Mündliche Kompetenz und Bewusstsein beim unterrichtlichen Fremdsprachenlernen
1210
2014
978-3-8233-7895-2
978-3-8233-6895-3
Gunter Narr Verlag
Sabine Hoffmann
Das Buch befasst sich mit dem Zusammenspiel
von kognitiven, emotionalen und motivationalen
Faktoren beim Aufbau von mündlicher Kompetenz
in Deutsch als Tertiärsprache bei erwachsenen
Italienern. Es stützt sich dabei auf ein interdisziplinäres
Vorgehen, das theoretisch erörtert und in
seiner Methodenwahl ausführlich dargelegt wird,
insbesondere die Videografie sowie intro-/retrospektive
Verfahren. Die Ergebnisse der Studie
veranschaulichen die Lernprozesse einmal
klassenübergreifend, zum anderen erfolgt eine
detaillierte Analyse der einzelnen Lernenden.
Das Literaturverzeichnis liefert Lehrenden,
Studierenden und Forschern eine erschöpfende
bibliographische Quelle zu den behandelten
Themen.
<?page no="0"?> Sabine Hoffmann Mündliche Kompetenz und Bewusstsein beim unterrichtlichen Fremdsprachenlernen Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik <?page no="1"?> Mündliche Kompetenz und Bewusstsein beim unterrichtlichen Fremdsprachenlernen <?page no="2"?> GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho <?page no="3"?> Sabine Hoffmann Mündliche Kompetenz und Bewusstsein beim unterrichtlichen Fremdsprachenlernen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Dipartimento di Lingue e Scienze dell´Educazione dell´Università della Calabria. © 2014 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-6895-3 <?page no="5"?> Meinen Töchtern, Arianna und Viviana, und ihrem Vater, Michele Vorwort Die vorliegende Veröffentlichung entspricht sinngemäβ, aber im theoretischen Teil gekürzt meiner Habilitationsschrift, wie sie im Frühjahr 2012 an der Philipps-Universität Marburg eingereicht wurde. Eine solche Arbeit, der mehrere Jahre gewidmet sind, trägt und hinterlässt die Spuren derer, die bei ihrer Entstehung mit- und auf sie eingewirkt haben. Diesen Menschen möchte ich an dieser Stelle danken. Zunächst denen, die mit ihrer direkten Teilnahme die Untersuchung ermöglicht haben: den Schülerinnen und Schülern des Goethe-Zentrums Palermo und den Lehrkräften, in deren Kursen die Studie durchgeführt wurde, darüber hinaus aber auch allen Lehrenden und Mitarbeitern und insbesondere der Leiterin des Goethe-Zentrums, Frau Michaela Sinn. Die Zeit und Aufmerksamkeit, die sie mir und meiner Arbeit geschenkt haben, haben wesentlich zu ihrem Gelingen beigetragen. Eine weitere Institution, von der diese Studie konkrete Hilfe und Unterstützung erhalten hat, ist der DAAD mittels seiner Fördermaßnahmen und speziell des Ortslektorenprogramms. Viele der Tagungs- und Forschungsreisen, die ich während der vergangenen Jahre unternommen habe, und nicht zuletzt ein Forschungsstipendium an der Philipps-Universität Marburg im Jahre 2009, hat der DAAD übernommen bzw. bezuschusst und damit einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieser Arbeit geleistet. Neben den beiden Institutionen geht mein Dank an die vielen Kolleginnen und Kollegen an deutschen und an italienischen Universitäten, die mir mit ihren Ratschlägen und ihrer Bereitschaft, sich auf mein Thema einzulassen, zur Seite gestanden haben. Dazu gehört wesentlich das Marburger Team des Informationszentrums für Fremdsprachenforschung, das mir auch in der Ferne das Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt hat. Diese Bindung an meine Heimatuniversität verdanke ich aber vor allem meinem Vertrauensdozenten, Prof. Dr. Frank G. Königs, der nicht nur bei fachlichen Fragen die richtige Antwort zu geben wusste, sondern auch in Momenten des Zweifels an den eigenen Fähigkeiten und dem eigenen Durchhaltevermögen die treffenden Worte fand. Und schließlich gebührt meiner Familie, der mein Fehlen und die damit verbundenen Unzulänglichkeiten den Alltag erschwert und so manche Mühen aufgebürdet hat, dankende Anerkennung für ihre Solidarität sowie den Freundinnen und Freunden ein großes Dankeschön, vor allem Frau Jutta Hohe und Frau Charlotte Dürr, die sich meiner Bitte um Korrekturlesen nicht entzogen haben. Palermo, im Oktober 2014 <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis 11 Tabellenverzeichnis 13 Einleitung 15 1. Bewusste Lernprozesse beim Fremdsprachenlernen 17 1.1 Bewusstsein: Definition(en) und Forschungsstand 17 1.1.1 Symbolorientierte und konnektionistische Ansätze 17 1.1.2 Bewusstsein in den Bezugswissenschaften 22 1.1.3 Wissensaneignung 26 1.2 Language (Learning) Awareness 29 1.3 Emotionsforschung 34 1.4 Verschiedene Bewusstseinsstufen - 39 verschiedene Handlungsproblematiken 1.4.1 Implizites, inzidentelles und unbewusstes Lernen 39 1.4.2 Noticing Hypothesis 45 1.5 Mündliche Kompetenz bei erwachsenen Fremdsprachen- 53 lernenden 1.6 Fremd- und selbstinitiierte Bewusstmachung 64 1.6.1 Fremdsprachenlernberatung 66 1.6.2 Klassenverband 67 1.6.2.1 Explizite und implizite Korrekturhandlungen 68 und Modifizierungen 1.6.2.2 Interpersonale (nonverbale) Einflussfaktoren 71 1.7 Methodologische Vorüberlegungen 73 1.8 Zwischenbilanz und erster Forschungsfragenkomplex 76 2. Willentliche Lernhandlungen 79 2.1 Perspektiven der Motivationsforschung 79 2.1.1 Lewins Feldtheorie 81 2.1.2 Selbstbestimmungstheorie 83 2.1.3 Das Rubikon-Modell 88 2.2 Wille 91 2.2.1 Motivation, Wille und Aufmerksamkeit 93 2.2.2 Flow 95 2.3 Interessenforschung und Interessenbegriff 96 2.4 Motivationskonstrukte der Fremdsprachenforschung 104 2.4.1 Socio-Educational Model 104 2.4.2 Das prozessorientierte Motivationsmodell Dörnyeis 108 <?page no="8"?> 8 2.4.3 Riemers Motivationskonstrukt für 114 Deutsch als Fremdsprache 2.5 Motivation und Bewusstsein im Zusammenspiel: 119 zweiter Forschungsfragenkomplex 3. Methodologisch-methodische Fragestellungen und 123 Erkenntnisinteresse 3.1 Zur empirischen Forschung in DaF 123 3.2 Methoden zur Erforschung bewusster 128 Fremdsprachenlernprozesse 3.2.1 Videografien 130 3.2.1.1 Verfahren zur Bearbeitung visueller Daten 133 3.2.1.2 Videomaterial in der Fremdsprachenforschung 135 3.2.2 Intro- und retrospektive Verfahren 136 3.2.2.1 Lautes Denken 137 3.2.2.2 Interviewformen 138 3.2.2.3 Tagebücher 139 3.2.2.4 Aufarbeitung und Analyse visueller 140 und verbaler Daten 3.2.3 Sprachstandserhebungen/ -tests 142 3.3 Forschungsinteresse und Design 147 3.3.1 Unterrichtliches Deutschlernen in Italien 149 3.3.2 Methodenwahl der vorliegenden Studie 153 3.3.2.1 Fragebogen zur Erfassung des Handlungsdreiecks 153 3.3.2.2 Tagebücher, Beratung und Videografien zum 155 Lernverlauf 3.3.2.3 Sprachstandserhebung und Experteninterview 160 zur Messung des Lernprodukts 3.3.3 Pilotstudie 163 4. Interpretation der Daten im Klassensatz und Einzelfallanalyse 173 4.1 Experimental- und Vergleichsgruppe 173 4.1.1 Kursteilnehmer und Kurs 173 4.1.2 Ergebnisse des Fragebogens zum Lerninteresse 174 4.1.3 Sprachstandserhebungen 181 4.1.4 Interaktion im Unterricht 187 4.2 Einzelfallanalysen 190 4.2.1 Betont bewusste Lernprozesse 190 4.2.1.1 Michele 190 4.2.1.1.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben 190 4.2.1.1.2 Lernstand 195 <?page no="9"?> 9 4.2.1.1.3 Lernen im Unterricht 195 4.2.1.1.4 Fazit 199 4.2.1.2 Antonio 201 4.2.1.2.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben 201 4.2.1.2.2 Lernstand 208 4.2.1.2.3 Lernen im Unterricht 209 4.2.1.2.4 Fazit 218 4.2.1.3 Gianni 220 4.2.1.3.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben 220 4.2.1.3.2 Lernstand 225 4.2.1.3.3 Lernen im Unterricht 226 4.2.1.3.4 Fazit 229 4.2.1.4 Emilia 231 4.2.1.4.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben 231 4.2.1.4.2 Lernstand 235 4.2.1.4.3 Lernen im Unterricht 236 4.2.1.4.4 Fazit 242 4.2.1.5 Chiara 243 4.2.1.5.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben 243 4.2.1.5.2 Lernstand 248 4.2.1.5.3 Lernen im Unterricht 249 4.2.1.5.4 Fazit 251 4.2.2 Bewusste und assoziative Lernprozesse 253 4.2.2.1 Sandra 253 4.2.2.1.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben 253 4.2.2.1.2 Lernstand 259 4.2.2.1.3 Lernen im Unterricht 259 4.2.2.1.4 Fazit 267 4.2.2.2 Ferdinando 269 4.2.2.2.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben 269 4.2.2.2.2 Lernstand 277 4.2.2.2.3 Lernen im Unterricht 277 4.2.2.2.4 Fazit 285 4.2.3 Verstärkt assoziative Lernprozesse 286 4.2.3.1 Bettina 286 4.2.3.1.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben 286 4.2.3.1.2 Lernstand 291 4.2.3.1.3 Lernen im Unterricht 291 4.2.3.1.4 Fazit 293 <?page no="10"?> 10 4.2.3.2 Liliana 295 4.2.3.2.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben 295 4.2.3.2.2 Lernstand 301 4.2.3.2.3 Lernen im Unterricht 302 4.2.3.2.4 Fazit 308 5. Schlussfolgerungen und Desiderata 311 Literaturverzeichnis 321 <?page no="11"?> 11 Abbildungsverzeichnis Abb. 01 - Sprechproduktionsmodell nach Levelt 55 Abb. 02 - Intrinsische und extrinsische Motivation nach Deci/ Ryan 85 Abb. 03 - Rubikon-Modell nach Heckhausen 89 Abb. 04 - Socio-Educational Model nach Gardner/ MacIntyre 105 Abb. 05 - Das prozessorientierte Motivationsmodell Dörnyeis 111 Abb. 06 - Motivationsprozesse nach Riemer 115 Abb. 07 - Schema für bewusste motivierte Lernhandlungen 120 Abb. 08 - Zyklischer Forschungsprozess nach Norris/ Ortega 124 Abb. 09 - Handlungsdreieck 153 Abb. 10 - Lernverlauf 155 Abb. 11 - Ergebnis der Lernhandlung 160 Abb. 12 - Grafische Darstellung der Relation der Wortmeldungen in 188 Relation zur Unterrichtszeit Abb. 13 - Grafische Zuordnung der Lernenden zu bewusstem vs. 190 assoziativem Lernen Abb. 14 - Schematische Darstellung des Lernprozesses von Michele 200 Abb. 15 - Schematische Darstellung des Lernprozesses von Antonio 220 Abb. 16 - Schematische Darstellung des Lernprozesses von Gianni 231 Abb. 17 - Schematische Darstellung des Lernprozesses von Emilia 243 Abb. 18 - Schematische Darstellung des Lernprozesses von Chiara 252 Abb. 19 - Schematische Darstellung des Lernprozesses von Sandra 269 Abb. 20 - Schematische Darstellung des Lernprozesses von 286 Ferdinando Abb. 21 - Schematische Darstellung des Lernprozesses von Bettina 295 Abb. 22 - Schematische Darstellung des Lernprozesses von Liliana 309 <?page no="13"?> 13 Tabellenverzeichnis Tab. 01 - Bewertungsbogen für das Gespräch 162 Tab. 02 - Tabellarische Übersicht zum Ablauf der Hauptstudie 162 Tab. 03 - Tabellarische Übersicht zum Ablauf der Pilotstudie 163 Tab. 04 - Sprachstandserhebungen von Dario 169 Tab. 05 - Sprachstandserhebungen von Serena 170 Tab. 06 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 1 174 Tab. 07 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 2 175 Tab. 08 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 3 176 Tab. 09 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 4 176 Tab. 10 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 5 176 Tab. 11 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 6a 177 Tab. 12 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 6b 178 Tab. 13 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 7 178 Tab. 14 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 8 178 Tab. 15 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 9 179 Tab. 16 - Ergebnis des Fragebogens, Frage 10 179 Tab. 17 - 1. Sprachstandserhebung im Klassensatz 182 Tab. 18 - 2. Sprachstandserhebung im Klassensatz 183 Tab. 19 - 3. Sprachstandserhebung im Klassensatz 185 Tab. 20 - Wortmeldungen in Relation zur Unterrichtszeit 187 Tab. 21 - Art der Beteiligung 188 Tab. 22 - Anzahl der Wortmeldungen 189 Tab. 23 - Sprachstandserhebungen von Michele 195 Tab. 24 - Wortmeldungen von Michele 195 Tab. 25 - Sprachstandserhebungen von Antonio 208 Tab. 26 - Wortmeldungen von Antonio 209 Tab. 27 - Sprachstandserhebungen von Gianni 225 Tab. 28 - Wortmeldungen von Gianni 226 Tab. 29 - Sprachstandserhebungen von Emilia 235 Tab. 30 - Wortmeldungen von Emilia 236 Tab. 31 - Srachstandserhebungen von Chiara 248 Tab. 32 - Wortmeldungen von Chiara 249 Tab. 33 - Sprachstandserhebungen von Sandra 259 Tab. 34 - Wortmeldungen von Sandra 260 Tab. 35 - Sprachstandserhebungen von Ferdinando 277 Tab. 36 - Wortmeldungen von Ferdinando 277 Tab. 37 - Sprachstandserhebungen von Bettina 291 Tab. 38 - Wortmeldungen von Bettina 291 <?page no="14"?> 14 Tab. 39 - Sprachstandserhebungen von Liliana 301 Tab. 40 - Wortmeldungen von Liliana 302 Tab. 41 - Gegenüberstellung von Lernfortschritt, Leistung und 312 Lernverhalten <?page no="15"?