielvorstellungen innerhalb des Teams konkurrieren miteinander)- <?page no="186"?> 186 sition), die Darbietung (performing) und die Auflösung der Gruppe (dissolving). Sie weisen darauf hin, dass die nächste Stufe in der Gruppenentwicklung nur begonnen werden kann, wenn die vorangegangene Stufe durchlaufen wurde. Nachfolgend werden diese Stufen in der Entwicklung von Gruppen genauer dargestellt und mit Daten aus der vorliegenden Untersuchung illustriert. 6.2.1. Entwicklungsphasen einer Gruppe Die Phase der Gruppenbildung ist gekennzeichnet durch das Kennenlernen der Partner und die Annäherung der einzelnen Gruppenmitglieder. In der Gruppenbildung wird bereits wesentlich die zukünftige Gruppenatmosphäre geprägt. Durch das Herstellen einer freundlichen Atmosphäre und das Feststellen von Gemeinsamkeiten kann diese positiv geprägt werden. Dies soll nachfolgend an einem Beispiel illustriert werden. Dieses Beispiel aus dem Text-Chat des ersten Treffens der Gruppe von Carolin (entsprechend der Transkriptionskonventionen, die unter 5.4.3. dargelegt wurde sie mit Ctc kodiert), Astrid (Atc) und Mascha (Mtc) verdeutlicht eine positive Gruppenbildungsphase innerhalb des Projektes. Nachdem die Partnerinnen sich rund eine halbe Stunde über ihre Freizeitaktivitäten und ihr Studium ausgetauscht haben, thematisiert Mascha das Projekt und ihre Partnerinnen (vgl. Datenauszug 1): Datenauszug 1: Maschas Freude am Projekt und ihren Partnerinnen befördert ein positives Gruppenklima Mascha formuliert explizit, dass sie dem Projekt positiv gegenüber steht und hebt dabei insbesondere die Zuteilung ihrer Partnerinnen als positiv hervor, wenn sie betont, dass sie es toll findet, das Projekt mit diesen gemeinsam zu norming (Das Team einigt sich auf eine Idee und ein gemeinsames Ziel) - performing (Das Team erreicht das angestrebte Ziel) beschreibt. <?page no="187"?> 187 absolvieren. Durch einen höflichen Umgang miteinander sowie die Verwendung der Smileys durch alle Teilnehmerinnen wird die positive Stimmung innerhalb der Gruppe von jedem Mitglied zum Ausdruck gebracht, was die Gruppenbildung zusätzlich unterstützt. Ehrman und Dörnyei (1998) schildern, dass die Gruppenmitglieder sich in der Gruppenbildungsphase oft um eine harmonische Atmosphäre bemühen, wohingegen sie in der Phase des Übergangs (transition) offener agieren. Hier können Spannungen zwischen den Gruppenmitgliedern zutage treten. In dieser Phase muss die Gruppe die Zusammenarbeit aushandeln, 106 Rollen verteilen und Regeln verabreden. Ist damit die Grundlage der Zusammenarbeit gelegt, und haben die einzelnen Gruppenmitglieder ausreichend Vertrauen ineinander, kann in der anschließenden Phase die eigentliche Zusammenarbeit durchgeführt werden. In der Performing-Phase werden einzelne Aufgaben verteilt. Im Idealfall arbeiten die Mitglieder einer Gruppe in dieser Phase effektiv am Erreichen des Ziels, da sie überzeugt sind, dass auch die anderen Gruppenmitglieder ihren Anteil leisten.Im Anschluss folgt die Phase der Auflösung. Hat die Gruppe ihr Ziel erreicht, kann sie sich auflösen. Dabei ist es für die Zufriedenheit der einzelnen Mitglieder wichtig, dass diese Auflösung vorbereitet wird: Das gemeinsam Erreichte wird ausgewertet und die Arbeit der Gruppe wird wertgeschätzt. Diesen Aspekt der Wertschätzung der gemeinsamen Arbeit konnte man auch im untersuchten Projekt insbesondere bei den Gruppen beobachten, die eine besonders positive Gruppenatmosphäre aufgebaut haben, wie beispielsweise die zwei nachfolgenden Ausschnitte der bereits vorgestellten Gruppe deutlich machen. Mascha bedankt sich im letzten Treffen gleich zwei Mal für die Zusammenarbeit bei ihren Partnerinnen. Das erste Mal drückt sie ihre Zufriedenheit über das Projekt und ihre Partnerinnen aus, als das letzte Treffen gerade erst begonnen hat. Astrid ist noch nicht am Treffpunk angekommen und Mascha betont die positive Zusammenarbeit der Gruppe gegenüber Carolin (vgl. Datenauszug 2): 106 Im Sinne des normings von Tuckman (1965) muss sich das Team auf ein Ziel einigen, dass es gemeinsam verfolgen möchte. <?page no="188"?> 188 Datenauszug 2: Betonung der guten Zusammenarbeit der Gruppe trotz des unattraktiven Themas Im weiteren Verlauf des Treffens, als auch Astrid anwesend ist, wiederholt Mascha ihren Dank und drückt ihre Zufriedenheit über die Partnerinnen aus. Sie unterstreicht, ihr das Projekt trotz des geschichtlichen Schwerpunktes, der nicht ihrem Interesse entsprach, viel Spaß bereitete. Maschas Äußerung folgend bekunden auch Astrid und Carolin, die deutschen Partnerinnen, ihre Zufriedenheit mit der Gruppe und die Freude, Mascha kennen gelernt zu haben (vgl. Datenauszug 3). Datenauszug 3: Gegenseitige Wertschätzung am Ende des Projektes Dörnyei und Murphey weisen darauf hin, dass es zudem hilfreich sei, die Gruppe auf die Zeit nach der Zusammenarbeit vorzubereiten. Hierbei brauchen die Mitglieder Hinweise, wie sie die erreichte Arbeit fortsetzen können. Auch eine Aussicht auf weiteren Kontakt mit anderen Gruppenmitgliedern durch Netzwerke oder weitere Treffen (vgl. Dörnyei & Murphey 2003, 51ff.) bereiten die Auflösung der Gruppe positiv vor. <?page no="189"?> 189 6.2.2. Der Gruppenzusammenhalt Der Gruppenzusammenhalt ist ein zentraler Faktor, um die Qualität einer Gruppe zu beschreiben. Er wird nach Mullen und Copper (1994) durch drei Aspekte erreicht: • Zwischenmenschliche Anziehungskraft: Man möchte zur Gruppe gehören, weil man die anderen Mitglieder mag • Die Verpflichtung zur Aufgabe: Man möchte einer Gruppe angehören, weil man ein Interesse am Gruppenziel hat • Gruppenstolz: Man möchte zur Gruppe gehören, weil die Mitgliedschaft Ansehen verschafft Schon durch einen dieser Aspekte kann es zu einer Bindung an eine Gruppe kommen, je mehr dieser Aspekte erfüllt werden, umso stabiler ist die Gruppe (vgl. Dörnyei & Murphey 2003, 62). Untersuchungen konnten einen positiven Zusammenhang zwischen Gruppenzusammenhalt und Performanz der Gruppe nachweisen (vgl. Ehrman & Dörnyei 1998; Evans & Dion 1991): Je fester der Gruppenzusammenhalt, desto stärker engagieren sich die Mitglieder und desto mehr Ergebnisse resultieren aus der Gruppe - sofern das Gruppenziel dem Ziel der Aufgabe entspricht und die Gruppe kein anderes Ziel als primäres Ziel definiert hat. Um den Gruppenzusammenhalt zu stärken, kann die Akzeptanz der Gruppenmitglieder untereinander gestärkt werden: One of the most important characteristics of a good group is the emergence of a general level of acceptance between members, and this will override even negative feelings between some. (Dörnyei & Murphey, 2003, 18) Um diese Akzeptanz zu befördern, nennen Dörnyei und Murphey (2003, 20ff.) unter anderem das gegenseitige Kennenlernen, die Herstellung von Nähe und Kontakt, die gemeinsame Kooperation sowie erfolgreiche Gruppenerlebnisse als wichtige Aspekte der Gruppensozialisation. Eine weitere Möglichkeit der Förderung des Gruppenzusammenhaltes ist eine geteilte Gruppengeschichte. Diese beinhaltet sowohl gemeinsam Erlebtes als auch eine ‚Gruppenmythologie’, die einen Gruppennamen oder besondere Charakteristika der Gruppe umfasst (vgl. Dörnyei & Murphey 2003, 67). Zudem befördern das öffentliche Zeigen der Zugehörigkeit, das erfolgreiche Lösen schwerer Aufgaben, die Investition in die Gruppe sowie eine Abgrenzung der Gruppe zu anderen Gruppe den inneren Zusammenhalt (ebd., 68f.). Es wurde gezeigt dass der innere Zusammenhalt der Gruppe ist für eine erfolgreiche Zusammenarbeit sehr bedeutend ist. Eine besondere Rolle kommt hierbei dem Gruppenführer zu: <?page no="190"?> 190 Wittingly or unwittingly, the leader always shapes the norms oft the group and must be aware of this function. The leader cannot not influence norms; virtually all of his or her early group behaviour is influencial. Moreover, what one does not do is often as important as what one does do (Yalom 1995, 111, zitiert nach Dörnyei & Murphey 2003, 42). Nachfolgend sollen daher verschiedene Formen der Führung von Gruppen beschrieben werden. 6.3. Theorien zur Führung von Gruppen: Leadership Die Führung von Gruppen spielt in allen Situationen, in denen Menschen zusammen arbeiten, eine Rolle. Forschung, die diese Zusammenarbeit und die Herausbildung von Führungsrollen untersucht hat, findet aber vornehmlich im Bereich der Arbeitssoziologie statt. Die arbeitssoziologischen Studien untersuchen den Einfluss des Verhaltens eines Vorgesetzten auf die Arbeit von Kleingruppen. Auch die hier dargestellten Untersuchungen stammen aus dem Bereich der Arbeitssoziologie und nicht aus dem Kontext der Fremdsprachenforschung Ihre Bedingungen sind demnach nicht deckungsgleich mit der Zusammenarbeit von Gruppen in Lernkontexten, dennoch sollen sie nachfolgend als erste Orientierungsgröße vorgestellt werden. In wieweit die Resultate, die aus den arbeitssoziologischen Studien gezogen wurden, auch auf den vorliegenden Kontext angewendet werden können, wird durch die nachfolgende Analyse und ihre Diskussion deutlich werden. Die wohl verbreitetste Kategorisierung von Führungsstilen geht auf Lewin und Kollegen zurück (Lewin, Lippitt & White, 1939). Demnach kann man zwischen autokratischer (oder autoritärer), demokratischer und Laissez-Faire Führung unterscheiden. Der autokratische Führer trifft alle Entscheidungen allein und kontrolliert die Gruppe vollständig. Der demokratische Führer gibt Entscheidungen an die Gruppenmitgliedern ab und fördert Diskussionen innerhalb der Gruppe. Bei einem Laissez-Faire Führungsstil entscheidet der Gruppenleiter nichts oder nur sehr wenig. Er tritt nicht als Autoritätsperson auf und gibt der Gruppe keinen Rahmen vor, in dem sie sich entwickelt. In ihren Untersuchungen zur Auswirkung der einzelnen Führungsstile auf die Gruppen stellten Lewin, Lippitt und White (1939) fest, dass der Laissez- Faire Stil die Gruppenbildung verlangsamt, dass diese Gruppen wenig produktiv und die Gruppenmitglieder unzufrieden sind. Autokratische Gruppen arbeiten am produktivsten, allerdings ist die Qualität der Arbeit der demokratischen Gruppen größer als die der beiden anderen Gruppen. <?page no="191"?> 191 Auch die Beziehung der Gruppenmitglieder untereinander sei in demokratischen Gruppen wesentlich freundlicher und gruppenorientierter als in einer autokratischen Gruppe. Bezüglich der Ergebnisse von Lewin, Lippitt und White (1939) merken Dörnyei und Murphey (2003, 92) an, dass man hieraus nicht automatisch schließen könne, dass ein demokratischer Führungsstil zu guten Ergebnissen führe: es gebe sowohl gute als auch schlechte demokratische Führer. Zudem seien die Bedürfnisse der Gruppe je nach deren Stadium und der jeweiligen Situation unterschiedlich: „Optimal leader behaviour depends on the maturity level of the group” (Dörnyei & Murphey 2003, 90). Dieser Situationsabhängigkeit entspricht die situative Führungstheorie (situational-leadership theory) von Hersey und Blanchard (1982). Demnach lässt sich das Verhalten des Gruppenführers in zwei Arten unterscheiden: das Beziehungsverhalten (relationship behaviour), bei dem die Bedürfnisse der Gruppenmitglieder befriedigt werden und der Gruppenzusammenhalt befördert wird, sowie der Aufgabenführung (task leadership), bei der das Erreichen des Ziels der Gruppe im Vordergrund steht. Hier werden Aufgaben delegiert, Lösungen vorgeschlagen, Hindernisse beseitigt und Informationen zugeteilt. Nach der Theorie von Hersey und Blanchard gibt es in jeder Phase der Gruppenarbeit unterschiedliche Bedürfnisse hinsichtlich des Verhalten des Gruppenleiters, so dass dieser durch unterschiedlich starke Anteile der beiden oben dargelegten Verhaltensweisen vier verschiedene Führungsstile an den Tag legen kann: Telling, selling, participating und delegating. Zu Beginn der Gruppenphase muss der Gruppenführer demnach eine hohe Aufgabenführung verfolgen, indem er in der Telling-Phase den Gruppenmitgliedern das Ziel verdeutlicht und angibt, wie dieses erreicht werden kann. In der Selling- Phase müssen die einzelnen Mitglieder überzeugt werden, dass das Gruppenziel auch für jeden individuell sinnvoll ist. Hierfür muss das Beziehungsverhalten verstärkt werden, so dass sowohl Aufgabenführung als auch Beziehungsverhalten stark ausgeprägt werden. Im Anschluss hieran wird in der Participating-Phase die Aufgabenorientierung des Gruppenleiters zurückgefahren. Er muss nun die einzelnen Gruppenmitglieder an der Aufgabe arbeiten lassen. In der Phase des Delegierens schließlich können die einzelnen Gruppenmitglieder Unteraufgaben übernehmen. In dieser Phase kann sich der Gruppenführer noch weiter zurückziehen, um jedem Gruppenmitglied Möglichkeiten zu geben, sich zu entfalten. Beide Verhaltensweisen, Beziehungsverhalten und Aufgabenführung, sind reduziert. Ein weiteres Modell, das unterschiedliche Führungsstile miteinander vergleicht kommt von Burns (1978). Er unterscheidet zwischen transactional und transformational leadership. <?page no="192"?> 192 Der transaktionale Führungsstil zeichnet sich durch ein Belohnungssystem aus: Der Gruppe wird ein Ziel genannt. Wenn sie dieses Ziel erreicht, wird ihr eine Belohnung in Aussicht gestellt. Demgegenüber steht der transformationale Führungsstil. Dieser verzichtet auf extrinsische Belohnungen. Transformationale Führer schaffen es vielmehr, die Gruppenmitglieder dazu zu begeistern, aus eigener, intrinsischer Motivation für das Ziel zu arbeiten. Bass (1985) nennt hierfür vier notwendige Eigenschaften eines transformativen Gruppenleiters: Charisma, so dass die zu Führenden dem Leiter trauen und sich mit ihm identifizieren; Inspiration, die durch hohe Erwartungen des Gruppenleiters und emotionale Ansprache geweckt werden; intellektuelle Stimulierung, die die Gruppenmitglieder ermutigt, innovativ und kreativ zu sein und Herausforderungen zu bewältigen, sowie individuelle Ansprache, mit der der Gruppenleiter den einzelnen Mitglieder eine hohe Berücksichtigung ihrer spezifischen Bedürfnisse vermittelt (vgl. auch Hoyt & Blascovic 2003, 680). Dörnyei und Murphey (2003, 100) bewerten den transformativen Führungsstil dem transaktionalen bei außergewöhnlichen Aufgaben als überlegen: While transactional leaders can be very effective in a wide variety of settings, particularly when things are going generally well and no major changes are needed, transformational leadership goes beyond this ‚routine’ setup and considerably augments transactional leadership. Auch Hoyt und Blascovic (2003) kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass Gruppen mit einem transaktionalen Führer mehr Output generierten, die Gruppen mit transformativem Führer aber qualitativ höherwertige Produkte erzeugten. Ihre Studie untersuchte zudem Unterschiede zwischen Face-to-Face- Gruppen und virtuellen Gruppen. Es gab virtuelle Gruppen, welche durch ein Gegensprechsystem miteinander interagierten; andere Gruppen interagierten in einer virtuellen Umgebung durch Avatare miteinander, wobei sie den virtuellen Raum mit Head-Mounted Displays 107 wahrnahmen. Bezogen auf die unterschiedlichen Settings, in denen die Gruppen miteinander arbeiteten, kamen Hoyt und Blascovich zu dem Ergebnis: „[T]here were no differences in qualitative or quantitative group performance or group cohesiveness across virtual and nonvirtual settings” (Hoyt & Blascovich 2003, 709f.) 108 . 107 Head-Mounted Displays sind Videobrillen, die dem Nutzer das Bild der virtuellen Umgebung unmittelbar vor die Augen projizieren, so dass der Immersionseffekt noch höher ist als bei klassischen Bildschirmen. 108 Der Aspekt der Wirkung des Kommunikationskanals auf die Gruppenperformanz und ihre Arbeitsergebnisse wird in Kapitel 7.1.2.3. noch ausführlicher diskutiert. <?page no="193"?> 193 An dieser Stelle sei noch einmal darauf verwiesen, dass die dargestellten Modelle aus der Wirtschaftspsychologie stammen und die Zusammenarbeit von beruflichen Teams untersuchen. In Lernkontexten beeinflussen weitere Faktoren die Zusammenarbeit von Gruppen, die in beruflichen Arbeitsgruppen keine Rolle spielen. In angeleiteten Lernkontexten wird die Gruppenzusammenarbeit in hohem Maße auch durch die Aufgabenstellung - diese wird in Kapitel 7.2 für das vorliegende Projekt untersucht - und die Lehrperson beeinflusst. Auch diese können Aspekte der Gruppenführung übernehmen und müssen in der Betrachtung der Gruppeninteraktionen berücksichtigt werden. Ob die dargestellten Führungsmodelle auch auf dieses Projekt übertragen werden können, muss überprüft werden. Nachfolgend soll in Kapitel 6.4 die Gruppenstruktur in ausgewählten Gruppen des Projektes analysiert werden, wobei auch eine Zuordnung zu den dargestellten Führungsmodellen geprüft wird, um Hinweise auf den Erfolg bestimmter Führungsstile aufzuzeigen. 6.4. Gruppenstrukturen und deren Auswirkungen auf die Zusammenarbeit In diesem Kapitel wird die Zusammenarbeit von drei Tridems während ihrer vier Treffen analysiert. Dabei werden die Treffen zunächst chronologisch nachgezeichnet, um die Entwicklung innerhalb der Gruppen hinsichtlich ihrer Gruppenstruktur darzustellen. So sollen die jeweiligen Rollenverteilungen und die aus der Gruppenkonstellation resultierenden Verhaltensweisen transparent gemacht werden. Entsprechend der in Kapitel 2 dargestellten Forschungsfragen soll überprüft werden, ob die Gruppenzusammensetzung und eine mögliche Rollenverteilung innerhalb der Gruppe Auswirkungen auf die inhaltliche Auseinandersetzung der Gruppen mit der Aufgabenstellung und dem Medium habt. Im Anschluss an die eher beschreibende Zusammenfassung jedes Treffens folgt eine kurze Zusammenfassung und Diskussion der Interaktionen der Gruppe. Am Ende jeder Gruppe werden diese Ergebnisse zu einer Einordnung der Gruppen entsprechend der in 6.3 dargestellten Modelle der Gruppenführung genutzt. Die drei Gruppen wurden anhand des Prinzip des maximalen Kontrast der dokumentarischen Methode ermittelt (vgl. Kapitel 5.4.1): Nachdem in einem ersten Schritt alle Gruppen, die am Projekt teilnehmen, genauer betrachtet wurden, kristallisierte sich bei den drei vorliegenden Gruppen eine deutlich unterschiedliche Form des Umgangs miteinander heraus: Während sich in Gruppe 1 Karla von Beginn an besonders hervortat, prägte in Gruppe 2 die enge Vertrautheit der Gießener Partnerinnen Nadine und Hanna die Grup- <?page no="194"?> 194 penarbeit. In Gruppe 3 kam es mehrmals zu Störungen innerhalb der gemeinsamen Arbeit und zu einem Wandel im Verhalten der einzelnen Gruppenmitglieder im Laufe der Treffen. Der Zusammenhang der Störungen und der Verhaltensweisen der Gruppe soll genauer untersucht werden. Daher wurden diese drei Gruppen ausgewählt, um ihr Verhalten genauer nachzuzeichnen, mögliche Rollen innerhalb der Gruppe zu identifizieren und die Entwicklungen der Gruppen im Laufe des Projektes aufzuzeigen. Der genaue Ablauf sowie die Intention der einzelnen Treffen wurden bereits in Kapitel 5.3.1 ausgeführt. Der Wortlaut der Aufgabenstellungen findet sich in Kapitel 7.2, in dem die Aufgabenbearbeitung der Gruppen untersucht und die Formulierungen der Aufgabenstellungen kritisch reflektiert werden. Abbildung 15 fasst den Ablauf des Projektes noch einmal zusammen. Abb. 15: Übersicht des Projektablaufs Nachfolgend werden in den Unterkapiteln 6.4.1 bis 6.4.3 die jeweiligen Treffen der drei Gruppen nachgezeichnet. Zu Beginn jeder Gruppenanalyse werden die einzelnen Mitglieder kurz vorgestellt. Die Vorstellung erfolgt auf Basis der Vorab-Fragebögen, die die Teilnehmenden des Projektes ausgefüllt haben. Die Angaben sind also subjektive Einschätzungen der Betroffenen. In der Analyse der Gruppen wird das Geschehen entsprechend der dokumentarischen Methode zusammengefasst dargestellt. An Schlüsselstellen werden Ausschnitte aus Chatprotokollen angegeben, die die zusammenfassenden Ausführungen belegen und ausführen sollen. Wie bereits in Kapitel 5.4.2 dargestellt, wurden die Treffen, in denen Voice-Chat verwendet wurde, entsprechend der TiQ-Transkription transkribiert (vgl. Abb. 13). Die Konventionen wurden insoweit modifiziert, als dass die einzelnen Teilnehmer durch den Anfangsbuchstaben ihres (anonymisierten) Vornamens gekennzeichnet werden. Die Teilnehmerin ‚Tina’ wird also <?page no="195"?> 195 mit dem Buchstaben ‚T’ abgekürzt. Diesem folgt bei Verwendung des Voice- Chats das Kürzel ‚vc’; bei Verwendung des Text-Chats, der mit Ausnahme der Nicknamen unverändert widergegeben wird, wird das Kürzel ‚tc’ an den jeweiligen Anfangsbuchstaben des Teilnehmers angefügt. ‚Tvc’ bedeutet also, dass Tina sich im Voice-Chat äußert, wohingegen ‚Ttc’ eine Äußerung von Tina im Text-Chat einleitet. Zur besseren Unterscheidung von Voice-Chat und Text-Chat werden beide in den Abbildungen zudem in unterschiedlichen Schriftarten gekennzeichnet. Wenn Teilnehmer, die in meinem Büro waren, direkt gesprochen haben (beispielsweise bei think-alouds, bei Rückfragen an mich oder im Austausch mit im selben Raum anwesenden Gruppenmitgliedern) wird dies durch die ausschließliche Verwendung des Anfangsbuchstabens und dem Hinweis ‚(zu ..)’, dem die Nennung der angesprochenen Person folgt, gekennzeichnet. Redebeiträge von mir werden mit dem Anfangsbuchstaben ‚Y’ gekennzeichnet (vgl. Abb. 14). Die Informationen, die eingangs zu den einzelnen Gruppenmitgliedern gegeben werden, entstammen deren Vorab-Fragebogen. <?page no="196"?> 196 6.4.1. Gruppe 1: Karla, Rina und Greta Gruppe 1 besteht aus drei Studentinnen, von denen keine Muttersprachlerin des Deutschen ist. Neben der polnischen Studentin Greta sind auf Gießener Seite Karla aus Kolumbien und Rina aus China Teil dieser Gruppe. Karla und Rina sind für ihr Masterstudium nach Gießen gekommen. Während Karla das komplette Studium in Gießen verbringt, ist Rina lediglich für ein Auslandssemester an der Justus-Liebig-Universität. Bezogen auf die gesamte Gruppe sind Karlas Deutschkenntnisse am weitesten fortgeschritten. Karla ist 28 Jahre alt und hat nach eigenen Angaben gute Computerkenntnisse, Second Life kennt sie allerdings noch nicht. Sie sagt, dass sie sich stark für Geschichte interessiert und es sehr wichtig findet, die Geschichte und die Kultur des Landes, dessen Sprache sie lernt, zu kennen. Sie hat einige Vorkenntnisse zum Thema ‘Teilung Deutschlands’, denkt aber nicht, dass sie sich gut mit dieser Epoche der deutschen Geschichte auskennt. Karla verbindet mit der DDR die Mauer und bezeichnet das Land als Diktatur. Sie denkt, dass die Bürger der DDR unzufrieden waren, weil sie unterdrückt wurden und keine Freiheit besaßen. Rina aus China ist 22 Jahre alt. Nach eigenen Aussagen verbringt sie täglich fünf Stunden vor dem Computer, kennt sich mit den unterschiedlichsten Programmen gut aus und nutzt Blogs und Foren ebenso wie Soziale Netzwerke und VoIP-Dienste 109 . Rina ist eine der wenigen Teilnehmer, die schon Erfahrungen mit Second Life gemacht haben. Rina gibt im Vorab-Fragebogen an, dass sie sich in durchschnittlichem Maße für Geschichte interessiert; sie findet aber, dass sie die Geschichte eines Landes, dessen Sprache sie lernt, kennen muss. Die deutsche Geschichte wurde in ihrem bisherigen Unterricht wenig thematisiert und sie denkt, dass sie sich entsprechend wenig damit auskennt. Rina hätte nicht gern in der damaligen DDR gelebt. Als Grund hierfür gibt sie an, dass sie das Land nicht so gut kenne. Greta kommt aus Polen ist 23 Jahre alt. Sie gibt an, dass sie den Computer vor allem nutzt, um zu arbeiten und um mit anderen in Kontakt zu bleiben, indem sie chattet oder soziale Netzwerk nutzt. Sie glaubt, sich gut mit dem Computer auszukennen. Greta war schon mehrmals in Deutschland, 109 VoIP ist die Abkürzung für Voice over IP und beschreibt Programme, mit deren Hilfe man über das Internet mit anderen Nutzern sprechen kann. Dabei arbeiten VoIP-Dienste zielgerichtet. Man kann bestimmte Nutzer kontaktieren, wodurch das Gespräch einem Telefonanruf in hohem Maße ähnelt. Viele VoIP-Dienste haben zusätzlich einen Text-Chat, mit dem man die Nutzer kontaktieren kann oder bieten die Nutzung einer Webcam an, so dass auch das Bild des Gegenübers übertragen wird. Zu den bekanntesten VoIP-Diensten zählen Skype oder Google Hangouts. <?page no="197"?> 197 wodurch sie unterschiedliche Gegenden von Deutschland (u.a. auch Berlin) kennengelernt hat. Alles in allem betrug die Zeit von Gretas Aufenthalten in Deutschland über ein Jahr. Auch Greta interessiert sich wie Rina nur durchschnittlich für Geschichte, findet aber, dass man die Geschichte und Kultur eines Landes, dessen Sprache man lernt, kennen sollte. Greta gibt an, dass die Teilung Deutschlands und die DDR in ihrer Schulzeit sehr stark thematisiert wurden, sie fühlt sich aber nur durchschnittlich gut hierüber informiert. Sie assoziiert mit der DDR nur den Begriff „Deutschland“. 6.4.1.1 Das erste Treffen von Gruppe 1 Beim ersten Treffen, welches vor allem dem Kennenlernen dient (vgl. Kapitel 5.3.1), ist Greta, die polnische Teilnehmerin, klar im Fokus des Gesprächs: Sie, als für die beiden anderen Gruppenteilnehmerinnen Unbekannte, wird hauptsächlicher Gegenstand des Gesprächs: Nach einer kurzen Begrüßung und technischen Orientierung in der Umgebung werden die Informationen, die Greta in ihrer Vorstellungsmail gegeben hat, aufgegriffen und thematisiert. Die Gruppe spricht über Gretas Hobbies, wobei alle Gruppenteilnehmerinnen annähernd gleiche Redeanteile aufweisen. Auffällig ist aber, dass die Gespräche zunehmend nach dem Muster ablaufen, dass Karla eine Frage stellt oder einen anderweitigen Redeimpuls liefert, auf den Greta dann reagiert, was Rina dann im Nachhinein kommentiert. Typisch hierfür ist der folgende Gesprächsausschnitt, in dem sich Karla auf Gretas Hobby, (künstliche) Fingernägel zu gestalten, bezieht: Datenauszug 4: Karla, Rina und Greta reden über Gretas Hobby Nagelmodellage Im weiteren Verlauf geht das Gespräch zunehmend zwischen Karla und Greta von statten, während Rina geringere Redeanteile im Gespräch hat: In diesem <?page no="198"?> 198 ersten Teil des Treffens tätigt Karla 13 Äußerungen, Greta hat 15 Redebeiträge. Dem gegenüber stehen 6 Gesprächsbeiträge von Rina, die damit nur rund halb so oft aktiv wird wie ihre Gesprächspartnerinnen. Im Verlauf des Treffens gleicht sich dies aber zunehmend aus, insgesamt kommt Karla auf 42, Greta auf 35 und Rina auf 29 Gesprächsbeiträge. Karla stellt Greta noch einige personenbezogene Fragen, die diese beantwortet. Erst nach einer längeren Pause von rund 20 Sekunden ergreift Rina das Wort: Datenauszug 5: Rina gibt einen neuen Gesprächsimpuls Rina versucht, die Aufmerksamkeit auch auf die beiden anderen Gruppenteilnehmerinnen (Karla und sich selbst) zu lenken, was aber misslingt. Ihr Impuls wird von Greta unentschlossen kommentiert („Keine Ahnung”, Zeile 106), wodurch Rina das Ende der Unterhaltung vorschlägt - bereits nach 10 Minuten des Treffens. Stattdessen wird zunächst die Organisation der weiteren Treffen thematisiert, indem die Teilnehmerinnen einen neuen Termin für ihre Treffen wählen. Die Situation lockert sich auf, als von Rina der Wunsch artikuliert wird, sich nicht zu früh zu treffen, was von den Partnerinnen lachend kommentiert wird (vgl. Datenauszug 6). Datenauszug 6: Rina möchte ein bisschen länger schlafen Da die Gruppe sich schnell auf eine Uhrzeit verständigt und sich alle Teilnehmer einig sind, dass sie gern „ein bisschen länger schlafen” (Zeile 130), wird hierdurch eine positive Gruppenatmosphäre erzeugt, die sich noch ver- <?page no="199"?> 199 stärkt, als Rina dies mit ihrem Beitrag, in dem sie feststellt, dass sich die Gruppe schon gut kennen gelernt hat, explizit macht (vgl. Zeile 132). Ohne jegliche Pause schließt sich hieran direkt ein neuer Redeimpuls an, in dem sich Karla den beiden anderen Gruppenteilnehmerinnen noch einmal kurz vorstellt, wodurch die Gruppe das Thema der unterschiedlichen Muttersprachen thematisiert. Karla wird aufgefordert, etwas auf Spanisch zu sagen, danach diskutieren die Gruppenteilnehmerinnen in sehr ausgeglichenen Redeanteilen über die spanische Sprache. Sie finden alle einen Konsens, indem sie Spanisch als „schöne Sprache” (Zeile 146) beschreiben und befinden, dass sie nicht so schwer zu erwerben sei wie das Deutsche. Hieran schließt sich eine Einschätzung an, welche ihrer Muttersprachen wohl am schwierigsten sei. Greta stimmt Karla zu, dass Polnisch eine schwierige Sprache sei und Rina mutmaßt, dass das Chinesische am schwersten zu erlernen sei. Nach einer kurzen Pause beginnen sowohl Karla als auch Rina mit einer Äußerung, als Rina dies feststellt, stockt sie. In dieser Situation übernimmt Karla eine moderierende Rolle und bietet Rina die Möglichkeit, ihren Beitrag zu äußern (vgl. Datenauszug 7): Datenauszug 7: Karla organisiert das Rederecht in der Gruppe Nach einer kurzen Passage, in der alle feststellen, dass ihre englischen Sprachkompetenzen durch das Deutschstudium beeinträchtigt werden, verstummt das Gespräch wieder. Karla bleibt in der moderierenden Rolle und versucht nun, den Gesprächsfluss aufrecht zu erhalten. Sie bietet Greta an, noch weitere Fragen zu stellen, diese lehnt allerdings ab. Daraufhin fragt Karla Greta, wie sie das Treffen empfunden hat, worauf sich ein Dialog zwischen Karla und Greta zu den technischen Problemen, die beide am Anfang hatten, anschließt. Nachdem Karla dieses Problem als nicht mehr existent abtut (Zeile 194), äußert sie, dass sie gerne mit den „Mädels” Kaffee trinken würde (Zeile 196ff.). Allerdings resultiert hieraus kein weiterer Fortgang des Gesprächs. Nachdem Karla das nächste Treffen erwähnt und eine kurze Pause entsteht, fragt Rina nach: „Ok, wärs das für heute? ”, was Greta bejaht. Rina verabschiedet die anderen, woraufhin auch Karla zustimmt und den Termin des <?page no="200"?> 200 nächsten Treffens nennt. Nachdem die beiden anderen Gruppenteilnehmerinnen den Termin noch einmal bestätigen, verlassen alle nach einer Abschiedsfloskel nach einer Gesamtzeit von nur knapp 12 Minuten den virtuellen Raum. Das dargestellte Treffen soll nachfolgend zusammengefasst und interpretiert werden. Obwohl das Treffen sehr kurz war, haben sich die Teilnehmerinnen in der knappen Zeit über vielfältige Themen ausgetauscht. Sie haben die Informationen, die sie über ihre Partnerinnen hatten, vertiefen können und konnten Gemeinsamkeiten feststellen. Die Gruppe hat sofort und ohne Probleme den Voice-Chat verwendet. Da nur am Anfang kurz technische Probleme auftauchten, werden von den zwölf Minuten des Treffens nur eineinhalb Minuten nicht auf den inhaltlichen Austausch entsprechend der Aufgabenstellung verwandt, so dass 87% der Zeit dem gegenseitigen Kennenlernen gewidmet wird. Schon in diesem ersten Treffen hat sich Karla als Gesprächsführerin der Gruppe etabliert. Nicht nur, dass sie die meisten inhaltlichen Fragen stellt, bei unklaren Äußerungen ihrer Partnerinnen oder Unsicherheiten bezüglich des Rederechts organisiert sie den Gesprächsverlauf. Auch hinsichtlich der Terminfindung ist es Karla, die alle Informationen immer wieder zusammenfasst und der Gruppe mitteilt. Karla ist also deutlich als Gruppenführerin zu erkennen. Allerdings trifft sie nicht alle Entscheidungen für sich; den Verlauf des Gesprächs steuern alle drei Gruppenmitglieder. Aufgrund dessen kann man Karla bezogen auf die in Kapitel 6.3 diskutierten Führungsstile als demokratische Führerin der Gruppe bezeichnen. Diese starke Rolle von Karla im Gespräch geht zu Lasten von Rina, deren Redeanteile in Phasen, in denen Karla viel spricht, zurückgehen. Wenn Karla keinen neuen Redeimpuls gibt, zeigt sich, dass Rina durchaus interessante Impulse zum Fortgang des Gesprächs liefern kann. Die Gruppe lacht schon im ersten Treffen sehr viel miteinander, die Atmosphäre ist freundlich und entspannt. Dies befördert eine positive Gruppenatmosphäre, was besonders wichtig für die Zusammenarbeit von Gruppen ist (vgl. Kapitel 6.1). Zudem gelingt es den Teilnehmerinnen, zu dritt ein Gespräch herzustellen und über längere Redewechsel hinweg aufrecht zu erhalten. Auch wenn Rina etwas stiller ist, sind so alle in das Gespräch integriert. Im Gespräch werden persönliche Themen thematisiert, durch die Nachfragen der Partnerinnen wird das gegenseitige Interesse aneinander deutlich. Es kann deshalb festgehalten werden, dass die Gruppenbildungsphase in dieser Gruppe gemäß der in Kapitel 6.2 diskutierten Bedingungen für das Gelingen von Gruppenkonstitutionen erfolgreich verlaufen ist. <?page no="201"?> 201 6.4.1.2. Das zweite Treffen von Gruppe 1 Das zweite Treffen dieser Gruppe beginnt mit einer rund fünfminütigen Phase, in der Rina noch nicht anwesend ist. Greta gibt zu Anfang bekannt, dass sie den Voice-Chat nicht benutzen kann, im Anschluss nutzen sie und Karla dennoch die Zeit dafür, die Lautstärkeeinstellungen Karlas anzupassen. Als Rinas Avatar auftaucht, gibt Greta sofort den Impuls anzufangen, während Rina noch versucht, ihren Voice-Chat einzustellen. Nachdem auch Rinas startbereit ist, klinke ich mich durch meinen Avatar in das Gespräch ein und nenne per Text-Chat die Aufgabenstellung des Tages. Dies war notwendig, da sich aufgrund technischer Probleme in der für dieses Treffen geplanten Simulation eine Änderung ergeben hatte und statt der simulierten Wohngegend in Berlin-Marzahn nun zunächst das Mauer-Museum und das Brandenburger Tor besucht werden mussten (vgl. Datenauszug 8). Datenauszug 8: Ich informiere Gruppe 1 über die abweichende Aufgabenstellung Nachdem ich den Teilnehmerinnen die Ursache der abweichenden Aufgabenstellung erläutert habe, treten wieder Verbindungsprobleme des Voice- Chats auf, welche für weitere fünf Minuten die Aufmerksamkeit der Teilnehmerinnen in Anspruch nehmen. Das Problem kann bei Karla nicht gelöst werden, so dass Karla schließlich anbietet, dass sie den Text-Chat nutzen wird, während die anderen weiter sprechen sollen. Insgesamt 18 Minuten nach Beginn des Treffens wendet sich die Gruppe der ersten Aufgabe zu, die von ihnen verlangt, dass sie sich aus einer Liste ein gemeinsames Thema wählen, zu dem sie zukünftig eine kurze Präsentation vorbereiten sollen (vgl. Kapitel 5.3.1). Die Wahl des Themas erfolgt sehr schnell und unkompliziert. Karla schlägt das Thema ‚Medien und Pressefreiheit’ vor, woraufhin sich die beiden anderen Gruppenmitglieder mit diesem <?page no="202"?> 202 Thema einverstanden erklären. Auch in dieser Situation wird Karlas leitende Funktion innerhalb der Gruppe wieder deutlich. Entsprechend der Rolle eines demokratischen Führers schlägt sie die Inhalte nur vor und entscheidet nicht selbstständig (vgl. Kapitel 6.3), dennoch scheinen die anderen Gruppenmitglieder Karlas Position zu unterstützen, indem sie ihren Vorschlag ohne weitere Begründung oder Diskussion annehmen. Das weitere Vorgehen ist der Gruppe trotz der Aufgabenstellung und Prozessbeschreibung im Blog nicht klar, so dass acht Minuten lang eine Darlegung und Diskussion des weiteren Prozesses stattfindet, in den ich intensiv einbezogen werde, indem alle Gruppenmitglieder sich mit Fragen an mich richten. Schließlich kommt die Gruppe nach 30 Minuten zum virtuellen Mauermuseum. Im Gegensatz zur Aufgabenstellung laufen die drei Teilnehmerinnen einzeln durch die Ausstellung und kommunizieren nicht miteinander 110 . Einzelne Gruppenmitglieder äußern ihre Eindrücke zu dem, was sie sehen. Die Äußerungen beinhalten meistens bewertende Aussagen („Die Musik ist schön”; „Die Grenze war aber lang! ”) und nicht reflektieren, was auf den Bildern zu sehen ist oder auf welchen Hintergrund die Ausstellungsstücke rekurrieren. Zudem gehen die anderen Gruppenteilnehmer nie auf einen derartigen Impuls ihrer Partnerinnen ein, so dass es zu keinem Gespräch kommt. Nach 18 Minuten sind alle drei Gruppenmitglieder am Ende der Ausstellung angelangt, aber auch in dieser Situation reden sie nicht über deren Inhalt. Sie fokussieren nun das Problem, dass Gretas Internetverbindung zu langsam war, so dass diese den Film am Ende der Ausstellung nicht sehen konnte. Statt ihr diesen Film zu beschreiben, befinden alle lediglich sehr kurz, dass dies sehr schade ist. Im Anschluss besucht die Gruppe ab Minute 52 des Treffens noch kurz die zweite Umgebung, das virtuelle Brandenburger Tor. Auch dort ist eine Videoleinwand zu sehen, deren Inhalt von Greta nicht eingesehen werden kann. Nachdem acht Minuten lang keine Kommunikation stattgefunden hat, bittet Greta ihr noch einmal die Möglichkeiten der Softwareeinstellungen zu erläutern, um das Video evtl. doch noch sichtbar zu machen. Vermutlich aufgrund einer zu langsamen Internetverbindung gelingt dies nicht, so dass ich ihr stattdessen einen Gedenkplatz für Maueropfer zeige, zu dem sich auch die beiden anderen Gruppenmitglieder gesellen. dieser Ort wirkt emotional sehr stark, da er sich verändert und die Teilnehmer plötzlich die Darstellung eines Erschossenen an der Mauer vor sich sehen. Die Gruppe geht auf diesen Impuls nicht ein. Lediglich Rina äußert Mitleid („Oh, der Mann ist tot. Der 110 Mit diesem Verhalten sind sie nicht allein: Viele Gruppen kommunizieren in der Ausstellung nicht miteinander. Die Gründe dafür werden genauer in Kapitel 6.2.2 sowie in Kapitel 7.4. diskutiert. <?page no="203"?> 203 arme Mann”), was von den anderen beiden nicht aufgegriffen wird. Die Situation wird von keinem Gruppenmitglied thematisiert, so wird beispielsweise die Todesursache des Mannes nicht Gegenstand des Gesprächs. Vielmehr wenden sich die Gruppenteilnehmer nach einer rund einminütigen Stille und nach einem Impuls von Karla noch einmal kurz dem Treffen der nächsten Woche zu. In fünf Gesprächswechseln werden der Termin und die Aufgaben bis dahin benannt. Die Gruppe verabschiedet sich nach insgesamt 1: 12h voneinander. Dieses Treffen zeichnet sich im Vergleich zum ersten Treffen durch eine stark reduzierte Kommunikation der Teilnehmer untereinander aus. In ihren Reflexionen thematisieren die Partnerinnen dies nicht. Vielmehr sagen alle drei Teilnehmerinnen, dass sie die Orte interessant fanden, beispielhaft fasst Karla das Treffen so zusammen: Wir haben uns am [...] an einem Grenzübergang zur DDR getroffen. Leider hatten wir wieder ein Paar technische Probleme. Am Anfang konnte ich Greta nicht hören und Rui konnten wir auch nicht hören. Also haben wir den Ausflug in die DDR verschoben. Stattdessen haben wir das Thema für unser Projekt gewählt: „Kommunikation, Presse und Medien”. Danach sind wir ins Museum gegangen. Dort haben wir eine Ausstellung über die DDR besucht und anschließend einen kleinen Film darüber gesehen. Dann haben wir uns zum Brandenburger Tor teleportiert, wo es noch ein Stück Mauer gab. Nach ein Paar Minuten hat sich alles verwandelt und wir waren plötzlich in der Zeit der DDR und der Mauer. Wir haben sogar eine Leiche gesehen, vermutlich von jemandem, der versucht hatte zu fliehen. Nach dieser Erfahrung war die Zeit vorbei und wir haben am Ende noch ein Paar Details zu unserem Projekt besprochen. Ich fand das Treffen sehr interessant, da wir neue Sachen gesehen haben und neue Orte besucht haben. Ich hoffe, dass wir nächstes Mal ohne technische Probleme arbeiten können. (Lernertagebuch Karla, 2. Treffen) Hier geschieht also ein Nachdenken über die Todesursache, die dialogisch nicht erfolgt war. 111 . Gretas Auswertungen fallen kürzer aus. Neben einer fehlerhaften Einordnung des Ortes als „Berliner Platz” hebt Greta ihre Empfindungen hervor. Sie beschreibt, dass sie erschrocken gewesen sei. Die genauen Hintergründe hierzu lässt Greta allerdings offen: [...] Dann sind wir wieder nach ‚new Berlin - Branderburger Tor’ geflogen. Da haben wieder einige Bilder gesehen. wir waren an Berlinerplatz. Da lag ein Leichnam, was mich ein bisschen erschroken hat. es hat eigentlich ganz gut geklappt.. (Lernertagebuch Greta, Auszug zum 2.Treffen) 111 Eine Auseinandersetzung mit diesem unterschiedlichen Verhalten zwischen Dialog und späterer Reflexion erfolgt in Kapitel 7.4. <?page no="204"?> 204 Besonders betonen Karla und Rina die Schwierigkeiten in diesem Treffen, da sich die Teilnehmerinnen nicht immer gegenseitig hören konnten. Alle drei schließen ihre Reflexionsbeiträge mit der Hoffnung auf weniger technische Probleme ab, so dass davon auszugehen ist, dass die technischen Probleme sie stark beschäftigt haben. Vielleicht ist die verminderte Kommunikation der Gruppenteilnehmer untereinander hierauf zurückzuführen 112 . Auffällig ist auch, dass ich in dieser Sitzung sehr präsent war. Nachdem ich aufgrund der Programmänderungen am Anfang kurz durch den Text-Chat in Erscheinung getreten bin, haben die Teilnehmerinnen sich immer wieder mit Fragen oder bei Unsicherheiten an mich gewandt. Auch andere Gruppen kamen mit Fragen auf mich zu. Dieses Verhalten wird in Kapitel 8.5 genauer behandelt. 6.4.1.3. Das dritte Treffen von Gruppe 1 Das dritte Treffen von Karla, Rina und Greta beginnt damit, dass ich den Teilnehmerinnen nach ihrer gegenseitigen Begrüßung mitteile, dass für die heute zu besuchende Umgebung, die einen Nachbau eines Straßenausschnitts von Berlin-Marzahn (vgl. Abb. 7 und 8 in Kapitel 5.4.1). darstellt, kein Voice- Chat zur Verfügung steht. Aufgrund dessen entfällt bei dieser Sitzung das Überprüfen und Einstellen der Technik und ich gebe ihnen per Text-Chat erneut die Aufgabenstellung Nachdem diese Vorbereitungen rund fünf Minuten in Anspruch genommen haben, begibt sich die Gruppe in die Umgebung. Hier laufen die Teilnehmerinnen erst einmal vereinzelt am Eingang der Simulation herum und kommunizieren nicht miteinander. Karla ist die erste, die einen Redebeitrag liefert und versucht, die Gruppe zusammenzuhalten, indem sie Rina herbei ruft. Dabei übersieht sie allerdings, dass Gretas Avatar nicht mehr in ihrer Nähe ist. Außerdem wiederholt Karla kurz die Aufgabenstellung, wobei sie diese verkürzt lediglich als Aufgabe benennt, die genannten Orte in der Simulation zu suchen: Datenauszug 9: Karla fasst die Aufgabenstellung der dritten Woche verkürzt zusammen 112 Ein weiterer Erklärungsansatz für die verminderte Kommunikation in der Gruppe ist in der Aufgabenstellung zu sehen. Dies wird unter 7.2. diskutiert. Auch die Wirkung der Umgebung auf das Kommunikationsverhalten der Gruppen wird später systematisch untersucht, dies findet in Kapitel 8. statt. <?page no="205"?> 205 Damit verschweigt Karla den eigentlichen und zentralen Aspekt der Aufgabenstellung: dass sie diese Orte aufsuchen sollen, um sich dann über die Orte und ihre Darstellung auszutauschen 113 . Rina geht nicht auf Karlas Äußerungen ein, ihr Avatar nähert sich aber Karlas und bleibt in deren Nähe stehen. Als ich darauf hin nachfrage, wo Greta sei, antwortet Karla, dass sie es nicht wisse. Rina ignoriert die Frage. Sie sucht weiter nach den Gebäuden und stellt Nachfragen, ob sie sich schon vor einem der gesuchten Gebäude befinden. Ich hole Greta schließlich zurück zur Gruppe. Als sie ankommt, weist Greta auf die Kaufhalle hin und Karla signalisiert durch ein „ok”, dass sie diesen Hinweis wahrgenommen hat. Aus der Feststellung folgt aber keine Handlung der Gruppe. Vielmehr laufen alle still durch die Simulation, bzw. läuft Karla in eine Richtung und die anderen folgen ihr nach. Auch hierin wird Karlas leitende Stellung innerhalb der Gruppe deutlich, zumal sie nicht in Richtung der Kaufhalle geht, sondern das gegenüberliegende Café anstrebt. Nach zwei Minuten sammelt sich die Gruppe vor dem Café, Rina schreibt auch „cafe...” im Text-Chat, um alle auf das Gebäude aufmerksam zu machen. Die Gruppe beschließt, in das Café zu gehen und jeder läuft vereinzelt durch den Raum. Auf Gretas Frage „und? ? ” erfolgt keine Reaktion der anderen, zwei Minuten laufen sie durch den Raum. Dann fragt Rina, was sie noch suchen sollen (vgl. Datenauszug 10): Datenauszug 10: Auch Rina interpretiert die Aufgabestellung nur als Auffinden der Orte An dieser Aussage wird deutlich, dass Rina den Arbeitsauftrag nicht verstanden hat. Ihr geht es wie auch Karla lediglich darum, alle Orte zu finden. Auf Rinas Frage reagiert Greta nur mit einem „hmmm”. Ich werfe ein, dass die Gruppe die Kaufhalle noch nicht von innen gesehen hat und frage nach, wie sie das Café finden. Hierauf hin wird lediglich von Rina die Leere des Raumes angemerkt, es ergibt sich keine Diskussion zum Café, nur Karla fügt noch hinzu, dass das Café groß sei. Im Anschluss möchte Rina in die Kaufhalle gehen und Karla und Greta stimmen dem Vorschlag zu. Schnell gehen sie zur 113 Die einzelnen Aufgabenstellungen und die Reaktionen der Gruppen werden in Kapitel 7.2 eingehender untersucht. Es sei schon hier darauf hingewiesen, dass viele Gruppen diese Aufgabenstellung nicht in der Weise befolgten, wie sie intendiert war. Dies wird in Kapitel 7.2.3 diskutiert werden. <?page no="206"?> 206 Kaufhalle und laufen auch dort wieder für ca. 45 Sekunden jede für sich durch die Regale, ohne miteinander zu sprechen. Danach tauscht sich die Gruppe noch getrennt voneinander stehend kurz über die Leere der Regale aus: Datenauszug 11: Austausch der Gruppe 1 zur Leere der Regale Die Antworten auf Karlas Feststellung, dass die Regale leer seien, sind nur kurze Zustimmungen der Partnerinnen. Das Gespräch wird nicht vertieft. Vielmehr versammelt sich die Gruppe stattdessen vor einem Regal. Karla stellt hier erstmals eine inhaltliche Frage zu den Gegenständen, die sie in den Regalen sieht: Datenauszug 12: Die Gruppe stellt Fragen zur Generalisierbarkeit der dargestellten Waren und des Kaufhauses Auf meine Erläuterungen zu Karlas Frage zur Herkunft der Waren geht die Gruppe nicht ein. Auch der Impuls, mit dem ich nach dem Grund ihrer Annahme frage (Zeile 148) und der eine tiefergehende Thematisierung der dargestellten Waren in Verbindung mit den Erwartungen der Partnerinnen hat, wird nicht aufgegriffen. Die Teilnehmerinnen wollen zum nächsten Ort und gehen zum Kiosk, wo sich dasselbe Verfahren wiederholt. Wieder stehen die Teilnehmerinnen still <?page no="207"?> 207 vor dem Ort, nach ca. 30 Sekunden gibt Karla bekannt „Hier gibt es schon wieder nicht so viel”; worauf Rina und Greta aber nicht reagieren. Nach 20 weiteren Sekunden der Stille geht die Gruppe weiter die Straße entlang und will das Wohnhaus besichtigen. Im Wohnhaus gehen sie alle gemeinsam in die erste Wohnung, sagen dort aber nichts und gehen dann direkt in die zweite Wohnung. In dieser äußert sich Karla positiv zu der Einrichtung, Rina schließt sich ihr an (vgl. Datenauszug 13): Datenauszug 13: Karla und Rina bewerten die Wohnung positiv. Daraufhin herrscht wieder Stille. Ich frage Rina, da sie den Vergleich mit dem Studentenwohnheim hergestellt hat, ob sie die Wohnung einem Studenten zuordnen würde. Sowohl sie, als auch Karla glauben, dass die Wohnung von einer Familie bewohnt wird, gehen aber nicht mit Argumenten darauf ein. Die Gruppe beschließt nach bereits eineinhalb Minuten, sich die nächste Wohnung anzusehen. Auch hier ist vor allem Karla diejenige, die das Gesehene kommentiert: Datenauszug 14: Karla und Rina bewerten eine Wohnung und stellen viele Rückfragen an mich <?page no="208"?> 208 Karla beschreibt die Wohnung als groß und Rina vergleicht sie mit der vorigen Wohnung. Sie schätzt den Wohnungseigentümer als reicher ein, hierauf geht die Gruppe aber nicht näher ein. Erst am Ende stellt Karla Fragen an mich und will die Wohnung einordnen, indem sie danach fragt, wer in dieser Wohnung gewohnt hat und ob die Wohnung einer Wohnung in der DDR entsprochen haben könnte. Offenbar hat sie die Situation für die Bürger schlechter eingeschätzt, als diese Wohnung den Anschein macht, da sie mehrmals nachfragt, ob „normale Leute” in dieser Wohnung gewohnt haben. Dieses Muster wiederholt ihre Reaktion in der Kaufhalle, wo sie auch verwundert nachgefragt hatte, ob die Waren den Waren aus der DDR entsprechen (vgl. Datenauszug 12). Karla nutzt mich als Informationsquelle, um ihre Annahmen abzusichern 114 . Auf meine Auskünfte hin wird das Thema innerhalb der Gruppe nicht vertieft und die Gruppe geht zur letzten Wohnung. Sofort nach dem Betreten der Wohnung ordnet Karla das Gesehene richtig ein: Datenauszug 15: Karlas und Rinas Reaktion auf die Kamera in der letzten Wohnung Karla stellt fest, dass in diesem Raum „spioniert“ wurde, was von Rina unterstützt wird. Die Gruppe redet aber nicht weiter über diese eigentlich ungewöhnliche Entdeckung. Karla stellt mir weitere Fragen zur Wohnung, aber auch als ich die Stasi nenne, entsteht kein Gespräch oder eine Nachfrage an mich, vielmehr verlässt diese Gruppe die Wohnung wieder, danach endet das Treffen 115 . 114 Diese direkte Ansprache an mich, um Informationen zur Umgebung zu erhalten, wird in Kapitel 8.5 aufgegriffen. 115 In Kapitel 5.3.1 ist beschrieben, dass die Mitglieder einiger Gruppen im Anschluss an die Besichtigung noch einen virtuellen Trabbi geschenkt bekamen, mit dem die <?page no="209"?> 209 Es ist auffällig, dass in einer Gruppe, deren Teilnehmerinnen sich als zumindest durchschnittlich interessiert bezeichnen und die glauben, zum Deutscherwerb gehöre auch die Beschäftigung mit deutscher Geschichte (vgl. Kapitel 6.4.1) und die bis zu diesem Zeitpunkt auch schon gezeigt hat, dass sie als Gruppe gut funktioniert, ausgerechnet beim Thema ‚Stasi’ nicht ins Gespräch kommt. Warum dies so sein könnte, wir in den systematisierenden Kapiteln 7 und 8, besonders in 7.2 und 8.4 noch ausführlicher behandelt. Die Gruppe spricht bei diesem Treffen wie auch im vorangegangenen weniger aktiv miteinander, obwohl es diesmal keine technischen Probleme gibt. Karla hat die meisten Redeanteile und auch Rina stellt immer wieder fest, was sie sieht, während Greta zwar immer bei der Gruppe bleibt, ansonsten aber eher still ist. Innerhalb der Gruppe kommt es zu keiner inhaltlichen Diskussion über das Gesehene. Die Mitglieder bleiben auf der deklarativen Ebene, indem sie das Gesehene beschreiben und bewerten und auch Nachfragen dazu stellen, dazu aber nicht miteinander diskutieren. In dieser Sequenz ist es auch wieder Karla, die die meisten Redeteile ausweist. Sie verwickelt ihre Partnerinnen aber nicht in ein Gespräch, sondern macht lediglich Feststellungen oder richtet Fragen an mich. Selbst die beschreibenden Gespräche innerhalb er Gruppesind selten, nur in Bezug auf die Supermarktregale und potentielle Bewohner der Wohnungen kommen Gespräche mit mehreren Sprecherwechseln zustande. Die Gruppe läuft vielmehr lediglich die Orte ab, dies entspricht ihrer Auffassung von der Aufgabenstellung. Die Gruppe ist selten länger als zwei Minuten an einem Ort und daher bereits nach 40 Minuten mit dem ganzen Rundgang fertig. Karla führt die Gruppe indirekt, indem sie die initiative ergreift und ihren Avatar in eine bestimmte Richtung laufen läuft, in welche die Avatare der anderen Partner ihr folgen. Aufgrund der fehlenden Interaktion der Gruppenmitglieder kann im Bezug auf die Inhaltliche Auseinandersetzung mit der Umgebung und keine Führungsposition (vgl. 6.3) ausgemacht werden; die Teilnehmer agieren gleichberechtigt. Hierbei ist auffällig, dass, auch wenn die Mitglieder mit miteinander reden, die Gruppe immer beieinander bleibt und miteinander aushandelt, wo sie hingeht, wenn sie einen Ort abgeschlossen habt. Dies lässt erkennen, dass sich die Mitglieder füreinander verantwortlich fühlen und die Gruppe sich als solche empfindet (vgl. Kapitel 6.2). Dass die Gruppe dennoch nicht gemeinsam über das Gesehene diskutiert, kann daher Avatare durch die Umgebung fahren konnten. Dies wird in den folgenden Gruppen auch dargestellt werden. Gruppe 1 bekam aufgrund der fortgeschrittenen Zeit am Ende der Besichtigung der Umgebung diese Trabbis nicht mehr geschenkt. <?page no="210"?> 210 auf andere Ursachen zurückgeführt werden und wird unter 8.2.3 weiter diskutiert. 6.4.1.4. Das vierte Treffen von Gruppe 1 Das vierte Treffen der Gruppe findet wieder mit Voice-Chat statt. Nach einer kurzen Begrüßung kommen die Mitglieder sehr schnell zur Aufgabe des Treffens, die Karla verkürzt mit „Also wir sollen unsere Recherchen präsentieren” zusammenfasst. Nach dieser Einleitung durch Karla weist Greta darauf hin, dass sie ihren Partnerinnen ihre Rechercheergebnisse bereits zugesandt hat. Sie fragt auch, ob Karla und Rina eine Präsentation erstellen können, in die sie dann ihre Folien einfügt. Karla erklärt sich mit diesem Vorgehen einverstanden und fragt nach, ob ihre Partnerinnen auch die von ihr recherchierten Informationen zu Kolumbien erhalten haben. Nachdem Greta dies bejaht hat, schlägt Karla vor, dass sie sich mit Rina trifft um die Präsentation zu erstellen, Greta stimmt zu und überlässt beiden die Gestaltung der Präsentation. Im Anschluss wirft Karla die Frage nach der Vortragsorganisation auf: Datenauszug 16: Gruppe 1 handelt den Aufbau der Präsentation aus <?page no="211"?> 211 Zunächst fällt auf, dass die in Zeile 61 dargestellte Zustimmung die erste Redebeteiligung Rinas bei dem Treffen ist. Diese Beteiligung erfolgt erst, nachdem bereits 4: 34 Minuten vergangen sind und auch erst, nachdem Rina von Karla explizit angesprochen wurde. Zum anderen wird in dieser Situation Karlas implizite Rolle als Gruppenmoderatorin sehr deutlich: Sie hat durchgehend die meisten und längsten Redeanteile, sie organisiert die gemeinsame Arbeit sowie die Gesprächsrechtsvergabe und geht auf die Beiträge der anderen ein. Ihre Rolle wird dadurch gestärkt, dass sie mit mir in einem Raum ist, so dass sie sich bei Rückfragen an mich direkt wenden kann und mich nicht wie die anderen per Voice- oder Text-Chat kontaktieren muss. Sie verfügt damit über besondere Ressourcen, die ihre Partnerinnen nicht nutzen können. Nachdem mit der Sequenz in Datenauszug 16 die letzten organisatorischen Unklarheiten beseitigt sind, tritt für rund eine halbe Minute Stille ein. Danach testen alle drei Gruppenmitglieder noch einmal die Funktion ihrer Voice-Chats, woran sich erneute Stille anschließt. Nach ca. 14 Sekunden poste ich ihnen noch einmal einen Hinweis auf die Aufgabenstellung und betone, dass sie ihre Ergebnisse auch vorstellen und diskutieren sollen: „Ja, ihr sollt heute ja ein bisschen über das reden, was ihr euch geschickt habt... was ist euch aufgefallen, gibt es irgendwo Gemeinsamkeiten bei euren Ländern oder Unterschiede...? ” (Zeile 88-91). Die Überprüfung der Voice-Chat-Einstellungen wird daraufhin abgeschlossen. Dann ergreift wieder Karla das Wort: Datenauszug 17: Karla fasst die Aufgabenstellung zusammen Karla fasst noch einmal die Aufgabenstellung zusammen und berichtet kurz von ihren Ergebnissen. An diese schließt sich eine Phase der Stille an, die nur von Karlas Nachfrage, ob die anderen sie hören konnten, unterbrochen wird. Nach einer erneuten Pause antworten beide, dass sie Karla hören konnten. Greta stellt aber fest, dass sie selbst nicht mehr sprechen kann und loggt sich neu ein. Eine tiefergehende Beschäftigung mit Karlas Ausführungen kommt nicht zustande. Greta meldet sich neu an. In dieser Phase, die ca. eineinhalb <?page no="212"?> 212 Minuten dauert, sagt Rina, dass sie Material gefunden hat und dass die 1960er bis 1970er Jahre in China eine wichtige Phase gewesen seien. Dann kommt Greta wieder online und nachdem Karla sichergestellt hat, dass alle einander hören können, wiederholt sie ihre Rechercheergebnisse: Datenauszug 18: Karla stellt ihre Rechercheergebnisse vor Nach Karlas Ausführungen herrscht erneut Stille, diesmal nur für acht Sekunden. Danach ermuntert Karla die anderen, auch etwas über ihre Ergebnisse zu berichten. Greta verweist auf das von ihr geschickte Material (vgl. Datenauszug 19): Datenauszug 19 : Greta verweist auf die von ihr geschickten Folien <?page no="213"?> 213 Greta beschreibt die von ihr erstellten Folien und was darauf zu sehen ist. Dabei nennt sie vor allem die Oberthemen, welche sie inhaltlich berücksichtigen möchte, und geht nicht näher auf ihre Rechercheergebnisse ein. Greta verweist vielmehr darauf, dass sie dies am Präsentationstermin ausführen wird. Den Begriff der Okkupanten, gegen welche die Polen gekämpft haben, erläutert sie nicht näher, auch Karla und Rina stellen hierzu keine Nachfrage. Nach dieser Situation ergreift wieder Karla das Wort (vgl. datenauszug 20) Datenauszug 20: Karla stellt Nachfragen zu Gretas Rechercheergebnissen In diesem Auszug passiert sehr viel: zum Einen stellt Karla zu Beginn des Auszugs tiefergehende Nachfragen, die signalisieren, dass sie Gretas Ausführungen zugehört hat und weitergehende Informationen haben möchte. Es wird deutlich, dass Greta diese Informationen noch nicht liefern kann, offensichtlich hat sie ihre Recherchen noch nicht beendet. Sie versucht, was sie weiß darzustellen, gerät aber dann an sprachliche Grenzen und versucht den Zustand, den sie meint, mit „Gewölbe” zu umschreiben. Karla fragt nach, was sie meint, da sie Gretas Umschreibung nicht versteht. Diese versucht es anders zu erklären („unter der Erde”), ich greife ein und gebe ihnen die Vokabel „Untergrund” per Text-Chat 116 . Karla greift meinen Beitrag gleich auf und nennt auch selbst noch einmal „Untergrund” als Bezeichnung, worauf hin Greta mit der Darstellung der Situation in Polen fortfährt, bis sie wieder an ihre sprachlichen Grenzen stößt. Karla versucht sie auch hier wieder zu unter- 116 Auf die unterschiedliche Verwendung von Voice-Chat und Text-Chat wird in Kapitel 7.1 ausführlich eingegangen. Kapitel 7.1.5 liefert Erklärungsansätze für derart strategische Verwendungen der unterschiedlichen Kommunikationskanäle. <?page no="214"?> 214 stützen, was ihr dieses Mal gelingt, so dass Greta ihre Ausführungen beenden kann. Direkt hieran knüpft wieder Karla mit einer Nachfrage an(vgl. Datenauszu 21): Datenauszug 21: Gruppe eins vergleicht die Rechercheergebnisse der einzelnen Länder Karla bezieht die Darstellungen Gretas zur Zensur in Polen, die dem Auszug voran gegangen warne, auf die Situation in Deutschland und fragt nach, ob beide Situationen miteinander vergleichbar sind. Damit geht sie einen Schritt weiter als im bisherigen Diskussionsverlauf: Während Karla und Greta bislang jeweils nur ihre Ergebnisse dargestellt haben, kommt hier erstmals ein vergleichender Aspekt in das Gespräch mit hinein. Auch Rina scheint Ähnlichkeiten zwischen der Darstellung Gretas und der DDR zu sehen, da sie diesbezüglich fast zeitgleich mit Karla eine Nachfrage stellt. Als Greta diese Parallelen nicht sieht, findet Karla mit dem Stichwort „Zensur” Argumente, die für eine ähnliche Situation in Polen und der DDR sprechen. Als Rina daraufhin nachfragt, ob es Zensur auch in Kolumbien gegeben habe, folgt wieder ein längerer Beitrag von Karla, in dem sie die Situation in Kolumbien darstellt. Ihre Darstellung wird davon unterbrochen, dass Greta wieder Prob- <?page no="215"?> 215 leme mit dem Voice-Chat zu haben scheint, da sie per Text-Chat mitteilt, dass sie ihre Partnerinnen nicht mehr hören kann. Dies führt zu einem Abbruch der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Gruppe wirkt insgesamt frustriert aufgrund der technischen Probleme. Greta fragt nach, ob es noch etwas zu besprechen gebe und fasst die organisatorischen Aspekte des Vortrages per Text-Chat zusammen. Parallel dazu meldet sich auch Rina im Text-Chat zu Wort und weist darauf hin, dass sie ihre Ergebnisse noch nicht vorgetragen hat. Während dieser Aushandlungen im Text-Chat stellt Karla mir Fragen zum Präsentationstermin und nennt eine parallel stattfindende Veranstaltung. Wir diskutieren über die Freistellung der betroffenen Teilnehmer des Projektes von einem Tutorium 117 . Währenddessen geht Greta offline und meldet sich neu an. Im Anschluss bittet Greta Rina, ihre Rechercheergebnisse darzustellen: 117 Zeitgleich zum anvisierten Präsentationstermin fand ein Tutorium des Lehrstuhls Deutsch als Fremdsprache statt, in dem ausländische Studierende an die Konventionen wissenschaftlichen Arbeitens in Deutschlands herangeführt werden. <?page no="216"?> 216 Datenauszug 22: Rina stellt ihre Rechercheergebnisse vor <?page no="217"?> 217 In Auszug 22 stellt Rina die Zeit Mao Tse-Tungs in China dar. Nach Rinas Ausführung fasst Karla diese zusammen, indem sie die schon festgestellte Kategorie „Zensur“ wieder aufgreift und Rina fragt, ob es damals in China auch Zensur gegeben habe (Zeile 316). Rina bejaht dies und verdeutlicht, dass es nach dieser rund zehnjährigen Phase keine Zensur mehr in China gebe. Diesbezüglich fragt Karla noch einmal kritisch nach und will wissen, ob die Medien heute alles schreiben können, was sie wollen und ob es auch möglich sei, die Regierung zu kritisieren. Rina verneint dies, woraufhin Karla meint, dass dies dann doch Zensur sei. Rina antwortet hierauf „Jaa, aber wir nennen es nicht so” (Zeile 330) und lacht danach. Ich denke durch das Lachen wird Rinas Unsicherheit zum Umgang mit Karlas Äußerung deutlich 118 . Hier prallen die deutsche bzw. westliche Sichtweise des chinesischen Systems mit der chinesischen Perspektive aufeinander und sind nicht miteinander vereinbar. Rina steht dazwischen und wird durch Karlas Nachfragen dazu gedrängt, sich zu positionieren, was ihr sichtlich schwer fällt. Indem auch Karla nach Rinas Äußerung lacht, scheint sich die Situation zu entspannen. Karla stellt sich hier stärker als Gruppenführer heraus: Sie hinterfragt die Aussagen der Partnerin und macht deutlich, dass es sich auch bei der heutigen chinesischen Kommunikationspolitik aus ihrer Perspektive noch um Zensur handelt, Indem sie aber deutlich macht, dass sie ihre Perspektive darstellt. Durch das abschwächende „oder“, Zeile 337) eröffnet sie Rina die Möglichkeit, ihre Sichtweise darzulegen. Rina fährt fort und stimmt Karla zu, indem sie die heutigen Verhältnisse in China, insbesondere die Einparteienpolitik darstellt. Auch hier fragt Karla nach, inwieweit die Medien der Kommunistischen Partei gegenüber frei seien und Rina stellt dar, dass die Medien „[n]atürlich nicht” (Zeile 336) negativ über die Kommunistische Partei berichten dürfen. Daraufhin macht Karla wieder deutlich, dass es sich auch hierbei um Zensur handle. Rina lenkt ein und erklärt die Zensur mit den Machtinteressen der Kommunistischen Partei. Karla wechselt nun das Thema und fragt nach Propagandamitteln. Nachdem Rina die Bedeutung von Mao Tse-Tungs Zitaten für das alltägliche Leben der damaligen Zeit dargestellt hat, bewertet Karla dies ebenfalls wieder als „Kontrolle der Regierung” (Zeile 351 f.) und betont, dass diese Informationen auf jeden Fall in der Präsentation erwähnt werden sollten. Das inhaltliche Gespräch findet ausschließlich zwischen Rina und Karla statt. Indem sie sich direkt danach an Greta wendet und nachfragt, ob diese 118 In der chinesischen Kultur gilt das Lachen als Strategie, um das Gesicht zu wahren. Es dient in Situationen, in denen die Harmonie im Umgang mit anderen in Gefahr ist, dazu, diese Harmonie wieder herzustellen und die kritische Situation zu entspannen (vgl. Liang 2008) <?page no="218"?