> 15 Einleitung Die Korrelation von Bewusstsein und Motivation theoretisch zu begründen, dazu ein Modell zu erarbeiten und empirisch zu überprüfen, stellt sicherlich ein gewaltiges Vorhaben dar. Die vorliegende Untersuchung stützt sich dabei auf ein interdisziplinäres Vorgehen, zu dem die Fremdsprachenerwerbsforschung und neurowissenschaftlich plausible psychologische Ansätze die Stützpfeiler liefern und das Studien aus der Unterrichtswissenschaft und der pädagogischen Psychologie weiter absichern. Der beschrittene Weg zeugt von dem Anliegen, die in der DaF-Forschung gängigen Begriffe und Konzepte zu hinterfragen, wie z.B. den Aufmerksamkeitsbegriff oder die verschiedenen Motivationskonstrukte, und diese soweit aufzufächern, dass die Verbindungen zu den Ansätzen zum Fremdsprachenerwerb sichtbar und nachvollziehbar werden. Die Behandlung des Themas erfolgt mit Blick auf den Lernenden und vom Lernenden zu seinem Lernprodukt, mit der Absicht, das Zusammenspiel von kognitiven, emotionalen und motivationalen Faktoren in Bezug auf den individuellen Lernprozess beim Aufbau von mündlicher Kompetenz in Deutsch als Tertiärsprache bei erwachsenen Italienern aufzuzeigen. Zu diesem Vorhaben wird zunächst der Bewusstseinsbegriff erörtert. Im ersten Kapitel geschieht dies aus der Sicht der Bezugswissenschaften und unter Rückgriff auf die dort entwickelten Repräsentationsformen von Informationsverarbeitung. Dazu gehört auch die Einführung sowie Definition von Grundbegriffen wie Wissen und Gedächtnis. Danach spannt sich der Bogen zum Forschungsgegenstand, nämlich der bewussten Komponente des Fremdsprachenlernens und speziell beim Aufbau von mündlicher Kompetenz, und den darin verwobenen emotionalen Aspekten. Dem vorangestellt ist eine Aufarbeitung des Awareness-Konzepts und die Abgrenzung zu impliziten Lernprozessen, woran die Auseinandersetzung mit der Noticing Hypothesis von Richard W. Schmidt ansetzt, an die sich die vorliegende Studie in Bezug auf die Ermittlung bewusster Lernprozesse im Wesentlichen anlehnt. Im Anschluss an eine Aufarbeitung des in der Fremdsprachenforschung kursierenden Aufmerksamkeitsbegriffs vollzieht sich der Schritt vom Bewusstsein zur Bewusstmachung. In diesem Zusammenhang werden die selbstinitiierten, aber vor allem die im Unterricht relevanten fremdinitiierten Formen ausgeleuchtet. Das zweite Kapitel führt in die Motivations-, Willens- und Interessenforschung ein, wobei der Schwerpunkt auf den Theorien liegt, die in der Fremdsprachenforschung an Bedeutung gewonnen haben bzw. die wegweisend für die heute gängigen Modelle sind. Letztere werden in ihrer Entwicklung und ihren Bestandteilen vorgestellt, wobei dem Rubikonmodell von Heckhausen besondere Beachtung zukommt, vor dessen Hintergrund der Begriff Volition besprochen wird und das die zweite <?page no="16"?> 16 theoretische Grundlage dieser Arbeit liefert. Dies geschieht allerdings mit einer stärkeren Gewichtung eines subjektwissenschaftlich getönten Gegenstandsbegriffs. Vor diesem Paradigma erfolgt auch die Behandlung der Interessenforschung. Die in den ersten beiden Kapiteln dargelegten Überlegungen münden in ein Schema für bewusste motivierte Lernhandlungen, auf das diese Untersuchung rekurriert. Die Überleitung zu dem empirischen Teil bildet das dritte Kapitel mit den methodologischen Vorüberlegungen und der Besprechung der gewählten Methoden: Videografien sowie intro-/ retrospektive Verfahren werden vorgestellt und Formen ihrer Aufarbeitung und Analyse erläutert. Des Weiteren widmet sich dieses Kapitel den Methoden zur Überprüfung von Lernergebnissen, und dabei speziell den Sprachstands erhebungen/ -tests. Anschließend wird das Forschungsvorhaben in seinen Fragen und seinem Design beschrieben und die Methodenwahl vor dem entwickelten Schema begründet. Den Abschluss bilden Auszüge aus der Pilotstudie und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Hauptstudie. Das vierte Kapitel präsentiert die Ergebnisse dieser explorativ-interpretativen Studie. Klassenübergreifend werden zunächst die Ergebnisse des Fragebogens und der Sprachstandserhebungen quantifiziert, dargestellt und ausgewertet sowie die Unterrichtsbeteiligung in der Experimentalgruppe grafisch veranschaulicht. Daran setzt die qualitative Analyse der Einzelfälle an, bei denen jeweils die Lerngeschichte, das Lernvorhaben, der Lernstand, die Interaktion in der Klasse beleuchtet werden, und die mit der schematischen Darstellung des Lernverlaufs und dem Fazit hieraus enden. Das fünfte Kapitel enthält die Schlussfolgerungen. Sie schlagen fallübergreifend den Bogen zu den Forschungsfragen, reflektieren das zugrunde gelegte Konstrukt sowie die angewandten Methoden und münden in die Forschungsdesiderata. Das Video- und Audiomaterial, die Tagebücher, die Fragebögen zum Lerninteresse und die Bewertungsbögen zur Sprachstandserhebung sowie die Transkripte der Sprachlernberatungen, die Videosequenzierungen und die beiden Experteninterviews stehen zur Verfügung und können jederzeit zu Forschungszwecken angefordert werden. Das Literaturverzeichnis hat den Anspruch, zu den behandelten Themen eine erschöpfende bibliographische Quelle zu liefern. - <?page no="17"?> 17 1. Bewusste Lernprozesse beim Fremdsprachenlernen 1.1 Definition(en) und Forschungsstand Language scientists have to be linguists, psychologists, physiologists, and computational neuroscientists at the same time. (N. Ellis 1998: 656) Bewusstsein zu erfassen und es damit für die Fremdsprachenforschung als Untersuchungsgegenstand operationalisierbar zu machen, erfordert ein breit angelegtes interdisziplinäres Vorgehen, da dieser Inbegriff menschlichen Seins in diversen Bereichen einen zentralen Stellenwert einnimmt. Umso nötiger erscheint daher die von Moser (2008: 33) geforderte begriffliche Abgrenzung gegenüber der Alltagssprache, die allerdings durch die in den jeweiligen Wissensdomänen unterschiedlichen Definitionen deutlich erschwert wird. Auch hinsichtlich der geistigen Repräsentation von Wissen wird auf verschiedene Grundmodelle zurückgegriffen: das symbolorientierte, das konnektionistische oder den von Lenk (2004) unternommenen Ansatz einer Verbindung beider. 1.1.1 Symbolorientierte und konnektionistische Ansätze Symbolverarbeitende Modelle speichern Informationen durch Begriffsnamen, d.h. meist durch sprachliche, aber auch durch nicht-sprachliche Symbole, z.B. in Form von Handlungsschemata oder bildhaften Vorstellungen (vgl. Edelmann 2000: 125, Marschollek 2002: 47ff, Seel 2000). Der Prozess der Enkodierung vollzieht sich auf der Grundlage von kleineren Bedeutungseinheiten (Propositionen), die Ereignisse oder Begriffe abstrahiert darstellen, während übergeordnete Schemata größere Zusammenhänge repräsentieren (vgl. Schwarz 2008: 115ff). Symbole lassen sich somit als diskrete materielle Entitäten der Wissensrepräsentation mit spezifischer Bedeutung und kombinatorischer oder kompositioneller Semantik auffassen, die in Symbolsystemen zu einer Menge solcher Symbole (Mustern) kombiniert werden. Es resultiert eine Symbolstruktur aus relational verbundenen Symboltokens. (Pospeschill 2004: 19) Grundlegend für ein Symbolsystem, wie es maßgeblich von Fodor in „Language of Thought“ (1975) formuliert wurde und dessen Architektur auch weiterhin Gültigkeit beansprucht (Fodor 2002, Fodor/ Pylyshyn 1988, vgl. dazu Pospeschill 2004: 18ff, Schwarz 2008: 28ff), ist seine Kompositionalität, d.h., seine Bedeutungskonstituenten bauen aufeinander auf, und es bestehen zwischen <?page no="18"?> 18 ihnen propositionale Relationen. Eine Gesamtbedeutung erschließt sich infolgedessen aus der Zusammensetzung der systemischen Einzelteile. Ein weiteres Merkmal ist seine Produktivität, damit ist die potenziell unbegrenzte Möglichkeit von Verflechtungen intendiert. Als dritter Punkt ist die Systematizität zu nennen, die sich auf den Abstraktionsgrad der Symbole bezieht und durch die zwischen Unter- und Oberbegriffen unterschieden werden kann; daher die für symbolorientierte Denkmodelle charakteristische sukzessive Informationsverarbeitung. Diese modulare Grundstruktur ermöglicht bei Dekodierungsprozessen diverse Zugriffe: „Will man etwas Spezifisches erinnern, reicht es meist aus, das dazu gehörige Teilsystem abzurufen, um die Besonderheit des Einzelfalls zu rekonstruieren“ (Edelmann 2000: 127). Andererseits ist eine solchermaßen konzipierte Begriffsbildung auch anfällig, denn bricht beim sukzessiven Aufbau ein fundamentaler Baustein weg, ist der Weg zur höheren Stufe unterbrochen. Auch wenn es durchaus symbolverarbeitende Modelle gibt, die das Prinzip eines übergeordneten Interpreten bestreiten (vgl. z.B. Lenk 2004), wird bei diesem Ansatz der zentrale Prozessor als wesentlich herausgestellt (Pospeschill 2004: 19), der den Verarbeitungsprozess steuert und damit dem System indirekt eine Zielhaftigkeit unterlegt: Was den Aspekt Zielorientierung betrifft, so sind Schemasysteme grundsätzlich darauf ausgerichtet, neue Informationen und die vorhandene Schemastruktur miteinander abzustimmen. […] Angesichts der Komplexität der Schemata und ihrer vielfältigen Verknüpfungen mit anderen Schemata ist davon auszugehen, dass sich dem Individuum häufig eine Vielzahl von Verhaltensoptionen bietet, zwischen denen es - je nach den konkreten Bedingungen - auswählen kann. Die Schemastruktur bietet somit den Rahmen, in dem das Individuum von Situation zu Situation seine Ziele setzt und sein Verhalten bestimmt. (Marschollek 2002: 62f, Hervorhebung im Original) Die Grundstruktur der Wissensrepräsentation basiert auf der Formulierung expliziter Einheiten (chunks) 1 ; aus diesen entwickelt sich prozedurales Können (productions). Ein solches Konzept liegt auch dem Ende der 1970er Jahre im Rahmen der künstlichen Intelligenzforschung entwickelten und für das Fremdsprachenlernen fundamentalen Modell von Anderson zugrunde (vgl. u.a. Crookes 1991: 118, de Bot et al. 2005: 58, Dörnyei 2009: 148ff, Pospeschill 2004: 22, Opwis 1996: 385, Schmidt 1992: 363ff, Segalowitz 2003: 384f), das den dreistufigen Übergang vom deklarativen Wissen über prozedurales Können 1 Chunks sind hier als Ergebnisse von Aushandlungs- oder Wahrnehmungsprozessen zu verstehen, nicht im Sinne automatisierter Speicherung von Einheiten im Rahmen der Informationsverarbeitung bzw. Chunk-Theorien (s. 1.4.2), speziell dazu N. Ellis (2003) oder Handwerker/ Madlener (2009). <?page no="19"?> 19 zum automatisierten Handeln beschreibt, wobei sich der Wissensbestand durch Mechanismen wie Generalisation, Diskrimination und Verstärkung verfeinert (vgl. Opwis 1996: 386). An seiner Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung lässt sich emblematisch zunächst die in den 1980er Jahren einsetzende (fächerübergreifende) Hinwendung zur Performanz nachzeichnen und in jüngster Zeit das verstärkte Interesse an konnektionistisch verschalteten Wahrnehmungs- und Verarbeitungsvorgängen. Während das ursprüngliche ACT-Modell auf die Beschreibung höherer kognitiver Leistungen angelegt war und dabei eben auf symbolorientierte Repräsentationsformen zurückgriff, leiteten die folgenden ACT*sowie ACT-R-Theorien (Adaptive control of thought-rational, Anderson 1993, 2002) eine Öffnung gegenüber prozeduralem Wissen bzw. Können ein. Die letzte Version ACT-R5.0 (Anderson et al. 2004) baut nicht nur die visuelle Reizaufnahme und motorisches Handeln ein, vor allem wird das Funktionieren der einzelnen Module auf Hirnareale und -tätigkeiten zurückgeführt und durch neurowissenschaftliche Forschungsmethoden, wie die der funktionellen Kernspintomographie oder Blickerfassung (eye tracking), belegt (Anderson et al. 2004: 1041f, Frenck-Mestre 2005, Schwarz 2008: 36f). Auch wenn weiterhin deklaratives Wissen in symbolverarbeitenden Systemen „sitzt“ − explizit bleibt der Bezug auf Fodor und zentral gesteuerte Prozesse (Anderson et al. 2004: 1037) −, wird dem Können nicht nur wie anfänglich in der Überarbeitung eine stärkere Eigenständigkeit bei Problemlösungsprozessen zugewiesen (vgl. DeKeyser 2001: 132f), sondern dafür auch ein Zuständigkeitsbereich, der nicht mehr im Bewussten, sondern auf der subkortikalen Ebene liegt (in dem Sinne auch das Zweistufenmodell von Ullman 2004). Wie Dörnyei (2009: 149f) hervorhebt, bestätigt sich damit sowohl die Zweigleisigkeit menschlichen Lernens als auch die Unmöglichkeit, darauf universell gültige Erklärungsmuster anwenden zu wollen. Dass Andersons Theorie semantischer Netzwerke auch heute noch in den Kognitionswissenschaften populär ist und für den institutionalisierten Fremdsprachenunterricht Gültigkeit beansprucht, liegt nicht zuletzt in ihrem Erweiterungspotenzial und ihrer Ausbaufähigkeit. Aus der Unzufriedenheit mit den Erklärungsansätzen der klassischen Informationsverarbeitung und aufgrund eines zunehmenden Interesses an nicht-linearen dynamischen Systemen, die Vorstellungen aus kognitionspsychologischer, neuropsychologischer und neurokognitiver Forschung kombinieren, speiste und speist sich die Attraktivität des Konnektionismus (Pospeschill 2004: 235) und daran ansetzend diverser Denkansätze, die sich in der (vor allem angloamerikanischen) Fremdsprachenforschung unter dem Begriff „emergentism“ gruppieren. Emergenz-Theorien haben ihren Ursprung in der Philosophie; heute finden sie dahingegen vor allem in der Biologie und in der experimentellen Psychologie Anwendung (Dörnyei 2009: 112ff, Thelen/ Bates 2003, dazu auch Norris/ Ortega 2003: 724, <?page no="20"?> 20 MacWhinney 2006). Für emergentists erhebt sich das Zusammenspiel von Elementen in ihrer Erscheinung zum System, wobei die Entstehung der Einzelteile im Gesamtbild nicht mehr verfügbar ist (Larsen-Freeman 2006: 592, Schwarz 2008: 70, 80f). „Emergence is the spontaneous occurrence of something new as a result of the dynamic of the system“ (van Geert 2008: 182). Grundsätzlich ist alles, was zur Entwicklung dieses Systems beiträgt, nicht vorhersehbar, sondern schafft sich ständig neu in einem Kontinuum statischer und dynamischer Momente (zu dynamischen Systemen s. 2.1.1). In der Fremdsprachenerwerbsforschung verbindet sich der Ansatz u.a. mit den Studien von Larsen-Freeman (1997, 2006, N. Ellis/ Larsen-Freeman 2006). N. Ellis (1998: 638, 645) nennt emergentism gemeinsam mit neurobiologischen Zugängen; deutlich sind die Berührungspunkte mit konnektionistischen Systemen. Die Aussagekraft liegt auf der Ebene der Oberflächenerscheinungen, da emergentists diese durch keine vorgefertigte Theorie in eindimensionale Erklärungsstränge zwängen müssen. Da dieses Interpretationskonstrukt aber nicht hinterfragt, erfasst es weder über-greifende Gemeinsamkeiten noch Gesetzmäßigkeiten von Prozessen. Operationalisierbare Ansätze in der Fremdsprachenforschung stehen noch aus; als einen ersten Schritt in diese Richtung ist das Competition Modell von MacWhinney (s.u.) zu bewerten . Bei konnektionistischen Netzwerken vollzieht sich Informationsverarbeitung über uniforme Einheiten (units) bzw. Gruppen von units, auf denen Signale in Form von Aktivierungsmustern verteilt sind, die wiederum durch Aktivierung der Verbindungen (connections) übertragen werden (N. Ellis 1998: 646ff, Pospeschill 2000: 25ff, Schwarz 2008: 24ff). Diese distribuierte Repräsentation erhöht die Fehlertoleranz, d.h., bei Ausfall einzelner Komponenten gleicht dieses System sozusagen aus, was - wie wir oben gesehen haben - bei symbolorientierten Anlagen nur im begrenzten Umfang möglich ist. Entscheidend ist, dass gleichzeitig, also parallel, eine Vielzahl von units aktiviert (exzitativ oder inhibitorisch) werden. „Damit sind die Zusammenhänge von verschiedenen Zuständen in den Netzwerken assoziativer Natur“ (Schwarz 2008: 25). 2 Das konnektionistische System besitzt keine Symbolebene, die Strukturen der Umwelt werden nicht in irgendeiner Form abgebildet, sind keine Bedeutungsträger für Wahrnehmungen oder Gedächtnisinhalte, sondern reproduzieren sich in einer netzeigenen Dynamik (Pospeschill 2004: 46ff). Repräsentation bezeichnet den „stabile[n] Zielzustand des Netzwerkes“ (Pospeschill 2004: 54). Die Nähe solcher Funktionssystem zum biologischen Nervensystem ist evident und macht sicher die Attraktivität derart konzipierter Netzwerke aus, auch wenn vor 2 Einen Grundstein für die Entwicklung konnektionistischer Modelle legte Hebb (1949) mit der Hebbschen Lernregel, nach der sich die Verbindung zwischen zwei Zellen über die gleiche Reizung ihrer Synapsen verstärkt, d.h., es wird eine exzitative Wirkung erzielt (Roth 2003: 164). Weiterentwickelt und maßgeblich beeinflusst wurden die späteren Modelle durch McClelland und Rumelhart (1986), die in „Parallel Distributed Processing“ die Grundlagen konnektionistischer Modelle ausarbeiteten (vgl. Pospeschill 2004: 26ff). <?page no="21"?> 21 einer zu einfachen Übertragung künstlicher auf biologische neuronale Strukturen, die komplexe chemische und elektrische Verarbeitungsmechanismen aufweisen, gewarnt wird (Pospeschill 2004: 258). Außerdem gibt es einige grundlegende Unstimmigkeiten, wie zum Beispiel die Back Propagation (vgl. N. Ellis 1998: 647, Dörnyei 2009: 92), die ein Vor- und Rückwärtsschalten in konnektionistischen Netzwerken begründet und sich nicht so auf neurologische Systeme übertragen lässt (Rumelhart et al. 2002: 220, zur Weiterleitung vom Aktionspotenzial bei Axonen vgl. Milnik 2009: 3f). Zum Abschluss der Gegenüberstellung Symbolverarbeitung - Konnektionismus soll der dritte Weg nachgezeichnet werden, den u.a. Lenk in Anlehnung an Smolensky (1995) als den „integrierten konnektionistisch-symbolischen kognitiven Ansatz“ (Lenk 2004: 124, dazu Pospeschill 2004: 232, vgl. auch Marschollek 2002: 67, Reber 2003: 489, Schwarz 2008: 31, 176) definiert. Dieser ergibt sich einmal aus den beiden Vorgehen und den spezifischen Arbeitsaufgaben, die das Gehirn ja offensichtlich leistet und die im Erkenntnisprozess zutage treten bzw. diesen tragen, der sich nur bis zu einem bestimmten Punkt mit dem Entweder-Oder-Prinzip erklären lässt. […] aber es scheint doch beim Menschen für das Handeln und insbesondere für das Wahrnehmen zwei verschiedene Verarbeitungsweisen zu geben, nämlich einmal eine konfigurative, schnelle, unterbewusst ablaufende, die eben nicht seriell, sondern parallel operiert, grob nach dem konnektionistischen Modell. […] Und die andere Verarbeitungsweise ist das langsame, das serielle, schrittweise die Konstituenten oder Elemente abarbeitende, das analytisch, bewusst argumentierende, z.B. sukzessiv beweisende, Vorgehen, das bei Rechtshändern eher linkshemisphärisch zu lokalisieren ist. (Lenk 2004: 114f, Hervorhebung im Original) Wahrscheinlich finden erste Modellierungen im Sinne der zwei unterschiedlich neuronal angelegten Verarbeitungsformen sogar schon auf der Wahrnehmungsebene statt: Die Fähigkeiten konfigurativen Mustererkennens scheinen in der Tat an anderer Stelle neuronal verankert zu sein als die sukzessiv seriell und analytisch abzuarbeitenden Fähigkeiten zur Symbolkombination und -manipulation sowie schon zur Symbolwiedererkennung. (Lenk 2004: 53) Dies untermauert die Annahme, dass Personen unterschiedliche Arten von dynamischen Systemen besitzen, deren Interaktion noch nicht oder vielleicht nie völlig übersehbar ist und bei denen „Interpretation, Interaktion und Intervention <?page no="22"?> 22 […] systematisch miteinander verzahnt“ sind (Lenk 2004: 133). 3 Damit wird auch der Auffassung widersprochen, dass beide Ansätze u.a. „aus philosophischer Sicht inkompatibel“ seien und nur eine strikte Trennung dem „biologischen Vorbild“ entspräche (Pospeschill 2004: 214f). 1.1.2 Bewusstsein in den Bezugswissenschafen Der Bewusstseinsbegriff in den klassischen Kognitionswissenschaften, der in Abgrenzung zu physischen Zuständen und in Anlehnung an die Computerwissenschaften als funktional ablaufendes Informationsverarbeitungssystem begriffen wurde, in dem in chunks oder clusters gebündeltes Wissen in unterschiedlichen Kodierungsstufen untersucht wurde, befindet sich heute im Umbruch (vgl. Grotjahn 2005: 32, Schwarz 2008: 22). Während Fodor noch in den 1970er Jahren den Kognitionsbegriff in deutlicher Abgrenzung zu physischen Phänomenen sah und gegen die Reduzierbarkeit mentaler auf biologische Prozesse plädierte, lässt sich in den letzten Jahren angesichts der enormen Fortschritte neurowissenschaftlicher Forschungsmethoden und der damit verbundenen Erkenntnisse eine zunehmende Berücksichtigung der neuronalen Abläufe beobachten (vgl. z.B. Prince/ Smolensky 2002, McClelland et al. 2002), wie sie übergreifend in den verschiedensten wissenschaftlichen (und auch nichtwissenschaftlichen) Bereichen feststellbar ist (vgl. Lenk 2004: 316). Kognitive Prozesse vor dem Hintergrund chemischer und elektrischer Reaktionen zu modellieren, stellt für die Kognitionswissenschaften eine doppelte Herausforderung dar, denn neben den im symbolorientierten Ansatz begründeten Schwierigkeiten, neuronale Vorgänge konzeptuell zu erfassen, wird auch inhaltlich an dem Kognitionsverständnis gerüttelt: Die in den letzten Jahren immer wichtiger werdenden und auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse rekurrierenden Emotionswissenschaften (s. 1.3) schmälern die Rolle der Kognition zunehmend und verleihen dem Bewusstsein eine eng an emotionale und motivationale Prozesse gebundene Definition (vgl. Grotjahn 2005: 35f); das trifft umso härter, als dass in den letzten zwei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts die Kritik an einem emotionslosen Kognitionsbegriff immer lauter geworden war. So wird die Vorherrschaft der Kognitionswissenschaften und ihr Bewusstseinsbegriff durch die neuen Forschungen zu Gefühlen, die ihrerseits auf neurobiologische Erkenntnisse zurückgreifen und 3 Bereits Leventhal und Scherer (1987, vgl. dazu Dörner/ Stäudel 1990: 324f) unterscheiden innerhalb des automatischen Verarbeitungssystems eine Reiz-Reaktionsebene und eine räumlich-bildliche Weiterleitung. Das dritte System umfasst dann verbal-bewusste Informationen. Die drei Ebenen sind hierarchisch geordnet, interagieren aber miteinander. <?page no="23"?> 23 Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften verbinden, um diese Dimension erweitert und grundlegend geändert. Parallelen zu der oben skizzierten Entwicklung lassen sich auch in der Psychologie aufzeigen. Mehrheitlich wird auch noch heute in den psychologischen Lerntheorien von symbolischen Repräsentationen ausgegangen (Pospeschill 2004: 15), auf deren Grundlage sich Bewusstsein im Rahmen eines kognitivkonstruktivistischen Modells definiert, das sich wie folgt charakterisieren lässt: Die Bewusstseinsbildung wird an die Informationsverarbeitung gekoppelt, wobei gilt: Wahrnehmen ist schon gleichsam ein konstruktives Deuten, eine schemageleitete Konstruktion (Lenk 2004: 14); Wissen wird auf der Grundlage von Vorwissen konstruiert (Marschollek 2002: 59), und Denken ist das Operieren von Begriffen (Seel 2000: 21). Die kritische Auseinandersetzung mit dem Kognitionsparadigma, die im Laufe der 1980er Jahre eingesetzt hat, führte in der Lernpsychologie sowie auch in der Pädagogischen Psychologie zu einer Erweiterung der kognitiven Dimension: Das kognitiv-konstruktivistische Erklärungsmodell bestimmt gegenwärtig nahezu uneingeschränkt das psychologische Verständnis des menschlichen Lernens - allerdings nicht mehr in einseitiger Beschränkung auf Prozesse der Informationsverarbeitung, sondern unter zusätzlicher Berücksichtigung motivationaler und sozial-kultureller Bedingungen. (Seel 2000: 23) Damit einhergehend wurde zunehmend Abstand genommen von einer Modellverarbeitung anhand künstlicher Intelligenz zugunsten natürlicher Handlungsräume. Um den in der Psychologie gängigen Bewusstseinsbegriff angemessen zu erfassen, bedarf es aber auch noch der Hinzunahme der Handlungsdimension, wie sie z.B. von Volpert (1983) in dem „Modell der hierarchisch-sequentiellen Handlungsorganisation“ oder von Dulisch (1986) 4 entwickelt wurde. In der Antizipation der späteren Handlung liegt einmal die Zielhaftigkeit jedweden Tuns, aber auch ihr interpretierender Gehalt in den Verhaltensweisen, der über die bloße physische Kausalstruktur hinausgeht (Lenk 2004: 198), zum anderen wird dem Bewusstseinsbegriff Funktionalität unterlegt: Kognitive Schemata sind handlungsleitende Strukturen (Holder 2005: 32). Insofern schließt Bewusstsein gedanklich die Ausführungsphase (Performanz) mit ein. Damit vollzieht sich die Handlungsplanung stets vor dem Hintergrund von Bewertungskategorien: wie erfolgversprechend/ wenig erfolgreich, angenehm/ unangenehm oder 4 Dulisch entwickelt dieses Modell weiter, indem er zwischen drei Komponenten des Lernhandelns differenziert (vgl. dazu Holzkamp 1995: 160ff). <?page no="24"?> 24 rentabel/ unrentabel. Der Bogen des Bewusstseins spannt sich also vom Erkennen bis zum Handeln: Erkennen ist im Grunde stets mit dem Verhalten und dem Handeln verknüpft und bezieht sich immer letztlich auch auf die Situation des Organismus bzw. unseres Organismus in der Welt, ist also immer abhängig zu sehen von der Umweltbezogenheit und umfasst auch die erwähnten Bewertungen. (Lenk 2004: 14) Bewusstsein ist zwar dann immer noch „Privatsache“ (vgl. Lenk 2004: 321), aber die Privatheit projiziert sich über ihren intentionalen Charakter ins Öffentliche. Die Psychologie sträubt(e) sich lange Zeit dagegen, biologische bzw. neurologische Vorgänge zur Kenntnis zur nehmen, selbst in der Teildisziplin Neuropsychologie wird grundsätzlich weder von einer Aufrechnung noch einer Gleichsetzung neuronaler Abläufe und dem menschlichen Verhaltens ausgegangen. Allerdings sind heute gerade bei der Erklärung oben genannter Aspekte des Bewusstseins, wie „Entscheidungsfindung“, „Intentionalität“ oder „Handlungsplanung“ neurowissenschaftliche Kenntnisse aussagevoll. So werfen z.B. die viel zitierten Beobachtungen des amerikanischen Neuropsychologen Libert (nach Lenk 2004: 244ff, vgl. dazu auch Roth 2003: 212ff), - die erste bewusste Intention war erst 1/ 3-1/ 2 Sekunde nach dem Auftreten des Bereitschaftspotenzials und einen Bruchteil vor der messbaren motorischen Bewegungsaktivierung erkennbar - ein völlig anderes Licht auf die Rolle des Bewusstseins im Handlungsprozess. Wenn Bewusstsein der Handlungsbereitschaft also nicht vorausgeht, sondern eher - wie Lenk es nennt - einen „Nachklapp-Effekt“ (Lenk 2004: 246) hat, dann gewinnt bei seiner Definition der Bereich der Emotionen, der Affekte, der Gefühle und nicht zuletzt der Einfluss des Unbewussten auf das Bewusste beträchtlich an Gewicht. 5 So bedeutet die „emotionale Wende“, die die Psychologie bereits seit einiger Zeit erreicht hat (vgl. Spieß 1995, nach Ogasa 2011: 76, der Ausdruck fällt aber bereits in Eckensberger/ Lantermann 1985: XV), eine Erweiterung des Bewusstseinsbegriffs. Und es stellt sich natürlich auch die Frage, inwieweit Handeln unter einem willentlichen Einfluss variiert werden oder zumindest inwiefern Bewusstsein innerhalb interaktionaler Wechselwirkung die Gesamtverhältnisse beeinflussen kann, unter einem anderen Vorzeichen, wenn Bewusstsein nicht veranlasst, sondern im Grunde ein Begleitphänomen ist. Die Neurowissenschaften berufen sich auf die Klärung menschlichen Verhaltens durch neuronale Fakten, d.h., bei neurowissenschaftlichen Ansätzen geht 5 So erweitert Marschollek (2002: 46) den Begriff Kognition um die Dimension des ganz oder teilweise Unbewussten. <?page no="25"?