> 218 das eben erfolgte Gespräch hören konnte, nimmt Karla Rina die Möglichkeit, hierauf zu reagieren. Die direkte Ansprache an Greta war notwendig, da lediglich Karla auf Rinas Ausführungen reagierte. Durch die direkte Ansprache von Karla wird auch Greta die Möglichkeit gegeben, sich zu äußern. Greta bejaht zwar Karlas Nachfrage, ob sie Rinas Ausführungen gehört habe, sie äußert sich darüber hinaus allerdings nicht. Nach einer kurzen Pause kommt Rina wieder zur Organisation des Vortrags zurück und fragt, wie das konkrete Erstellen der Power Point- Präsentation erfolgen soll. Karla bietet sich an, dass sie alle Teile in eine Präsentation zusammenfasst und weist darauf hin, dass sie gemeinsam noch besprechen müssen, welche Informationen zur DDR sie in der Präsentation berücksichtigen wollen. Auch Rina fragt nach, wie sie die DDR in die Präsentation einbinden wollen. Karla schlägt vor, dass sie zuerst die Situation in der DDR darstellen und dann ihre Länder danach vergleichend darstellen, was die anderen beiden akzeptieren (vgl Datenauszug 23). Datenauszug 23: Karla organisiert den Aufbau der Präsentation und fühlt sich als Lehrerin Danach fragt Karla, ob es noch Fragen gebe und wendet sich zu mir, als sie lachend feststellt: „Ich fühle mich wie eine Lehrerin” (Zeile 394). Dieses Zitat ist spannend, denn darin zeigt Karla, dass sie sich der impliziten Rollenverteilung, die sich in der Gruppe manifestiert hat, bewusst ist. Sie erkennt, dass sie es immer ist, die Nachfragen stellt und das Gespräch er Gruppe moderiert. Damit ist auch Karla sich ihrer Rolle innerhalb der Gruppe bewusst, scheint diese aber wohlwollend auszufüllen. <?page no="219"?> 219 Im Anschluss folgen Absprachen zum zeitlichen Vorgehen. Greta weist darauf hin, dass sie eine Woche lang in Deutschland sei und fragt Karla, wann sie die Präsentation fertig stellen möchte. Nachdem Termine vereinbart wurden, fasst Greta noch einmal den Aufbau der Präsentation zusammen und fragt nach, welche Informationen sie über die DDR mitteilen können. Karla berichtet daraufhin von einem Artikel, den sie gelesen hat, und in dem dargestellt werde, dass die Journalisten in der DDR schon in ihrer Ausbildung politisch beeinflusst wurden um später so zu schreiben, dass sie das System der DDR unterstützten. Ihre Partnerinnen reagieren hierauf nicht, so dass Karla zuerst verunsichert ist, ob sie zu hören war. Nachdem sich noch einige Pausen und Nachfragen, ob jemand noch etwas sagen wolle, abwechseln, biete ich den Gruppenmitgliedern per Text-Chat an, dass sie die Sitzung beenden können, wenn alles besprochen ist und weise darauf hin, dass dies ihr letztes Treffen in Second Life war. Rina fragt noch einmal, wie viel Zeit jeder von ihnen hat, woraufhin Karla nochmal darauf hinweist, dass sich jeder kurz halten muss und nur das Wichtigste sagen kann. Die Gruppe verbleibt mit der Aussicht darauf, dass sie sich bei Problemen erneut treffen können und Greta schreibt, dass sie sich ja auch privat noch einmal verabreden können. Daraufhin verabschieden sich alle voneinander und beenden das Treffen. Bei diesem Treffen wird deutlich, dass durch die gezielten Nachfragen Karlas sowie den Vergleich der einzelnen Länder untereinander eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema erreicht werden konnte. Obwohl immer wieder technische Probleme auftreten, schafft es die Gruppe, immer wieder neu in eine Diskussion einzutauchen. Hierbei muss betont werden, dass die Diskussion vor allem jeweils zwischen Karla und Greta bzw. Karla und Rina verläuft, als diese ihre Teile präsentieren. Zu Karlas Darstellungen erfolgen keine Rückfragen der anderen beiden, so dass zu Karlas Bericht zunächst keine Auseinandersetzung stattfindet. Damit wird die Rolle Karlas innerhalb der Gruppe deutlich: Sie ist nicht nur organisatorisch die Moderatorin, die Redeanteile verteilt und sicherstellt, dass alle Gruppenmitglieder in das Gespräch einbezogen sind, sie stellt auch inhaltliche Nachfragen und nimmt kritisch Bezug auf die inhaltlichen Ausführungen ihrer Partnerinnen. Dies wird besonders deutlich, als sie Rina widerspricht und das Mediensystem in China als nicht frei bezeichnet. Indem Karla ihre Partnerinnen immer wieder direkt zu deren Ausführungen befragt, werden diese zu einer ausführlichen Darstellung der Rechercheergebnisse gebracht. Karla tritt als Führungsfigur innerhalb der Gruppe auf, wobei ihr Verhalten stets dem eines demokratischen Führers entspricht (vgl. 6.3). Sie fragt nach und ermuntert ihre Partnerinnen, ihre Perspektiven darzulegen, widerspricht aber auch deutlich, wenn sie eine Auffassung nicht teilt. Dabei bleibt sie aber offen für die Ansichten <?page no="220"?> 220 der Partnerinnen. Karla äußert aber auch Lob und entspannt die Gruppenatmosphäre durch humorvolle Einwürfe oder lachend formulierte Äußerungen. Durch dieses Verhalten bleibt die Stimmung innerhalb der Gruppe positiv, so dass unterschiedliche Ansichten sich nicht negativ auf die Gruppenatmosphäre auszuwirken scheinen (vgl. 6.2). 6.4.1.5. Zusammenfassende Betrachtung von Gruppe 1 Diese Gruppe zeichnet sich durch einen sehr wertschätzenden Umgang miteinander aus. Alle Gruppenmitglieder werden immer wieder in das Gespräch mit einbezogen und geben - wenn auch kurz - Gesprächsbeiträge ab. Erfolgt dies über einen längeren Zeitraum nicht, vergewissern sich die anderen Gruppenmitglieder, dass die jeweilige Partnerin das Gespräch verfolgen konnte. Das Verantwortungsbewusstsein füreinander, das stabil verbundene Gruppen auszeichnet, wird hieran deutlich (vgl. 7.1). Diesbezüglich ist insbesondere Karla hervorzuheben, die seit dem ersten Treffen eine moderierende Rolle innehat. Zunächst nimmt Karla diese Rolle eher im organisatorischen Bereich wahr: Sie verteilt Rederechte und achtet darauf, dass die einzelnen Gruppenmitglieder sich an der Kommunikation beteiligen. Im letzten Treffen fragt Karla aber auch inhaltlich kritisch nach und widerspricht ihren Partnerinnen, in diesem Fall Rina, bei der Darstellung. Durch Karlas Widerspruch kommt es zu Diskussionen, die für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema äußerst fruchtbar sind. Es ist festzuhalten, dass die Gruppe im ersten und im letzten Treffen wesentlich mehr miteinander kommuniziert als bei den Treffen zwei und drei. Diese Unterteilung entspricht auch der unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtung der Treffen: Während im ersten und letzten Treffen die virtuelle Welt vor allem als Kommunikationsmedium genutzt wird, in dem während des Treffens Themen und Inhalte diskutiert wurden, welche die Teilnehmer bereits kannten bzw. sich im Vorfeld in anderen Medien erarbeitet hatten, sind die Treffen zwei und drei dadurch gekennzeichnet, dass zunächst die Umgebung wahrgenommen und die Inhalte rezipiert und verarbeitet werden müssen, um sie dann direkt mit den Partnerinnen zu diskutieren. Die virtuelle Welt ist während der Treffen in der zweiten und dritten Woche also sowohl Kommunikations-, als auch Informationsmedium. Diese doppelte Funktion der virtuellen Welt führt auch zu doppelten Anforderung an der Teilnehmerinnen: Sie müssen sich durch die virtuelle Welt bewegen, die Informationen, die ihnen auf vielfältige Weise präsentiert werden, wahrnehmen und aufnehmen (was teilweise erfordert, längere Textabschnitte in der Fremdsprache Deutsch zu lesen oder deutsche Videos zu verstehen), um sie dann in einem nächsten Schritt miteinander zu diskutieren. <?page no="221"?> 221 Solche Diskussionen oder Aushandlungen der Inhalte finden in den beiden Treffen nicht statt. Die Teilnehmerinnen reden in diesen Treffen kaum miteinander und wenn, bezogen sich ihre Äußerungen eher auf die Kommentierung der Umgebung, nicht auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit ihr. Dem gegenüber stehen die Treffen eins und vier, die lange Gesprächsabschnitte aufweisen, in denen die Wortbeiträge der Teilnehmerinnen ein Thema fokussieren und in denen es, wie unter den Teilnehmerinnen zu vergleichenden und wertenden Diskussionen mit kontroversen Ansichten kommt. In Kapitel 7.2. werden die jeweiligen Aufgabenstellungen der einzelnen Wochen und die hieraus resultierenden Situationen für die Lernenden mitsamt der Verteilung ihrer Redeanteile eingehender untersucht. Das Gespräch zwischen Karla und Rina bezüglich der Zensur in China ist ein seltenes Beispiel dafür, dass unterschiedliche Ansichten in einer Gruppendiskussion aneinanderstießen und auch verteidigt wurden. Diese Szene wird in Kapitel 8 wieder aufgegriffen und hinsichtlich des landeskundlichen und interkulturellen Lernens diskutiert werden. <?page no="222"?> 222 6.4.2. Gruppe 2: Hanna, Nadine und Mara Parallel zu Gruppe 1 soll nun eine weitere Gruppe chronologisch dargestellt und analysiert werden. Gruppe besteht aus zwei deutschen Studentinnen (Hanna und Nadine, beide 23 Jahre), die Deutsch als Fremdsprache im Nebenfach studieren. Ihre Projektpartnerin Mara ist 21 Jahre alt. Hanna beschreibt im Vorab-Fragebogen, dass sie eher wenig Computererfahrung hat und den PC vorrangig zum Surfen im Internet benutzt. Sie hat keine Erfahrungen mit Second Life und gibt an, dass sie sich sehr stark für Geschichte interessiert und dass Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern häufig in familiären Gesprächen thematisiert werden. In der Schule hat Hanna hingegen nur wenig über die Teilung Deutschlands und die DDR erfahren. Sie assoziiert mit der DDR Unfreiheit und Unterdrückung. Nadine ist erfahrener in der Nutzung des Computers als Hanna, hat aber ebenfalls keine Erfahrungen mit Second Life. Sie interessiert sich stark für geschichtliche Themen und findet, dass sie auch in der Schule viel zur Deutschen Teilung und der DDR erfahren hat. Auch Nadine assoziiert vor allem die Unfreiheit der Menschen mit der DDR, wenn sie die Mauer und die Stasi nennt. Dennoch hebt sie hervor: Man muss ja nicht davon ausgehen, dass alles schlecht gewesen ist. Allerdings denke ich, nicht in der ehemaligen DDR gelebt zu haben war von Vorteil Nicht umsonst sind viele Menschen in den Westen geflüchtet. (Vorab-Fragebogen Nadine) Die beiden Muttersprachlerinnen waren schon vor dem Projekt eng befreundet. Die Wahl ihrer Avatarnamen als „Hanni” und „Nanni” deutet die enge Freundschaft zwischen beiden Studentinnen an. Beide kamen auch immer zusammen in mein Büro, in dem die Daten aufgezeichnet wurden, obwohl dies nur für einen Studierenden auf Gießener Seite verpflichtend war (vgl. Kapitel 5.3.3.2.). Diese Gruppe weist damit die Besonderheit auf, dass neben den Gesprächen in Second Life sehr viel direkt zwischen beiden Gießener Studentinnen gesprochen wurde. Mara ist wie alle polnischen Partner Studentin des Fremdsprachenkollegs Breslau. Mara gibt an, dass sie täglich rund 90 Minuten am Computer sitzt, 30 Minuten davon verbringt sie im Internet. Mara bezeichnet sich als erfahren in der Erstellung von Texten und Tabellen, mit Second Life hat sie noch keine Erfahrung. Mara interessiert sich laut des Vorab-Fragebogens gar nicht für Geschichte, außer, wenn diese sie selbst betrifft. Dennoch findet sie es wichtig, dass sie die Geschichte des Landes kennt, dessen Sprache sie lernt. Im Unterricht hat sie bisher „ein wenig“ über die Teilung Deutschlands erfahren, spezielle Informationen über die DDR hat sie jedoch nicht erhalten. Sie assoziiert <?page no="223"?> 223 mit der DDR „große Ungerechtigkeit“ und „Sozialismus“ (Vorab-Fragebogen Mara). Mara war bisher noch nie in Deutschland. 6.4.2.1. Das erste Treffen von Gruppe 2 Der erste Chat beginnt damit, dass Nadines Avatar beim Eintreffen von Mara noch nicht am verabredeten Ort ist, da sie Probleme hat, sich in Second Life anzumelden. Hanna erwartet Mara bereits. Doch statt die Partnerin direkt zu begrüßen, lässt sich Hanna von mir noch einmal die Bedienung des Voice- Chats erklären. Nachdem Mara das Gespräch initiiert hat, reagiert auch Hanna im Text-Chat (vgl. Datenauszug 24): Datenauszug 24 : Einstellen des Voice-Chats und Verlust von Nadines Haaren im ersten Treffen von Gruppe 2 Da Mara den Kontakt zunächst per Text-Chat sucht, sie sich aber mit der Bedienung des Voice-Chats auseinandergesetzt hat, ist Hanna zu Beginn verunsichert, welchen Kommunikationskanal sie benutzen soll. Durch die Nebengespräche im Raum erfolgt die Antwort an Mara ein wenig verzögert, erst nach rund 20 Sekunden erhält sie auf ihr kurzes „Hallo” eine Reaktion. Fast zeitgleich folgen dann die nächsten beiden Beiträge. Während Mara die Funk- <?page no="224"?> 224 tion ihres Voice-Chats überprüfen möchte, erklärt Hanna ihre zögerliche Antwort, indem sie auf technische Probleme verweist. Während sich Hanna und Nadine in meinem Büro über die fehlenden Haare von Nadines Avatar unterhalten, werden Nadines Probleme beim Einwählen im Anschluss an den gezeigten Datenausschnitt durch Hanna per Text-Chat an Mara weiter gegeben, so dass die Partnerin auch Informationen zur aktuellen Situation erhält. Obwohl sie noch nicht am verabredeten Treffpunkt ist, steht für Nadine vor allem der Verlust der Haare ihres Avatars im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Diese Beschäftigung mit dem Äußeren des Avatars - sowohl als gedankliche Priorität, aber auch unmittelbar während der Gruppentreffen - tritt auch bei anderen Teilnehmern des Projektes immer wieder auf (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 7.3). Nadine scheint sich mit dem Avatar sehr stark zu identifizieren, da sie ihn als „ich” bezeichnet. Im Anschluss an den Datenauszug wird von den Studentinnen in Gießen noch einmal die Wahl des Mediums für das heutige Treffen thematisiert, indem sie mich fragen, welches Medium sie benutzen sollen. Ich überlasse ihnen die Wahl, wenn auch die Ausdrucksweise und die Benutzung des Wortes „Angst” (vgl. Datenauszug 24) den Text-Chat durch mich evtl. herabwürdigt. Nachdem Nadines Avatar am Treffpunkt angekommen ist, kann das Treffen beginnen. <?page no="225"?> 225 Datenauszug 25: Gruppe 2 diskutiert die Verwendung von Voice-Chat und Text- Chat Im Datenauszug 25 wird die Bedienung des Chats Gegenstand der Aufmerksamkeit aller Teilnehmer. Während Nadine sich nun mit der Bedienung des Text-Chats auseinandersetzt, möchte Mara sich über die technische Ausstattung der Partnerinnen in Gießen informieren. Parallel dazu wirft Nadine die Frage auf, ob Hanna „groß schreibt” (Zeile 43). Damit nimmt sie auf die Konvention in Chats Bezug, klein zu schreiben, um schneller tippen zu können 119 . Hanna und Nadine sind also erfahren, was das Chatten betrifft. Nadines Argument, diese Konvention nicht zu übernehmen, ist die besondere Situation, in der der Chat stattfindet. Sie beschreibt den Chat mit „es geht ja um Sprache“ (ebd.). Diese Fokussierung auf Sprache ist nie genannt worden, das Projekt wurde immer als Austausch über die deutsche Vergangenheit thematisiert. Aber die Anwesenheit einer Deutschlernerin und die Kontextualisierung des Projektes im Fach Deutsch als Fremdsprache führen offensichtlich dazu, dass beide ein erhöhtes Bewusstsein für die Korrektheit der von ihnen verwendeten Sprache entwickeln, so dass sie sich dafür entscheiden, „auf groß und Kleinschreibung [zu] achten” (Zeile 52). Nachdem die Verwendung des Text-Chats ausgehandelt wurde, kommen die Gießener Partnerinnen im direkten Gespräch wieder auf die technische 119 Vergleiche zu den Chatkonventionen und ihrer Umsetzung auch Kapitel 7.1. <?page no="226"?> 226 Ausstattung ihrer Partnerin zurück. Hanna schlägt vor, den Text-Chat zu benutzen, da sie annimmt, dass Mara kein Headset hat. Mara stimmt ihr zu, fragt aber noch einmal, ob sie nicht reden wollen. Daraufhin ist die Gruppe in Gießen verwirrt. Das Missverständnis bezüglich des Headsets ist damit aufzuklären, dass Hanna den Beitrag von Nadine zu den Haaren ihres Avatars („ich weiß nicht wo sie hin sind letztes mal hatte ich noch welche ; -)”, Zeile 46) als Äußerung Maras zugeordnet hat und auf deren Headset bezog. Dieses Missverständnis klärt sich auf, indem Hanna sagt, dass sie davon ausging, dass Mara kein Headset hat, diese aber explizit sagt, dass sie eins hat. Daraufhin erklärt sich Hanna damit einverstanden, den Voice-Chat zu verwenden: „Also wenn Nadine gleich bereit ist können wir es versuchen ; )” (Zeile 86f.). Zu diesem Gesprächsausschnitt sei angemerkt, dass die Konzentration auf technische Aspekte auch in anderen Gruppen weite Teile der Treffen bestimmte. In allen Gruppen wurden zu Beginn beinahe jeder Sitzung rund 2 Minuten auf die Aushandlung des Kommunikationskanals verwendet. Fiel die Wahl auf den Voice-Chat, nahm dessen Inbetriebnahme noch einmal im Mittel 4 Minuten in Anspruch. Auch im weiteren Verlauf der Treffen konnte die Technik erneut Thema werden, wenn die Verbindung sich verschlechterte oder in der Umgebung neue Ressourcen, beispielsweise Videos, abrufbar waren, deren Rezeption erneut technische Anforderungen an die Nutzer stellten. Betrachtet man alle Treffen, die innerhalb des Projektes stattfanden, entfielen 10,94% der Gesamtzeit auf die Behandlung technischer Probleme. In Gruppe 2 wendet sich Nadine zunächst ihrem Avatar zu: Da sie die Haare der Figur aus versehen entfernt hatte, möchte sie ihr erst wieder eine Frisur geben, bevor das Treffen weitergehen kann. Die Zeit, die Nadine darauf verwendet, nutzt Hanna zum Gespräch mit Mara, indem sie diese im Text-Chat zu ihrem Befinden befragt und damit eine traditionelle Gesprächseröffnung einleitet. Diese wird aber sofort wieder abgebrochen, da der Avatar von Nadine nun wieder Haare besitzt, was Hanna als neues Thema in den Chat einbringt. Nadine gelingt eine Rückführung zum alten Thema (der Frage nach dem Befinden), indem sie dieses mit den Avataren zusammenbringt. : <?page no="227"?> 227 Datenauszug 26: Nadines Avatar hat wieder Haare bekommen Auch nachdem dieses ‚Problem’ behoben wurde, ist es noch immer Thema der Zwiegespräche zwischen Hanna und Nadine, die erst wieder durch einen Impuls von Mara, die im Text-Chat fragt, ob das Treffen der Gruppe nun anfängt, auf das eigentliche Thema gelenkt wird. Hanna und Nadine reagieren auf Maras Nachfrage beide per Text-Chat mit einem „ok” (Zeile 109 und 111, Datenauszug 27), im weiteren Gesprächsverlauf wird aber deutlich, dass Nadine und Hanna das weitere Vorgehen in keiner Weise klar ist: Datenauszug 27: Unsicherheiten in Gruppe 2, wie das Gespräch begonnen werden soll <?page no="228"?> 228 Hanna und Nadine wissen nicht, wie genau sie jetzt „anfangen” sollen, was beide im Zwiegespräch explizit sagen. Im Chat signalisieren sie dies nicht. Indem ich auf Hannas Frage reagiere und andeute, dass Mara womöglich ihr Headset einstellen möchte, gebe ich ihnen eine Idee, wie das weitere Vorgehen gestaltet werden könnte. Hanna und Nadine bleiben passiv, mit ihrer Rückfrage an mich, was Maras grade tut, wird Hannas Unsicherheit deutlich. Nachdem Mara einen Test der Mikrofone initiiert hat, folgt auch Hanna ihrem Beispiel, ist im Umgang mit der Technik sehr unsicher und wendet sich diesbezüglich erneut an mich. Indem sie diese Probleme im Anschluss im Voice-Chat artikuliert, kann sich Mara die längeren Pausen erklären. Mara zeigt für Hannas und Nadines Probleme Verständnis. Sie erzeugt eine gemeinschaftliche Situation, indem sie ebenfalls angibt, dass die Bedienung des Programmes „schwer” sei. Mara drückt hierdurch Verständnis für Hanna und Nadine aus. Indem alle drei Gruppenmitglieder die Bedienung der Avatare als kompliziert empfinden, teilen sie eine Empfindung zur Umgebung. Dies stärkt die Phase der Gruppenbildung, indem eine Gemeinsamkeit betont wird (vgl. Kapitel 6.2). Es folgen weitere 7 Minuten, in denen die Teilnehmerinnen mit den Einstellungen den Voice-Chats kämpfen. Nachdem dies gelingt, fragt Mara Hanna und Nadine nach deren Intentionen zur Teilnahme am Projekt. Während Nadine pragmatisch argumentiert, dass sie eines von zwei Projekten auswählen und durchführen mussten, zeigt Mara ihre individuelle Motivation auf: <?page no="229"?> 229 Datenauszug 28: Mara erfragt Hannas und Nadines Motivation und erfährt von der Freundschaft der Partnerinnen. Es wird deutlich, dass Mara eine hohe intrinsische Motivation hat, an diesem Projekt teilzunehmen: Sie möchte die Möglichkeit nutzen, um ihre mündliche Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. Hieraus lässt sich ihre Geduld erklären, mit der sie das Einstellen des Voice-Chats abgewartet hat: Mara möchte sprechen, nicht tippen, und nimmt daher auch erste Probleme in Kauf. Mara übernimmt weiterhin die Moderationsrolle, indem sie Nadine und Hanna die Frage stellt, ob sich beide schon vor dem Projekt kannten. Hanna und Nadine bejahen dies und berichten von ihrem gemeinsamen Heimatort, geben dann aber keinen Impuls in Form einer Frage oder weiteren Details zu ihrer Freundschaft zurück, so dass es zu einer Pause kommt. In einer kurzen, erneut von Mara initiierten Gesprächssequenz von ca. zwei Minuten thematisiert die Gruppe, dass es Probleme beim Verschicken der Vorstellungs-E- Mails gegeben hat, die auf Namensgleichheit zweier polnischer Studentinnen zurückzuführen waren. Auch hieran schließt sich wieder eine Pause an. Im Zwiegespräch tauschen sich Nadine und Hanna darüber aus, wie das Gespräch fortgeführt werden könnte, kommen aber zu keinem Ergebnis. Es ist wieder Mara, die einen neuen Impuls liefert: <?page no="230"?> 230 Datenauszug 29: Gruppe 2 thematisiert erstmals die DDR Mit ihrem Impuls kommt Mara auf das inhaltliche Thema des Projektes zu sprechen und will etwas über das Vorwissen ihrer Projektpartnerinnen zur DDR erfahren. Da Nadine und Hanna Maras Frage aber nur bejahen und nicht weiter ausführen, kommt keine tiefergehende Beschäftigung mit dem Thema „DDR” zustande. Vielmehr thematisiert die Gruppe nun den schulischen Geschichtsunterricht und stellt hier eine Gemeinsamkeit fest: alle Partnerinnen empfinden die Beschäftigung mit der Geschichte als langweilig. Dies schafft erneut ein positives Gruppenklima. Daraufhin regt Mara den Wechsel des Gesprächsthemas an, indem sie Hanna und Nadine zu ihrem Studium befragt. In diesem Zusammenhang erläutern Hanna und Nadine auch noch <?page no="231"?> 231 einmal ihre gemeinsame Vergangenheit. Hanna erzählt erstmals in einer längeren Passage, wie beide gemeinsam zum Studieren nach Gießen gegangen sind und dass sie sich heute sowohl privat als auch in der Universität täglich sehen. Es ist immer Mara, die das Gespräch voran treibt, neue Themen vorschlägt und Fragen an Hanna und Nadine stellt. Dies ist dadurch erklärbar, dass Nadine und Hanna noch immer mit der Nutzung des Voice-Chats beschäftigt sind und ihre Aufmerksamkeit hierauf richten. Auch die Gespräche, die Hanna und Nadine untereinander führen, lenken sie von der Kommunikation mit Mara ab und führen dazu, dass sie lange Pausen im Gespräch mit Mara entstehen lassen. Mara versucht diese Pause zu füllen, indem sie die Initiative ergreift. In dieser Situation kommt ein fremder, männlicher Avatar hinzu. Sofort wird dieser Gegenstand der Unterhaltungen, zuerst innerhalb meines Büros, dann auch in der virtuellen Welt, besonders da dieser Avatar die Geste „Kuss zuwerfen” ausführt 120 . In meinem Büro zeige ich Hanna und Nadine, wie sie den fremden Avatar stumm stellen können. Mara greift währenddessen das begonnene Thema wieder auf und erzählt, dass auch sie eine Freundin am Kolleg habe, mit der sie sehr eng befreundet sei und mit welcher sie alle „Termine” gleich habe. Diese Freundin sei auch an dem Projekt beteiligt, worauf Hanna und Nadine nicht reagieren. Anschließend kommt erneut das Thema ‚Studium’ auf, indem Hanna Mara fragt, wie lange diese noch studiere. Mara erklärt, dass sie noch ein Jahr studieren muss, woraufhin eine Diskussion um Universitätsabschlüsse beginnt (vgl. Datenauszug 30). 120 Derartige ‚Störungen’ durch andere Avatare treten im gesamten Untersuchungszeitraum sieben Mal auf. Sie entsprechen Situationen der Kommunikation in realen Lerngruppen, wenn sich diese außerhalb des Klassenraumes befinden. Im Unterschied zu diesen Situationen werden virtuelle Welten aber von vielen Nutzern als Freizeitangebot genutzt. Die Anonymität der Nutzer wird von vielen zudem genutzt, um mit anderen Avataren zu flirten und den Avatar deutlich anders auftreten zu lassen, als sie selbst im Alltag agieren (vgl. hierzu auch Kapitel 4.3.2). <?page no="232"?> 232 Datenauszug 30: Mara berichtet über ihr Studium In dem Gesprächsauszug in Datenauszug 30 werden die unterschiedlichen Studiensysteme in Polen und Deutschland deutlich. Hanna überträgt zunächst ihr eigenes System auf Maras Situation, indem sie davon ausgeht, dass diese einen Bachelor-Studiengang absolviert. Mara kann mit dem Begriff ‚Bachelor’ nichts anfangen, über ihre Ausführungen, dass sie Lehrerin werden will und dass dies ein eigener Abschluss ist, erklärt sie aber das System. Hanna erklärt im Anschluss: „Ok, das gibt es bei uns in dem Falle nicht so” (Zeile 410), was faktisch falsch ist 121 . Die Gruppe geht auf den begonnenen Vergleich der Systeme aber nicht weiter ein, da Mara weiter von ihrem Studium erzählt (vgl. Datenauszug 31). 121 An der Justus-Liebig-Universität Gießen koexistieren zum Untersuchungszeitpunkt Lehramtsstudiengänge, die mit einem Staatsexamen abgeschlossen werden, und BA/ MA-Studiengänge. <?page no="233"?> 233 Datenauszug 31: Mara erklärt das schulische Fremdsprachenlernen in Polen Durch Maras Ausführungen erfahren ihre Partnerinnen, dass sie einen sehr vollen Tagesplan zu absolvieren hat. Dies ist wichtig, da Nadine und Hanna auf diese Weise Hintergrundinformationen erhalten, die sich auf Maras Zeitbudget für das gemeinsame Projekt beziehen. Wenn Mara in asynchroner Kommunikation beispielsweise nicht sofort antwortet, können Nadine und Hanna dies zukünftig mit Maras zeitintensivem Studium erklären. Mara erzählt viele Details und erläutert auch ihre Beweggründe für das Studium, wodurch eine höhere Vertrautheit der Partnerinnen mit Mara erreicht wird. Auffällig ist, dass die Gespräche meist zwischen Mara und einer ihrer Partnerinnen abläuft. Selten sind alle drei am Gespräch beteiligt. Aufgrund der Stu- <?page no="234"?> 234 dienwahl Maras fragt Nadine diese, ob sie schon häufig in Deutschland war. Mara verneint dies und führt aus, dass bald ja eine Kursfahrt nach Deutschland stattfindet. Mara berichtet, dass die Gruppe nach [Stadt in Norddeutschland 1] fahren wird und wie ihr Programm dort aussieht. Im Anschluss vergleichen die Gruppenmitglieder die Termine ihrer Weihnachtsferien, dann fragt Mara die Partnerinnen, ob diese schon einmal in Polen waren. Hanna verneint dies, aber es stellt sich heraus, dass Nadines Familie väterlicherseits aus Polen stammt, was zu einem längeren Gespräch zwischen Nadine und Mara führt: <?page no="235"?> 235 Datenauszug 32: Nadine und Mara unterhalten sich über die Schneekoppe Betrachtet man den Gesprächsausschnitt in Datenauszug 32, so fällt zunächst auf, dass Mara sehr intensiv auf die Aussagen von Nadine eingeht. Diese hält sich zu Beginn noch mit Informationen zurück, worauf hin Mara einzelne Begriffe aufgreift und detaillierter nachfragt. Aufgrund dessen kommt bald ein lebhaftes Gespräch zwischen Nadine und Mara zustande, welches seinen Höhepunkt in einem geteilten Erlebnis findet: Beide sind auf der Schneekoppe gewandert und tauschen sich lebhaft und emotional über dieses Erlebnis aus. Beide haben die gleichen Empfindungen diesbezüglich, indem sie den Berg als steil und gefährlich beschreiben, so dass hierdurch Gemeinsamkeit und damit Verbundenheit entsteht. Damit teilen sie nicht nur das Wissen über einen Teil Polens, sondern auch gemeinsame Erfahrungen. Hanna bleibt in diesem Passus sehr stark im Hintergrund. Im Gruppengespräch tritt sie nach ihrer Aussage, noch nie in Polen gewesen zu sein, gar nicht mehr in Erscheinung. Nadine bezieht sie durch Erklärungen im direkten Gespräch aber immer wieder in die Thematik mit ein. Am Ende des Themas übergibt Nadine Hanna den Auftrag, auf Maras Frage zu antworten, wodurch diese wieder in das Gespräch einbezogen wird.Hanna beginnt nun allgemein von ihrem Leben zu erzählen und erwähnt ihre Tiere. Auch hierbei ist das Gespräch geprägt von interessierten Rückfragen durch Mara: <?page no="236"?> 236 Datenauszug 33: Hanna berichtet von ihren Tieren Als Hanna ihren Bericht beendet, knüpft Mara erneut durch interessiertes Nachfragen an das Thema an und fragt nach weiteren Tieren. Sie wendet sich damit auch an Nadine, welche von ihren Hunden und Wellensittichen berichtet. Schließlich berichtet auch Mara, dass sie drei Hunde habe, so dass auch hier wieder Gemeinsamkeiten zwischen den drei Partnerinnen erkennbar werden, welche die Gruppenbindung stärken (vgl. 6.2). Unvermittelt in das Gespräch über ihre Haustiere hinein stellt Mara die Frage, ob nächste Woche wieder ein Treffen stattfindet und gibt an, dass sie nicht weiß, was dann die Aufgabe der Gruppe sei. Hierdurch wird das Gespräch inhaltlich wieder auf eine organisatorische Ebene gelenkt, die Hanna und Nadine bereitwillig aufgreifen. Hanna beruhigt Mara, dass die Aufgabe bestimmt noch bekannt gegeben wird. Als ich dies im direkten Gespräch bejahe, gibt Nadine dies im Chat weiter. Mara stellt daraufhin die Frage nach der Gruppengröße in Gießen, kommt danach aber schnell wieder zum nächsten Termin zurück und lässt sich von Nadine noch einmal die Zeit bestätigen. Danach möchte sie wissen, wo sich die Gruppe trifft. Hanna wendet sich mit dieser Frage an mich und gibt meine Antwort an Mara weiter: Datenauszug 34: Hanna gibt Informationen, die sie bei dir direkt erfragt hat, an Mara weiter <?page no="237"?> 237 Im Anschluss formuliert Mara, dass sie sich auf das Treffen nächste Woche freue, so dass hier noch einmal eine positive Gruppenstimmung betont wird. Hanna greift Maras Formulierung auf und gibt zurück, dass sie sich auch freue und die Treffen auch interessant findet (vgl. Datenauszug 35). Die drei Gruppenmitglieder verabschieden sich voneinander und beenden damit das Treffen. Datenauszug 35: Mara leitet die Verabschiedungssequenz ein und befördert die Gruppenstimmung In der Zusammenfassung fällt auf, dass das erste Treffen dieser Gruppe von einer langen Phase zu Beginn des Treffens geprägt ist, in der alle große Probleme mit der Bedienung des Voice-Chats haben. Dennoch wechseln sie aufgrund von Maras hoher Motivation, Deutsch zu sprechen, den Kommunikationskanal nicht dauerhaft. In der Kommunikation tut sich zu Beginn Mara als Impulsgeberin hervor, die immer wieder Fragen an ihre Partnerinnen richtet. Dies ist in den Problemen Hannas und Nadines im Umgang mit dem Voice-Chat begründet. Dabei ist Mara eher Moderatorin als Gruppenleiterin. Sie trifft keine Entscheidungen oder spricht ihre Partnerinnen direkt an, sondern stellt nur interessiert Nachfragen. Es werden viele persönliche Informationen zwischen den Partnerinnen ausgetauscht, was die Herausbildung eines Gemeinschaftsgefühls unterstützt. Indem deutlich wird, dass Nadines Familie aus Polen stammt und sie und Mara Erlebnisse bezüglich der Schneekoppe teilen (die gefährliche Skiabfahrt sowie lange, anstrengende Wanderungen), verstärkt sich dieses Gemeinschaftsgefühl noch einmal. Die Phase der Gruppenbildung (vgl. Kapitel 6.2) innerhalb dieser Gruppe kann damit als gelungen bezeichnet werden, obwohl sie durch die technischen Probleme der Teilnehmerinnen erschwert wurde. Auch, wenn selten ein Gespräch zwischen allen drei Partnerinnen stattfindet, schaffen sie es dennoch, Gemeinsamkeiten zwischen allen Gruppenmitgliedern herzustellen und immer wieder alle in das Gespräch mit einzubeziehen. <?page no="238"?> 238 6.4.2.2. Das zweite Treffen von Gruppe 2 Das zweite Treffen der Gruppe beginnt damit, dass Mara noch auf Nadine und Hanna warten muss. Beide sind für den Termin in mein Büro gekommen und haben sich dabei ein wenig verspätet, so dass sie gerade ankommen, als das Treffen beginnt. In der Zwischenzeit, in der sich Hanna und Nadine in Second Life anmelden, berichte ich Mara per Text-Chat, was für diesen Termin auf dem Programm steht. Im Anschluss kommen erst Nadine und kurz darauf auch Hanna zum verabredeten Treffpunkt. Per Text-Chat begrüßt sich die Gruppe, die Stimmung scheint sehr freundschaftlich und die Freude über das Treffen aufrichtig zu sein. Daran schließt sich ein kurzer Aushandlungsprozess an, ob der Text-Chat oder der Voice-Chat benutzt werden soll. Mara möchte gern den Voice-Chat benutzen und testet als erste ihr Mikrofon. Hanna wendet sich daraufhin erneut an mich und fragt nach, ob sie noch spezielle Einstellungen vornehmen muss. Als ich dies verneine, beginnen auch Hanna und Nadine damit, den Voice-Chat auszuprobieren. Nachdem die beiden nach acht Minuten noch immer nicht alle Probleme gelöst haben, entscheidet sich die Gruppe nach einem Vorschlag von Mara dafür, bei diesen Treffen den Text-Chat zu benutzen. Ich gebe den einzelnen Gruppenteilnehmern daraufhin die Liste der möglichen Referatsthemen und erläutere noch einmal die Aufgabenstellung, nach der sie das gewählte Thema im Hinblick auf ihre Heimatländer und die DDR in der Zeit von 1949-1989 recherchieren sollen, um die Situation in den Länder anschließend zu vergleichen : <?page no="239"?> 239 Datenauszug 36: Gruppe 2 handelt das gemeinsame Referatsthema aus In der Phase der Themenwahl laufen mehrere Gesprächsstränge parallel. Während von mir im Text-Chat zum einen noch die Rahmeninformationen zum weiteren Vorgehen gegeben werden (Zeile 146-148, 152-153, 155 und 163), beginnt Mara schon damit, Themen zu nennen, die sie interessant findet (Zeile 160), ohne diese Auswahl näher zu erläutern. Auf diesen Impuls von Mara gehen Hanna und Nadine zunächst nicht ein, da Nadine den voraussichtlichen Präsentationtermin herausgreift und problematisiert, da der Termin auf Hannas Geburtstag fiele. Dieses Thema wird aber nicht weiter verfolgt. Nachdem ich hinzugefügt habe, dass das Thema <?page no="240"?> 240 ‚Kirche und Religion’ nicht mehr verfügbar ist, wird dieses Thema Gegenstand eines Gespräches zwischen Hanna und Nadine in meinem Büro, während Nadine zeitgleich im Text-Chat Maras Themenvorschlag ‚Wirtschaft’ zustimmt. Auch Nadine nennt keine Gründe für die Favorisierung dieser Themen . Hanna erklärt sich auf Nachfrage von Mara ebenfalls bereit, das Thema ‚Wirtschaft‘ zu bearbeiten, so dass die Themenfindung sehr schnell abgeschlossen werden kann 122 . Im Anschluss an die dargestellte Themenfindung erhalten die Gruppenmitglieder über eine Notecard (vgl. Kapitel 4.3.2.) von mir einen detaillierten Aufgabenzettel zu ihrem Thema, auf dem sich auch eine Linkliste für das Thema ‚Wirtschaft in der DDR befindet’. Zudem erhalten Hanna und Nadine von mir verbal die Information, dass sie im Seminar in der nächsten Sitzung an ihrem Thema arbeiten können, und per Text-Chat erfährt die Gruppe von mir, dass die Mitglieder sich nächste Woche über ihre Recherchen austauschen sollen. Nadine fragt daraufhin noch einmal im direkten Gespräch nach, wie genau die Präsentation der Ergebnisse erfolgen soll. Als ich ihr, ebenfalls verbal, erläutere, dass es ein Treffen mit allen Teilnehmern in Second Life geben soll, ist sie sehr überrascht, obwohl das komplette Vorgehen des Projektes allen Teilnehmern im Blog zugänglich war und mit den Gießener Studierenden auch mehrmals im Begleitseminar erörtert wurde. Ich kündige an, weitere Informationen diesbezüglich im Seminar zu geben, um die Zeit des Gruppentreffens nicht hierdurch zu verkürzen. Nachdem ich erneut den Impuls gebe, dass die Gruppe sich nun über das weitere Vorgehen absprechen soll, sind Hanna und Nadine erst einmal ratlos (vgl. Datenauszug 37). 122 Auffällig ist auch, dass Mara die beiden Partnerinnen zunächst verwechselt und Nadine mit „Hanni“ (dem Avatarnamen von Hanna) anspricht, sich aber dann korrigiert und Nadines Avatarnamen „Nanni” nennt. <?page no="241"?> 241 Datenauszug 37: Die Partnerinnen handeln die Verteilung der Länder aus Datenauszug 37 zeigt, dass Nadine und Hanna im direkten Gespräch überlegen, wie sie weiter vorgehen und ob sie die Themen aufteilen. Zusätzlich klären sie mit mir noch einmal den weiteren Verlauf des Projektes in Second Life ab. Unabhängig davon schlägt Mara den Partnerinnen im Text-Chat vor, dass sie Informationen zu Polen recherchiert und bittet ihre Partnerinnen um Zustimmung hierfür. Die Einteilung der Länder von Hanna und Nadine erfolgt spontan, indem Nadine sich im Text-Chat für die BRD entscheidet. Im Anschluss teile ich der Gruppe per Text-Chat mit, dass wir nun in Second Life ein Museum an der Berliner Mauer besichtigen werden und gebe den Mitgliedern die entsprechenden Landmark. Alle teleportieren sich zum neuen Ort, laufen zunächst ein wenig herum und sammeln sich schnell um meinen Avatar. Ich gebe ihnen eine kurze Einführung in den Ort und nenne die Aufgabenstellung (vgl. Datenauszug 38). <?page no="242"?> 242 Datenauszug 38: Gruppe 2 betritt die Mauerausstellung Im in Datenauszug 38 dargestellten Transkriptionsausschnitt zeigt sich, dass das Betreten der Ausstellung durch mich sowohl im direkten Gespräch wie auch im Text-Chat unterstützt wird. Nadine und Hanna laufen zunächst in die falsche Richtung, was ich im Text-Chat, aber zeitgleich auch verbal anspreche und ihnen die richtige Richtung weise. Vermutlich, da ich auch das direkte Gespräch gesucht habe, formuliert Hanna Rückfragen bezüglich der Aufgabenstellung, ebenfalls verbal. Um ein Auseinanderdriften der Kommunikationskanäle zu vermeiden, verweise ich mit „ja warte“ (Zeile 316) auf den Text-Chat, in dem ich weitere Hinweise gebe. Nachdem die Gruppe die Ausstellung betreten hat, lenkt Hanna ihren Avatar weiter in die Ausstellung hinein, Nadine und Mara bleiben am ersten Plakat stehen. Nach einer kurzen Pause wendet sich Hanna wieder direkt an mich: <?page no="243"?> 243 Datenauszug 39: Hanna stellt Rückfragen zu den gelesenen Informationen an mich Hanna möchte wissen, wie es sich mit der eingeschränkten Reisefreiheit zwischen BRD und DDR verhalten hat. Sie formuliert die Hypothese, dass Westberliner nach Ostberlin reisen konnten, umgekehrt eine Reise von Ostberlinern nach Westen aber nicht möglich war. Ich weise darauf hin, dass zunächst noch beide Seiten in das jeweils andere Land reisen konnten, was Hanna bejaht und mit dem Bau der Mauer in Beziehung setzt. Hanna formuliert also ihr Vorwissen, um dieses bestätigt zu bekommen. Es ist bemerkenswert, dass sie die Frage im direkten Gespräch an mich richtet und nicht innerhalb ihrer Gruppe in der virtuellen Welt thematisiert, wie es die Aufgabestellung vorgegeben hat, Auch im weiteren Verlauf finden sich bei der Beschäftigung mit den Abbildungen und Texten auf den Informationstafeln keine inhaltlichen Gespräche innerhalb der Gruppe. Vielmehr stehen alle drei vereinzelt und mit großem Abstand zueinander vor den Plakaten und studieren diese individuell. In einer solchen Situation erfolgt eine lange Phase der Stille: in Second Life findet über 9 Minuten keine Kommunikation statt. Die Avatare stehen einzeln vor Plakaten und laufen individuell zu neuen Ausstellungsstücken. Ich gehe mit meinem Avatar von einem Teilnehmer zum nächsten, woraufhin Mara mir folgt. Dies alles erfolgt nonverbal. Lediglich in meinem Büro entsteht ein kurzes Gespräch darüber, dass in der Ausstellung Hintergrundgeräusche (Musik und Vogelzwitschern) zu hören sind und dass diese Musik auf Hanna traurig wirkt. Ich helfe Nadine noch mit den Einstellungen an ihrem PC, da sie den Ton zunächst nicht hören kann. Inhaltlich erfolgt in dieser Phase kein Austausch. Erst am Ende der Ausstellung sammelt sich die Gruppe: <?page no="244"?> 244 Datenauszug 40: Fehlende Auseinandersetzung mit der Ausstellung am Ende der Besichtigung von Gruppe 2 Wie der Ausschnitt zeigt, findet auch am Ende des Rundganges keine Auseinandersetzung mit den Inhalten der Ausstellung statt, wie in der Aufgabenstellung gefordert. Auch meine Impulse (Zeile 376 und 380) werden nur sehr kurz beantwortet und führen nicht zu einem Gespräch innerhalb der Gruppe. Damit verhält sich die Gruppe wie Gruppe 1, die ebenfalls keine Gespräch über die Ausstellung führt. Das Verhalten aller Gruppen bei diesem Treffen wird unter 7.2.2 diskutiert, wo die Aufgabenstellungen und die von den Gruppen erfolgten Reaktion analysiert werden. Nach dem fast einminütigen Schweigen im Anschluss an den in Datenauszug 40 gezeigten Auszug, in Minute 45 des Treffens, wechseln wir zum Brandenburger Tor. Ich gebe aufgrund der fortgeschrittenen Zeit einen Überblick, welche Ausstellungsstücke es in dieser Umgebung gibt und weise besonders auf die Aufzeichnung Tagesschaufolge zum Mauerfall hin, die auf einer Leinwand gezeigt wird. Leider kann Mara dieses Video aufgrund einer zu langsamen Internetverbindung nicht sehen. Um ihnen eine Alternative anzubieten, zeige ich der Gruppe den simulierten Todesstreifen, der sich mittels Zeitmaschine in eine moderne Straßenszene verwandelt, die Ähnlichkeit mit dem Potsdamer Platz aufweist (vgl. Datenauszug 41). <?page no="245"?> 245 Datenauszug 41: Gruppe 2 tauscht sich am Ende des dritten Treffens nicht über das Gesehene aus Die Gruppe läuft meinem Avatar bereitwillig hinterher und lässt sich alles zeigen, kommuniziert aber nicht. Nur bei einer direkten Frage gibt Hanna eine knappe und sehr verkürzte Antwort: „damit man den Unterschied erkennt” (Zeile 445). Auch in dieser Umgebung kommt es damit nicht zu einem inhaltlichen Austausch der drei Partnerinnen. Nachdem im Anschluss auch nach einminütiger Stille keine Diskussion in Gang kommt und die Gruppen- <?page no="246"?> 246 mitglieder nicht miteinander kommunizieren, erkläre ich das Treffen für beendet. In der Regel ist ein solches Vorgehen nicht der Fall, die Gruppen bestimmen selbst, wann sie sich voneinander verabschieden. Doch da keinerlei Kommunikation der Gruppenmitglieder mehr erfolgte, entschloss ich mich dazu, das Ende des Treffens zu verkünden. Hieran folgen noch kurze Absprachen innerhalb der Gruppe zum Treffen der kommenden Woche und zu den Aufgaben jeder Partnerin bis dahin. Die Teilnehmerinnen verabschieden sich noch kurz voneinander und beenden damit die Sitzung. Es ist bemerkenswert, dass trotz der guten Gruppenstimmung diesmal verhältnismäßig wenig kommuniziert wurde. Den Gründen für dieses Verhalten soll im Folgenden nachgegangen werden. Es lassen sich verschiedene Erklärungsansätze für das Verhalten der Gruppe anführen: Zunächst ist festzustellen, dass, anders als beim letzten Treffen, hier der Text-Chat benutzt wurde, was ein Aspekt für die verringerte Kommunikation darstellen kann 123 . Wie in Kapitel 7.1. gezeigt werden wird, resultiert aus der Verwendung des Text- Chats eine geringere Menge an ausgetauschten Wörtern, an Redebeiträgen und damit vermutlich auch an Informationen. Ein weiterer Erklärungsansatz für die geringe Kommunikation kann im Aufbau der Lernumgebung gesucht werden. Diese liefert sehr viele Informationen, zusätzlich müssen die Lernenden ihre Avatare durch die Umgebung bewegen, so dass die Lernenden viele Aufgaben gleichzeitig ahrnehmen müssen. Die Kommunikation scheint die Aufgabe zu sein, die unter dieser Menge an Aufgaben zuerst leidet. Ein Indiz dafür ist auch die Darstellung Hannas. In ihrem Lernertagebuch beschreibt sie, dass die Menge der in der Ausstellung aufgenommenen Informationen ihrer Meinung nach für die geringe Kommunikation verantwortlich war: „ [...]Wir besuchten eine Ausstellung über die Geschichte der Mauer. Es gab Infotafeln über den Bau, die politischen Entwicklungen etc. Außerdem waren einige Bilder wichtiger Ereignisse etc. zu sehen. Gemeinsam machten wir einen Rundgang durch die Ausstellung . Da wir ziemlich lange mit dem Lesen der Infotafeln beschäftigt waren, kamen wir nicht viel zum Unterhalten , so dass es auch nicht schlimm war, dass der Voice Chat nicht funktionierte. Am Ende des Rundganges sahen wir, wie sich die Umgebung durch eine Zeitmaschine von der DDR in die BRD veränderte. [...]” (Lerntagebuch Hanna, 3. Treffen, Hervorhebung K.B.) In ihrem Lerntagebuch beschreibt Hanna die rezipierten Informationen nicht näher oder bewertet das Treffen, sie bleibt damit in ihrer Reflexion eher 123 Die Rolle der Kommunikationskanäle wird in Kapitel 7.1 genauer untersucht. <?page no="247"?> 247 knapp. Sie erwähnt allerdings die geringe Kommunikation innerhalb der Gruppe und erklärt sie mit dem Lese der Informationstafeln. Mara äußert sich zwar positiv über die Ausstellung, geht aber ebenfalls nicht näher auf die Inhalte der Ausstellung ein: „Heute war’s auch sehr angenehm. Wir besichtigten ein bisschen Berlin. Wir waren an einer Ausstellung bei der Berliner Mauer und am Brendenburger Tor. Die Ausstellung war sehr interessant, sie stellte die Geschichte von dem Bau und dem Fall der Mauer. Es gab viele Fotos, und auch viele interessante Informationen. [...]” (Aus: Lerntagebuch Mara, 3. Treffen) Nadine hat kein Lerntagebuch abgegeben, so dass ihre Perspektive auf das Treffen nicht mit einbezogen werden kann. Anhand der Äußerungen von Mara und Hanna wird deutlich, dass beide zwar die Informationen gelesen haben, sie reflektieren diese Informationen aber weder in der Ausstellung mit ihren Gruppenpartnern noch im Nachhinein in den Lerntagebüchern. Zudem fällt auf, dass, wie schon in Bezug auf die Aufgabenstellung des Treffens, durch diese verkürzten Tagebucheinträge eine weitere Aufgabenstellung nicht vollständig erfüllt wird 124 : Die Lernerinnen geben zwar wieder, was sie getan haben, bleiben aber auf einem sehr beschreibenden Niveau. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das zweite Treffen von der fehlenden Interaktion der Mitglieder geprägt ist. Während sie sich zu Beginn noch freudig begrüßen, endet die Interaktion der Partnerinnen, als sie die Ausstellung besichtigen. Damit verhält sich diese Gruppe sehr ähnlich zur Gruppe eins, die ebenfalls nicht miteinander kommuniziert, auch nicht nach Besichtigung beider Orte. Dieses Verhalten ist auch in weiteren Gruppen zu beobachten und wird in Kapitel 7.3.2 weiter diskutiert. Im Bezug auf die Gruppeninteraktionen (vgl. Kapitel 6.3) lassen sich aufgrund der geringen Interaktion der Gruppe für die zweite Sitzung keine Verhaltensweisen der Gruppe oder Formen der Gruppenführung (vgl. Kapitel 6.2) beobachten. 124 Die Aufgabenstellung zum Verfassen der Tagebücher findet sich in Abb. 12. <?page no="248"?> 248 6.4.2.3. Das dritte Treffen von Gruppe 2 Das dritte Treffen dieser Gruppe findet ohne Hanna statt, da diese erkrankt ist. Nadine und Mara kommen mit ihren Avataren zum genannten Treffpunkt und zusätzlich zum Blogeintrag erhält die Gruppe von mir noch einmal die Aufgabenstellung für das Treffen im Text-Chat. Im Anschluss hieran sollen sie die Umgebung, eine simulierte Wohngegend Berlin-Marzahns zur Zeit der DDR, betreten, wobei Probleme auftauchen: Mara folgt Nadines und meinem Avatar nicht in die Umgebung. Als sie später doch dazu stößt, fällt Nadines Avatar durch ein Loch im Boden, was durch die noch nicht fertiggestellte Umgebung zu erklären ist. Ich kann Nadine zurück zu Maras Avatar bringen und gemeinsam betreten wir 10 Minuten nach Beginn des Treffens die Umgebung. Am Eingang steht ein Trabant, über den sich Nadine und Mara austauschen (vgl Datenauszug 42): Datenauszug 42: Nadine und Mara betreten die Umgebung In Datenauszug 42 wird deutlich, dass Nadine die Aufgabenstellung, sich über die Dinge, die der Gruppe begegnen, auszutauschen, aufgenommen hat. Sie stellt Mara eine Frage zu Trabbis und animiert sie dazu, gemeinsam über diese Autos zu sprechen. Dieser Austausch bleibt aber sehr an der Oberfläche und ist auch recht kurz, da Nadine ihren Avatar von Maras und den Autos weg bewegt 125 . 125 Überträgt man Gesprächskonventionen, die für Face-to-Face-Gespräche gelten, auf diese Situation, müsste dieses Verhalten Nadines auf Mara äußerst unhöflich wirken. Nadine möchte sich weiterhin die Umgebung umschauen, dennoch würde sie sich in einer Face-to-Face-Gesprächssituation nicht ohne Erklärungen von ihrer Gesprächspartnerin abwenden. Mara scheint dieses Verhalten Nadines aber nicht negativ zu bewerten. <?page no="249"?> 249 Da Mara Nadine nicht folgt, kehrt Nadine zu ihrer Partnerin zurück. Mara weist Nadine darauf hin, dass sie vor der Kaufhalle und dem Café stehen, und die beiden beschließen, in die Kaufhalle zu gehen. Gemeinsam betreten sie die Kaufhalle und laufen nebeneinander durch die Regale, nach einer rund einminütigen Phase der Stille bricht Nadine das Schweigen: Datenauszug 43: Nadine und Mara kommentieren das Warenangebot der Kaufhalle ironisch Nadines Eröffnung des Gesprächs in Datenauszug 43 thematisiert das Warenangebot, das die Gruppe in der Kaufhalle vorfindet. Hier sind die meisten Regale leer, so dass Nadines Äußerung, in der sie die Auswahl als riesig bezeichnet, offensichtlich ironisch gemeint ist, was aus den folgenden Beiträgen Maras (Zeile 136 ) deutlich wird. Diese Ironie wird von Mara erkannt und aufgegriffen, indem diese Nadines Äußerung zunächst bejaht, dann aber beschreibt, dass es fast keine Waren gibt. Die Verwendung von Ironie in einem Gespräch ist riskant: Wenn der Gesprächspartner die Ironie nicht versteht, misslingt die Kommunikationsabsicht. Dies verschärft sich noch einmal in einem Chat, in dem aufgrund des Fehlens von para- und nonverbalen Signalen die Verwendung von Ironie nicht in derart kenntlich gemacht werden kann wie in einem direkte Gespräch (vgl. Holderied-Milis 2010, 98). Zudem ist Ironie für einen Fremdsprachenlerner besonders schwer zu erkennen und zu interpretieren. Damit ist die Verwendung von Ironie in einem Chat mit einer Nichtmuttersprachlerin doppelt riskant. Dass die Gruppe hier gemeinsam ironische Aussagen macht, deutet meiner Meinung nach darauf hin, dass sie schon eine sehr enge Bindung zueinander aufgebaut haben, die es ihnen erlaubt, diese ‚riskante’ Äußerung in das Gespräch einfließen zu lassen Nadine stimmt den Einschätzungen von Mara zu und ergänzt „wie man es von der DDR kennt”, was Mara beinahe im gleichen Wortlaut ebenfalls äußert. Beide Partnerinnen führen diese Beobachtung aber nicht weiter aus; es schließt sich eine rund 45-sekündige Phase der Stille an. Nadine schlägt im <?page no="250"?> 250 Anschluss hieran vor, die Kaufhalle zu verlassen, Mara stimmt zu und schlägt vor in das Café zu gehen, welches als nächster Ort in der Aufgabenstellung aufgeführt ist. Da es sich direkt gegenüber der Kaufhalle befindet, kommt die Gruppe schnell am Café an und geht gemeinsam hinein. Hier wiederholt sich das Verhalten aus der Kaufhalle: Beide Partnerinnen beschreiben einander, was sie sehen, diskutieren aber nicht darüber. Bereits nach eineinhalb Minuten schlägt Nadine vor, weiter zu gehen, womit sich Mara einverstanden erklärt. Nachdem die Gruppe das Café verlassen hat, bin ich ihnen bei der Suche nach weiteren Gebäuden behilflich, da die Zeit bereits weit fortgeschritten ist. so dass die beiden nach einer Minute vor dem Kiosk stehen. Hier bleiben Mara und Nadine völlig still und lassen ihre Avatare für rund 2 Minuten vor dem Kiosk stehen. Dann gebe ich der Gruppe technische Hinweise, wie sie die Umgebung mittels Zoom näher betrachten kann, da die Zeitschriften im Kiosk relativ klein sind. Hierauf erfolgt keinerlei Reaktion. Nach einer weiteren Minute der Stille frage ich die Gruppe, ob sie weitergehen möchte, was von Nadine sofort mit bejaht wird. Es wirkt, als habe sie nur hierauf gewartet. Das Wohnhaus ist etwas schwieriger zu finden und für vier Minuten laufen die beiden durch die Anlage von Haus zu Haus und suchen das richtige Gebäude. Während dessen thematisieren sie nicht die Dinge, die sie sehen, sondern kommentieren nur jeweils, dass sie in die einzelnen Häuser nicht hinein gehen können. Sie sind beide völlig auf das Auffinden des Ortes fokussiert. Nadine findet schließlich nach sechs Minuten das Gebäude und die Partnerinnen gehen in den ersten Raum. In dem sich das folgende Gespräch ereignet (vgl. Datenauszug 44): <?page no="251"?> 251 Datenauszug 44: Mara und Nadine besichtigen die Wohnungen und beschreiben, was sie sehen Datenauszug 44 zeigt, dass auch im Wohnhaus die Gespräche sehr kurz bleiben. Nadine und Mara benennen lediglich die Gegenstände, die sie sehen und bewerten dies, indem sie die Wohnungen als schön und aufgeräumt beschreiben. Inhaltlich beschäftigen sie sich nicht mit der Einrichtung oder den Plattenbauten an sich. Maras guter Impuls „Wie aus einer Fabrik“, der einen Hinweis auf die Uniformität der Einrichtungen gibt, wird von Nadine nicht aufgegriffen. Ihr scheint vielmehr das Auffinden der Orte als solches wichtig zu sein, was an ihrer Nachfrage „Haben wir jetzt alles gefunden? “ deutlich wird. Es ist zu vermuten, dass Nadine die Aufgabenstellung verkürzt wahrgenommen hat. Auch in anderen Gruppen kann diese Fokussierung auf das Auffinden der Orte beobachtet werden. Eine gruppenübergreifende Betrachtung des Umgangs mit dieser Aufgabenstellung und mögliche Gründe für die fehlende Kommunikation an dieser Stelle erfolgt in Kapitel 7.3. Vergleicht man das Verhalten dieser Gruppe mit der Aufgabenbearbeitung von Gruppe 1 fällt auf, dass auch hier Parallelen zu finden sind: Auch diese war vorrangig auf das Auffinden der Orte fokussiert und sprach relativ wenig über die jeweiligen Ausstellungsstücke. Dennoch war die Kommunikation dort stärker; vor allem Karla meldete sich häufiger zu Wort und beschrieb, was sie sah. Allerdings wendete sich Karla vorrangig an mich, um Fragen bezüglich der Ausstellung zu stellen. Unter diesem Verhalten litt die Gruppe. Bei Nadine und Mara findet Gespräch nur untereinander statt, was als positiv zu bewerten ist. Die Gruppe versucht, gemeinsam die Umgebung <?page no="252"?> 252 auszuhandeln. Diese Gespräche sind zwar selten, sorgen aber dafür, dass beide Partnerinnen miteinander verbunden bleiben und der Gruppenzusammenhaltgestärkt wird. Im Anschluss an die oben dargestellte Szene verneine ich Nadines Frage und weise auf die letzte Wohnung hin. Als die Gruppe in die letzte Wohnung kommt, finden sie hier eine Kamera vor. Nadine stellt fest: „ja, und hier wird Überwacht” (Zeile 265), geht aber nicht näher darauf ein. Sie stellt auch fest, dass auf dem Bild an der Wand Honecker zu sehen sei, führt dies aber nicht weiter aus. Damit zeigt Nadine, dass sie durchaus über einiges Wissen in Bezug auf die DDR verfügt. Dieses lässt sie aber nicht in das Gespräch einfließen. Mara ist in dieser Phase sehr still. Sie stimmt Nadine lediglich in deren Äußerungen über die Kamera und das Portrait Honeckers mit einem knappen „ja” zu (Zeile 269). Nach neun Minuten im Plattenbau verlassen die beiden das Gebäude wieder. Die Teilnehmer bekommen von mir Trabbis geschenkt und haben die Möglichkeit, damit zu fahren (vgl. Kapitel 5.3.1). Hierbei wird wieder deutlich, dass beide große Probleme mit der technischen Bedienung in Second Life haben. Ich muss beiden nacheinander langsam erklären, wie das Autofahren funktioniert. Nach rund sieben Minuten der Beschäftigung mit den Autos, in der die Gruppe nicht miteinander kommuniziert, schließe ich diese Phase, indem ich die Gruppe frage, ob es für nächste Woche noch Dinge zu besprechen gibt. Beide Partnerinnen berichten, dass ihre jeweilige Recherche erfolgreich war, und Nadine schlägt vor, dass sie sich einander im Vorfeld die bisherigen Rechercheergebnisse per Mail zuschicken werden können, damit diese schon gelesen sind und beim Treffen direkt die Inhalte diskutiert werden können. Mara stimmt diesem Vorschlag zu und Nadine erklärt sich bereit, Hanna das verabredete Vorgehen mitzuteilen. Im Anschluss verabschieden sich beide voneinander und beenden das Treffen. Bei diesem Treffen wurde deutlich, dass die Gruppe zwar die Aufgabenstellung wahrgenommen hat und diese auch befolgt, ihre Gespräche bleiben aber sehr an der Oberfläche. Die einzelnen Orte wirken nicht als Gesprächsimpulse, sich mit den einzelnen Aspekten der DDR zu beschäftigen, wie es Erinnerungsorte könnten (vgl. Kapitel 3.3.2.3). Wie schon beim zweiten Treffen zeigt sich auch im dritten Treffen, dass die Gruppe verglichen mit dem ersten Aufeinandertreffen sehr wenig kommuniziert. Die Partnerinnen schauen sich die Umgebung engagiert an, dabei versucht Nadine vor allem, alle Orte zu finden, die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Orten findet bei ihr nicht bzw. nur oberflächlich statt. Mara <?page no="253"?> 253 gibt vereinzelt inhaltlich gute Impulse, welche aber von Nadine nicht aufgegriffen werden und damit im Sande verlaufen. Kooperatives Arbeiten findet nicht statt: Die Partnerinnen treffen keine Absprachen bezüglich des Vorgehens (vgl. 6.1) und laufen individuell durch die Umgebung. Wenn ich meinen Avatar in eine Richtung lenke hae, folgen sie, was darauf hindeutet, dass sie mich in dieser Situation als Gruppenführerin ansahen. Dies könnte damit erklärt werden, dass sich beide in der Umgebung nicht auskannten und unsicher waren, wohin sie gehen sollen. Aufgrund dieser Unsicherheit haben sie sich an einem Avatar orientiert, ohne dies explizit zu verbalisieren. Ein weiterer möglicher Grund hierfür ist eine Fehlinterpretation der Aufgabenstellung, so dass die Gruppe erwartet, von mir durch die Umgebung geführt zu werden. Im Hinblick auf das Verhalten in der Gruppe ähnelt dieses Treffen in hohem Maße dem zweiten Treffen dieser Gruppe: auch hier sind keine erkennbaren Verhaltensweisen in Bezug auf Gruppenarbeit (vgl. Kapitel 6.2) und Führung der Gruppe ( vgl. Kapitel 6.3) zu erkennen. Es ist allerdings festzuhalten, dass die Gruppe sehr positiv miteinander umgeht und das Verwenden von Ironie sowie viele Übereinstimmungen zwischen Mara und Nadine auf eine positive Gruppenatmosphäre hindeuten 6.4.2.4. Das vierte Treffen von Gruppe 2 Beim vierten Treffen der Gruppe ist Hanna wieder dabei, so dass die Gruppe vollzählig ist. Mara ist schon vor Ort, während Hanna und Nadine sich noch einloggen. Mara informiert mich in dieser Zeit darüber, dass sie in der heutigen Sitzung keinen Voice-Chat benutzen kann. Kurz darauf kommt Nadine online. Hanna hat ihr Passwort vergessen, weshalb sich ihre Ankunft verzögert. Mara und Nadine nutzen die Zeit, bis Hanna zu ihnen stößt um, zu testen, ob Maras Voice-Chat doch funktioniert. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass die Gruppe den Voice-Chat favorisiert. Die Wahl der Kommunikationskanäle wird in 7.1 eingehender diskutiert. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass die Partnerinnen die Aufgabenstellung des Treffens sorgfältig gelesen haben, in der die Verwendung des Voice-Chats empfohlen wurde, In diese Tests zur Einstellung von Maras Voice-Chat hinein kommt auch Hanna an und beteiligt sich daran. Ich helfe Nadine bei ihren Computereinstellungen, da sie Mara nicht hören kann. Zusätzlich unterhalten sich die Gruppenmitglieder via Text-Chat über Maras bevorstehende Reise nach Deutschland. Da ich noch mit den Einstellungen an Nadines Computer beschäftigt bin und Nadine dadurch nicht agieren kann, übernimmt vor allem Hanna diese Unterhaltung. Mara äußert, dass sie aufgeregt sei und berichtet von der 14-stündigen Zugfahrt. Mara scheint sich sehr auf die Reise zu freuen und berichtet Hanna auf deren Nachfrage, was für die Woche in [Stadt in <?page no="254"?> 254 Norddeutschland 1] geplant ist. Zehn Minuten nach Ankunft von Nadine und Hanna sind die Toneinstellungen abgeschlossen und die Gruppe kann fortan im Voice-Chat kommunizieren. Ich gebe der Gruppe via Text-Chat noch einmal die Aufgabenstellung zum heutigen Treffen (vgl. Datenauszug 45): Datenauszug 45: Ich gebe Gruppe 2 erneut die Aufgabenstellung des vierten Treffens Nachdem sie die Aufgabenstellung gelesen haben, eröffnet Mara das Gespräch. Obwohl einige Zeit mit der die Einstellung des Voice-Chats verbracht wurde, benutzt Mara den Text-Chat und fragt nach, ob Hanna und Nadine ihren Präsentationsentwurf bekommen haben. Eventuell resultiert die Verwendung des Text-Chats daraus, dass Mara zuvor im Text-Chat meine Nachrichten gelesen hat und den Kanal einfach weiter nutzt. Beide bejahen dies. Ich weise noch einmal darauf hin, dass der Voice-Chat jetzt funktioniert, woraufhin die Gruppe in den Voice-Chat wechselt. Leider kann Mara Nadine und Hanna im Voice-Chat nicht mehr hörenund, nach drei Minuten beschließt Hanna, doch den Text-Chat zu benutzen. Mara bedauert dies, stimmt ihr aber zu. Die Gruppe führt nun ihre Diskussion über die Präsentation fort. Im folgenden Ausschnitt erkundigt sich Nadine im direkten Gespräch noch einmal nach den Eckdaten der Präsentation (vgl. Datenauszug 46): <?page no="255"?> 255 Datenauszug 46: Nadine und Hanna stellen an mich zahlreiche Nachfragen zur Organisation der Präsentationen im direkten Gespräch Durch die zahlreichen Rückfragen wird deutlich, dass Nadine sehr1 unsicher in Bezug auf den Ablauf der Präsentation ist. Obwohl die Rahmendaten bekannt sein sollten, da die Aufgabenstellung mit dem genauen Ablauf schon im Vorfeld im Blog zur Verfügung stand und von den Teilnehmern gelesen werden musste, um den Treffpunkt zu erfahren, fragt sie genau diese noch einmal ab. Die Gruppe formuliert immer wieder Unsicherheiten in Bezug darauf, ob in der Präsentation alles funktioniert. Nicht zuletzt, da sie auch in ihren Treffen sehr häufig Probleme mit der Verwendung des Text-Chats hatten, sind die Partnerinnen besonders hinsichtlich der Verwendung des Voice- Chats unsicher. Es ist zu vermuten, dass diese Unsicherheit in Bezug auf die Präsentation zu der starken Fokussierung auf gegebene Hinweise führt. Sie hindert die Gruppe aber daran, mit der inhaltlichen Diskussion zu starten. Parallel zu meinen Ausführungen zur Präsentation führen Hanna und Mara eine Diskussion zur Verwendung des Kommunikationskanals via Text- Chat und entscheiden sich, den Text-Chat zu verwenden. Nachdem die Verwendung des Kommunikationskanals geklärt ist, fragen sowohl Mara wie auch Nadine zeitgleich, wie das Erstellen der Präsentation organisieren werden soll (vgl. Datenauszug 47): <?page no="256"?> 256 Datenauszug 47: Gruppe 2 organisiert die Zusammenstellung der einzelnen Folien ihrer Präsentation. Hinsichtlich der Erstellung der Präsentation bleibt die Gruppe auf der organisatorischen Ebene. Nadine erklärt sich bereit, gemeinsam mit Hanna die Präsentation zusammen zu stellen. Indem Hanna die Präsentation von Mara als sehr schön lobt (Zeile 233), stärkt sie das Gruppenklima und versichert Mara, dass ihr Produkt die Erwartungen der Partnerinnen erfüllt. Marat freu sich sehr über Hannas Lob., Ein Grund hierfür könnte der Umstand sein, dass ihre Partnerinnen Muttersprachlerinnen sind und Mara Hannas Lob als Anerkennung ihrer Sprachkompetenz sowie der inhaltlichen Angemessenheit der Präsentation betrachtet. Nachdem die Fertigstellung der Präsentation organisiert ist, fragt Mara ihre Partnerinnen, wie sich diese den Ablauf vorstellen. Die Gruppe beschließt eine Reihenfolge der Länder, wobei Nadine ihren Vorschlag zuerst im direkten Gespräch mit Hanna bespricht. Nachdem diese zugestimmt hat, macht sie Mara den Vorschlag auch im Text-Chat (vgl. Datenauszug 48). <?page no="257"?> 257 Datenauszug 48: Nadine und Hanna organisieren im direkten Gespräch die Arbeitsteilung untereinander Hieran wird deutlich, dass sich Hanna und Nadine kommunikativ näher sind. Durch die direkte Kommunikation untereinander können sich die Gießenerinnen zuerst auf eine Aussage einigen, bevor eine von beiden diese an Mara richtet. Diese häufigen Absprachen behindern allerdings die Kommunikation mit Mara: Sie bekommt nicht mit, dass die Gießener Partnerinnen zunächst untereinander besprechen, wie sie verfahren wollen, bevor sie Mara auf ihre Frage antworten. Hieraus resultieren lange Pausen für Mara, die nicht erklärt werden. Im Anschluss an die organisatorischen Absprachen ist die Gruppe unsicher, worüber sie sich noch unterhalten soll. Mara äußert zudem ihre Zweifel daran, dass die Präsentation problemlos funktionieren wird. Ihre Zweifel und Ängste tauschen die Partnerinnen in der anschließenden Gesprächspassage aus (vgl. Datenauszug 49). <?page no="258"?> 258 Datenauszug 49: Die Gruppe formuliert ihre Unsicherheit bezüglich der Technik bei der Präsentation <?page no="259"?> 259 Im dargestellten Datenauszug 49 wird deutlich, dass die Gruppe zunächst ihre Unsicherheit bezüglich der Präsentation thematisiert, nachdem ich sie noch einmal dazu animiere, sich darüber auszutauschen, ob sie sich bei der Recherche ihrer Präsentationsthemen über etwas gewundert habe, oder ob ihnen etwas aufgefallen sei. Die ganze Gruppe ist hier sehr geschlossen bezüglich der Zweifel, dass alles ohne technische Probleme funktionieren wird. Als Mara zudem äußert, dass sie Angst habe vor der Verwendung des Voice-Chats, wird sie von Nadine unterstützt. Nadine äußert, dass sie hierfür Verständnis hat. In dieser Passage wird die positive Gruppenatmosphäre deutlich, die es den Teilnehmerinnen erlaubt, auch Unsicherheiten und Ängste innerhalb der Gruppe zu äußern (vgl. Kapitel 6.2). Indem Nadine auf Maras Ängste eingeht und diese ernst nimmt, unterstützt Nadine das positive Gruppenklima. Hanna beendet die Thematisierung der Ängste. Sie beginnt das Gespräch über die Rechercheergebnisse, indem sie Ähnlichkeiten zwischen Polen und der DDR aufzeigt, die von Mara bekräftigt werden. Mara fügt hinzu, dass auch die Orte, die die Gruppe auf ihrer Reise in die DDR gesehen hat (vermutlich bezieht sie sich hier auf die Nachbildung von Berlin-Marzahn, die im letzten Treffen besichtigt wurde), so aussahen, wie es in Polen ausgesehen habe. Hier findet erstmals die Beschäftigung mit landeskundlichen Inhalten statt. Allerdings wird diese Feststellung nicht näher vertieft, da im direkten Gespräch von Nadine und Hanna innerhalb meines Büros zunächst noch ein Austausch über das Verhalten bei technischen Problemen stattfindet. Maras Aussagen zur Ähnlichkeit der besichtigen Umgebung mit dem Aussehen polnischer Städte veranlasst Hanna, mich zu fragen, ob man auch Polen in Second Life besichtigen könne. Scheinbar möchte sich Hanna von dieser Ähnlichkeit selbst überzeugen. Mara bringt die Gruppe wieder zur Organisation der Präsentation zurück, indem sie nachfragt, wie viel Zeit die Gruppe zur Verfügung hat. Nadine und Hanna erörtern ihr die Zeitvorgaben und Mara schlussfolgert, dass man in diesem Zeitraum nur die wichtigsten Informationen nennen könne. Hanna fügt hinzu, dass man auch die aufgefallenen Ähnlichkeiten zwischen Polen und der DDR ansprechen solle und die Gruppe einigt sich darauf, an das Ende der Präsentation einen Vergleich zu stellen. Im folgenden Verlauf wird noch einmal die Zeitplanung besprochen, da Mara sich bis zum 13. des Monats auf Studienreise befindet. Diese Phase ist sowohl im Text-Chat als auch im direkten Gespräch zwischen Nadine und Hanna sehr lebhaft, simultan wird sowohl im Chat mit Mara als auch im Gespräch der beiden Freundinnen diskutiert, dass zwischen Maras Rückkehr und der Präsentation noch einmal per E-Mail besprochen werden soll, ob noch Änderungen vorzunehmen sind. Zudem spekulieren Hanna und Nadine <?page no="260"?> 260 im direkten Gespräch miteinander über die Möglichkeiten von Mara, in Deutschland ihre E-Mails zu lesen. Als sich die Gruppe über das Verfahren einig ist, fasst Hanna diese rund sechsminütige Phase der Organisation im Anschluss noch einmal zusammen. Nadines Nachfrage, ob es noch Unklarheiten gebe, verneint Mara, und auch von Nadine oder Hanna kommt kein neuer Impuls mehr. Nach einer Pause von ca. 30 Sekunden bekräftigt Nadine, dass sich die Gruppe bei Unklarheiten per E-Mail austauscht. Dies, wie auch die Äußerung, dass alle Fragen der Teilnehmerinnen beantwortet wurden, fungieren als implizite Feststellung der Gruppe, dass sie die Aufgabe des Treffens erfüllt haben. Dementsprechend schlägt Mara im Anschluss vor, das Treffen für heute zu beenden. Die Gruppe verabschiedet sich und nach 40 Minuten ist das Treffen abgeschlossen. Durch die vorzeitige Beendung des Treffens wurde nicht die komplette Zeit für das Treffen ausgenutzt. Bezogen auf die Aufgabenstellung wird deutlich, dass die Gruppe nicht alle Arbeitsaufträge erfüllt hat: zwar haben sie sich gegenseitig über ihre Ergebnisse informiert, doch wurden keine Fakten ausgetauscht, lediglich die Ähnlichkeiten zwischen der DDR und Polen wurden festgestellt. Damit blieb die Gruppe bei diesem Treffen inhaltlich sehr stark an der Oberfläche der Themen. Eine Auseinandersetzung mit der unterschiedlichen Tiefe der Behandlung von Themen in allen Gruppen erfolgt unter Kapitel 8. Die knappe inhaltliche Auseinandersetzung war auch dem Fokus auf die organisatorische Absprachen geschuldet, die weite Teile des Treffens in Anspruch nahmen. Stellen im Gespräch, die bezogen auf landeskundliches Lernen vielversprechend waren, wurden von der Gruppe nicht vertieft, da immer wieder technische oder organisatorische Unklarheiten das Gespräch dominiert haben. Die Gruppe hat ein sehr positives Gruppenklima und hohes Engagement gezeigt: Die Bedenken und Sorgen aller Teilnehmer wurden von den Partnern ernst genommen und geteilte Einschätzungen wurden deutlich. Mara wurde von den Muttersprachlerinnen für ihre Präsentation gelobt, worauf Mara freudig reagierte und Smileys im Chat verwendet hat. Mara, die polnische Gesprächspartnerin, hat zahlreiche Gesprächsimpulse geliefert und war inhaltlich im gleichen Maße engagiert wie Hanna und Nadine. Keine der Partnerinnen war nicht in das Gespräch involviert und alle haben gleichberechtigt neue Impulse zum Fortgang des Gespräches gegeben Damit lässt sich auch in diesem Treffen keine Form eines Gruppenführers (vgl Kapitel 6.3) innerhalb der Gruppe erkennen, vielmehr agieren alle Gruppenmitglieder gleichberechtigt miteinander. <?page no="261"?> 261 6.4.2.5. Zusammenfassende Betrachtung von Gruppe 2 Alles in allem wird bei dieser Gruppe deutlich, dass sie ein sehr positives Gruppenklima aufweist, welches allerdings durch die enge Freundschaft von Nadine und Hanna beeinträchtigt wird: Die beiden kennen sich so gut, dass sie sich zu Beginn des Projektes nicht umfassend vorstellen. Insbesondere im ersten Treffen wird Mara zum Gesprächsobjekt und hat keine Möglichkeit, ihre Partnerinnen besser kennen zu lernen. Sie geht aber auf diese Freundschaft positiv ein, indem sie von ihrer eigenen Freundschaft zu einer Kommilitonin berichtet. Durch Nachfragen Maras erfährt sie schließlich einige Informationen von ihren Partnerinnen. Durch die polnische Herkunft von Nadines Familie und das Gespräch über die Haustiere, die alle drei Partnerinnen haben, werden gemeinsame Erlebnisse und geteilte Vorlieben deutlich, die den Gruppenzusammenhalt weiter stärken (vgl. Kapitel 6.2). Trotz des guten Gruppenzusammenhaltes leidet die Kommunikation in der Gruppe an der gemeinsame Anwesenheit von Hanna und Nadine in meinem Büro. Diese führt dazu, dass es sehr häufig direkte Gespräche zwischen den beiden Gießener Partnerinnen gibt, welche auf Kosten der Gespräche in Second Life stattfinden. Insbesondere zu Beginn entstehen dadurch einige Gesprächspausen, die für Mara nicht erklärt werden. Auch das letzte Treffen hat für Mara sehr viele Pausen im Gespräch der Gruppe, die aus zahlreichen Absprachen zwischen Hanna und Nadine resultieren. Mara wird in einige Entscheidungsprozesse nicht mit einbezogen, die Partnerinnen in Gießen treten als Gruppe in der Gruppe auf. Als Hanna am dritten Treffen aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen kann, und nur Nadine und Mara die DDR-Umgebung besichtigen, wird das veränderte Kommunikationsverhalten besonders deutlich. In diesem Treffen erfolgt die Kommunikation zwischen Mara und Nadine sehr flüssig. Nadine hält nicht immer erst Rücksprache mit Hanna über Maras Äußerungen, welche in den anderen Treffen die Kommunikation mir Mara verlangsamt hat. Nadine und Hanna verstehen sich in diesem Treffen so gut, dass sie sogar gemeinsam ironische Kommentare zum Warenangebot in der Kaufhalle machen. Ein weiteres Problem der Gruppe ist ihre große technische Unsicherheit: Voice-Chats kommen nach dem ersten Treffen nicht mehr zustande, da alle Teilnehmerinnen große Probleme in der Bedienung der Software und der Geräteeinstellungen haben. Während ich Hanna und Nadine noch helfen kann, gelingt es Mara nicht, ihr Headset korrekt anzuschließen. Im ersten Treffen, bei welchem der Voice-Chat problemlos funktioniert, deutet sich an, dass die Gruppe ein reges Interesse aneinander hat und dass sie sich sehr <?page no="262"?> 262 intensiv austauscht. Im Text-Chat hingegen bleiben die Gespräche kürzer als im Voice-Chat 126 . Neben den technischen Probleme, bezogen auf die Hardware, wird auch das Programm selbst zum Problem: Beim zweiten und dritten Treffen, in dem die Gruppe sehr viele Informationen aus der Umgebung rezipieren muss und die Partnerinnen sich in der virtuellen Welt bewegen müssen, geht dies auf Kosten ihrer Kommunikation: Die Gruppenmitglieder sprechen so gut wie gar nicht miteinander und wenn, dann weniger über die Inhalte, als viel mehr über organisatorische oder technische Dinge 127 . Die geringe Kommunikation führt die Gruppe auch im letzten Treffen fort, obwohl hier weniger Input durch Informationen aus dem Programm erfolgt. Beim vierten Treffen sind es vor allem die organisatorischen Absprachen zur Gruppenarbeit, die die Gruppe davon abhalten, inhaltlich stärker zu diskutieren. Obwohl die Gruppe also bereits beim ersten Treffen ein sehr positives Klima herstellt und einen freundschaftlichen Umgang miteinander an den Tag legt, kommt es in den folgenden Treffen nicht zu intensiver Arbeit an den Inhalten. Landeskundliches Lernen findet kaum statt. Darauf wird in Kapitel 7.5 noch weiter eingegangen. Eine Erklärung für den geringen Lernertrag kann in der fehlenden Führung der Gruppe gesehen werden: Alle Partnerinnen agieren gleichberechtigt miteinander. Hatte Mara noch im ersten Treffen immer wieder neue Fragen formuliert und das Gespräch damit vorangetrieben, fehlt eine derartige Initiative in den folgenden Treffen. Hier agieren alle drei Partnerinnen gleichberechtigt. Das Verhalten aller Gruppenmitglieder zeichnet sich durch große Unsicherheit im Bezug auf die virtuelle Welt aus. Inhaltlich sind alle zwar interessiert, da aber innerhalb der Gruppe niemand das Befolgen der Aufgabenstellung überprüft, erfolgt die Rezeption der Informationen individuell. Damit kann die Gruppe dem Laissez-Faire Stil zugeordnet werden, der sich durch fehlende Hierarchien auszeichnet Die in Bezug auf den wirtschaftlichen Bereich in Kapitel 6.3 beschriebenen Beobachtungen scheinen auch im fremdsprachendidaktischen Bereich relevant zu sein: Das Laissez-Faire Prinzip hat eine geringe Produktivität der Gruppe im Hinblick auf die Aufgabenbearbeitung zu Folge. Hier sind allerdings Einschränkungen zu machen, auf die ich in Kapitel 6.4.4. eingehen werde. 126 Vergleiche zum Verhältnis von Text-Chat und Voice-Chat genauer Kapitel 7.1. 127 In den Kapiteln 7.2.2 und 7.2.3 wird der Umgang mit den Aufgabenstellungen in den Treffen zwei und drei gruppenübergreifend diskutiert <?page no="263"?> 263 6.4.3. Gruppe 3: Michael, Neo und Anna Gruppe 3 besteht ebenfalls aus drei Personen: Auf Gießener Seite sind dies Michael und Neo, auf polnischer Seite Anna. Michael ist 24 Jahre alt und Deutscher. Er studiert Deutsch als Fremdsprache im Hauptfach. Er ist nach eigener Aussage geschichtlich interessiert, die Themen ‚Teilung Deutschlands’ und ‚das Leben in der DDR’ wurden ihm in der Schule in geringem Umfang vermittelt. Er assoziiert mit der DDR „die Mauer“ und „die Stasi“ und bemängelt die Unfreiheit der Bevölkerung. Michael benutzt den Computer nur zum Arbeiten und sagt, dass er geringe Kompetenzen im Umgang mit dem PC habe. Michael bezeichnet sich selbst im ersten Treffen als schüchtern (vgl. Datenauszug 50, Zeile 57). Neo ist ein chinesischer Student, der für sein Masterstudium nach Deutschland gekommen ist. Er ist 23 Jahre alt und spricht sehr gut Deutsch. Neo gab im Fragebogen an, dass er täglich rund 3 Stunden am Computer verbringt, rund 2 Stunden davon nutzt er das Internet, um mit anderen zu kommunizieren, insbesondere um den Kontakt in seine chinesische Heimat aufrechtzuerhalten. Dafür verwendet er Chats und VoIP-Systeme wie Skype. Neo gibt zudem an, sich sehr gut mit Computern, sowohl im Hinblick auf die Technik, als auch mit umfangreichen Anwendungen auszukennen. Second Life oder andere virtuelle Welten hat Neo noch nicht verwendet. Neo interessiert sich „durchschnittlich“ für geschichtliche Themen, gibt aber an, dass er es wichtig findet, dass man die Geschichte eines Landes, dessen Sprache man lernt, kennt. In der Schule hat er bereits ein wenig über die Teilung Deutschlands und Wiedervereinigung erfahren. Anna ist 21 Jahre alt. Sie nutzt laut eigenen Angaben den Computer relativ selten, vor allem um mit anderen in Kontakt zu bleiben. Hierzu verwendet sie VoIP-Dienste und soziale Netzwerke. Sie schätzt ihre Fertigkeiten mit dem Computer als „relativ gut“ ein und hat ebenfalls noch keine Erfahrungen mit Second Life. Anna war bereits zwei Mal für längere Zeit in Deutschland. Sie interessiert sich in durchschnittlichem Maße für Geschichte, findet aber auch, dass es wichtig ist, die Geschichte und Kultur eines Landes zu kennen, dessen Sprache man lernt. Sie assoziiert die DDR mit der Berliner Mauer und hebt hervor: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich im Laden nicht alle Produkte bekommen kann, die ich mir wünsche“. <?page no="264"?> 264 6.4.3.1. Das erste Treffen von Gruppe 3 Nachdem die Gruppe bereits im Vorfeld untereinander Vorstellungs-E-Mails ausgetauscht hat, trifft sich die Gruppe zum ersten Termin in Second Life. Michael und Neo befinden sich beide in meinem Büro. Alle sind mit ihren Avataren pünktlich am Treffpunkt in Second Life. Neo beginnt das Treffen, indem er „Na, wie geht’s? ” in den Text-Chat eingibt. Währenddessen erkläre ich Michael noch die Bedienung des Voice-Chats, da er sich diesbezüglich mit einer Frage an mich gewendet hat. Anna reagiert auf Neos Frage, indem sie ihn zunächst fragt, ob er Michael sei. Da die Avatarnamen noch nicht bekannt sind, ist für Anna die Zuordnung der Avatare zu Michael und Neo nicht möglich. Die Annahme von Anna, Michaels Avatar sei Neo, ist interessant, zumal Michael einen dunkelhäutigen Avatar gewählt hat, während Neos Avatar hellhäutig ist. Eventuell ist das äußere Erscheinungsbild der Avatare verantwortlich für Annas Annahme, dass Neos Avatar zu Michael gehöre (vgl. Abb. 16) Dies zeigt, dass Anna sich sehr stark auf die Avatare bezieht. Auf dieses Verhalten wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen, in Kapitel 7.2 erfolgt eine Analyse der Wirkung der Avatare auf alle Teilnehmer. Dort wird gezeigt werden, dass die Identifizierung mit den Avataren durch die Nutzer sehr stark ist, was diese Annahme unterstützt. Abb. 16 : Die Avatare von Neo (links) und Michael (rechts) Neo antwortet Anna, dass er Neo sei. Diese Interaktion wird von Michael nicht bemerkt, der sich an mich wendet und fragt „Vielleicht mal was chatten? ”. Ich weise ihn darauf hin, dass Neo und Anna bereits miteinander chatten, woraufhin er den Text-Chat erstmals wahrnimmt. <?page no="265"?> 265 Währenddessen führt Neo den Small Talk mit Anna fort, indem er sie nach dem Wetter in Breslau fragt. Nachdem er diesen Beitrag abgesendet hat, fragt er Michael, ob dieser den Beitrag lesen kann. Damit reagiert Neo auf das Zwiegespräch zwischen Michael und mir. Michael bejaht diese Frage und schaltet sich mit einem „Hallo“ in den Text-Chat ein. Sowohl dies, als auch Michaels direkt folgender Beitrag „Alles okay? ” werden von Anna und Neo im Gespräch nicht aufgegriffen. Dieses Außenvorlassen von Michael verstärkt sich noch, als Anna mit „und bei dir? ” eine Frage explizit nur an Neo richtet und Michael durch die Verwendung des Singulars ausklammert. Neo versucht mit seiner Antwort „bei uns auch” Michael mit einzubeziehen und er verstärkt dies, indem er im folgenden Beitrag Michaels Vorstellungs-E-Mail zum Thema macht und Anna fragt, ob sie diese lesen konnte, da Michael seinen Text offensichtlich in einem unüblichen Format verschickt hat. Während Neo auf Annas Antwort wartet, erkundigt er sich bei mir nach Annas Sprachniveau. Es wird deutlich, dass er sich verantwortlich dafür fühlt, dass sie das Gespräch verfolgen kann. Dieses Verantwortungsgefühl füreinander ist ein Kennzeichen von Gruppen, die kooperativ arbeiten (vgl. Kapitel 6.1); indem Neo sichergehen möchte, dass Anna die Unterhaltung verstehen kann, versucht er, die Gruppenbildung zu unterstützen. Auch von der bisherigen Gesprächsstruktur tut sich Neo am stärksten als Impulsgeber und Koordinator des Gespräches hervor. Anna erklärt, dass sie Probleme mit dem Format von Michaels Vorstellungsmail hatte, ihr Freund habe ihr aber geholfen und sie konnte die Mail somit lesen. Das Gespräch verstummt im Anschluss an dieses Thema kurz. Daraufhin lädt Neo Michael mit seiner Text-Chat-Aufforderung „Michael, sag doch was : )“ dazu ein, sich am Gespräch zu beteiligen und hebt sich erneut als Moderator hervor. Die Bemühungen Neos fruchten, was in Datenauszug 50 verfolgt werden kann: <?page no="266"?> 266 Datenauszug 50: Beginn einer Unterhaltung aller drei Gruppenmitglieder durch Neos Moderation Michael schreibt, dass er müde sei, was Neo damit kommentiert, dass Michael wohl zu viel gegessen habe. Bei den beiden Gießener Studierenden führt dies zu Erheiterung im Büro, Anna reagiert auf die Beiträge ihrer Partner gar nicht. Ebenso wenig reagiert sie auf Michaels Eingeständnis, dass er schüchtern sei. Damit offenbart er einen sehr persönlichen Teil von sich, auf den Anna aber nicht eingeht. Dies wäre für das Herstellen einer positiven Gruppenatmosphäre wichtig gewesen (vgl. Kapitel 6.2), gerade bei einem derart persönlichen Thema und dem schwierigen Einstieg Michaels in das Gruppengespräch. Vielmehr wirft Anna ein neues Thema auf, indem sie erzählt, dass sie gleich mit Freunden zu einer Party gehen wolle. Diese Nachricht kommt fast zeitgleich mit Michaels nachfrage, ob Anna die Vorstellungsmails gelesen habe. Es wird allerdings das Thema Party, das durch Anna intiiiert wurde, aufgegriffen, so dass auch Neos Frage, was Anna 128 gegessen habe, nicht beantwortet wird. Das Thema Party wird lebhaft diskutiert, indem Michael und Neo zeitgleich Fragen dazu stellen, wo die Party stattfindet. Neo möchte zu- 128 Die von Neo verwendete Anrede „Strokrotka“ ist der Nachname ihres Avatars. <?page no="267"?> 267 sätzlich wissen, was für eine Party gefeiert wird, wie Datenauszug. 51 verdeutlicht. Datenauszug 51: Parallele Gesprächsstränge im Chat zwischen Neo und Michael mit Anna Im abgebildeten Gesprächsabschnitt erklärt Anna, dass an diesem Abend alle Clubs kostenlos seien. Da dies ungewöhnlich ist, fragt Neo nach dem Grund hierfür und gibt an, dass am Tag zuvor in Deutschland das 20. Jubiläum des Mauerfalls gefeiert wurde. Offensichtlich vermutet er einen kausalen Zusammenhang zwischen den Feiern in Deutschland und Polen. Auf seine Nachfrage geht Anna nicht ein. Parallel zum Gesprächsstrang, in dem sich Neo und Anna über die Party unterhalten fragt Michael Anna, ob sie die Vorstellungsmails gelesen habe. Da er in das Gespräch über die Party nicht involviert ist, möchte Michael vermutlich vom Small Talk in die Aufgabenstellung wechseln, die er so versteht, dass er erneut die Vorstellungsmails thematisiert. Anna geht hierauf aber nicht weiter ein, sondern berichtet weiter von der Party. Als Michael noch einmal auf die Vorstellungsmails Bezug nimmt und Anna fragt, ob sie aufgrund der Party diese nicht gelesen habe, geht Anna schließlich auf Michaels Frage ein und gibt zu, die Vorstellungsmail nicht gelesen zu haben - obwohl sie kurz zuvor noch gesagt hatte, dass ihr Freund ihr geholfen habe, die Datei zu öffnen. Anna fügt an, dass sie die Nachrichten <?page no="268"?> 268 noch lesen werde, es ist anzunehmen dass sie sich wegen der nicht erfüllten Aufgabe schlecht fühlt 129 . Michael und Neo entgegnen beide, dass es nicht schlimm sei, dass Anna die E-Mails noch nicht gelesen habe. Michaels Verwendung eines Smileys soll betonen, dass er es nicht negativ bewertet, dass sie die Vorstellungen von Neo und ihm noch nicht gelesen hat. Auch Neo gibt an, dass es „nicht schlimm“ sei und knüpft wieder an das Thema Party an. Vielleicht empfindet er die Situation als unangenehm für Anna und möchte das Thema der Unterhaltung schnell wieder wechseln Mit ihrem Verhalten sorgen die beiden Gießener Studierenden für eine positive Atmosphäre in der Gruppe und verhindern, dass das Gespräch möglicherweise zum Erliegen kommt. Es wird deutlich, dass Neo und Michael trotz der Enttäuschung über Annas nicht geleistete Vorarbeit um eine positive Gruppenstimmung bemüht sind. Während dieses Austauschs zwischen Anna und Neo wendet sich Michael direkt an mich und bemerkt, dass die Themen in den Beiträgen der Gruppe unkoordiniert seien. Meinen Hinweis auf die Charakteristika des Text-Chats kommentiert er mit „Das hatten wir ja schon” (Zeile 96), womit er auf das Begleitseminar (vgl. Kapitel 5.2.2.2) Bezug nimmt, in dem auch unterschiedliche Formen der computerbasierten Kommunikation vorgestellt und problematisiert wurden. In diesem Moment bewegt Anna ihren Avatar von denen ihrer Partner weg und lässt ihren Avatar sich ein wenig abseits auf die Wiese setzen. Die beiden Gruppenpartner folgen ihr und setzen sich dazu, nachdem ich ihnen erklärt habe, wie dIEs funktioniert. Anna erläutert ihre Motivation, sich zu entfernen nicht. Möglicherweise hat sie einfach die Navigation in Second Life erprobt. In einem Face-to-Face-Gespräch wäre es absolut unhöflich, sich mitten im Gespräch vom Partner abzuwenden und wegzugehen. Auch in Second Life drückt dies eine Form von Desinteresse aus, da der Nutzer mit der Steuerung des Avatars beschäftigt ist und seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf der Kommunikation liegt. Indem Neo und Michael Anna folgen, zeigen sie, dass sie weiterhin mit ihr im Gespräch bleiben wollen. Michael fordert Anna auf, etwas von sich zu erzählen. Daraufhin springt der Avatar von Anna auf und hüpft herum. Vermutlich testet Anna weiterhin die verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten in Second Life. Neo bestärkt Michaels Aufforderung, indem er hinzufügt „oder von deinem Freund ,-)” (Zeile 129 An dieser Stelle soll bereits darauf hingewiesen werden, dass sich im Treffen der folgenden Woche herausstellen wird, dass Annas Vorstellungs-E-Mail nur an Michael gegangen ist. Sie wusste aber , dass sie zwei Partner hat, da sie die E-Mail- Adressen beider Partner bekam, die Gruppe gemeinsam eine organisatorische E- Mail bekam, in der sie als Gruppe definiert wurden und die einen Link zu ihrem Gruppenblog enthielt und da sie nicht zuletzt auch von beiden Partnern eine Vorstellungs-E-Mail erhielt. <?page no="269"?> 269 122) und Michael nennt als weitere Alternative „oder von breslau” (Zeile 123). Anna entgegnet daraufhin „wenn du etwas von meiner Stadt wissen willst, so muss sie einfach besuchen”(Zeile 129f.), was die Themeneröffnung abrupt beendet und daher wie eine Abweisung wirkt. Neo und Michael lassen sich davon jedoch nicht entmutigen: Neo fragt weiter nach Annas Freund, von dem Anna daraufhin berichtet, dass er lieber Englisch als Deutsch möge. Die Bitte, etwas von sich zu erzählen, hat Anna somit nur auf Nachfrage und auch nur sehr knapp mit einer Information zu ihrem Freund beantwortet. Dies kann als Hinweis dafür interpretiert werden, dass Anna nicht gerne Informationen über sich preisgeben möchte. Die Partner lassen sich durch dieses Verhalten jedoch nicht entmutigen und wiederholen ihre nicht beantworteten Fragen. Dieses Verhalten von Michael und Neo ermöglicht es der noch jungen Gruppe, weiter zu wachsen und eine positive Gruppenatmosphäre aufzubauen. Im nun folgenden Austausch gibt Neo an, dass er Breslau bis zum Beginn des Projektes nicht gekannt habe, fügt aber hinzu, dass er ja Chinese sei. Erst hierauf reagiert Anna mit einem Einstieg in das Gespräch, indem sie sagt, dass sie „dieses Land [...] auch besichtigen” würde. Erstmals geht Anna auf einen Impuls der Partner ein und führt nicht nur die Themen aus, die sie selbst bestimmt hat. Es fällt auf, dass Neo hier keine Frage an Anna gerichtet hat, sondern etwas über sich selbst berichtet. Annas Aufgreifen seines Heimatlandes könnte als eine Einladung von ihr an Neo gewertet werden, mehr über China zu erzählen. Womöglich möchte Anna den Fokus der Unterhaltung von sich ablenken. Ab diesem Zeitpunkt überschneiden sich wieder zwei Gesprächsstränge, denn Anna und Neo bleiben beim Thema China, während Michael Anna erneut zu Breslau befragt und sie ihm hierzu Auskunft gibt. Wie in Datenauszug 52 deutlich wird, gelingt es Anna, auf beide Gesprächsstränge zu reagieren. Datenauszug 52: Anna zeigt Initiative beim Gespräch über China <?page no="270"?> 270 Michael fragt Anna anschließend nach ihrem Studiengang, woraufhin sie erklärt, dass sie Deutsch als Fremdsprache und Massage studiere, was bei Neo und Michael zu großer Verwirrung führt (vgl. Datenauszug 53): Datenauszug 53: Anna berichtet von ihrem Massagestudium Die in Datenauszug 53 dargestellte Verwunderung von Michael und Neo im Bezug auf Annas Massagestudium veranlasst die Gießener Partner aber nicht dazu, genauer nachzufragen, was genau der Hintergrund dieses Massagestudiums sei. Neo drückt stattdessen aus, dass er ihre Fächerkombination „ super” findet und Michael berichtet Anna sehr komprimiert auf deren Nachfrage von seinem Studium. Er sagt, dass er im ersten Semester studiere, erklärt dabei aber nicht das Bachelor- und Master-System und geht auf Annas Rückfrage auf die Gruppengröße im Studium ein. <?page no="271"?> 271 Dann pausiert das Gespräch, Michael und Neo lachen noch über das Massagestudium und Neo fragt nach einer längeren Pause nach, ob Anna schon bald gehen werde. Vielleicht erklärt er sich die Gesprächspause damit, dass Anna auf die Party gehen möchte und Vorbereitungen hierfür trifft oder sogar nicht mehr am Computer sitzt. In diesem Moment verschwindet die Hose von Annas Avatar, vermutlich hat sie wieder die Steuerung in Second Life ausprobiert. Diese ungewöhnliche Szene kann in Datenauszug 54 verfolgt werden. Datenauszug 54: Annas Avatar verliert die Hose Während Neo sich in dieser Situation zunächst sehr zurückhält, kommentiert Michael das Verschwinden der Hose des Avatars mit der Bemerkung „nett” (Zeile 210), Anna reagiert ebenfalls humorvoll und geht auf das Kompliment von Michael („du hast eine gute figur! ”, Zeile 217) ein, indem sie das Kompliment auf sich selbst und nicht den Avatar bezieht (vgl. Zeile 218 bis 221). Hierdurch überträgt sie die Äußerung Michaels zur virtuellen Figur auf die reale Welt. Dies greift Michael auf, indem er ebenfalls Bezüge herstellt und fragt, ob sie am Abend auf der Party eine weiße Hose tragen werde wie der Avatar 130 . Anna reagiert nicht auf Michaels Frage nach der Party und versucht 130 Die Identifizierung mit dem Avatar ist ein bedeutender Aspekt virtueller Welten. In Kapitel 7.2 wird hierauf eingegangen. <?page no="272"?> 272 ein neues Thema zu beginnen. Sie fragt Michael und Neo, was diese machen. Michael antwortet ihr sehr allgemein, dass er in die Uni gehe und schlafe, Neo schlägt vor, dass sie miteinander reden können und fragt, ob Anna ein „ Kopfset” habe. Anna verneint das und schlägt vor, dass sie vielleicht nächste Woche reden können. Währenddessen taucht ein weiterer Avatar auf, der aber nicht in Interaktion mit der Gruppe tritt. Michael formuliert - womöglich aufgrund der Anwesenheit des anderen Avatars - dass sie ein Team seien, was Anna bejaht. Neo fährt damit fort, Anna Fragen zu stellen. Zunächst fragt er, ob sie Musik mag, was sie bejaht und ihre liebsten Musikrichtungen nennt. Anna wirft nun ein, dass sie leider bald gehen muss. Sie verleiht dem Nachdruck, indem sie später hinzufügt dass ihre Freunde schon warten (vgl. Datenauszug 55). Datenauszug 55: Das Ende des ersten Treffens von Gruppe 3 Neo reagiert verständnisvoll und positiv, während Michael „unhöf” postet (Zeile 265). Aufgrund der Unvollständigkeit des Wortes ist davon auszugehen, dass er die Nachricht so noch nicht absenden wollte, die Rekonstruktion zu „unhöflich” dürfte dennoch problemlos möglich sein. Was Michael genau unhöflich findet, wie seine ursprüngliche Nachricht aussehen sollte und an wen sie gerichtet war, bleibt offen. Eine direkte Reaktion sener Partner auf diese Äußerung erfolgt nicht. Die Gruppe verabschiedet sich voneinander und Anna verlässt relativ schnell den Treffpunkt. Bei diesem Treffen wird deutlich, dass die Gruppenmitglieder zu Beginn nicht aufeinander eingehen. Am Anfang des Treffens stellen sowohl Neo, als auch Michael Anna zunächst unabhängig voneinander Fragen, was zu doppelten <?page no="273"?> 273 Gesprächssträngen führt. Diese sind schwer zu entwirren, zudem können Themen hierdurch nicht vertieft werden. Außerdem laufen im Treffen zahlreiche Gesprächsstränge ins Leere. Ein Grund hierfür ist vor allem, dass Anna häufiger nicht, sehr knapp oder gar abweisend auf Fragen antwortet, die ihr gestellt werden, aber auch Michael reagiert nicht immer. Neo versucht durch seine Bemerkungen Michael immer wieder in die Fragen, die Anna an ihn richtet, mit einzubeziehen. Michael wird hierbei aber selbst nicht besonders aktiv, sondern formuliert weiter eigene Fragen an Anna. Auffällig ist, dass während des ganzen Gesprächs immer Anna im Mittelpunkt der Unterhaltungen steht. Michael und Neo befragen sie zu ihrem Leben, ihrem Studium und ihrer Heimatstadt. Dies könnte zum einen darin begründet sein, dass sich Neo und Michael bereits kennen und daher vielleicht auf Anna besonders neugierig sind. Zudem haben sie Annas Vorstellungs-E-Mail im Gegensatz zu ihr gelesen und scheinen besser auf das Treffen vorbereitet zu sein als Anna. Nur Neo erzählt als Reaktion auf Annas Antworten auch etwas aus seinem Leben, allerdings sehr verkürzt. Michael offenbart über sich selbst während des ganzen Treffens lediglich, dass er schüchtern sei und informiert Anna auf ihre Nachfrage über sein Studium. Für das erste Aufeinandertreffen der Gruppe ist das offene Eingeständnis Michaels, dass er schüchtern sei, bemerkenswert, allerdings reagieren sowohl Anna als auch Neo nicht darauf. Aus den Fragen, die Neo und Michael Anna stellen, entwickelt sich nur sehr selten eine Unterhaltung mit mehreren aufeinander bezogenen Beiträgen, was auch daran liegt, dass Anna häufig nicht auf Fragen antwortet oder sehr knappe Antworten formuliert, die teilweise auch abweisend wirken können, Womöglich ist Anna bei diesem Treffen sehr mit der Navigation in Second Life beschäftigt, die sie ausgiebig testet. Während Neo und Michael ihre Avatare auf der Stelle stehen lassen, läuft Anna mit ihrem Avatar herum, lässt diesen sich hinsetzen, auf und ab springen oder wechselt die Kleider des Avatars. Zudem hat sie die E-Mails ihrer Partner nicht gelesen und gerät daher in eine eher defensive Situation: Sie weiß nicht, an welche Themen sie anknüpfen kann, da sie noch keine Informationen über ihre Partner hat, so dass Anna lediglich reagiert. All dies führt dazu, dass keine positive Gruppenatmosphäre entsteht (vgl. Kapitel 6.2). Inhaltlich erfahren die Partner nicht viel übereinander, zudem wirken die ausbleibenden Reaktionen von Anna und die Bewegungen ihres Avatars unhöflich. Dies wird durch ihr vorzeitiges Beenden des Treffens aufgrund der Party, die sie besuchen möchte, noch verstärkt. In dieser Situation verliert Annas Avatar die Hose. Michael kommentiert dies mit „nett“. Dieser Zwischenfall könnte die Atmosphäre noch verschlechtern, allerdings reagiert <?page no="274"?> 274 Anna hier humorvoll, so dass die Stimmung im Anschluss gelöster und humorvoller zu sein scheint. Obwohl Michael explizit formuliert, dass sie eine Gruppe sind, verhalten sich die drei nicht so. Die Gruppenbildungsphase kann als weitestgehend misslungen betrachtet werden (vgl. 6.2). Dies ist erstaunlich, denn Neo tut sich - insbesondere zu Beginn des Gesprächs - als Impulsgeber hervor. Er versucht auch, Michael in das Gespräch zwischen Anna und sich selbst einzubeziehen und möchte sicherstellen, dass Anna dem Gespräch folgen kann, was durch seine Nachfrage hinsichtlich Annas Sprachniveau deutlich wird. Er ist dadurch der Gruppenführer, wobei er sich demokratisch verhält (vgl. Kap 6.3). Auch Michael verhält sich sehr freundlich Anan gegenüber, beide verzeihen ihr die schlechte Vorbereitung und zeigen Interesse an Anna. Anna gelingt es jedoch nicht, in ein Gespräch mit Neo und Michael zu kommen. Nur als Neo kurz sein Heimatland China erwähnt, wird Anna selbst aktiv, sonst bleibt sie eher still und reagiert nur auf Äußerungen der Partner. Ein gegenseitiges Kennenlernen erfolgt daher im ersten Treffen der Gruppe nicht. 6.4.3.2. Das zweite Treffen von Gruppe 3 Auch zum zweiten Treffen erscheinen sowohl Neo als auch Michael in meinem Büro. Zu Beginn des Treffens sind Neo und Anna pünktlich online. Michael hat Probleme sich anzumelden und kommt wenige Minuten später mit seinem Avatar am Treffpunkt in Second Life an. Außerdem ist Katja, eine weitere polnische Studentin aus dem Projekt, vor Ort. Sie begrüßt die anderen kurz, redet dann aber nicht weiter mit ihnen und verlässt den Ort kurze Zeit später. Ich erkläre durch meinen Avatar die Verwendung des Voice-Chats und kündige eine Abweichung des Ablaufes an (vgl. Kapitel 5.3.1). Zudem erkläre ich, dass zunächst die Themen für die Gruppenarbeiten vergeben werden, um dann im Anschluss die Ausstellungen zu besichtigen. Parallel hierzu rede ich direkt mit Neo, da sein Rechner plötzlich nicht mehr reagiert. Ich stelle ihm einen weiteren Rechner zur Verfügung und er meldet sich neu an. Die Zwischenzeit überbrücken Anna und Michael mit Small Talk. Dann erscheint auch Neo wieder und nach einer kurzen Begrüßungssequenz beginnt die Gruppe elf Minuten nach Beginn des Treffens miteinander zu sprechen. Neo fragt Anna zu Beginn der Unterhaltung, ob er auch „eine Vorstellung von [ihr] bekommen” könne (Zeile 92). Offenbar ist die E-Mail, in der sich Anna vorgestellt hatte nur an Michael gegangen. Sie bejaht dies und fragt, ob er sie sofort haben möchte. Neo verneint und schlägt vor, dass sie ihm ihre Vorstellung später per E-Mail schicken könne. Nach einer kurzen Pause, die <?page no="275"?> 275 daraufhin entsteht, teile ich die Liste mit möglichen Referatsthemen 131 aus und fordere die Gruppe auf, ein Thema auszuwählen, welches sie gemeinsam in der nächsten Zeit erarbeiten werden. Neo eröffnet die Diskussion, indem er nach Vorschlägen der anderen fragt. Michael schlägt die Themen Familie oder Kirche vor, fast zeitgleich votiert Anna für Familie. Neo kommentiert dies mit „Ja, GUT”, was von Anna und Michael positiv bewertet wird. Datenauszug 56: Die dritte Gruppe entscheidet sich für ein gemeinsames Präsentationsthema Das schnelle Finden eines Themas und insbesondere das zeitgleiche votieren von Michael und Anna für das gleiche Thema erweckt den Anschein, dass die Gruppenmitglieder gleiche Interessen haben. Wurde die Wahl des gleichen Themas von den Gruppenmitgliedern so interpretiert, kann sich dies positiv auf die Gruppenatmosphäre auswirken kann. Diese Interpretation wird durch die zustimmenden Kommentare aller Gruppenmitglieder im Anschluss an die Themenfestsetzung (Zeilen 118, 119, 121) bestärkt, kann aber nicht eindeutig nachgewiesen werden. Nach der Themenwahl gebe ich der Gruppe einen Aufgabenzettel, der das weitere Vorgehen hinsichtlich der Referate erläutert, sowie Links zu einigen Materialien zum Thema für die DDR enthält. Ich stelle der Gruppe frei, ob sie noch Absprachen treffen oder mit den Besichtigungen beginnen möchte. Die 131 Jede Gruppe sollte am Ende des Projektes gemeinsam ein Thema kulturvergleichend aus ihren Heimatländern und der DDR darstellen, vgl. dazu ausführlicher Kapitel 5.3.1. <?page no="276"?> 276 Gruppe thematisiert nun die Aufteilung der einzelnen Teile der Gruppenarbeit, was in Datenauszug 57 abgebildet wird. Datenauszug 57: Neo und Anna formulieren ihr Einverständnis in ihrer Muttersprache Michael schlägt vor, die DDR im Referat gemeinsam zu erarbeiten, sowie die Aufteilung der weiteren Länder gemäß der Herkunft der Gruppenmitglieder vorzunehmen. Anna und Neo stimmen zu und Anna benutzt ihre Muttersprache, um ihre Zustimmung zu signalisieren. Sie erklärt Neo und Michael die Vokabel, worauf hin auch Neo das Wort „Super” in Chinesisch nennt und erklärt (Zeile 190). Hierdurch wirkt die Stimmung in der Gruppe gelöst und freundschaftlich. Verglichen mit dem Treffen der vorherigen Woche fällt auf, dass keine Beiträge ins Leere laufen: Der Gruppe gelingt es, stringent miteinander zu kommunizieren und schnell Entscheidungen zu fällen. Dies unterstreicht, dass die Mitglieder an der gemeinsamen Arbeit interessiert sind, so dass hierdurch wiederum die Gruppenatmosphäre verbessert wird. <?page no="277"?> 277 Nach diesem Austausch lenkt Anna das Thema wieder auf die Aufgabenstellung, indem sie nachfragt, ob sie jetzt über Familie sprechen. Ich erkläre, dass sie selbst entscheiden können, ob sie sich noch über das Thema austauschen möchten oder mit dem Ausflug für den heutigen Termin beginnen wollen. Michael entscheidet sich für den Ausflug und als von den anderen Teilnehmern hierauf keine Reaktion erfolgt, biete ich der Gruppe die Koordinaten des neuen Ortes an. Dann stellt Michael aber noch eine Frage zum Thema: Datenauszug 58: Das erste Gespräch zum Thema 'Familie' kollidiert mit dem Wechsel zur der Ausstellung Neo vergleicht seinen Eindruck von Familie in Deutschland mit Familie in China und stellt fest, dass das Verhältnis in China enger sei (Zeile 217f.). Er fragt Anna nach ihrer Einschätzung für Polen, wechselt dann aber wieder zum Thema Ausflug. Dieser erste Bericht über das Familienbild in den jeweiligen Ländern hätte eine gute Gelegenheit für interkulturelles Lernen geboten, die aber nicht vertieft wird. In Kapitel 8.1 wird diese Szene noch einmal aufgegriffen und diskutiert. <?page no="278"?> 278 Die Gruppenmitglieder scheinen generell sehr unsicher zu sein, wie sie im Folgenden vorgehen wollen. Neo stellt Fragen zum Ausflug, während Michael noch inhaltlich beim Thema Familie in Polen bleibt und hierzu Fragen an Anna formuliert. Er möchte wissen, ob Religion in den Familien in Polen eine große Bedeutung spielt. Es ist anzunehmen, dass Michaels Assoziation zu Polen ist, dass das Land verglichen mit Deutschland stärker religös geprägt ist, diese Annahme überträgt er auf das Gespräch der Partner und möchte seine Annahme von Anna verifiziert oder falsifiziert wissen. Im Anschluss entscheidet sich die Gruppe, den Ausflug zu beginnen und teleportiert sich an den neuen Ort, so dass keine Beschäftigung mit dem Thema ‚Familie’ mehr erfolgt. Dreißig Minuten nach Beginn des Treffens kommen Anna, Michael und ich am Mauermuseum an. Während wir auf Neo warten, erkläre ich Michael und Anna, dass in diesem Museum die Informationstafeln an einem simulierten Mauerstreifen angebracht sind. Hierauf reagiert Michael mit dem Ausspruch „Das ist ja ein richtiger Erinnerungsort! ! ! “ (Zeile 247). Das Konzept der Erinnerungsorte hatten wir bereits im Seminar erläutert (vgl. Kap 5.3.1) und Michael erkennt es offensichtlich in dieser Umgebung wieder. Durch diese Verknüpfung mit dem im Seminar besprochenen Konzept werden in Michael auch Erwartungen hinsichtlich des Ortes geweckt, die er mit einem Erinnerungort verbindet. Es wird erkennbar, dass Michael immer wieder den Zusammenhang zwischen dem projektbegleitenden Seminar und den Treffen in Second Life fokussiert. Schon im ersten Treffen thematisierte er die Charakteristika des Text-Chats, die ebenfalls zuvor im Seminar erläutert wurden. Vielleicht versucht er durch das Herstellen dieser Verknüpfungen einen intendierten Lerneffekt aus den Treffen in Second Life aufzudecken. Ich gebe Michael und Anna noch Hinweise zur Navigation und der Umgebung, währenddessen kommt auch Neo an und gemeinsam betritt die Gruppe die Ausstellung. Jeder läuft einzeln herum und zunächst findet keine Kommunikation statt. Anna steht sehr weit am Anfang der Ausstellung und scheint sich die erste Tafel sehr genau anzusehen. Neo läuft zunächst durch den Gang, bis dieser eine Biegung macht, was zunächst wie eine Sackgasse wirkt. Hier bleibt er stehen und schaut sich eine Tafel an. Michael steht mitten in der Ausstellung, läuft dann zu Neo. Anna schreibt in den Chat, dass sie gleich kommt. Sie signalisiert also scheinbar, dass sie realisiert hat, dass die Partner schon vorgegangen sind und dass gleich zu den Anderen dazu stoßen möchte. Dies kann als Ausdruck Annas gewertet werden, dass sie mit der Gruppe zusammenbleiben möchte, da die Gruppe ihr wichtig ist. Es wird sich gleich zeigen, dass diese naheliegenste Interpretation nicht die zutreffende ist. Im folgenden Datenauszug 59 steht mein Avatar zwischen Anna und den Avataren von Neo und Michael. Neo schreibt nach rund einer Minute Stille, <?page no="279"?> 279 dass es in Berlin das Museum Haus am Checkpoint’ gibt (Zeile 287). Als Michael hierauf nicht reagiert, frage ich Neo nach ca. 35 Sekunden, ob er schon einmal dort gewesen sei und weise darauf hin, dass dies später in der Ausstellung noch dargestellt sein wird. Neo bejaht die Frage, berichtet, dass er schon einmal dort war, und beschreibt den Besuch des Checkpoint Charlie als lohnenswert. Genauer geht er aber nicht auf den Besuch des Checkpoint Charlie ein. Kurz darauf fragt Michael „Konnten ost-berliner zeitweise ausreisen? ? ? echt? ? ? ” (Zeile 293). Die vielen Fragezeichen verstärken die Emphase, sie können entsprechend der geltenden Chat-Konventionen 132 als Verstärker betrachtet werden und zeigen, dass sich Michael sehr über diese Information wundert. Sie stand auf einer Tafel, vor der Michaels Avatar stand. Auf meine kurze Antwort „ja” erfolgt von Michael keine Reaktion mehr, sein Avatar läuft weiter und Neo folgt ihm. An der Nachbildung des Checkpoint Charlie angekommen, läuft Michael vor dem dargestellten Wachhäuschen hin und her, eventuell hat er Probleme, den schmalen Durchgang neben der heruntergelassenen Schranke zu passieren (vgl. Abb. 7). Datenauszug 59: Neo erwähnt kurz seinen Besuch am Checkpoint Charlie. Michael geht zurück zu Annas Avatar, der noch immer ganz am Anfang der Ausstellung steht, während Neo zurück bleibt. Michael spricht Anna nicht an, rund 20 Sekunden stehen beide Avatare schweigend voreinander. Ich weise Michael und Neo im direkten Gespräch darauf hin, dass die Ausstellung hinter dem Checkpoint Charlie noch weitergeht. Daraufhin entfernt Michael seinen Avatar wieder von Annas und läuft am Checkpint Charlie vorbei zum zweiten Teil der Ausstellung, wo er auf Neos Avatar trifft. Ich bleibe mit meinem Avatar bei Anna stehen und schreibe sie im Text- Chat an, sie reagiert aber nicht. Es ist daher anzunehmen, dass ihre Aussage „ ich komme gleich” (Zeile 284) zu Beginn des Betretens der Ausstellung darauf bezogen war, dass sie den Computer für kurze Zeit verlässt. Statt mit „ich komme gleich“ die Partner darauf hinzuweisen, dass Anna ihnen in Second Life nachfolgen möchte, hat sie vielmehr ihre Abwesenheit am Computer 132 Runkehl et al. (1998, 7) zeigen auf, dass Emotionen „durch Iteration von Zeichen markiert“ werden. <?page no="280"?> 280 signalisieren wollen. Der Satz war also nicht Ausdruck des Wunsches, bei den Partnern zu sein, sondern eine Ankündigung der Abwesenheit vom Treffen. Durch die uneindeutige Formulierung haben Neo und Michael Annas Abwesenheit aber nicht bemerkt. Als von Anna keine Reaktion erfolgt, bewege ich meinen Avatar zu den Avataren von Neo und Michael. Hier hat sich Michael zunächst alleine für rund 40 Sekunden ein Plakat angesehen, er geht dann zu dem Plakat, vor dem auch Neo steht, es erfolgt aber keine Kommunikation der Partner. Nach einer rund zweiminütigen Pause gebe ich allen drei Gruppenmitgliedern den Link zum nächsten Ort, den alle sofort annehmen, auch Anna. Die Gruppe erreicht gemeinsam in Minute 49 des Treffens den zweiten Ort, das Brandenburger Tor. Ich erkläre, dass hier das Jubiläum des Falls der Mauer gefeiert wird und verweise auf eine Videowand, auf der die Tagesschau des 9. Novembers 1989 gezeigt wird: In dem Beitrag wird darüber berichtet, wie die ersten Ostberliner die Grenze nach Westberlin passieren. Als ich Anna frage, ob sie das Video sehen kann, verneint sie dies. Auch mit Hilfe meiner technischen Unterstützung, die für vier Minuten die komplette Unterhaltung des Text-Chats ausmacht, kann sie das Video nicht abrufen, was vermutlich in einer zu langsamen Internetverbindung begründet ist. Michael und Neo sind in dieser Zeit still, vermutlich schauen sie sich die Tagesschau an. Nachdem Anna den Versuch aufgibt, das Video zu sehen, entfernt sich Michael von der Videowand; auch die Anderen verteilen sich auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor. Hierbei kommunizieren die drei Partner nicht miteinander. Ich fordere die Gruppe auf, zusammen zu bleiben, da eine Unterhaltung in Second Life nur mit Nutzern möglich ist, deren Avatare sich in Sichtweite des eigenen Avatars befinden. Meine Aufforderung wird von den Teilnehmern aber nicht beachtet. Erst indem ich mit meinem Abvatar die einzelnen Positionen der Gruppenmitglieder ablaufe und diese mir anschließed folgen, kann ich die Gruppe zusammenholen. Nach anhaltender Stille informiere ich die Gruppe über die unterschiedlichen Ausstellungsstücke, die sich auf dem Platz befinden - in diesem Fall wurde ein kleiner Streifen der Mauer nachgebaut, auf dem Namen von Opfern stehen, die bei dem Versuch, die innerdeutsche Grenze zu überwinden, starben. Auch hierzu erfolgt keine Reaktion der Gruppenmitglieder. Selbst in dem Moment, als sich die Umgebung um sie herum verändert und den Wandel des Mauerstreifens von der Zeit der Teilung zu heute simuliert, gibt es von der Gruppe keine Reaktionen oder Nachfragen. Erst als ich meine Ausführungen vier Minuten nach der eigentlichen Endzeit des Treffens damit unterbreche, dass ich der Gruppe mitteile, dass ihre Zeit schon um ist, erfolgt eine Reaktion der Gruppe (vgl. Datenauszug 60): Während die Teilnehmer auf meine bisherigen Ausführungen nicht rea- <?page no="281"?> 281 giert haben, beginnen alle sofort, sich voneinander zu verabschieden. Auf meine organisatorischen Hinweise zur nächsten Woche gibt es keine Rückfragen, lediglich meinen humorvollen Kommentar zur misslungenen Einreise in den Nachbau der DDR-Umgebung kommentiert Anna mit einem Smiley, der zeigt, dass sie meinen Kommentar wahrgenommen hat. Alle verabschieden sich sehr schnell voneinander und sind nach gut einer Minute abgemeldet. Datenauszug 60: Das Ende des zweiten Treffens von Gruppe 3 Dieses Treffen kann damit zusammengefasst werden, dass sich die einzelnen Mitglieder in der Mauerausstellung zu Beginn eigeninitiativ umsehen. Sie kommentieren in einzelnen Fällen auch, was sie sehen, werden aber zunehmend stiller und lassen sich zuletzt nur von mir durch die Ausstellungen führen. Vielleicht tragen auch meine Ausführungen dazu bei, dass die Gruppe nur noch ‚konsumiert’, statt sich über die Inhalte miteinander auszutauschen. Anna bleibt im Mauermuseum am Anfang stehen und zeigt nach ihrer Aussage „Ich komme gleich“ keine Aktivität mehr in der Umgebung. Als ich ihr allerdings den Link zum nächsten Ort gebe, nimmt Anna diesen sofort an, was darauf hinweist, dass sie - zumindest zu diesem Zeitpunkt - vor dem Computer sitzt. Die Gruppe geht nicht miteinander durch die Umgebung, vielmehr bewegt sich jeder individuell. Es kommt kein Austausch der Gruppenmitglieder über die Ausstellung zustande. Lediglich zu Beginn des Treffens, als das Thema der gemeinsamen Recherche gefunden und besprochen wird, beziehen sich die Gruppenmitglieder in ihren Aussagen aufeinander. Damit verhält sich die Gruppe wie auch die beiden bereits beschriebenen Gruppen (vgl. <?page no="282"?> 282 Kapitel 6.4.1.3 und Kapitel 6.4.2.3): Während die organisatorischen Absprachen erfolgreich getroffen werden können, sind die Gruppenmitglieder bei der Betrachtung der Ausstellung still und kommen nicht miteinander ins Gespräch. Auch nach der Ausstellung kommunizieren die Gruppenmitglieder nicht miteinander, weder über die Ausstellung noch über andere Themen. Dieses Verhalten lässt sich nur schwer erklären. Eventuell haben meine Ausführungen sie dazu veranlasst, immer passiver zu werden. Selbst die Verabschiedung am Ende des Treffens fällt sehr knapp aus. Die Gruppe hatte noch immer keine gemeinsamen Erfolgserlebnisse und nur wenige Momente, in denen eine positive Gruppenatmosphäre deutlich wurde (vgl. Kapitel 6.2). Die kurze Verabschiedung könnte ein weiteres Indiz dafür sein, dass die Gruppenbildung nicht erfolgreich verlaufen ist und sich die Teilnehmer nicht als Gruppe identifizieren. Um die Einschätzung des Treffens aus Teilnehmerperspektive dazustellen, soll nachfolgend ein Auszug aus Neos Lernertagebuch zitiert werden: Nachdem wir uns begrüsst haben, sollen wir zusammen ein Thema für unsere Präsentation auswählen. Wir stimmen sehr zügig überein — die Familie und Partnerschaft in DDR. Anschliessend haben wir einen Ausflug von einem Museum gemacht, wo es eine historische Ausstellung von DDR gibt. Ich erinnere mich an das Museum “Haus am Checkpoint” in Berlin. Ich finde es sehr interessant, durch SL ein Museum zu besuchen. Und es gibt auch Video, das die damalige Situation des Mauerfalls dokumentiert. Das zweite Treffen ist deswegen nicht so langweilig und wir haben in SL immer etwas zu tun. Es ist auch bemerkenswert, als ich nach dem Treffen in Realität auf der Strasse ging, bekam ein Gefühl, dass ich mein Avatar bin! Merkwürdig! ! ! 133 Freue mich auf das Nächstmal (Lerntagebuch Neo, 2. Treffen) Es wird deutlich, dass Neo die Besichtigung des Museums als positiv bewertet, was im Widerspruch zu der geringen Kommunikation zu stehen scheint. Eine mögliche Erklärung dieses Phänomens erfolgt in Kapitel 7.3.2. Zur Gruppensituation äußert sich Neo aber nicht. 133 Diese interessante Feststellung Neos bezeugt, dass er sich bei der Nutzung von Second Life sich so stark auf de virtuelle Welt konzentriert hat, dass er sich in diese hineinversetzt fühlte (Immersion, vgl. Kapitel 7.3.1.). Offenbar fiel es ihm direkt nach dem Treffen schwer, wieder zwischen realer und virtueller Welt zu unterscheiden, was zu dem Phänomen eines zeitweiligen Vermischens beider Welten geführt hat. <?page no="283"?> 283 6.4.3.3. Das dritte Treffen von Gruppe 3 Beim dritten Treffen der Gruppe befindet sich keiner der Gießener Studierenden in meinem Büro. Es war ausgemacht, dass Neo zu diesem Termin in mein Büro kommt. Als sein Avatar in Second Life erscheint, entschuldigt sich Neo mit der Aussage „Eigentlich moechte mein Computer holen, aber habe einfach keine Lust mehr, wieder auszugehen” 134 . Neo hält sich damit nicht an die Verabredungen bezüglich des Projektes und erklärt dies lediglich damit, keine Lust gehabt zu haben. Verglichen mit den ersten Treffen, in dem Neo Impulse gibt und sich für ein erfolgreiches Gespräch der Gruppe verantwortlich fühlt, scheint hier ein deutlicher Motivationsverlust auf seiner Seite erkennbar zu sein. Zu Beginn des Treffens begrüße ich die drei Teilnehmer und erkläre, dass in der DDR-Umgebung nur Text-Chat vorhanden ist. Ich bitte sie daher, dass sie Dinge bezüglich ihres Referates vor dem Betreten der Umgebung besprechen sollen, da sie dann hierzu auch den Voice-Chat benutzen könnten. Die Gruppe geht daraufhin zur Planung des Referates über, benutzt aber weiterhin den Text-Chat. Zunächst wenden sich die Teilnehmer mit organisatorischen Fragen an mich und erfragen den genauen Ablauf der Präsentationssitzung. Neo will beispielsweise wissen, ob sie für die Präsentation auch den Voice-Chat verwenden sollen oder ob während der Präsentationen gar nicht gesprochen werden soll. Ich bestätige, dass der Voice-Chat während der Präsentation verwendet werden soll und verweise dabei noch einmal auf die kurze Zeit, die jede Gruppe für ihre Präsentation hat. All diese Informationen waren bereits in der Aufgabenstellung gegeben. Dennoch thematisiert die Gruppe die Organisation der Präsentation noch einmal ausführlich. Nachdem die organisatorischen Fragen geklärt sind, entsteht eine Pause von über anderthalb Minuten, bis ich schließlich frage, ob die Gruppe noch etwas zu besprechen hat oder ob wir die DDR-Simulation betreten wollen. Hieran schließt sich eine kurze Phase an, in der Neo versucht seinen Voice- Chat zu benutzten, woran er allerdings scheitert. Daraufhin schreibt Neo im Text-Chat „Anny, dann machst ein PPT ueber Poland, wir machen ueber Deutschland und China, ok? ” Er spricht Anna erstmalig mit einer Koseform ihres Namens an und möchte die Arbeitsteilung der drei Partner festlegen. Nachdem von mir erneut auf die kurze Dauer des Vortrags hingewiesen wurde und ich betone, dass auch die DDR behandelt werden soll und es vor allem um die Vergleiche zwischen den Ländern geht, vertiefen sich die Gespräche der Gruppenmitglieder im Text-Chat: 134 Dies weist möglicherweise auf fehlende Motivation von Neo im Bezug auf das gesamte Projekt hin, was aber nicht nachgewiesen werden kann. <?page no="284"?> 284 Datenauszug 61: Gruppe 3 handelt die Erstellung der Präsentation aus, danach betreten sie die DDR-Umgebung Auch im in Datenauszug 61 gezeigten Gesprächsausschnitt steht nicht der Inhalt, sondern die Organisation der Präsentation im Mittelpunkt der Unterhaltung. Die Gruppe versucht, sich über den Aufbau der Präsentation zu unterhalten. Auffällig ist, dass sich hier alle am Gespräch beteiligen und auch relativ rasch Beiträge liefern, was bei dieser Gruppe sonst bislang selten vorkam. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass alle Gruppenmitglieder sehr engagiert in die Aushandlung des Präsentationsaufbaus involviert sind. Es ist zu vermuten, dass sie der Präsentation große Bedeutung beimessen und deren Aufbau daher gründlich gemeinsam planen möchten. Nach meinem Hinweis, dass die nächste Woche thematisch für die Besprechung der Präsentation reserviert ist und dass die Gruppe dann, wenn möglich, den Voice-Chat benutzen soll, schlägt Neo vor, dass die Gruppe nun in die DDR-Umgebung gehen könne. Anna ist einverstanden und ich wiederhole die Aufgabenstellung, die die Gruppe bereits im Blog und auf dem Aufgabenzettel in Second Life bekommen hat, noch einmal im Text-Chat. Durch Kommentare und Zustimmung zu meinen Aussagen machen Neo und Anna deutlich, dass sie die Aufgabe verstanden haben, Michael reagiert nicht auf meine Ausführungen. Am Übergang zur DDR-Umgebung bleiben alle Avatare zusammen stehen. Als Erster ergreift Neo das Wort (vgl. Datenauszug 62): <?page no="285"?> 285 Datenauszug 62: Neo ist enttäuscht darüber, gefahrenlos die Grenze überqueren zu können Da an der Schranke, die sich am Eingang der DDR-Wohnsiedlung befindet, ein Warnschild angebracht ist, zögert Neo zunächst, die Grenze zu übertreten. Nachdem Michael und ich ihn dazu auffordern, weist er zwar auf das Schild hin, geht dann aber mit der Gruppe in die Umgebung. Neo ist in der gesamten Kohorte der einzige, der hinsichtlich des Warnhinweises zögert. Man kann spekulieren, ob das evtl. mit seiner chinesischen Sozialisation zusammenhängt und er ein erhöhtes Bewusstsein für Verbote und Gefahren aufweist, in jedem Fall scheint er aber enttäuscht, dass das Passieren der Grenze ohne weiteres möglich ist, was anhand der letzten Äußerung deutlich wird: „Man darf doch ruhig gehen. bloed” (Zeile 143). Zu Beginn der Besichtigung der Umgebung ist die Interaktion der Teilnehmer sehr hoch, vor allem Neo umschreibt, was er sieht und stellt Fragen hierzu. Neo scheint sich sehr stark mit der Umgebung auseinanderzusetzen und reflektiert alles, was er seiht. Dadurch scheint Neo ganz in der Simulation zu sein, was auch an folgender Anmerkung deutlich wird (vgl. Datenauszug 63): Datenauszug 63: Neo weist auf ihre fehlenden Pässe hin Schließlich betritt die Gruppe den Nachbau von Berlin Marzahn. Hinter der Grenze erinnere ich sie daran, dass sie sich nun umschauen und die in der Aufgabenstellung beschriebenen Gebäude suchen sollen. In diesem Moment wird auch Anna wieder aktiv. Sie fragt nach, ob sie die Kaufhalle finden müssen und weist auf das Café hin. Sie hat bereits beide Gebäude gefunden, da sich diese auch unmittelbar am Eingang befinden. Neo ist währenddessen noch beunruhigt darüber, dass er einen Ton gehört hat, von dem er vermutet, dass eine Waffe abgefeuert wurde. Auch diese Anmerkung ist meines Erachtens ein Indiz dafür, dass Neo sich sehr stark in die virtuelle Umgebung hinein versetzt. Ich beruhige Neo darauf hin und erkläre, dass das Geräusch von einem Trabbi kam, der mit lautem knattern vorrübergefahren ist. <?page no="286"?> 286 Nachdem Michael Anna darin bestätigt, dass auch die Kaufhalle gefunden werden muss, geht die Gruppe dennoch zunächst ins Café. Mit dieser Bestätigung nimmt Michaels Beteiligung an der Gruppenaufgabe erstmals wieder zu, bislang hielt er sich eher im Hintergrund. Michael übernimmt eine Führungsrolle, indem er die Aufgabenstellung bestätigt und Anna hierdurch Sicherheit gibt. Im Café bewegt sich jeder wieder für sich. Nach knapp zwei Minuten bricht Neo das Schweigen und weist seine Partner auf den hinteren Bereich des Cafés hin, in dem sich eine Bühne mit Rednerpult und Beflaggung befindet: Datenauszug 64: Gruppe 3 tauscht sich über die Bühne im Café aus Neo zieht Parallelen zwischen der DDR und China, indem er auf die Betonung des Vaterlandes hinweist, die durch die Banner an der Bühne deutlich wird. Diese Beobachtung Neos wird von den Partnern aber nicht aufgegriffen. Vielmehr berichtet auch Michael von Ähnlichkeiten zu seinem Heimatland: Er befindet, dass die Beflaggung und die Betonung des Vaterlandes auch den Bräuchen in Deutschland („bei uns”) entspricht. Direkt an Michaels Einschätzung folgt Neos Befremden über die Bühne, die sich in einem Café befindet, was auch Anna verwundert. Sie verlässt diese beobachtende Ebene aber umgehend wieder, indem sie nach Eis fragt, dass sie im Café offensichtlich erwartet hat. Neo kommt noch einmal zurück zum Aspekt des Vaterlandes und führt aus, dass es darum gehe, dass jeder dem Vaterland „teue” sein solle (Zeile 180), er meint vermutlich „treu”. Neo artikuliert, welche Bedeutung für ihn der Begriff ‚Vaterland’ umfasst. Dieser Impuls von Neo hätte die anderen Gruppenmitglieder dazu einladen können, nicht nur zu benennen, was im Café zu finden ist, sondern sich auch mit der Bedeutung des Vorgefundenen auseinanderzusetzen. Doch auf Neos Anmerkungen gehen die anderen nicht ein. Michael wundert sich vor allem darüber, dass sich keine Menschen in der Umgebung befinden. Noch einmal erkläre ich ihnen, dass <?page no="287"?> 287 diese Umgebung noch nicht offiziell eröffnet ist und daher niemand ohne weiteres hier online sein kann. Im Anschluss an die oben dargestellte Szene kommt kein Gespräch mehr zustande, da Neo unmittelbar danach vorschlägt, weiterzugehen, was die anderen auch sogleich tun. Sie gehen zielstrebig zur Kaufhalle, die sie ja vorher ebenfalls schon entdeckt hatten. Jeder Teilnehmer betritt einzeln die Kaufhalle. Anna verkündet sodann, dass sie Schokolade kaufen möchte und Neo stimmt ihr zu, da er Hunger hat. Neben der Suche nach Eis im Café ist dies nun schon das zweite Mal, das dem Anna ihre realen Bedürfnisse auf die virtuelle Welt projiziert. Nachdem alle Gruppenmitglieder die Kaufhalle betreten haben, sammeln sie sich nach rund 20 Sekunden vor einem Regal. Michael schreibt „echt sowjetische panzer...” (Zeile 206), er erkennt aber selbst schnell, dass im Regal keine Panzer liegen, er korrigiert sich: „nein. das ist ein grammophon glaub ich” (Zeile 210), womit er recht hat. Unterdessen hat sich Anna von der Gruppe entfernt. Sie bleibt vor einem Regal stehen, in dem sich gelbe Dosen mit braunem Deckel befinden. Sie schreibt in den Text-Chat „Schokolade! ! ! ! ! ! ! ! ! ! "D” (Zeile 211), worauf hin die beiden Gießener Studenten mit ihren Avataren zu Annas Avatar laufen. Gemeinsam stehen die Avatare vor dem Regal. Michael scheint genauso begeistert von der Schokolade zu sein wie Anna, was er durch freudige Ausrufe und zahlreiche Ausrufezeichen zum Ausdruck bringt (vgl. Zeile 214). Erst, als ich die Gruppe darauf hinweise, dass sie sich die Waren im Regal genauer ansehen sollen, stellt Michael fest, dass es sich um Sirup, genauer um Zuckerrübensirup, handelt. Im Anschluss bemerkt Neo die geringe Auswahl an Waren (vgl Datenauszug 65): Datenauszug 65: Neo weist auf das geringe Warenangebot in der DDR hin Damit setzt er das Wissen, das er von der DDR hat, in Bezug zu den Dingen, die er sieht. Neo umschreibt die Mangelwirtschaft in der DDR und gibt an, dass „immer” weniger angeboten wurde als benötigt wurde. Anna stimmt ihm zu, sie geht aber wie auch Neo nicht darauf ein, woher sie dieses Wissen hat und vertieft ihre Zustimmung nicht. Michael reagiert auf die Aussage Neos gar nicht, so dass sich die Gruppe anschließend wieder verteilt und einzeln durch die Kaufhalle läuft. Die Partner beschreiben, was sie sehen, wobei Michael die einzelnen Artikel hinsichtlich ihrer Verfügbarkeit bewertet (vgl. Datenauszug 66): <?page no="288"?> 288 <?page no="289"?> 289 Datenauszug 66: Gruppe 3 tauscht sich aufgrund der Kaufhalle über die Wirtschaft der DDR aus Michael kommt an einem Regal vorbei, in dem sich Dosen mit ‚Florena Creme’ stapeln. Er beschreibt diese als „echte” weiße Creme, eventuell will er damit auf die Marke verweisen, die es noch heute gibt. Die Cola, die er im Anschluss sieht, bezeichnet er als „Luxus”, womit er darauf verweist, dass es diese in der DDR seiner Einschätzung nach nicht jeden Tag gegeben hat. Dies verstärkt Michael, indem er die Frage formuliert, ob diese Waren für alle Bürger verfügbar waren. Die anderen Gruppenmitglieder gehen auf Michaels Bobachtung und Nachfrage nicht weiter ein, und gemeinsam verlässt die Gruppe die Kaufhalle und bleibt vor ihr stehen. Vor der Kaufhalle setzen die Gruppenmitglieder ihr Gespräch über das Gesehene fort. Neo weist darauf hin, dass es keine Werbung für die Produkte gibt. Michael erklärt diesen Umstand damit, dass es in der DDR keine Marktwirtschaft gegeben habe (Zeile 239). Neo bekräftigt diese Einschätzung und zieht Parallelen zur Situation in China zur damaligen Zeit (Zeile 240). Als Michael daraufhin nachfragt, ob es in China auch keine Werbung gegeben habe, verneint Neo dies und erklärt „wir bekommen Zettel von Regierung und damit sachen abholen” (Zeile 244f.). Obwohl er zu jung ist, um diese Phase aktiv miterlebt zu haben (später betont er explizit, dass dies zur Zeit seiner Großeltern der Fall war), spricht Neo von wir und betont damit seine Zugehörigkeit zum chinesischen Volk. Er <?page no="290"?