> 25 man davon aus, dass mentale Repräsentationen mit neuronalen Zuständen korrelieren bzw. durch sie induziert werden. Blicken wir diesbezüglich auf die Erkenntnisse der letzten Jahre, wird offensichtlich, dass diese zum Großteil auf diverse neue Verfahren zur Visualisierung von Gehirntätigkeiten zurückzuführen sind (vgl. u.a. Arnold 2002: 33ff, Dörnyei 2009: 42ff, Pospeschill 2004: 15, Schwarz 2008: 36f). Ihr Einflussbereich hat sich deutlich ausgedehnt. Wenn ein so aufmerksamer Beobachter seiner Disziplin wie Dörnyei in der Einleitung seines Buches „The Psychology of Second Language Acquisition“ (2009) bezüglich der Wirkung neurowissenschaftlicher Errungenschaften von einem Erdbeben spricht, das die Forschungslandschaft erschüttert, macht dies ihr Ausmaß für die Fremdsprachenforschung deutlich; nicht zuletzt zeugt davon auch die zunehmende Einarbeitung einschlägiger Erkenntnisse in theoretische Bezugsrahmen neuerer Qualifikationsarbeiten in der Fremdsprachenforschung und die Häufigkeit von Bezügen auf diese Begründungsebene (z.B. Arnold 2002, Nardi 2006, Ogasa 2011). 6 Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist es falsch, das Bewusstsein bestimmten Hirnzentren oder Abläufen zuordnen zu wollen. Bewusstsein wird in seiner funktional-biologischen Bestimmung als „ein besonderer Zustand der Informationsverarbeitung“ bzw. eine Vielzahl von Bewusstseinszuständen definiert, „der vom Gehirn eingesetzt wird, wenn es sich mit komplexen Problemen konfrontiert sieht, für die es noch keine fertigen Lösungen besitzt“ (Roth 2003: 297). Da Bewusstseinsprozesse sehr energieaufwändig sind, werden sie nach Roth nur dann eingesetzt, wenn die Notwendigkeit besteht (ebd.: 217). Besonders wird in den Teilen „verschaltet“, deren hohe synaptische Verknüpfungsdichte und Plastizität sie zum „idealen assoziativen Speicher“ (ebd.: 224) machen. Dieser Bereich, besonders der untere Temporallappen und der orbitofrontale Kortex, ist stärker als die restlichen Regionen mit dem limbischen System verknüpft, woraus er schließt, „dass Bewusstsein im Wesentlichen dort entsteht, wo sich corticales und limbisches System und damit Kognition und Emotion wechselseitig durchdringen“ (ebd.: 222). Bemerkenswert ist demgegenüber die geringe Afferenz vom präfrontalen Kortex, woraus Roth ableitet, dass dieser Teil des Gehirns, der vornehmlich für die bewusste Handlungsentscheidung zuständig ist, weniger „emotionsanfällig“ und eher kognitiv ausgerichtet ist (ebd.: 150). Damit fungiere der orbitofrontale Kortex sozusagen als Supervisor, indem er unbewusste und bewusste Signale zusammenführe und Entscheidungen hinsichtlich ihrer positiven oder negativen Konsequenzen abwäge. Emotionale (positive, 6 Im Rahmen dieser Arbeit wurde sich weitgehend auf die zusammenfassende Darstellung von Gerhard Roth (2003) bezogen. Für eine umfassende Darstellung der anatomischen Grundbegriffe und Prinzipien sei u.a. auf folgende Lehrwerke verwiesen: Dudel et al. (2001), Milnik (2009), Kandel et al. (1996). <?page no="26"?> 26 aber auch negative) Bewertungen scheinen auch direkt die Gedächtnisleistung zu beeinflussen (vgl. u.a. Schumann 2001: 25), d.h., emotional erregende Reize werden besser behalten als neutrale, emotionsbesetzte Erinnerungen graben sich tiefer ein. Befunde weisen hierbei der Amygdala eine entscheidende Rolle zu, die „in der Vermittlung zwischen der Erfahrung und der Bewertung eines emotionalen Ereignisses einerseits und in dessen Verarbeitung und Konsolidierung im Langzeitgedächtnis andererseits“ (Arnold 2002: 93) liegt. Die aktuelle Emotionsforschung baut wesentlich auf diesem Zusammenspiel auf, indem sie Emotionen an der Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen direkt beteiligt sieht (vgl. Marschollek 2002: 42ff, 52). 1.1.3 Wissenaneignung Wissen bezeichnet nach Opwis (1996: 376) kognitive und metakognitive Prozesse, die auf der Grundlage des Zusammenspiels mentaler Aktivitäten ablaufen und das Resultat von Denkformen (Schlussfolgern, Analysieren und Verstehen) darstellen. In der seinen Überlegungen zugrunde liegenden symbolorientierten Auffassung von Wissen erfolgen diese in Schemata, Frames und Skripts, die durch Propositionen verbunden sind und sich ab dem vierten Lebensjahr herausbilden. Vorher, d.h. ohne diese Repräsentationen, vermag der Mensch nicht von konkreten Situationen zu abstrahieren und metakognitives Wissen aufzubauen (Opwis 196: 380f), dem „bedeutende Kontroll- und Regulationsfunktionen bei allgemein-kognitiven sowie bei sprachlichen Verarbeitungsprozessen“ (Schwarz 2008: 164, vgl. auch Marschollek 2002: 37, auch in der Fremdsprachenforschung wird auf diese zwei Aspekte von Wissen referiert, vgl. R. Ellis 2006: 437) zugeschrieben werden. Neben diesen bewussten oder expliziten Zuständen werden unbewusste Vorgänge, die einen Großteil unserer mentalen Prozesse ausmachen (Lenk 2004: 358), gespeichert: Darunter fallen einmal vorbewusste und subliminale Wahrnehmungen, Gegebenheiten, auf die unsere Aufmerksamkeit nicht gelenkt ist, Automatisierungen von Handlungsabläufen sowie aus dem Bewussten „Verdrängtes“. 7 Diese automatisierten bzw. impliziten Prozesse werden als „flache“ 7 Diese Vorgänge decken sich z.T. mit dem prozeduralen Wissen, einem weitaus schillernden Konzept. Opwis (1996: 373) versteht darunter „handlungsbegleitende Kognitionen“. In dieser Bedeutung wird der Begriff auch in der Fremdsprachendidaktik (vgl. Hallet 2006: 41) sowie in der Kognitiven Linguistik (vgl. Schwarz 2008: 43) gebraucht, im Unterschied zu seiner Verwendung in verschiedenen psychologischen Theorien, die das Konzept merklich auf automatisierte motorische Prozesse (Autofahren, Schnürsenkel schnüren etc.) einengen, worunter auch unbewusste Lernvorgänge, die nie Zugang zum Bewusstsein hatten (vgl. Edelmann 2000: 115), fallen. <?page no="27"?> 27 Informationsverarbeitung bezeichnet. Man kann davon ausgehen, dass ähnliche Eingabemuster eine größere Wahrscheinlichkeit der Weiterleitung haben und dass deren Konsolidierung über ihre wiederholte Aktivierung erfolgt (Lenk 2004: 69, Pospeschill 2004: 157, 179). Sie werden durch Übung eingeschliffen und laufen, einmal automatisiert, nicht mehr bewusst ab. Veränderungen an ihrem Ablauf anzubringen, ist insofern schwierig, als dass sie sehr solide verankert sind und vor allem in Hirnarealen vorkommen, zu denen das Bewusstsein nur beschränkt und unter großer Anstrengung Zugriff hat, ein Beispiel hierfür sind die sogenannten Fossilisierungen im Zweit- und Fremdsprachenerwerb (vgl. de Bot 2008: 17f, Long 2003). Vom Lernpsychologischen her wird hierbei nicht inhaltlich gelernt und insofern nur begrenzt an das Vorwissen angekoppelt (Edelmann 2000: 166). Für diese einfachen oder auch mechanischen Prozesse sind das Mustererkennen und die Wiederholung somit ein wichtiger Konsolidierungsfaktor. In Anlehnung daran sprechen wir vom impliziten Lernen, wenn Regelwissen erworben wird, ohne dass dieses erlernte Wissen benannt werden kann. Hier gilt umso mehr: „Reaktivierung ist der große Meister des Lernens“ (Lenk 2004: 73), allerdings erfordert der Aufbau von impliziertem Regelwissen ausdauernde Übungsphasen und ist sehr langwierig (Zimmer 1997: 17, auch Perrig 1996). Für die langsameren und energieaufwändigeren Prozesse expliziten Lernens ist weniger mechanisches Üben erforderlich. Diese Vorgänge werden nicht eingespielt und sind darüber, dass sie sich sprachlich mitteilen lassen, leichter veränderbar. Roth geht davon aus, dass diese Art von Bewusstseinszuständen nur dann ausgelöst wird, wenn es sich um wichtige und neue Geschehnisse handelt, nur dann wird das Bewusstseins- und Aufmerksamkeitssystem in Betrieb gesetzt: Dies setzt ein unbzw. vorbewusst arbeitendes System voraus, welches alles, was unser Gehirn wahrnimmt, nach den Kriterien wichtig versus unwichtig sowie bekannt versus unbekannt klassifiziert. Dies geschieht durch einen sehr schnellen Zugriff auf die verschiedenen Gedächtnisarten. Sachverhalte, die unbewusst als unwichtig eingestuft wurden, treten entweder überhaupt nicht oder nur sehr oberflächlich in unser Bewusstsein, gleichgültig, ob sie bekannt oder unbekannt sind. Sachverhalte hingegen, die als wichtig und bereits bekannt klassifiziert wurden, führen zur Aktivierung von Verarbeitungsinstanzen, die sich bereits früher mit ihnen befasst hatten. (Roth 2003: 238f, Hervorhebung im Original) Als ein wesentliches Merkmal expliziter Gedächtnisvorgänge stellt Zimmer (1997: 14) die „Erinnerungsintention“ der Versuchsperson heraus. Ein weiterer Faktor, der nachhaltig auf das Gedächtnis einwirkt, ist die Handlungsausfüh- <?page no="28"?> 28 rung. Nachweislich verbesserten sich darüber implizite, aber auch explizite Gedächtnisleistungen (Zimmer 1997: 17). Vor dem Hintergrund neurobiologischer Forschungen war man bis in die 1990er Jahre davon ausgegangen, dass sich das Fremdsprachenlernen auf die Zeit bis zur Pubertät konzentriere und mit der Spezialisierung beider Hirnhälften abgeschlossen sei. Heute wird dagegen vorwiegend die These vertreten, dass das menschliche Gehirn das Potenzial seiner lebenslangen Plastizität nicht verliert und es sich aufgrund individualgeschichtlicher Bedingungen unterschiedlich weiterentwickelt (vgl. Grotjahn/ Schlak 2010, List 2005: 418, Roth 2003: 175ff), was darauf schließen lässt, dass Lernen noch bis ins Alter möglich ist. Allerdings scheinen hier bestimmte Bereiche favorisiert. Die Tätigkeiten des Arbeitsgedächtnisses (vgl. Baddeley 1986, Baddeley/ Hitch 1974, Just/ Carpenter 1992) mit Sitz im Frontalkortex nehmen nachweislich ab dem 20. Lebensjahr ab. Seine begrenzte Speicherkapazität kann durch lautes und häufiges Aussprechen der zu behaltenden Informationen aber potenziert werden, auch ohne dass den Wörtern eine Bedeutung unterliegen muss (Zimmer 1997: 20), es kann hier sogar durchaus eine erste Bearbeitung stattfinden und dem Vergessen entgegenwirken (Edelmann 2000: 168 mit Verweis auf Craik/ Lockhardt 1972). Für kürzeste Zeit werden hier unbewusst und bewusst arbeitende Systeme zusammengebracht und kurzfristig verfügbar gemacht. In dem Bereich kurzzeitiger Speicherung werden darüber hinaus auch Wahrnehmungen registriert, die dem Bewusstsein zwar zugänglich, aber nicht explizit sind; dieses Halbbewusste kann bei Bedarf abgerufen werden. Lenk führt als treffendes Beispiel den letzten Glockenschlag an, von dessen expliziter Wahrnehmung wir auf die bereits gehörten Glockenschläge schließen (Lenk 2004: 342, auch 350, 353). Dieser letzte Schritt von der sensorischen Erregung zur bewussten Sinneserfahrung bedarf allerdings eines größeren Energieaufwands (Lenk 2004: 312). Das vom Hippocampus organisierte bewusstseinsfähige deklarative Gedächtnis hingegen verliert erst ab dem 45. Lebensjahr an Kapazität. Routine und Erfahrung können dem aber entgegenwirken (Roth 2003: 175ff). In Bezug auf den Altersfaktor im Bereich des Fremdsprachenerwerbs ist der aktuelle Forschungsstand keinesfalls eindeutig oder einheitlich; zunehmend kommen Zweifel an allgemeingültigen Aussagen auf (Boeckmann 2008: 7, Götze 1997: 10, List 2003: 28, auch Holder 2005: 104, dagegen Wartenburger 2006 als Befürworterin der „kritischen Phase“ im Sinne nativistischer Theorien). Diverse Studien belegen, dass muttersprachliches Niveau in einzelnen Teilkompetenzen durchaus auch im Erwachsenenalter erreicht werden kann. Zumindest scheint also die Hypothese einer kritischen Phase in Übereinstimmung mit der kortikalen Lateralisierung überwunden (Grotjahn/ Schlak 2010: 873), dagegen lassen sich in den Studien zahlreiche - allerdings in Abhängigkeit von diversen <?page no="29"?> 29 anderen Faktoren - kritische Phasen im Bereich der Aussprache und der Syntax belegen, worauf noch gesondert eingegangen wird. Das Alter kann daher in der Fremdsprachenforschung nur als Komponente im Zusammenhang mit anderen Faktoren gesehen werden, denen Erwachsene in verstärkter Form im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen ausgesetzt sind (DeKeyser/ Juffs 2005: 446, vgl. auch DeKeyser 2003: 334f), wie Dörnyei (2009: 236ff) u.a. an seinem eigenen Fall anschaulich illustriert. Neben individuellen Merkmalen, der Häufigkeit, Art und Intensität von Kontakten mit der Fremdsprache, den Ähnlichkeiten/ Unterschieden zwischen L1 und L2 usw. ist wohl entscheidend, ob der Erwerb im unterrichtlichen oder außerunterrichtlichen Kontext stattfindet (Dörnyei 2009: 249f, Grotjahn/ Schlak 2010: 867f). 1.2 Language (Learning) Awareness Die Rolle, die dem Bewusstsein beim Fremdsprachenerwerb zugeschrieben wird, unterliegt stark den Strömungen, die interdisziplinär die Forschungslandschaft durchziehen, wie sie in ihren Thematiken und Tendenzen bereits angesprochen wurden. War in der Hochzeit audiolingualer und audiovisueller Methoden kognitive Eigenleistung verpönt, und stand nachahmendes Lernverhalten hoch im Kurs, so gelangte nach dem Abebben des behavioristischen Lernparadigmas die Dimension „Bewusstsein“ erst wieder Ende der 1980er Jahre zu wirklicher Bedeutung 8 , sie erwuchs förmlich aus einer Weiterentwicklung der handlungsorientierten Unterrichtsansätze, deren funktionale Ausrichtung kognitive Tätigkeit zwar keinesfalls ausgeklammert, zunächst aber auch nicht besonders stimuliert hatte. Ins Zentrum des Interesses rückte das Konzept der Language (Learning) Awareness mit den Merkmalen einer kognitiven Ausrichtung des Fremdsprachenlernens. Eigentlich hat die Forderung nach Language Awareness ihren Ursprung in der britischen Sprachdidaktik der 1960er und 1970er Jahre, die an einer Kritik des dortigen Mutter- und Fremdsprachenunterrichts ansetzt und auch gesellschaftliche Implikationen enthält (vgl. Hawkins 1984, James/ Garrett 1991). In Deutschland wurde dieses Konzept unter der aufkommenden Kritik am „Kommunikativen Ansatz“, dem man - inwieweit zu Recht sei dahingestellt (vgl. Königs 2001: 267) - die spärlichen Ergebnisse im institutionalisierten Fremdspracherwerb anlastete, verstärkt mit kognitivierenden Verfahren gefüllt und zunächst weniger im Rahmen fächerübergreifender (schul-) politischer Themen diskutiert (vgl. Gnutzmann 1997: 227ff, Gnutzmann 2003: 336). In Bezug auf die methodischen und didaktischen Implikationen muss 8 Chaudron (2001: 62) weist in seiner forschungstheoretischen Übersicht über „oral classroom instruction“ auf die ersten Anzeichen einer Wende in den ausklingenden 1960er Jahren hin. <?page no="30"?> 30 unterstrichen werden, dass hiermit kein Plädoyer für die Grammatik-Übersetzungsmethode Hand in Hand geht, sondern unter Kognitivierung die Förderung eines bewussten und vor allem individuellen Zugangs zur Fremdsprache und zu den fremdsprachlichen Lernprozessen verstanden wird (Morkötter 2005: 28ff), d.h., die kognitive Ebene orientiert sich an dem Lerner, seiner Erfassung der Fremdsprache, seinen Methoden sowie an seinen Bedürfnissen gegenüber dem Lerngegenstand. 9 Diese in den 1990er Jahren zunehmende Tendenz, die Aufmerksamkeit auf die Bewusstseinsebene zu lenken, hat der Fremdsprachenforschung und -didaktik wichtige Impulse gegeben und nachhaltig das Lerner-, aber auch das Lehrerbild und damit den Unterricht geprägt. So fußt das Konzept der Lernerautonomie auf der Fähigkeit, selbstbewusst das eigene Lernen zu steuern, so wie es vom Lehrer weniger Führung und mehr Beraten abverlangt. Die Konzeptualisierung und Einrichtung von kursbegleitender und externer Sprachlernberatung entstehen im Rahmen dieser Entwicklung; in den Unterricht werden Reflexionsphasen eingefügt, und Lerntipps werden zum festen Bestandteil vieler Lehrwerke. Das zunehmende Interesse an dem Thema zeigt sich in der 1992 gegründeten Association for Language Awareness und in dem gleichzeitigen Erscheinen der Zeitschrift Language Awareness. Das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts steht sicher im Zeichen der Kognitivierung des Fremdsprachenunterrichts. Der methodische Rückgriff auf bewusste oder potenziell bewusst zu machende Vorgänge wurde aber bereits schon in den Jahren seiner Entstehung durch verschiedene Gegenstimmen gezügelt. Einmal erging schon recht bald der ernüchternde Verweis, dass es für die instrumentelle Funktion von Bewusstheit an empirischen Belegen mangele (Gnutzmann 2003: 338, Knapp-Potthoff 1997: 14f, s. auch House 1998: 90f). Auch sei beim Umgang mit den Bezugswissenschaften - und daraus schöpft das Awareness-Konzept - doch zumindest Vorsicht geboten, so Königs (1998: 107; auch Raupach 1998: 146). Des Weiteren lässt sich die starke Gewichtung kognitiver Fertigkeiten nicht immer so widerspruchslos mit der Lernerorientierung verbinden. Zu diesem Zweck versucht Knapp-Potthoff der Kognitionslastigkeit mit einem verstärkten Blick auf den Lernenden Einhalt zu gebieten, an dem der Einflussgrad von Bewusstsein konkret nachzuweisen sei (Knapp-Potthoff 1997: 17). Grundsätzlich aber bleibt die Frage unbeantwortet, ob Sprachwissen automatisiert werden kann und damit zu einer besseren Fremdsprachenperformanz führt, sowie es auch umgekehrt keinesfalls geklärt scheint, inwiefern und unter welchen Bedingungen implizit Ge- 9 In dem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass der Begriff „awareness“ nicht immer mit bewussten Zuständen gleichgesetzt wird, worauf Gnutzmann hinweist (2003: 336). Da dieser aber in seiner Ausdehnung auf die Intuition selten vorkommt, wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter darauf eingegangen. <?page no="31"?> 31 lerntes durch Bewusstmachung korrigierbar ist (vgl. N. Ellis 2005: 306ff, Gnutzmann 2003: 338, House 1997: 70). Die diesbezügliche Debatte, bei der auf der einen Seite der Standpunkt verteidigt wird, dass mögliche Übergänge zwischen den unterschiedlichen Verarbeitungsformen nicht möglich seien (non-interface position), während die andere Seite die Meinung vertritt, dass explizites in implizites Wissen überführt werden kann (weak und strong interface position), erhitzt seit dreißig Jahren die Fremdsprachenerwerbsforschung (vgl. dazu u.a. DeKeyser 2003, Dörnyei 2009: 159ff), wobei die anfänglich schwächere Non-interface-Position durch die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse gestärkt wurde (vgl. de Bot et al. 2005: 62ff). Von einer beidseitigen Interaktion zwischen implizit und explizit geht N. Ellis aus und prägt dafür den Begriff „dynamic interface“ (N. Ellis 2005: 325). 10 Auch er begründet diese Dynamik neurowissenschaftlich: By forming unitized memory representations, the hippocampal region performs the information-processing function of forming pattern-recognition units for the new stimulus configurations and of consolidating new bindings; these are then adopted by other brain regions in the neocortex, where they subsequently partake in implicit tuning (Gluck, Meeter, & Meyers, 2003; O´Reilly & Norman, 2002). (N. Ellis 2005: 318) Dies bedeutet, dass die beiden Handlungskreise miteinander in Berührung kommen und so ein Kontinuum entsteht, bei dem ein verstärkter und kontinuierlicher in- und output mit dem bewussten Aufbau von Handlungsmustern verflochten ist (vgl. DeKeyser 2001: 127, DeKeyser 2007: 107, Robinson 1997a: 81), was den „günstigen Umständen“ (List 2002a: 129) entsprechen würde, unter denen tendenziell heute in der Fremdsprachenerwerbsforschung von einer möglichen Automatisierung expliziten Wissens ausgegangen wird. Als theoretische Grundlage für diese Top-down-Prozesse dient meist das besprochene ACT- R Modell Andersons, mit seiner Mischung von symbolorientierten und konnektionistischen Repräsentationen, während die Erklärungsmodelle für implizite vs. explizite Lernvorgänge vorrangig auf „rein“ konnektionistische Beschreibungssysteme rekurrieren, wie z.B. Logans Instanztheorie (1988), den Ansatz von 10 Auf der Grundlage eines zweigleisigen Modells der fremdsprachlichen Aneignung stand bereits sein Versuch einer Theorie zum Wortschatzerwerb (N. Ellis 1994a/ b/ c), nach der die formale, d.h. bildliche sowie lautliche, Erfassung des Wortes implizit verlaufe, während die semantische Verarbeitung explizit sei. Börner (1997) meldete Zweifel bezüglich einer solchen Zweiteilung an und belegte u.a. beim Vokabelerwerb eine Mischung von impliziten und expliziten Lernprozessen. Auf morphologisches Wissen bezieht sich dagegen die These, dass die regelmäßigen Formen im englischen past tense durch das Anhängen von der Endung -ed infolge einer bewussten Regelanwendung gebildet werden, während der Lernende die unregelmäßigen Formen des simple past einfach als Vokabel abruft (N. Ellis 2001: 55, Ellis/ Collins 2009, vgl. Robinson 1997b: 228, s. 3.3.3). <?page no="32"?> 32 Palmeri (1997) oder das Competition Model bzw. das Unified Model von MacWhinney (2008), der den Aufbau von L2 über Transferleistungen aus der L1 beschreibt. 11 All diese Zugänge gehen davon aus, dass der Erwerb kognitiver skills auf einer massiven Anwendung in der Praxis beruht (De Keyser 2001: 133f), worüber neue Nutzungsmuster instanziert und alte gestärkt werden und wie dargelegt Wissen im konnektionistischen Sinne entsteht. In der neueren Tendenz hybrider Verarbeitungssysteme (vgl. Cleeremans 2003: 496) steht das Usage-based Model von Abbot-Smith und Tomasello (2006), das - allerdings in Bezug auf die Syntaxaneignung bei Kindern - über die Zunahme der items, mit denen das Kind in Berührung kommt und als Beispiele speichert, zu dem Aufbau von Schemata gelangt und damit den Weg von konnektionistischer Spurenlegung zu einer symbolorientierten Kategorisierung konzeptualisiert. 12 Kommen wir zurück zum Awareness-Konzept. Auch auf der Forschungsebene ergeben sich weitere Schwierigkeiten bei der Festlegung des Gegenstandes, eines häufig zu breit gefächerten Begriffs (z.B. die fünf Dimensionen bei Pratt/ Grieves 1984, nach Fehling 2005: 47), der nicht nur bei der Verallgemeinerung von Ergebnissen ein Hindernis darstellt, sondern bereits bei der Definition des Forschungsgegenstands (vgl. Eckerth/ Riemer 2000: 228; Edmondson 1997: 89ff, Fehling 2005: 45ff, Marschollek 2002: 104ff, Morkötter 2005: 5ff), wobei das Fehlen einer standardisierten Begriffsebene im Deutschen den Umgang mit diesen Termini noch zusätzlich kompliziert. So übersetzen z.B. Eckerth (2003: 37) consciousness mit Bewusstheit und House (1997: 69) awareness mit Bewusstsein, während sich meist awareness für Bewusstheit eingebürgert hat (vgl. Gnutzmann 2003: 336, so auch in Fehling 2005: 46, Morkötter 2005: 39f, Lochtman 2002: 43). Erschwerend wirkt auch die äußerst problematische Erhebung von Daten, die über bewusste oder teilbewusste - in Abgrenzung zu unbewussten - Prozessen Auskunft geben sollen, die beim realen Lernen ineinandergreifen und sich daher auch nur schwerlich als getrennte Abläufe untersuchen lassen. 11 Dem Modell gegenüber wurde verschiedentlich Kritik laut (De Keyser 2007: 107) Unter anderem wegen seines undifferenzierten Umgangs mit der Fremdsprache: „These models deny any role for an innate cognitive architecture specific to language.“ (DeKeyser/ Juffs 2005: 443) 12 „[…] we must assume that the schema for that particular construction has been gradually strengthening for some time beforehand. If we think about this, this means that this schema must have been abstract in some sense for some time before that child demonstrated productivity with it. Indeed, if we take to its logical conclusion claims made by usage-based grammarians that an abstract schema is immanent in its instantiations (e.g. Langacker 2000), then a potential abstract schema is latent in the first few item-based constructions that share semantic and structural similarities.“ (Abbot-Smith/ Tomasello 2006: 283f) <?page no="33"?> 33 Und nicht zuletzt weist das kognitive Lernparadigma theoretisch einige Mängel auf. Zum einen geht es grundsätzlich davon aus (oder steht zumindest als Hoffnung im Raum), dass Bewusstmachung unmittelbare Folgen auf der Handlungsebene hervorbringe, nämlich in einem erhöhten Lernzuwachs. Die damit verbundene Folgebeziehung von Denken und Handeln ist aber brüchig - sicherlich nicht gradlinig, sie bedarf zumindest einiger Zwischenschritte - und als solche umstritten (vgl. Grotjahn 2005). Des Weiteren steht die Vernachlässigung der affektiven und motivationalen Dimension (Feyten et al. 1999: 31). Mag die emotionale Seite auch ursprünglich teilhaben an der Language Awareness (Fehling 2005: 47f), so ist dennoch gerade dieser Bereich erstaunlich wenig erforscht, bzw. es wird diesem vorwiegend auf der metakognitiven Ebene Beachtung gezollt (vgl. Morkötter 2005: 23). Die emotionale Komponente von Language Awareness beim konkreten Wissensaufbau, wie er z.B. Forschungsgegenstand im DESI-Projekt (Klieme et al. 2006) war, steht merklich im Hintergrund. Dies erstaunt in Anbetracht der Tatsache, dass das Zusammenspiel von kognitiven und emotionalen Faktoren zu den Grundpfeilern menschlichen Handelns gehört und damit zu den Grundfragen der Fremdsprachendidaktik. Folglich zieht sich die zyklisch wiederkehrende Kritik an einem vergeistigten und gefühlsarmen Fremdsprachenunterricht als roter Faden durch die Lehr- und Lerndebatten. Auch wenn für die Zweitsprachenforschung Schumann bereits 1994 festgestellt hatte: These observations support the view that affect and cognition are distinguishable but inseparable parts of a mutually interacting system in which each, in different ways, constrains the other and in which neither affect nor cognition can be said to be subordinate or dominant to the other. Thus, if one decides to analyze perception, attention, or memory mechanisms in SLA independently of affective mechanism, one is making a large simplifying assumption […].(Schumann 1994: 240, vgl. auch Dörnyei 2009: 222f). Und während Schwerdtfeger betonte, dass nunmehr keine Zweifel mehr an dem tiefen Zusammenhang beider Komponenten bestünden, stellte sie gleichwohl fest, dass die Fremdsprachenforschung wohl „hoffnungslos blind“ (sei), „dass sie festhält an einem reduzierten kognitiven Modell des Lernens“ (Schwerdtfeger 1997: 595), und Geisler und Hermann-Brennecke beklagten, dass sich immer noch Kognitionen im Gegensatz zu Gefühlen und Empfindungen eines „weitaus regeren wissenschaftlichen Zuspruchs“ erfreuten“ (1997: 81, s. auch Hermann-Brennecke 1998) und es zwischen beiden „keine Berührungspunkte zu geben“ (Geisler/ Hermann-Brennecke 1997: 83) scheine. <?page no="34"?