> 290 beschreibt, dass es damals in China Essensmarken gegeben hat, für die man sich Sachen „abholen” konnte (Zeile 245). Nun bringt sich auch Anna wieder ins Gespräch ein und berichtet, dass es in Polen auch derartige Essensmarken gegeben habe (Zeile 251) - auch sie spricht dabei von „wir“, definiert den Zeitraum, auf den sie sich bezieht aber nicht näher. Auch Michael gibt an, dass es in der BRD nach dem 2. Weltkrieg (Zeile 254) derartige Essensmarken gegeben habe, auch er spricht von „wir”. Die Teilnehmer übertragen hier erstmals die Dinge, die sie in der Umgebung sehen, auf ihr Wissen bezüglich der Zeit, in die sie die besichtigte Umgebung einordnen. Statt das Abgebildete nur zu benennen, hinterfragen sie es und beziehen es auf die reale Welt. Dabei entdecken sie, dass es in all ihren Ländern zu einem bestimmten Zeitpunkt eine ähnliche Situation gegeben hat: die Vergabe von Nahrungsmitteln gegen Essensmarken. Allerdings vertieft an dieser Stelle keiner der drei dieses Thema, so dass die Feststellung nicht ausgeführt wird. Das ist bedauerlich, da hier erhebliche Unterschiede festzustellen gewesen wären, die auch die unterschiedlichen politischen Systeme Kapitalismus und Kommunismus illustriert hätten. Es ist zu vermuten, dass die Gruppe hierüber entweder kein detailliertes Wissen besitzt oder es aber nicht für nötig hält, das Thema weiter zu vertiefen, da alle Gruppenmitglieder die Verteilung von Essensmarken kennen und sie nicht annehmen, hierbei interessante Details festzustellen. Die Szene bietet großes Potenzial zu interkulturellem Lernen, welches aber nicht vertieft wird. Dieser Umstand tritt auch in anderen Gruppen und in den unterschiedlichen Umgebungen auf. Er wird in Kapitel 9 systematisch behandelt. Neo verlagert das Thema nun wieder zurück auf die fehlende Werbung und führt aus, dass es, wenn es keine Marktwirtschaft gibt, auch keine Werbung gebe. Als Michael den Grund hierfür erfragt, geht Neo nicht explizit darauf ein, erwähnt aber die fehlende Konkurrenz und bewertet diese als „nicht so gut” (Zeile 260). Hier stimmt Michael ihm zu und führt aus, dass es bei fehlender Konkurrenz weniger Innovationen gebe. Fast zeitgleich erscheint auch der Beitrag von Neo, in dem er schreibt, dass sich Produkte nicht weiter entwickeln, wenn es keine Konkurrenz gibt. Diese Überscheidung kommentiert Neo anschließend mit „G E N A U” (Zeile 264). Die Großschreibung und Dehnung des Wortes sollen entsprechend der Konventionen eines Chats die Emphase der Zustimmung verdeutlichen (vgl. Runkehl et al 1998, 77). Anna hat sich diesbezüglich nicht ins Gespräch eingebracht. Neo versucht, sie einzubeziehen, indem er Anna fragt, wie das Wirtschaftssystem in Polen nach dem 2. Weltkrieg ausgesehen habe. Hierauf antwortet Anna nicht, zudem hat sie ihren Avatar während des Gesprächs aus der Gruppe entfernt hat. Damit ist unklar, ob Anna die Beiträge der Gruppenpartner überhaupt noch <?page no="291"?> 291 lesen konnte, da diese nur dann lesbar sind, wenn sich der jeweilige Avatar in der näheren Umgebung befindet, oder ob sie sich bewusst dazu entschied, die Anfrage nicht zu beantworten. Anna schweigt auch weiterhin, als Neo die Frage wiederholt. Dies könnte darauf hin deuten, dass sie die Frage möglicherweise nicht realisiert hat. Michaels Beiträge beschäftigen sich noch immer mit dem Thema Konkurrenz und Innovationen. Er führt aus, dass bei fehlender Konkurrenz alles still stehe (vgl. Zeile 261ff.). Michael wirft anschließend die Frage auf, ob man den Fortschritt brauche, diese Frage bleibt aber unbeantwortet. Nachdem sowohl Michael als auch Neo auf ihre Fragen keine Reaktionen der Partner erhalten haben, schlägt Neo nach etwas mehr als einer Minute vor, dass die Gruppe nun den Kiosk aufsuchen könnte. In dem Moment reagiert Anna und schreibt „ich bin schon da” (Zeile 275). Damit teilt sie entweder mit, dass sie wieder am PC ist oder, was wahrscheinlicher ist, da ihr Avatar zu den Gruppenmitgliedern zurück gelaufen kommt, dass sie bereits am Kiosk gewesen war, während sich Michael und Neo über Konkurrenz unterhalten hatten. Michael und Neo laufen in die Richtung, aus der Anna gekommen ist, Anna bleibt zurück. Sie schreibt: „ich habe gerade eine Party” (Zeile 280). Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Anan mit dem vorangegangenen „Ich bin schon da“ (Zeile 275) doch darauf verweisen wollte, dass sie zuvor nicht am Computer war, da sie ihre Gäste empfangen hat. Als Anna ihren Partnern nicht folgt, kehrt Michael um, läuft zurück zu Anna und fragt sie, ob sie sich verlaufen habe. Auch Neo kommt zu den beiden zurück. Er fordert sie auf „folg mir” (Zeile 286, Datenauszug 67) und geht zurück zum Kiosk, woraufhin Anna und Michael ihm folgen. Nach 2 Minuten Stille beschreibt Neo, was er sieht und nennt die Titel der Zeitungen: <?page no="292"?> 292 Datenauszug 67: Anna verlässt die Gruppe vorzeitig aufgrund ihrer Party Auch Michael weist darauf hin, dass man eine Berliner Zeitung am Kiosk bekommen kann (Zeile 289). Anna geht auf die Ausführungen der Partner nicht näher ein sondern erklärt, dass sie gehen müsse, da sie eine Party habe (Zeilen 290 und 294). Hierauf folgt eine Sequenz, in der alle relativ schnell nacheinander Beiträge produzieren, was auf eine höhere Engagiertheit hinweist. Ihre Partner reagieren auf Annas Ankündigung zuerst sehr überrascht. Neo macht noch eine humorvolle Bemerkung, aus der sich aber auch Enttäuschung lesen lässt. Auch Michael äußert zwei Mal „schade! ! ” (Zeile 299 und 301), was zeigt, dass auch er enttäuscht ist. Neo schlägt vor, dass die Gäste ihr in Second Life zuschauen können, aber Anna geht auf die Beiträge ihrer Partner nicht mehr ein. Sie verabschiedet sich noch kurz mit „tschues” (Zeile 304) und ist unmittelbar danach offline. Auch ich bin sehr überrascht darüber, da Anna ihr vorzeitiges Verlassen des Treffens im Vorfeld nicht angekündigt hat und der Termin noch 20 Minuten andauern sollte. Ich fasse Annas Verhalten dahingehend auf, dass ihr das Treffen nicht wichtig war. Ich kenne den Umstand der Party nicht und es verwundert mich, dass sie nicht im Vorfeld (beispielsweise im Treffen der vorangegangenen Woche) versucht hat, einen anderen Termin zu finden, wenn sie von der Party wusste. Auch dass Anna nicht zu Beginn des Treffen darauf hinweist, dass sie das heutige Treffen früher verlassen muss, verstärkt diese Annahme. Es wirkt, als wenn Anna spon- <?page no="293"?> 293 tan Besuch bekommen habe und diesen der Gruppenarbeit vorzieht. Michael und Neo reagieren auf Annas vorzeitiges Verlassen des Treffens nicht, so dass ihre Reaktionen nicht interpretiert werden können. Nachdem Anna gegangen ist, sind Michael und Neo sind über eine halbe Minute still. Ich interpretiere dies damit, dass sie am Kiosk keine Beobachtungen mehr miteinander teilen wollen und schlage Michael und Neo vor, dass wir den letzten Ort, das Wohnhaus, nun ohne Anna besichtigen 135 . Neo merkt noch an, dass er die Auswahl der Zeitungen am Kiosk als sehr gering erachtet. Michael geht hierauf nicht weiter ein und gemeinsam gehen wir zum Wohnhaus. Wir betreten zuerst die Wohnung, in der eine Kamera am Fenster steht (vgl. Datenauszug 68). Datenauszug 68: Michael und Neo thematisieren die Überwachung durch die Stasi Neo fragt, ob es sich hierbei um eine Wohnung oder ein Büro handle und weist auf die Kamera hin. Er fragt: „Bewachtung? “ (Zeile 321), was Michael nur mit einem „weiß net...“ (Zeile 322) kommentiert. Da Michael auf Neos 135 Im Nachhinein betrachtet bewerte ich diesen Impuls als verfrühtes Eingreifen. Es ist möglich, dass Neo und Michael aufgrund der unerwarteten Beendigung des Treffens durch Anna verunsichert sind und darauf warten, wie ich als ihre Seminarleiterin Annas Verhalten bewerte. Womöglich erwarten sie von mir nun eine Aussage dazu, welche Konsequenzen Annas Verlassen auf die Aufgabenstellung hat. In der Situation erschien es mir wichtig, Neo und Michael zu motivieren, das Treffen weiter fortzuführen und ihre Motivation durch einen neuen Impuls zu verstärken. <?page no="294"?> 294 Impuls nicht weiter reagiert, erläutere ich, dass es sich hierbei um einen Beobachtungsposten der Stasi gehandelt habe. Neo vermutet, dass die Menschen, die Zeitungen gekauft haben, überwacht wurden, da das Fenster in Richtung des Kiosks zeigt. Diese Interpretation von Neo taucht in den anderen Gruppen nicht auf. Wie schon zu Beginn des Treffens, bei dem Neo es nicht wagt, über die Grenze zu treten, fällt auch in dieser Sequenz seine erhöhte Sensibilität für mögliche Gefahren auf. Sein Herkunftsland China könnte hierfür einen Erklärungsansatz liefern, zudem zeigt sich bei Neo ein erhöhter Grad an Immersion (dem Phänomen des sich eingebunden Fühlens in virteullen Welten, vgl. Fußnote 135), durch den sich dieses Gefahrenbewusstsein ebenfalls entwickelt haben könnte. Michael geht auf Neos Anmerkung nicht ein, sondern will von mir weitere Informationen zur Überwachung durch die Stasi erhalten. Ihm wird klar, „ wie wenig freiheit” (Zeile 334) die Menschen in der damaligen DDR durch diese Überwachungen hatten. Diese spontane Äußerung begründet er aber nicht oder führt sie weiter aus, sondern läuft mit Neo in die nächste Wohnung. Deren rote Wandfarbe sieht Michael als „Farbsymbolik” (Zeile 351). Neo stimmt Michaels Beobachtung zu, beide erläutern dies aber nicht. Generell ist die Kommunikation nun sehr reduziert. Neo und Michael laufen gemeinsam durch die letzten Wohnungen ohne viel miteinander zu reden, sie machen vereinzelt Bemerkungen zu den Dingen, die sie sehen. Diese Bemerkungen werden vom Anderen aber nicht aufgegriffen. Im Anschluss verlassen wir das Haus und auch Neo und Michael bekommen einen Trabbi (vgl. Kapitel 5.3.1), mit dem sie noch rund 2 Minuten herum fahren, bis ich das Treffen für beendet erkläre. Beide geben positive Rückmeldungen zu diesem Treffen. (vgl. Datenauszug 69) Wir verabschieden uns voneinander, woraufhin Neo und Michael sich ebenfalls abmelden. Datenauszug 69: Neo und Michael bewerten das Treffen am Ende der Sitzung positiv In diesem Treffen findet zu Beginn ein Gespräch zwischen allen Gruppenteilnehmern statt. Zwar haben Neo und Michael die meisten Redeanteile, Anna ist aber im Gespräch involviert und liefert immer wieder eigenmotiviert Beiträge. Sie kommentiert die Dinge, die sie sieht und bezieht die dargestellten Situationen auch auf Polen. Insbesondere im Supermarkt, in dem die Gruppe über die Dinge spricht, die sie sieht, agiert sie als Gruppe (vgl. Kapitel 6.1 und <?page no="295"?> 295 6.2). Sie gehen auf die Beiträge der Anderen ein, stellen Nachfragen und beantworten die Fragen der Partner. Die Stimmung ist positiv, die Teilnehmer machen gemeinsam humorvolle Bemerkungen, als Anna Schokolade kaufen möchte, so dass die Gruppenatmosphäre in diesem Moment als positiv bezeichnet werden kann. Vor der Kaufhalle nimmt Annas Beteiligung ab. Dies findet ihren Höhepunkt darin, dass sie sich nach kurzer Erklärung, sie habe Gäste, abmeldet. Annas vorzeitige Beendigung des Treffens wird nach ihrem Ausscheiden von Neo und Michael nicht thematisiert. Gemeinsam laufen die Gießener Studierenden weiter durch die Ausstellung. Hierbei ist nun aber eine stark reduzierte Kommunikation zwischen den beiden festzustellen. Beide erwähnen zwar weiterhin, was sie sehen, die Beobachtungen werden aber nicht mehr ausgeführt und vom Partner entweder nur mit knappen Worten zustimmend oder gar nicht kommentiert. Durch die verminderte Kommunikation werden spannende Anmerkungen wie Neos Mutmaßungen zur Überwachung des Zeitungskiosks nicht weiter verfolgt - im Gegensatz zur Diskussion um die Rolle des Wettbewerbs für die wirtschaftlihce Entwicklung eines Landes. Neo und Michael haben sich während des ganzen Treffens gleichermaßen stark als Gruppenführer hervorgetan: Während Neo das Gespräch zu Beginn in Gang hielt, gab Michael Hinweise auf die Aufgabenstellung. Beide Gießener Studierenden formulierten zudem Nachfragen, insbesondere an Anna, um sie zum Gespräch zu motivieren. Als Anna die Gruppe verlässt, agieren sie gleichberechtigt miteinander, so dass eine spezifische Führerrolle keinem zugewiesen werden kann (vgl. Kaptitel 6.3). Womöglich ist die Veränderung in Michaels und Neos Kommunikationsverhalten darauf zurück zu führen, dass sie beide Anna als ‚Lernerin‘ betrachtet haben, für die sie diese Besichtigungen unternehmen. Indem Anna fehlt, ist auch ihr Grund für die Auseinandersetzung mit der Umgebung nicht mehr gegeben, weshalb Neo und Michael sich nicht mehr derart engagiert mit der Umgebung beschäftigen. Es ist zudem zu vermuten, dass das unangekündigte Verschwinden von Anna auf ihre Partner negative Auswirkungen gehabt hat. Da sie sich nicht weiter erklärt und gegen die Vereinbarung der Gruppe bezüglich des Zeitraumes des Treffens verstößt, fühlen sich Michael und Neo von Anna vielleicht nicht wichtig genommen, was ihre Motivation bezüglich des Treffens ebenfalls verringert haben könnte. Diese Vermutungen werden allerdings weder durch Neos, noch durch Michaels Lernertagebuch bestätigt, in denen beide lediglich sehr faktenlastig beschreiben, was sie gesehen haben, ohne auf die Gruppen-situation einzugehen. Diesbezüglich ist auch zu bedenken, dass Anna die Tagebucheinträge ihrer Partner lesen konnte, was Michael und Neo vielleicht davon abhielt, Aussagen zu Annas Verhalten zu machen. Aufgrund der fehlenden Angaben Michaels und Neos kann keine eindeutige Aussage <?page no="296"?> 296 zur Beziehung von Neo und Michael zu Anna nach dem dritten Treffen gemacht werden. 6.4.3.4. Das vierte Treffen von Gruppe 3 Für das letzte Treffen der Gruppe ist Michael in mein Büro gekommen. Nachdem alle Gruppenmitglieder sich am Treffpunkt eingefunden haben, begrüßen sich die Teilnehmer gegenseitig per Text-Chat. Meine Frage, ob alle Teilnehmer den Voice-Chat nutzen können, wird von Anna und Michael bejaht. Neo reagiert hierauf nicht, meldet sich aber kurz darauf mit „bin wieder da” (Zeile 21) im Text-Chat, offensichtlich war er kurz nicht am PC und hatte die Frage daher nicht gelesen. Während ich noch immer zu klären versuche, ob die Gruppe den Voice- Chat benutzen kann, möchte Michael schon inhaltlich einsteigen und fragt nach der thematischen Ausrichtung des Treffens. Neo antwortet Michael via Text-Chat, dass sie über die Präsentation sprechen werden und widmet sich dann der Inbetriebnahme des Voice-Chats. Ich gebe ihm technische Hilfestellung und erkläre Neo auf sein Nachfragen, dass er mit beiden Partnern gleichzeitig reden kann. Neo hatte angenommen, das jeweils nur einer ihn hören kann. Die Funktion des Voice-Chats ist ihm also auch nach vier Wochen Projektdauer und einer umfangreichen Einführung zu Beginn nicht klar. Dies kann damit erklärt werden, dass die Gruppe bislang nur den Text-Chat verwendet hat. Neo meldet sich nach meinen Ausführungen zum Voice-Chat ab, kommt aber gleich wieder online. Womöglich hatte er Verbindungsprobleme. Als er wieder da ist, gebe ich der Gruppe noch einmal durch den Text-Chat die Aufgabenstellung. Michael fasst dies wie folgt zusammen: „wir vergleichen und diskutieren unsere ergebnisse? ” (Zeile 64). Ich weise noch einmal darauf hin, dass es in der thematischen Auseinandersetzung um die vier Länder BRD, DDR, Polen und China geht, dann wechselt die Gruppe in den Voice-Chat. <?page no="297"?> 297 Datenauszug 70: Gruppe 3 plant den Aufbau ihrer Präsentation Im in Datenauszug 70 dargestellten Gesprächsausschnitt beginnt die Gruppe nicht mit der inhaltlichen Auseinandersetzung, sondern diskutiert zunächst die organisatorischen Aspekte und den Umfang der Präsentation. Diese sind der Gruppe durch die Aufgabenstellung und vergangene Gespräche bereits bekannt, zudem ist in der Aufgabenstellung angegeben, dass die Gruppe sich zunächst über ihre Ergebnisse austauschen soll und sich erst nachdem sie die Ergebnisse miteinander verglichen hat der Gestaltung der Präsentation widmen soll. Nachdem Michael klar gestellt hat, dass insgesamt nur acht oder neun Folien zur Verfügung stehen, teilen die Partner diese nicht nach Ländern, sondern zwischen den beteiligten Personen auf, so dass jeder drei Seiten gestalten soll. Die Verteilung auf die jeweiligen Lnder wird nicht thematisiert. Nachdem Michael die Einschätzung abgibt, dass sie ihr recherchiertes Material eher kürzen müssen fragt er, ob sie dies gemeinsam aushandeln wollen oder „Jeder für sich” (Zeile 89). Anna versteht die Frage nicht und bittet um eine Erklärung, hierauf gehen die anderen Gruppenmitglieder allerdings nicht ein. Neo und Michael diskutieren weiter darüber, wie sie bezüglich der Kürzungen verfahren, Neo schlägt vor alles im Blog hochzuladen. Michael ver- <?page no="298"?> 298 wirft dies und schlägt vor, dass jedes Gruppenmitglied eigenständig drei Folien erstellt. Er begründet dies damit, dass dieses Verfahren „praktischer” sei (Zeile 97). Neo stimmt Michael zu, weist aber darauf hin, dass er neben der Erstellung der Präsentationsseiten auch das Hochladen von Texten im Blog vorschlägt, damit jeder weiß, was die anderen Gruppenmitglieder referieren. In diesem Gesprächsabschnitt kommt erstmals der Aspekt des Wissensaustausches zum Tragen, allerdings nicht wie er intendiert war. Statt wie in der Aufgabenstellung vorgesehen im Gespräch, die recherchierten Inhalte auszutauschen wird in der Gruppe der Wissensaustausch lediglich auf einer Metaebene thematisiert, indem die Gruppe darüber berät, wie dieser Wissensaustausch zu organisieren sei - hätten sie die Aufgabenstellung entsprechend der Intention aufgefasst und durchgeführt, würde der Wissensaustausch nun im Gespräch stattfinden. Es ist fraglich, in wieweit das Hochladen der Texte zu einer Auseinandersetzung der einzelnen Partner mit den Inhalten der Anderen führt, jedenfalls wird es dadurch nicht möglich, dass sie unmittelbar über die Ergebnisse miteinander reden und sich austauschen. Es fällt auf, dass das Gespräch im Fortgang nur noch von Neo und Michael geführt wird. Anna hat um eine Erklärung gebeten, die ihr ihre Gruppenpartner nicht geben. Sie verliert dadurch inhaltlich den Anschluss. Während Neo im ersten Treffen noch sehr darum bemüht war, dass Anna dem Gespräch folgen kann (vgl. Kapitel 6.4.3.1), berücksichtigt er dies im dargestellten Gesprächsabschnitt nicht mehr. Es wird sich darüber hinaus zeigen, dass er während des ganzen vierten Treffens Anna nicht mehr explizit anspricht. Auch Michael spricht Anna nicht an, sondern plant die Präsentation vorrangig mit Neo. Anna gelingt zu einem späteren Zeitpunkt der Wiedereinsteig in das Gruppengespräch, dazu muss sie aber selbst Initiative zeigen und wird nicht mehr von den Partnern dazu eingeladen, am Gespräch teilzunehmen. Das Verhalten von Neo und Michael kann dadurch erklärt werden, dass sie entweder zu sehr in das Gespräch miteinander vertieft sind, oder sie fühlen sich nicht mehr in dem Maße für Anna verantwortlich, wie sie es noch zu Beginn des Projektes getan haben. Letzteres wäre ein Hinweis darauf, dass keine Gruppenbindung stattgefunden hat (vgl. Kapitel 6.2) oder dass diese unter Annas frühzeitiges Weggehen gelitten hat. Neos und Michaels Außerachtlassen von Anna macht zudem deutlich, dass es in der Gruppe keinen Gruppenführer gibt, der sich für die Zusammenarbeit der Gruppe verantwortlich fühlt (vgl. Kapitel 6.3). Hat Neo diese Rolle noch zu Beginn ausgefüllt, reden Neo und Michael nun gleichberechtigt miteinander, wie dies bereits am Ende des dritten Treffens der Fall war (vgl. Kapitel 6.4.3.3), während Anna sich weniger am Gespräch beteiligt und auch von den Partnern weniger ins Gespräch involviert wird. <?page no="299"?> 299 Nach einer kurzen Pause fragt Neo mich erneut, ob die Präsentation ebenfalls über Voice-Chat erfolgen soll und ob alle Gruppenmitglieder sich während des Vortrages im Voice-Chat hören können werden. Ich bejahe dies per Text-Chat. In der folgenden Gesprächssequenz wiederholen Neo und Michael alles Wissen, das sie über die Organisation der Präsentation haben, um sicher zu stellen, dass sie auf dem gleichen Planungsstand sind - allerdings ohne Anna explizit in das Gespräch einzubeziehen, das weiterhin nur von Neo und Michael geführt wird. In wieweit Anna ihnen folgen kann und ob sie bereits von dieses Informationen gewusst hat, ist unklar. Nach einer kurzen Pause bemerkt Neo „Ja... ich glaube, mir ist schon alles klar” (Zeile 116). Damit bringt er zum Ausdruck, dass die organisatorischen Absprachen aus seiner Sicht beendet sind. Es scheint, als sei damit für ihn der Arbeitsauftrag des Treffens erledigt. Parallel zu den Ausführungen von Neo und Michael im Voice-Chat habe ich per Text-Chat erklärend für den frühen Abgabetermin der Präsentationen mitgeteilt, dass das Hochladen der Präsentationen aufwendig sei. Michael nimmt diesen Impuls auf, missversteht ihn aber und bezieht ihn auf das Erstellen der Folien durch die Partner. Michael drückt aus, dass es nicht so schwierig sei, wenn jeder 3 Folien erstellt. „Aber wie koordinieren wir die DDR? “ fügt er hinzu. Erst hier wird deutlich, dass er (und eventuell auch die anderen Gruppenmitglieder) bislang sich selbst (und die Verteilung der Folien auf die Personen) mit ihrem Heimatland gleichgesetzt haben. Michael fügt hinzu, dass die DDR ja das gemeinsame Thema sei. Neo erklärt, dass er auch Material zur DDR gefunden habe und auch etwas dazu erstellen könne. Michael schlägt daraufhin vor, dass jeder etwas zur DDR und zu seinem eigenen Land vorbereiten solle. In diesem Moment meldet sich Anna wieder zu Wort und gibt ihr Einverständnis hierzu. Sie fragt zudem, wie sie das Thema DDR aufteilen wollen. Neo entgegnet hierauf, dass er nicht denkt, dass ihre Ausführungen gleich sein werden. Auch Michael möchte den inhaltlichen Teil zur DDR aufteilen, aber Neo wiederholt seine Auffassung, dass jeder einfach alles zum Thema Familie in der DDR erwähnen kann. An diesem Punkt steigt Michael inhaltlich in das ein, was er bislang erarbeitet hat: <?page no="300"?> 300 Datenauszug 71: Michael, Neo und Anna erläutern, was sie bezüglich dem Thema ‚Familie in der DDR’ recherchiert haben Michael übernimmt in der in Datenauszug 71 dargestellten Sequenz die Gesprächsführung und fragt seine Partner, welche Themen sie bearbeitet haben. Zunächst wendet er sich an Neo, der ihm berichtet, dass er „das Familienbild“ (Zeile 159) bearbeitet habe. Dies entspricht in hohem Maße dem ideologischen Rahmen, den auch Michael bearbeitet hat, was Michael auffällt und von ihm problematisiert wird. An diesem Punkt bringt sich Anna ein und erläutert, zu welchen Themen sie weitere Informationen gesammelt hat. Anna wird also nicht von den Partnern eingeladen, wie bereits ausgeführt gelingt es ihr hier aber, selbst initiativ den Einstieg in das Gespräch zu finden. Anna hat vornehmlich sehr konkrete Informationen aus dem Alltag zusammengefasst, die ein Bild von ‚typischem’ Familienleben in der DDR zeichnen, beispielsweise die Wohnsituation oder Essensgewohnheiten betreffend. Während sie die von ihr zusammengetragenen Informationen weiter beschreiben will, fehlt ihr ein Wort. Michael und Neo gehen hierauf aber nicht ein, indem sie ihr Vorschläge machen, sondern sie drücken nur ihre Zustimmung zu den Themen aus und Michael entgegnet, dass die Partner sich damit ja gut ergänzen. Auch hier wird wieder deutlich, dass die Unterstützung, die insbesondere Neo Anna zum Anfang des Treffens gegeben hat, Anna nun nicht mehr zuteil wird. Anna fährt fort zusammenzu- <?page no="301"?> 301 fassen, was sie gelesen hat, dies wird von Michael mit einem „Ja ist gut” (Zeile 175) entgegen genommen, detaillierte inhaltliche Ausführungen scheinen ihn nicht zu interessieren. Michael gibt zu bedenken, dass der jetzt berichtete Inhalt eventuell schon zu viel sein könnte, worauf hin Anna einwirft, dass sie noch nicht weiß, wie viele Informationen sie zum Thema finden wird. Sie fragt nach, wie lange sie sprechen soll und schlägt 2 Minuten für Polen und eine Minute für die DDR vor. Aufgrund dieser Frage wirft Michael erneut das Thema der Sequenzierung der Präsentation auf und fragt, wie diese aufgebaut sein soll und worauf der Schwerpunkt liegen soll. Anna und Michael sind beide der Meinung, dass der Schwerpunkt der Präsentation auf der DDR liegen sollte. Neo sagt nun, dass er nur Frauen in der Familie in der DDR thematisieren wird, was Michael zustimmend zur Kenntnis nimmt. Neo erzählt, dass die Frauen in der DDR damals 43 Stunden Hausarbeiten verrichtet haben ohne einen Zeitrahmen hierfür zu nennen, fügt aber hinzu, dass es im Durchschnitt jeden Tag mindestens vier Stunden gewesen seien. Michael entgegnet: „das klingt ja interessant” (Zeile 203), geht aber nicht inhaltlich auf Neos ußerung ein, sondern fasst zusammen, dass jeder zwei Seiten zur DDR und eine zum eigenen Land erstellen solle. Die Anderen wirken überrascht, stimmen aber zu. Anna fügt hinzu, dass den zwei Seiten zwei Minuten Redezeit für die DDR und eine Minute für Polen entspreche. Neos Information zur Menge der Hausarbeit bot erneut einen Einstieg in eine inhaltliche Diskussion des Themas, wie die Aufgabenstellung dies forderte. Dies fand in dieser Gruppe - wie auch in anderen Gruppen - nicht statt. In Kapitel 7.2.2.4 wird versucht, dem Grund hierfür nachzugehen. Im Anschluss entsteht eine Pause von rund 7 Sekunden. Anna durchbricht diese und berichtet von einem Film über die DDR, den sie gesehen hat. Sie kenne den deutschen Titel nicht, aber vielleicht könne die Gruppe auch einen kurzen Film zeigen. Neo bezweifelt, ob das in Second Life funktioniert, per Text-Chat erläutere ich die technischen Möglichkeiten. In der Zwischenzeit schlägt Anna vor, ein Standbild aus dem Film zu verwenden. Das Gespräch stockt wieder kurz, dann wirft Michael die Frage auf, wer die drei Entwürfe letztendlich zusammen fügt. Neo klärt sich hierzu bereit und bittet die anderen, ihm ihre Folien per E-Mail zu schicken. Er tippt seine E-Mail Adresse hierzu noch einmal in den Text-Chat ein 136 . Neo wiederholt noch einmal, dass sie im Blog ihr „schriftliches Material“ veröffentlichen können, Michael stimmt dem Vorschlag Neos zu. 136 Hier wird eine funktionale Unterscheidung der Verwendung von Text-Chat und Voice-Chat durch Neo deutlich. Diese wird in Kapitel 6.1.5 ausgeführt. <?page no="302"?> 302 Nach knapp 13 Minuten des Treffens entsteht eine Pause von 22 Sekunden. Ich frage daraufhin im Text-Chat nach, ob sie noch inhaltliche Punkte diskutieren wollen, ob es noch Unklarheiten gibt oder Dinge, die sie überrascht haben. Auf diesen zusätzlichen Impuls erfolgt zunächst keine Reaktion. Michael fragt seine Partner, ob sie die Präsentation gemeinsam kürzen und zusammenstellen wollen oder ob jeder dies für sich tun soll. Anna sagt, dass für sie alles ok sei (Zeile 249), was sich wohl auf meinen Impuls bezieht, Michael reagiert auf Annas Äußerung mit „OK! ” (Zeile 250). Nachdem die Gruppe wieder rund 30 Sekunden schweigt, fängt Neo an, sich zu verabschieden, indem er den anderen einen schönen Abend und viel Erfolg mit der Präsentation wünscht. Auch Michael wünscht Anna einen schönen Abend. Anna fragt darauf hin nach, ob sie das Treffen beenden wollen und äußert die Befürchtung, dass sie durch ihre Lehrerin negative Konsequenzen zu erwarten hat, wenn das Treffen nicht lang genug dauert. Sie begründet dies damit, dass ihre Lehrerin ihr nach dem letzten Treffen, dass Anna wegen ihrer Geburtstagparty vorzeitig beendet hatte, gesagt habe, dass sie nicht so früh gehen könne (vgl. Zeile 269ff., Datenauszug. 72). <?page no="303"?> 303 Datenauszug 72: Gruppe 3 verarbeitet Annas vorzeitiges Verschwinden während des vorangegangenen Treffens Neo zeigt Verständnis für Annas Situation („Ach so, hmm...“, Zeile 273).Ich weise im Text-Chat darauf hin, dass es letzte Woche ja noch eine Aufgabenstellung gegeben habe. Wenn die Gruppe nun der Meinung sei, sie habe die Aufgabenstellung zu diesem Treffen vollständig bearbeitet, könne sie das Treffen beenden (Zeile275f.). Zunächst geht hierauf niemand ein. Anna ergänzt „[...]ich weiß jetzt nicht, ob ich sowas machen kann, und... (lacht) das ist ja scheiße! “ (Zeile 274&278) . Neo und Michael stimmen in Annas Lachen mit ein. Dass sie derartig offen vor den Gruppenmitgliedern von den Sanktionen ihrer Lehrerin und ihrer eigenen Unsicherheit spricht, zeigt meines Erachtens, dass Anna ein gewisses Vertrauen zu ihren Partnern aufgebaut hat und kein Blatt vor den Mund nimmt. Neo greift meinen Beitrag auf und erklärt auch im Voice-Chat noch einmal, dass es letzte Woche ja noch eine Aufgabe gab, Er berichtet, dass er und <?page no="304"?> 304 Michael noch eine Wohnung besichtigt haben. Anna beschreibt darauf hin ihre Wahrnehmung des letzten Treffens und ihres vorzeitigen Verlassens der Gruppe. Sie empfand das letzte Treffen als sehr stressig, weil ihre Gäste schon da waren und sie in Second Life sein musste. Vielleicht möchte sie sich mit dieser Erklärung auch im Nachhinein bei ihren Partnern für ihr vorzeitiges Verlassen entschuldigen. Michael sagt, dass ihr vorzeitiges Gehen nichts mehr ausmache. Er signalisiert damit, dass von seiner Seite aus Annas Abbruch des letzten Treffens verziehen ist. Alle lachen die Stimmung scheint gelöst zu sein. Die Offenheit Annas und das gemeinsame Lachen wirken sich positiv auf die zuvor belastete Gruppenstimmung aus. Indem Anna ihre Perspektive erläutert, können ihre Partner ihr Verhalten besser nachvollziehen, was sich ebenfalls positiv auf die Gruppenstimmung auswirken kann (vgl. Kapitel 6.2). Nach einer kurzen Pause fragt Anna, was ihre Partner letzte Woche noch gemacht haben. Sie zeigt damit Interesse an den Aktivitäten der Partner während ihrer Abwesenheit. Dies kann als interesse an der Arbeit der Gruppe und an der Gruppe selbst gedeutet werden. Michael und Neo berichten verkürzt von der besichtigten Wohnung sowie von dem Kiosk. Ich schlage darauf hin im Text-Chat vor, dass sie mit Anna noch einmal in die Wohnungen gehen können, wenn sie möchten, da dies vielleicht interessant für das Referat sein könnte. Michael und Neo reagieren im Voice-Chat zustimmend. Anna hat meinen Vorschlag nicht gesehen und ist verwirrt, auf was beide Partner reagiert haben. Auf Neos Erklärung, dass sie noch einmal in diese Wohnung gehen können, wenn sie wollen herrscht nun trotz Michaels und Neos zuvor bekundeter Zustimmung Unschlüssigkeit. Michaels Scherz zum Thema Party versucht vermutlich, diese Unschlüssigkeit zu überspielen Dann erst entdeckt Anna, dass ich im Text-Chat den Vorschlag gemacht habe und liest nun meinen Beitrag. Sie kann meinen Vorschlag aber immer noch nicht einordnen, so dass Neo ihr erneut erklärt, dass sie noch einmal die Aufgabe machen können, die Neo und Michael erledigt haben, als Anna nicht da war. Michael betont, dass sie das aber nicht machen müssen, woraufhin sich Anna dagegen entscheidet. Verglichen mit dem Verhalten von Neo und Michael vor wenigen Minuten (Zeilen 75-130) fällt auf, dass sie Anna nun bereitwillig Hilfestellungen leisten möchten und ihr die den Zusammenhang meines Beitrages erklären, den Anna nicht versteht. Auch als Anna nach erstmaliger Erklärung meinen Vorschlag nicht versteht, wiederholen ihre Partner die Ausführungen bereitwillig. Es scheint, dass Annas Offenheit in Bezug auf ihr Verhalten in der letzten Sitzung und die durch diese Offenheit geschaffene positive Atmosphäre die Bindung der Gruppe wieder stärken konnte (vgl. Kapitel 6.2). Neo und Michael unterstützen Anna wieder, so dass hier - im Gegensatz zum Beginn des Treffens - ihr Gruppenzusammenhalt deutlich wird. <?page no="305"?> 305 Nachdem Anna das Angebot abgelehnt hat, die Wohnungen noch einmal zu besuchen, verabschiedet sich die Gruppe im Anschluss voneinander und Neo wünscht Anna viel Spaß für die kommende Woche. Michael fragt noch einmal nach, was der polnische Kurs auf ihrer Exkursion macht und Anna berichtet, dass ein Teil nach [Stadt in Norddeutschland 2] fährt um über Lessing zu sprechen und sie, die nach [Stadt in Norddeutschland 1] fahren, das gleiche machen werden, viel besichtigen und abends natürlich Party machen, ergänzt Anna lachend. Michael fragt daraufhin, ob es auch Massage gebe, womit er auf der erste Treffen der Gruppe anspielt (vgl. Kapitel 7.4.3.1), woraufhin alle lachen. Dann verabschieden sie sich endgültig und loggen sich aus. Zusammenfassend fällt auf, dass die Gruppe in dieser Sitzung die Aufgabenstellung nicht in der Art erledigt hat, wie sie intendiert war. Die Teilnehmer haben sich lediglich über organisatorische Fragen bezüglich der Präsentation ausgetauscht. Selbst an den Punkten, an denen inhaltliche Aspekte aus der Präsentation erwähnt wurden, beispielsweise eine Studie bezüglich der Dauer der Hausarbeit von Hausfrauen in der DDR, die Neo erwähnt, kommt keine Diskussion oder ein weiterführendes Gespräche zustande. In diesem Teil der Unterhaltung reden vor allem Neo und Michael miteinander, Anna wird von ihren Partnern nicht in das Gespräch integriert. Mit der Fokussierung auf die Organisation der Präsentation verhält sich die Gruppe ähnlich wie viele anderer Gruppen. Dieses Verhalten wird in Kapitel 7.3.4 weiter analysiert. Zunächst scheint es bei dem Treffen keinen Moderator zu geben. Im Verlauf des Treffens tritt Michael hinsichtlich der organisatorischen Absprachen immer stärker als Moderator auf, dabei sind seine kurzen „Ok“-Antworten aber auch hemmend, um Themen tiefergehend zu erörtern. Es scheint, als wolle er nur die Verteilung der Präsentation organisieren. Der Inhalt scheint ihm nur insofern wichtig, um zu benennen, wer welche Informationen vorträgt. Aufgrund dieser knappen, vorrangig administrativ ausgerichteten Gesprächsführung ist die Gruppe bereits nach einer Viertelstunde für ihr Befinden mit dem Treffen fertig. Durch die eingeleitete Verabschiedung wird dann ein Wendepunkt im Treffen deutlich: Anna bezieht sich auf ihr verfrühtes Gehen in der letzten Woche und schildert, dass sie aufgrund dessen einen Tadel durch ihre Lehrerin erfahren habe. Indem Anna nun die Situation bei sich zu Hause erklärt - dass sie Geburtstag hatte und ihre Geburtstagsgäste zu früh gekommen waren - wird deutlich, dass sie ihre Partner nicht verlassen hat, weil sie die Gruppenarbeit nicht als wichtig aufgefasst hat, sondern weil sie durch die verfrühte Ankunft ihrer Gäste überfordert war. Hierdurch erklärt sich die Situation im Nachhinein positiv. Michael und Neo zeigen Verständnis für Anna und la- <?page no="306"?> 306 chen gemeinsam mit ihr über ihre Lage. In diesem Abschnitt ist erstmals eine engagierte Gesprächsstruktur zu erkennen, in der Rückfragen, Zustimmungen und Themenweiterführungen sowie längere Redebeiträge zu erkennen sind. In den vorangegangen Treffen und auch zu Beginn des vierten Treffens waren die Gespräche sowie die einzelnen Redebeiträge eher kurz. Neo und Michael helfen Anna im Fortgang des Gespräches, Unklarheiten einzuordnen und das Gespräch der Gruppe ist geprägt von interessierten gegenseitigen Rückfragen und einer positiven Stimmung, die durch viel Lachen gekennzeichnet ist. Es scheint, als ob sich die Gruppe durch Annas Erklärung wieder aneinander annähern konnte. Dies ist das letzte planmäßige Treffen, so dass leider nicht beobachtet werden kann, in wieweit sich Annas Erklärung (und möglicherweise indirekte Entschuldigung) und die darauffolgende Gruppenstimmung auf die weitere Interaktion innerhalb der Gruppe ausgewirkt hätte. 6.4.3.5. Zusammenfassende Betrachtung von Gruppe 3 Gruppe 3 zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Vergleich zu den anderen Gruppen keine klare Rolleneinteilung innerhalb der Gruppe aufweist. Zwar zeigt sich Neo zu Beginn des Projektes sehr engagiert und moderiert das Treffen, die Rollenverteilung bleibt aber nicht bei alen Trefen konstant. Beim letzten Treffen übernimmt Michael stellenweise die Moderation. Weitestgehend tritt aber niemand in einer führenden Rolle auf. Beim ersten Treffen steht Anna im Fokus der Gespräche, sie wird von Neo und Michael befragt, die beide moderierende Rollen übernehmen. Diese Fragen beantwortet Anna knapp oder sie geht gar nicht auf die Fragen ein. Bis auf einzelne Ausnahmen resultieren aus den Fragen keine Gesprächsstränge, so dass nur oberflächlich Informationen ausgetauscht werden. Anna scheint noch sehr mit der Navigation in Second Life beschäftigt zu sein. Als sie ihrem Avatar die Kleidung auszieht, wird das Gespräch der Gruppe unterbrochen und dreht sich nur noch um den unbekleideten Avatar Dieser Fokus auf den Avatar, der die Unterhaltung unterbricht und damit wie auch in anderen Gruppe die inhaltliche Arbeit stören kann (vgl. hierzu Kapitel 7.3.2), führt in dieser Gruppe aber dazu, dass ein Gespräch zwischen alles drei Gruppenmitgliedern erreicht wird und dass die Teilnehmer humorvoll miteinander umgehen. Dennoch fehlt im ersten Treffen der Austausch der Partner untereinander, sie lernen sich nicht kennen. Das zweite Treffen zeichnet sich durch weitestgehende Stille zwischen den Gruppenmitgliedern aus. Sie befolgen zwar die Arbeitsanweisung, nach welcher sie durch die Ausstellung an der Berliner Mauer betrachten sollen, den Aspekt, dass sie sich hierüber austauschen sollen, ignoriert die Gruppe aber. Jeder läuft individuell und in unterschiedlichem Tempo durch die Ausstel- <?page no="307"?> 307 lung, wobei Anna gleich zu Beginn an einem Schild stehen bleibt und den Rest der Ausstellung gar nicht mehr anschaut. Auch die zweite Umgebung wird von den Gruppemitgliedern individuell durchlaufen, auch hier tauschen die Partner sich wenig über das Gesehene aus. Ein Austausch erfolgt dann aber beim dritten Treffen. Insbesondere in und vor der Kaufhalle führen die Partner nach der Besichtigung der Orte Gespräche über Essensmarken in den jeweiligen Heimatländern der Gruppenpartner. Noch immer hat sich kein Moderator etabliert, so dass dieses Gespräch nicht vertieft wird. Das Fehlen eines Gruppenführers führt zu einem Laissez-Faire Stil in der Arbeit innerhalb der Gruppe. Niemand fühlt sich dafür verantwortlich, die Bearbeitung der Aufgabenstellung sicherzustellen und die Arbeit der einzelnen Gruppenmitglieder zu koordinieren. Wie in Kapitel 6.3 für den Laissez-Faire Stil generell beschrieben wurde, führt dieser Stil auch in dieser Gruppe zu einer geringeren Produktivität. Die Aufgabenstellung wird von der Gruppe nur unzureichend bearbeitet, landeskundliches Lernen findet hier nicht statt. Insbesondere durch Annas überraschendes vorzeitiges Ausscheiden mitten im dritten Treffen kommt es dann zu einem Bruch im Kommunikationsverhalten: Neo und Michael besichtigen zwar noch das Wohnhaus, sie nennen aber nur noch Dinge, die sie sehen, diskutieren aber nicht mehr darüber. Im letzten Treffen nutzt die Gruppe erstmals den Voice-Chat. Hier wird die Gestaltung der Präsentation zwar besprochen, allerdings nur auf organisatorischer und deklarativer Ebene. Die Aufteilung der Folien und der Redezeit stehen im Mittelpunkt der Gespräche. Michael übernimmt zunehmend eine moderierende Rolle, fokussiert dabei aber sehr stark organisatorische Aspekte der Präsentation. Ein inhaltlicher Austausch findet daher nur in sehr geringem Maße statt. Erst gegen Ende des Treffens, als Anna ihr frühes Gehen der letzten Woche erklärt, lockert sich die Situation auf. Annas Erklärung und das gemeinsame Lachen über die vergangene Situation stellt eine positive Gruppenatmosphäre her, in welcher Neo und Michael Anna noch einmal Unterstützung anbieten, indem sie ihr den Vorschlag erklären, den ich unterbreitet habe, bevor Anna das Treffen beendet. Damit kann die Gruppe noch mit einem positiven Gruppengefühl das Projekt beenden, die Auseinandersetzung mit den Inhalten kommt aber zu kurz. Es wurde in dieser Gruppe deutlich, dass durch den nicht gelungenen Prozess der Gruppenbildung (vgl. Kapitel 6.2) im ersten Treffen die nachfolgenden Treffen erheblich beeinflusst hat: Es kommt selten zu längeren Gesprächssträngen, im Verlauf des Projektes nimmt die Beteiligung Annas an den Gesprächen der Gruppe zunehmend ab. Neo und Michael agieren vorrangig miteinander, dabei treten beide in allen Treffen gleichberechtigt auf. Keiner von beiden tut sich dabei stringent als Gruppenführer hervor, vielmehr wechseln sich beide in dieser Rolle ab. Daher <?page no="308"?> 308 gibt es keinen, der sich verantwortlich fühlt, die Umsetzung der Aufgabenstellung voranzutreiben, wodurch auch bei den Zwiegesprächen von Neo und Michael nur wenige Sprecherwechsel stattfinden und die Themen nur oberflächlich behandelt werden. Insbesondere nach dem Besuch der Kaufhalle, als Neo und Michael eine geringe Produktivität der Wirtschaft bei fehlendem Wettbewerb postulieren, wären interessante Momente zum Austausch interkultureller Perspektiven gegeben. Da diese nicht vertieft wurden, findet interkulturelles Lernen nicht statt. Ausführlich wird dies in 7.5 diskutiert. Neos Engagement, Annas Verstehen sicher zu stellen, welches noch am Anfang des Projektes zu beobachten war, tritt in den folgenden Treffen nicht mehr auf. Erst nach Annas Erklärung zum Verlassen des dritten Treffens aufgrund ihres Geburtstages scheint sich die Gruppenatmosphäre erneut zum Positiven zu verändern, was auch die Bereitschaft von Annas Partnern, ihr Verstehen zu unterstützen, beeinflusst. 6.4.4. Ergebnisse aus der Beobachtung der drei Fokusgruppen Aufgrund der Darstellungen der vergangenen Kapitel können unterschiedliche Gruppenkonstellationen und verschiedene Formen der Zusammenarbeit in drei ausgewählten Gruppen der Studie beobachtet werden. In Gruppe 1 profiliert sich Karla von Beginn an als Wortführerin: Schon im ersten Treffen stellt sie die meisten Fragen, die aufgrund der Gruppenkonstellation (Greta ist für Rina und Karla, die einander bereits kennen, die ‚Neue’) vor allem an Greta gerichtet sind. Auch liegt Karlas Fokus stets auf den organisatorischen Absprachen, sie fasst Vereinbarungen zusammen und übernimmt die Organisation des Sprecherwechsels, wenn es zu Überschneidungen von Redebeiträgen im Voice-Chat kommt (vgl. Kapitel 6.4.1.1.). Verglichen damit ist Rina ruhiger. Sie hat die geringsten Redebeiträge innerhalb der Gruppe. Dennoch macht sie deutlich, dass sie dem Gespräch aufmerksam folgt, indem sie immer wieder Rückfragen stellt oder die Aussagen ihrer Partnerinnen kommentiert. Dabei zeichnen sich Rinas Beiträge dadurch aus, dass sie stets versucht, alle Gruppenmitglieder mit einzubeziehen und eine gute Gruppenatmosphäre herzustellen: Sie hebt Gemeinsamkeiten hervor, lädt Greta nach Gießen ein und drückt ihre Zustimmung aus oder lobt ihre Partnerinnen. Im ersten Treffen kommt Greta die Rolle der Auskunftgeberin zu. Ihre Person steht im Zentrum des Gespräches, was durch die zahlreichen Fragen von Karla weitestgehend auch so bleibt. Dabei gibt Greta bereitwillig Auskunft über sich. Im Folgegespräch zeigt sie aber auch Interesse am Leben und an den Sprachen ihrer Partnerinnen. Hier agieren die einzelnen Grup- <?page no="309"?> 309 penmitglieder ausgeglichener und gleichberechtigter miteinander als zu Beginn des Treffens. Die grundsätzliche Rollenverteilung (d.h. Karla als Organisatorin, Greta als Auskunftgeberin, Rina als Kommentatorin) innerhalb der Gruppe wird insgesamt beibehalten. Karla ist immer ein wenig dominanter als ihre Gruppenpartnerinnen, wohingegen Rina eher die Stillere ist. Karla stellt die Rollenverteilung auch selbst fest, als sie in der vierten Woche bei der Diskussion um Pressefreiheit in den jeweiligen Ländern häufig kritische Nachfragen stellt und die Diskussion organisiert. Sie beschreibt, dass sie sich wie die Lehrerin der Gruppe fühle. Karla hat zwar eine gewisse Führungsrolle inne, sie bevormundet ihre Partnerinnen aber nicht. Vielmehr organisiert sie die Zusammenarbeit. Wenn sie mit einer Aussage nicht einverstanden ist, stellt sie zunächst Nachfragen, statt etwas offen abzulehnen. Erst als deutlich wird, dass das Konzept der Zensur, das sie vertritt, so von Rina nicht geteilt wird, verdeutlicht Karla diese unterschiedlichen Einstellungen. Karla ist also eindeutige Gruppenleiterin, allerdings eher im Sinne eines Moderators als eines Führers. Sie entscheidet nicht selbst, sondern leitet die Entscheidungsphasen der Gruppe ein. Zwar vertritt sie ihre Meinung deutlich, ist aber immer auch offen fü die Meinung der Partnerinnen. In der zweiten Gruppe sind die Rollen weniger klar verteilt. Die Beziehung zwischen Hanna und Nadine, den beiden deutschen Studentinnen, zeichnet sich durch eine enge Freundschaft und hohe Vertrautheit miteinander aus. Schon vor dem gemeinsamen Studium waren beide befreundet. Diese enge Verbundenheit untereinander führt dazu, dass Hanna und Nadine immer gemeinsam in meinem Büro anwesend sind und während des Treffens sehr viel direkt miteinander sprechen, vorwiegend über ihre Projektpartnerin Mara und das weitere Vorgehen (vgl. Kapitel 6.4.2.1). Da Mara diese Unterhaltungen nicht mitbekommt und von einem Teil der Kommunikation ausgeschlossen wird (vgl. Datenauszug. 25), bilden Hanna und Nadine eine Kleingruppe innerhalb der eigentlichen Gruppe. Sie verhalten sich auch als eine kommunikative Einheit, indem sie ihre Fragen an Mara aufeinander abstimmen und sich ergänzen, wenn eine Partnerin keine Gesprächsbeiträge liefern kann. Zu Beginn der Gruppenarbeit liefert vor allem Mara immer wieder Impulse und sorgt dafür, dass das Gespräch vorangetrieben wird. Sie initiiert Themen und stellt Fragen, die Hanna und Nadine zunächst nur sehr knapp beantworten. Innerhalb der Gruppe fällt auf, dass von allen Gruppenmitgliedern immer wieder Nachfragen zu Ausführungen der Partnerinnen gestellt werden. Zudem erzählen alle drei sehr offen von ihrem Leben, so dass eine hohe Ver- <?page no="310"?> 310 trautheit entsteht. Da hierdurch auch zahlreiche Gemeinsamkeiten entdeckt werden, unterstützt dies die Entstehung eines positiven Gruppenklimas. Dennoch führen die oben ausgeführten Zwiegespräche zwischen Hanna und Nadine immer wieder zu längeren Pausen im Gruppengespräch. Indem Nadine und Hanna bei diesen Zwiegesprächen auch ihr weiteres Vorgehen absprechen und dieses dann an Mara mitteilen, wechseln sich Hanna und Nadine in der Gruppenführung ab. Man könnte sogar argumentieren, dass sie gemeinsam die Gruppenführung darstellen, da sie ihr Verhalten stets miteinander abstimmen. Als Hanna beim dritten Treffen nicht dabei ist, initiiert Nadine den Ortswechsel zwischen den einzelnen Gebäuden und schlägt organisatorische Absprachen vor. Damit übernimmt Nadine in organisatorischer Hinsicht die Führung der Gruppe. Inhaltlich setzt sie diese Führungsrolle nicht durch: Im Gespräch sind Mara und Nadine relativ gleichberechtigt und berichten, was sie sehen. Hieran schießen sich aber keine Rückfragen oder Ausführungen an, so dass keine landeskundlich relevanten Gespräche in Gang kommen. Es verstreichen einige Impulse von Mara, die die Möglichkeit zum Austausch von unterschiedlichen Perspektiven oder Erfahrungen geboten hätten, da das Ziel beider Partnerinnen nicht miteinander übereinstimmt: Während Mara bereit ist, sich über die Umgebung auszutauschen, sieht Nadine vorrangig das Auffinden der Orte als Aufgabe (vgl. Datenauszug 42). Das vierte Treffen innerhalb dieser Gruppe zeichnet sich durch eine große Unsicherheit aller Beteiligten bezüglich der Verwendung des Voice-Chats in der Präsentation aus. Aufgrund dessen übernimmt kein Gruppenmitglied die Initiative oder lenkt das gemeinsame Gespräch. Durch zahlreiche direkte Rückfragen an mich und nicht-virtuelle Gespräche zwischen Nadine und Hanna kommt es zu mehreren gleichzeitigen Gesprächssträngen, von denen Mara nur einen Teil mitbekommt. Erst zum Ende hebt sich Hanna hervor, indem sie Absprachen zusammenfasst. Nadine stellt sicher, dass es keine weiteren Fragen gibt und erläutert das weitere Verfahren, bis Mara dann das Treffen für beendet erklärt. In dieser letzten Phase agieren also alle drei Gruppenmitglieder durch unterschiedliche Initiativen, die alle im Bereich der Arbeitsorganisation liegen als Gruppenführer. Es wird deutlich, dass keine klare Führungspersönlichkeit innerhalb der Gruppe vorzufinden ist. Je nach Situation wechseln Rollenzuschreibungen, zwischen Hanna und Nadine findet eine sehr enge Zusammenarbeit statt, die auf Mara ausgerichtet ist. Die Gruppenatmosphäre ist zwar sehr positiv, allerdings werden durch das Fehlen klarer Rollen innerhalb der Gruppe keine kontroversen Themen diskutiert; niemand fühlt sich verantwortlich, die Aufgabenstellung durchzusetzen. <?page no="311"?> 311 In Gruppe 3 initiiert im ersten Treffen zunächst Neo das Gespräch. Michael braucht etwas länger Zeit, bis er sich in die Nutzung des Voice- und Text- Chats eingefunden hat, so dass zunächst ein Gespräch zwischen Anna und Neo stattfindet, in das Neo Michael nach kurzer Zeit versucht mit einzubeziehen. Indem Neo sich auch über Annas Sprachkompetenzen erkundigt und Michael auffordert, Fragen zu stellen, übernimmt Neo am Anfang sehr deutlich eine führenden Position, sowohl in Bezug auf die Organisation der Gruppe wie auch in Bezug auf Inhalte. Der Text-Chat zwischen allen drei Gruppenmitgliedern erscheint relativ unorganisiert, da mehrere Gesprächsstränge gleichzeitig verlaufen; niemand in der Gruppe fühlt sich verantwortlich dies zu organisierten, obwohl Michael diese vermischten Gesprächsstränge explizit anspricht. Hierdurch kommt keine stringente Unterhaltung zustande; Fragen werden nur sehr kurz beantwortet. Erst als Anna von ihrem Massagestudium erzählt, sind alle drei Gruppenmitglieder in das Gespräch involviert und scheinen am Gesprächsthema interessiert. Hier ist es wieder Neo, der Anna bezüglich ihrer Ausführungen Fragen stellt, während Michael die Unterhaltung der beiden durch Kommentare ergänzt. Anna beantwortet aber nicht alle Nachfragen von Neo, so dass der genaue Umstand ihres Studiums unklar bleibt. Auch in den nachfolgenden Treffen initiiert Neo immer wieder Gesprächsstränge, stellt Nachfragen oder gibt zustimmende Kommentare ab. Er vermeidet es allerdings, das weitere Vorgehen der Gruppe zu koordinieren. Organisatorische Absprachen regt Neo zwar an (vgl. Datenauszug 61), aber das konkrete Vorgehen in der virtuellen Welt gibt Neo nicht vor. Da dies auch kein anderes Gruppenmitglied übernimmt, laufen die Gruppenmitglieder im zweiten und dritten Treffen nicht als Gruppe, sondern als Individuen durch die Umgebungen. Im dritten Treffen schließt sich an die Besichtigung des Supermarktes in der Gruppe ein Gespräch über Essensmarken an: Neo berichtet aus China, dass es Wertmarken zur Verteilung von Lebensmitteln gegeben habe, Anna kommentiert Neos Ausführungen damit, dass dieses System auch in Polen eingesetzt wurde. Das Thema wird nicht vertieft, da Michael und Neo eine Diskussion über fehlenden wirtschaftlichen Wettbewerb in der damaligen DDR eröffnen. In dieser Sequenz befolgt die Gruppe erstmals die Aufgabenstellung und geht über das reine Beschreiben des Gesehenen hinaus. Dies ist ein wichtiger Punkt in der Gruppenzusammenarbeit, an dem interkulturelles Lernen stattfinden kann (vgl. Kapitel 7.5). Allerdings beteiligt sich Anna - mit Ausnahme des „wir hatten auch sowas” (Zeile 251, Datenauszug 66) - nicht an diesem Gespräch. Weder Neo noch Michael sprechen sie direkt an, so dass die Diskussion um wirtschaftlichen Wettbewerb schnell wieder beendet ist, als beide feststellen, dass sie gleicher Meinung sind. Schließlich verlässt Anna <?page no="312"?> 312 die Gruppe vorzeitig und unangekündigt. Sie gibt an, dass sie Geburtstag habe und geht unvermittelt offline. Michael und Neo führen die Besichtigung zu zweit fort und tauschen sich auch noch über das Gesehene aus, allerdings nur noch vereinzelt und ohne die jeweiligen Beobachtungen zu vertiefen. Im letzten Treffen agiert Michael stärker als Gruppenführer, indem er die Aufgabenstellung nennt und einen Austausch über das weitere Vorgehen initiiert. Er handelt die Verteilung der Inhalte der Präsentation jedoch weitestgehend nur mit Neo aus, wobei beide gleichberechtigt agieren und ähnlich viele Redeanteile besitzen. Anna bringt sich inhaltlich nicht in die Diskussion ein, signalisiert aber durch Zustimmung und Nachfragen, dass sie den Ausführungen von Michael und Neo folgt. Die Gruppe kommt trotz eines durchgehenden Gesprächsflusses im Voice-Chat nicht zur inhaltlichen Diskussion ihrer Rechercheergebnisse, sondern bleibt bei der Organisation und dem Aufbau der Präsentation stehen. Dies könnte in der fehlenden Leitung der Gruppe begründet sein. Michael und Neo agieren gleichberechtigt, beide wirken aber sehr unsicher und keiner von beiden ergreift die Initiative in Bezug auf die Zusammenführung der Gruppenergebnisse. Anna hält sich weiter zurück und zeigt im letzten Treffen zwar Präsenz, übernimmt aber ebenfalls keine Entscheidungen. Nachdem das Verhalten aller Gruppen zusammengefasst wurde, sollen ihre Interaktionen während der jeweiligen Treffen gegenübergestellt werden. Vergleicht man die jeweiligen Treffen der einzelnen Gruppen werden die Unterschiede innerhalb der Gruppen noch offensichtlicher: Schon während des ersten Treffens tut sich in der ersten Gruppe Karla als Gruppenführerin hervor. Sie stellt inhaltliche Nachfragen und organisiert die Gruppengespräche. Alle drei Gruppemitglieder sind gleichermaßen in das Gespräch eingebunden und es entsteht eine positive Gruppenatmosphäre. Demgegenüber kommt das Gespräch in der Gruppe 2 nur zögerlich in Gang. Hanna und Nadine führen sehr viele direkte Gespräche miteinander. Sie informieren Mara nicht darüber, so dass es in Second Life Zeiträume gibt, in denen keine Kommunikation stattfindet. Im Fortgang des Gespräches gelingt es der Gruppe, miteinander ins Gespräch zu kommen. Insbesondere durch Nadines familiären Hintergrund und ihre Reise zur Schneekoppe teilen sie und Mara gemeinsame Erlebnisse. Auch das Thema Haustiere erzeugt bei allen drei Gruppenmitgliedern Verbundenheit. Hier fehlt zwar ein Gruppenführer, den Partnerinnen gelingt es aber, sich als Gruppe zu konstituieren, indem sie viele Gemeinsamkeiten feststellt, die das Gruppengefühl stärken. Im ersten Treffen der Gruppe 3 ist Neo sehr bemüht sicherzustellen, dass Anna dem Gespräch folgen kann. Er ist es auch, der immer weiter versucht Michael in die Fragen, die Anna an Neo richtet, mit einzubeziehen. Schließ- <?page no="313"?> 313 lich führt die Gruppe dann auch gemeinsam ein Gespräch, hier werden aber keine Gemeinsamkeiten erkennbar. Indem ferner Anna ihren Avatar immer wieder von den Partnern wegbewegt, möglicherweise um die Navigation in Second Life zu erproben, bringt sie Gesprächsstränge ebenfalls zum Abbruch. Während in Gruppe 3 während des ersten Treffens also Neo als Gruppenführer erkennbar ist, kommt es nicht zu einer Phase der Gruppenbildung, in der Gemeinsamkeiten erkannt werden und Verbundenheit entsteht. Das zweite Treffen verläuft in allen Gruppen mit geringer Kommunikation untereinander. Karla, Rina und Greta laufen weitestgehend still durch die Ausstellung und benennen lediglich einzelne Ausstellungsstücke. Zudem beschreiben sie ihre Empfindungen, es kommt aber nicht zu einem Gespräch der Partnerinnen untereinander; nicht zuletzt aufgrund der immer wieder auftretenden technischen Probleme. In Gruppe 2 erfolgt die Besichtigung der Mauerausstellung ebenfalls individuell. Die Gruppenmitglieder interagieren nicht miteinander, meine Nachfrage, wie sie die Ausstellung empfunden haben, beantworten sie am Ende des Rundganges sehr knapp, auch hieraus resultiert kein Gespräch. Auch in Gruppe 3 laufen die Teilnehmer einzeln durch die Ausstellung. Während sie noch vor Betreten der Ausstellung miteinander im Gespräch waren, verstummt dieses am Mauer-Museum. Michael wendet sich hin und wieder mit vergewissernden Rückfragen an mich, darüber hinaus äußern die Teilnehmer vereinzelt Kommentare, ein Gespräch erfolgt hier ebenfalls nicht. Da dieses Phänomen auch in anderen Gruppen auftrat und die drei untersuchten Gruppen trotz ihrer unterschiedlichen Gruppenkonstitution einen ähnlich geringen Austausch untereinander zeigen, scheint dieser Mangel an Kommunikation nicht auf die Gruppenstruktur, sondern auf andere Faktoren zurückführbar zu sein. In Kapitel 7.3.2 werden mögliche Erklärungsansätze diskutiert. Das dritte Treffen in der virtuellen Umgebung der DDR verläuft in allen drei Gruppen mi verhältnismäßig geringer Kommunikation der Gruppenmitglieder untereinander. Gruppe 1 läuft nacheinander die jeweiligen Orte ab, sie interpretieren die Aufgabenstellung dahingehend, nur die Orte zu finden. Lediglich in der Kaufhalle und bei der Besichtigung der Wohnungen reden sie kurz miteinander, aber auch hier beschreiben die Teilnehmer nur was sie sehen, sie kommen nicht miteinander ins Gespräch. In Gruppe 2 fand das dritte Treffen ohne Hanna statt. Weder Nadine noch Mara verhalten sich als Gruppenführer. Vielmehr folgen sie meinem Avatar, wenn dieser sich in eine Richtung bewegte. Nadine und Mara reden nicht viel miteinander und wie auch Gruppe 1 versuchen sie vor allem, die genannten Orte zu finden. Die Kommunikation ist gering, die Gruppenmitglieder beschreiben, was sie se- <?page no="314"?> 314 hen. In Ansätzen findet eine Auseinandersetzung mit den Inhalten der Umgebung statt, wenn Mara und Nadine in der Kaufhalle thematisieren, dass die geringe Auswahl der Waren ihrem Wissen über die DDR entspricht. Dieses Wissen wird aber nicht explizit gemacht. Auch Gruppe 3 beschreibt, was sie in der Umgebung sieht. Zwischen der Besichtigung der einzelnen Gebäuden kommen die Partner immer wieder miteinander ins Gespräch, beispielsweise wenn Anna verkündet Schokolade kaufen zu wollen. Auffällig ist, dass Neo sich stark in die Umgebung einfühlt und Anmerkungen macht, in denen er auf mögliche Gefahren innerhalb der Simulation hinweist (das Übertreten der Grenze ohne Pass sowie der von der Stasi-Wohnung aus beobachtete Kiosk). Michael beschreibt vorrangig was er sieht, er erlebt die Umgebung nicht in dem Maße durch seinen Avatar wie Neo und Anna. Insbesondere in der Kaufhalle führen die Beschreibungen Michaels auch zu Gesprächen der gesamten Gruppe untereinander, in denen die Partner aushandeln, was sie sehen. Erst als sie die Kaufhalle verlassen, kommen Neo und Michael daran anknüpfend in ein Gespräch über das Wirtschaftssystem der DDR und auch Anna beteiligt sich, indem sie anmerkt, dass es auch in Polen Essensmarken gegeben habe. Während des Gesprächs über Wirtschaft und Wettbewerb entfernt sich Anna von der Gruppe und das Gespräch zwischen Michael und Neo verläuft im Sande, als beide Fragen formulieren, auf die das Gegenüber nicht reagiert. Als Anna kurz darauf das Treffen verlässt, verringert sich die Kommunikation zwischen Neo und Michael erheblich. Es scheint, dass die Gießener Studierenden ihre Kommunikationsbereitschaft in hohem Maße von Anna abhängig machen: Als sie nicht mehr da ist, geht die Kommunikation innerhalb der Gruppe zurück. Es bleibt festzuhalten, dass alle Gruppen beim Durchlaufen der Simulation vermindert miteinander kommunizieren. Wenn es zu Gesprächen kommt wie bei Gruppe 3, geschieht dies eher nach der Phase der Besichtigung. Betrachtet man das Sozialverhalten innerhalb der Gruppen, ist in Gruppe 1 Karla weiterhin Gruppenführerin, in Gruppe 2 ist kein dominierendes Mitglied erkennbar. In Gruppe 3 ist ebenfalls kein Gruppenführer erkennbar, abwechselnd tun sich Neo und Michael hervor, indem sie inhaltlich neue Aspekte aufwerfen, In ihrer Interaktion organisieren sie die Zusammenarbeit der Gruppe allerdings nicht. Im letzten Treffen unterhalten sich Karla, Rina und Greta engagiert über ihre Rechercheergebnisse. Indem Karla sich als Gruppenleiterin hervortut und immer wieder Nachfragen an Rina und Greta richtet, erläutern diese zunächst nur kurz genannten Themen, über die sie recherchiert haben. Karla scheut sich auch nicht davor, Rina zu widersprechen und ihr Konzept von Zensur in Frage zu stellen. Dabei bleibt die Gruppenatmosphäre positiv. Hanna, Nadine und Mara bleiben vor allem in der Organisation der Präsentation verhaftet. Es <?page no="315"?> 315 kommt nur einmal kurz dazu, dass Ähnlichkeiten zwischen der DDR und Polen herausgestellt werden. In diesem Gespräch agert kein Mitglied als Gruppenleiter hervor, alle drei Partnerinnen reden gleichberechtigt miteinander. In Gruppe 3 erfolgt der Austausch ebenfalls vorrangig zur Organisation der Präsentation. Dabei fragt Michael seine Projektpartner, was diese erarbeitet haben. Er führt die Gruppe in organisatorischer Hinsicht, nicht aber inhaltlich: Er stellt keine Rückfragen zu den recherchierten Themen sondern versucht, die Präsentation der gemeinsam recherchierten DDR unter den Partnern aufzuteilen, so dass die einzelnen Gruppemitglieder nur Themen nennen, in denen sie sich kompetent fühlen. Hierdurch tauschen sich die Gruppenmitglieder nicht über ihre Inhalte aus. Zunehmend verläuft das Gespräch nur zwischen Michael und Neo, beide achten nun nicht mehr darauf, ob Anna ihnen folgen kann. Erst als Anna ihr verfrühtes Verlassen des letzten Treffens thematisiert, scheint die Atmosphäre innerhalb der Gruppe aufzulockern. Insbesondere bei dem inhaltlichen Austausch, der im vierten Treffen durch die Aufgabenstellung gefordert wurde, wird deutlich, dass Karla in der Rolle als Gruppenführerin den inhaltlichen Austausch befördert, indem sie die jeweiligen Mitglieder anspricht. Sie fordert sie sogar dazu auf, ihre Ansichten zu verteidigen, indem sie kritisch nachfragt oder Gegenpositionen bezieht. Anhand der drei dargestellten Beispiele wird deutlich, dass mehrere Aufgabenbereiche in Bezug auf die Führung der Gruppe in der Zusammenarbeit vorhanden sind. Mit Bezug auf die in Kapitel 6.3 aufgezeigten Modelle der Gruppenführung ist zunächst festzuhalten, dass alle Gruppen keine ausgeprägte Form der Führung vorweisen wie sie in den Modellen beschrieben wurden. Die Bedingungen, in denen Zusammenarbeit in beruflichen Arbeitsgruppen und in Lernergruppen verlaufen, sind offensichtlich zu unterschiedlich, um die Modelle übertragen zu können: So zeigt sich, dass die Partner in den Lerngruppen sich als gleichberechtigt wahrnehmen. Hierdurch kommt es nicht dazu, dass ein Partner seine Meinung im Sinne eines autokratischen Führers durchsetzt. Zwar übernehmen Gruppenmitglieder teilweise Führungsrollen, diese sind aber eher moderierend zu verstehen: Die jeweiligen Gruppenmitglieder regen die Zuwendung zu einer Aufgabe an oder stellen Nachfragen bezüglich der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Thema, dabei suchen sie aber immer auch das Gespräch mit den Partner, um deren Perspektive zu berücksichtigen und sich der Unterstützung der Partner rückzuversichern. <?page no="316"?> 316 Dennoch können aus den ausgeführten Modellen Einsichten übertragen werden, indem das die Aufgaben der Führung, die Hersey und Blanchard (1982) formuliert haben, aufgegriffen werden. Hersey und Blanchard (1982) nennen die Aufgabenführung und das Beziehungsverhalten als Führungsaufgaben innerhalb der Zusammenarbeit einer Gruppe (vgl. Kapitel 6.3). Es konnte beobachtet werden, dass diese Aufgaben auch in der Zusammenarbeit von multinationalen Lernergruppen in virtuellen Begegnungsprojekten bewältigt werden müssen. Das Modell von Hersey und Blanchard bezieht sich allerdings - wie die anderen in Kapitel 6.3. dargestellten Theorien der Führung - auf die Arbeitswelt. Es wird angewendet, um das Verhalten eines Vorgesetzten zu beschreiben, der Aufgaben an seine Mitarbeiter delegiert. Hierbei findet kein gemeinsames (Er-)Arbeiten statt. In Lerngruppen ist dieses gemeinsame Erarbeiten aber ein zentraler Punkt der Zusammenarbeit. Dieser muss zusätzlich zu den genannten Führungsaufgaben berücksichtigt werden. Daher möchte ich ein Modell vorschlagen, das um einen dritten Faktor ergänzt wird: die inhaltliche Führung. Nach diesem Modell können die Führungsaufgaben in einer Gruppe also in drei Feldern unterschieden werden: • Die soziale Führung, • die aufgabenorganisatorische Führung sowie • die inhaltliche Führung der jeweiligen Gruppe. Die soziale Führung der Gruppe umfasst zum einen die Organisation des Gespräches. Hier müssen in problematischen Fällen Sprecherwechsel organisiert werden, auch das Einbeziehen stillerer Gruppenmitglieder in die Gruppenarbeit fällt unter die Aufgaben der sozialen Führung. Hinzu kommt die Herstellung einer positiven Gruppenatmosphäre, welche durch das Herausstellen von Gemeinsamkeiten und dem gemeinsamen Gruppenziel erreicht werden kann. Die aufgabenorganisatorische Führung umfasst das im Auge Behalten der Aufgabenstellung und die systematische Organisation der hierfür notwendigen Schritte. Dies beinhaltet das Treffen von Absprachen, die Aufteilung von Teilaufgaben, das Setzen von Fristen und die Herstellung von Verbindlichkeit. Damit führt die aufgabenorganisatorische Führung zur Strukturierung der Zusammenarbeit im Hinblick auf das Erledigen der Aufgabe. Die inhaltliche Führung umfasst die konkrete Zusammenarbeit. Der inhaltliche Leiter führt die inhaltliche Auseinandersetzung zum Thema, fasst Aussagen der Gruppe zusammen und stellt Nachfragen zu den Ausführungen der Partner. Er sorgt damit dafür, dass aus den individuellen Wissensbeständen der Gruppenmitglieder ein gemeinsames Produkt wird. <?page no="317"?> 317 Bezüglich der drei dargestellten Führungsrollen ist anzumerken, dass nicht unbedingt ein Gruppenmitglied als Führer auftreten muss Es konnte gezeigt werden, dass es Gruppen gibt, in denen die jeweiligen Führungsaufgaben von unterschiedlichen Gruppenmitgliedern wahrgenommen wurden. In Gruppe 2 führte die enge Zusammenarbeit von Nadine und Hanna dazu, dass sie gemeinsam Führungsaufgaben übernahmen. In Gruppe 3 wurde deutlich, dass es auch Gruppen (bzw. zeitliche Intervalle im Lernprozess von Gruppen) geben kann, in denen kein Mitglied eine Führungsrolle übernimmt. In diesen Gruppen ist zu vermuten, dass die Führung der Gruppe als Aufgabe eines externen Faktors interpretiert wird, in Lerngruppen kann dies der Lehrende oder die Aufgabenstellung sein. Die Unmittelbarkeit der Auswirkungen der drei Formen der Führungsaufgaben auf die Gruppenzusammenarbeit nimmt im Verlauf der hier angeführten Auflistung zu: Die unmittelbarsten Auswirkungen der Führung werden bei der inhaltlichen Führung sichtbar, da sie produktorientiert vorgeht. Die Aufgabenführung findet auf einer Meta-Ebene statt und tritt nicht so stark hervor wie die Gruppenführung, dennoch ist sie immens wichtig: Nur wenn allen Mitgliedern der Gruppe das geforderte Ergebnis klar ist und nur wenn sie dieses Ziel als ihr eigenes Ziel annehmen, auf das sie bereit sind hin zu arbeiten, kann die Gruppe dieses Ziel und ihr bestmögliches Arbeitsergebnis erreichen. Die sozialen Führungsaufgaben wirken sich zunächst nicht unmittelbar auf die inhaltliche Zusammenarbeit aus. Langfristig gesehen kommt aber gerade der sozialen Führung eine immense Bedeutung zu: Nur wenn alle Gruppenmitglieder in den Arbeitsprozess eingebunden sind und nur bei einer positiven Gruppenatmosphäre sind alle Gruppenmitglieder zufrieden mit der Gruppe. Ist diese Zufriedenheit bei einem Gruppenmitglied nicht gegeben, bringt sich dieses Mitglied nicht mehr in den Gruppenarbeitsprozess ein, wodurch wichtige Ressourcen verloren gehen. In der chronologischen Darstellung der drei Gruppen wurde insbesondere ihre Zusammenarbeit fokussiert. Es tauchten allerdings auch hier einige Themen immer wieder auf, die in einigen Gruppen erfolgreich bearbeitet wurden, in anderen Gruppen, in denen sich eine ähnliche Gelegenheit bot, nicht. Aus diesen Themen wurden fünf ausgewählt, die in den folgenden Kapiteln im Mittelpunkt stehen sollen. Entsprechend der Forschungsfragen werden nachfolgend die Verwendung der Kommunikationskanäle Voice- Chat und Text-Chat (Kapitel 7.1), die Rolle der Avatare in der Zusammenarbeit der Gruppen (Kapitel 7.2), die Bearbeitung der Aufgabenstellungen (Kapitel 7.3), die Rolle der virtuellen Welt als Material und Ort für Begegnungen (Kapitel 7.4) sowie die Möglichkeit des interkulturellen Lernens in virtuellen Welten (Kapitel 8) diskutiert. <?page no="319"?> 319 7. Der Einfluss ausgewählter Kontextfaktoren der Lernumgebung auf die Zusammenarbeit von Gruppen in virtuellen Welten Im vorangegangenen Kapitel wurde anhand dreier Gruppen exemplarisch dargelegt, wie die Zusammenarbeit von Kleingruppen im vorliegenden Projekt erfolgte. Hierbei wurde deutlich, dass die Gruppen je nach ihrer Zusammensetzung und dem Einnehmen von Rollen - bezogen auf die inhaltliche Aufgabenbearbeitung - unterschiedlich vorgingen und sich unterschiedlich intensiv mit den Gegenständen auseinandersetzten. Während in Kapitel 6 drei Gruppen während aller ihrer Treffen verfolgt wurden, sollen in Kapitel 7 vier Elemente anhand der Daten aller 14 Gruppen analysiert werden. Diese Elemente sind Teile der Lernumgebung 137 , in der die Untersuchung stattfindet. Eine Lernumgebung umfasst mehr, als nur das technische Medium, sie schließt auch die Lernenden, die Aufgabenstellung und alle Faktoren, die den Lernkontext beeinflussen mit ein. Reinmann- Rothmeier und Mandl (2001, 603) bezeichnen diese Elemente einer Lernumgebung als ‚Kontextfaktoren’. Um mich vom umgangssprachlichen Begriff des ‚Elements’ abzugrenzen und den Bezugspunkt zu verdeutlichen, verwende auch ich diese Begrifflichkeit und möchte im folgenden Kapitel Kontextfaktoren des Projektes genauer untersuchen. Dabei musste eine Auswahl entsprechend der Forschungsfragen getroffen werden, so dass einige Aspekte nicht weiter berücksichtigt werden. So ist z.B. die Frage, in wieweit die technische Seite der Kooperation, die z.B. bei der Interaktion der Gruppe 2 (vgl. 6.4.2.1) eine große Rolle spielte, Auswirkungen auf das Gelingen des Projekts hatte, nicht weiter behandelt. Auch die Frage, in wieweit unterschiedliche Ressourcen der Lernenden für ihre Zusammenarbeit relevant waren, wird nicht näher beleuchtet. Diese Frage ließe sich sowohl in Bezug auf ihr Vorwissen hinsichtlich der deutschen Geschichte untersuchen, aber auch bezüglich der Sonderrolle, die diejenigen Gruppenmitglieder inne hatten, die während der Treffen in meinem Büro waren und dadurch im direkten Kontakt zu mir standen. Im Bezug auf diese Lernenden hätte auch ihr Verhalten mit dem der anderen Teilnehmenden verglichen werden können. Stattdessen sollen nun vier Schwerpunkte genauer betrachtet werden, die sich meines Erachtens als besonders ergiebig für die Analyse herausgestellt 137 Hier meine ich Lernumgebung nicht im technischen Sinne, sondern verwende die ältere Begriffsverwendung, nach der mit Lernumgebung die Gesamtheit aller Faktoren, die auf einen Lernenden einwirken, beschrieben werden. <?page no="320"?> 320 haben. Diese Schwerpunkte werden mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse untersucht (vgl. 5.4.1), indem Textauszüge zu Kategorien entsprechend der Forschungsfragen zugeordnet werden. Es werden sowohl • die Medienwahl und ihr Einfluss auf die Kommunikation (Kapitel 7.1), • die Aufgabenbearbeitung in den jeweiligen Treffen (Kapitel 7.2), • die Rolle der Avatare für die Interaktion der Gruppen (Kapitel 7.3) sowie • Besonderheiten der Begegnung in virtuellen Welten (Kapitel 7.4) in den jeweiligen Gruppen analysiert. 7.1. Der Einsatz von Voice-Chat und Text-Chat In Kapitel 4 wurden bereits allgemeine theoretische Grundlagen zum Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien diskutiert. Das 7. Kapitel greift die Verwendung des Mediums ‚virtuelle Welt’ auf verschiedene Weisen auf: Bezogen auf die Avatare (Kapitel 7.3), auf Begegnungen in virtuellen Welten (Kapitel 7.4) und in diesem Kapitel im Hinblick auf die Frage, welchen Einfluss die Wahl des Kommunikationskanals hat. Die synchrone Kommunikation mit anderen Nutzern kann in virtuellen Welten durch geschriebene oder gesprochene Nachrichten realisiert werden. Man kann demnach zwischen Text-Chat und Voice-Chat unterscheiden. Nachfolgend wird untersucht, wie die beiden Kanäle Voice-Chat und Text- Chat in diesem Projekt verwendet wurden. Dafür werden zunächst die unterschiedlichen sprachlichen und didaktischen Merkmale, die Voice- und Text- Chat haben, beschrieben (Kapitel 7.1.1). Zudem werden Theorien vorgestellt, die versuchen, die Wahl des Kommunikationskanals und die Konsequenzen aus der Nutzung der unterschiedlichen Kanäle zu erklären (Kapitel 7.1.2) Auf dieser Basis sollen die Verwendung von Text-Chat und Voice-Chat und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Didaktik (Kapitel 7.1.3) eingehender untersucht werden. <?page no="321"?> 321 7.1.1. Sprachliche und didaktische Aspekte von Voice- und Text-Chat Text-Chats sind medial schriftlich. Beiträge werden realisiert, indem man in ein hierfür vorgesehenes Feld eine Nachricht eintippt. Diese wird übertragen, indem man den Beitrag durch das Klicken auf einen entsprechenden Button oder das Betätigen einer bestimmten Taste auf der Tastatur (meistens die Enter-Taste) abschickt. Damit sind Text-Chats nur fast-synchron (vgl. Thaler 2005, 97) 138 : Die Produktion des Beitrages erfolgt getrennt von der Versendung. Erst durch das bewusste Absenden wird der Beitrag für alle anderen Teilnehmer öffentlich zugänglich. Dies hat zur Folge, dass man einen Beitrag noch einmal überarbeiten kann, bevor man ihn absendet. Begrenzt wird diese Möglichkeit der Überarbeitung von Text-Chatbeiträgen durch den zeitlichen Faktor. Der Text-Chat ist zwar medial schriftlich, konzeptionell ist er aber sehr stark an Mündlichkeit orientiert 139 : Die Nutzer schreiben so, wie sie sprechen. Sie verzichten auf eine stilistisch elaborierte Sprache und verwenden häufig 138 Beißwenger (2007, 35ff.) setzt sich eingehend mit dieser verzögerten Synchronizität von Chats auseinander und betont, dass zwar die „Gleichzeitigkeit des Orientiertseins der Kommunikation auf den gemeinsamen Austausch”(ebd., 37) im Chat zutreffe und er hinsichtlich dieses Kriteriums durchaus als synchron zu verstehen sei, die Verarbeitung des Gespräches durch den Rezipienten aber nicht simultan zur Produktion des Senders erfolge, womit der Chat nicht simultan sei. Beißwenger plädiert daher für einen erweiterten Synchronizitätsbegriff, um diese beiden Ebenen getrennt voneinander bewerten zu können und die „nur z.T. befriedigende Einordnung der Chat-Kommunikation als ‚quasi-synchron’ (z.B. Garcia und Jacobs 1998; Dürscheid 2005; 2006) oder ‚annähernd synchron (Beißwenger 2002; 2003)”(ebd.) zu vermeiden. 139 Diese Unterscheidung der medialen und konzeptionellen Mündlich- und Schriftlichkeit fußt auf dem Modell der Sprache der Nähe und Sprache der Distanz von Koch/ Oesterreicher (1985). Neben der medialen Realisierungsform eines Textes beschrieben sie die konzeptionelle, die sich hiervon durchaus unterscheiden kann. Damit verweisen sie auf Texte, die zwar gesprochen werden, dabei aber typische Merkmale eines geschriebenen Textes aufweisen. Ein Beispiel hierfür ist der wissenschaftliche Vortrag. Auf der anderen Seite des Modells finden sich Texte, die zwar geschrieben werden, sich dabei aber eher eines umgangssprachlichen Repertoires bedienen, das für mündliche Äußerungen gebräuchlich ist. Diese Texte treten insbesondere in digitalen Medien vermehrt auf. Neben dem Text-Chat sind auch Forenbeiträge und Kurznachrichten medial schriftlich und konzeptionell eher mündlich. Das Modell ist nicht als Dichotomie, sondern als graduelle Klassifizierung zu verstehen. Zwar ist die mediale Realisierung immer klar schriftlich oder mündlich, allerdings gibt es hinsichtlich der konzeptionellen Realisierung verschiedene Abstufungen der Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die sich in einem elaborierteren bzw. umgangssprachlicheren Register niederschlagen. <?page no="322"?> 322 Dia- oder Soziolekte 140 . Storrer (2001a) bezeichnet Text-Chats daher auch als „getippte Gespräche”. Im Text-Chat wird die Aufmerksamkeit und Teilnahme der einzelnen Nutzer durch deren aktive Beteiligung im Gespräch signalisiert. Es gilt also für Chatter als erstrebenswert, schnell Beiträge zu liefern, um von den anderen Teilnehmern als engagiert und kompetent wahrgenommen zu werden. Hierfür unterteilen sie eine zusammenhängende Äußerung häufig in mehrere Teile, um diese schneller abschicken zu können. Dies führt zu relativ kurzen, häufig abgeschickten Nachrichten. Diese schnelle Folge von Gesprächsbeiträgen lässt den Chat dynamisch wirken und führt zum Eindruck eines stringenten Gesprächs (vgl. Crystal 2001, 145). Da in einem öffentlichen Chatraum darüber hinaus häufig mehrere Gesprächsstränge parallel nebeneinander verlaufen, kommt es zu einer Vermischung dieser einzelnen Gesprächsstränge 141 ; für ungeübte Nutzer ist es durchaus anspruchsvoll, diese zu rekonstruieren und dem Gespräch folgen zu können 142 . Verglichen mit Text-Chats sind Voice-Chats unmittelbarer: Der Nutzer spricht durch ein Mikrofon und die am Chat beteiligten Personen können diese Äußerung sofort hören. Der Nutzer sendet seinen Beitrag also nicht ausdrücklich durch eine gesonderte Tätigkeit ab, wodurch das Überarbeiten der einzelnen Beiträge nicht mehr möglich ist. Gerade für Fremdsprachenlerner bedeutet dies eine doppelte Herausforderung. Als Produzent müssen sie sich überwinden. Sie sprechen in der Fremdsprache und alle Verzögerungslaute, Fehler und Ausspracheprobleme werden sofort an das Gegenüber 140 Gleichwohl weist Storrer (2007) darauf hin, dass auch Chats je nach sozialen, institutionellen und individuellen Faktoren unterschiedlich ausgestaltet werden. Je nach Verwendungszusammenhang, Kommunikationsabsicht und Gesprächspartner kann damit auch im Chat der Grad der konzeptionellen Mündlichkeit unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Dürscheid (2003) unterscheidet daher zwischen Kommunikationsform und Textsorte: Während die Kommunikationsform das Medium beschreibt (In diesem Fall der Chat), bezeichnet die Textsorte die in dieser Kommunikationsform realisierte Äußerung, beispielsweise ein Gespräch unter Freunden, das Erfragen einer Auskunft, ein Vorstellungsgespräch etc. Der jeweilige Grad der konzeptionellen Mündlichbzw. Schriftlichkeit wird demnach vor allem von der jeweiligen Textsorte, weniger von deren Kommunikationsform bestimmt. 141 Marques-Schäfer (2013, 53) weist darauf hin, dass Araúja e Sá und Melo (2003) den Begriff Polyalog gebildet haben, um die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Kommunikationsstränge zu beschreiben. 142 Es wurden nur die für diese Arbeit zentralen Merkmale des Text-Chats diskutiert. Für eine eingehendere Beschäftigung mit der linguistischen Chat-Forschung vergleiche Beißwenger (2002; 2003; 2007), Storrer (2001a, 2001b; 2007) und Dürscheid (2003; 2005; 2006). <?page no="323"?> 323 übermittelt. Auch als Rezipient gelten im Voice-Chat für Nicht- Muttersprachler erschwerende Bedingungen, die das Verstehen betreffen: Die Beiträge im Text-Chat sind schriftlich fixiert und können im Chatverlauf mehrmals nachgelesen werden. Die Beiträge innerhalb eines Voice-Chats werden demgegenüber nicht aufgezeichnet. Sie müssen unmittelbar in dem Moment, in dem sie realisiert werden, vom Gegenüber gehört und verstanden werden, wobei neben der lexikalischen Entschlüsselung der Wörter weitere Schwierigkeiten hinzutreten: Die Nutzer machen häufig Pausen, um passende Wörter zu suchen, sie versprechen sich oder ihre Aussprache ist undeutlich. Auch Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit können nicht optimal sein und damit als erschwerende Faktoren auftreten. In Kapitel 6 konnten derartige Verstehensprobleme bereits dargestellt werden. In Kapitel 6.4.1.1 musst Rina eine Äußerung wiederholen, da sie undeutlich gesprochen hatte und ihre Partnerinnen ihre Aussage nicht verstanden haben (vgl. Datenauszug 7). Der Datenauszug 21 in Kapitel 6.4.1.4 zeigt, dass gerade bei technischen Problemen das Verstehen im Voice-Chat über einen längeren Zeitraum erschwert werden kann, was häufige Wiederholungen zur Folge hat. Den dargestellten Schwierigkeiten des Voice-Chats stehen aber auch besondere Potenziale gegenüber: Die Fragmentierung einzelner Beiträge in viele kleine Abschnitte ist im Voice-Chat unüblich. Hier führt ein Nutzer seinen Gedankengang aus und beendet ihn, wenn er mit dem kompletten Beitrag fertig ist. Daraus ergibt sich, dass es nicht zum parallelen Verfolgen mehrerer Gesprächsstränge kommen kann 143 . Verglichen mit dem Text-Chat erlaubt der Voice-Chat dadurch eine höhere Annäherung an eine authentische Gesprächssituation in der Zielsprache, da auch hier die spontane, mündliche Produktion von Äußerungen wichtig ist und auch in einem realen Gespräch einzelne Wortbeiträge nur einmal gehört werden können. Lernende, die nicht die Möglichkeit haben, direkte Gespräche in der Zielsprache zu führen, können so im Voice-Chat die Fertigkeiten Hören und Sprechen trainieren 144 . 143 Wohl aber können bei einem Sprecherwechsel zwei Nutzer gleichzeitig das Wort ergreifen. Hier muss man wie in einem Face-to-Face-Gespräch das Rederecht aushandeln. Da in einem Voice-Chat, der ausschließlich die Stimme, nicht aber ein Video der Gesprächsteilnehmer, überträgt, hierfür keine metasprachlichen Signale zur Verfügung stehen, muss diese Aushandlung explizit verbalisiert werden. Für eine empirische Untersuchung der unterschiedlichen Gesprächsstrukturen in Text- und Voice-Chats bei freien Gesprächsgruppen, vgl. Biebighäuser und Marques-Schäfer, 2009. 144 Die Forschung zum Einsatz von Voice-Chats in der Fremdsprachendidaktik steht noch ganz am Anfang, Einen Vergleich von Gesprächen in einer ähnlichen Kom- <?page no="324"?> 324 Die fremdsprachendidaktische Forschung hat Chats sowohl in ihrer sprachlichen Besonderheit als auch als potentielles Mittel zu authentischer Kommunikation 145 in der Zielsprache untersucht. In Bezug auf die sprachlichen Besonderheiten werden immer wieder die gesprächsstrukturellen Besonderheiten des Chats als besondere Herausforderung für Fremdsprachenlerner hervorgehoben: Aufgrund des schnellen Erscheinens neuer Beiträge, des raschen Wechsels von Themen (vgl. Platten 2003, 154 ff.) sowie der bewussten Toleranz von Fehlern (vgl. Beißwenger 2002, 267 f.) und dem Verwenden eines umgangssprachlichen Registers (vgl. Storrer 2001b) sind Chats mit Muttersprachlern für Fremdsprachenlernende trotz ihrer Attraktivität schwer zugänglich. 146 Die ersten Studien zum Einsatz des Chats im Fremdsprachenunterricht fokussierten auf die Förderung der Diskurskompetenz der Lernenden (Chun 1994; Kern 1995) und die Sprachverwendung im Chat im Gegensatz zum mündlichen Unterrichtsgespräch (Warschauer 1996; Beauvois 1997) 147 . Nach und nach erweiterte sich das Erkenntnisinteresse der didaktischen Chat- Forschung. Marques-Schäfer (2013) hat die Verwendung des didaktischen Chatraumes von Platten (2003) in einer qualitativen und quantitativen Studie untersucht und konnte feststellen, dass im didaktischen Chat das Bestreben nach korrekter Sprachverwendung sehr hoch ist: Die Fehlerkorrekturen durch Tutoren wurden explizit erwünscht, Lernende korrigierten sich sogar gegenseitig. Diese Peer-Korrekturen traten selbst dann auf, wenn kein Tutor im Chatraum anwesend war (vgl. Marques-Schäfer 2013, 165ff.). Marques- Schäfer analysiert ebenfalls die Inhalte, die im didaktischen Chat-Raum diskutiert werden. Aufgrund der anwesenden Tutoren prägen diese häufig das Thema. Oft werden dabei kulturelle Themen wie Feste, aktuelle Ereignisse oder kulturelle Unterschiede zur Diskussion vorgeschlagen. In ihrer Analyse zeigt Marques-Schäfer (ebd., 262ff.), dass die Behandlung dieser Themen munikationssituation (tutorierte Konversationsgruppen von DaF-Lernern) in Text- und Voice-Chat findet sich in Biebighäuser und Marques-Schäfer (2009). 145 Zum Konzept der Authentizität vgl. Fußnote 38. 146 Um diese Probleme zu umgehen, beschreibt Platten (2003) einen didaktischen Chatraum, in dem Lernende durch eine Verlangsamung der Chat- Kommunikation sowie durch einen Tutor, der ihnen Rückmeldung zu ihrer Sprachverwendung gibt und die inhaltliche Moderation des Chats übernimmt, entlastet werden. 147 Diese Informationen sind entnommen aus Marques-Schäfer (2013, 68ff.), die eine tabellarische Beschreibung aller bislang erstellten Studien zum Einsatz des Chats im Fremdsprachenunterricht leistet. Für eine ausführlichere Beschäftigung mit der Erforschung von Chats im fremdsprachendidaktischen Kontext sei diese Übersicht empfohlen. <?page no="325"?> 325 häufig oberflächlich verläuft. Sie weist auf die Wichtigkeit von „Fragen, die zu langen Antworten einladen” (ebd., 296f.) hin, um die genauen Umstände der Einstellungen der einzelnen Gesprächspartner erkennbar werden zu lassen 148 . Aus fremdsprachendidaktischer Perspektive resultieren aus Voice-Chat und Text-Chat also unterschiedliche Herausforderungen an den Nutzer. Wenn die Arbeit von Gruppen durch diese Medienformate organisiert wird, tritt neben die sprachlichen Aspekte auch der Einfluss des Mediums auf die inhaltliche Ausgestaltung der Zusammenarbeit. Hierzu gibt es verschiedene Theorien und empirische Untersuchungen, auf die kurz eingegangenen werden soll, um mögliche Erklärungsansätze für das Verhalten der Projektteilnehmer aufzuzeigen und diese im Anschluss in den nachfolgenden Beispielen zu diskutieren. 7.1.2. Medientheorien zum Einfluss der Kommunikationskanäle auf die Zusammenarbeit von Gruppen Jarvenpaa (1989) betont, dass eine Gruppe nur dann optimale Leistungen erbringen kann, wenn ihr für die jeweilige Aufgabe ein passendes Kommunikationsmedium bereitgestellt wird. Um die Frage zu beantworten, welches Medium angemessen ist, lassen sich unterschiedliche Theorien heranziehen. Nachfolgend werden zwei Theorien vorgestellt, die versuchen, die Verwendung von Kommunikationsmedien zu erklären: Die Media Richness Theory (Medienreichhaltigkeitstheorie) sowie die Theorie des Groundings. 7.1.2.1. Die Media Richness Theory Die Media Richness Theory (Medienreichhaltigkeitstheorie) geht auf Arbeiten von Daft und Lengel zurück, die beobachteten, dass von erfolgreichen Managern die Verwendung geschriebener Medien bei eindeutigen Botschaften bevorzugt wurde, wohingegen bei mehrdeutigen Nachrichten das direkte Gespräch gesucht wurde (vgl. Daft & Lengel, 1984). Die hierauf aufbauende Media Richness Theory beschreibt, dass, je komplexer die Kommunikations- 148 Auch Tudini (2007) untersucht den Austausch interkultureller Themen im Chat. Für sie liegt die interkulturelle Kompetenz der Chat-Teilnehmer in deren Fähigkeit, Missverständnisse auszuräumen und sprachliche Unklarheiten zu beseitigen. <?page no="326"?> 326 aufgabe ist, auch die Komplexität des Mediums, in dem diese Aufgabe realisiert wird, steigen sollte, um eine möglichst effektive Kommunikation zu erreichen. Die Komplexität der Medien wird in der Media Richness Theory an ihrer Fähigkeit gemessen, die in einem Gespräch getätigten Informationen zu reproduzieren. Dabei orientiert sie sich an der Anzahl sowie der Art der Kanäle, die das Medium zur Informationsübermittlung nutzt. Zudem sind auch der Grad der Unmittelbarkeit des Feedbacks (also die Synchronität), die Annäherung an natürliche Sprachverwendung sowie die Personalisierung des Mediums Aspekte, die die Komplexität des Mediums beeinflussen (vgl. Walther 2011, 448). Entsprechend dieser Kategorisierung bildeten Daft, Lengel und Trevino (1987) eine Hierarchie der Medienreichhaltigkeit, nach der die am wenigsten komplexen Kommunikationsmedien schriftliche, asynchrone und unpersonalisierte Medien wie Flugblätter oder Berichte sind. Mit der Zunahme an Personalisierung von geschriebenen Medien nimmt auch deren Reichhaltigkeit zu, so dass Briefe in der Hierarchie über den unpersönlichen Schriftstücken stehen. Mit der Zunahme der Synchronität und auch im Wandel von Schriftlichkeit zu Mündlichkeit nimmt die Komplexität des Mediums weiter zu; direkte Gespräche sind dementsprechend die komplexesten Kommunikationsmedien (vgl. Abb. 17). Abb. 17: Hierarchie der Medienreichhaltigkeit nach Daft, Lengel und Trevino (1987, 358) Da die Media-Richness Theory aufgestellt wurde, bevor computerbasierte Kommunikationsformen vorherrschten, fehlen diese in der ursprünglichen <?page no="327"?> 327 Hierarchie. Newberry (2001) untersuchte daher anhand der Kategorien von Daft, Lengel und Trevino (1987) die Komplexität unterschiedlicher computerbasierter Kommunikationsformen und erstellte aus diesen eine Hierarche entsprechend der Media Richness Theorie (vgl. Abb. 18). Der Argumentation von Daft, Lengel und Trevino folgend sind auch in der Hierarchie nach Newberry Voice-Chats (die er als Synchronous Audio bezeichnet) komplexer als Text-Chats. Abb. 18: Hierarchie der Komplexität digitaler Medien. (aus: Newberry 2001, 907) Die Komplexität der Kommunikationsaufgabe wird unterschieden, indem Aufgaben in verschiedene Klassen eingeordnet werden, wobei Daft und Lengel sich auf den Aufgabenkreis von McGrath (1984, 1990) beziehen. Der Aufgabenkreis (vgl. Abb. 19) unterscheidet acht verschiedene Formen von Gruppenaufgaben: ‚Planungsaufgaben’, ‚psychomotorische Aufgaben’, ‚Wettbewerbsaufgaben’, ‚Mixed-Motive-Aufgaben’, ‚kognitive Konfliktaufgaben’, ‚Entscheidungsfindungsaufgaben’, ‚intellektive Aufgaben’, und ‚Kreativitätsaufgaben’ 149 . Wie in Abbildung 19 wiedergegeben, unterscheidet McGrath die Aufgaben hinsichtlich ihres Konfliktpotenzials für die einzelnen Gruppenmitglieder auf einer Achse zwischen Konflikt oder Kooperation 150 sowie hinsichtlich des benötigten Lösungsverhaltens der Gruppe zwischen behavioral und oder konzeptionell: Behaviorale Aufgaben erfordern eine praktische, handlungsorientierte Bearbeitung. Hier stehen konkrete Handlungen am Ende der Aufgabenbearbeitung, wohingegen bei konzeptuellen Aufgaben der Austausch von Meinungen und die theoretische Entwicklung eines Konzeptes im Vordergrund stehen. 149 Die ausführliche Darstellung der Unterscheidungskriterien aller acht Aufgabenformen würde hier zu weit führen. Sie wird in McGrath (1984, 60ff) ausgeführt. 150 Diese Unterscheidung entspricht den Konzepten der positiven und negativen Interdependenz. Während in Aufgaben, die eher konflikthaft sind, nur eine Teilnehmender erfolgreich sein kann (negative Interdependenz) könne Aufgaben, die kooperativ ausgerichtet sind von den Teilnehmern gemeinsam besser bewältigt werden. <?page no="328"?> 328 Abb. 19: Der Aufgabenkreis von McGrath nach Tschann (2000, 139; aus: Paechter 2003, 32) Weil die Media Richness Theorie dem alltäglichen Mediengebrauch entspricht, ist man geneigt, der Theorie zuzustimmen. Allerdings muss betont werden, dass die Theorie durchaus auch kritisiert wird. Dabei wird besonders hervorgehoben, dass man nicht immer automatisch das nach dieser Theorie effizienteste Medium für die jeweiligen Kommunikationsaufgaben nutzt. So betont Markus (1994), dass die Wahl eines Mediums ein komplexer Prozess sei, welcher nicht ausschließlich durch die Reichhaltigkeit der Information gelenkt werde. Vielmehr sei auch der soziale Status eines Mediums bedeutend für der Auswahl des jeweiligen Mediums, ebenso sind der soziale und der kulturelle Hintergrund maßgeblich für die jeweilige Medienwahl (vgl. hierzu Ngwenyama und Lee, 1997). Schließlich darf nicht davon ausgegangen werden, dass das Gelingen der Kommunikation nur vom Medium abhängt. Die Media-Richness-Theorie berücksichtigt die Gesprächsteilnehmer nicht. Vor allen Dingen dieser Mangel wird in neueren Medientheorien beseitigt. Diese betonen die Wichtigkeit der jeweiligen Gesprächspartner für das Gelingen der Kommunikation und sehen in den Medien nur ein Werkzeug. Die Nutzer seien in der Lage, ihre Kommunikation entsprechend der Situation und Erfordernisse anzupassen, so dass hier Restriktionen eines Mediums nicht als Determinanten des Gelingens von Kommunikation gelten sondern kompensiert werden können. In Kapitel 7.1.2.3 wird die Media-Richness-Theorie auf die zu analysierenden Daten bezogen. <?page no="329"?> 329 7.1.2.2. Die Theorie des Grounding Das Grounding (Clark, 1996) beschreibt Kommunikation aus einer pragmatischen Perspektive. Ausgegangen wird davon, dass jede Kommunikation stets ein Ziel verfolgt. Um dieses Ziel zu erreichen, stimmen Partner in einer Gesprächssituation ihr verbales und nonverbales Verhalten aufeinander ab, um gegenseitiges Verstehen zu gewährleisten. Hierfür müssen sie ihre Äußerungen so ausrichten, dass sie von ihrem Gegenüber verstanden werden können. Zusätzlich wird innerhalb des Kommunikationsprozesses das Verstehen der vom Kommunikationspartner getätigten Aussage in der darauf folgenden Äußerung bestätigt. Diesen Prozess der gegenseitigen Bestätigung nennt Clark das Grounding. Damit die Kommunikation erfolgreich ist, muss der Gesprächspartner mindestens diejenigen Informationen verstehen, die für das Erreichen des Kommunikationszieles von Bedeutung sind. Diese Schwelle der benötigten Informationen bildet das „Grounding-Kriterium”(vgl. Paechter 2003, 14). Eine Kommunikation läuft immer auch in einer bestimmten Situation ab. Diesen Kontext bezeichnet Clark als Arena. Die Arena umfasst die Personen, die ein Gespräch führen, sowie das Setting, in dem dieses Gespräch stattfindet. Das Setting bezeichnet die Gesprächssituation und ist wiederum aus der Szene und dem Medium zusammengesetzt. Es können gesprochene und geschriebene Settings unterschieden werden. Die Szene beschreibt die Situation, in der das Gespräch stattfindet, also den jeweiligen Ort mit all seinen gesellschaftlichen Implikationen. Der Begriff Medium umfasst alle Zeichensysteme, die die Gesprächspartner zur Verfügung haben: medial, verbal, aber auch nonverbal. Beispielsweise impliziert das Setting ‚Vorstellungsgespräch’ eine verbale Kommunikation an einem gemeinsamen Ort, zumeist der potentiellen Arbeitsstelle. Die Kommunikation läuft unter Nutzung eines formalem Registers ab, die jeweiligen Gesprächspartner stehen in einem ungleichen Rollenverhältnis zueinander, da der eine Gesprächspartner den anderen überzeugen möchte, gut auf eine freie Stelle, die der andere vergeben kann, zu passen. Unterschiedliche Kommunikationssettings zeichnen sich dadurch aus, dass sie spezifische Kosten-Nutzen-Profile aufweisen. Der Nutzen entspricht dem jeweiligen Kommunikationsziel, die Kosten sind alle jene Anstrengungen, die ein Gesprächspartner im Gespräch leisten muss. Die jeweiligen Produktions- und Rezeptionskosten (wie das Tippen bzw. Sprechen und das Lesen bzw. Hören) sowie Kosten für Sprecherwechsel, Berichtigungen oder die Aufnahme eines Gespräches fallen je nach gewähltem Medium unterschiedlich hoch aus; nach Clark und Brennan (1991) weist die schriftliche, synchrone Kommunikation besonders hohe Kosten für den Sprecherwechsel <?page no="330"?> 330 auf, da dieser schriftlich erfolgen müsse (vgl. Paechter 2003, 18) 151 . Jeder Kommunikationspartner wägt die Kosten, die er für die Kommunikation aufbringen muss, dem von ihm erwarteten Nutzen ab; für eine Fortsetzung der Kommunikation dürfen die Kosten den Nutzen des Gespräches nicht dauerhaft übersteigen. 151 Der Sprecherwechsel muss allerdings nicht zwangsläufig explizit gemacht werden, so dass diese Kosten wegfallen würden. Dann kann es allerdings zu Problemen des Verstehens der Nachrichten kommen, wenn in einem Chat die Gesprächspartner gleichzeitig Beiträge produzieren und es zu einer Verflechtung der Gesprächsstränge kommt. Statt der Kosten für den Sprecherwechsel entstehen demnach dann höhere Kosten für das Verstehen des Gespräches. In jedem Fall bleiben bei schriftlich basierter Kommunikation die hohen Kosten der schriftlichen Textproduktion. <?page no="331"?> 331 7.1.2.3. Der Einfluss des Mediums auf die Aufgabenbearbeitung bei Gruppenarbeiten Paechter (2003) untersuchte, wie sich die Arbeit von Kleingruppen, die jeweils durch unterschiedliche Kommunikationsmedien (Newsgroup, Chat, Videokonferenz oder Face-to-Face-Kommunikation) miteinander arbeiteten, an vier identischen Aufgaben unterschied 152 . Sie stellte sowohl sogenannte ‚bekannte Fragen’, die Inhalte betrafen, die die Lernenden bereits in Einzelarbeitsphasen bearbeitet hatten, als auch ‚unbekannte Fragen’, deren Inhalte für die Gruppen völlig neu waren. Außerdem unterschied sie zwischen Fragen, zu deren Beantwortung alle Gruppenmitglieder das gleiche Material zur Verfügung hatten (= ungeteiltes Material) und solchen, für die jeder Teilnehmer unterschiedliche Informationsquellen zu Verfügung hatte (= geteiltes Material; vgl. Abb. 20). In ihrer Analyse stellte sie fest, dass die Kommunikationsumgebung für die Leistung der Gruppen von erheblicher Bedeutung ist (vgl. Paechter 2003, 88ff.). Abb. 20: Gruppenleistungen in unterschiedlichen Kommunikationsmedien. Die Prozentangaben geben wieder, wie viele Gruppen die Fragestellung erfolgreich bearbeitet haben (Paechter 2003, 88) Paechters Untersuchung wird deutlich, dass die Gruppen, die über den Chat arbeiteten, verglichen mit Face-to-Face-Gruppen, bei allen Aufgabenformen schlechter abschnitten. Der Wert der Chatgruppen ist tendenziell dem Wert der Videokonferenzgruppen ähnlich, wobei diese geringfügig besser abschneiden; nur bei unbekannten Fragen mit gleichem Material sind die 152 Paechter führte ihre Untersuchungen an studierenden Bundeswehrsoldaten durch. Ihre Forschungen sind im Bereich der Lernpsychologie angesiedelt und haben keinen fremdsprachendidaktischen Hintergrund. <?page no="332"?> 332 Chatgruppen im Vorteil. Die Gruppen, die über Newsgroups (also asynchrone textuelle Kommunikation) miteinander arbeiteten, schnitten stets schlechter ab, wobei sie bei unbekannten Fragen, zu deren Beantwortung alle das gleiche Material vorliegen hatten, erheblich geringere Leistungen erbrachten als die anderen Kommunikationsgruppen. Hinsichtlich der Zeit, die die einzelnen Gruppen für die Bearbeitung der jeweiligen Aufgaben benötigten, konnte Paechter feststellen, dass sich die Gruppen im Chat „mehr Zeit für die gemeinsame Arbeit [nehmen]”(Paechter 2003, 91 vgl. Abb. 21) 153 . Abb. 21: Dauer der Aufgabenbearbeitung in unterschiedlcihen synchronen Kommunikationsmedien (aus: Paechter 2003, 91) In dieser Gegenüberstellung der Arbeitszeit wird allerdings nicht berücksichtigt, dass die Produktion von Beiträgen in einem Chat deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Formulierung mündliche Beiträge in einer Videokonferenz oder bei Präsenztreffen. Paechters Bewertung, dass der größere Zeitaufwand mit mehr Zeit für die Aufgabenbearbeitung einhergehe, ist daher kritisch zu sehen. Meiner Ansicht nach zeigen diese Ergebnisse lediglich, dass Gruppen für die Bearbeitung der gleichen Aufgaben im Chat aufgrund der schriftlichen Realisierung der Beiträge längere Zeit benötigen als bei medial mündlichen Kommunikationskanälen, und dass Gruppen in der gleichen Zeit in einem Text-Chat weniger erarbeiten können als in einem Voice-Chat. Nachfolgend werden die Erkenntnisse Paechters sowie die oben beschriebenen Modelle zur Mediennutzung im Hinblick auf meine Studie bewertet. Die in 7.1.2.1 diskutierte Media-Richness-Theorie verdeutlicht, dass, je komplexer Aufgaben werden, auch die Komplexität des Kommunikationskanals zunehmen muss, um die Aufgabe effektiv lösen zu können. Die Untersuchung Paechters belegt dies, indem sie nachweist, dass weniger komplexe Kommunikationsmedien einen erhöhten Zeitaufwand benötigen, um die gleiche Aufgabe bearbeiten zu können. Sie zeigt zudem, dass komplexe Medien zu einer erfolgreicheren Bearbeitung der Aufgaben führen. 153 Die Dauer der Newsgroup-Arbeitssitzungen wurde von Paechter nicht erhoben, da die Nutzer in diesem Medium zu beliebigen Zeitpunkten an der Aufgaben arbeiten konnten, während alle anderen Medien das synchrone Arbeiten der Gruppen erforderte. <?page no="333"?> 333 Zudem verdeutliche die Theorie des Groundings, dass das Sicherstellen des gegenseitigen Verstehens ein wichtiges Prinzip für die erfolgreiche Zusammenarbeit von Online-Gruppen darstellt. Demnach müssten Gruppen, die den Voice-Chat nutzen, tendenziell bessere Arbeitsergebnisse aufweisen als die Gruppen, die den Text-Chat benutzen. Ferner müssten wirklich erfolgreiche Gruppen sich gegenseitig beim Verstehen rückversichern. Diese Annahmen sollen nachfolgend durch die Analyse der Daten überprüft werden. Hierfür wird zunächst die Nutzung von Voice-Chat und Text-Chat quantitativ analysiert; im Anschluss werden ähnliche Situationen im Voice- und Textchat miteinander verglichen, um mögliche Unterschiede aufgrund der Medienwahl festzustellen. 7.1.3. Voice- und Text-Chatverwendung innerhalb des Projektes - eine quantitative Annäherung In Second Life stehen prinzipiell sowohl Voiceals auch Text-Chat zur synchronen Kommunikation zur Verfügung. Allerdings können Besitzer einzelner Umgebungen für diese individuell entscheiden, ob in dieser der Voice- Chat verfügbar ist oder nicht. Diese Einschränkung ist relevant für das dritte Treffen der einzelnen Gruppen, welches in der nachgebauten Straßenszene Berlin-Marzahns des DDR-Museums stattfand. Da diese Umgebung noch nicht öffentlich zugänglich war, war in ihr auch noch kein Voice-Chat aktiviert. Ich hatte sowohl die Verantwortlichen als auch die Programmierer der Umgebung gebeten, zumindest für die Woche unseres Treffens diese Funktion zu aktivieren, was mir auch zugesichert wurde; leider wurde diese Absprache aber nicht eingehalten. Damit stand hier nur der Text-Chat zur Verfügung. In den jeweiligen Aufgabenstellungen wurden den Lernenden keine Vorgaben hinsichtlich der Medienwahl gemacht. Eine Ausnahme stellte das letzte Treffen dar, bei dem ich die Verwendung des Voice-Chats empfahl. Diese Empfehlung begründete ich mit dem schnelleren Austausch von Meinungen, der für die Diskussion der Ergebnisse hilfreich sein könnte. Da intendiert war, dass die Gruppen sich bei diesem Treffen über ihre Ergebnisse austauschten und diese auch diskutieren sollten, hoffte ich, dass der Voice-Chat zu zusammenhängenden Diskussionssträngen sowie zur tieferen Begründung von Meinungen führen würde (vgl. Kapitel 7.1.1.) Dies war eine Empfehlung ohne verpflichtenden Charakter, so dass die Gruppen hier wie auch bei den anderen Treffen (bis auf das dritte) selbst aushandeln konnten, welchen Kommu- <?page no="334"?> 334 nikationskanal sie verwendeten 154 . Dieser Aushandlungsprozess fand in den meisten Fällen jeweils in den ersten Minuten der jeweiligen Treffen statt. Insgesamt wurden 65,38% der Chats ausschließlich im Text-Chat realisiert; 30,77% der Chats fanden im Voice-Chat statt und bei 3,85% wurden beide Kanäle von den Nutzern verwendet 155 . Diese Statistik wird durch die Treffen der dritten Woche verzerrt, in denen der Voice-Chat nicht möglich war. Aber auch wenn man die Daten dieser Woche aus dieser Statistik herauslässt und lediglich die Treffen der Wochen eins, zwei und vier in die Berechnung einbezieht, ist immer noch eine stärkere Nutzung des Text-Chats zu verzeichnen: Hier wurde in 52,38% der Fälle der Text-Chat verwendet, 42,86% der Treffen verliefen im Voice-Chat. Die Verwendung beider Kanäle erhöht sich auf 4,76% (vgl. Abb. 22). Abb. 22: Verwendung der Kommunikationskanäle in allen Treffen ohne Woche 3 Wenn man diese Verteilung den jeweiligen Gruppen zuordnet, fällt auf, dass die Gruppen vorwiegend einem Medium treu blieben: Wenn die ersten 154 Ich war mit meinem Avatar immer auch in der virtuellen Welt anwesend, um bei Problemen der Gruppen eingreifen zu können. Hierbei benutzte ich stets nur den Text-Chat. Durch die Vermeidung von akustischen Signalen wollte ich ein zu starkes Einmischen in mögliche Gesprächsstränge vermeiden, zudem befand ich mich stets mit einem Gruppenmitglied im gleichen Raum, so dass es beim Verwenden des Voice-Chats von beiden möglicherweise zu Rückkopplungen und Störungen gekommen wäre. 155 Diese Vermischungen traten allerdings nur bei einer Gruppe auf. Hier war das Headset eines Teilnehmers kaputt und die Gruppe entschied, dass dieser tippt und die anderen beiden sprechen. 42,86% 52,38% 4,76% Verwendung der Kommunikationskanäle ohne Woche 3 Voicechat Textchat Voice&Text <?page no="335"?> 335 Treffen im Voice-Chat stattfanden, übernahmen die Gruppen dieses Medium zumeist auch für die weiteren Treffen 156 , umgekehrt nutzten auch die Gruppen, die den Text-Chat verwendeten, diesen meist durchgängig (vgl. Abb. 23). Abb. 23: Gesamtübersicht der Verteilung der Kommunikationskanäle Bei der Analyse der Gründe für die Kanalwahl wird deutlich, dass die Verwendung des Text-Chats überwiegend technische Ursachen hat: Bei einer Entscheidung für den Text-Chat war diese Entscheidung auf ein Fehlen des Headsets - zumeist auf polnischer Seite - zurückzuführen (vgl. Datenauszug 73). Ein weiterer Grund: Die Übertragung des Voice-Chats war häufig aufgrund einer langsamen Internetverbindung nicht möglich. Die Wahl des Text-Chats erfolgte also nicht immer aus freien Stücken sondern war oft eine ‚Notlösung’, nachdem die Kommunikation per Voice-Chat technisch nicht funktionierte. 156 Außer für die Treffen der dritten Woche, in denen dies nicht möglich war. Gruppe 1. Woche 2. Woche 3. Woche 4.Woche A Text-Chat Text-Chat Text-Chat Text-Chat B Voice/ Text Voice-Chat Text-Chat Voice/ Text C Voice-Chat Text-Chat Text-Chat Text-Chat D Voice-Chat Text-Chat Text-Chat Text-Chat E Text-Chat Voice-Chat Text-Chat Voice-Chat F Text-Chat Text-Chat Text-Chat Voice-Chat G Text-Chat Text-Chat Text-Chat Text-Chat H Text-Chat Text-Chat Text-Chat Voice-Chat I Voice-Chat Text-Chat Text-Chat Voice-Chat J Voice-Chat Text-Chat Text-Chat Voice-Chat K Voice-Chat Voice-Chat Text-Chat Voice-Chat L Text-Chat Text-Chat Text-Chat Text-Chat M Text-Chat Text-Chat Text-Chat Voice-Chat N Voice-Chat Voice-Chat Text-Chat / 7 Text-Chat 6 Voice-Chat 1 Voice/ Text 10 Text-Chat 4 Voice-Chat 14 Text-Chat 5 Text-Chat 7 Voice-Chat 1 Voice/ Text <?page no="336"?> 336 Datenauszug 73: Beispiel für den Beginn eines Treffens mit fehlendem Headset Dies ist ein erstes Indiz dafür, dass der Voice-Chat von den Projektteilnehmern als bevorzugtes Medium angesehen wurde. Zwar gab es zu Beginn des Projektes Unsicherheiten der Teilnehmer, aber im Projektverlauf schätzten die Teilnehmer den Voice-Chat immer mehr. Das nachfolgende Beispiel, in Datenauszug. 74 wiedergegeben, verdeutlicht dies. Zu Beginn des zweiten Treffens sind Ksenia, die polnische Teilnehmerin, und ich mit unseren Avataren bereits am Treffpunkt, die anderen Gruppenmitglieder sind noch nicht online. Ksenia wendet sich daraufhin mir zu und konstatiert ihre Unzufriedenheit darüber, dass sie den Voice-Chat nicht benutzen kann. Sie findet das Schreiben im Text-Chat unbequem: Datenauszug 74: Ksenia empfindet das Schreiben im Text-Chat als unbequem Diese Favorisierung des Voice-Chats zum Führen der Gespräche in den Gruppen kann unterschiedliche Gründe haben: Wie in Datenauszug 74 ausgeführt wird, wird der Voice-Chat als bequemer empfunden, da nicht getippt werden muss. Die Produktionskosten sind dadurch geringer als im Text-Chat, da das Sprechen weniger Mühe macht als das Tippen einer Nachricht per Tastatur. In der zweiten Gruppe, deren Zusammenarbeit in Kapitel 6.4.2 analysiert wurde, wird in Datenauszug 28 (Zeile 251) deutlich, dass einige Teilnehmer, die keine Muttersprachler sind, sich explizit für den Voice-Chat entscheiden, um ihre mündliche Kommunikationsfähigkeit zu fördern. Nicht zuletzt entspricht die Verwendung des Voice-Chats dem Konzept der Media- Richness-Theory: Die Gruppen müssen inhaltlich komplexe Gespräche füh- <?page no="337"?> 337 ren, sich gegenseitig informieren, Absprachen treffen und diskutieren. Hierfür eignet sich das komplexere Kommunikationsmedium des Voice-Chats besser als der Text-Chat. Da die Wahl des Text-Chats aus technischen Gründen erfolgte und damit fremdbestimmt war, können zur jeweiligen Motivation bei der Wahl dieses Mediums keine weiteren Aussagen gemacht werden. Vielmehr soll im Folgenden dargelegt werden, welche Konsequenzen für die Interaktion der Gruppen das jeweilige Kommunikationsmedium mit sich brachte - sowohl qualitativ als auch quantitativ. Hierzu wird das Treffen der vierten Woche betrachtet, in dem alle Gruppen die Ergebnisse ihrer Recherchen austauschen. Diese Situation wurde gewählt, da die Lernenden hier frei redeten und aufgefordert wurden, zu diskutieren. Da sie in dieser Woche zudem kein Material aus der virtuellen Welt rezipieren mussten wie in Woche zwei und drei, entfielen Pausen, in denen die Gruppen Informationen aufnahmen. In diesem Treffen lag der Fokus auf dem Gespräch der Gruppen untereinander. An je einem Voice- und Text-Chat Beispiel soll der unterschiedliche Kommunikationsverlauf in beiden Medienformen aufgezeigt werden 157 . Es wurden solche Stellen aus dem Chatverlauf herausgesucht, die eine hohe kommunikative Dichte aufwiesen, in denen es also keine längeren Pausen gibt und die Gruppen sich in einer angeregten Diskussion befanden. Der Textchat-Auszug gehört zu einer Gruppe, in der eine chinesische (Hui) sowie eine kasachische Studentin (Tascha) auf Gießener Seite mit der polnischen Studierenden (Nastja) zusammenarbeiten (vgl. Anhang 4.1) 158 . Der Auszug behandelt die unterschiedlichen Reisegewohnheiten in den jeweiligen Heimatländern der Gruppenmitglieder. In 17 Minuten produziert die Gruppe in 84 Turns 484 Wörter, die aus insgesamt 2392 Zeichen (ohne Leerzeichen) bestehen. Dies entspricht dem Verfassen von 28,47 Wörtern, bzw. 140,71 Zeichen pro Minute (vgl. Abb. 24). Dem gegenüber steht der Voice-Chat, in dem sich zwei muttersprachliche Studierende aus Gießen (Tina und Sven) mit Palina aus Polen über das Thema Schule und Kinderbetreuung in der DDR, der BRD und Polen austauschen (vgl. Anhang. 4.2). In neun Minuten wurden 71 Turns realisiert, die aus 937 Wörtern und 4450 Zeichen bestanden. Minütlich wurden hier also 104,11 Wörter, bzw. 494,44 Zeichen produziert, also annähernd das Vierfache wie in der gleichen Zeit des Textchats (vgl. Abb. 24). 157 In diesem Teil des Kapitels wird dabei nur auf die quantitativen Unterschiede in der Kanalwahl eingegangen. Die inhaltliche Auseinandersetzung sowie die Vor- und Nachteile beider Kanäle für das Fremdsprachenlernen folgen in den weiteren Unterkapiteln.. 158 Zur sprachlichen und kulturellen Vielfalt der Gießener Gruppe vgl. Kapitel 5.2.2.3. <?page no="338"?> 338 Abb. 24: Vergleich der in Text-Chat und Voice-Chat produzierten Äußerungen Auch die durchschnittliche Länge der einzelnen Redebeiträge unterschied sich erheblich: Umfasste ein Turn im Text-Chat durchschnittlich 5,76 Wörter (28,48 Zeichen), so war der durchschnittliche Redebeitrag im Voice-Chat 13,2 Wörter (62,68 Zeichen) lang (vgl. Abb. 25). Abb. 25: Durchschnittliche Länge der Beiträge in Text- und Voice-Chat <?page no="339"?> 339 Die Auswertung bezieht sich lediglich auf zwei beispielhafte Auszüge. Zudem ist die Zusammensetzung der Gruppen hinsichtlich der Muttersprachler auf Gießener Seite nicht identisch. Hieraus könnte die Einschränkung resultieren, dass die Muttersprachler schneller Beiträge realisieren können als die Nicht-Muttersprachler. Diese Zahlen sind daher nicht verallgemeinerbar, Sie zeigen vielmehr eine interessante Tendenz in der Verwendung von Text- und Voice-Chat, die bereits in den Kapiteln 7.1.1 und 7.1.2.3 beschrieben wurde und die auch in dieser Untersuchung deutlich wird: Die Gruppen, die den Text-Chat verwendeten, haben in der gleichen Zeit weniger Inhalte austauschen können als die Gruppen, die sich mit dem Voice-Chat ausgetauscht haben. Zudem waren die Redebeiträge im Text-Chat durchschnittlich kürzer, was der Konvention entspricht, dass man im Text-Chat relativ schnell seinen Beitrag abschicken sollte, um Anwesenheit zu signalisieren und sein Rederecht zu nutzen. 159 Die Auswirkungen, welche die unterschiedliche Medienverwendung in den vorliegenden Beispielen auf den inhaltlichen Austausch der Gruppen hatten, sollen nachfolgend anhand einer Analyse der Gespräche verdeutlicht werden. 7.1.4. Voice- und Text-Chatverwendung innerhalb des Projektes - die qualitative Analyse Um die Auswirkungen der unterschiedlichen Kommunikationskanäle auf das Kommunikationsverhalten der einzelne Gruppen darzulegen, soll nachfolgend die Kommunikation in einer spezifischen Situation zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Kommunikationskanälen verglichen werden. Hierbei ist zu beachten, dass der Umgang der Gruppen untereinander sehr unterschiedlich ist: Während in der ersten unter 7.1.3 diskutierten Gruppe Tascha klar die Wortführerin ist und den ersten Teil der Unterhaltung durch klare Anweisungen dominiert, sind die Rollen in der zweiten Gruppe ausgeglichener. 160 159 Zudem werden potentielle Vorteile des Text-Chats, nicht genutzt: So hätte die Gruppe beim Bezug auf die erarbeiteten Inhalte diese direkt in den Text-Chat kopieren können, um den Gegenstand, über den sie sich unterhalten, zu präzisieren. Auch alle anderen Gruppen, die den Text-Chat verwenden, nutzen derartige Strategien nicht. 160 Im vorangegangenen Kapitel 6 wurden unterschiedliche Rollenverteilungen und ihr Effekt auf die Zusammenarbeit der Gruppen bereits dargelegt. <?page no="340"?> 340 Dabei kann festgestellt werden, dass die Kommunikation an Stellen, an denen Unklarheiten auftreten oder Widerspruch innerhalb der Gruppe formuliert wird, im Text-Chat erheblich kürzer und weniger elaboriert abläuft als im Voice-Chat. Beispielhaft soll dies an nachfolgender Datenauszug 75 verdeutlicht werden. Die Gruppe von Tascha und Hui aus Gießen und Nastja aus Polen thematisiert im vierten Treffen die Reisemöglichkeiten in ihren Heimatländern und den beiden deutschen Staaten (vgl. Datenauszug 75): Datenauszug 75: Diskussion und Rückfragen im Text-Chat Im Textabschnitt aus Datenauszug 75 initiiert Nastja das Thema Visum mit der Aussage, dass es schwer gewesen sei, in Polen ein Visum zu bekommen. Tascha fragt daraufhin nach, welche Bedingungen genau erfüllt werden mussten, um ein Visum zu erhalten und Hui stellt die Hypothese auf, dass das gleiche auch für die Sowjetunion zutraf und fragt, ob man auch ein Visum für „Bruderländer” benötigte. Nastja geht auf beide Reaktionen nicht ein. Sie beschreibt vielmehr, dass bei Vorenthaltung eines Visums das erneute Beantragen wenig aussichtsreich war, da man für die erste Ablehnung einen schwerwiegenden Grund vermutete. Wie genau das Beantragen eines Visums ablief, bleibt unklar. Nach einer kurzen Pause gibt Hui ein Beispiel und richtet den Fokus hiermit nicht nur auf Polen, sondern auch auf Kasachstan bzw. die damalige Sowjetunion: Sie möchte von Tascha wissen, ob sie damals für eine Reise in die Ukraine ein Visum benötigt hätte, ob also innerhalb der Sowjetunion ein Visum notwendig gewesen sei. Durch dieses Beispiel wird Tascha die Antwort sehr erleich- <?page no="341"?> 341 tert, sie geht entsprechend kurz auf die Frage ein und gibt an, dass sie kein Visum benötigt habe. Als Tascha daraufhin anfügt, dass es in der Sowjetunion generell nicht notwendig gewesen sei, ein Visum für Reisen innerhalb der Sowjetunion zu besitzen, erkennt Hui den Unterschied zu Taschas zuvor getätigter Aussage, weshalb sie die Frage anschließt, ob Polen nicht zur Sowjetunion gehört habe. Tascha verneint dies. Sie erklärt, dass Polen von der Sowjetunion abhängig war, die genauen Zusammenhänge bleiben aber offen. Dieser Abschnitt stellt eine intensivere Diskussion im Gespräch der Gruppe dar. Dennoch werden die Hintergründe und Folgen der einzelnen Aspekte nicht diskutiert. Es werden Fakten der Visavergabe in Polen und der Sowjetunion genannt, hieraus resultiert aber kein Vergleich oder eine Bewertung der Gruppe. Eine besondere Rolle kommt dabei Hui und ihren Nachfragen zu: Sie kennt die genauen Zusammenhänge und den politischen Status Polen zur damaligen Zeit, insbesondere im Bezug auf die Sowjetunion, nicht. Durch ihre gezielten Nachfragen und die Beispiele, in denen sie Situationen beschreibt, können Tascha und Nastja ihr die Unterschiede zwischen Polen und der Sowjetunion verdeutlichen. Damit ähnelt Huis Verhalten dem von Karla in 6.4.1.4, welche ebenfalls durch Nachfragen ihre Partnerinnen dazu bringt, die jeweiligen Informationen zu vertiefen. Vergleichend dazu ist in Datenauszug 75 eine entsprechende Diskussion per Voice-Chat dargestellt. Sven und Tina aus Deutschland diskutieren mit Palina aus Polen über die Kindererziehung in der DDR, der BRD und in Polen. <?page no="342"?> 342 Datenauszug 76: Diskussion und Rückfragen im Voice-Chat <?page no="343"?> 343 Im Beispiel aus dem Gespräch der zweiten Gruppe zu Kindergärten in ihren Herkunftsländern (vgl. Datenauszug 76) werden gegenüber dem Text- Chat Beispiel große Unterschiede deutlich: Der Voice-Chat erlaubt es, dass Palina eine lange, zusammenhängende Äußerung tätigt, in der sie die Hintergründe und Besonderheiten des polnischen Kindergartens darlegen kann und auch auf Unterschiede zur DDR eingeht. Diese erstreckt sich von Zeile 80 bis 87 und wird lediglich von Einwürfen unterbrochen, in denen Tina und Sven ihr Interesse signalisieren. Diese sind sehr kurz gehalten, mit Ausnahme der Äußerung von Sven in Zeile 84. Hier versucht er, die Informationen, die Palina ihm und Tina gegeben hat, in der Hypothese „verstaatlichter Kindergarten” zusammenzufassen. Diese Hypothese wird durch Palinas anschließendes „ja” bekräftigt und im Anschluss nicht weiter thematisiert; vielmehr fügt Palina einen weiteren Aspekt im Bezug auf den polnischen Kindergarten hinzu. Im Anschluss hieran greift Tanja die dargestellte Situation in der DDR auf und vergleicht sie mit dem, was sie zur BRD herausfinden konnte. Als es aufgrund der Verwendung der Abkürzungen bei Palina zu Missverständnissen kommt, kann die Gruppe diese schnell beseitigen. Die in Kapitel 7.1.1. diskutierte Struktur eines Voice-Chats wird auch hier deutlich: Palina kann eine inhaltliche Äußerung vollständig in einem Gesprächsbeitrag tätigen. Ihr Beitrag wird lediglich von Beiträgen ihrer Partner unterbrochen, die ihr deren Aufmerksamkeit signalisieren. Rückfragen können schnell der entsprechenden Aussage zugeordnet werden, so dass ihre Beantwortung unkompliziert erfolgen kann. In Text-Chats, in denen mehrere Kommunikationsstränge parallel verlaufen können, ist diese Zuordnung von Beiträgen nicht immer derart eindeutig möglich. Die Beiträge im Voice-Chat sind wesentlich prozessbezogener als im Text- Chat: Während die Beiträge im Text-Chat vor allem inhaltlich sind, wird im Voice-Chat viel stärker ausgehandelt, Zustimmung signalisiert und es werden auch Satzteile aufgrund von Versprechern wiederholt. Hier wird also deutlich, dass die absoluten Zahlen, wie sie im vorangegangenen Kapitel ausgedrückt wurden, differenziert werden müssen: Zwar werden im Voice-Chat viel mehr Wörter generiert, diese sind aber nicht alle inhaltsbezogen. Doch auch die prozessbezogenen Äußerungen und Zustimmungen sind für den Diskussionsprozess fruchtbar, da sich hierdurch schneller Unklarheiten und Zustimmungen durch die Partner signalisieren lassen. <?page no="344"?> 344 7.1.5. Voice- und Text-Chatverwendung innerhalb des Projektes - die fremdsprachendidaktische Perspektive Über die im vergangenen Kapitel dargestellten Unterschiede in der Kommunikation aufgrund des Mediums hinaus hat die Nutzung der jeweiligen Chats fremdsprachendidaktische Auswirkungen. Die Verwendung des Textchats kann, wie bereits dargelegt, zu verwobenen Gesprächssträngen führen, in denen zur gleichen Zeit unterschiedliche Themen diskutiert werden. Zwar waren im vorliegenden Projekt nur wenige Nutzer gleichzeitig miteinander im Gespräch, sodass es nicht so häufig zu sich überkreuzenden Gesprächsketten kam, dennoch trat auch hier dieses Phänomen auf. Die Lernenden schienen allerdings keine Probleme mit der Zuordnung der einzelnen Beiträge zu den jeweiligen inhaltlichen Themen zu haben, die Gespräche wurden stets fortgeführt. Dies ist vermutlich zum einen darauf zurückzuführen, dass die Gruppen relativ klein waren und mehrere Gesprächsstränge daher nur selten auftraten; zum anderen sind die Lernenden vielleicht auch schon erfahren genug in ihrer Mediennutzung, um mit diesem Phänomen umzugehen. Diese Interpretation unterstützt auch den Umgang mit der zweiten Besonderheit des Text-Chats: In herkömmlichen Text-Chats ist es durchaus üblich, umgangssprachlich zu schreiben, Abkürzungen zu verwenden oder auch alle Wörter klein zu schreiben, um noch schneller Beiträge absenden zu können. Obwohl in diesem Projekt der Fokus auf den inhaltlichen Austausch und weniger auf die korrekte Sprachverwendung gerichtet war, war den Gießener Teilnehmenden der Umstand durchaus bewusst, dass sie mit Deutschlernern schreiben. Dies wird daran deutlich, dass sich die Gießener Studierenden um eine korrekte Rechtschreibung bemühten (vgl. Datenauszug 24) oder aber sie thematisierten das Problem - insbesondere die Groß- und Kleinschreibung - innerhalb des Chats, was explizit am Textausschnitt in Datenauszug 77 deutlich wird: Datenauszug 77: Marius thematisiert im ersten Treffen die Verwendung der Kleinschreibung im Text-Chat <?page no="345"?> 345 Auch im Verlauf des Projektes ist auffällig, dass alle Beteiligten gerade zu Beginn um eine korrekte Schreibweise bemüht sind. Auftretende Tippfehler werden meistens sehr schnell und ohne Fremdkorrektur von den Absendern selbst korrigiert. Bemerkenswert ist, dass bei einem engagierten Gespräch, das sehr auf den Inhalt fokussiert, die Korrektheit der getippten Beiträge schnell nachlässt. Insbesondere in den Treffen der vierten Woche, die mit dem Text- Chat realisiert wurden, ist dies zu beobachten (vgl. z.B. Datenauszug 49, in dem Hanna und Nadine fast durchgängig klein schreiben, obwohl sie sich im ersten Treffen noch dafür ausgesprochen hatten, auf die Groß- und Kleinschreibung zu achten): Es treten vermehrt Buchstabendreher oder -aus lassungen, Tippfehler oder das konsequente Kleinschreiben von Wörtern auf. Für die Häufung der Fehler gibt es mehrere Erklärungsmöglichkeiten: Zum einen sind die Lernenden nach den vier Wochen bereits sehr vertraut miteinander. Es ist möglich, dass sie gemachte Fehler nicht mehr als negativen Effekt auf den von ihnen vermittelten Eindruck bei ihren Partnern ansehen könnten. Zum anderen könnte die Korrektur von Redebeiträgen auch als störend für den inhaltlichen Austausch angesehen werden, weshalb hierauf verzichtet wurde. Damit verhalten sich die Nutzer wie in einem traditionellen Chatraum unter Muttersprachlern, nicht wie in einem Chat, in dem wie im didaktischen Chatraum von Marques-Schäfer (2013) die Nutzer sich gegenseitig korrigierten, weil eine korrekte Verwendung der Sprache Ziel der Kommunikation war. Ein weiterer Aspekt in der Nutzung der Chatkanäle ist die bewusste Trennung der Kommunikationskanäle für unterschiedliche Funktionen. Ich habe es, wie in Kapitel 5.3. dargelegt wurde, vermieden, den Voice-Chat zu benutzen, so dass Aufgabenstellungen und technische Hinweise stets im Text-Chat übermittelt wurden. Einige Gruppen nutzen diese implizite Zweiteilung und schreiben ebenfalls in den Text-Chat, wenn sie Anmerkungen machen wollen, die nicht der inhaltlichen Diskussion angehören, die die Gruppe im Voice- Chat aushandelt. Beispielhaft kann hier das Verhalten von Rina aus Gruppe 1 angeführt werden. Ich weise sie während des vierten Treffens per Text-Chat darauf hin, dass sie eine Tondopplung erzeugt. Grund hierfür ist, dass Rina ihr Mikrofon aktiviert hat, obwohl sie gar nicht gesprochen hat. Dadurch wurden die Äußerungen Karlas, die sich im gleichen Raum befand, auch in ihrem Mikrofon übertragen. Rina entschuldigt sich - während der thematische Austausch zwischen den Partnerinnen im Voice-Chat weitergeht - per Text-Chat dafür und führt aus, dass sie vergessen habe, das Mikrofon wieder abzustellen (vgl. Datenauszug 18). Auch konnte ich hin und wieder Hinweise im Text-Chat geben, wenn die Gruppen inhaltliche oder sprachliche Unsicherheiten aufwiesen. Ein Beispiel hierfür wurde in 7.4.1.4. gezeigt: In der Diskussion um den polnischen Wi- - <?page no="346"?> 346 derstand weiß Greta nicht, wie sie vermitteln soll, dass dieser im Untergrund organisiert war. Sie versucht es wortwörtlich mit ‚unter der Erde’ zu umschreiben, was die Gruppe zur Vokabel „Keller“ führt. Damit liegen sie inhaltlich aber falsch. Sie kommen in ihrem Gespräch nicht weiter, vielleicht auch, weil in der Gruppe kein Muttersprachler vertreten ist. Ich schlage ihnen die Vokabel „Untergrund“ per Text-Chat vor. Karla sieht den Beitrag und kann die passende Vokabel in das Gespräch einfließen lassen. In Kapitel 6.4.3.4 nutzt Neo den Text-Chat, um seinen Partnern seine E- Mailadresse mitzuteilen. Damit stört er das inhaltliche Gespräch nicht und stellt sicher, dass die Partner die Adresse korrekt notieren können. Die Verwendung des Text-Chats hat darüber hinaus den Vorteil, dass die Partner deren Inhalt auch noch später lesen können; sie ist nicht flüchtig wie eine Mitteilung im Voice-Chat. Diese bewusste Verwendung der unterschiedlichen Kanäle setzt Erfahrung in der Nutzung unterschiedliche Kommunikationsformen voraus, ist diese nicht gegeben, kann die Nutzung beider Kommunikationskanäle Nachteile mit sich bringen. Ein Beispiel hierfür findet sich in Kapitel 6.4.3.4 in Datenauszug 72. Mein Vorschlag, noch einmal die DDR-Simulation zu besuchen, wird von Neo und Michael aufgegriffen. Da Anna den Beitrag nicht gelesen hat, kann sie die Zustimmungen ihrer Partner nicht einordnen. Erst nach einer langen Phase, in der Michael und Neo ihre Äußerungen erklären, kann Annas Unklarheit beseitigt werden. Für die fremdsprachdidaktische Verwendung von Voice-Chat und Text- Chat muss demnach darauf geachtet werden, ob die korrekte Verwendung der deutschen Sprache ein Kommunikationsziel ist, oder ob Fehler nichtmuttersprachliche Chatter verunsichern könnten. Insbesondere wenn diese noch kein fortgeschrittenes Niveau erreicht haben, könnten sie die Sprachverwendung von Muttersprachlern oder fortgeschrittenen Lernenden als sprachliche Vorbilder nehmen und kopieren. Auch im Hinblick auf die Mediennutzungserfahrung der einzelnen Teilnehmer muss darauf geachtet werden, dass weniger erfahrene Nutzer den Strategien der fortgeschrittenen Nutzer folgen können. Eine explizite Thematisierung der Sprach- und Medienverwendung in einem chatbasierten Austauschprojekt kann solche Probleme vermeiden. <?page no="347"?> 347 7.1.6. Zusammenfassung: Voice- und Text-Chatverwendung im virtuellen Austauschprojekt Die in Kapitel 7.1. angeführten Untersuchungen haben gezeigt, dass die Teilnehmenden den Voice-Chat dem Text-Chat gegenüber bevorzugten. Dies entspricht den Arbeiten zur Media Richness Theory, nach der die Wahl eines Mediums entsprechend der Komplexität der Kommunikationsaufgabe erfolgt (vgl. Daft, Lengel & Trevino, 1987). Über diesen Faktor hinaus wurde deutlich, dass die Wahl des Mediums in einer fremdsprachlichen Lernsituation auch durch die Form der Sprachproduktion bestimmt wird, die ein Lernender präferiert. Im Voice-Chat werden die Fertigkeiten Hören und Sprechen verwendet. Fremdsprachenlernende haben damit die Möglichkeit, mit muttersprachlichen oder sehr fortgeschrittenen Sprechern ihrer Zielsprache zu reden, was im Unterrichtskontext nicht häufig geschieht. Die explizite Wahl des Voice-Chats als Austauschmedium kann dem Wunsch entsprechen, die Fertigkeiten Sprechen und Hören zu trainieren. Aufgrund technischer Unwägbarkeiten kam es in vielen Gruppen dennoch zur Verwendung des Text-Chats, die sich erheblich auf die Form des Austauschs auswirkte. Verglichen mit dem Voice-Chat konnte gezeigt werden, dass Gruppen, die den Text-Chat verwenden, in der gleichen Zeit weniger Inhalte miteinander austauschten: Die Beiträge der jeweiligen Studierenden im Text-Chat waren kürzer als die im Voice-Chat. Dies entspricht den bekannten Ergebnissen der Chat-Forschung, wonach Beiträge eher kurz gehalten werden, um schnell abgesendet werden zu können. In klassischen Chats resultiert hieraus eine hohe Frequenz an abgesendeten Beiträgen, die die Flüssigkeit eines Gespräches simulieren. Innerhalb dieses Projektes wurde aber beobachtet, dass diese Konvention nicht befolgt wurde. Längere Beiträge waren hier häufig nicht in kürzere Segmente unterteilt, vielmehr wurden Ansichten der Teilnehmer möglichst knapp formuliert. Zudem gab es generell weniger Beträge pro Minute im Text-Chat, was darauf hindeutet, dass der Austausch im Text-Chat grundsätzlich langsamer verlief als im Voice-Chat. Die Auswertung der qualitativen Daten zeigt, dass die längeren Beiträge im Voice-Chat es erlauben, eine komplexe Äußerung (beispielsweise einen Argumentationsstrang oder eine Begründung) in ganzer Länge abzubilden, wohingegen dieser im Text-Chat eher verkürzt dargestellt oder erst auf Nachfrage geliefert wird. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass im Voice- Chat Rückfragen häufiger vorkommen als im Text-Chat. Wenn die Äußerungen der Partner unklar waren, wurden sie dadurch im Voice-Chat wiederholt und so präzisiert. <?page no="348"?> 348 Aufgrund der schon von Beißwenger (2002) festgestellten Kürze der Beiträge im Text-Chat war in diesen die inhaltliche Auseinandersetzung weniger komplex als im Voice-Chat. Die Verwendung des Voice-Chats in derartigen inhaltlichen Diskussionsgruppen im Fremdsprachenunterricht wurde bislang noch nicht eingehend untersucht. Biebighäuser und Marques-Schäfer (2009) konnten bezüglich freier Konversationsgruppen eine ähnliche Tendenz zeigen: Auch hier sind im Voice-Chat in sich geschlossene Gesprächsbeiträge formuliert worden, die erheblich länger waren als Beiträge in einem Text- Chat. Trotz des Fokus der jeweiligen Aufgabenstellungen auf den inhaltlichen Austausch war den Teilnehmenden auch die sprachliche Komponente, insbesondere bei der Verwendung des Text-Chats, bewusst. Es wurde gezeigt, dass die Gießener Partner insbesodere zu Beginn des Projektes die korrekte Verwendung des Deutschen anstrebten, auch wenn dies nicht den Konventionen des Chattens entspricht (insbesondere im Hinblick auf die Verwendung von Groß- und Kleinschreibung). Damit nahmen sie höhere Produktionskosten beim Erstellen ihrer Beiträge in Kauf, um den polnischen Studierenden als sprachliches Vorbild zu fungieren. Oder aber sie thematisierten die konsequente Kleinschreibung im Chat und holten sich hierfür das Einverständnis der polnischen Partner ab (vgl. Kapitel 7.1.4). <?page no="349"?> 349 7.2. Der Umgang mit den Aufgabenstellungen im virtuellen Austauschprojekt Bei der Zusammenarbeit der Tridems und Tandems in der virtuellen Welt spielen die Aufgabenstellungen zu den einzelnen Treffen eine entscheidende Rolle: Sie bestimmten die inhaltliche Ausgestaltung der Treffen und spiegeln die Zielstellung des gesamten Projektes wider. Aufgrund der großen Bedeutung der Aufgabenstellungen sollen diese nachfolgend genauer betrachtet werden. Dazu wird zunächst der theoretische Rahmen, die Diskussion um Aufgaben im Fremdsprachenunterricht, umrissen, um im Anschluss die Aufgabenstellungen der einzelnen Wochen kritisch zu beleuchten und die Reaktionen der Gruppen auf die Aufgabenstellungen darzulegen. Dies geschieht, indem aus allen Gruppen prägnante Stellen analysiert und quantitative Aussagen zur inhaltlichen Schwerpunktsetzung der einzelnen Treffen gemacht werden. Dabei soll herausgearbeitet werden, inwieweit die Formulierung der Aufgabenstellung zum Erfolg oder Misserfolg der Arbeit in den Gruppen beiträgt. 7.2.1. Aufgaben im Fremdsprachenunterricht 161 . In den letzten Jahren haben fachdidaktische Diskussionen um Aufgaben zugenommen, das Task Based Language Learning (TBLL) 162 wurde als anwendungsorientierter Ansatz des Fremdsprachenunterrichts immer prominenter. Das verwundert nicht, denn Aufgaben nehmen im Fremdsprachenerwerbsprozess eine zentrale Rolle ein: Sie formulieren Anweisungen an die Lernenden, durch welche diese sich mit dem Unterrichtsstoff auseinandersetzen und veranlassen dadurch das Lernen (vgl. Mu ̈ ller-Hartmann & Schockervon Ditfurth 2006, 2) 161 Dieses Unterkapitel basiert auf den Ausführungen, die ich gemeinsam mit Marja Zibelius und Torben Schmidt zur Aufgabenorientierung beim Fremdsprachenlernen mit digitalen Medien dargelegt habe (vgl. Biebighäuser, Zibelius & Schmidt, 2012). 162 Da der englische Fachbegriff auch in der deutschsprachigen Diskussion sehr prominent verwendet wird, werde ich ihn nachfolgend beibehalten und synonym zum Konzept der Aufgabenorientierung im Fremdsprachenunterricht verwenden. Auch den Begriff der task werde ich aus dem Englischen aufgreifen und verwenden; insbesondere dort, wo ich zwischen der umgangssprachlichen Verwendung von Aufgabe für alle Instruktionen innerhalb des Unterrichtsgeschehens und der Aufgabe im Sinne des TBLL differenzieren möchte, werde ich von task sprechen. <?page no="350"?> 350 Dabei ist festzustellen, dass, obwohl Aufgaben eine so prominente Stellung im Lernprozess haben, die Definition von Aufgaben nicht eindeutig ist: Es existieren im Bezug auf Aufgaben im Fremdsprachenunterricht eine Vielzahl von Definitionen (vgl. van den Branden 2006). Diese Vielzahl an Definitionen ist dem Umstand geschuldet, dass, je nachdem, unter welchem Fokus Aufgaben betrachtet werden und welche Funktion ihnen im Unterrichtsprozess zugeschrieben wird, unterschiedliche Merkmale von Aufgaben hervorgehoben werden. Im Hinblick auf TBLL sind Aufgaben Instruktionen, die Lernenden zu einem funktionalen Einsatz der Sprache animieren, in denen also die Sprache genutzt werden muss, um ein Problem zu lösen (vgl. z.B.: Legutke 1997, 196). Dabei wird vor allem auf dieses zu lösende Problem fokussiert: Aufgaben sind vor allem ergebnisorientiert, indem die Bewältigung dieses Problems im Mittelpunkt steht. Dabei soll das Problem für die Lernenden eine „lebensweltliche Relevanz” (Müller-Hartmann & Schocker-von Ditfurth 2006, 4) haben, so dass ein authentischer Sprachgebrauch ermöglicht wird. 163 Neben dem lebensweltlichen Bezug ist auch die Form der sprachlichen Äußerungen relevant: Aufgaben integrieren durch eine sinnvolle Aufeinanderfolge von Teilaufgaben (dem task cycle, vgl. Willis, 1996) sowohl den focus on meaning als auch den focus on form (vgl. Piepho, 1996; Mu ̈ ller-Hartmann und Schockervon Ditfurth, 2006). Eine meiner Ansicht nach sehr gelungene Definition von Aufgaben bieten Müller-Hartmann und Schocker-von Ditfurth (2005, 2), da sie alle oben dargelegten Aspekte einer Aufgabe im Sinne des Task Based Language Learning berücksichtigen: Eine task nennt den Zweck und das erwartete Ergebnis einer Aktivität, sie legt den Schwerpunkt auf die Bedeutung dessen, was gesagt wird und nicht auf die Verwendung einer bestimmten Form (z.B. die Anwendung einer grammatischen Struktur), und sie versucht, die Sprache so zu verwenden, wie sie im Alltag vorkommen könnte (real or authentic language use). Damit sind tasks häufig komplexe Instruktionen, die aus mehreren Teilaufgaben bestehen. Tasks sind tendenziell eher offen formuliert, so dass Lernende selbst Antworten erstellen müssen, wobei sie selbstständig die Fremdsprache verwenden. Demgegenüber stehen eher geschlossene, kleine Formen der Instruktion, die gestellt werden, um gezielt einzelne sprachliche Formen abzufragen. Diese Form der geschlossenen Instruktion wird als Übung bezeichnet (vgl. Piepho, 1996; Legutke, 1997; Rösler, 2003). Im Kontext der Diskussion um TBLL scheinen Übungen häufig als schlechtere Form der In- 163 Zur Diskussion des Authentizitätsbegriffes in der Fremdsprachendidaktik vgl. Fußnote 38. <?page no="351"?> 351 struktionen. Eckerth (2003) und Rösler (2003) weisen daher zu Recht darauf hin, dass beide Formen der Instruktion im Lernprozess ihre Berechtigung haben und man ihnen keine pauschale Wertigkeit im Sinne einer ‚besseren oder ‚schlechteren’ Form der Instruktion zuweisen könne. Eine optimal gestaltete Aufgabe fordert den Lernenden heraus, seine Sprachfertigkeiten auszuschöpfen, ohne ihn zu überlasten. Das Verhältnis zwischen task support, also den Hilfen, die die Aufgabe bereitstellt, um dem Lernenden die erfolgreiche Bearbeitung der Aufgabe zu ermöglichen, und task demand, also den Anforderungen, die die Aufgabe an den Lernenden stellt, soll ausgewogen sein (vgl. Cameron, 2001). Ist dieses Gleichgewicht nicht gegeben, kann der Lernende mit der Aufgabenstellung überfordert sein und an ihr scheitern. Ein weiterer Erklärungsansatz für die nicht zufriedenstellende Bearbeitung von Aufgaben liegt im Konzept der task as workplan im Gegensatz zur task as process (vgl. Breen, 1987 und Wright, 1987). Während task as workplan die Aufgabe beschreibt, wie der Lehrende bzw, die Lehrmaterialmacher sie intendiert haben 164 , meint task as process die konkrete Durchführung der Aufgabe durch die Lernenden. Diese Unterscheidung hebt hervor, dass Lernende eine Aufgabe häufig anders auffassen und durchführen, als der Lehrer dies vorgesehen hat. Lernende verstehen die Handlungsaufforderung einer Aufgabe im Lichte ihres Vorwissen, ihrer Erwartungen an den Unterricht und aufgrund von persönlichen Faktoren. Dies kann zu Missverständnissen führen, die eine abweichende Auffassung der Aufgabe durch die Lernenden zur Folge haben. Im vorliegenden Projekt wird diese Unterscheidung von task as workplan und task as process insbesondere bei der Analyse der Aufgabenbearbeitung der dritten Woche deutlich, wie in den Kapiteln 6.1.3, 6.2.3 und 6.3.3 zu sehen war, und in Kapitel 7.2.2.3 systematisch diskutiert werden wird. 164 Dabei ist anzumerken, dass auch Lehrende eine Aufgabe für sich interpretieren, wenn sie diese nicht selbst entwickeln sondern aus Lehrmaterial entnehmen: „Teachers, too, have been shown to reinterpret tasks in the syllabus they work with[...], even to the extent that some of these manipulations may actually ‘detask’ the original pedagogic goals of the task” (van den Branden et al. 2009, 9). <?page no="352"?> 352 7.2.2. Die Umsetzung der Aufgabenstellungen Wie bereits dargelegt, hatten alle vier Treffen der einzelnen Gruppen unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte. Während die Kommunikation miteinander in der ersten und vierten Woche (das Kennenlernen untereinander sowie der Vergleich der kulturellen Themen zur Vorbereitung der gemeinsamen Präsentation) im Fokus stand, diente die virtuelle Welt in den Treffen der zweiten und dritten Woche (Besichtigung des Mauermuseums sowie der nachgebauten Wohnsiedlung) nicht nur als Kommunikationsmedium, sondern auch als Materialbasis, über die sich die Lernenden austauschten. Die Aufgabenstellungen 165 der einzelnen Treffen wurden den Lernenden jeweils zu Beginn der Woche in einem Blog angekündigt. Hier fanden sie auch immer einen Link zum entsprechenden Ort in Second Life, an dem das Treffen stattfinden sollte. Um den entsprechenden Treffpunkt zu finden war es also notwendig, den Blog zu besuchen und den Link zum Treffpunkt in der entsprechenden Aufgabenstellung anzuklicken. Da die Lernenden alle den korrekten Ort des Treffens gefunden haben, kann davon ausgegangen werden, dass die Lernenden die Aufgabenstellung vor dem Treffen bereits gelesen hatten. Es wäre allerdings auch möglich, dass die Lernenden lediglich den graphisch hervorstehenden Link anklicken, ohne die Aufgabenstellung zu lesen, in die dieser Link eingebettet war. Da ich ebenfalls in der virtuellen Welt durch meinen Avatar gegenwärtig war, hatten die Lernenden zudem die Möglichkeit, sich bei Unklarheiten bezüglich der Aufgabenstellung an mich zu wenden, was auch häufig geschah (vgl. z.B. Kapitel 6.4.1.4, Datenauszug 23) 7.2.2.1. Zum Umgang mit der Aufgabenstellung in der ersten Woche Die Aufgabenstellung des ersten Treffens war sehr offen gefasst: Die Lernenden sollten sich unter Bezugnahme auf die bereits ausgetauschten E-Mails weiter kennenlernen, indem sie Rückfragen zu den in den E-Mails erhaltenen Informationen stellen und in einem Gespräch das bisherige Kennenlernen vertiefen sollten. Die genaue Aufgabenstellung findet sich nachfolgend in Abbildung 26: 165 Abbildungen mit dem genauen Wortlaut der jeweiligen Aufgabenstellungen finden sich in den nachfolgenden Kapiteln 7.2.2.1 bis 7.2.2.4. <?page no="353"?> 353 Abb. 26: Wortlaut der Aufgabenstellung des ersten Treffens Alle Gruppen kommen beim ersten Treffen sehr schnell zu einem Gespräch. Hierbei ist die Einbeziehung der geschickten Nachrichten sehr unterschiedlich. Einige Gruppen klären zunächst ab, ob die E-Mails angekommen sind und gelesen wurden. In einer Gruppe aus zwei muttersprachlichen Gießener Studentinnen (Carolin und Astrid) und Mascha aus Polen gelingt die Einbindung der E- Mails in das gemeinsame Gespräch sehr gut: Die drei nutzen die in den E- Mails aufgegriffenen Hinweise und Interessen ihrer Partnerinnen und vertiefen diese im Gespräch, wie es beispielhaft in Datenauszug 78 deutlich wird: Datenauszug 78: Gespräch zwischen Astrid, Carolin und Mascha zu Wintersportarten im ersten Treffen Basierend auf der knappen Information aus Maschas Vorstellung, dass sie eisläuft, entwickelt sich ein Gespräch aller Gruppenmitglieder über ihre favorisierten Wintersportarten. Dieses Vorgehen entspricht der Intention der Aufgabenstellung. Es führt dazu, dass die Lernenden mehr übereinander er- 1. Treffen: Kalenderwoche 46, 9.11.-15.11.: Kennenlernen Aufgabenstellung: Ihr trefft Euch mit Eurem/ Euren Tandempartner/ Tandempartnern zur vereinbarten Zeit in der German Welcome Area im kleinen Dorf am Gasthaus (Teleport: http: / / slurl.com/ secondlife/ Schiller/ 90/ 117/ 23) Heute steht das gegenseitige Kennenlernen im Vordergrund. Durch die Vorstellungs-E- Mails kennt Ihr Euch ja schon ein bisschen. Stellt Nachfragen zu den E-Mails, redet über die Dinge, die in den Mails stehen, sucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede. <?page no="354"?> 354 fahren und auch Hintergrundinformationen zu einzelnen Einstellungen und Vorlieben genannt werden. Im Unterschied zu diesem Vorgehen beziehen sich andere Gruppen gar nicht auf die bereits gesendeten E-Mails. Dies hat mehrere Gründe: Entweder die Gruppenmitglieder haben die jeweilige Nachricht nicht gelesen, die Nachrichten liegen ihnen zum Gesprächszeitpunkt nicht vor oder aber die E-Mails werden während des Treffens gar nicht thematisiert. Teilweise hat dieses Fehlen der Nachrichten eine Verflachung der Unterhaltung zur Folge. So gibt Marius zu Beginn seines Treffens mit Alexandra an, das er ihre E-Mail zwar gelesen habe, sie ihm aber nicht vorliegt (vgl. Datenauszug 79). Da Alexandra seine Aussage nicht versteht, kommt das Gespräch ins Stocken. Marius wechselt daraufhin das Thema und fragt Alexandra, ob diese sich auch gerade an der Uni befände. Alexandra missversteht die Frage. Datenauszug 79: Beginn des Gesprächs zwischen Marius und Alexandra im ersten Treffen Durch Alexandras Fehlinterpretation der Frage aufgrund des Stichwortes ‚Uni' kommt es zu einem erneuten Themenwechsel. Marius greift das Thema Studium auf und fragt nach, was Alexandra macht, wobei in diesem Kontext davon auszugehen ist, dass er Informationen bezüglich ihres Studiums bekommen möchte. Diese Informationen hatte Alexandra ihm bereits per E- Mail übermittelt. Aufgrund des Fehlens der Nachricht kommt es zu einer Redundanz der von Alexandra übermittelten Informationen. Da das erste Treffen zunächst nur das Kennenlernen der Partner und des Mediums Second Life beinhaltet, ist diese inhaltliche Dopplung für die Arbeit am Thema nicht problematisch. Sie kann allerdings dazu führen, dass die Stimmung in der Gruppe sinkt, da ein Gruppenmitglied im Sinne der Media- Richness-Theorie (vgl. Kapitel 7.1.2.1) doppelte Kosten bei der Produktion von Informationen hat und hieraus keinen Nutzen ziehen kann. Allerdings <?page no="355"?> 355 thematisiert Marius dies und entschuldigte sich vorab für eventuelle Dopplungen und beugt so einer Verschlechterung des Gruppenklimas vor. Die adäquate Bearbeitung der Aufgabenstellung konnte nur erfolgen, wenn die E-Mails der Partner gelesen und die Informationen aus den E-Mails den Partnern gegenwärtig waren, um direkt auf Aussagen Bezug zu nehmen. Fehlten diese Vorleistungen, wiederholte sich in den Treffen häufig der Inhalt der E-Mails, so dass es inhaltlich kaum zu Fortschritten kam. Für eine überarbeite Aufgabenformlierung scheint es also sinnvoll, den Lernenden ausdrücklich aufzutragen, die ausgedruckte E-Mail als Textgrundlage für das erste Treffen mitzubringen. Eine derartige Aufgabenformulierung könnte wie folgt lauten: Ihr trefft Euch mit Eurem/ Euren Tandempartner/ Tandempartnern zur vereinbarten Zeit [Ortsangabe]. Heute steht das gegenseitige Kennenlernen im Vordergrund. Durch die Vorstellungs-E-Mails kennt Ihr Euch ja schon ein bisschen. 1.) Druckt euch die E-Mails eurer Partner aus. Lest zuhause die E-Mails eurer Partner und markiert interessante Themen, auf die ihr im Gespräch eingehen möchtet! 2.) Bringt die ausgedruckten E-Mails mit Markierungen zum Termin des ersten Treffens mit. 3.) Stellt Nachfragen zu den E-Mails, redet über die Dinge, die in den Mails stehen, sucht Gemeinsamkeiten und Unterschiede. 7.2.2.2. Zum Umgang mit der Aufgabenstellung in der zweiten Woche Im zweiten Treffen war zunächst vorgesehen, die virtuelle Umgebung des DDR-Museums Berlin zu besichtigen. Die diesbezügliche Aufgabenstellung wurde in den Blog des Projektes gepostet und von den Teilnehmern gelesen. Als sich die erste Gruppe an dem für diese Aufgabenstellung vorgesehenen Ort einfand, mussten wir feststellen, dass aufgrund technischer Probleme die geplante Aktivität nicht durchgeführt werden konnte. Die Aufgabenstellung wurde kurzfristig auf die folgende Woche gelegt und mit der für die Folgewoche vorgesehenen Aufgabenstellung getauscht. Damit stand für die zweite Woche die Besichtigung des Mauermuseums ‚The Wall’ sowie einer Ausstellung am virtuellen Brandenburger Tor, das durch die Berliner Touristikbüros unterhalten wurde, auf dem Programm. Da die Lernenden allerdings die ursprüngliche Aufgabenstellung gelesen hatten und ich nicht sicher war, ob sie die neue Aufgabestellung rechtzeitig lesen würden, entschied ich mich dafür, ihnen die Änderung der Aufgabe, verbunden mit der neuen Aufgabenstellung <?page no="356"?> 356 und dem hierzu passenden Link, direkt in der virtuellen Welt durch den Text- Chat mitzuteilen. Abb. 27: Wortlaut der Aufgabenstellung der zweiten Woche Die Lernenden trafen also am ursprünglichen Treffpunkt vor der DDR- Umgebung ein. Nach einer Begrüßungssequenz sowie der Wahl eines gemeinsamen Referatsthemas erklärte ich den Gruppen per Text-Chat die Planänderungen aufgrund von technischen Problemen in der DDR- Umgebung und teilte ihnen das Alternativprogramm mit (vgl. Kapitel 5.3.1). Daraufhin bekamen die Lernenden den neuen Ort ( die Mauerausstellung ‚The Wall‘) von mir mitgeteilt und eine Landmark, einen internen Link, der zu diesem Ort führt, geschickt und die Gruppen begaben sich dorthin. In den Daten zu Besichtigung der Ausstellung konnte beobachtet werden, dass nur ein geringer Teil der Gruppen miteinander ins Gespräch kam: Die jeweiligen Tandems und Tridems gingen vor allem stumm durch die Ausstellung, wie in Kapitel 6.4 bereits ausführlich gezeigt wurde. In Gruppe 1 (vgl. Kapitel 6.4.1.2) liefen die Teilnehmerinnen einzeln durch die Ausstellung und benötigten hierfür lediglich 18 Minuten. Sie gaben Anmerkungen zu Geräuschen und der Ausstellung, nur selten machten sie Äußerungen zu den Inhalten der Tafeln, so dass auch in Anbetracht der Zeit fraglich ist, wie viele der Tafeln die einzelnen Gruppenmitglieder gelesen haben. Gruppe 2 (vgl. Kapitel 6.4.2.2.) lief bis auf wenige Kommentare weitestgehend still durch die Ausstellung, wobei die Teilnehmer dazu neigten, meinem Avatar zu folgen. Auch Gruppe 3 (vgl. Kapitel 6.4.3.2) läuft vereinzelt durch die Ausstellung, wobei Annas Avatar lange Zeit vorne an der Ausstellung stehen bleibt. Neo und Michael machen vereinzelt Aussagen zur Umgebung, Neo erwähnt auch den Checkpoint Charlie und berichtet, dass er diesen besucht habe, aber auch in dieser Gruppe kommt es zu keinem inhaltlichen Austausch über die Ausstellung. Ytc: Aufgrund von technischen Problemen machen wir heute ein Alternativprogramm. Wir werden eine Mauerausstellung und das virtuelle Brandenburger Tor in Berlin besuchen. Da gibt es zum Jubiläum des Mauer falls ach eine Ausstellung. Lauft jeweils gemeinsam durch die Ausstellungen und sprecht miteinander darüber, was ihr seht. Wenn euch etwas überrascht oder ihr etwas nicht versteht, sprecht in der Gruppe darüber. Bei Problemen und Fragen werde ich auch immer mit meinem Avatar in der Nähe sein! <?page no="357"?> 357 Ein derartig stilles Verhalten ist typisch für fast alle Gruppen. Im Durchschnitt verbringen die Gruppen 42,7%. der Zeit, die sie in den Ausstellungen verbringen, schweigend (vgl. Kapitel 7.4). Damit entsprach ein Großteil der Gruppen nicht der Aufgabenstellung, zu der nicht nur gehörte, sich die Ausstellung anzusehen, sondern auch, sie als Kommunikationsanlass zu nehmen: „[...]und sprecht miteinander darüber, was ihr seht“ (vgl. Abbildung 27). Es gab nur eine Gruppe, die ein längeres inhaltliches Gespräch führte. Dieses Gespräch fand aber auch erst am Anschluss an die Ausstellung statt. Während der Besichtigung hielt die Gruppe darüber hinaus immer wieder Kontakt zueinander, indem sich Mitglieder einander fragen, ob sie den Inhalt der Plakate verstehen oder dargestellte Themen kennen. Die inhaltliche Beschäftigung mit der Aufgabenstellung und das landeskundliche Lernen innerhalb der Gruppe werden in Kapitel 8.2 analysiert. Für die fehlende Kommunikation innerhalb der meisten Gruppen können zwei mögliche Gründe gefunden werden: zum einen erhielten die Lernenden die Aufgabenstellung sehr unvermittelt und spontan: Sie gingen mit der Erwartung einer anderen Aufgabenstellung in das Treffen und sahen sich dann kurzfristig mit einer anderer Aufgabe konfrontiert. Zum anderen erforderte die Umgebung, in der sie sich befanden, eine hohe Aufmerksamkeit der einzelnen Lernenden: Sie mussten Texte lesen, Bilder betrachten und ihre Avatare durch die Umgebung steuern. Da hierbei komplexe Aufgaben zu erledigen waren, könnte das gemeinsame Gespräch hierunter gelitten haben: Die Lernenden konnten nicht gleichzeitig lesen und reden. Der task demand war also eventuell zu hoch. Eine weniger überfordernde Aufgabenstellung wäre eine gewesen, die die Aufgabe zweigeteilt hätte. Für die mögliche Überforderung spricht auch, dass die Gruppe, die längere Gespräche über das Gesehene führte, diese am Ende der Ausstellung tat. Ihr vom ‚workplan’ abweichender ‚process’ (vgl. Kapitel 7.2.1) führte also letztlich zur erfolgreichen Kommunikation. Allerdings berücksichtigt diese abweichende Aufgabenausführung nicht das Potenzial der virtuellen Welt, gleichzeitig Material und Begegnungsort zu sein. Gerade das gemeinsame Anschauen der Umgebung stellt ja den Mehrwert dieses Mediums dar. Eine mögliche neuformulierte Aufgabenstellung, die zum einen die unterschiedliche Rezeptionszeit der Gruppenmitglieder, zum anderen das gemeinsame Erleben in der virtuellen Welt berücksichtigt, könnte wie folgt lauten: 1.) Schaut Euch die Ausstellung an, 2.) Sucht zwei Orte (Ausstellungstafeln, Fotos oder Gestaltungen der Umgebung) aus, zu denen Ihr Nachfragen habt oder über die Ihr mit Euren Partnern sprechen wollt. Nach Ende der Besichtigung geht mit den Ande- <?page no="358"?> 358 ren zu diesen zwei Orten zurück und erklärt Ihnen, warum Ihr diese Orte ausgewählt habt. 7.2.2.3. Zum Umgang mit der Aufgabenstellung in der dritten Woche In der dritten Woche fand der schon für Woche zwei angesetzte Spaziergang durch die nachgebaute Wohnsiedlung in Berlin Marzahn statt, die das DDR-Museum Berlin in Auftrag gegeben hatte (vgl. Abb. 7 und 8). Die Aufgabenstellung für das Treffen lautete: Abb. 28: Wortlaut der Aufgabe des dritten Treffens. Diesmal war den Gruppen die Aufgabenstellung bereits durch den Blog hinlänglich bekannt. Nachdem sich die Gruppen vor der Umgebung eingefunden hatten, schienen sie dennoch verunsichert und nicht genau zu wissen, was auf sie zukommt. Alle Gruppen nahmen mein Angebot, ihnen die Aufgabenstellung noch einmal im Text-Chat zukommen zu lassen, an. Die Aufgabe ist zwar graphisch untergliedert, aber eine explizite Unterteilung in Teilaufgaben findet nicht statt. Der komplette Verlauf des Treffens ist bereits in der Aufgabenstellung abgebildet. Die ersten Gebäude, das Kaufhaus und das Café, befanden sich direkt am Eingang der Umgebung, so dass sie sehr einfach zu finden waren. Während einige Gruppen sich über die Orte unterhielten (vgl. z.B. Kapitel 6.4.3.3), gab es auch immer wieder Lernende, die nach Auffinden der Orte die Partner dazu aufforderten, den nächsten Ort zu finden. Dies wird auch bei Gruppe 2 deutlich, bei der sehr schnell nach Auffinden der Orte der Impuls von einem Aufgabenstellung des 3. Treffens Veröffentlicht am 13. November 2009 | Ihr trefft Euch mit Eurem/ Euren Tandempartner/ Tandempartnern an einem Grenzübergang zur DDR. [Teleport-Link] Versucht gemeinsam, in die DDR „einzureisen”. Findet Ihr die Einreiseunterlagen? Spaziert zusammen durch den Stadtteil und lasst ihn auf Euch wirken. Redet darüber, was Euch auffällt, wie die Gegend auf Euch wirkt. Findet Ihr die folgenden Orte in der Umgebung? • Kaufhalle • Café • Kiosk • Es gibt ein Hochhaus mit Wohnungen, in das man hinein laufen kann. Findet Ihr dieses Haus? Besprecht nach Eurem kurzen Rundgang, welche Fragen - zum einen allgemein, zum anderen im Bezug auf die besichtigte Umgebung - im Bezug auf die DDR bei Euch auftauchen. <?page no="359"?> 359 der Gruppenmitglieder kommt, weiter zu gehen (vgl. Kapitel 6.4.2.3). Sie hatten nur die Suche nach den Orten als Aufgabe wahrgenommen, die Diskussion der dort dargestellten Themen übergingen sie. Die Aufgabenstellung zu diesem Treffen war sehr umfangreich. Nicht nur die Vielzahl an zu findenden Orten, auch die Länge des Textes dürfte das Erfassen der Aufgabenstellung erschwert haben. Auch bei der folgenden Gruppe, bestehend aus Ulla und Frieda, zwei muttersprachlichen Gießener Studentinnen, und Carolina aus Breslau wird diese Fokussierung auf das Auffinden der Gebäude deutlich (vgl. Datenauszug 80): Datenauszug 80: Fokussierung auf das Auffinden der Gebäude Es kommt, aufgrund einer Fehlinterpretation der Aufgabenstellung, also nicht zu einer tiefgehenden inhaltlichen Diskussion der Darstellungen. Andere Gruppen sind, nachdem sie die ersten Gebäude besucht haben, unsicher, welche weiteren Orte sie aufsuchen sollen. Bei diesen Gruppen erfolgen Rückfragen an mich, was sie nun tun sollen oder welche Gebäude sie noch finden müssen. Hierbei wird ein weiterer problematischer Aspekt der Aufgabenstellung deutlich: Alle Aufgaben werden am Anfang zusammen gegeben. Durch die Menge der Informationen wurden einige Angaben wieder vergessen. Hier wäre es vermutlich zielführender gewesen, wenn die Gesamtaufgabe unterteilt worden wäre in kleine Teilaufgaben, die die Lerngruppen nacheinander in einer Art ‚Schnitzeljagd’ bekommen, nachdem der letzte Ort gefunden und besprochen wurde. Eine revidierte Fassung der Aufgabenstellung 166 für diese Woche könnte also lauten: 1.) Ihr trefft Euch mit Eurem/ Euren Tandempartner/ Tandempartern an einem Grenzübergang zur DDR. [Teleport-Link ]Versucht gemeinsam, in die DDR „einzureisen”. Findet Ihr die Einreiseunterlagen? 2.) Spaziert zusammen durch den Stadtteil und lasst ihn auf Euch wirken. Redet darüber, was Euch auffällt, wie die Gegend auf Euch wirkt. 166 Bei der Aufgabenstellung werden die einzelnen Unteraufgaben nacheinander gegeben, wenn die vorige Aufgabe erfüllt wurde. <?page no="360"?> 360 3.) Findet Ihr die Kaufhalle? Geht in die Kaufhalle und sprecht darüber, was ihr seht. Was fällt euch auf? 4.) Findet Ihr das Café? Geht in das Café und sprecht darüber, was ihr seht. Was fällt euch auf? 5.) Findet Ihr den Kiosk? Geht in den Kiosk und sprecht darüber, was ihr seht. Was fällt euch auf? 6.) Es gibt ein Hochhaus mit Wohnungen, in das man hinein laufen kann. Findet Ihr dieses Haus? 7.) Geht in das Haus und die einzelnen Wohnungen. Sprecht darüber, was ihr seht. Was fällt euch auf? 8.) Besprecht nach Eurem Rundgang, welche Fragen - zum einen allgemein, zum anderen im Bezug auf die besichtigte Umgebung - im Bezug auf die DDR bei Euch auftauchen. 7.2.2.4. Zum Umgang mit der Aufgabenstellung in der vierten Woche In der vierten Woche umfasste die Aufgabenstellung die Vorbereitung der Gruppenpräsentation. Dazu gehörte neben organisatorische Absprachen vor allem die gegenseitige Vorstellung der Rechercheergebnisse, die jeder Lernende individuell zum Gruppenthema vorbereitet hatte. Im Anschluss sollten diese Recherchen miteinander verglichen werden, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Ländern herauszuarbeiten (vgl. Abb. 29). <?page no="361"?> 361 Abb. 29: Wortlaut der Aufgabenstellung im Blog zur vierten Woche Die Aufgabenstellung war auch dieses Mal relativ umfangreich, nun allerdings in einzelne Punkte untergliedert. Ein Großteil der Aufgabenstellung umfasste zudem Hinweise auf das Einsenden der Power-Point-Präsentation. Obwohl die Aufgabenstellung durch die einzelnen Schritte (Vorstellen der Ergebnisse, Vergleichen der Länder, Auswahl der Inhalte der Präsentation und organisatorische Absprachen zur Präsentationserstellung) meiner Annahme nach eindeutig war, wich ein erheblicher Teil der Gruppen von der Aufgabenstellung ab: Die Meisten diskutierten vor allem den Aufbau der gemeinsamen Präsentation, also die Anzahl der Folien und deren Inhalt. Der Inhalt wurde allerdings immer nur auf einer Metaebene anhand von Überschriften und Stichwörtern erwähnt und in diesem Schritt der Aufgabenbearbeitung nicht konkret erörtert. Auch in Gruppe 3 wird dieses Vorgehen deutlich (vgl. Kapitel 6.3.4.). Ebenso zeigt das nachfolgende Transkript, dass eine weitere Gruppe den Fokus auf die Organisation der Präsentation legt: 4. Treffen, Aufgabenstellung: Heute trefft Ihr Euch wie beim ersten Treff in der German Welcome Area [Teleport-Link] Bei diesem Treffen geht es darum, dass Ihr Eure Präsentation plant. Bitte geht dafür folgendermaßen vor: 1. Stellt Euch gegenseitig Eure Rechercheergebnisse vor. 2. Vergleicht und diskutiert die Unterschiede zwischen den Ländern 3. Überlegt, was Ihr in eurer Präsentation vorstellen wollt. 4. Plant, wer die Präsentation erstellt. Die Präsentation sollte bis zum 12.12., 20 Uhr an die E-Mailadresse [...] geschickt sein, damit ich sie in Second Life hochladen kann! Damit diese Gespräche ohne Probleme verlaufen, ist es sehr wichtig, dass Ihr bei diesem Treffen Voice-Chat habt. Wenn das von zu Hause nicht möglich ist, kommt bitte ins Kolleg (Breslau) bzw. ins Büro (Gießen). Ihr habt nur 10 Minuten für Eure Präsentation, dies dürft Ihr nicht vergessen! Wenn Ihr eine Power-Point-Präsentation machen wollt, bedeutet dass, dass ihr ca. 8 Folien vorstellen könnt, mehr ist in der Zeit nicht machbar. Wenn Ihr keine Power-Point-Präsentation machen wollt, notiert bitte im Blog, wie Ihr Euer Thema zeigen wollt, damit ich die entsprechenden Vorbereitungen für die Präsentationssitzungen treffen kann! <?page no="362"?> 362 Datenauszug 81: Aufgabenbearbeitung in der dritten Woche durch Astrid, Carolin und Mascha. <?page no="363"?> 363 Der Gesprächsausschnitt in Datenauszug 81 umfasst 5 Minuten. Da die Treffen immer zur vollen Stunde beginnen, wird deutlich, dass schon rund ein Viertel der Zeit um ist und sich die Gruppe mitten im Treffen befindet. Die Gruppe diskutiert ausschließlich den Aufbau der Präsentation. Die konkreten Inhalte, die sich im Rahmen der Präsentation vorstellen möchten und deren Thematisierung die Aufgabenstellung befolgen würde, werden nicht angesprochen. Auch im weiteren Verlauf des Treffens setzt sich die Konzentration auf die Organisation der Präsentation fort. Bezogen auf alle Gruppen der Untersuchung ist festzustellen, dass die Gruppen durchschnittlich 38,87% der Gesamtzeit des vierten Treffens mit Absprachen der Präsentationsorganisation verbrachten. Diese starke Fokussierung auf die Organisation der Präsentation ist vermutlich mit der Erwartung der Lernenden begründbar, die diese Präsentation als sehr wichtig erachten. Die Präsentation ist ein Produkt, das am Ende der gemeinsamen Zeit hergestellt werden soll, weshalb es von vielen Lernenden als Gruppenergebnis wahrgenommen werden könnte. Vielleicht erwarten sie eine Bewertung ihrer Leistungen anhand dieser Präsentationen und wollen daher sicherstellen, ein gutes Produkt abzuliefern 167 . In den Gesprächen der Gruppen wurde darüber hinaus deutlich, dass sie zudem sehr unsicher hinsichtlich der technischen Durchführung der Präsentation in Second Life waren (vgl. Datenauszug 49). Die Fokussierung auf die Gliederung und Verteilung der Präsentationsteile könnte dem hieraus resultierenden Sicherheitsbedürfnis der Lernenden geschuldet sein. Zukünftige, ähnlich angelegte Projekte sollten die Aufgabenstellung kleinschrittiger und detaillierter darlegen. Zudem wird die Schwierigkeit von Projektpräsentationen bei Distanzgruppen deutlich: Durch die Entfernung zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern sind die Teilnehmenden sehr unsicher und fokussieren sich sehr stark auf die Organisation ihrer Präsentation. Um dem entgegenzuwirken, könnten gemeinsame Produkte lediglich ausgestellt, aber nicht präsentiert werden. Soll das Prinzip der Präsentation beibehalten werden, ist eine stärkere Einbindung der Lehrkraft in die technische Vorbereitung und Durchführung notwendig, um die Lernenden hiervon zu entlasten. Insgesamt sollte der Lehrende hier stärker eingreifen, um den Lernenden Sicherheit zu geben sowie sie auf die inhaltliche Dimension der Aufgabe hinzuweisen, wenn diese bei den Lernenden aus dem Blick gerät. 167 Insbesondere auf polnischer Seite ist diese Annahme wahrscheinlich. Die Lehrerin der polnischen Studierenden wies immer wieder auf die Bedeutung der abschließenden Präsentationen hin und auch wenn wir explizit vereinbart hatten, dass der Fokus des Projekt auf dem Austesten neuer Medienformate lag und die Produkte der Gruppen nicht im Zentrum des Projektes stehen, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie die Präsentationen im Nachhinein doch benotet hat. <?page no="364"?> 364 Auch dürfte es dienlich sein, den Lernenden die Bewertungskriterien der gemeinsamen Arbeit offen darzulegen, so dass ihnen ersichtlich wird, dass die Bewertung des Produkts nur einen Teil der Gesamtnote ausmacht. 7.2.3. Zusammenfassung: Aufgabenstellungen in virtuellen Austauschprojekten Im Hinblick auf die Aufgabenstellungen konnte festgestellt werden, dass die unterschiedliche Art der Aufgabenstellung der einzelnen Treffen sich auch im Kommunikationsverhalten der Gruppenmitglieder widerspiegelt: Die Kommunikation der Lernenden bei den Treffen, in denen sie gemeinsam die Mauerausstellung und den Nachbau der DDR-Wohnsiedlung betrachtet haben, war geringer als bei den Treffen, bei denen die Aufgabenstellung die Lernenden zur Kommunikation aufforderte. Dies kann erklärt werden mit dem Umstand, dass die Rezeption des Materials einen Teil der Zeit beansprucht (vgl. hierzu auch Kapitel 6.4.1.4). Es wurde aber darüber hinaus deutlich, dass viele der Lernenden in den Momenten, in denen sie von der virtuellen Welt in hohem Maße gefordert wurden - entweder da sie aufgrund der Multimodalität viele Handlungen gleichzeitig ausführten (reden, tippen, laufen) oder viele Informationen simultan im Text-Chat, im Voice-Chat und in der virtuellen Umgebung rezipieren mussten - die eigentliche Aufgabenstellung nicht mehr beachteten. So konnte beobachtet werden, dass die Gruppen häufig nicht gemeinsam durch die Ausstellungen gingen, sondern dass sich die Mitglieder einzeln durch diese bewegten. War dies der Fall, tauschten sich die Partner während der Besichtigung auch nicht miteinander aus, sondern holten dies, wenn überhaupt, am Ende der Besichtigungen nach. Ebenso kann sichdas Ausprobieren der technischen Möglichkeiten, das im Beispiel von Anna (vgl. Kapitel 6.4.3.1) dazu führt, das sich ein Gruppenmitglied von den anderen entfernt, kommunikationsstörend auswirken, auch wenn in diesem Fall die beiden Kommunikationspartner die räumliche Distanz nicht als intendierte kommunikative Distanz interpretieren und der Partnerin folgen. Die Aufgabenstellungen, die für die einzelnen Treffen vorgegeben waren, wurden stets zu Wochenbeginn in einen projektbegleiteten Blog gestellt. Offensichtlich hatten die Teilnehmer die Aufgaben im Blog zwar gelesen - dies war notwendig, um den jeweiligen Treffpunkt zu erfahren - ihnen war allerdings dennoch, kaum in der virtuellen Welt angekommen, die Aufgabenstellung nicht mehr präsent. Als den Lernenden die Aufgabenstellung daraufhin in der virtuellen Welt geschickt wurde, erschien die Berücksichtigung der Aufgabenstellung höher. Es ist also zu vermuten, dass auch das Medium der <?page no="365"?> 365 Aufgabenstellung eine Rolle für ihre Rezeption spielt; hier wirkte sich das Übereinstimmen des Mediums von Aufgabenstellung und Lernumgebung positiv auf die Aufgabenrezeption aus: Die Aufgabe erscheint als Teil des Settings, in dem Lernen stattfindet, so dass sich die Lernenden in dem Moment, wo sie im Lernmedium agieren, auch mit der Aufgabe auseinandersetzen. Während die Lernenden Aufgaben, die sie vorher in einem anderen Medium rezipiert hatten, schnell nicht mehr präsent hatten, wurden Aufgabenstellungen, die in der virtuellen Welt gegeben wurden, länger verfolgt. Die Lernenden bekamen bei den Treffen der zweiten und dritten Woche die sehr offene Aufgabenstellung, gemeinsam durch die Umgebung zu laufen und sich darüber auszutauschen, was sie sehen, dies zu diskutieren und Bezüge zu ihrem eigenen Land herzustellen. Die Offenheit der Aufgabenstellung war sehr bewusst gewählt, da diese Studie explorativ angelegt ist und in einem möglichst offen gehaltenen Setting Erkenntnisse dazu liefern sollte, wie die Lernenden in der virtuellen Welt miteinander agieren. Bei dem Spaziergang durch Berlin-Marzahn beinhaltete die Aufgabenstellung, dass die Gruppe vier bestimmte Gebäude aufsuchen sollten, um über diese zu reden. Auch hier zeigten einige Gruppen nach kurzer Zeit Unsicherheiten darüber, welche Gebäude genannt wurden. An dieser Aufgabenstellung wurde darüber hinaus das unter 7.2.1 dargelegte Prinzip der task as workplan im Gegensatz zur task in process deutlich: viele Gruppen interpretierten die Aufgabenstellung dahingehend, dass sie lediglich die Orte finden sollten. Sie fokussierten sich derart auf den ersten Teil der Aufgabenstellung, dass sie das Gespräch über die Orte, das als eigentliche Aufgabenstellung beabsichtigt war, völlig ausblendeten. Anhand der Ergebnisse wird deutlich, dass sehr kleinschrittige Aufgabenstellungen, gerade bei komplexen multimodalen Lernumgebungen, wichtig ist. Statt einer Liste mit der kompletten Aufgabe für die ganze Stunde wäre das Unterteilen der Aufgabe in Teilaufgaben sinnvoll gewesen, welche nach und nach von den Lernenden abgearbeitet werden können Damit bestätigt die Untersuchung Müller-Hartmann und Raith (2008), die darauf hinweisen, dass Lehrende bei Aufgabenstellungen im digitalen Medien die erhöhten Anforderungen, die an die Lernenden durch das Medium gestellt werden verringern sollen. Dies gelinge, indem die Lehrer darauf achten „stärker vorzustrukturieren, differenzierte Anforderungen zu stellen, klare task- Sequenzen zu entwickeln und mehr task support zu geben” (ebd., 5). <?page no="366"?> 366 7.3. Die Rolle der Avatare für Begegnungen in virtuellen Welten Avatare spielen für die Nutzer virtueller Welten eine besondere Rolle. Sie werden von den digitalen Figuren in der virtuellen Welt repräsentiert. In den drei Gruppen aus Kapitel 7 wurde gezeigt, dass es bei vielen Nutzern darüber hinaus zu einer intensiven Identifikation des Selbst und der Partner mit den jeweiligen Avataren kommt. Zunächst sollen theoretische Überlegungen und Studien zu Avataren vorgestellt werden (Kapitel 7.3.1). Diese wurden vornehmlich unter soziologischen Fragestellungen durchgeführt. Im Anschluss soll die Übertragbarkeit dieser Erkenntnisse auf fremd-sprachliche Begegnungsprojekte geprüft werden. Es wird untersucht, welche Relevanz die Avatare für die Teilnehmer des Projektes hatten und wie sich die virtuellen Figuren auf die Begegnung auswirkten. Im Rahmen der fremdsprachendidaktischen Diskussion um Identität sollen diese Verhaltensweisen diskutiert werden um darzustellen, ob es sich bei den Avataren von Begegnungsprojekten in virtuellen Welten um eine neue Form der Selbstdarstellung im Fremdsprachenlernprozess handelt. 7.3.1. Avatare: Identität und Inszenierung in virtueller Welten In unserer Gesellschaft ist die Frage nach dem ‚Ich’ eine zentrale. Durch den Bildungsstand, über den die Menschen heute verfügen, aufgrund der durch Modernisierungsprozesse umfangreicher vorhandenen Zeit und auch dank der durch Demokratisierungsprozesse vergrößerten Handlungsautonomie können sich Menschen mit sich selbst auseinandersetzen (vgl. Kaufmann, 2005 und Hoffmann, 2011). „Selbstdarstellung ist heute deshalb wichtig, weil sie die gesellschaftliche Dynamik der Individualisierung des Einzelnen in den Wirklichkeitsmittelpunkt der Gesellschaft stellt” (Bachmair 2011, 99). Diese im englischen Raum als construction of identity bezeichnete Arbeit am eigenen Ich ist ein „nie abzuschließendes Projekt” (Vogelsang 2010, 38), ein Prozess, der kontinuierlich über alle Lebensspannen relevant ist; allerdings mit unterschiedlich starker Intensivität. Insbesondere in der Pubertät ist die construction of identity ein zentraler Aspekt im Leben von Jugendlichen, eine zentrale Entwicklungsaufgabe (vgl. Fend 1991). Um die gewünschte Identität zu inszenieren, haben Narrationen eine große Bedeutung; Individualität wird zur Selbsterfindung: Individualität wird bei Rorty [1989, K.B] als Netz von Kontingenzen begriffen, dessen Kohärenz allemal situativ und durch narrative biographische Konstruktionen immer wieder neu und anders hergestellt wird. Dabei bedient sich <?page no="367"?> 367 das Individuum historisch und kulturell jeweils verfügbaren Möglichkeiten solcher Selbst-Formationen. (Becker 2004, 175) Die Inszenierung der eigenen Identität hat in der computervermittelten Kommunikation schon immer eine besondere Rolle gespielt. Seitdem Menschen über Computer miteinander kommunizieren, konnten über getroffene Aussagen immer auch Rückschlüsse auf die Person gezogen werden, die diese getätigt hat. Da man diese Person selbst nicht kannte, waren diese Aussagen von besonderer Bedeutung. Die Inszenierung von Identität war also zunächst auf Worte beschränkt, wie Rheingold prägnant zusammenfasst: Wir reduzieren und codieren unsere Identitäten zu Worten auf dem Bildschirm und decodieren und entfalten die Identitäten anderer. Die Art und Weise, wie wir diese Worte benutzen und die Geschichten (wahre und erfundene), die wir über uns erzählen (oder über die Identität, für die wir von anderen gehalten werden wollen), bestimmen unsere Identität im Cyberspace. (Rheingold 1994, 100) Durch die mit Web 2.0 bezeichneten Formate im Internet wird es für Nutzer immer einfacher, sich selbst einer unendlich großen Community darzustellen (vgl. Kapitel 4.1). Indem Nutzer des Web 2.0 nicht mehr nur Konsumenten sind, sondern das Netz zum „Mitmach-Internet” (Müller-Hartmann und Raith 2008) wird, bilden sich Medien-plattformen, in denen sich Nutzer auf unterschiedlichste Art und Weise darstellen können, in Videos (YouTube), in Profilen (Soziale Netzwerke) oder in Tagebüchern (Weblogs). In virtuellen Welten wird der Nutzer durch einen Avatar repräsentiert. Mit einem Avatar bezeichnet man ein Bild oder eine Figur, die den Nutzer im jeweiligen Computerprogramm repräsentiert. Der Begriff Avatar leitet sich aus dem Sanskrit ab und bedeutet ‚der Herabsteigende bzw. ‚der Herabstieg (siehe hierzu ausführlich Damer 1998, 482): Mit Avatara bezeichnet der Hinduismus das Annehmen einer irdischen Gestalt durch eine Gottheit. Die fleischgewordene Gottheit soll die Menschen zum rechten Glauben führen. Durch Science-Fiction-Romane, vor allem den Roman Snow Crash (Stephenson 1992), wurde der Begriff Avatar für virtuelle Stellvertreter in Computerwelten eingeführt und verbreitet. Avatare lassen sich nach ihrer Komplexität klassifizieren. In Form einfacher Bilder lassen sie sich in zahlreichen Softwareanwendungen finden. Animierte Avatare können vorgegeben und nicht variierbar sein 168 oder unter- 168 Dies ist bei zahlreichen Action-Computerspielen der Fall, in denen die Heldenfigur feststeht, beispielsweise Lara Croft in Tomb Raider. Derartig vorgegebene <?page no="368"?> 368 schiedlich stark variiert werden. Für virtuelle Welten haben Avatare eine besondere Bedeutung: Da in virtuellen Welten keine vorgegebene Handlung existiert, ist hier die Selbstdarstellung und Interaktion mit anderen ein zentrales Thema. Entsprechend kommt auch den Avataren eine gesteigerte Bedeutung zu; sie werden zu virtuellen Stellvertretern: Der Avatar stellt in diesen Fällen nicht selten eine dezidiert diskursive visuelle Form des Selbstausdrucks (aber nicht notwendig der visuellen Selbstrepräsentation) dar, in der Körpernormen und -ideale, Genderaspekte, subkulturelle Inklusionen und Exklusionen performativ verhandelt werden (Svarog 2007, zitiert nach Jönissen 2009, 129). In virtuellen Welten wird der Inszenierung der eigenen Identität durch die freie Gestaltbarkeit des Avatars umfassende Möglichkeiten gegeben. Mit der detaillierten Ausgestaltung des Avatars nimmt auch die Identifikation der Nutzer mit dem Avatar zu (vgl. Martin 2005, 1; Misoch 2009, 178f.). Durch den Avatar können die Nutzer in spielerischer Weise die eigene Identität innerhalb der virtuellen Welt konstruieren und verändern (vgl. Marotzki & Nohl 2004, 338f). Jörissen (2008) bringt es auf die Formel „the body ist the message”. Im Gegensatz zu anderen medialen Identifikationsfiguren, wie Filmcharakteren oder Popmusikern, können sich Jugendliche selbst eine Figur erschaffen, die ihrem angestrebten Selbstbild entspricht; Avatare werden mit dem Ziel gestaltet, über den Avatar positive Rückmeldung Anderer zu erhalten, welche das gewünschte Selbstbild bestätigen. Insofern sind virtuelle Identitäts-Erfindungen auf den ersten Blick nicht als solipsistische Strategien zu bezeichnen, da sie in Bezug auf Andere erfolgen, auf mögliche Reaktionen antworten und innerhalb des jeweiligen normativen Rahmens bleiben. (Becker 2004, 177) Damit werden Avatare - trotz der unendlichen Möglichkeiten der Gestaltung - häufig so dargestellt, dass sie Subkulturen aus dem Leben der Nutzer aufgreifen: In der Regel jedoch werden diese Avatare eher konventionell verwendet, indem bestimmte jugend- und subkulturelle Zugehörigkeiten durch entsprechende Auswahl typisierender Haar- und Kleidungsformen angezeigt werden. (Jörnissen 2009, 127f.) Dennoch sind diese konstruierten Identitäten der Avatare freier als die Selbstdarstellung im Alltag, da man in der virtuellen Welt nicht mit dem ge- Avatare nennt Kromand (2007) geschlossene Avatare, denen die offenen, also die individuell gestaltbaren Avatare, gegenüber stehen. <?page no="369"?> 369 wohnten Umfeld und alltäglichen Rollenvorstellungen konfrontiert wird (vgl. Bachmair 2011, 108f.). Die gebotenen Möglichkeiten sind vielfältiger, und aufgrund der Anonymität kann man in virtuellen Welten mehr wagen, ohne dass dies direkte Auswirkungen auf das reale Leben hat (vgl. Hoffmann 2011, 30). Dieser Freiraum für Experimente übt einen großen Reiz auf jugendliche Nutzer aus, der von Kritikern als ‚Flucht aus der Realität’ dargestellt wird 169 . Doch in der Freiheit der imaginären Erlebensräume liegen auch Chancen: Indem die Nutzer sich ein anderes Leben ausmalen können, setzen sie sich zugleich mit ihrem eigenen Leben auseinander. Wenn dieses durch die Auseinandersetzung mit dem Avatar reflektiert wird, wird das eigene Leben möglicherweise verändert, indem man durch die virtuelle Welt Dinge neu denkt oder durch seinen Avatar die eigene Identität klarer erkennt: One resident noted how ‚experimenting with appearance or behavior in Second Life potentially opens up new ways to think of things in real life.‘ Another emphasized how ‚despite everything, who I am still seems to come out, so perhaps I discover my essential nature [through my avatar]‘; a third observed that ‚my offline self is becoming more like my avatar, personality-wise. It‘s like SL has grown on me and looped back‘. (Boellstorf 2008, 148) Auch Becker (2004, 188) weist darauf hin, dass die „Flucht ins Imaginäre” und das damit verbundene Ausleben von Wünschen jenseits aller Restriktionen zu einer Selbstreflexion führen könne, aus der Veränderungen in der Lebenswelt der Nutzer resultieren. Online-Welten führen damit nicht zur Vereinsamung, sie können ein Ort sein, an dem soziale Kontakte gebildet und soziale Kompetenzen ausgebildet und trainiert werden (vgl. Hoffmann 2011, 30). Erfolgreiche Selbstinszenierung in virtuellen Welten zeigt einen kompetenten Umgang mit dem Medium und hat eine Steigerung der Reputation bei anderen Nutzern zur Folge. Diese wiederum sorgt für eine emotionale Bindung des Nutzers an die virtuelle Welt und die anderen Avatare, so dass sich virtuelle Freundschaften und Gemeinschaften bilden, die dem Nutzer ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln (vgl. ebd., 32). Doch die Selbstdarstellung in virtuellen Welten ist keine Einbahnstraße. Umgekehrt beeinflusst die virtuelle Umgebung den Nutzer. Neben der bewussten Gestaltung des Avatars baut der Nutzer schnell eine hohe Verbundenheit mit dem Avatar auf und identifiziert sich in großem Maße mit der virtuellen Figur. Zentraler Aspekt dieser Identifikation ist die sogenannte 169 Im Grunde genommen sind Avatare und das Spiel mit Identitäten nichts Neues. Zu Karneval, Halloween oder auf Maskenbällen kann man ebenfalls mit der Inszenierung einer neuen Identität spielen (vgl. Bachmair 2011, 101). Die lange Tradition von Maskierungen zu Festlichkeiten zeigt, dass hiermit ein menschliches Bedürfnis befriedigt wird. <?page no="370"?> 370 Immersion. Mit Immersion wird das Eintauchen des Nutzers in die virtuelle Welt bezeichnet. Durch die Immersion haben die Nutzer das Gefühl ‚vor Ort’ zu sein. Die meisten der Nutzer identifizieren sich daher in sehr starkem Maße mit ihren Avataren. Der Grad der Immersion ist von verschiedenen Aspekten abhängig, unter anderem von der Persönlichkeit der Nutzer sowie davon, wie intensiv man sich mit der virtuellen Welt auseinandersetzt und wie viel Zeit man hierin verbringt. Bartle (2003, 154 ff.) unterscheidet mit zunehmendem Grad der Immersion auch unterschiedliche Bezeichnungen der Spielfiguren: Während er mit Avatar Figuren bezeichnet, über die der Nutzer noch in dritter Person Singular spricht, bezeichnet Bartle Spielfiguren, mit denen sich der Nutzer in hohem Maße identifiziert und von denen er als ‚ich’ spricht, als character. Das höchste Level der Immersion sei erreicht, wenn der Nutzer selbst in der virtuellen Welt agiere. Er nehme keine Rolle an, er selbst sei die Figur in der Simulation. Hierbei spricht Bartle von persona 170 . Bereits einfache Formen der Avatare scheinen eine enorme Auswirkung auf die Nutzer zu haben: Yee (2007) ließ Probanden durch zugewiesene Avatare, die unterschiedlich attraktiv waren, mit einem anderen Avatar interagieren. Waren die Nutzer mit einem attraktiven Avatar ausgestattet, gaben sie mehr Informationen über sich preis und verringerten die interpersonelle Distanz zwischen ihrem Avatar und dem Gegenüber sehr schnell. Yee kommt zu dem Schluss: The appearances of our avatars shape how we interact with others. As we choose our self-representations in virtual environments, our selfrepresentations shape our behaviors in turn. These changes happen not over hours or weeks, but within minutes. (ebd., 17) Zudem lässt sie die Interaktion zwischen Nutzer und Avatar nicht immer problemlos analytisch trennen. Bei einigen Handlungen (wie dem Kauf von Gütern) ist klar, dass der Nutzer hier aktiv ist, umgekehrt gibt es Handlungen, die der Nutzer zwar durch eine Befehlseingabe initiiert, der Avatar daraufhin aber eigenständige Bewegungen ausführt. So kann der Nutzer den Avatar in Second Life durch das Betätigen eines entsprechenden Knopfes tanzen lassen. Ist dies dann eine Handlung des Avatars? Und was ist, „wenn der User per Knopfdruck die Tanzschritte passend zum Musikwechsel in der virtuellen Disco und passend zu den Bewegungen der anderen Avatare wechselt - wer tanzt dann? ” (Jörnissen 2009, 131). Durch virtuelle Welten scheinen die Grenzen des Ichs unschärfer zu werden. 170 Die Unterscheidung nach Bartle hat sich bislang nicht durchgesetzt, sowohl in Computerspielen als auch in Publikationen ist verallgemeinernd von Avataren die Rede. <?page no="371"?> 371 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass virtuelle Welten neue Möglichkeiten der Selbstinszenierung bieten, durch welche die Nutzer mit ihrem Selbst und dem Verhalten anderen gegenüber experimentieren können, ohne dass dies direkte Auswirkungen auf ihr Leben hat. Dabei beeinflusst das Erscheinungsbild seines Avatars die Wahrnehmung des Nutzers durch andere Nutzer der virtuellen Welt ebenso wie die Selbstwahrnehmung der Nutzer in erheblichem Maße. All diese Beobachtungen wurden bei Nutzern virtueller Welten gemacht, die diese in ihrer Freizeit nutzen, entweder ähnlich eines Chatraumes, um mit Anderen ins Gespräch zu kommen oder um an Rollenspielen teilzunehmen 171 . Die Wirkung der Avatare auf Lernende, die sich in virtuellen Welten treffen, um dort gemeinsam an Projekten zu arbeiten, wurde bisher hingegen noch nicht analysiert. Nachfolgend soll die Rolle der Avatare in Begegnungsprojekten in virtuellen Welten untersucht werdenen. Anhand der Äußerungen der Teilnehmenden bezüglich ihres eigenen Avatars sowie des Avatars der Partner soll überprüft werden, in wieweit die Beobachtungen der allgemeinen Forschung zu virtuellen Welten sich auf derartige Projekte übertragen lassen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass, anders als bei vielen anderen Begegnungen, der erste Eindruck von den Partnern schon vor dem Aufeinandertreffen in der virtuellen Welt vermittelt wurde, da sich die Partner gegenseitig eine Vorstellung per E-Mail schicken sollten. Zudem konnten die Teilnehmenden am Projekt ihr Gegenüber nicht frei wählen, wie dies bei freiwilliger Verwendung der virtuellen Welt der Fall ist. 171 Für Rollenspieler ist das Aussehen des Avatars von noch erheblicherer Wichtigkeit: Nur wenn der Avatar entsprechend der Konventionen im jeweiligen Rollenspiel gestaltet wird, kann ein Nutzer an diesem Spiel teilnehmen und in die Gruppe der Rollenspieler aufgenommen werden. <?page no="372"?> 372 7.3.2. Der Avatar als Personifikation des ‚Ich’ und des Anderen in fremdsprachlichen Begegnungsprojekten Die Teilnehmer des Projektes haben sich und ihre Partner in hohem Maße durch den Avatar identifiziert. In den in Kapitel 6 ausführlich behandelten Gruppen wird dies in Gruppe 2 sehr deutlich, als das Fehlen der Haare von Nadines Avatar zum Abbruch des Gesprächs führt (vgl. Datenauszug 26). Sie drückt deutlich ihr Unbehagen aus und erst als ihr Avatar wieder eine neue Frisur hat, kann das Gespräch fortgesetzt werden. Damit verhält sie sich typisch: Elf Teilnehmer nahmen aus Versehen die Frisur ihres Avatars ab, alle elf unterbrachen daraufhin die Gespräche und wollten zunächst das Aussehen des Avatars wieder richtigstellen, bevor sie mit der inhaltlichen Arbeit fortfuhren. Auch in Gruppe 3 wird der Avatar als Darstellung des ‚Ich’ begriffen. Michael nimmt explizit Bezug auf Annas Avatar und dessen Äußeres, indem er Anna fragt, ob sie genauso aussähe wie der Avatar und ob sie (wie auch der Avatar) eine weiße Hose trage (vgl. Datenauszug 54). Auch Neo begreift den Avatar in hohem Maße als Gegenüber, indem er Anna mit dem Nachnamen des Avatars anspricht. Anna nimmt beim ersten Treffen der Gruppe an, dass Neos Avatar zu Michael gehört (vgl. Kapitel 6.4.3.1). Ein möglicher Grund für diese Annahme könnte sein, dass Michael einen dunkelhäutigen Avatar gewählt hat, während Neo, der aus China stammt, einen hellhäutigen Avatar benutzt, der eher einem typischen Mitteleuropäer entspricht. Auch in anderen Gruppen war die Bezugnahme auf den Avatar sehr groß. Das Aussehen und die Kleidung des Avatars wurden sorgfältig gewählt. Einige Teilnehmer versuchten, in dem Aussehen des Avatars ihr eigenes Aussehen widerzuspiegeln. Insgesamt waren alle darauf bedacht, einen optisch ansprechenden Avatar zu kreieren. <?page no="373"?> 373 Abb. 30: Die Avatare von Carina (links) und Marius (rechts) im Gespräch mit ihren Partnern Besonders deutlich wird diese Fokussierung auf ein ansprechendes Äußeres des Avatars bei den Avataren von zwei Gießener Studenten, Marius und Carina. Sie sind in der Gestaltung ihrer Avatare besonders phantasievoll. Carinas Avatar trägt ein auffälliges schwarzes Kleid, welches mit roten und grauen Kreuzen gemustert ist. Zudem trägt der Avatar transparente Flügel und ist tätowiert. Der Körperbau des Avatars entspricht ansonsten aber einem weiblichen Avatar. Marius’ Avatar ist noch ungewöhnlicher gestaltet. Nicht nur, dass die Haare des Avatars lila sind, er hat dem Avatar auch Flügel verliehen und der Figur, die von der Statur her eher männlich ist, weibliche Kleidung angezogen. Als Marius’ Partnerin Alexandra aus Breslau ihn beim ersten Treffen nach dem Äußeren des Avatars befragt, kann er hierzu keinen wirklichen Grund nennen: Datenauszug 82: Gespräch zwischen Marius und seiner Partnerin Alexandra über das Aussehen von Maius' Avatar Carina und Marius saßen in den Präsenzphasen des Seminars nebeneinander. Daher ist es möglich, dass sie sich bei der Gestaltung ihrer Avatare gegenseitig inspiriert haben. Zudem verfügen beide laut Fragebogen bereits über Erfahrung mit computerbasierten Rollenspielen. Da sie hierbei in die Rolle unterschiedlicher Figuren schlüpfen, welche ebenfalls durch Avatare <?page no="374"?> 374 dargestellt werden, haben sie bezüglich der virtuellen Figuren mehr Erfahrung als andere Kommilitonen. Da je nach Spiel auch die Avatare in Computerspielen sehr fantasievoll gestaltet sind, kann vermutet werden, dass die freiere Gestaltung ihrer Avatare auch auf diese Erfahrung zurückzuführen ist. Wie bereits in Kapitel 7.3.1 dargestellt zeigt Jörnissen (2009), dass Nutzer ihre Avatare häufig entsprechend einer (Sub-) Kultur, der sie sich zugehörig fühlen oder fühlen möchten, gestalten. Der Avatar von Marius ist keiner bestimmten Subkultur zuzuordnen. Carinas Avatar hingegen könnte aufgrund des schwarzen, aufwendig verzierten Kleides der Gothic- oder Metalszene zugeordnet werden. In ihrem Gespräch mit Piotr, ihrem polnischen Partner, wird das Aussehen von Carinas Avatar allerdings nicht Gegenstand der Unterhaltung. Auch in ihrem Projekttagebuch erläutert sie ihre Motivation zur Gestaltung des Avatars nicht näher, so dass hierüber nur spekuliert werden kann. Es wird deutlich, dass das Aussehen der Avatare im Kennenlernprozess häufig als erstes mögliches Thema diente 172 und stets für die jeweiligen Studierenden wichtig war, da sie den Avatar als ‚Visitenkarte’ ihrer selbst in der Gruppenarbeit empfanden. Die starke Fokussierung auf den Avatar macht deutlich, dass dieser in der Interaktion der Gruppen eine große Rolle spielt. Der Avatar dient über die Identifikation des eigenen Nutzers hinaus als Bezugspunkt des Gespräches für andere Nutzer. So stellten Gruppen ihre Avatare stets nah beieinander, wenn sie miteinander sprachen. Dieses Bilden von Gesprächskreisen ist im Prinzip nicht notwendig 173 , konnte aber bei allen Gruppen beobachtet werden. Wenn die Studierenden den Avatar eines Partners nicht sehen konnten, suchten sie diesen, bevor sie ein Gespräch begannen. Damit werden Konventionen, die die Körperlichkeit betreffen, von realen Situationen auch auf die virtuellen Gespräche und die Avatare als ‚körperliche Stellvertreter’ übertragen. Die Formulierung von Kerstin, einer Gießener Studierenden, veranschaulicht dies (vgl. Datenauszug 83): 172 Damit übernimmt der Avatar die Funktion des Profils, welches in anderen digitalen Medien, vornehmlich in sozialen Netzwerken, als Visitenkarte der einzelnen Nutzer dient. Das Profil beinhaltet systematisch abgefragte Informationen des Nutzers, die sowohl Informationen zu seinen persönlichen Daten wie Alter und Wohnort geben als auch die Zuordnung zu bestimmten Jugendkulturen ermöglichen. Vor allem das Veröffentlichen von Bildern wird hierbei von vielen Nutzern intensiv praktiziert und als Form der Selbstinszenierung genutzt (vgl. Vogelsang 2010). Häufig entscheiden Nutzer anhand eines Profils, ob sie die jeweilige Person kennen lernen möchten, so dass dem Profil große Bedeutung beigemessen wird (vgl. Beher, Hilgert und Mämecke 2010; Lampert, Schmidt und Schulz, 2009.). 173 Zumindest solange sich die Avatare der Gruppenmitglieder in der Nähe aufhalten, da der Voice-Chat mit zunehmender Entfernung leiser wird. <?page no="375"?> 375 Datenauszug 83: Kerstin will Julias Avatar nicht zu nahe treten Zum ersten Treffen mit ihrer polnischen Partnerin Julia sieht Kerstin durch die Umgebungskarte, dass diese schon vor Ort ist, kann sie aber nicht entdecken. Daraufhin läuft Kerstin durch die Umgebung, bis sie feststellt, dass sich Julia bereits in einem der Häuser aufhält. Kerstin läuft daraufhin in dieses Haus hinein, bis ihr Avatar direkt neben Julias Avatar zum Stehen kommt. Sie lässt die Figur einige Schritte rückwärtsgehen und kommentiert dies lachend: „Ich möchte ihr nicht zu nahe treten” (Zeile 18). Nachdem sie sich positioniert hat, fängt Kerstin daraufhin an, Julia im Text-Chat anzuschreiben. <?page no="376"?> 376 7.3.3. Zusammenfassung: Die Bedeutung der Avatare für virtuelle Begegnungsprojekte In der vorangegangenen Analyse (Kapitel 7.3.2) wurde deutlich, dass die Teilnehmer sich selbst in hohem Maße mit ihren Avataren identifizieren. Viele sprechen über den Avatar in der ersten Person Singular und einige formulieren explizit, dass sie sich selbst als diese Avatare gefühlt haben. Diese hohe Identifikation mit der virtuellen Figur lässt die Umgebung viel unmittelbarer auf die Teilnehmenden wirken, was beispielweise an Neos Verhalten an der Grenze zur simulierten Wohnsiedlung im dritten Treffen deutlich wird (vgl. Kap 6.4.3.3). Auch die Partner werden durch den Avatar identifiziert, was Aushandlungen zu deren Äußerem zur Folge hat, aber auch die (virtuelle) körperliche Nähe der Avatare zueinander bei gemeinsamen Gesprächen deutlich werden lässt: Obwohl es technisch nicht notwendig war, stellten die teilnehmenden ihre Avatare zu Gesprächskreisen auf, wenn sie miteinander sprachen. Mit dieser starken Bezugnahme auf den Avatar entsprechen die Teilnehmenden den in sozologischen Untersuchungen dargestellten Verhaltensweisen von Nutzern virtueller Welten in Bezug auf ihre Avatare, wie diese unter 7.3.1. dargelegt wurden: Nutzer identifizieren sich in hohem Maße mit ihrem Avatar, die virtuelle Identität nimmt eine große Bedeutung für die Interaktion mit anderen ein. Es konnte mit den vorliegenden Daten gezeigt werden, dass die virtuelle Identität nicht nur für die freie Nutzung von virtuellen Welten, sondern auch für Lernkontexte in virtuellen Welten eine große Bedeutung in der Interaktion der Nutzer spielt. Die Beziehung zwischen Identität und Sprachenlernen sowie ihre gegenseitige Beeinflussung spielt seit langem eine Rolle im Fremdsprachenunterricht und in der fremdsprachendidaktischen Diskussion: Das Konzept der Identität wird als wichtiger Einflussfaktor auf das erfolgreiche Sprachenlernen gesehen (vgl. Norton 1997, 413f.), umgekehrt zeigt sich in der Sprachverwendung eines Individuums dessen Identität Language is the place where actual and possible forms of social organization and their likely social and political consequences are defined and contested. Yet it is also the place where our sense of ourselves, our subjectivity, is constructed (Weedon, 1987, 21) Nicht zuletzt trägt der Fremdsprachenunterricht zur Identitätsbildung der Lernenden bei. Nicht nur auf der relationalen Ebene, auch inhaltlich findet sich Identität in vielen Themen der Fremdsprachendidaktik wieder. Die Diskussion um Fremdsprachenlernen und Identität umfasst eine interkulturelle Dimension: “When identity change involves a second language, it sig- <?page no="377"?