> 34 Nachdem nun im Rahmen einer zunehmenden Kritik an dem kognitiven Lernparadigma im Laufe der 1990er Jahre verstärkt auf Umbesinnung gedrängt worden war, ist nun offenbar der anstehende generelle Paradigmenwechsel eingeleitet; zumindest gehört heute die ausschließliche Beschäftigung mit der (rein kognitiven) Bewusstseinsebene nicht mehr zu den vorrangig behandelten Forschungsthemen, während „das Verhältnis von Kognition und Emotion beim Sprachenlernen […] von großer Aktualität“ (Küster 2004: 7) ist. So gewinnt (fächerübergreifend) der wechselseitige Einfluss von Motivation, Affekten, Emotionen, Einstellungen und kognitiven Faktoren als Forschungsgegenstand an Bedeutung (Finkbeiner 1997, 2001, Hidi et al. 2004, vgl. auch Daniels et al. 2008, Rodriki Pedrides 2006, Schmalt 1996, Volet 1997), so dass auch in der Sprachwissenschaft ein Kognitionskonzept eingefordert wird, „das offen ist für emotionale Einflussgrößen“ (Schwarz-Friesel 2007: 10). Dazu haben einmal - wie gesagt - wesentlich die florierenden Neurowissenschaften beigetragen (Arnold 2002: 41), aber auch Ansätze in der Psychologie haben den Weg geebnet, wie sie z.B. von Frijda (1986, 1987) und Scherer (1990b, 1997) im Rahmen sogenannter Appraisal-Theorien entwickelt worden waren. Emotionen werden hier direkt an kognitive Bewertungen gebunden, womit ihnen ein Handlungscharakter zugeschrieben wird (D’Urso/ Trentin 2009: 85ff). Sie bleiben allerdings kognitiven Vorgängen untergeordnet: „Emotionsprozesse lassen sich ohne Berücksichtigung von Kognitionen und Motivation nicht einmal konzeptualisieren, geschweige denn erforschen“ (Scherer 1990b: 24). 1.3 Emotionsforschung Emotionen, Gefühle, Affekte, Empfindungen werden umgangssprachlich synonym verwandt, und mangelnde Sorgfalt in ihrem Gebrauch lässt sich sowohl in der psychologischen Fachsprache (vgl. Marschollek 2002: 51, Scherer 1990b: 29) als auch in der Fremdsprachenforschung feststellen (Hermann-Brennecke 1998: 53, Schwerdtfeger 1997: 589, eine Übersicht zum Forschungsstand bietet Ogasa 2011: 22ff). Hier überwiegt „Affekt“ als übergeordneter Begriff, dem sich sowohl Gefühle, Stimmungen, Emotionen als auch Bedürfnisse, Motivationen, Interesse unterordnen (Apelt/ Koernig 1994: 165; Geisler/ Hermann-Brennecke 1997: 79, Schwerdtfeger 1997). Wenn wir jedoch Bewusstsein vor dem Zusammenspiel einer emotionalen und kognitiven Dimension konzeptualisieren und zur Lernmotivation in Bezug setzen wollen, dann erscheint eine genauere Abgrenzung unumgänglich. Mit dem Hinweis auf psychobiologische, psychophysiologische, kognitivistische, lerntheoretische und psychoanalytische Modelle unterscheiden Battacchi et al. (1996: 15ff) diverse <?page no="35"?> 35 Ansichten darüber, was als Emotion zu definieren ist. Summierend stellen sie hierbei fest, daß Emotionen passagere, kurzandauernde Reaktionssyndrome darstellen, die durch ein bestimmtes Ereignis ausgelöst werden, einen deutlichen "Einsatz" haben sowie durch ein Auf- und Abklingen charakterisiert sind. (Battacchi et al. 1996: 28, auch Schwarz-Friesel 2007: 55) Emotionen haben einen „Verdichtungs- und Verankerungsbereich“ (Battacchi et al., s.o.) und sind damit - im Gegensatz zu Stimmungen - zielgerichtet (Schwerdtfeger 1997: 590, dazu auch Dörner/ Stäudel 1990: 332f, Scherer 1990b: 6). Auch wenn das emotionale System keinesfalls bewusst reagiert (Wernsing 2003: 81), lässt sich „eine Emotion als ein psychischer Gesamtzustand oder ein Gesamtprozeß, der kognitive Prozesse als Teile enthalten kann“ (Dörner/ Stäudel 1990: 319), definieren. Kognitive Merkmale sind also Bestandteil emotionaler Prozesse. Schwarz-Friesel grenzt gerade darüber den Begriff „Gefühle“ ein (Schwarz-Friesel 2007: 48), und in Anlehnung an Damasio bezeichnet Ogasa (2011: 94) Gefühle als den „bewusste(n) Teil der Emotionen“. Emotionen sind mehrdimensionale, intern repräsentierte und subjektiv erfahrbare Syndromkategorien, die sich vom Individuum ichbezogen introspektiv-geistig sowie körperlich registrieren lassen, deren Erfahrungswerte an eine positive oder negative Bewertung gekoppelt sind und die für andere in wahrnehmbaren Ausdrucksvarianten realisiert werden können. […] Die subjektiv erfahrbare Ebene der Emotionen ist die Ebene der Gefühle. Gefühle sind folglich subjektive Bewertungen introspektiv erfassbarer Emotionszustände. Damit diese Zustände introspektiv erfasst werden können, müssen sie bewusst als Repräsentationen erlebbar sein. Die bewusste Repräsentation setzt wiederum voraus, dass eine Form der Konzeptualisierung stattgefunden hat, und damit handelt es sich bei Gefühlen um kognitiv beeinflusste emotionale Zustände. Wenn wir also über unsere Angst, Freude, Liebe oder Sehnsucht sprechen, kodifizieren wir subjektiv und bewusst empfundene Gefühlszustände. (Schwarz-Friesel 2007: 55) Emotionen sind aufgrund ihrer vornehmlichen Verortung im limbischen System und ihrer direkten Koppelung an das vegetative Nervensystem nur sehr schwer zu beeinflussen und äußerst resistent, zu ihnen gehören die primär angeborenen und universell gleichen Emotionen. Auch die bewussten Gefühlszustände lassen sich nur mit großer Anstrengung kontrollieren, dennoch sind sie keinesfalls völlig unveränderbare Elemente des Langzeitgedächtnisses (Schwarz-Friesel 2007: 76, auch Hüther 2004: 30ff). Von Emotionen und Gefühlen abgegrenzt, sieht Schwarz-Friesel Empfindungen, die die Wahrnehmung eines bewussten inneren und äußeren Zustands des <?page no="36"?> 36 eigenen Ichs bezeichnen (Schwarz-Friesel 2007: 49). Wie schon Gefühle sind auch Empfindungen bewusst: Beide Erlebnisformen sind an das zugeschaltete Bewusstsein gekoppelt. Während aber Gefühlszustände und -prozesse mit kognitiven Inhalten verknüpft sind, involvieren Empfindungen eher elementarere, sensomotorische Erlebniskomponenten. Intensive emotionale Zustände können jedoch dazu führen, dass bestimmte Empfindungspotenziale, d.h. Wahrnehmungsreize der Umwelt, die den Organismus affizieren (können), nicht im Fokus des bewussten Erlebens stehen. (Schwarz-Friesel 2007: 50) Unter Affekt versteht sie dagegen einen intensiven emotionalen Zustand ohne bewusste, intentionale Erlebenskomponente, z.B. eine heftige Erregung, die wie ein Reflex nicht der Kontrolle des jeweiligen Menschen unterliegt (Schwarz- Friesel 2007: 52). 13 Schwerdtfeger (1997: 589) ordnet positive und negative Affekte allgemeinen menschlichen Zuständen wie Lust oder Unlust, Freude oder Schmerz zu, während Apelt und Koernig (1994: 165) als begrifflich übergeordnet „Affektivität als die Gesamtheit aller Komponenten des Fremdsprachenunterrichts“ vorschlagen, die in irgendeiner Form emotional den fremdsprachlichen Lehr- und Lernprozess beeinflussen. Die Bandbreite möglicher Komponenten umfasst allerdings - wie Abendroth-Timmer (2007: 63) kritisch anmerkt - eine Vielzahl von Faktoren, z.B. Interessen, die durchaus kognitiv mitbestimmt sind. In Anlehnung an Schwerdtfeger (1997) und Kieweg (2003: 4) eignen sich folglich „Emotionen“ besser als Oberbegriff, da „sich Emotionen im Gegensatz zu Affekten durch die diesbezügliche Bewusstheit des Individuums und sein Wissen über mögliche Handlungen auszeichnen“ (Abendroth-Timmer 2007: 64). Des Weiteren sind Emotionen dadurch stärker subjektiv markiert: [Es] können nur solche Ereignisse und Reize, die vom Organismus als wichtig für die wesentlichen Bedürfnisse und Ziele eingeschätzt werden, Emotionen auslösen. Ein wichtiges Bestimmungsstück von Emotionen ist somit die hohe Ich-Beteiligung, das „involvement“ des Organismus, aufgrund der hohen Bedeutung des Reizes oder des Ereignisses für die eigenen Ziele (auch wenn dies nur auf der subjektiven Einschätzung beruht) (vgl. auch Buck, 1985; Frijda, 1986). (Scherer 1990b: 6) 13 Roth berichtet in der Neurobiologie von unterschiedlichen Definitionen (2003: 292ff), die mitunter auch diametral der Definition von Schwarz-Friesel entgegenstehen. Gefühle werden hiernach in der Neurobiologie häufig an körperliche Zustände gebunden und entziehen sich infolgedessen dem bewussten Zugang. Ihnen werden auch die elementaren universalen Affektzustände zugerechnet. <?page no="37"?> 37 Manifest werden Emotionen nach Battacchi et al. (1996: 21f, vgl. auch D’Urso/ Trentin 2009: 9) in tonischen, instrumentell-motorischen, expressiv-motorischen und expressiv-sprachlichen Reaktionen sowie den subjektiven Erfahrungskomponenten. Zudem tragen Emotionen in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen zur Handlungssteuerung bei und besitzen eine intersubjektive Mitteilungsfunktion. So bereitet z.B. eine angespannte Körperhaltung auf eine Handlung vor, bzw. wehrt sie ab und signalisiert dabei der Umwelt diesen Zustand (Battacchi 1996: 24, in Anlehnung an Frijda 1986). Da Emotionen so „die Funktion haben, die Integration eines auf ein bestimmtes Spezialziel gerichteten Verhaltens in den Gesamtkontext der Lebensvollzüge eines Individuums zu gewährleisten“ (Dörner/ Stäudel 1990: 320), zollen Battacchi et al. dem handlungsmotivierenden Aspekt besondere Beachtung: […] gewisse Verhaltensweisen werden nicht getätigt, um lediglich einer Gefahr zu entrinnen, weil man Furcht empfindet. Die unangenehme Empfindung der Furcht gibt den Antrieb, sich Verhaltensmaßnahmen zu entsinnen, welche die Gefahr abwenden oder ihr zuvorkommen. (Battacchi et al. 1996: 25f) Zu überdenken ist daher die häufig vorgenommene Bewertung positiver Emotionen als optimal für Lern- und Denkprozesse, worauf ein Großteil der alternativen Methoden in den 1980er Jahren aufbaute (Schwerdtfeger 1997: 588, 1986). Sicher ist davon auszugehen, dass im Normalfall angstbesetztes Lernen (z.B. Sprechangst, Prüfungsstress, Aggressionen im Klassenzimmer usw.) den Erfolg drosselt (vgl. Ackerman 2003: 92) und dass derartig konnotierte Erfahrungen demotivieren und damit gemieden werden, doch werden simplifizierende Erklärungsmuster nicht immer der individuellen Handlungsebene gerecht: Anders [im Vergleich zur Freude, SH] ist das bei der Angst (s. Pekrun & Hofmann, Abb. 2). Hier gibt es sowohl klar positive wie auch klar negative Beziehungen zwischen Angst und aktueller Lernmotivation! Neben Personen, deren Lernmotivation steigt, je mehr sie angstfrei sind, gibt es solche, die bei steigender Angst sich besonders engagieren. (Rheinberg 1999: 200) Aber auch in Bezug auf die Gedächtnisleistung bedürfen Behauptungen wie: „positiv besetztes Wissen lässt sich besser behalten als solches, das neutral oder gar negativ ist“ (Geisler/ Hermann-Brenneke 1997: 88, auch Apelt/ Koernig 1994: 164), oder dass emotional positiv konnotierte Wörter schneller und leichter verfügbar sind als emotional negative, tabuisierte items (Schwarz 2007: 128, auch 116f), einer Revision. Neuere neurowissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass sich die Gedächtnisleistung aus der Intensität und Tiefe des Emotionalen speist und nicht auf seiner positiven Färbung beruht (s.o.). <?page no="38"?> 38 Zu fragen bleibt nun, ob der Einfluss von Emotionen auf die unterschiedlichen Bereiche des Fremdsprachenerwerbs vorwiegend von persönlichen Faktoren abhängig ist, oder ob die emotionalen Kanäle vorab die Beschreibungsebenen der Sprache emotional ungleich intensiv konnotieren. Auf der Grundlage des Sprachproduktionsmodells von Levelt (1989) halten Battacchi et al. (1996: 101) die emotionale Beeinflussung der lexikalischen und phonologischen Enkodiermechanismen für durchaus denkbar, während sie einen Einfluss auf die syntaktisch-grammatischen Enkodierungsprozesse ausschließen (ebd.: 98). Diesbezüglich lassen sich weitere Anhaltspunkte in jüngsten neurowissenschaftlichen Untersuchungen zur Verarbeitung unterschiedlicher linguistischer Information finden, nach denen Emotionen stärker bei der sensomotorischen Wahrnehmung und kognitiven Verarbeitung niederer Ordnung zu wirken scheinen, sie seien aber auch bei den sukzessiven Schritten höherer Ausdifferenzierung beteiligt (vgl. List 2005: 420). Unterstrichen wird auch, dass das Erwerbsalter und die Sprachkompetenz diese Ergebnisse nachweislich modulieren können, d.h., dass die zunehmende Erfahrung mit der zu lernenden Sprache zu Veränderungen bis in die Tiefe der Wahrnehmungsmuster führen kann (vgl. Mueller 2005, Rüschemeyer 2006). Offensichtlich ist, dass die Emotionen ihre Befreiung aus der subalternen Stellung wesentlich den Neurowissenschaften zu verdanken haben, durch deren Erkenntnisse ihre Stellung maßgeblich aufgewertet wurde und sich das Kräfteverhältnis geradezu umgekehrt hat: Neu dabei ist, dass Inhalte nicht, wie bisher angenommen, durch erhöhte Aufmerksamkeit, häufiges Wiederholen oder vertieftes Nachdenken behalten werden, sondern dass sich emotionale Reaktionen, die durch erregende Ereignisse ausgelöst werden, auf Gedächtnisleistungen insofern auswirken, da sie die Gehirnprozesse beeinflussen, die für die Speicherung von Gedächtnisinhalten verantwortlich sind. Emotionen können demnach direkt die Stärke von Lernprozessen unmittelbar während der Aufnahme steuern. (Arnold 2002: 87) Emotionen prägen demnach die Art und Tiefe der Wahrnehmung (input), die Verarbeitung und Erinnerung von Informationen (intake) und deren Abrufen (output) (vgl. Ogasa 2011: 15ff). Sie sind geistigen und motorischen Lernaktivitäten zeitlich sogar vorgelagert (vgl. Arnold 2002: 41). Auch wenn das Zusammenspiel von Kognitionen und Emotionen damit neue Konturen annimmt, bleibt es weiterhin das vorrangig behandelte Forschungsthema (Dörnyei 2009: 222). Zur Erklärung werden gegenwärtig die drei verschiedenen Funktionsebenen des limbischen Systems herangezogen, deren Verhältnis vertikal ist, d.h. die oberste, bewusste wird von den unteren beeinflusst, während sie selbst auf die beiden unteren Stufen weitaus weniger einwirken kann (Ogasa 2011: 100, in <?page no="39"?