> 377 nifies confrontations between two cultures, or two sets of values derived from the two cultures.” (Qu, 2005, 113). Damit wird das Konzept der Identität ebenfalls in der Mehrsprachigkeitsdidaktik diskutiert (vgl z.B. Wildemann & Hoodgarzadeh 2013). Identität umfasst ferner eine motivationale Dimension (vgl. Norton, 2000): Im Bezug auf den Erwerbsprozess der Fremdsprache liefert Nortons Konzept des Investment (vgl. Norton Peirce 1995; Norton 2000) eine ergänzende Erklärung zur Motivation der Lernenden: Lernende investieren in den Erwerb einer Fremdsprache, da sie sich hiervon versprechen, umfassende symbolische oder materialistische Ressourcen zu erwerben, die den Wert des sozialen Kapitals des Lernenden steigern 174 . Auch die Diskussion um Lernerautonomie verweist immer wieder auf die Bedeutung der Identität des Lernenden (vgl z.B. Murray, Gao & Lamb, 2011). Die „komplexe Beziehung“ zwischen Fremdsprachenlernen und Identität konstatiert auch der Tagungsband der 33. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts (Burwitz-Melzer, Königs & Riemer 2013), in dem zahlreiche dieser Beziehungen aufgegriffen und damit die Bedeutung des Identitätskonzeptes auf verschiedenste Ebenen des Fremdsprachenunterrichts diskutiert werden. In diese vielfältigen Diskussionen um Identität lässt sich die hier beschriebene Rolle der Avatare in mehrerer Hinsicht einordnen: Mit Übernahme der Avatare wird den Lernenden eine neue Rolle geboten, in der sie interagieren können. Es entfällt ihr bisheriges soziales Kapital: Als Avatare sind alle Nutzer zunächst anonymisiert und gleichwertig. In virtuellen Welten müssen die Nutzer, losgelöst vom ‚herkömmlichen’ Leben, von neuem angefangen, soziales Kapital zu erwerben. Indem sich die Nutzer als kompetent im Umgang mit der Umgebung zeigen, was in einer elaborierten Gestaltung des Avatars deutlich wird, können sie ein hohes Prestige innerhalb der virtuellen Community erlangen. In der Interaktion mit anderen wird deutlich, dass sich diese virtuelle Identität nicht von der eigenen abspalten lässt: Die Lernenden agieren noch immer als sie selbst. Sowohl im Hinblick auf ihr Sozialverhalten, als auch in Bezug auf ihr Wissen und ihre Überzeugungen werden auch in der virtuellen Welt die ‚realen’ Identitäten der Lernenden sichtbar. Dieses ‚Agieren als sie selbst’ nimmt in dem Maß zu, in dem persönliche Themen und Wissen über die Welt in der virtuellen Welt ausgehandelt werden: Kann in Rollenspielen oder freien Unterhaltungen in der virtuellen Welt das ‚Ich’ vollkommen hinter die virtuelle Figur treten, wird die Persönlichkeit der Nutzer in Lernkon- 174 Damit basiert das Konzept des Investment von Norton auf dem kulturellen Kapital Bourdieus (1997). <?page no="378"?> 378 texten wie diesem Begegnungsprojekt direkt thematisiert und damit eindeutig sichtbar. Der Teilnehmer des Projektes befinden sich in einem Kontinuum, indem sowohl die Identität des Avatars als auch seine eigene eine Rolle spielen: Es konnte gezeigt werden, dass die Nutzer sich selbst in hohem Maße mit dem jeweiligen Avatar identifizieren. Ein nichtadäquates Aussehen der Avatare führte zu einer inhaltlichen Unterbrechung zugunsten der ‚Reparatur’ des Avatars und auch die Partner wurde anhand des Avatars identifiziert, indem die Nutzer auf dessen Aussehen oder Namen rekurrieren. Erfahrenen Nutzern wie Carina (vgl. Abb. 30) gelang es, die eigene Identität und Zugehörigkeit zu einer Subkultur anhand des Aussehens des Avatars abzubilden. Umgekehrt führten ungewöhnliche Gestaltungen des Avatars wie bei Marius zur Thematisierung dieses Aussehen (vgl. ebd.). Der Avatar erfüllt damit zusätzlich die Funktion eines ‚Eisbrechers’, der Kontakt zum fremden Gruppenmitglied wurde über den Avatar hergestellt, indem dieser explizit thematisiert wurde. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Avatare in dreifacher Perspektive bedeutsam für Begegnungsprojekte in virtuellen Welten sind: • Sie erlauben es dem Nutzer, in die virtuelle Welt hinein zu schlüpfen (Stichwort Immersion), wodurch die dargestellten Inhalte intensiver wahrgenommen wird als in herkömmlichen Medien. • Sie dienen als Identifikationsfigur der Nutzer und tragen als alternative Rollenbilder - oder indem sie das Bild vom Ich bewusst machen - zur Aushandlung ihrer Identität bei. • Sie fungieren bei Gruppenarbeiten als Personifikation des Gegenübers, wodurch sie als Eisbrecher im Gespräch dienen, einen körperlichen Bezugspunkt schaffen und hierdurch das gemeinsame Erleben in der virtuellen Welt sichtbar machen. <?page no="379"?> 379 7.4. Virtuelle Welten als Begegnungsort und Lernmaterial Im vorangegangenen Kapitel konnte gezeigt werden, dass die Lernenden sich häufig mit ihrem Avatar identifizierten und die Perspektive des Avatars als ihre eigene schildern (vgl. Kapitel 7.3.2). Aus dieser Identifikation mit dem Avatar und dem Agieren in der virtuellen Welt resultiert eine veränderte Wahrnehmung des Lernmaterials, welches durch die virtuelle Welt geliefert wird: Im Unterschied zu klassischen Materialien, die Lernende im Unterricht ausgehändigt bekommen, bewegen sich Lernende in virtuellen Welten eigenständig in der Umgebung. Während Arbeitsblätter, Texte, Bilder oder Filme immer zweidimensionale Medien bleiben, die die Lernenden nur aus einer Perspektive rezipieren können, kann Material in virtuellen Welten aus unterschiedlichen Perspektiven beobachtet werden, die Lernenden können sich durch die Umgebung bewegen und Objekte per Zoom vergrößern (vgl. Kapitel 4.3.3). Neben diesen ‚virtuellen Gegenständen’, die Dreidimensionalität simulieren, gibt es auch in der virtuellen Welt zweidimensional wirkende Materialien wie Informationstafeln in Ausstellungen oder die Leinwand, auf der der Tagesschau-Beitrag zum Fall der Mauer zu sehen ist. Im Unterschied zu klassischem Lernmaterial sind diese allerdings in eine Umgebung eingebettet, in der das Thema des Materials aufgegriffen und durch suggerierte Dreidimensionalität wieder individuell erlebbar wird. Dennoch liegen hier zwei unterschiedliche Formen von Material vor: Während die Informationstafeln und Bilder explizit als Informationsmaterial dargestellt werden, erfolgt die Auseinandersetzung mit den ‚virtuellen Gegenständen’, indem die Nutzer sich - mit Hilfe der in Kapitel 7.3.1. beschriebenen Immersion - in die virtuelle Welt hinein versetzt fühlen und das Material ‚erleben’. Als prägnantes Beispiel kann Neos Verhalten am Eingang der simulierten DDR-Straßenszene herangezogen werden (vgl. Datenauszüge 62 und 63 in Kapitel 6.4.3.3). Als Neo am Eingang der Umgebung steht, welcher durch eine Grenzstation gekennzeichnet ist, zögert er zunächst, die Umgebung zu betreten. Er formuliert, dass er seinen Pass nicht dabei habe und dass er nicht unerlaubt die Umgebung betreten will. Indem er die Innenperspektive eines in die DDR-Einreisenden übernimmt, wird seine Aufmerksamkeit auf andere Aspekte gelenkt, als wenn er das Thema innerdeutsche Grenze von einer außenstehenden Perspektive betrachtet hätte. Neben diesen Vorteilen resultieren aus der Form der Materialdarbietung in virtuellen Welten auch Einschränkungen, welche sich insbesondere auf die Interaktion mit Anderen und damit auch auf Begegnungsprojekte auswirken. <?page no="380"?> 380 Die Wechselwirkung von Materialrezeption und Begegnung wird nachfolgend erläutert. Die Wirkung von Darstellungen auf die Teilnehmenden wurde vorrangig anhand der Daten des Besuchs der Ausstellung ‚The Wall’ sowie des Besuchs am Brandenburger Tor untersucht, die Lernumgebungen des zweiten Treffens waren. Betrachtet man dieses Treffen in allen Gruppen, so fällt auf, dass die Gruppen bei diesem Treffen sehr wenig miteinander kommuniziert haben. Bei allen Gruppen treten Gesprächspausen auf, die mehrere Minuten andauern, im ausgeprägtesten Fall bestand ein Treffen zur Hälfte der Zeit aus Schweigen. Im Durchschnitt aller Gruppen belief sich der Anteil der Zeit, in der keine Gespräche geführt wurden, auf 22,46%. Berücksichtigt man hierbei, dass zu Beginn des Treffens noch Absprachen bezüglich des gemeinsamen Referatsthemas getroffen und die üblichen Begrüßungsgespräche geführt wurden, erhöht sich dieser Prozentsatz noch einmal immens: Bezieht man die Zeit des Schweigens auf die reine Zeit der Anwesenheit der Gruppen in den aufgabenrelevanten Umgebungen, beträgt sie 42,7%. Beinahe die Hälfte der Zeit verbrachten die Gruppen also schweigend mit der Aufgabenbearbeitung, und auch die Gespräche, die geführt wurden, entsprachen nicht immer der durch die Aufgabe formulierten Anforderung. Betrachtet man das Verhalten einzelner Gruppen und ihrer Mitglieder genauer, zeigt sich: Als sie an der Ausstellung ankommen, reden viele Gruppen noch miteinander. Wenn sie dann im Anschluss die Ausstellung betreten sollen, entsteht die erste Herausforderung für die Teilnehmer: Sie müssen ihre Avatare zu einem relativ engen Eingang und durch diesen hindurch bewegen. Das Betreten der Ausstellung zieht das Erscheinen eines automatischen Begrüßungstextes auf Englisch nach sich, der geschlossen werden muss, um die Ausstellung wieder auf dem Bildschirm sehen zu können. Ist die Ausstellung wieder sichtbar, muss der Avatar frontal zu den einzelnen Informationstafeln positioniert werden. Auf diesen sind Bilder und englische 175 Texte abgebildet, wobei aus technischen Gründen auch die Texte als Bilddateien gezeigt werden. Die Bilddateien bauen sich je nach Größe der ursprünglichen Datei erst nach und nach auf, so dass der Text zunächst zu unscharf erscheint, um ihn lesen zu können. Auf Gießener Seite (mit der schnellen Standleitung der Universität) wurde eine derartige Tafel in rund 4 Sekunden geladen. Die Teilnehmer aus Breslau hatten eine wesentlich langsamere Internetverbindung, so dass der jeweilige Bildaufbau bei ihnen rund 10 bis 15 Sekunden in Anspruch genommen haben müsste. Erst nach vollständigem Laden der Tafel konnten die Teilnehmer die Informationstafeln lesen. Aufgrund der Größe der Tafeln 175 Zur ausführlichen Beschreibung der Ausstellung und Problematisierung der englischen Texte vgl. Kapitel 6.2.1. <?page no="381"?> 381 und der gewählten Schriftgröße konnten pro Tafel rund 200 bis 250 Wörter angezeigt werden. Ein Teilnehmer mit sehr guten Englischkenntnissen würde zum Lesen des Textes bei optimaler Darstellung der Bilddatei wohl rund 30 Sekunden benötigen. Abb. 31: Darstellung einer Informationstafel aus der Perspektive eines Lernenden Der Text wird nicht immer optimal dargestellt - je nach Standort des Avatars kann der Text verzerrt oder unscharf dargestellt sein (vgl. Abb. 31). Ist dies der Fall, wird erneut mehr Zeit für das Lesen der Informationstexte benötigt. Da der Kenntnisstand der Lernenden in Bezug auf das Englische unterschiedlich fortgeschritten ist, werden einige Lernende hierfür wesentlich längere Zeit benötigen. Auch die Rezeption der Bilder benötigt Zeit, da diese zwar nicht gelesen werden müssen (zumindest nicht im wortwörtlichen Sinn, auch hier wird eine Dekodierung und Einordnung des Bildes in das jeweilige Vorwissen des Betrachters notwendig), aber auch Bilddateien müssen erst geladen werden. Man kann also davon ausgehen, dass die Teilnehmer nach dem Betreten der Ausstellung insgesamt ca. drei Minuten Zeit benötigen, um sich vor einer Informationstafel zu positionieren, diese sich aufbauen zu lassen, zu rezipieren und den Inhalt in das eigene Vorwissen einzuordnen. Es wird aber auch deutlich, dass diese Zeitangaben je nach Sprachkompetenz, Medienkompe- <?page no="382"?> 382 tenz (in Bezug auf das Steuern des Avatars) und Geschwindigkeit der Internetverbindung erheblich voneinander abweichen. Die unterschiedliche Dauer der Informationsaufnahme und -verarbeitung der einzelnen Teilnehmer dürfte die Kommunikationssituation innerhalb der einzelnen Gruppen erschwert haben: Wenn dies nicht ausdrücklich formuliert oder durch Bewegung des Avatars signalisiert wurde, konnten die einzelnen Teilnehmer nicht wissen, ob ihre Partner eine Tafel schon fertig gelesen hatten oder nicht. Möglicherweise vermieden sie es daher, ein Gespräch zu initiieren, um die Partner nicht bei der Rezeption der Informationen zu stören. Es konnte beobachtet werden, dass die Teilnehmer - individuell für sich - die Inhalte rezipieren und zur Kenntnis nehmen. Ein Austausch der Gruppenmitglieder untereinander findet allerdings kaum statt. Dies wird beispielsweise bei der zweiten - in Kapitel 6.4.2 genauer analysierten - Gruppe deutlich. Diese Gruppe ist eigentlich sehr kommunikativ. Nachdem sie in die Ausstellung geführt wird, findet keine Kommunikation untereinander statt (vgl. Datenauszug 84): <?page no="383"?> 383 Datenauszug 84: Gruppe 2 in der Ausstellung 'The Wall' Nadine und Hanna stellen zwar an mich direkt Rückfragen die Ausstellung betreffend, kommunizieren aber trotz der expliziten Aufforderung dazu nicht innerhalb der virtuellen Welt miteinander oder mit ihrer Partnerin. Nachdem sie die Ausstellung durchlaufen haben, teilen die Gruppenmitglieder jeweils mit, dass sie fertig sind. Meine Rückfrage, wie sie die Ausstellung finden, wird ebenfalls nur knapp und emotional von den Teilnehmerinnen beantwortet, inhaltlich gehen sie nicht mehr auf die Ausstellung ein (vgl. Datenauszug 40 in Kapitel 6.4.2.2.). Das Verhalten der Gruppe, dass in diesem Textauszug deutlich wird, steht stellvertretend für viele weitere Gruppen. Lediglich bei einer Gruppe kommt es während des ganzen Treffens zu einem intensiven Austausch über die Ausstellung. Diese Gruppe besteht aus zwei muttersprachlichen Gießener Studentinnen, Anita und Sandra, und ihrer polnischen Partnerin Paula. Direkt nachdem sie an der Ausstellung <?page no="384"?> 384 ankommen, befragen Anita und Sandra Paula zu deren Vorwissen in Bezug auf die deutsche Geschichte (vgl. Datenauszug 85): Datenauszug 85: Anita und Sandra erfragen Paulas Vorwissen Wie im Textauszug deutlich wird, geben Anita und Sandra Hintergrundinformationen zum Thema, nachdem sie Paula bezüglich ihres Vorwissens befragt haben. Außerdem klären sie den Zusammenhang zu den in der Ausstellung gezeigten Bildern und Informationstafeln (Zeile 188). Im Gegensatz zu den anderen Gruppen bleiben die drei Studentinnen mit ihren Avataren auch immer nah beieinander und bewegen sie damit gemeinsam durch die Ausstellung. Die Gruppe bleibt während der ganzen Ausstellung miteinander im Gespräch, wobei sie beschreiben, was sie gerade sehen oder hören. Hierbei kommt es allerdings nicht zu einer weiterführenden Auseinandersetzung mit diesen Exponaten oder dem dort Dargestellten. Es findet ein Austausch von Faktenwissen statt, der nicht weitergeführt wird, sondern von Fakten zu den nächsten Exponaten abgelöst wird. Obwohl also die Gruppe großes Potenzial zu einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem Material gegeben ist, findet diese nicht statt. Damit verhält sich die Gruppe sehr ähnlich zur Gruppe von Karla, Rina und Greta, deren Interaktion miteinander in der zweiten Woche in Kapitel 6.4.1.2 untersucht wurde. Auch diese Gruppe zeigt vielversprechende Ansätze, greift diese aber nicht auf. Als sie beim zweiten Ausstellungsort am Brandenburger Tor einen Mauerstreifen vorfinden, an dem ein toter Körper liegt, äußert lediglich Rina „Oh, der Mann ist tot. Der arme Mann“ (vgl. Transkript in Anhang, A1.2., Zeile 440). Die in Kapitel 6.4.1.2. im Anschluss dargestellten Lerntagebücher zeigen aber, dass Karla im Nachhinein Reflexionsleistungen erbringt. Sie beschreibt, dass an der Mauer ein <?page no="385"?> 385 Toter dargestellt wurde und vermutet, dass es sich um einen Flüchtling gehandelt habe. Aus Gretas Tagebucheintrag wird deutlich, dass sie den ‚Toten’ zumindest wahrgenommen hat, auch wenn sie ihn in der Begegnung mit ihren Partnerinnen nicht thematisiert hat. Dies sind klare Indizien dafür, dass Reflexionsleistungen entweder während des Treffens stattgefunden haben, hier aber nicht verbalisiert wurden, oder aber dafür, dass die Reflexion zeitverzögert im Anschluss stattgefunden hat. In beiden Fällen ist ein möglicher Erklärungsansatz die virtuelle Welt als Begegnungsort und Materiallieferant. Die Lernenden könnten in der unmittelbaren Situation von den Eindrücken der virtuellen Welt derart intensiv gefordert werden, dass sie lediglich Informationen rezipieren statt darüber zu reden. Oder aber, wie Gretas Tagebucheintrag „Da lag ein Leichnam, was mich ein bisschen erschroken hat“ vermuten lässt, die unmittelbare Wirkung des Dargestellten wirkt so stark emotional auf die Teilnehmer, dass sie diesen Eindruck nicht mit ihren Partnern ausführen möchten. Betrachtet man das Treffen der dritten Woche, in dem die simulierte Wohnsiedlung aus Berlin-Marzahn von den Gruppen besucht wurde, fällt auf, dass explizit die Kaufhausszene einen sehr hohen Gesprächsanreiz für die Gruppen bietet. Bis auf eine Gruppe, die nur still durch die Kaufhalle läuft und im Anschluss beschließt, das nächste Gebäude zu suchen, resultiert in allen Gruppen ein Gespräch aus dem Anschauen des virtuellen Kaufhauses. Dass diese Szene so stark als Gesprächsinitiator dient, ist wohl zum einen dadurch zu erklären, dass das Kaufhaus ganz am Anfang der virtuellen Wohnsiedlung stand und damit den ersten Ort darstellte, den die Gruppen besichtigten. Damit war die Aufgabenstellung an diesem Ort noch sehr präsent. Es wird anhand der Beispiele aber auch deutlich, dass aufgrund der vielen unterschiedlichen Gegenstände vielfältige Formen der Kommunikation über das Kaufhaus möglich waren. Nicht zuletzt ist während des ganzen Treffens aber das Erleben ein Aspekt, der verglichen mit den virtuellen Abbildungen des zweiten Treffens auf die Gruppen wirkt: Hier betrachten die Teilnehmer nicht nur einzelne Informationstafeln oder Schaubilder, sondern sie laufen (mit ihren Avataren) durch eine (virtuelle) Umgebung. Sie entdecken einzelne Gegenstände nicht in der Form, wie dies durch einen Kurator oder Lehrer intendiert ist, sondern indem sie selbst einen Weg wählen und sich selbst aussuchen, welchem Gegenstand sie verstärkte Aufmerksamkeit widmen. Während also in der virtuellen Welt vorhandene Dokumente wie ein Ausschnitt aus der Tagesschau oder Lesetexte wie die Bildtafeln ebenso behandelt werden wie in nicht-virtuellen didaktischen Kontexten - sie werden gelesen bzw. gehört und gesehen - scheint die Rezeption von Gegenständen in einer Umgebung, die man gemeinsam begehen kann, als Gesprächsanreiz ein grö- <?page no="386"?> 386 ßeres Potenzial zu haben, als es z.B. eine Abbildung der Gegenstände in einem Lehrwerk haben könnte. Im Sinne von Belz (2007, vgl. Kapitel 3.2.3.5) lassen sich die leeren Regale im Kaufhaus als rich points verstehen: Die Lernenden kennen aus ihrer lebensweltlichen Erfahrung nur gut gefüllte Regale. Indem ihnen in der virtuellen Umgebung nun das Gegenteil dargestellt wird, fällt ihnen diese Abweichung von ihrem Bezugssystem auf und sie sprechen darüber. Diese Gespräche waren aber häufig nur kurz und thematisierten nicht die Ursachen der Darstellungen. Das kulturelle Deutungsmuster (vgl. Kapitel 3.2.3.3), das den leerten Regalen zugrunde liegt, wird nicht erläutert. Dieser Umgang mit den landeskundlichen Materialien soll im nachfolgenden Kapitel 8 analysiert werden. Notwendige Kriterien für das Gelingen der Zusammenarbeit von Gruppen in digitalen Medien lieferte Salmons Stufenmodell (vgl. Abb. 6 in Kapitel 4.2). Das Modell verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung von Nutzern mit der digitalen Lernumgebung in mehreren Stufen verläuft und dass höhere Stufen erst dann erreicht werden können, wenn die ersten Stufen erfolgreich abslviert wurden. Sowohl in technischer, wie auch in sozialer Hinsicht muss zunächst der Zugang zur Umgebung sichergestellt werden. Dies gelang grundsätzlich, wurde aber immer wieder im Hinblick auf die Nutzung des Voice- Chats zum Problem. Während ein Fehlen des Voice-Chats durch die Verwendung des Text-Chats ersetzt (wenn auch nicht kompensiert, vgl. Kapitel 7.1.) werden konnte, hatte eine zu langsame Internetverbindung auf Breslauer Seite bei einigen Gruppen zur Folge, dass die polnischen Partner Videos und Audiobeiträge nicht abrufen konnten. Damit war, zumindest bezogen diese Informationen, eine Weiterarbeit nicht möglich Erst wenn der Zugang erfolgt ist, können die Lernenden sich mit der Lernumgebung und den Mitlernenden sozialisieren. Es ist wichtig, sich zum einen mit den Funktionen der Umgebung aber auch mit den Mitlernenden vertraut zu machen, um Vertrauen untereinander aufzubauen, was bei Salmon als Bildung von Gruppen thematisiert wird. Es konnte gezeigt werden, dass Gruppen, die keine enge Bindung zueinander aufbauen, häufig im weiteren Prozess scheitern, da sich die fehlende Bindung negativ auf die gemeinsame Arbeit auswirkt (vgl. Gruppe 3 in Kapitel 6.4). Nach der Gruppenkonstitution und der Einarbeitung in die Lernumgebung kann die Informationsentnahme erfolgen, was den Gruppen weitestgehend gelang. In den vorangegangenen Beispielen dieses Kapitels konnte aber auch gezeigt werden, dass die einzelnen Gruppenmitglieder für die Aufnahme der Informationen unterschiedliche viel Zeit beanspruchten. Der nächste Schritt, der Aufbau von Wissen, erfordert, dass sich die Lernenden gemein- <?page no="387"?> 387 sam mit dem Material auseinandersetzen. Von dieser gemeinsamen Thematisierung des Materials ist es abhängig, welches Wissen die Lernenden aus den gebotenen Informationen entnehmen. Für den letzten Schritt, die Entwicklung des Lerners, muss das erworbene Wissen auf den Lernenden selbst bezogen werden. Inhalte des rezipierten Materials wurden, wie ausführlich in Kapitel 8 dargestellt werden wird, nur oberflhlich verbalisiert, die den Deutungen zugrunde gelegten Deutungsmuster wurden nicht ausgetauscht. Daher kann eine (Weiter-) Entwicklung der Lernenden in den meisten Fällen nicht erfolgen. Bezogen auf die in Kapitel 4.2 dargestellten Konzepte des Lernens im Tandem und der Tutorien können die hier dargestellten Gruppen als Tandems bezeichnet werden: Sie waren gleichberechtigt, und mussten gemeinsam Aufgaben erarbeiten. Nach Bechtel (2003) bieten gerade Tandems Potenziale zum interkulturellen Lernen. Er argumentiert, dass in Tandems eine “Wechselwirkung“ (Bechtel 2003, 365) zwischen den Lernenden erfolge, die es in einem Tandem nicht gebe, da hier der Tutor instruiert. Diese Wechselwirkung sei notwendig, um die Perspektive des Partners und seiner Kultur kennen zu lernen.Anhand der hier dargestellten Ergebnisse wird deutlich, dass die Wechselwirkung auch in diesem Projekt in einigen Fällen stattgefunden hat. Dafür müssen allerdings Fragen formuliert werden, deren Beantwortung die Perspektive des Gegenübers deutlich werden lässt. Es hat sich als hilfreich erwiesen, wenn einer der Tandempartner hierbei eine leitende Rolle übernimmt (vgl. Kapitel 6). Eine völlig gleichberechtigte Situation führte dazu, keiner der Lernenden sich dafür verantwortlich sah, das Gruppengespräch zu initiieren, so dass ein Austausch über die Gegenstände nicht stattfand. Bezieht man die Ergebnisse der Analyse auf die in Kapitel 3.2.3.6 formulierten Ausführungen von Belz (2002) und Müller-Hartmann (2000) in Bezug auf Begegnungsprojekte per E-Mail, kann festgestellt werden, dass deren Feststellungen auch für das vorliegende Projekt gelten. Sie sind daher nicht nur für die asynchrone Kommunikation von Lernenden zutreffend, sondern auch für synchrone Kommunikation in virtuellen Welten. Belz zeigte, dass rich points als Anlässe zur Auseinandersetzung mit Kultur dienen können. Sie wies diesbezüglich darauf hin, dass solche Fragen formuliert werden sollen, die die anderen Lernenden zu ausführlicheren Antworten verleiten statt eher geschlossene Fragen - ein Ergebnis, das auch Marques-Schäfer (2013) bestätigt. Rösler (2000) stellte erstmals Überlegungen zum Fremdsprachenlernen in virtuellen Welten an. Er sah in virtuellen Welten das auch hier beschriebene Potenzial, Fremdsprachen medienvermittelt nicht nur „Fern-Sehen“ und „Fern-Hören“; sondern auch „Fern-Erleben“ zu können (ebd., 126 ff.) Rösler <?page no="388"?> 388 unterschied drei mögliche Szenarien: In Szenario 1 beschrieb er das „Fern- Erleben von Mensch zu Mensch“ (ebd., 127), welches in einer Video- Konferenz zwei Menschen an unterschiedlichen Orten verbindet. Diese Variante ist heute Alltag, wenn auch Röslers Anmerkungen, dass möglicherweise auch taktile oder olfaktorische Eindrücke mitvermittelt werden könnten, technisch bislang nicht umsetzbar sind. Variante 2 entspricht der hier beschrieben Form der Zusammenarbeit, die er als „Fern-Erleben von Mensch zu Mensch, vermittelt durch Avatare“ (ebd., 128) bezeichnet. In diesem Szenario warnt Rösler davor, dass durch die Unklarheit der Identität von Nutzern, die mit Avataren agieren, landeskundliches Lernen keine Relevanz mehr haben könnte: „gibt es bei dieser Art von Interaktion überhaupt noch Elemente von Landeskunde und Fremdverstehen, oder wird durch die Beliebigkeit der Identitäten kommunikativ alles, was sperrig sein und zum Kommunikationsabbruch führen könnte, ausgeklammert? “ (ebd., 128). Diese Frage Röslers kann - zumindest für die hier analysierte Form der Nutzung virtueller Welten und Avatare in einem aufgabenbasierten Szenario - durch die Analyse beantwortet werden: Die Avatare beeinflussen den Austausch der Partner untereinander (vgl. hierzu Kapitel 7.3), landeskundliche Themen werden hierdurch aber nicht eingeschränkt. Sie wurden in dieser Studie allerdings eingeschränkt durch die mühsame Informationsaufnahme in der virtuellen Welt sowie durch die komplexen Anforderungen, die die Umgebung an die Nutzer stellt. Wie in Kapitel 8.3 gezeigt werden wird, verhindern auch fehlendes Vorwissen oder ausbleibende Antworten der Partner die landeskundliche Auseinandersetzung mit der virtuellen Welt. Inwieweit das von Rösler beschriebene Szenario 3, in dem das Gegenüber kein realer Muttersprachler, sondern ein programmierter Experte ist und bei dem die Programmierung so elaboriert ist, dass diese Künstlichkeit des Gegenübers nicht als solche wahrgenommen wird, dieses Manko in der Zukunft wird beheben können, ist fragwürdig und wie die beschriebene Variante von Rösler „Science-fiction pur“ (ebd., 129). Für Begegnungen in virtuellen Welten kann festgehalten werden, dass das synchrone Arbeiten erschwert wird, je unterschiedlicher die technischen Voraussetzungen der Lernenden und je heterogener die Kompetenzen der Lernenden in sprachlicher, medialer und inhaltlicher Perspektive ist (vgl. Kapitel 7.4). Hieraus resultieren stark voneinander abweichende Zeiten, die für die Rezeption des Materials benötigt werden, wodurch das gemeinsame Gespräch erschwert wird. Müssen in der Umgebung nur wenige Informationen aufgenommen werden, wie im dritten Treffen in der simulierten DDR-Umgebung, gelingt das Gespräch, allerdings bliebt es eher beschreibend, wenn kein Wissen vorhanden ist, an das angeschlossen werden kann. Hierauf wird im folgenden Kapitel 8 näher eingegangen. <?page no="389"?> 389 8. Landeskunde in der virtuellen Welt zwischen interkulturellem und historischen Lernen Ziel des interkulturellen Lernens ist es, wie in Kapitel 3.2.3. gezeigt wurde, zum einen, Wissen über die Kultur und Werte einer Gemeinschaft zu vermitteln. Lernende sollen darüber hinaus zum anderen erfahren, dass zwischen Vertretern verschiedener Kulturen unterschiedliche Perspektiven vorherrschen können. Indem die Genese der Werte dargelegt wird, die zu diesen Perspektiven beigetragen haben, sollen Lernende dazu befähigt werden, die Perspektive der anderen Kultur nachzuvollziehen und sie dadurch besser zu verstehen. Es wird zudem angestrebt, dass Lernende in der Lage sind, die Perspektive einer anderen Kultur einnehmen zu können. Es geht also nicht vornehmlich um einen Wissenserwerb, sondern um die Herausbildung der Fähigkeit der Perspektivenübernahme. In der allgemeinen didaktischen Diskussion zum interkulturellen und historischen Lernen wird angenommen, dass historische Themen das interkulturelle Lernen befördern können, wenn diese als Erinnerungsorte fungieren. Die Didaktik der Erinnerungsorte greift sowohl das Konzept der narrativen Vermittlung von Inhalten auf, als auch den persönlichen Bezug der Lernenden zum jeweiligen Thema. Beide Aspekte wurden schon von Tamme (2001) unter dem Konzept der personalisierten Landeskunde beschrieben und für das Lernen landeskundlicher Inhalte als förderlich herausgestellt (vgl. Kapitel 3.2.3.6). Für Begegnungen an Erinnerungsorten in virtuellen Welten würde dies bedeuten, dass virtuelle Welten ein großes Potenzial haben, interkulturelles Lernen zu befördern: Die virtuellen Nachbildungen der Erinnerungsorte würden die Gruppen anregen, sich narrativ mit der Geschichte Deutschlands auseinanderzusetzen. Indem sie mit ihren Partnern, die aus einer anderen Kultur kommen, über die deutsche Geschichte redeten, erführen die Gruppenmitglieder die Perspektive ihrer Partner auf das jeweilige Thema und diskutierten davon ausgehend ausgewählte Themen im interkulturellen Vergleich. In Ausstellungen und Simulationen in der virtuellen Welt werden einzelne Aspekte der Kultur in Exponaten und Symbolen dargestellt. Indem diese Aspekte von Erstellern der Umgebung ausgewählt wurden, zeigt sich eine besondere Bedeutung des Exponats für den Ausstellungsersteller und dem Anschein nach auch für die kulturelle Identität der Gemeinschaft, der diese Exponate zuzuordnen sind. Dabei erschließt sich ihr Inhalt dem Betrachter nicht von selbst: Um landeskundliche Inhalte vollends zu erfassen, <?page no="390"?> 390 müssen die Konzepte, für die die einzelnen Gegenstände stehen, erkannt werden. In den jeweiligen Umgebungen, in denen die Studie stattfand, können die einzelnen Gruppen unterschiedliche Formen von virtuellen Materialien antreffen: Es gibt sowohl Darstellungen von landeskundlich relevanten Aspekten und Erinnerungsorten - hierzu zählen die Bilder innerhalb der Mauerausstellung ‚The Wall’ wie auch das Video der Tagesschau, welches die Teilnehmenden in der Umgebung um das virtuelle Brandenburger Tor anschauen konnten - als auch virtuelle Räume und virtuelle Gegenstände, die die Lernenden durchlaufen bzw. betrachten und benutzen konnten. Beispielhaft hierfür ist der Nachbau des Viertels aus Berlin Marzahn zu nennen, den die Gruppen in der dritten Woche aufsuchten. Hier konnten Orte wie die Kaufhalle selbst betreten und Gegenstände wie ein Trabbi oder einzelne Konsumgüter betrachtet oder benutzt werden. Im Folgenden wird deutlich werden, dass die formulierten Erwartungen hinsichtlich einer Auseinandersetzung der Lernenden mit der Zielsprachenkultur durch die Beschäftigung mit den virtuellen Exponaten nur zum Teil erfüllt werden. Ausgehend von der Darstellung von Situationen, in denen Möglichkeiten eines interkulturellen Gespräches nicht genutzt wurden (Kapitel 8.1), soll das Verhalten der Gruppen in den unterschiedlichen Umgebungen unter landeskundlichen Gesichtspunkten analysiert werden (Kapitel 8.2 bis 8.5), um das Potenzial, aber auch die Erfordernisse landeskundlichen Lernens in virtuellen Welten darzustellen (Kapitel 8.6). 8.1. Nicht genutzte Chancen zum interkulturellen Lernen In den bisherigen Kapiteln wurde an verschiedenen Stellen deutlich, dass einige der Dialoge in den Gruppen, die zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Gegenständen oder einer interkulturellen Komponente im Gespräch hätten führen können, dies nicht getan haben, zum Beispiel: • In Kapitel 6.4.1.2: Die Gruppe kommuniziert insgesamt sehr wenig miteinander. Wenn eine Information oder Darstellung stark emotional wirkt, beispielsweise indem sie überrascht werden oder betroffen sind, machen Karla und Rina einzelne Aussagen. So formuliert Karla „Die Mauer war aber lang“ und Rina konstatiert in der zweiten Umgebung, als sie Darstellung des Toten am Mauerstreifen sieht, ihr Mitleid für den Mann. Auf diese Aussagen reagieren die Partnerinnen jeweils nicht, so dass die Kontextinformationen nicht zu einem tieferen Verständnis des Gesehenen führen können. <?page no="391"?> 391 • In Kapitel 6.4.1.3: Die Gruppe sucht möglichst schnell hintereinander die jeweiligen Orte auf und spricht kaum darüber, was sie sieht. Einzelne Aussagen, die auch Potenzial zu einer Auseinandersetzung mit den historischen Hintergründen bieten, werden von den Partnerinnen nicht aufgegriffen. So stellt Karla zwar fest, dass die Kaufhalle leer ist, diese Aussage wird von den Partnerinnen aber nicht aufgegriffen. Auch in den folgenden Orten wiederholt sich dieses Schema. In der letzten Wohnung stellt Karla fest, dass spioniert wurde, hieraus folgt aber kein Gespräch der Gruppe. • In Kapitel 6.4.2.2: In der Mauerausstellung wendet sich Hanna an mich und fragt nach den Reisemöglichkeiten zwischen Ost- und Westberlin. Ich erkläre kurz, dass zunächst beide Seiten den anderen Teil Berlins betreten konnten, später aber nicht mehr, was Hanna aufgreift und mit dem Bau der Mauer in Verbindung bringt. Sie führt dieses Gespräch mit mir in meinem Büro und nicht mit ihren Partnerinnen in der virtuellen Welt. Auch nachdem ich Hannas Fragen beantwortet habe, thematisiert sie ihre neuen Erkenntnisse nicht mit ihren Partnerinnen. • In Kapitel 6.4.2.4: Die Gruppe thematisiert die Wohnsituation in Polen und der DDR. In dem Zusammenhang weist Hanna darauf hin, dass es Ähnlichkeiten zwischen Polen und der DDR gegeben habe. Mara bekräftigt dies und fügt hinzu, dass dies auch für die Umgebung gelte, die sie in der DDR-Simulation gesehen haben. Die Gemeinsamkeiten und Beobachtungen werden aber nicht konkretisiert: Es bleibt lediglich bei der Feststellung dieser Ähnlichkeiten, sie werden nicht ausgeführt. • In Kapitel 6.4.3.3: Neo steigt nach der Vergabe der Referatsthemen in das Gruppenthema ‚Familie’ ein und berichtet über seine Assoziationen zu Familie in China sowie erste Einschätzungen des Familienbildes in China im Vergleich zu dem in Deutschland. Dieser Impuls wird von seinen Partnern nicht aufgegriffen.Auch im weiteren Verlauf des Treffens, in der virtuellen DDR-Umgebung, kommt es in der Gruppe immer wieder zu Aussagen, die das Gesehene aufgreifen. So berichten alle Gruppenmitglieder, dass es das System der Essensmarken in ihren Heimatländern gegeben habe und im Anschluss an die Besichtigung der Kaufhalle vertreten Neo und Michael die Meinung, dass Wettbewerb zur Beförderung der Wirtschaft notwendig sei. Ihr Hintergrundwissen und den Bezug der Einschätzung zum Gesehenen erörtern die Gruppenmitglieder allerdings nicht. • In Kapitel 7.4: Anita und Sandra fragen ihre Partnerin Paula aus Breslau am Eingang der Mauerausstellung, ob sie „schon ein paar sachen zum thema ddr und mauerfall“ weiß. Als Paula verneint, erklären ihr sowohl Anita wie auch Sandra Grundlagen der Teilung Deutschlands und der Mauer und beziehen diese Informationen auf die Informationstafeln, die <?page no="392"?> 392 in der Ausstellung vorhanden sind. Trotz dieser Ausführungen kommt es innerhalb der Gruppe nicht zu einem Gespräch; Paula greift die Informationen von Sandra und Anita nicht auf. Es bleibt bei der Informationsvermittlung der Gießener Studentinnen. Es gibt also eine Reihe von Situationen, in denn das Potenzial der Begegnung für interkulturelles Lernen nicht ausgeschöpft wird und mögliche Gründe dafür. In den nachfolgenden Kapiteln sollen die Daten in Hinblick auf den Umgang der Lernenden mit dem landeskundlichen Material systematisiert werden. Durch die Analyse der Daten soll auch versucht werden, unterschiedliche Abstufungen in der Auseinandersetzung mit dem Material festzustellen, um hierbei Hinweise darauf zu finden, was zu einer elaborierteren Form der Auseinandersetzung mit landeskundlichem Material beigetragen haben könnte. 8.2. Die Einordnung virtueller Erinnerungsorte in eigenes kulturelles Wissen In Kapitel 7.4 wurde dargestellt, dass sich die Gruppe von Anita, Sandra und Paula während der Besichtigung der Ausstellung wenig über das Gesehene ausgetauscht hat. Allerdings findet sich die Gruppe am Ende der Ausstellung zusammen und führt daraufhin das folgende Gespräch (vgl. Datenauszug 86): <?page no="393"?> 393 Datenauszug 86: Anita, Sandra und Paula am Ende der Ausstellung 'The Wall' Zunächst nimmt Sandra mit dem Checkpoint Charlie noch einmal explizit auf die Ausstellung Bezug und erläutert Anita und Paula die Hintergründe des Grenzüberganges. Sie greift also auf Wissen, das sie schon vor der Ausstellung hatte, zurück, um das Gesehene einzuordnen. Indem sie ihre Partnerinnen fragt, ob sie auch dieses Wissen haben, stellt Sandra das Wissen um den Checkpoint Charlie als wichtig für den Zusammenhang der Ausstellung heraus. Paula verneint Sandras Frage, daraufhin greift Anita in das Gespräch ein und erläutert Pauline die Hintergründe zum Checkpoint Charlie. Da sie im Anschluss aber eine ästhetische Bewertung der Ausstellung vornimmt, lenkt Anita das Thema wieder weg von den historischen Hintergründen auf die Wahrnehmung der simulierten Umgebung. Alle drei Teilnehmerinnen kommen zu einer positiven Einschätzung der Umgebung und heben dabei jeweils unterschiedliche Aspekte hervor: Während Anita vor allem die Informationsfülle als positiv bewertet, schätzt Sandra die Bilder. Für sie ist es wichtig, dass <?page no="394"?> 394 sie „einen eindruck davon bekommt, wie es wirklich war” (Zeile 251). Damit sieht Sandra in den Bildern besonders zuverlässige und aussagekräftige Quellen zur damaligen Situation. Es ist bemerkenswert, dass Sandra den Bildern den Anspruch zuschreibt, aus diesen zu erfahren ‚wie es damals war’, der simulierten Umgebung diese Leistung aber nicht zuspricht. Offensichtlich misst Sandra den Abbildungen von Fotografien eine höhere Verlässlichkeit zu als einer virtuellen Umgebung - obwohl natürlich auch Bilder manipuliert werden können oder durch die Wahl eines Bildausschnitts nur eine bestimmte Perspektive auf ein Ereignis zeigen. Während Sandra durch den Avatar in der Ausstellung also kein Gefühl von Erleben hat, wurde in Kapitel 6.4.3.3. gezeigt, dass sich Neo in die virtuelle Umgebung der DDR Wohngegend hineinversetzt gefühlt hat und dort selbst ‚erleben’ konnte, wie es ‚war’, wenn man ohne Pass die Grenze passieren wollte. Es ist anzunehmen, dass dieser Unterschied in der Wahrnehmung der Umgebungen in den unterschiedlichen Persönlichkeiten Neos und Sandras begründet ist. Darüber hinaus ist aber auch die unterschiedliche Wirkung der Umgebung (eine Ausstellung gegenüber einem ‚Lebensraum’, in dem man interagieren kann) als möglicher Grund für die (fehlende) Wahrnehmung Sandras zu nennen. Die Einschätzungen der Gruppenmitglieder bezüglich der Gestaltung der Ausstellung werden nicht weiter kommentiert. Nach einer kurzen Pause ergreift Paula die Initiative und fragt ihre deutschen Partnerinnen, ob diese Lech Walesa kennen. Beide verneinen Paulas Frage und Sandra erkundigt sich, wo Paula diesen Begriff gelesen habe (Zeile 255). Offensichtich geht Sandra davon aus, dass sich Paula hier wieder unmittelbar auf eine Information aus der Ausstellung bezieht. Doch Paula hat von dieser unmittelbaren Situation abstrahiert und nennt einen neuen Aspekt zum Thema ‘Teilung Deutschlands’, der ihr bereits bekannt ist und den sie mit ihren Partnerinnen diskutieren möchte. Da sowohl Sandra als auch Anita Lech Walesa nicht kennen, erläutert Paula, dass es sich um einen Mann polnischer Herkunft handle und dass dieser „euch viel geholfen hat” (Zeile 257). Mit ‚euch’ bezeichnet Paula in diesem Moment offenbar das deutsche Volk, sie betont durch das ‚euch’, das ihre Partnerinnen direkt anspricht und mit einbezieht, deren Zugehörigkeit zu der Gruppe, der Lech Walesa geholfen hat. Dass diese Gruppe nicht genauer spezifiziert wird, ist erstaunlich, insbesondere weil in der entsprechenden Situation ja zwei deutsche Staaten existierten, so dass hier eine Unterscheidung bezüglich des Nationalstaates möglich gewesen wäre. Vielleicht differenziert Paula nicht nach Staat und sieht die deutsche Bevölkerung trotz der Teilung Deutschlands als eine Gruppe an. Vielleicht ordnet sie aber auch Sandra und <?page no="395"?> 395 Anita automatisch der BRD zu und berücksichtigt die Teilung Deutschlands in ihren Ausführungen nicht. Aufgrund fehlender weiterer Aussagen wird dies nicht deutlich. Die Hilfe durch Lech Walesa setzt Paula in einen direkten kausalen Zusammenhang mit dem Fall der Mauer. Als daraufhin Sandra nachfragt, was Walesa denn genau getan habe, bleibt Paulas Beschreibung diffus. Sie gibt an, dass er den Kommunismus bekämpft habe. Wie er dies getan hat (und ob sie vom polnischen oder ostdeutschen Kommunismus spricht), bleibt weiterhin offen. Obwohl also die Hilfe von Lech Walesa nicht aufgeklärt wird, abstrahiert Palina von dem direkten Material und erläutert ihren Partnerinnen weitere Aspekte zum Thema ‘Teilung Deutschlands und Gründung der DDR’, die diese bislang noch nicht kannten. Die Materialien in der virtuellen Welt sind der Ausgangspunkt, von dem aus sich die Gruppe im anschließenden Gespräch weiterführenden Aspekten des Themas widmet, indem Paula das Wissen, das sie hat, mit ihren Partnerinnen teilt. Derartige Gespräche, die über das direkt Gesehene hinausgehen, sind in anderen Gruppen während des zweiten Treffens nicht vorgekommen. In Kapitel 7.4 wurden mögliche Gründe dafür diskutiert. Bei dieser Gruppe, die eine Ausnahme darstellt, ist zu vermuten, dass die intensive Kommunikation, die die Gruppe im Vorfeld, aber auch in diesem Treffen, untereinander geführt hat, ein Aspekt ist, der zu diesem weiterführenden Gespräch beigetragen hat: Sandra und Anita fühlen sich dafür verantwortlich, dass Paula die Informationen der Ausstellung versteht und richtig einordnen kann, durch ihre vielen Rückfragen bleiben die Gruppenmitglieder in Kontakt und im Gespräch. Nach der Besichtigung führt dieser enge Kontakt dazu, dass das Gesehene noch einmal innerhalb der Gruppe zusammengetragen und in diesem Fall weitergeführt wird. Die Partnerinnen geben eigenintiativ Wissen, dass sie zum Thema haben, an die anderen Mitglieder weiter. Nachdem zunächst Sandra den Checkpoint Charlie erläutert hat, gibt auch Paula zusätzliche Informationen zum Thema ‚Teilung Deutschlands’. Die Ausstellung dient als Impuls, durch den sich die Partnerinnen zu dem besichtigten Thema über die in der Ausstellung rezipierten Inhalte hinaus austauschen. Bezieht man das Verhalten der Gruppe auf die in Kapitel 3 diskutierten Ansätze der Landeskunde wird deutlich, dass die Gruppe vor allem faktische Inhalte miteinander austauscht: Sandra und Anita erklären Paula die Bedeutung des Checkpoint Charlie und Paula erläutert ihr Wissen zu Lech Walesa. Insbesondere letzteres führt zu einem längeren Gespräch mit interessierten Nachfragen der Partnerinnen. Hier ist zu vermuten, dass dieses Interesse der Partnerinnen vor allem durch die Darstellung Paulas erfolgt: Indem die Partnerin, die von Sandra und Anita wertgeschätzt wird, den Aspekt ‚Lech Walesa’ wichtig findet, bringen auch Anita und Sandra diesem Thema Interesse <?page no="396"?> 396 entgegen und motivieren Paula durch ihre Nachfragen, das eigene Wissen zu vertiefen. Damit findet das von Tamme (2001) formulierte Konzept der personalisierten Landeskunde auch hier Anwendung: Die Lerner interessieren sich für ein Thema, wenn es durch den Partner vorgestellt und narrativ vermittelt wird. In diesem Beispiel wird von Paula sogar ein landeskundliches Thema personalisiert vermittelt, das nicht aus der direkten Lebenswelt des Partners entstammt, sondern für ein historisches Thema, das der Partner referiert. 8.3. Die Deutung virtueller Erinnerungsorte bei fehlendem kulturellen Wissen Im vorangegangenen Kapitel wurde deutlich, dass die virtuellen Exponate vorhandenes Wissen der Teilnehmer aktivieren können. Der anschließende Austausch innerhalb der Gruppe über dieses Wissen kann den Projektpartnern neue Informationen vermitteln und auch diese zur Verbalisierung ihres Vorwissens animieren. Nachfolgend werden Datenauszüge gezeigt, in denen einem Teilnehmenden das nötige Vorwissen zur Dekodierung der Exponate fehlte. Es soll untersucht werden, wie die Gruppen mit diesem fehlenden Wissen umgehen. Die untersuchte Gruppe besteht aus Sven und Tina aus Deutschland sowie Palina aus Polen. Sie besichtigen eine freie Nachbildung der East Side Galerie. In Second Life wurden - wie beim Original - auf ein Stück der Mauer Graffitis und Bilder gemalt, die das Thema ‚Teilung Deutschlands und Deutsche Wiedervereinigung’ aufgreifen (vgl. Abb. 32). Fünf Motive der Original East Side Galerie wurden hierfür berücksichtigt und lückenlos nebeneinander dargestellt 176 , darunter der Bruderkuss aus dem Gemälde ‚Mein Gott hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben’ von Dmitri Wrubel, das zu den bekanntesten Bildern der East Side Galerie zählt. 176 Wobei die Reihenfolge der Bilder nicht der Reihenfolge der realen East Side Gallery entspricht. <?page no="397"?> 397 Abb. 32: Die Gruppe von Sven, Tina und Palina mit meinem Avatar vor der virtuellen East Side Galerie Tina bleibt vor dem Bild des Bruderkusses zwischen Erich Honecker und Leonid Breschnew stehen. Offensichtlich kennt sie weder das Bild, das Symbol des Bruderkusses noch die darauf abgebildeten Personen. Sven, ihr deutscher Teamkollege, kennt das Bild offensichtlich, da er die Bedeutung aber nicht sofort auflöst, kommt es zu interessanten Mutmaßungen von Tina (vgl. Datenauszug 87): Datenauszug 87: Tinas Mutmaßungen zur Bedeutung des Bruderkuss-Bildes <?page no="398"?> 398 Tinas erster Vermutung, dass auf dem Bild lediglich zwei alte Männer abgebildet sind, widerspricht Sven und erklärt, dass es sich bei dem einen Mann um Erich Honecker handelt. Er antwortet auch korrekt, dass der zweite Mann nicht aus der BRD kommt, klärt aber dessen Herkunft nicht weiter auf. Tina mutmaßt weiter, ob es sich um eine Darstellung von Homosexualität handelt. Auch dies verneint Sven wieder und weist auf den Symbolgehalt des Bildes hin, allerdings führt er auch diesen nicht weiter aus. Da Tina das nötige Vorwissen fehlt, bleibt ihr nichts weiter, als die Bedeutung des Bildes zu erraten und so interpretiert sie das Bild als „Knutschen“ von Osten und Westen (vgl. Zeile 281 f.). Als von Sven hierzu keine Kommentare kommen, kläre ich den Hintergrund des Bildes schließlich auf. In diese Erklärung von mir hinein meldet sich erstmals Palina zu Wort: Sie gibt an, dass es sich um ein „Sehr starkes Bild auf damaligen Zeit” (Zeile 285) handle. Es scheint, als ob sie dieses Bild kennt. Dennoch hat sie sich aus Tinas Versuch, die Bedeutung des Bildes zu entschlüsseln, herausgehalten. Vielleicht fühlt sie sich aufgrund ihrer Herkunft nicht als Expertin für Tinas Fragen, die sich auf eine deutsche Umgebung beziehen, so dass sie ihr nicht antwortet. Auch der nachfolgende Ausschnitt verdeutlicht, dass durch die fehlende Beantwortung von Fragen Missverständnisse auftreten (vgl. Datenauszug 88): Die Gießener Studentin Ulla steht vor der East-Side Galerie und stellt die Frage, wie es möglich sein konnte, dass die Mauer trotz ihrer Bewachung derart bemalt wurde. Sie nimmt also an, dass die Gemälde noch zur Zeit der Teilung Deutschlands an der Mauer angebracht wurden. Diese Annahme wird von keinem ihrer Gruppenpartner aufgegriffen. Zwar habe ich ihnen zu Beginn mitgeteilt, dass es sich um eine Ausstellung handelt, die nach dem Fall der Mauer erstellt wurde, scheinbar hat die Gruppe dies aber nicht aufgenommen. Auch Catarina aus Polen, die offensichtlich bei einem Besuch Berlins alte Mauerabschnitte besichtigt hat (vgl. Zeile 155) beschreibt dies zwar, gibt aber keine weiteren Informationen zu diesen realen Mauerabschnitten oder setzt diese in Bezug zur virtuellen Ausstellung. Als Frieda in dieser Situation eine zustimmende Äußerung macht (vermutlich auf Ullas Äußerung, dass die Mauer ständig bewacht war), ist die Auseinandersetzung der Gruppe mit Ullas Frage beendet. <?page no="399"?> 399 Datenauszug 88: Ullas unbeantwortete Fragen zur bemalten Mauer Die Umgebung, in der sich die gezeigten Beispiele ereigneten, war eine nichtdidaktisierte Umgebung. Im Gegensatz zur Mauerausstellung, die durch Texte weitere Informationen lieferte - auch wenn diese, wie Kapitel 7.4 zeigt, aufwendig zu rezipieren waren - kann die Bedeutung der Ausstellungsstücke am Brandenburger Tor nur entschlüsselt werden, wenn man das nötige Wissen, an das das neue Wissen angeschlossen werden kann, bereits in die Lernsituation mit einbringt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die gezeigten Bilder der real existierenden East Side Gallery entsprechen, auch das Konzept der Zeitmaschine, die den Mauerstreifen in zeitlich versetzten Abständen verändert ist nicht einfach zu entschlüsseln und wird stets von mir erläutert, wenn die Gruppen sich in der Umgebung befinden. Anhand der obigen Beispiele wird deutlich, dass es bei fehlendem Kontextwissen der Lernenden schnell zu Fehlannahmen kommen kann. Dies tritt besonders häufig bei bildhaften Darstellungen auf, die das Kontextwissen nicht durch Texte mitliefern. Da Tina das Ritual des Bruderkusses zwischen den Führern der sowjetischen Staaten nicht kennt, kann sie das Bild nicht einordnen. Ebenso wird Ullas Fragestellung, wie die Mauer trotz der Bewachung bemalt werden konnte, nicht von ihren Partnerinnen aufgegriffen und bleibt daher unbeantwortet. Während ich noch im ersten Beispiel eingreife und die Bedeutung des Bruderkusses erkläre, bleibt die Frage von Ulla zur Bemalung der Mauer im Datenauszug 82 offen. Hier wird deutlich, dass die Gruppen die inhaltliche Dimension der Umgebung nicht eigenständig aufarbeiten können. Aus der Analyse folgt, dass virtuelle Umgebungen und dortige Exponate, wenn sie zum historischen Lernen genutzt werden sollen, die Vermittlung von historischem Wissen in virtuellen Welten explizit machen müssen, wie in der Mauerausstellung ‚The Wall’ (vgl. Kapitel 8.2). 177 Alternativ kann dieses 177 Diese explizite Faktenvermittlung kann entweder wie beschrieben durch dargebotenes Lernmaterial wie die Bilder und Texte der Ausstellung durch die Umgebung erfolgen oder aber durch kundige Führer, die mit ihren Avataren als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Auf diese Möglichkeit wird in Kapitel 8.5 sowie im abschließenden Fazit in Kapitel 9 weiter eingegangen. <?page no="400"?> 400 Wissen durch die Erarbeitung von Kontextwissen im Vorfeld bereitgestellt werden. Obwohl die Lerner in den oben ausgeführten Beispielen angaben, bereits Vorwissen zu haben, gelingt es ihnen in diesen Fällen nicht, das Vorwissen auf die konkrete Situation zu beziehen oder bei fehlendem Wissen eigenständig Informationen aus der Umgebung zu entnehmen. 8.4. Das Erleben von Geschichte in simulierten Umgebungen Im Unterschied zum Treffen der zweiten Woche fanden die Teilnehmer zum Treffen der dritten Woche im virtuellen Nachbau der Wohnsiedlung keine Text- oder Bilddokumente vor. Die Gegenstände und Orte, die auf die Situation der deutschen Teilung verweisen sollten, simulierten Dreidimensionalität, sie konnten von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet oder betreten werden. Verglichen mit dem Verhalten in der Mauerausstellung fällt auf, dass sich die Teilnehmer in der simulierten Umgebung mehr miteinander austauschen, obwohl in der Umgebung nur der Text-Chat zur Verfügung steht. Dies wurde bereits in Kapitel 7.4 analysiert, auch mögliche Ursachen für die vermehrte Kommunikation in der dritten Woche wurden hier bereits diskutiert. Der Ertrag der Gespräche im Hinblick auf einen landeskundlichen Lernprozess wurde dabei noch nicht thematisiert. Dies soll nachfolgend geschehen. Beispielhaft wird das landeskundliche Lernen an einer Szene analysiert, die nachfolgend in verschiedenen Gruppen dargestellt wird: Dem Eintritt in die Kaufhalle. Beim Gang durch die Kaufhalle lassen sich in den Daten unterschiedliche Arten des Umgangs mit der Umgebung festmachen: 1.) Beschreibung der Umgebung 2.) Bezug auf den eigenen Erfahrungshorizont 3.) historisch faktenorientierter Austausch 4.) kulturübergreifender Vergleich des Themas Diese Stufung soll anhand einzelner Beispiele in den nächsten Kapiteln illustriert werden. 8.4.1. Stufe 1: Die Beschreibung der Umgebung Einige Gruppen gehen völlig stumm durch die Umgebung, so dass in diesen überhaupt keine Auseinandersetzung mit den rezipierten Informationen erkennbar werden kann. Eine erste weitergehende Stufe der Beschäftigung der Gruppen mit der Umgebung ist es, wenn sie die Gegenstände der Umgebung <?page no="401"?> 401 verbalisieren und beschreiben, was sie sehen. Diese Beschreibung bleibt in der ersten Stufe auf einer rein deklarativen Ebene, es findet keine Einordnung dessen, was die Lernenden beobachten, in ihr kulturelles Wissens statt. Gruppen, die dieses Verhalten zeigen und die Umgebung beschreiben, haben allerdings immer auch - zumindest in Ansätzen - diese Beschreibung auf ihren eigenen Erfahrungshorizont bezogen. Eine derartig grundlegende Form der Bezugnahme wird am ersten Beispiel des folgenden Kapitels deutlich. 8.4.2. Stufe 2: Bezugnahme auf den eigenen Erfahrungshorizont Das Verhalten der Gruppe von Ulla, Frieda und Catarina im folgenden Textauszug lässt sich auf der zweiten Stufe einordnen. (vgl. Datenauszug 89). Datenauszug 89: Ulla, Frieda und Catarina in der Kaufhalle Die Gruppenmitglieder nennen die Konsumgüter, die sie in den Regalen sehen, was der Stufe 1 entspricht. Eine Problematisierung dessen, was sie sehen, und mögliche Erklärungsansätze hierfür erfolgen nicht durch die Partnerinnen. Die Gruppe zeigt damit Verhaltensweisen entsprechend der Stufen 1 und 2, wobei lediglich Ulla bei der Cola einen Bezug zur realen Welt herstellt, indem sie angibt, dieses Getränk erst vor kurzem getrunken zu haben. Eine Auseinandersetzung entsprechend der Stufe 2 ist daher nur in Ansätzen erfolgt. Als zweites Beispiel für eine Auseinandersetzung mit den Inhalten auf Stufe 2 dient der Textauszug von Anita, Sandra und ihrer polnischen Partnerin Paula (Datenauzug 90), die den Bezug der Ausstellungsstücke auf ihr eigenes Leben deutlicher herausstellen: <?page no="402"?> 402 Datenauszug 90: Sandra, Paula und Anita in der Kaufhalle Sandra scheint zunächst diejenige zu sein, welche die Arbeit der Gruppe organisiert. Sie wiederholt die Aufgabenstellung, schlägt Paula vor, zu Anita zu gehen und gibt technische Hinweise, indem sie anmerkt, dass die Gruppe nah beieinander bleiben muss, um die Text-Chat-Beiträge der anderen lesen zu können. Anita hat inzwischen die Kaufhalle gefunden, und gemeinsam betritt die Gruppe den Laden. Anita weist ihre Partnerinnen auf einen Schallplattenspieler hin. Paulas Nachfrage, was das sei, wird von den Partnerinnen nicht direkt erklärt, vielmehr verweist Sandra darauf, dass es bei ihren Eltern zu Hause steht. Auch Anitas Eltern haben nach ihrer Auskunft einen Schallplattenspieler, Paula gibt an, dass ihre Eltern keinen haben. Hier findet ebenfalls der Bezug zur realen Welt statt, wie auch im ersten Beispiel von Ulla, Frieda und Catarina sehr konkret (am Beispiel des Plattenspielers) und nicht bezogen auf die Zeit, die die Umgebung nachstellen soll, sondern auf die aktuelle Ausstattung der Wohnzimmer der Eltern der Gruppenmitglieder. Sandra erwähnt in Zeile 72, dass an der Wand „werbung vn früher“ zu finden sei, wodurch sie eine erste Einordnung in den historischen Kontext leistet. Dieser Impuls wird aber nicht weiter geführt. Mit Bezug auf die Diskussion um interkulturelles Lernen kann man hier mit Altmayers Konzept der Deutungsmuster (vgl. Kapitel 3.2.3.3) argumentieren, dass Sandra, Anita und Paula die Gegenstände zwar erkennen und sich über sie austauschen. Das kulturelle Deutungsmuster, das hinter dem Arran- <?page no="403"?> 403 gement der Waren im Laden steht, erkennen sie aber nicht: Eine Auseinandersetzung mit dem dargestellten Thema des Mangels an Konsumgütern, die deren Hintergründe erörtert oder die Situation in den unterschiedlichen Heimatländern der Lernenden aufgreift, fehlt hier völlig. Die folgende Dreiergruppe besteht aus Andrea und der chinesischen Studentin Lia von Seiten der Gießener Gruppe sowie Iwona aus der polnischen Gruppe. Andrea kommt aus einem ostdeutschen Bundesland und da sie ein wenig älter ist als ihre Kommilitonen, hat sie selbst im Kleinkindalter die DDR noch miterlebt. Als die Gruppe vor der virtuellen Kaufhalle ankommt, fängt Andrea sofort an, die Darstellungen zu beschreiben. Sie benennt auf einem Bild, das im Schaufenster der Kaufhalle aufgestellt ist, Erich Honecker und wundert sich über die Platzierung des Bildes (vgl. Datenauszug 91). Datenauszug 91: Andrea, Lia und Iwona vor der Kaufhalle Zunächst beginnt die Gruppe aufgrund der virtuellen Gegenstände, die sie sehen, ein Gespräch. Andrea wundert sich darüber, dass ein Bild von Erich Honecker im Schaufenster der Kaufhalle zu sehen ist. Die Gruppe geht humorvoll mit dieser Feststellung um, indem eine Diskussion darüber entsteht, ob man Honecker in dem Geschäft kaufen könne und Lia auf fehlendes Geld <?page no="404"?> 404 verweist (Wodurch sie eine Beschreibung auf ihre reale Erfahrungswelt leistet und damit Stufe 2 der beschriebenen Stufung erreicht). Mit ihrer Aussage, dass sie Honecker „nicht einmal geschenkt” (Zeile 64) nehmen würde, gibt Andrea ein Wertung zu Erich Honecker ab. Es wird deutlich, dass Andrea die politische Figur Honecker kennt und mit diesem bestimmte Ereignisse oder Dinge assoziiert die eine Ablehnung Honeckers bei Andrea hervorruft. Sie verfügt also über historisches Wissen (und im Sinne Altmayers über ein Deutungsmuster der Person Honecker), teilt dieses Wissen allerdings nicht mit den Partnerinnen. Ihre Ablehnung Honeckers wird auch nicht von ihren Partnerinnen aufgegriffen und hinterfragt, so dass es hier nicht zu einer Auseinandersetzung mit Andreas Vorwissen kommt. Als die Gruppe die Kaufhalle betritt, bleiben sie nah beieinander. Lia bleibt an einem Regal stehen, ihre Kolleginnen kommen dort ebenfalls an. Lia klickt ein Produkt im Regal an, wodurch ihr Avatar auf dieses Produkt zeigt. Es ist eine Backmischung, worauf hin in der Gruppe ein Gespräch darüber entsteht, ob Lia nicht für die Gruppe Kuchen backen könne 178 , was diese mit dem Verweis auf einen fehlenden Ofen verneint. Hier ist unklar, ob sie sich wie auch zuvor mit dem Geld auf die virtuelle Welt bezieht oder diesmal die reale Welt meint. Da sie im Anschluss aber angibt, etwas kochen zu können, deutet dies auf einen Bezug des Ofens auf die reale Welt hin, denn auch ein Herd stünde ihr in Second Life nicht zur Verfügung. Die Gruppe beschreibt zunächst, was sie sieht; zum einen Erich Honecker, zum anderen die Backmischung. Nachdem damit Verhalten der Stufe 1 gezeigt wurde, wird das gesehene auf den persönliche Erfahrungshorizont bezogen (Stufe 2): Andrea gibt eine Wertung zu Honecker und die Gruppe greift Lias Vorliebe zu backen auf und schlägt vor, dass sie mit der virtuellen Backmischung für die Gruppe einen Kuchen backen könne. Eine intensivere Auseinandersetzung im Sinne von Stufe 3 oder 4 findet nicht statt; innerhalb des Geschäftes werden die vielen leeren Regale und ihre Ursachen nicht thematisiert, auch die Wertung Andreas zu Erich Honecker wird nicht vertieft, so dass der kulturelle Kontext der Umgebung nicht zum Lerngegenstand der Gruppe wird. 178 Dieses Phänomen der Übertragung virtueller Gegenstände auf die Realität kommt auch in anderen Gruppen vor: Unter 6.4.3.3 wurde gezeigt, dass auch Michael die ausgesellten Waren auf seine persönliche Situation überträgt. Er möchte in der Kaufhalle Schokolade kaufen, da er Hunger hat. <?page no="405"?> 405 8.4.3. Stufe 3: Historisch-faktenorientierter Austausch Als nächste Stufe der Auseinandersetzung mit dem Material steht der historisch-faktenorientierte Austausch. Darunter fasse ich eine Beschäftigung mit dem Material, bei der die Teilnehmenden dieses nicht nur beschreiben und es auf sich bezogen kommentieren, sondern darüber hinaus beginnen, das Material in ihr eigenkulturelles historisches Wissen einzuordnen. Diese Einordnung bleibt aber beschreibend und auf die eigene Kultur bezogen. Es findet darüber hinaus kein neuer Wissenserwerb statt; das Material wird nur entsprechend vorhandener Muster eingeordnet. Ein Beispiel für ein diese Art der Auseinandersetzung mit dem Material findet sich im Ausschnitt, der nachfolgend in Datenauszug 92 widergegeben wird. Datenauszug 92: Kerstin und Julia in der Kaufhalle Kerstin und ihre Partnerin Julia stehen zunächst vor der Kaufhalle. Über dem Eingang befindet sich ein Schild mit der Aufschrift ‚Konsum’, die Kaufhallenmarke der Konsumgenossenschaften in der DDR. Kerstin thematisiert dieses Schild und fragt Julia, ob sie das Wort Konsum kenne. Sie fügt zudem hinzu, dass das Wort von „Älteren herrschaften“ (Zeile 145 f.) verwendet wird und weist damit darauf hin, dass das Wort vor allem in der Vergangenheit gebräuchlich war. Damit wird eine erste historische Einordnung angedeutet, die aber nicht ausgeführt wird. Julia bejaht Kerstins Frage und weist darauf hin, dass es das Wort auch im Polnischen gibt (Zeile 148). Nachdem die <?page no="406"?> 406 Gruppe die Kaufhalle betreten hat, gehen sie direkt auf ein Regal zu und bleiben davor stehen. Kerstin bemerkt „und nichts in den regalen, wie in der DDR“ (Zeile 152). Dies stellt einen spannenden Impuls da: Durch die verallgemeinerte Aussage könnte eine Darstellung der wirtschaftlichen Situation der DDR oder auch Polens der Aussage folgen. Julia stimmt Kerstin allerdings lediglich zu. Beide Partnerinnen führen ihr Wissen nicht aus. Sie scheinen das kulturelle Deutungsmuster, das durch die leeren Regalen symbolisiert wird, zu kennen: Das eingeschränkte Warenangebot aufgrund der planwirtschaftlichen Steuerung des Handels. Dieses Deutungsmuster wird aber nicht zum Gesprächsthema. Ein Grund für die fehlende Thematisierung dieses Deutungsmusters könnte in der Zustimmung Julias liegen: Indem Julia Kerstin in ihrer Aussage zustimmt, kann Kerstin Julias Antwort entnehmen, dass auch sie dieses Deutungsmuster kennt. Vielleicht scheint es für beide Partnerinnen aufgrund dessen nicht notwendig, das Muster explizit zu erörtern. In dem Regal, vor dem die Partnerinnen stehen, finden sie einen gelben Becher. Kerstin und Julia versuchen gemeinsam herauszufinden, was sie vor sich sehen, da beide Partnerinnen den Gegenstand zunächst nicht einordnen können. Kerstin entdeckt dann Florena Creme und erläutert Julia, dass es diese Creme heute noch gebe, worauf diese nicht eingeht. Kerstin fügt kurze Zeit später in Bezug auf den zuvor nicht erkannten Gegenstand als „rübenaufstrich“ hin. Nachdem sie den unbekannten Gegenstand einordnen konnte, möchte Kerstin die Kaufhalle verlassen. Julia geht noch einmal auf den Zuckerrübensirup ein und berichtet ihrer Partnerin, dass es diesen auch in Polen während des Kommunismus gegeben habe (Zeile 166). Auch hiermit ordnet sie das Gesehene in ihr Vorwissen ein. Darüber hinaus deutet sich bereits ein Vergleich der unterschiedlichen Länder an, der auch bei der Verwendung des Wortes Konsum zu Beginn des Treffens erkennbar war. Dieser Vergleich ist der Stufe 3 der aufgestellten Stufung zuzuordnen. Der Vergleich findet allerdings nur anhand der Beschreibung der konkreten Gegenstände statt und wird nicht auf die Gesamtsituation erweitert. Damit hätte die Gruppe den nächsten Schrit in der Beschäftigung mit dem Material erreicht, der im folgenden Unterkapitel dargestellt wird. <?page no="407"?> 407 8.4.4. Stufe 4: Kulturübergreifender Vergleich von Themen In Datenauszug 93 besteht die Gruppe nur aus zwei Personen 179 : Dem Gießener Studenten Marius und seine polnischen Partnerin Alexandra. Marius stammt aus einer ostdeutschen Großstadt und auch wenn er die DDR selbst nicht mehr miterlebt hat, identifiziert er sich aufgrund von Erzählungen seiner Familie noch sehr stark mit der damaligen Zeit. Datenauszug 93: Marius und Alexandra in der Kaufhalle Marius und Alexandra laufen relativ schnell durch die Kaufhalle und reden zunächst nicht miteinander. Als er ein Gespräch beginnen möchte, bleibt Marius stehen und signalisiert mit seiner Äußerung „ja, das war so in der ddr“ (Zeile 71), dass er der Darstellung der Umgebung zustimmt. Alexandra vergleicht das Dargestellte mit ihrem Wissen der damaligen Zeit in Polen und gibt an, dass es dort ebenfalls so ausgesehen habe. Es wird deutlich, dass beide über historisches Wissen verfügen, wie in den vorangegangen Beispielen machen sie dieses Wissen aber nicht explizit. Am Ende ihres Ganges durch die Kaufhalle gibt Alexandra einen weitergehenden Impuls, indem sie die Wertmarken erwähnt, mit denen man damals 179 Von den 14 teilnehmenden Gruppen waren 3 Gruppen Paare die anderen Gruppen Tridems, da die Anzahl der Teilnehmenden auf Gießener Seite nicht genau steuerbar war, vgl. Kapitel 6.3. <?page no="408"?> 408 in Polen einkaufen konnte. Marius erwähnt, dass es in der DDR außer den hier dargestellten Kaufhallen auch Supermärkte gab, in denen man Westprodukte kaufen konnte, bevor er Alexandras Frage, ob es auch in der DDR Wertmarken gegeben habe, bejaht. Beide Partner beschreiben nicht mehr nur was sie sehen, sie bringen zusätzliches Wissen und historische Fakten in die Besichtigung ein und zeigen damit ein Verhalten der nächsthöheren Stufe 3. Ein Vergleich zwischen der DDR und Polen zur kommunistischen Zeit findet ebenfalls statt (Stufe 4), allerdings nur in Anfängen: Beide berichten, dass es Wertmarken gab. Es kommt während dieses Vergleichs jedoch zu keinem Gespräch über die Hintergründe und Funktionsweisen der Wertmarken. Auch in dieser Gruppe kann vermutet werden, dass die Zustimmung des Partners - hier durch das „ja ich weiss“ (Zeile 89) von Alexandra manifestiert - eine Ausführung des historischen Wissens überflüssig erscheinen lässt. Eine ähnlich knapper kulturübergreifender Vergleich findet auch in der nächsten Gruppe statt (vgl. Datenauszug 94): Hui aus China beschreibt, dass nur ein Schild an der Decke eine Gruppe von Lebensmitteln ausweist (Stufe 1). Ihr Empfinden, dass dies sehr wenig sei (Stufe 2), ist als Frage formuliert. Dies kann als wirkliche Nachfrage interpretiert werden, da Hui aufgrund der chinesischen Herkunft möglicherweise nicht über das Wissen verfügt, die dargestellten Informationen einzuordnen. Auf die Frage von Hui geht Nastja ein. Sie beschreibt, dass man in Polen zur damaligen Zeit manchmal nur Essig im Supermarkt kaufen konnte und bringt damit ihr eigenes historisches Wissen zur Deutung der Situation mit ein (Stufe 3). Datenauszug 94: Nastja, Hui und Tascha in der Kaufhalle Damit verweist Nastja nicht auf die konkrete Situation in der DDR, bietet aber ein Erklärungsmodell aus Polen an. Hui vermutet, dass dies in der DDR eventuell genauso gewesen sein könnte, das Modell also übertragbar ist, was Nastja unterstützt, beide legen das Verhalten der Stufe 4 an den Tag. Vermut- <?page no="409"?> 409 lich um einen Hinweis auf die Richtigkeit ihrer Annahme zu erhalten, fragt Hui, „in welchem Zeitraum” (Datenauszug 94, Zeile 180) sie sich gerade befinden. Ich bestätige ihre Annahmen und nenne das Jahr 1976, welches das DDR-Museum als Referenzjahr angegeben hatte. Tascha, die dritte Gruppenpartnerin, die aus Kasachstan und damit einem Nachfolgestaat der UdSSR stammt, gibt an, dass auch in ihrer Heimat zu dieser Zeit die Regale derart leer waren. Für China möchte Hui sich nicht festlegen. Die Partnerinnen vergleichen ihre Herkunftsländer also mit dem, was sie vorfinden und stellen teilweise Ähnlichkeiten fest. Indem sie diesen Vergleich zwischen den Ländern herstellen, gehen sie weiter als die bisher dargestellten Gruppen. Diese intensivere Auseinandersetzung mit dem Beobachtbaren könnte darin begründet liegen, dass Hui zu Beginn der Sequenz eine Frage formuliert, die ein wirkliches Informationsbedürfnis deutlich werden lässt. In anderen Gruppen, wurde durch ein „ich weiss“ (vgl. Datenauszug 80, Zeile 89) oder die Zustimmung zu einer Ausführungen der Partner schnell deutlich, dass gemeinsames Wissen vorhanden ist, dieses musste nicht erläutert werden. In diesem Beispiel ist Hui (als Chinesin und damit kulturell am weitesten entfernte Gruppenteilnehmerin) diejenige, die von Nastja und Tascha darüber informiert wird, wie sich die Situation in Polen und Kasachstan zur Zeit des Kommunismus in den jeweiligen Ländern darstellte. Es fehlt zwar Wissen der drei Partnerinnen über die DDR, sie versuchen aber, ihr Wissen zu Polen und Kasachstan auf Übertragbarkeit zur DDR zu überprüfen. Den Grund dieses geringen Warenangebotes thematisiert diese Gruppe aber wie alle anderen Gruppen auch nicht. Damit bleibt auch dieser Vergleich stark an der Oberfläche und nur auf konkrete Merkmale bezogen. Es findet keine Auseinandersetzung mit den Deutungsmustern statt, die der Darstellung zugrunde liegen. In den oben dargestellten Textauszügen wurden Beispiele für die folgenden Stufen der Auseinandersetzung mit dem landeskundlichen Material festgestellt: 1.) Beschreibung der Umgebung 2.) Bezug auf den eigenen Erfahrungshorizont 3.) historisch faktenorientierter Austausch 4.) kulturübergreifender Vergleich des Themas Diese Stufung der Auseinandersetzung nimmt im Hinblick auf das Potenzial interkulturellen Lernens zu. Interessant ist hierbei, dass die Gruppen, die die komplexeren Stufen der Auseinandersetzung mit dem Material erreichen, immer zuvor auch die flacheren Stufen der Auseinandersetzung mit dem Material durchlaufen. <?page no="410"?> 410 In der Analyse wurden diese Stufen bereits am Modell der kulturellen Deutungsmuster gemessen. Hieran wird deutlich, dass selbst das Verhalten der Stufe 4, das von den Gruppen als elaboriertestes Verhalten im Bezug auf die Auseinandersetzung mit den historischen Gegenständen gezeigt wird, kein Verhalten ist, aus dem interkulturelles Lernen entstehen kann: Die Teilnehmenden vergleichen zwar die Situation in den jeweiligen Ländern, machen ihr Wissen zu den politischen Hintergründen, die zu den von ihnen beobachteten Lebensumständen geführt haben - wenn sie dieses Wissen haben - nicht explizit. Um interkulturelles Lernen entsprechend der in Kapitel 3.2.3. dargestellten didaktischen Diskussion zu erreichen, hätten die Studierenden aber einen weiteren Schritt gehen müssen. Der Vergleich ist ein erster Schritt, um Unterschiede zwischen Ländern herauszustellen. Um interkulturell fruchtbar zu sein, muss dieser Vergleich dann aber zu einer Auseinandersetzung mit den Hintergründen dieser Unterschiede führen, in der Werte und Ansichten diskutiert werden. Diese Auseinandersetzung, als nächste Stufe 5, wurde in der virtuellen Umgebung des dritten Treffens von keiner Gruppe gezeigt. 8.5. Meine Rolle als landeskundliche Quelle In den bisherigen Ausführungen wurden immer wieder Situationen beschrieben, in denen die Lernenden sich mit Fragen an mich gewendet haben. Diese Ansprache erfolgte sowohl in Second Life über meinen Avatar, als auch von den Gießener Teilnehmern, die in meinem Büro waren, im direkten Gespräch. Es war nicht beabsichtigt, dass ich den Teilnehmern inhaltlich Hilfestellungen leistete, ich war vielmehr aus Datensicherungsgründen und um den Teilnehmern technische Hilfestellung zu geben mit meinem Avatar anwesend. Dennoch wandten sich die Teilnehmer zu verschiedenen Anlässen immer wieder an mich: • Um sich bezüglich aufgenommener Informationen rückzuversichern: Ein Beispiel für diese Rückversicherung zeigt Hanna im 2. Treffen (vgl. Kapitel 6.4.2.2). Sie liest die Informationen zur Länge der Mauer und wendet sich an mich, um nachzufragen, ob die aufgenommen Informationen richtig verstanden wurden. • Um Kontextwissen zu erfragen: Insbesondere in der virtuellen Umgebung der dritten Woche, in der die Teilnehmenden keine Texte oder anderweitige Informationen bekamen, um die Umgebung einzuordnen, wandten sich die Teilnehmer häufig an mich: In Kapitel 6.4.1.3. fragt beispielsweise <?page no="411"?> 411 Karla nach, ob die Waren, die in der Kaufhalle abgebildet werden, typische Waren der DDR sind und Michael fragt in dieser Situation, ob jeder diese Waren kaufen konnte. An diesen Fragen wird deutlich, dass beide versuchen, das Gesehene in ihr Vorwissen einzuordnen. Vorher kam es möglicherweise zu einer Störung, die eine derartige Nachfrage evoziert. So kann Michael davon ausgegangen sein, dass gewisse Waren nur ausgewählten Bürgern der DDR vorbehalten waren. Möglich ist auch, dass die Lernenden die dargestellten Materialien gar nicht einordnen können und dies durch Nachfragen ermöglichen möchten. • Um Erklärungen bei fehlendem Wissen zu erhalten: In Kapitel 8.3 wurde gezeigt, dass Lernende in manchen Situationen Ausstellungsstücke nicht einordnen konnten. Teilweise wurden in dieser Situation Fragen nicht an die Partner gerichtet, sondern an mich. Die Teilnehmenden in Gießen sind diesbezüglich im Vorteil: Zum einen, wenn sie mit mir in meinem Büro sind und unmittelbar Fragen an mich stellen können, zum anderen auch, weil sie mich persönlich kennen und daher vermutlich weniger Hemmungen haben, sich mit Fragen an mich zu wenden, als die polnischen Partner. Dementsprechend kommen derartige Fragen an mich auch stets von Gießener Teilnehmern. Die Ursache für dieses Verhalten sehe ich vor allem darin, dass ich als Organisatorin des Projektes diejenige bin, die den Teilnehmern die Aufgabenstellung und andere organisatorischen Informationen übermittelt. Es ist anzunehmen, dass ich von einigen Teilnehmenden daher nicht nur im Hinblick auf die Organisation als Informantin gesehen werde, sondern auch als Expertin für das ganze Projekt sowie die Inhalte, die innerhalb des Projektes behandelt werden. Diese Einschätzung führt meines Erachtens auch zu dem äußerst passiven Verhalten einiger Gruppen in der Ausstellung der zweiten Woche. Einige Gruppen orientieren sich in dieser Umgebung sehr stark an meinem Avatar und folgen ihm, statt sich selbstständig durch die Ausstellung zu bewegen. Vielleicht ist dies ein Zeichen für Unsicherheit, das zum einen aus der Neuheit des Mediums, zum anderen aus der gestellten Aufgabe resultiert. Auch könnten die Informationen, auf die die Teilnehmer treffen, nicht eindeutig genug sein. Insbesondere die Materialien, die nicht textbasiert sind, lassen mehrere Deutungen zu, was Tina am Beispiel des Bruderkuss-Bildes verdeutlicht hat. Solche Materialien, welche die Teilnehmenden sich nicht selbst erklären können, benötigen zur Bearbeitung einen fachkundigen Ansprechpartner. Womöglich sind die Teilnehmer bezüglich der aufgenommenen Informationen zu unsicher, hierauf basierend ein Gespräch mit ihren Partnern zu führen, so dass sich ihre Aktivitäten auf das Aufnehmen von Informationen beschränken. Wenn sie mich als verlässliche und eindeutige <?page no="412"?> 412 Quelle ansehen, wenden sich die Teilnehmer daher an mich. Das hieran deutlich geworden Bedürfnis eines fachkundigen Ansprechpartners wird im abschließenden Fazit unter Kapitel 9 berücksichtigt werden. 8.6. Zusammenfassung: Chancen und Grenzen landeskundlichen Lernens in virtuellen Welten Im Hinblick auf landeskundliches Lernen, das sich entsprechend des Konzepts der Erinnerungsorte zum einen im Erwerb historischen Wissens und zum anderen durch interkulturelles Lernen darstellt, wurde das Verhalten der Gruppen in der virtuellen Ausstellung und in der Simulation der DDR- Wohnsiedlung analysiert. Es wurde deutlich, dass die Lernenden sowohl in der Ausstellung als auch in der nachgebauten Wohnsiedlung durch die virtuelle Darstellung zu Gesprächen motiviert wurden. Die virtuelle Umgebung hat das Interesse der Lernenden für das geschichtliche Thema befördert. Obwohl die meisten von ihnen in einem Vorab-Fragebogen angaben, dass sie sich nicht für geschichtliche Themen interessierten, haben sie die Orte interessant gefunden und die einzelnen Treffen positiv bewertet. Bei der Analyse der Auseinandersetzung der Teilnehmer mit dem angebotenen Material wurde festgestellt, dass die Lernenden in der Ausstellung individuell Informationen rezipierten, es allerdings in den meisten Gruppen zu keinem Austausch kam. In der Ausstellung ‚The Wall’ war die Kommunikation der Lernenden untereinander eher gering. Wenn die Lernenden Äußerungen tätigten, wurden vor allem emotional wirkende Darstellungen wie Bilder der ‚Mauerspechte’ oder das Foto des über den Stacheldraht springenden Soldaten als Gesprächsanlässe gewählt. Bei den Informationstafeln wurden vor allem die Teilnehmer überraschende Textstellen herausgegriffen, um auch die Gruppenpartner hierauf hinzuweisen. Auf diese Hinweise reagierten die jeweiligen Partner nicht. In den wenigen Gruppen, in denen ein inhaltlicher Austausch zu der Ausstellung stattfand, wurde dieser im Anschluss an die Besichtigung geführt. Hier wurde allerdings nicht konkret auf das Gesehene Bezug genommen, sondern bereits vorhandenes Wissen zum Thema der Ausstellung aufgegriffen und an die Partnerinnen weitergegeben, beispielsweise die Rolle Lech Walesas für das geteilte Deutschland. Die Ausstellung am Brandenburger Tor lieferte keine schriftlichen Materialien oder Metatexte, welche die Ausstellung erläutern. In dieser Umgebung konnte es bei fehlendem Anschlusswissen zu Fehlannahmen der Lerner kommen. Vergleicht man die Reaktion der Gruppen auf die virtuelle Wohnsiedlung mit in der Mauerausstellung, in der die Gruppen umfangreiche Texte rezipie- <?page no="413"?> 413 ren mussten sowie in der Ausstellung am Brandenburger Tor, ist in der virtuellen Umgebung eine höhere Kommunikationsfrequenz zu verzeichnen - und das, obwohl sie in der Wohnsiedlung nur den Text-Chat zur Verfügung hatten. Die virtuellen Gegenstände haben also in höherem Maße zur Auseinandersetzung mit dem Dargestellten motiviert als die Informationstafeln der Ausstellungen. Dabei muss aber auch festgestellt werden, dass die virtuellen Gegenstände zwar Gespräche initiieren, diese aber nur relativ kurz waren und meist auch stark an der Oberfläche blieben. Die virtuellen Gegenstände reichen häufig nicht aus, um das Wissen der Teilnehmer zu erweitern. Im der simulierten Umgebung wurden vier Formen der landeskundliche Beschäftigung festgestellt, die sich auch auf die Beschäftigung mit der Ausstellung übertragen lassen. 1.) Eine Beschreibung des Gesehenen, die die Umgebung nicht auf Vorwissen bezieht und nur deskriptiv benennt, was die einzelnen Teilnehmer gerade betrachten. 2.) Ein Bezug des Gesehenen auf den eigenen Erfahrungshorizont, der in der Gegenwart verhaftet bleibt. 3.) Ein Austausch von Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Themen mit den Partnern. 4.) Ein Vergleich des beschriebenen Phänomens bezogen auf die Ausgangskulturen der Lernenden. Alle Gruppen beschreiben in ihren Gesprächen das von ihnen Gesehene. Die Informationen, die die Gruppen aus der simulierten Umgebung entnehmen können, sind geringer als die Informationen der Mauerausstellung. Die virtuellen Gegenstände dienen damit zwar als Gesprächsinitiator, sie führen aber nicht zu Gesprächen zu geschichtlichen Themen oder zu einem interkulturellen Austausch zum Thema. Nur einigen Gruppen gelingt es, das Gesehene an ihr Vorwissen anzuknüpfen und Bezüge zur Vergangenheit ihres Herkunftslandes herzustellen, obwohl dies explizit der Aufgabenstellung gefordert war. Wenn die Gruppen dieses Anknüpfen an Vorwissen leisten, sind ihre Gespräche auch landeskundlich relevant; fehlt dieses Vorwissen oder kann kein Bezug zum dargestellten Thema aus der Perspektive des eigenen Landes hergestellt werden, bleiben die Gespräche beschreibend und oberflächlich. In den Gruppen, in denen Vergleiche vorkommen, erläutern die Teilnehmer auch die jeweiligen Situationen, in denen sie auf die Gegenstände treffen. Hierdurch werden landeskundlich interessante Aspekte genannt, beispielsweise die Wertmarkten in Bezug auf den Supermarkt oder die Erwähnung von Lech Walesa auf Grundlage der Thematisierung der Teilung Berlins (vgl. Kapitel 7.4.2. und Kapitel 7.4.4.). Doch das Vorwissen der Teilnehmer ist begrenzt und teilweise oberflächlich; manchmal sogar falsch (vgl. <?page no="414"?> 414 Kapitel 7.4.3). Eine Auseinandersetzung mit dem dargestellten Thema, bei dem Ursachen, Folgen und andere Zusammenhänge angesprochen werden und die als nächste Stufe in der aufgestellten Kategorisierung betrachtet werden kann, fehlt in allen Gesprächen, die die Teilnehmenden an den besichtigenden Orten führen. Sie findet lediglich in einigen Gruppen beim vierten Treffen statt, indem sich die Lernenden über im Vorfeld recherchierte Themen austauschen. Dies wird in Gruppe 1 deutlich, in der Karla die Rolle der Gruppenführerin übernimmt und die Vertiefung des Gesprächs durch gezielte Nachfragen initiiert (vgl. Kapitel 6.4.1.4). Auch in den vergleichenden Chatauszügen der Gruppen um Tina, Sven und Palina (Datenauszug 75) sowie der Gruppe Tascha, Hui und Nastja (Datenauszug 76) in Kapitel 7.1.4, in denen die Thematisierung des Schulsystems und die Beantragung von Visa beschrieben wurde, wird deutlich, dass die Gruppen in dieser Phase intensiv miteinander reden. In diesen Gruppen wurde aber auch deutlich, dass ein kulturübergreifender Vergleich nur in den Gruppen gelingt, in denen ein Lernender durch gezielte Nachfragen und das Gegenüberstellen von Unterschieden diese Differenzen den anderen Gruppenmitgliedern bewusst macht: Indem Hui immer wieder nachfragt, erfährt sie, dass Polen kein Sowjetstaat war und damit anderen Bedingungen zur Visavergabe unterlag. Indem Karla in Gruppe 1 darüber hinaus unterschiedliche Wertvorstellungen der Gruppenmitglieder in Bezug auf Zensur gegenüberstellt, kommt es in dieser Gruppe zu einer Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen der jeweiligen Gesellschaften, was als Einstieg in interkulturelles Lernen gesehen werden kann. Vergleicht man die Kommunikation in den unterschiedlichen Umgebungen wird deutlich, dass in den Ausstellungen vor allem Faktenwissen ausgetauscht wurde, das entweder direkt aus der Ausstellung aufgegriffen und von den Gruppenmitgliedern an die Partner weitergegeben wurde, oder aber als bereits vorhandenes Wissen zum Thema aufgerufen wurde. Am Beispiel des Gespräches über Lech Walesa (Datenauszug 86) wurde deutlich, dass dieser Austausch von Faktenwissen von den Gruppenmitgliedern interessiert angenommen und durch Nachfragen vertieft wird. Ich vermute, dass diese Aufmerksamkeit in der Wertschätzung der Partner begründet ist: Da die Partner diese Information als relevant einschätzen, wird sie bereitwillig angenommen. Diese Form der Faktenvermittlung entspricht daher der personalisierten Landeskunde von Tamme (2001). In der simulierten Umgebung waren die Gespräche weniger faktenorientiert. Hier kam es vorrangig zu einer Beschreibung der Umgebung. Einzelne Umgebungen wirkten dabei besonders stark als Gesprächsauslöser: Verglichen mit den Wohnungen und dem Kiosk formulierten die Gruppen in der <?page no="415"?> 415 Kaufhalle wesentlich häufiger ihre Eindrücke und Assoziationen. Ich vermute, dass die leeren Regale der Kaufhalle als Erinnerungsort 180 fungierten (vergleiche zum Konzept der Erinnerungsorte Kapitel 3.3.2.3 sowie für seine Anwendung im DaF-Unterricht Kapitel 3.4): Die leeren Regale konnten in den Gruppenmitgliedern Vorwissen im Bezug auf das wirtschaftliche System der DDR aktivieren. Dieses Wissen wurde allerdings nicht immer explizit thematisiert. Nur, wenn die Teilnehmer sich intensiv mit der Umgebung auseinandersetzten und es ihnen gelang, Bezüge zu den jeweiligen Heimatländern der Gruppenmitglieder herzustellen, boten die simulierten Umgebungen durch den Impuls, sich mit lebensweltlichen Themen der unterschiedlichen Kulturen auseinanderzusetzten, einen Einstieg in interkulturelles Lernen. Das Gespräch in der vierten Woche bot Potenzial für beide Formen des Lernens. Es kam sowohl zu historischem Lernen, wenn die Gruppenmitglieder ihren Partnern ihre Rechercheergebnisse vortrugen, als auch zu interkulturellem Lernen. Das Beispiel aus Gruppe 1 zeigt, dass wenn ein Konzept (wie in diesem Beispiel das Konzept ‚Zensur’) von den Projektpartnern unterschiedlich definiert wird, diese Unterschiede zu einer Auseinandersetzung mit dem Konzept und zu Vergleichen der Länder führt, die dann auch Hintergründe verdeutlicht. In solchen Fällen kann es zu interkulturellem Lernen kommen, wenn eine Einordnung der unterschiedlichen Konzepte in die Geschichte des Landes gelingt und sich den Teilnehmer dadurch die Perspektive des anderen Landes eröffnet. Bezieht man diese Ergebnisse auf die landeskundliche Forschung, wie sie in Kapitel 3 dargestellt wurde, kann festgestellt werden, dass das Konzept Erinnerungsorte (vgl. Kapitel 3.3.2.3) vor allem in der simulierten Umgebung der DDR-Wohnsiedlung zum Tragen kam: In dieser Umgebung nutzten die Teilnehmer die Kaufhalle als Erinnerungsort, um daran anschließend Gespräche zur Wirtschaft in der DDR zu führen. Die Mauer, von der ich erwartete, dass sie als Erinnerungsort wirken würde, hatte keine derartige Auseinandersetzung zur Folge. Ich vermute, dass die Ausstellungstafeln, die an der Mauer in der Ausstellung ‚The Wall’ angebracht waren, die Wahrnehmung der Mauer als ‚Bauwerk’ behinderte und sie lediglich als Ausstellungsfläche gesehen wurde. Das Modell interkultureller Kompetenz nach Byram setzt sich aus fünf verschiedenen Bestandteilen zusammen (vgl. Kapitel 3.2.3.4, Abb. 2): • Wissen (knowledge): Kenntnisse über soziale Gruppen und ihren kulturellen Hintergrund sowie Wissen um Interaktionsprozesse, 180 Oder in den Worten von Belz (2007) als cultural rich point. <?page no="416"?> 416 • Einstellungen (attitudes): Einstellungen, die man anderen Menschen entgegenbringt • skills of interpreting and relating: Die Fertigkeit, fremdkulturelle Texte 181 zu interpretieren oder Störungen, die das Interpretieren behindern aufdecken • skills of discovery and interaction: Die Fertigkeit, fehlendes Wissen aufdecken sowie sich das benötigte Wissen aneignen, um fremdkulturelle Texte zu deuten • politische Erziehung (critical cultural awareness): Durch Wissen und Einstellung in der Lage sein, selbst als politischer Mensch aktiv zu werden In Bezug auf diese fünf Teilaspekte konnten im Rahmen der in diesem Kapitel dargestellten landeskundlichen Auseinandersetzungen in der virtuellen Welt folgende Aspekte befördert werden: Das Wissen wurde vor allem während des Besuchs der Mauerausstellung befördert, in der es um die faktische Vermittlung von Informationen ging. Auch die simulierte DDR-Umgebung sowie die Umgebung um das Brandenburger Tor konnten Wissen befördern. Da hier kein Kontextwissen geliefert wurde, war es notwendig, dieses Kontextwissen schon mitzubringen oder durch andere Ressourcen wie Partner oder die Formulierung von Fragen an mich vermittelt zu bekommen, um die Bedeutung einzelner Exponate zu verstehen. Im Hinblick auf die Interaktionskompetenz und das positive Einwirken auf die Einstellung der Lernenden war vor allem die kooperative Arbeit von multinationalen Gruppen gewinnbringend: Die Lernenden konnten hier unterschiedliche kulturelle Perspektiven kennenlernen und sich über diese austauschen. Diese Perspektiven reichten von sehr konkreten eigenen Lebenserfahrungen, die in der ersten Woche während des Kennenlernens ausgetauscht wurden, bis hin zu abstrakten Konzepten in der vierten Woche, beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Zensur in Gruppe 1 (Kapitel 6.4.1.4) Die Kompetenzen der Teilnehmer in Bezug auf die Fertigkeiten (skills of interpreting and relating und skills of discovery and interaction) waren unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Analyse der Daten zeigt: Dort, wo das nötige Vorwissen vorhanden war, gelang es den Gruppen, die fremdkulturellen Produkte zu entschlüsseln und einzuordnen. Die Teilnehmenden konnten in der 181 ‚Texte’ sind hier im weiteren Sinne zu verstehen als kulturelle Produkte, deren Bedeutung entschlüsselt werden muss. Damit entsprechen sie dem Textverständnis Assmanns: „In der Assmann’schen Terminologie sind Speichermedien des kollektiven Gedächtnisses ‚Texte‘“ (Erll 2005, 137). <?page no="417"?> 417 DDR-Umgebung einen Bezug zwischen den dargestellten Gebäuden und der politischen Situation herstellen oder die Bedeutung der Bilder der East Side Gallery wurde entschlüsselt, wenn die Geste des Bruderkusses bekannt war. War derartiges Wissen nicht vorhanden, gelang es einigen Gruppen, Mutmaßungen über den fremdkulturellen Kontext aufzustellen, indem sie bekannte Phänomene übertragen. So können Nastja und Tascha Erklärungen aus dem Wissen über ihre Heimatländer Polen und Kasachstan für die leeren Regale in der DDR Kaufhalle ableiten (vgl. Kapitel 8.4.4, Datenauszug 94). In anderen Gruppen, wo derartige Wissensquellen nicht zur Verfügung stehen, kann das Wissen der Partner oder eine Antwort von mir helfen, unbekannte kulturelle Produkte zu entschlüsseln. Dies ist aber nicht immer der Fall: wie in Kapitel 8.3 gezeigt wurde, können Fragen unbeantwortet bleiben oder falsche Rückschlüsse gezogen werden, wenn ein nicht zutreffendes kulturelles Konzept zur Interpretation herangezogen wird. Das Lernziel der politischen Erziehung, auf das in Byrams Konzept alle anderen Teilfertigkeiten abzielen, kann durch wenige Besuche in einer Lernumgebung nicht erreicht werden. Die Umgebung kann aber einen Beitrag zur politischen Erziehung dadurch leisten, dass sie die Wertegebundenheit der Perspektive der Lernenden bewusst macht und hierdurch ihre evaluative Orientierung befördert. Dies ist allerdings im vorliegenden Projekt nicht durch die Umgebung initiiert worden sondern erfolgte nur in einem Fall aufgrund des Gruppengespräches. Die Ausführungen machen deutlich, dass die Gruppen in diesem Projekt zum Teil historisches Wissen erworben haben und dass auch interkulturelles Lernen stattgefunden hat. Dieses blieb allerdings in der Anfangsphase stecken: Eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven wurde in einigen Gruppen erreicht, in anderen Gruppen fehlte diese Auseinandersetzung, die ich als 4. Stufe des Modells der gezeigten landeskundlichen Beschäftigung beschrieben habe. Viele Gruppen haben sich nur in einem ersten Schritt mit den landeskundlichen Inhalten auseinandergesetzt: Sie haben vor allem beschrieben, was sie sehen, einige Gruppen haben auch Vergleiche hergestellt. Das Hinterfragen von Unterschieden und die Aufdeckung der Ursachen erfolgten in den Gruppen allerdings nicht. Genau sie wären aber notwendig gewesen, um sich diese Unterschiede zu erklären. Zudem hätten die Teilnehmenden hierdurch die Ansichten der jeweils anderen Kulturen besser nachvollziehen können, was die Herausbildung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme - das Ziel des interkulturellen Lernens - befördert hätte. Die Ausführungen machen aber auch deutlich, dass das Potenzial für interkulturelles und historisches Lernen in virtuellen Welten durchaus vorhanden ist. Es muss nur den sehr spezifischen Anforderungen der Lernumgebung <?page no="418"?> 418 gerecht aufbereitet und durch spezifische Aufgabenstellungen angeleitet werden. Eine diesbezügliche Diskussion folgt im abschließenden Kapitel 9. <?page no="419"?> 419 9. Ergebnisse der Studie und Ausblick Ziel dieser Studie ist es, Aussagen zum Potenzial virtueller Welten für das landeskundliche Lernen zu treffen. Da bislang keine Untersuchungen landeskundlichen Lernens in virtuellen Welten vorliegen und ich einen ersten strukturierenden Einblick in die Möglichkeiten des Einsatzes virtueller Welten für den Fremdsprachenunterricht gewinnen will, war die Studie explorativ gestaltet; durch diese Offenheit sollten erste Eindrücke unabhängig von bestehenden Hypothesen gewonnen werden. Dennoch bin ich nicht gänzlich ohne Vorerwartungen an die Gestaltung der Studie herangegangen, die sich aus den in Kapitel 3 und 4 dargestellten theoretischen Grundlagen ergaben: In der Diskussion um Landeskunde ist es heute unbestritten, dass Lernende auch interkulturelle Kompetenz erwerben sollen. Diese soll die Lernenden befähigen, die Kulturgeprägtheit von Einstellungen anzuerkennen und die Perspektive anderer Kulturen zu übernehmen. Auch historische Themen tragen zur Herausbildung interkulturellen Kompetenz bei, indem sie die Entwicklung einer Kultur nachvollziehbar machen, wie in Kapitel 3.3.2 im Detail dargelegt wurde. Für diesen Einsatz historischer Themen zur Herausbildung interkultureller Kompetenz kann das Konzept der Erinnerungsorte genutzt werden. An Erinnerungsorten manifestiert sich die Kultur einer Gemeinschaft in Gegenständen. Die Auseinandersetzung mit diesen Gegenständen eröffnet Einblicke in die Geschichte und Werte der entsprechenden Gesellschaft. In dieser Studie sollte überprüft werden, ob auch Abbildungen von Erinnerungsorten in virtuellen Welten in dieser Weise wirken können. Virtuelle Welten sind Computerprogramme, in denen dreidimensional wirkende Umgebungen erstellt werden können. In diesen Welten können sich Nutzern mit Avataren, ihren virtuellen Repräsentanten, bewegen und haben so die Möglichkeit, mit anderen Nutzern zu interagieren (vgl. Kapitel 4.3.1). Die bekannteste virtuelle Welt ist Second Life. Sie bietet Nachbildungen bekannter Viertel von Großstädten auf der ganzen Welt und Ausstellungen, die unter anderem auch geschichtliche Themen behandeln. Einige dieser Orte empfand ich als vielversprechend, um als virtuelle Erinnerungsorte wirken können. Aus diesem Grund wurde Second Life als Umgebung zur Durchführung der vorliegenden Studie gewählt. Meine Vorerwartung war, dass Second Life mit diesen virtuellen Erinnerungsorten ein vielversprechendes Medium darstellt, um historisches und interkulturelles Lernen zu befördern, indem in Begegnungen von Deutschlernenden und Muttersprachlern Erinnerungsorte der deutschen Kultur angeschaut und zum Gesprächsanlass werden können. <?page no="420"?> 420 Durch die in den Aufgabenstellungen zu den einzelnen Treffen geforderten Vergleiche zwischen den Darstellungen und ihrem Wissen zur Situation in ihren Heimatländern, sollten die Teilnehmer Gemeinsamkeiten erkennen, aber auch Unterschiede aufzeigen und deren Ursachen diskutieren (vgl. Kapitel 4.3.3.2). Diese Studie ist, wie mehrfach dargestellt wurde, sehr offen angelegt Die Interaktion der Lernenden in der virtuellen Welt sollte in einer möglichst bereiten Perspektive untersucht werden. Als qualitative Untersuchung hat sie darüber hinaus keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Die hier dargestellten Ergebnisse lassen sich nicht direkt auf ähnliche Lernszenarien übertragen, sondern resultieren aus dem spezifischen Zusammenspiel aus diversen Faktoren wie beispielsweise Lerngruppe, Lernumgebung, Aufgabenstellung, Erhebungssituation etc. Dennoch liefern die Ergebnisse der Studie erste Hinweise auf besondere Erfordernisse von virtuellen Welten als Lernumgebung für Begegnungsprojekte. Diese Ergebnisse, die nachfolgend dargelegt werden, müssen in zukünftigen Untersuchungen überprüft werden. Zudem scheint es sinnvoll, zukünftig auf einzelne Faktoren zu fokussieren und diese detailliert zu untersuchen. Diese Studie, die einen breiten ersten Einblick in virtuelle Welten liefern sollte, konnte einen derart präzisen Blick auf einzelne Faktoren nicht liefern. Sie liefert aber eine Vielzahl von ersten Einschätzungen und Anregungen, die im Folgenden zusammengefasst werden sollen, indem auf die Forschungsfragen aus Kapitel 2 Antworten geliefert werden. 9.1. Ergebnisse zur Zusammenarbeit der Gruppen Wie arbeiten Gruppen in virtuellen Welten zusammen? Die Studie widmete sich zunächst der grundlegenden Frage, wie Gruppen in virtuellen Welten zusammenarbeiten. Dieses Thema wurde als zentral für die Untersuchung erachtet, weil - wie in Kapitel 6 beschrieben wurde - in Studien zum kooperativen Arbeiten im Fremdsprachenunterricht festgestellt wurde, dass nur in gut funktionierenden Gruppen die Aufgabenstellung erfolgreich bearbeitet und ein gemeinsames Produkt hergestellt werden kann. Ich habe die Treffen aller Gruppen, die an der Studie teilnahmen, in Second Life betrachtet. Dabei wurde zunächst deutlich, dass die virtuelle Welt sich <?page no="421"?> 421 förderlich auf Begegnungsprojekte auswirkt, die über digitale Medien realisiert werden, da in virtuellen Welten eine bildliche Darstellung der Partner erfolgt: Die Lernenden können sich auf den Avatar des Partners beziehen und haben so einen Bezugspunkt ihres Partners, auch wenn dieser sich an einem anderen Ort befindet. Die starke Bezugnahme auf den Avatar wurde in der Studie daran deutlich, dass Gruppen im Gespräch ihre Avatare stets nah beieinander positioniert haben und auch die Nähe des Avatars des Partners gesucht haben, wenn sie diesen angesprochen haben. Es hat sich aber auch gezeigt, dass die Interaktionen in und mit der virtuellen Welt hohe Anforderungen an die Gruppen stellt, was bei ungeübten Nutzern zu einer starken Konzentration auf die technischen Aspekte der Zusammenarbeit führt. Wird beispielsweise viel Zeit benötigt, um den Voice-Chat einzustellen, geht dies zu Lasten der Zeit, die die Gruppen für die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Aufgabenstellung haben. Lassen sich in verschiedenen Gruppen unterschiedliche Rollenverteilungen feststellen? Wenn ja: Welchen Einfluss nimmt die Rollenverteilung innerhalb der Gruppe auf die Aufgabenbearbeitung? Die Analyse der Begegnungen von drei unterschiedlichen Gruppen über die Dauer des Projektes zeigte, dass unterschiedliche Rollenverteilungen auftraten. Während in einer Gruppe alle Teilnehmenden gleichberechtigt agierten, gab es andere Gruppen, in denen ein Teilnehmender die Rolle des Moderators der Gruppe übernahm. Entweder handelte es sich hierbei stets um dieselbe Person oder aber es gab Gruppen, in denen Führungsaufgaben je nach Woche oder Aufgabenstellung wechselten. Diesbezüglich konnten Anlehnung an das Modell der situativen Führungstheorie von Hersey und Blanchard (1982), die eine soziale Führung und eine Aufgabenführung unterscheiden, drei Formen von Führung herausgearbeitet werden, die in der Zusammenarbeit virtueller Lerngruppen relevant sind: Die soziale Führung, die Aufgabenführung und zusätzlich eine inhaltliche Führung, die die Perspektiven und Aussagen der einzelnen Gruppenmitglieder zusammenfasst und einander gegenüberstellt, so dass die Gruppe dazu angeregt wird aus den Beiträgen der einzelnen Gruppenmitglieder ein gemeinsames Produkt zu machen. Dabei wurde auch deutlich, dass Lerngruppen - anders als in wirtschaftspsychologischen Modellen für Gruppen aus Kontexten der Erwerbsarbeit beschrieben - gleichberechtigt miteinander umgehen, so dass ich auch in Gruppen, in denen einzelne Gruppenmitglieder diese Führungsaufgaben übernommen haben, von Moderatoren statt von Gruppenführern spreche. <?page no="422"?> 422 Es konnte gezeigt werden, dass sich Gruppen, in denen ein Gruppenmitglied die gemeinsame Arbeit moderierte, durch das gemeinsame Gespräch inhaltlich intensiver mit den Darstellungen der virtuellen Welt auseinandersetzten und dass sie zu einer intensiveren Bearbeitung der Aufgabenstellung gelangten, als Gruppen, in denen niemand die Führung der gemeinsamen Arbeit übernahm. In der Auseinandersetzung der Gruppen mit landeskundlichen Themen zeigte sich auch, dass ein Gruppenmoderator voneinander abweichende Einschätzungen der einzelnen Gruppenmitglieder zusammenfassend gegenüberstellen kann. Gelingt dies, werden unterschiedliche Werte und Perspektiven der jeweiligen Kulturen verdeutlicht. Eine Auseinandersetzung mit diesen unterschiedlichen Perspektiven leistet einen Beitrag zum interkulturellen Lernen der Teilnehmenden. 9.2. Ergebnisse zur Verwendung des Kommunikationskanals Nutzen die Gruppen präferiert den Text-Chat, den Voice-Chat oder eine Mischform beider Kanäle zur Aushandlung ihrer Aufgaben? Die Gruppen hatten die Möglichkeit sich mittels Voice-Chat und Text-Chat miteinander zu unterhalten. Alle Gruppen zeigten eine Präferenz zur Nutzung des Voice-Chats, welche aber aufgrund der technischen Infrastruktur erschwert wurde: Häufig war die Internetverbindung der polnischen Lernenden zu langsam, um Beiträge in einer für das Verstehen ausreichenden Qualität zu übermitteln. Auch scheiterte das verbale Gespräch am nicht aktivierten Voice-Chat in der Simulation der DDR Wohnsiedlung, an fehlenden Headsets oder Problemen in der Einstellung vorhandener Headsets. Dies führte zu einer häufigen Verwendung des Text-Chats. Eine Mischung aus Voice- und Text-Chat wurde von den Gruppen so gut wie nie genutzt, lediglich in einer Gruppe wurde eine Sitzung mit Voice- und Text-Chat gestaltet. <?page no="423"?> 423 Unterscheiden sich die Aufgabenbearbeitungen von Gruppen, die den Text-Chat verwenden von denen der Gruppen, die den Voice-Chat nutzen? Die Nutzung des Text-Chats hatte zur Folge, dass Teilnehmer durch das Tippen hohe Produktionskosten (im Sinne von Clark und Brennan (1991), vgl. Kapitel 7.1.2.2.) bei der Erstellung von Beiträgen hatten, insbesondere dann, wenn sie in einer Fremdsprache formulieren mussten oder wenn muttersprachliche Teilnehmer auf eine korrekte Rechtschreibung achteten, um den Fremdsprachenlernern ein sprachliches Vorbild zu sein. Dies führte dazu, dass die Beiträge im Text-Chat eher kurz gehalten waren, was wiederum zur Folge hatte, dass in der zur Verfügung stehenden Zeit weniger Inhalt ausgetauscht werden konnte. Gelang die Verwendung des Voice-Chats, waren die Gespräche komplexer und enthielten mehr Informationen als vergleichbare Gespräche im Text-Chat. Im Voice-Chat kam es darüber hinaus im Unterschied zur Verwendung des Text-Chats weniger häufig zur Verflechtung von Kommunikationssträngen, zudem erlaubte es der Voice-Chat, zusammenhängende Äußerungen vollständig zu tätigen und sie nicht, wie im Text-Chat üblich, auf mehrere Beiträge aufzuteilen. Die aus der Verwendung des Voice- Chats resultierenden eindeutigeren und inhaltlich umfassenderen Beiträge (verglichen mit dem Text-Chat) konnten den Anforderungen, dass die Lernenden kulturelle Deutungsmuster thematisieren, die durch die aufgesuchten Orte im Sinne von Erinnerungsorten vergegenständlicht werden, eher gerecht werden. Hieraus kann die Erkenntnis gewonnen werden, dass sich die Verwendung des Voice-Chats positiv auf die Auseinandersetzung mit Erinnerungsorten auswirkt. Da der Voice-Chat aber auch in der Bedienung hohe Anforderungen an die Nutzer stellt und sich im Projekt gezeigt wurde, dass mehrmals Probleme bei der Inbetriebnahme der Headsets und den Einstellungen des Voice-Chats auftraten, sollten Lehrende die technische Infrastruktur der Teilnehmer genau kennen, zudem muss bei Begegnungsprojekten mit Teilnehmern in unterschiedlichen Ländern auf beiden Seiten eine technisch kompetente Ansprechperson zur Verfügung stehen, die die Lernenden bei Problemen mit der medialen Infrastruktur unterstützt. <?page no="424"?> 424 9.3. Ergebnisse hinsichtlich der Aufgabenstellung Erfüllen die jeweiligen Gruppen die in der Aufgabenstellung intendierten Erwartungen? Die Aufgaben werden von den Teilnehmern häufig nicht in der von mir intendierten Form durchgeführt: Viele Lernergruppen verkürzen die Aufgabenstellungen dahingehend, dass nur Orte besucht werden. Eine gemeinsame Thematisierung der vorgefundenen Materialien entsprechend der Aufgabenstellung findet nicht oder nur ansatzweise statt. Auch bei Aufgabenstellungen, in denen kein neues Material rezipiert werden soll und die virtuelle Welt lediglich als Kommunikationsplattform dient, werden Gespräche nicht immer bezogen auf die in der Aufgabenstellung geforderten Themen geführt. In Fällen, in denen die Gespräche der Gruppen auf das kooperative Erstellen eines Produktes ausgerichtet sind, konnte beobachtet werden, dass vor allem organisatorische Absprachen getroffen werden. Müssen für Aufgabenstellungen in virtuellen Welten besondere Aspekte berücksichtigt werden? Die in Bezug auf die letzte Frage ausgeführten Ergebnisse machen deutlich, dass virtuelle Welten hohe Anforderungen an die Nutzer stellen, wodurch die Lernenden eine kleinschrittige Anleitung in der Aufgabenbearbeitung benötigen. Aufgabenstellungen in virtuellen Welten müssen demnach besonders eindeutig formuliert werden, komplexe Aufgaben sollten in mehrere Teilaufgaben untergliedert werden. Bei mehrteiligen Aufgaben sollte zudem möglichst immer nur der Teil, der gerade von den Lernenden erarbeitet werden soll, als Aufgabe gestellt werden. Die hochgradig komplexe Umgebung der virtuellen Welt, in der die Lernenden viele Handlungen gleichzeitig vollziehen müssen, erfordert also eine sehr kleinteilige und sehr angeleitete Form der Aufgabendarbietung. Es hat sich zudem gezeigt, dass die Wiederholung der Aufgabenstellung in der virtuellen Welt zu Beginn der Treffen immer wieder von den Lernenden gewünscht wurde und dass Teilnehmer die im Vorfeld im Blog publizierten Aufgabenstellungen nicht mehr vor Augen hatten. Damit kommt der Integration der Aufgabe in die virtuelle Welt eine hohe Bedeutung zu. <?page no="425"?> 425 9.4. Ergebnisse zur Rolle der virtuellen Welt Welche Rolle spielen die Avatare, die figürlichen Repräsentationen der Nutzer in der virtuellen Welt, im Austausch der Gruppen? Die Teilnehmer identifizieren sich und ihre Partner in hohem Maße mit den Avataren. Dies zeigte sich in der vorliegenden Studie unter anderem daran, dass der Gestaltung des Äußeren des Avatars Vorrang vor der Aufgabenbearbeitung oder der Kommunikation mit den Partnern eingeräumt wurde, wenn der Avatar nicht den Anforderungen seines Besitzers entsprechend dargestellt ist. In diesem Fall kann die Identifikation mit dem Avatar einen Nachteil darstellen. Ein Vorteil, der aus der Identifikation mit dem Avatar resultiert, ist die intensive Wahrnehmung der virtuellen Welt, die ein ‚Erleben’ der Umgebung zur Folge hat. Durch dieses Erleben können sich die Lernenden in simulierten virtuellen Lebenswelten wie der nachgebauten Wohnsiedlung der DDR in die Perspektive eines Bewohners hinein-versetzen. Die Bewusstmachung dieser Perspektive kann für das interkulturelle Lernen genutzt werden. Für die Gruppenarbeit dienen die Avatare in hohem Maße als Bezugspunkt der Mitglieder. Beim ersten Kennenlernen fundieren sie als Eisbrecher, indem die Thematisierung des Aussehens des Avatars als häufiger Einstieg in das Kennenlernen der Partner gewählt wird. Während der gemeinsamen Arbeit sind besonders die Gruppen erfolgreich, deren Avatare nah beieinanderbleiben. Die Nähe der Partner beförderte das gemeinsame Gespräch über die Umgebung und führt damit zu einer eingehenderen Bearbeitung der Aufgabenstellung. Wie wirkt die Nutzung von virtuellen Welten als Materiallieferant und Begegnungsort auf die Lerner? In Bezug auf Begegnungssituationen in virtuellen Welten kann grundsätzlich festgehalten werden, dass die Konzepte von Belz (2002), Müller-Hartmann (2000) und Tamme (2001), die für asynchrone Begegnungsprojekte mit digitalen Medien erstellt wurden, auch auf synchrone Zusammenarbeit multinationaler Gruppen in virtuellen Welten übertragbar sind: Es wurde deutlich, dass die Vertrautheit der Partner für ihre Zusammenarbeit eine bedeutsame Rolle spielt. Es hat sich gezeigt, dass rich points, die im Sinne von Belz (2002) die kulturellen Perspektiven der Teilnehmenden bewusst machen und die in diesem Projekt in den virtuellen Erinnerungsorten zu finden waren, den Aus- <?page no="426"?> 426 tausch über kulturelle Themen befördert haben. Es wird darüber deutlich, dass Tammes (2001) Konzept der personalisierten Landeskunde auch auf die Behandlung von Faktenwissen in synchroneren Begegnungen Anendung findet: Die Lernenden haben den Ausführungen ihrer Partner Bedeutung beigemessen, weil die Partner narrativ historische Fakten vermittelten und die Zuhörer aufgrund der Herausstellung des Themas durch Partner die Wichtigkeit des Themas anerkannten. Das von Rösler (2000) postulierte Potenzial von virtuellen Welten als Lernort für Fremdsprachenlerner, der Kommunikation in einer simulierten Umgebung ermöglicht, ist vorhanden, muss aber eingeschränkt werden: Die gleichzeitige Nutzung der virtuellen Welt als Begegnungsort und Materiallieferant erschwert teilweise die Zusammenarbeit der Gruppen. Die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen dauert bei informationsreichen virtuellen Umgebungen wie der Mauerausstellung sehr lange, wobei die benötigte Zeit sich aufgrund unterschiedlicher technischer Bedingungen und sprachlicher Kompetenzen der Partner erheblich unterscheidet. Dies erschwert den gemeinsamen Austausch der Partner über das Material und hat zur Folge, dass die gleichzeitige Rezeption von Material und Kommunikation mit Anderen nur selten gelingt. Um eine solche gemeinsame Auseinandersetzung mit der Umgebung zu ermöglichen, sollten Informationen möglichst nicht anhand von langen Texten übermittelt werden. Hinsichtlich der unterschiedlichen Inszenierungen der Umgebungen lässt sich sagen, dass die Teilnehmer sich mit beiden Formen der Umgebung - Abbildungen wie auch Simulationen - gleichberechtigt auseinandersetzten. Allerdings kam es in den virtuellen Ausstellungen seltener zu Gesprächen zwischen den Partnern, was nicht zuletzt der relativ langen Zeit geschuldet war, die benötigt wurde, um Ausstellungstafeln zu lesen. Die Auseinandersetzung mit virtuellen Ausstellungsstücken wird befördert, wenn diese die Teilnehmenden emotional ansprechen. So formulierten die Teilnehmenden häufig ihre Betroffenheit, beschrieben ihre Empfindungen oder stellten Nachfragen zu Fotografien, die sie nicht einordnen konnten. Die simulierten Orte, die die Gruppen aufsuchten, animierten die Teilnehmenden stärker dazu, sich auszutauschen. Dabei blieben die Gespräche aber häufig beschreibend und auf die eigene Erfahrungswelt beschränkt. Einer intensiven Auseinandersetzung standen hier mehrere Faktoren entgegen: Zum einen hatten die Nutzer den Antrieb, schnellstmöglich den Ort zu erkunden, statt sich im Detail mit einzelnen Gegenständen auseinander zu setzen. Zum anderen resultierte aus geteilten Einschätzungen keine Explikation der hinter de Einschätzugen stehenden Deutungsmuster. <?page no="427"?> 427 9.5. Ergebnisse zum landeskundlichen Lernen Entnehmen die Lernenden die landeskundlichen Inhalte aus dem dargebotenen Material? Die Lernenden scheinen unterschiedliche Formen von Inhalten aufgegriffen zu haben. Zum einen hat sich gezeigt, dass in Ausstellungen vorrangig Faktenwissen erworben wird und dass die Auseinandersetzung mit dem Material eher individuell stattfindet. Gemeinsam mit den Partnern wurden in der Ausstellung gelesene Informationen thematisiert, wenn diese die Lernenden überrascht haben, sie sich rückversichern wollten oder Zusammenhänge für sie unklar waren. In der virtuellen Umgebung der DDR-Wohnsiedlung nehmen die Lernenden die Darstellungen auf und ordnen die Informationen, die sie der Umgebung entnehmen, in ihr Vorwissen ein. Hier fand eher eine Auseinandersetzung mit schon vorhandenem Wissen statt als der Erwerb neuer Informationen. Daraus lässt sich schließen, dass für den Erwerb neuer Informationen Wissen explizit vermittelt werden muss. Abbildungen und Erinnerungsorte können keine neuen Informationen vermitteln, sondern müssen auf Basis bekannter Informationen entschlüsselt werden. Findet ein Dialog zwischen dem Vorwissen der Lernenden und den dargebotenen landeskundlichen Informationen statt? Der Dialog zwischen Vorwissen und Informationen aus der Umgebung findet vorrangig in der simulierten Umgebung der DDR statt, indem die abgebildeten Orte und Darstellungen auf Basis des vorhandenen Wissens entschlüsselt und in das Vorwissen eingeordnet werden. Allerdings wird dieser Dialog nicht immer im Gespräch mit den Partnern deutlich formuliert, vielmehr wird aus Andeutungen der Partner schnell auf gleiches Vorwissen geschlossen, welches dann nicht mehr ausgeführt wird. Aufgrund des fehlenden Gesprächs mit den Partnern wird deren Wissen nicht als Informationsquelle genutzt. <?page no="428"?> 428 Findet historisches Lernen statt? Es konnte gezeigt werden, dass simulierte Umgebungen als Erinnerungsorte fungieren können, die mithilfe von historischem Wissen gedeutet werden müssen. Virtuelle Welten können damit vorhandenes historisches Wissen aktivieren. In den simulierten Umgebungen können die Lernenden, indem sie Avatare durch die Umgebung steuern, einen Eindruck von der Welt gewinnen, der diese Umgebung nachempfunden ist. Dies gelingt durch den Effekt der Immersion, der die Nutzer in die virtuelle Welt hineinversetzt, so dass diese das rezipierte Material unmittelbar erleben, statt es nur zu kongnitiv zu rezipieren. Neue geschichtliche Informationen werden in virtuellen Welten von Lernenden vor allem aus textuellen Materialien gewonnen, da hier Zusammenhänge aufgezeigt werden und eindeutige Fakten benannt werden. Die Rezeption textueller Materialien in virtuellen Welten benötigt aber erheblich mehr Zeit als ihre Rezeption in herkömmlichen Medien, die keine Dreidimensionaliät suggerieren, da sich dreidimensionale Tafeln, auf denen sich der Text befindet, relativ langsam aufbauen. Zudem kann der Lerner, wenn er nicht direkt vor der Tafel steht, eine ungünstige Perspektive auf den Text erhalten, was das Lesen erschwert. Die Abbildung zweidimensionaler Texte in einer dreidimensionalen Umgebung ist unnötig, hier sind Notecards als eingeblendete Textfenster leichter zu lesen. Notecards sind aber kein Teil der virtuellen Umgebung und Behindern das Erleben der Umgebung im Sinne der Immersion. Als Konsequenz wären Experten als Informationsvermittler wünschenswert, die mit einem Avatar in der virtuellen Umgebung angetroffen werden und mit denen die Lernenden agieren können. Trotz der dargestellten Einschränkungen hinsichtlich der textlichen Darbietung von Informationen kann festgehalten werden, dass im vorliegenden Projekt historisches Lernen in Grundzügen stattgefunden hat. Die Teilnehmer haben einzelne für sie bis dato unbekannte Fakten zur Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands und deren Übertragung auf die Heimatländer der Partner/ innen erfahren und wurden für verschiedene Aspekte wie ‚Freiheit‘ und ‚das wirtschaftliche System‘ sensibilisiert. Allerdings erfolgte die Informationsaufnahme ohne Gegenwartsbezug sowie (insbesondere in der Mauerausstellung) individuell; ein Austausch mit den Partnern fand selten statt, Wenn dieser Austausch erfolgte, trat er tendenziell nach der Besichtigung der Ausstellung auf und folgte Tammes Konzept der personalisierten Landeskunde. <?page no="429"?> 429 Findet interkulturelles Lernen statt? Mit Hilfe des von mir erstellten Stufenmodells der Auseinandersetzung der Gruppen mit der virtuellen Welt (vgl. Kapitel 8.6) wurde gezeigt, dass virtuelle Orte beschrieben, aber nicht die kulturellen Deutungsmuster, die hinter den dargestellten Gegenständen liegen, herausgestellt wurden. Eine Ausnahme bildet Gruppe 1, in der durch Karlas moderierende Rolle unterschiedliche Positionen in der Auffassung der Gruppenmitglieder deutlich werden. Die vorrangige Beschäftigung mit der Umgebung auf relativ niedrigen Stufen des Modells lässt mich zu dem Ergebnis kommen, dass in dieser Studie interkulturelles Lernen nur in Grundzügen stattgefunden hat. Eine Einordnung der analysierten Ergebnisse in das Konzept der kulturellen Deutungsmuster von Altmayer (2004) zeigt Folgendes: Um interkulturelles Lernen zu initiieren, ist es notwendig, dass die betrachtete Umgebung von den Teilnehmern mit eigenen Erfahrungen und Orten aus der eigenen Kultur verglichen wird. Dieser Vergleich blieb aber in den beobachteten Gruppen in den meisten Fällen auf konkrete Gegenstände oder Orte bezogen. Die kulturellen Deutungsmuster, die nach Altmayer (2004) hinter den einzelnen Gegenständen liegen, und die für interkulturelles Lernen notwendige Thematisierung dieser Deutungsmuster, wurden nur sehr selten erläutert und kulturübergreifend verglichen. Dies lässt sich möglicherweise zurückführen auf zustimmende Äußerungen, die die jeweiligen Gruppenmitglieder zu bewertenden Aussagen von Lernenden machen. Durch diese Zustimmung konnten die Partner ein gemeinsam geteiltes Deutungsmuster annehmen, welches dann nicht mehr explizit verbalisiert wurde. Während der Treffen der vierten Woche konnte gezeigt werden, dass dieser gemeinsame, kulturvergleichende Austausch über ein Thema, verglichen mit den vorangegangenen Treffen, am häufigsten auftrat. Die Aufgabenstellung für Woche 4 hatte damit das größte Potenzial, interkulturelles Lernen zu befördern. Um interkulturelles Lernen zu anzuregen, müssen allerdings Deutungsmuster der Partner einander widersprechen, zudem muss dieser Widerspruch durch ein Gruppenmitglied aufgedeckt und angesprochen werden. Für die Konzeption zukünftiger Aufgabenstellungen lässt sich hieraus ableiten, dass diese Gegenüberstellung der Positionen noch expliziter gemacht werden sollte. Interkulturelles Lernen fand mit Bezug auf das Modell Byrams (1997) im Projekt nur grundlegend statt: Die Gruppen konnten nur in den didaktisch angeleiteten Orten Faktenwissen erwerben. In einigen Gruppen war Vorwissen vorhanden. Wenn die Lerner die von Byram beschriebenen skills of interpreting and relating in ausreichendem Maße besaßen, konnten das vorhande- <?page no="430"?> 430 ne Wissen auf die Umgebung bezogen werden und die Lerner konnten die Bedeutung der Darstellungen entschlüsseln. In einigen Gruppen gelang es, fehlende Informationen zu erkennen und durch den Transfer des Wissens aus ähnlichen Situationen die notwendigen Hinweise zur Sinnentnahme der Orte zu entdecken. Fehlten die skills of discovery and interaction, kam es zu Fehlannahmen und unbeantworteten Fragen bei virtuellen Exponaten, die sich die Lerner nicht erschließen konnten. Wenn sich die Lernenden durch die Auseinandersetzung mit der virtuellen Welt der Werte bewusst wurden, mit denen sie die Umgebung wahrnehmen, konnte die politische Erziehung der Lernenden durch historisches und interkulturelles Lernen in virtuelle Welten befördert werden. Alle Forschungsfragen zusammenfassend kann festgehalten werden, dass virtuelle Welten aufgrund ihrer Doppelfunktion als Kommunikationskanal und Materiallieferant besondere Anforderungen an Begegnungsprojekte stellen: Es wurde deutlich, dass Teilnehmer, wenn sie neben dem Gespräch mit den Gruppenpartnern auch Inhalte rezipieren müssen, hierfür relativ viel Zeit benötigen. Da die individuell benötigte Zeit zur Informationsaufnahme zwischen den Partnern darüber hinaus aufgrund technischer und sprachlicher Voraussetzungen sehr unterschiedlich ausfallen kann, wirkt sich dies verzögernd auf die Materialrezeption und folglich behindernd auf den gemeinsamen Austausch aus: Da Teilnehmende ihre Partner nicht in der Rezeption der Materialien unterbrechen wollen, kommt kein Austausch innerhalb der Lernergruppen zu Stande, wenn die Gruppenmitglieder einander nicht explizit mitteilen, dass sie für ein Gespräch bereit sind. Zukünftige Begegnungsprojekte in virtuellen Welten müssen dies berücksichtigen. Es scheint ratsam, entweder Zeitvorgaben für die Phasen der Betrachtung von Material und die anschließenden Phasen des Gesprächs zu machen und die Phase des Austauschs einzuleiten, oder aber die Lernenden explizit dazu anzuleiten, ihre Gesprächsbereitschaft zu signalisieren und mit den Partnern zu sprechen, wenn auch diese das Material rezipiert haben. Damit kann als Ergebnis festgehalten werden, dass Langes (2008) in Kapitel 4.4.3. diskutierte Einschätzung, nach der virtuelle Welten weniger gut für das Lernen von Fakten geeignet seien als für den Austausch untereinander, von mir so nicht geteilt werden kann: Der Erwerb von Fakten ist in virtuellen Welten aufgrund der bildlichen Darstellung von Texten an Ausstellungstafeln sehr aufwendig, gelingt aber. Demgegenüber gelingt die Wissenskonstruktion in einer Gruppe nur, wenn diese moderiert wird, wenn die Teilnehmer die Technik der Umgebung beherrschen und die Aufgabenstellung sie nicht überfordert. <?page no="431"?> 431 Es wurde darüber hinaus deutlich, dass bei fehlendem Deutungswissen virtuelle Exponate falsch eingeordnet werden können, was Fehlannahmen zur Folge hat. Um diese Probleme zu umgehen und die Potenziale der virtuelle Welt maximal auszunutzen, scheint es sinnvoll, den Informationsgehalt von Umgebungen, in denen Nutzer sich selbst mit ihren Avataren bewegen und die Geschichte erleben können, zu erhöhen. Aufgrund der kommunikationsbehindernden und aufwendigen Rezeption von Texttafeln sollten Avatare als Experten fungieren. Die Nutzer könnten durch zur Umgebung gehörende Avatare im Gespräch Informationen zur jeweiligen Umgebung erfahren. Diese Avatare könnten programmiert sein, so dass diese automatisch Äußerungen von sich geben, wenn andere Avatare in der Nähe sind. Dann wäre der Avatar computergelenkt, eine Betreuung durch eine reale Person wäre nicht notwendig. Die Möglichkeiten, mit einem solchen Avatar weiterführende Gespräche zu führen, wären allerdings begrenzt, auch wenn natürlichsprachige Systeme (vgl. Carstensen 2012). sich enorm weiter entwickelt haben. Eine andere Alternative wäre die Betreuung der virtuellen Lernumgebung durch fachlich kompetente Mitarbeiter, die mit Avataren in der virtuellen Welt vertreten wären. Diese hätten alle notwendigen Informationen und könnten sie in einem individuellen Gespräch anbringen oder gar in einer Form von szenischem Spiel Rollen innerhalb einer virtuellen Szene einnehmen. Didaktisch wäre diese Alternative mit Sicherheit wünschenswerter, da so individuell auf die Lernenden eingegangen werden kann. Dass die Strategie der Informationsvermittlung in virtuellen Welten durch das Gespräch mit anderen auch dem intuitiven Bedürfnis der Nutzer entspricht, zeigt das Verhalten der Teilnehmer, die sich immer wieder mit inhaltlichen Fragen an mich gewendet haben, obwohl ihnen bekannt war, dass ich hierfür nicht zur Verfügung stand sondern lediglich für die technische Unterstützung anwesend war (vgl. Kapitel 8.5). Ein Angebot mit fachkundigen Führern, die durch Avartare fungieren, existiert noch nicht, vermutlich nicht zuletzt aufgrund der Kosten für betreuendes Personal. Zukünftige Forschung müsste überprüfen, inwieweit durch derartige Führer ein Mehrwert zu den hier dargestellten Formen der virtuellen Umgebungen erzielt werden kann. <?page no="432"?> 432 Literaturverzeichnis ABCD-Thesen (1990): ABCD-Thesen zur Rolle der Landeskunde im Deutschunterricht. Entwickelt von der Fachgruppe Deutsch als Fremdsprache des Fachverbandes Moderne Fremdsprachen und des Goethe Instituts. 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Die Kaufhalle in der DDR-Umgebung von außen (links) und von innen (rechts), mit Gruppe 3 .............................................................................144 Abb. 9: Darstellung der Ausstellung 'The Wall' mit Informationstexten am Mauerstreifen .........................................................................................145 Abb. 10: Am virtuellen Brandenburger Tor betrachtet eine Gruppe den Tageschaubeitrag zum Fall der Berliner Mauer. .....................................146 Abb. 11: Aufgabenstellung zum Verfassen der Vorstellungs-E-Mails ................154 Abb. 12: Aufgabenstellung zum Verfassen der Lerntagebücher........................158 Abb. 13: Transkriptionszeichen für TiQ. (Aus: Bohnsack 2003, 235). ................176 Abb. 14: Darstellung der angewendeten Transkriptionskonventionen .............179 Abb. 15: Übersicht des Projektablaufs ...............................................................194 Abb. 16 : Die Avatare von Neo (links) und Michael (rechts) .............................264 Abb. 17: Hierarchie der Medienreichhaltigkeit nach Daft, Lengel und Trevino (1987, 358) ..............................................................................................326 Abb. 18: Hierarchie der Komplexität digitaler Medien. (aus: Newberry 2001, 907). ........................................................................................................327 Abb. 19: Der Aufgabenkreis von McGrath nach Tschann (2000, 139; aus: Paechter 2003, 32). .................................................................................328 <?page no="462"?> 462 Abb. 20: Gruppenleistungen in unterschiedlichen Kommunikationsmedien. Die Prozentangaben geben wieder, wie viele Gruppen die Fragestellung erfolgreich bearbeitet haben. (Paechter 2003, 88).................................331 Abb. 21: Dauer der Aufgabenbearbeitung in unterschiedlcihen synchronen Kommunikationsmedien (aus: Paechter 2003, 91). ................................332 Abb. 22: Verwendung der Kommunikationskanäle in allen Treffen ohne Woche 3 .........................................................................................334 Abb. 23: Gesamtübersicht der Verteilung der Kommunikationskanäle.............335 Abb. 24: Vergleich der in Text-Chat und Voice-Chat produzierten Äußerungen 338 Abb. 25: Durchschnittliche Länge der Beiträge in Text- und Voice-Chat ...........338 Abb. 26: Wortlaut der Aufgabenstellung des ersten Treffens ...........................353 Abb. 27: Wortlaut der Aufgabenstellung der zweiten Woche ...........................356 Abb. 28: Wortlaut der Aufgabe des dritten Treffens. ........................................358 Abb. 29: Wortlaut der Aufgabenstellung im Blog zur vierten Woche.................361 Abb. 30: Die Avatare von Carina (links) und Marius (rechts) im Gespräch mit ihren Partnern. ........................................................................................373 Abb. 31: Darstellung einer Informationstafel aus der Perspektive eines Lernenden ...............................................................................................381 Abb. 32: Die Gruppe von Sven, Tina und Palina mit meinem Avatar vor der virtuellen East Side Galerie .....................................................................397 <?page no="463"?> 463 Verzeichnis der Datenauszüge Datenauszug 1: Maschas Freude am Projekt und ihren Partnerinnen befördert ein positives Gruppenklima 186 Datenauszug 2: Betonung der guten Zusammenarbeit der Gruppe trotz des unattraktiven Themas 188 Datenauszug 3: Gegenseitige Wertschätzung am Ende des Projektes 188 Datenauszug 4: Karla, Rina und Greta reden über Gretas Hobby Nagelmodellage 197 Datenauszug 5: Rina gibt einen neuen Gesprächsimpuls 198 Datenauszug 6: Rina möchte ein bisschen länger schlafen 198 Datenauszug 7: Karla organisiert das R