> 39 Anlehnung an Roth 2003: 373ff). Von dieser Interaktion hängt auch ab, woran und wie wir uns an etwas erinnern. Deutlich zeigt sich die Abhängigkeit der einschlägigen Forschung von neurobiologischen Studien auch in der Konzentration auf die negativen Emotionen (Dörnyei 2009: 221). Dies ist wahrscheinlich auf die anfängliche Annahme zurückzuführen, der zufolge die Amygdala ausschließlich für Angstzustände verantwortlich sei. Zu positiven Emotionen, die − wie jüngste Untersuchungen nahelegen − wohl auch in den Funktionsbereich der Amygdala fallen (s.o., vgl. Arnold 2002: 95f), gibt es nicht nur auffallend wenige Studien, sondern auch deutlich weniger Beschreibungskategorien. Und doch müsste der Freude, die zu den primär angeborenen und universell gleichen Emotionen zählt (vgl. hierzu Ekman 1997, 1988, 2003, aus Schwarz 2007: 58, auch in Roth 2003: 292f), gerade im Unterrichtskontext größte Aufmerksamkeit gelten. So schreiben die Lernenden in der Studie von Ogasa der Freude Auswirkungen auf ihren Lernprozess zu, indem diese die Konzentration und das Selbstbewusstsein fördere (Ogasa 2011: 167, 173, 191, vgl. auch Hoffmann 2012). Angesichts dieser Überlegungen sind bei der Erforschung des Bewusstseins, im Sinne eines Zusammenspiels von kognitiven und emotionalen Kenntnisstrukturen mit motivationaler Innervierung (vgl. Dörnyei 2009: 224f, dazu auch Dai/ Sternberg 2004), höchst komplexe Forschungsanlagen nötig, die dem Umstand Rechnung tragen, dass sich Emotionen im nonverbalen Ausdruck, in körperlichen Zuständen und in verbalen Repräsentationsformen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 57) äußern. Ansätze und Vorgehen dieser Art stellen allerdings in der Sprachwissenschaft (vgl. Moroni et al. 2010: 34f), aber auch in der (empirischen) Fremdsprachenforschung eine Seltenheit dar. Im Forschungsbereich DaF sollen in diesem Zusammenhang die Studie von Fischer (2006) zu den Sprechhemmungen italienischer Deutschlernender oder die Untersuchungen zu rezeptionsspezifischen Lernprozessen in ihrer Verschränkung von Kognition und Emotionen von Fäcke (2004) und Finkbeiner (1997, 2001), die bereits mehrfach zitierte Ogasa (2011) und Hoffmann (2009b, 2012) erwähnt werden. 1.4 Verschiedene Bewusstseinsstufen - verschiedene Handlungsproblematiken 1.4.1 Implizites, inzidentelles und unbewusstes Lernen Most knowledge is tacit knowledge; most learning is implicit; the vast majority ofaour cognitive processing is unconscious. (N. Ellis 2005: 306, auch de Bot et al. 2005: 51) <?page no="40"?> 40 Im Zuge funktional-biologischer Ansätze gewinnt das implizite oder auch inzidentelle Lernen an Bedeutung. Das vorangestellte Zitat von N. Ellis spiegelt darin eine in der aktuellen Fremdsprachenforschung vorherrschende Auffassung wider. Das war nicht immer so: Während der implizite Erwerb für behavioristische Ansätze die Grundvoraussetzung stellte, schenkte man ihm in Lerntheorien, die auf dem bewussten Management der eigenen Lernressourcen aufbauen, nur geringe Aufmerksamkeit. Das wiedererwachte Interesse am unbewussten Einspielen von Lerneinheiten gewinnt in der aktualempirischen Forschung an Bedeutung und stellt seit den 1990ern bis heute, in der gegenwärtigen Lernpsychologie, „eine besondere Herausforderung“ (Perrig 1996: 204) und den häufigsten Forschungsgegenstand dar. Ungeachtet der Tatsache, dass kaum eine Lerntheorie sich nicht in irgendeiner Form mit dem Thema beschäftigt und es reinterpretiert hat (vgl. Übersicht in Hulstijn 2003), gehören implizite Lernvorgänge, „invariably defined by the absence of consciousness or awareness“ (Rheingold/ Ray 2003: 482, tabellarische Gegenüberstellung zum expliziten Lernen in R. Ellis 2005: 151), zu unserer tagtäglichen Erfahrung und unserem Alltagswissen. In Abgrenzung zum „impliziten Gedächtnis“, das über ein Verhalten erschlossen wird, dem kein bewusster Erinnerungszustand zugrunde liegt, bezeichnet „implizites Lernen“ die Verhaltensänderung (Perrig 1996: 212). Beim „impliziten Wissen“ liegt der Fokus auf dem Bestand von mentalen Repräsentationen. Alle drei Termini beschreiben verschiedene Phasen des Aneignungsprozesses bzw. beleuchten andere Aspekte davon. Größere Unterschiede lassen sich bei der Unterscheidung zwischen „implizit“, „inzidentell“ und „unbewusst“ feststellen. 14 Auch wenn die ersten beiden Begriffe häufig undifferenziert benutzt werden, unterstreicht Hulstijn (2003: 368) ihre grundsätzlich unterschiedliche Bedeutung. Vereinfachend ließe sich incidental als ein Lernen definieren, bei dem im Vorfeld keinerlei Indikationen auf zu erreichende Ziele gegeben werden. Hingegen lösen z.B. spezifische Fragen zu einem Lesetext Fokussierungsprozesse aus; das Gleiche gilt für die Bekanntgabe eines anschließenden Vokabeltests. Beim inzidentellen Lernen wird als „by-product“ (Hulstijn 2003: 271) etwas mitgelernt, wobei in der einschlägigen Literatur umstritten ist, ob und wie hoch der Lernwert hierbei anzusetzen ist; auch wird betont, dass ein derartiges Aufnehmen ohne Weiterverarbeitung durch Anwendung und Diversifizierung (z.B. durch gezielte Aufgabenstellung) nur geringfügigen Lernerfolg hervorbringt. Das implizite Lernen umfasst demgegenüber weitaus mehr als das Wissen um eine Absicht, die hinter der Lern- 14 Der Vielzahl alternativer Begriffe liegt nach Rheingold/ Ray (2003: 481) die Abwehr der experimentellen Psychologie gegenüber dem wissenschaftlich nicht erfassbaren Begriff „unbewusst“ zugrunde. <?page no="41"?> 41 handlung steckt. Oft wird der Terminus mit allgemein unbewusstem Erwerb gleichgesetzt, was allerdings nur teilweise berechtigt ist, denn „implizit“ schließt vor allem in den letzten Jahren zunehmend das im Rand- oder Vorbewusstsein Wahrgenommene mit ein (vgl. Reingold/ Ray 2003: 482). Ob dabei auch erste Stufen von Aufmerksamkeit beteiligt sind, gehörte bereits zu den Debatten des 18. Jahrhunderts (s.u.). Naheliegend wird eine solche Vorstellung vor dem Hintergrund konnektionistischer Modelle, die Aufmerksamkeit in der Selektion durch Bahnung und Hemmung auf der Wahrnehmungsebene definieren (Neumann 1996: 621ff, auch in Perrig 1996: 222ff). Mit Rückgriff auf neurowissenschaftliche Beobachtungen differenziert Nardi (2006) die zwei Richtungen, die das Lernen von Deutsch als Fremdsprache einschlagen kann: die Speicherung von explizitem und damit abrufbarem Wissen und dessen implizite Aufnahme und Automatisierung. In ihren Ausführungen vermeidet sie in Anlehnung an (den frühen) Schmidt (1994a: 16; vgl. hierzu auch Hulstijn 2003: 361; Lochtman 2002: 41f) die Gleichsetzung von „implizit“ mit „unbewusst“. „Implizit“ bedeutet für Schmidt (s.u.), dass etwas unbeabsichtigt mitgelernt wird, während das Hauptlernziel etwas anderem gilt. Das heißt aber nicht - wie oben schon erwähnt -, dass es unbewusst und unaufmerksam geschieht. Auf diese Unterscheidung verweist auch List: Das häufig verwendete Unterscheidungskriterium zwischen implizitem und intentionalem Lernen, die abwesende oder bewusst eingesetzte Aufmerksamkeit nämlich (Reber 1989), scheint also nicht scharf genug zu trennen. Auch im Falle des inzidentellen Lernens kann Aufmerksamkeit durchaus im Spiele sein, nur gilt sie dann nicht unbedingt dem angezielten Endpunkt, sondern umliegenden Parametern der Situation oder auch der Teilaktion auf dem Weg zu einem Ziel, das als solches nicht unbedingt bekannt oder gar unmittelbar im Blick sein muss. (List 2002a: 124) Während dieses implizite oder inzidentelle Lernen typisch für das Kindesalter ist, geht eine solche Form der Aneignung im Alter zurück, und der Beitrag, den das Bewusstsein am Lernprozess sowohl auf der metakognitiven als auch auf der kognitiven Ebene leistet, nimmt zu (List 2002a, 2003, 2005; auch DeKeyser 2003: 336; Nardi 2006: 24f, Klein 1995: 455): „Adults do not replicate children’s behavior“ (Carroll/ Swain 1993: 364). Dafür ist neben der weiter unten von List angesprochenen ersten Bahnung im Kindesstadium auch die im Erwachsenenalter nachlassende Funktionstüchtigkeit der Zellen verantwortlich, auf die automatisch ablaufende Vorgänge supervenieren (s.o.). Daher bindet List die Begriffe „inzidentell“ und „implizit“ an unterschiedliche Entwicklungsstufen, indem sie „implizit“ dem unkontrollierten Lernen im Kindesalter vorbehält, das in dieser Form nicht auf das erwachsene Sprachenlernen zu übertragen ist: <?page no="42"?> 42 Das Lernen weiterer Sprachen geht einen hiervon grundsätzlich verschiedenen Weg, weil es bereits auf herangebildeter Sprachkompetenz, wie immer fortgeschritten, aufbaut. Implizite Lernvorgänge von Grund auf, also ein Aufbau prozeduralen Wissens im eigentlichen Sinne, sind wegen der bereits hergestellten kortiko-subkortikalen Kreisläufe nicht mehr in der gleichen Weise möglich. (List 2002a: 129, Hervorhebung im Original). Diese begriffliche Zuweisung von „inzidentell“ anstelle von „implizit“ als Gegenstück zu bewussten und intentionalen Lernprozessen im Erwachsenenalter hat allerdings in der Fremdsprachenforschung nur begrenzt Wirkungskraft gezeigt. Vor allem in der umfangreichen angloamerikanischen Forschung, die sich verstärkt mit dem implizitem Fremdsprachenerwerb befasst hat, überwiegt allgemein der Begriff „implizit“ (z.B. N. Ellis/ Collins 2009, VanPatten/ Cadierno 1998, vgl. DeKeyser 2003). Wenn auch „implizit“ der neuere dieser Begriffe ist, hat er sich doch am erfolgreichsten durchgesetzt (Reingold/ Ray 2003: 481). Aus subjektwissenschaftlicher Sicht dagegen kennzeichnet „inzidentell“ ein Mitlernen im Unterschied zu intentionalen Lernprozessen, d.h. ein Sich-Lösen von Handlungsanforderungen, bei denen keine bewusste Übernahme zur Lernproblematik stattgefunden hat (Holzkamp 1995: 493). In diesem Sinne wird es als unproblematisch bezeichnet: Der Lernende ist nicht dazu animiert, einen Lerngegenstand tiefer zu ergründen, da dieser nicht als widerständig erfahren wird und insofern auch nicht zur Durchdringung reizt. So siedelt sich Mitlernen auf einer Art Vorstufe zum eigentlichen Lernen an. Des Weiteren geht Holzkamp davon aus, dass jegliche Form von automatisierten bzw. routinierten Lernhandlungen - wenn auch nicht immer offenkundig - in dem eigenen Lernziel begründet ist (Holzkamp 1995: 315f). Damit stimmt er mit der vorherrschenden Definition überein, dass inzidentelles Lernen nicht generell unaufmerksam ist oder gar unbewusste Aneignung bedeutet. Der Unterschied zwischen explizit und implizit liegt auch für ihn in der Aufmerksamkeitsfokussierung, durch die der Gegenstand in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Lernzusammenhang für den Lernenden bedeutsam und damit der Beachtung wert erscheint. Allerdings sieht er darin ein begründetes Verhalten, d.h., er liefert der Handlung eine Bezugsebene: Beachtung findet nur das, was für den Lernenden von subjektivem Interesse ist. Hinweise auf implizite Lernprozesse finden sich vermehrt in der Textrezeptionsforschung, wo sie sich auf einer ersten Ebene beim Mitlesen von Wörtern äußern, das auf der visuellen Wahrnehmung der Wortform, des Wortkörpers beruht. Hier ist auch das Wiedererkennen im Sinne von Mustererkennen möglich, ohne dass explizit Bedeutungskategorien aufgebaut werden (zu der Trennung von dem visuellen Kanal und den sprachlichen Verarbeitungssystemen vgl. Schwarz 2008: 97, 223). Zusätzlich <?page no="43"?> 43 helfen intralinguale, interlinguale und extralinguale Hinweise, den Sinn auf der Textebene zu erschließen. Allerdings kommt es dabei nicht, wie Rieder (2002) mehrfach betont, zum Erwerb im Sinne von einer Verarbeitung und entsprechender Speicherung im Langzeitgedächtnis. Die Wörter werden nur in dem Maße perzipiert, wie es für die Texterschließung notwendig ist (Rieder 2002: 22), sie verharren sozusagen in einem Randbewusstsein (s. 3.3.3). Zu einem wirklichen Lernvorgang kommt es offensichtlich nur über die Verarbeitung der Wortbedeutung: „Da der Fokus des Lesers primär auf der Textbedeutungsebene liegt, bewegt sich der Erschließungsprozess auf der Ebene des mentalen Modells der Textbedeutung und nicht auf der Denotationsebene. Um überhaupt lexikalisches Bedeutungswissen aufzubauen, ist demnach ein zusätzlicher, aktiver Schritt des Lerners von der Textbedeutungsebene zur Wortbedeutungsebene notwendig“ (Rieder 2002: 38). Erst eine weitergehende Verflechtung durch wesentliche Merkmale und Merkmalszüge im Gehirn garantiert einen vielseitigen Zugriff auf das gespeicherte Wissen und macht es wieder bewusst abrufbar (Rieder 2002: 40, vgl. Schramm 2001: 81f, gut als Übersicht zur Leseforschung Hudson 1998). Implizites Lernen liefert die Grundlage für automatisierte Prozesse, die sich in Anlehnung an Levelt wie folgend definieren lassen: ‘Automatic processes are executed without intention or conscious awareness. They also run on their own resources, i.e. they do not share processing capacity with other processes. Also, automatic processing is usually quick, even reflexlike; the structure of the process is wired in, either genetically or by learning (or both). This makes it both efficient and, to a large extent, inflexible; it is hard to alter automatic processes. Since automatic processes do not share resources, they can run in parallel without mutual interference’ (Levelt, 1989: 20−21). (Hulstijn 2001: 264, vgl. auch DeKeyser 2001: 129) Die Reaktionszeit (heute weniger die Fehlerquote) dient als Nachweis für den Grad an Automatisierung, wobei der geringere Zeitaufwand bei der Reaktivierung durch die steigende Anzahl der instanzierten Muster bedingt ist (vgl. DeKeyser 2001: 137). Auf der anderen Seite lässt sich von einer längeren Verarbeitungszeit auf eine größere kognitive Aufbereitung schließen (Schwarz 2008: 36, 209, Schmidt 1992: 358ff, 377). Darüber hinaus sind neben Reparaturen „Verzögerungsphänomene, gefüllte und ungefüllte Pausen, Selbstwiederholungen, Dehnungen, Abbrüche und Fehlstarts Indikatoren für Kontroll-, Planungs- und Evaluationsvorgänge“ (Aguado 2003: 17f). Automatisierungsprozesse höherer Ebenen beziehen sich sowohl auf das Regelwissen als auch auf das schnelle Abrufen von items. 15 15 In diesem Zusammenhang sind Untersuchungen von Segalowitz et al. (1993, 1998) erwähnenswert, die sich seit den 1980er Jahren den automatisierten Lernprozessen bei dem Wieder- <?page no="44"?> 44 Automatisierung treffen wir im ungesteuerten Zweitsprachenerwerb und natürlich auch im Unterricht an (vgl. Dörnyei 2009: 162ff). Obgleich in der Fremdsprachenforschung das Interesse daran in den letzten Jahren zugenommen hat, wird Automatisierung aber immer noch relativ selten als Forschungsgegenstand gewählt, (s. Übersicht in DeKeyser 2001, vgl. auch Segalowitz 2003). Elektrophysiologische und bildgebende Verfahren lassen im Bereich der Semantik auf Formen von Automatisierung bei Zweitsprachlern schließen, während scheinbar „Zweitsprachler, anders als Muttersprachler, nicht über eine automatisierte Erkennung von Wortkategorieverletzungen verfügen“ (Rüschemeyer 2006: 89, Mueller 2005: 169). Es muss aber angemerkt werden, dass die Befundlage darüber widersprüchlich ist und dass Erwerbsalter, Leistungsniveau, aber auch die Motivation hier nachhaltig wirken (Mueller 2005: 170, Rüschemeyer 2006: 99, Warteburger 2006,). Besonders im Bereich der Morphosyntax bestätigt sich ein uneindeutiges Bild. Offensichtlich werden syntaktische Verarbeitungsprozesse sehr früh automatisiert (vgl. Schwarz 2008: 155), was in der Zweit- und Fremdsprache nur schwerlich gelingt (Mueller 2005, Rüschemeyer 2006: 96ff, auch List 2005: 420). 16 Auch bei der Lauterkennung scheinen Zweitsprachler primär vor dem Hintergrund ihrer Erstsprache die Phoneme zu diskriminieren, d.h., auch in diesem Bereich ließ sich mit den eingesetzten Verfahren keine Automatisierung feststellen (Rüschemeyer 2006: 92, 98f). Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse ist wohl die Vermutung begründet, dass sich Automatisierung beim gesteuerten Erwerb von Deutsch als Fremdsprache bei Erwachsenen relativ selten einstellen wird und sicherlich nicht den Normalfall darstellt. Außerdem benötigt sie Zeit, und das ist ein weiterer Grund, warum bei einem späterem Fremdsprachenerwerb diese Prozesse hintergründig sind: „Automatization requires procedural knowledge. Proceduralization requires declarative knowledge and slow deliberate practice“ (DeKeyser 2007: 107). Wenn sich also auch im Rahmen des institutionalisierten Unterrichts Automatisierung antreffen lässt und implizites bzw. inzidentelles Lernen auftreten kann, ist davon auszugehen, dass ein solches Lernen nicht den prävalenten Vorgang beim gesteuerten Fremdsprachenerwerb in der Erwachsenenbildung darstellt. Hier gilt: „Adult humans do not learn without awareness“ (Schmidt 1990: 146). erkennen von Vokabeln im Zweitspracherwerb widmen und darin das Ziel verfolgen, hierbei qualitative Unterschiede auszumachen (Segalowitz 2003: 386, auch 2007). 16 Dazu parallel und dies bekräftigend zeigen Studien, dass der Erwerb morphosyntaktischer Strukturen - im Gegensatz zur Lexik − erstaunlich wenig von interaktiven Aushandlungsprozessen profitiert (Aguado 2010: 161). <?page no="45"?> 45 1.4.2 Noticing Hypothesis Eine weitergehende Beschäftigung mit dem Thema „Bewusstsein“ (consciousness) und „Bewusstheit“ (awareness) regten in der Fremdsprachenforschung die Arbeiten von Richard W. Schmidt an, dessen Noticing Hypothesis sehr häufig erwähnt und verschiedentlich übernommen wurde, auch fand sie empirische Bestätigung (vgl. Aguado 2010: 162, House 1997, Izumi et al. 1999, Leow 1997, Lochtman 2002, Rosa/ O’Neill 1999: 546, Skehan 1998: 56, 64). Trotz der Vagheit seiner begrifflichen Bestimmungen (vgl. hierzu Eckerth 2003: 37, Lochtman 2002: 53) stellt Schmidts Ansatz einen wertvollen Versuch dar, Bewusstsein in verschiedene Funktionsbereiche zu differenzieren, um damit seine Bedeutung und seinen konkreten Beitrag zum Fremdsprachenerwerb zu fächern. So unterteilt Schmidt (1990) zunächst Bewusstsein in Bewusstheit, Intention und Wissen: In order to understand the numerous issues related to second language learning, it is necessary to distinguish carefully several senses of the term: consciousness as awareness, consciousness as intention, and consciousness as knowledge. (Schmidt 1990: 131) Schmidt hat von den anfänglichen Studien in den 1980er Jahren bis zu den neueren Abhandlungen sein Konzept weiter ausdifferenziert, leider hat er es aber durch uneinheitliche Definitionen in seiner Aussagekraft entkräftet. Wenn er auch grundsätzlich an der Überlegenheit expliziter Lernprozesse festhält, beschäftigt er sich in den 1990er Jahren vermehrt mit dem impliziten Lernen, das er einmal auf der Ebene angeborener Fähigkeiten ansiedelt, zum anderen an assoziative (konnektionistische) Vorgänge koppelt (Schmidt 2001: 4). 17 In seinen frühen Arbeiten umspannt Bewusstheit (awareness) drei Ebenen: perception, noticing und understanding (Schmidt 1990: 132), wobei der Lernprozess von der oberflächlichen Wahrnehmung zum tiefen Verständnis, d.h. zur Verarbeitung, verläuft. 18 Während das erste Niveau durch einen unaufmerksamen, aber keinesfalls unbewussten Umgang mit dem Lerngegenstand gekennzeichnet sein kann (Schmidt 1990: 132), zeichnen sich die folgenden Stufen durch einen höheren Bewusstheitsgrad aus. 17 Während Schmidt „implizit“ zuerst als vorbewussten Zustand auffasste (1990: 16), schränkt er es in seinen späteren Arbeiten auf das Unbewusste ein (2001: 4). 18 In einem Beitrag aus dem Jahre 1994 unterscheidet er dagegen vier Ebenen von consciousness: intentionality, attention, awareness und control. Damit trennt er formal Aufmerksamkeit von Bewusstheit, was allerdings im Text selbst nicht recht nachvollziehbar ist, da er beide dem Noticing-Bereich zuordnet (Schmidt 1994a: 17). <?page no="46"?> 46 Diese erste Ebene des oberflächlichen Gewahrwerdens (perceiving) (Schmidt 1995b: 28) setzt Schmidt unabdingbar sowohl für explizites als auch für implizites Lernen voraus. Für Izumi et al. (1999: 432, mit Verweis auf Chaudron 1985) ist es die Phase des „preliminary intake“, während man in der Wahrnehmungspsychologie von unterschwelliger oder vorbewusster Perzeption spricht und diese Form in dem Bereich der impliziten Wahrnehmung verortet. Auf die Tatsache, dass hier die Grenzen zwischen bewusstem Gewahrwerden und unbewusster Aufnahme fließend sind, verweist u.a. Perrig (1996: 211). Auch der Frage, inwieweit Wahrnehmung grundsätzlich subjektiv „gelenkt“ ist, wird unterschiedliche Wichtigkeit beigemessen. Schmidt hinterfragt nicht, was in das Blickfeld des Lernenden fällt, da er diese Geschehen als willkürlich bzw. objektiv gegeben betrachtet, auch wenn er natürlich nicht von den unterschiedlichen Bedingungen absieht, in denen fremdsprachliches Lernen erfolgt. Neuere Arbeiten im Bereich der Lernpsychologie mit verstärktem Einbezug neurowissenschaftlicher Erkenntnisse sowie subjektwissenschaftliche Ansätze, aber auch schon kognitive Kommunikationsmodelle wie die Relevance-Theorie (Sperber/ Wilson 1986), gehen dagegen davon aus, dass Wahrnehmung grundsätzlich von einem Standpunkt und aus einer Perspektive erfolgt und daher dem Lernenden immer nur begrenzt und in Ausschnitten zugänglich ist (vgl. Holzkamp 1995: 253, Sperber/ Wilson 1986: 144, vgl. auch Lenk 2004). So auch N. Ellis (2001: 34): „Perception, as input to WM [working memory, SH], is automatically filtered and patterned by our existing LTM [long term memory, SH] schema.“ In seinen späteren Ausführungen fächert Schmidt (2001) den Noticing-Bereich auf, indem er in Anlehnung an Leow zwischen „noticing with awareness“ und „noticing with metalinguistic awareness“ (Schmidt 2001: 19) unterscheidet, wobei er die auf den Lerngegenstand fokussierte Aufmerksamkeit (attention) auf der ersten Ebene positioniert. Damit impliziert - dezidierter als in seinen früheren Arbeiten - attention zwar immer noch Bewusstheit (vgl. dazu auch N. Ellis 2005: 317), wird aber auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau formalen Signalen zugeordnet. My intention is to separate ´noticing´ from ´metalinguistic awareness´ as clearly as possible, by assuming that the objects of attention and noticing are elements of the surface structure of utterance in the input - instances of language, rather than any abstract rules or principles of which such instances may be exemplars. (Schmidt 2001: 5) <?page no="47"?> 47 Schmidt schreibt in seinen ersten Arbeiten dem noticing eine unmittelbare Wirkung auf den Lernerfolg zu 19 : […] intake is the part of the input that the learner notices. At the stage of my argument it makes no difference whether the learner notices a linguistic form in input because he or she was deliberately attending to form, or purely inadvertently. If noticed, it becomes intake. (Schmidt 1990: 139) Diese These schwächt er in seinen folgenden Überlegungen ab (1994a: 18) und räumt auch später ein: It seems wise to conclude, therefore, that there can be representation and storage in memory of unattended novel stimuli, something frequently claimed but not convincingly demonstrated in the past. (Schmidt 2001: 27) Schmidt entwickelte seine Thesen aus den anhand des eigenen Portugiesischerwerbs gemachten Beobachtungen (Schmidt/ Frota 1986). In seiner Untersuchung fungiert die Häufigkeit der Anwendung neu gelernter Wörter als ein Indikator für deren Erlernen, wobei die Daten zeigen, dass der input signifikant ist, aber nicht immer mit dem output korreliert (Schmidt 1990: 140, 141). Dass noticing nicht zwingend zum Lernen im Sinne von Verstehen (understanding) und einer langfristigen Speicherung führt, belegen auch diverse andere Studien, wie z.B. die Studie zur Output-Hypothese 20 von Izumi et al. (1999: 443, auch in DeKeyser/ Juffs 2005: 441, Gass et al. 2003: 499, Mackey 2006: 423f, Wigglesworth 2005: 104). Aufgrund dieser Tatsache will Schmidt die Ergebnisse auch nicht verallgemeinern; er verweist zwar auf den bedeutsamen Zusammenhang zwischen „noticing and emergence in production“ (Schmidt 1990: 141), räumt aber - mit Verweis auf das Modell der Verarbeitungstiefen von Craik und Lockhart (1972) - ein, dass: „In such cases, a plausible suggestion is that I did not process the form sufficiently deeply to ensure retention“ (ebd.). Deutlich wird in seiner wenn auch relativ groben Definition von understanding, dass er hierunter Denken und Problemlösungsprozesse kognitiver und metakognitiver Art versteht (Schmidt 1990: 132f), und damit per Definition explizite Vorgänge (vgl. Reber 2003: 487). Was aber genau den erfolgreichen Übergang von noticing zum understanding bedingt, darüber erfahren wir auch in den späteren Arbeiten nichts 19 So auch Rosa/ O’Neill (1999: 531): „Input that is not noticed or attended to may not be made available for further processing and incorporation into the developing interlanguage system.‟ 20 Die Output-Hypothese von Swain (1993) baut wesentlich auf dem Noticing-Konzept auf, denn durch die Sprachproduktion treten Lücken zutage, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und noticing fördern. (vgl. Swain/ Lapkin 1995) <?page no="48"?> 48 Genaueres. Auch wenn unter Hinweis u.a. auf das Socio-Educational Model von Gardner (Schmidt 2001: 9) motivationale Faktoren und Lernziele als wichtige Determinanten bezeichnet werden, geschieht dies weiterhin vor der ursprünglich unternommenen Unterteilung von Bewusstsein in Bewusstheit, Intention und Wissen und der damit verbundenen Trennung emotionaler Faktoren von Bewusstheit (awareness). 21 Es ist darüber hinaus auch zu fragen, ob diese Abspaltung durch die von Schmidt in den neueren Arbeiten vorgenommene Einengung auf die Form (unter Ausklammerung des Inhalts) nicht noch verstärkt wird. Seine Öffnung gegenüber impliziten oder unbewussten Lernvorgängen birgt das Risiko, den Bereich der bewussten Wahrnehmung auszuhöhlen. Auch wenn für Schmidt (2001: 23) gilt: „intentionally focused attention may be a practical (though not theoretical) necessity für successful language learning“, klammert sein Awareness-Konzept das direkte Zusammenspiel von Lerninteressen (intention) im Vorfeld aus. Wie u.a. Hidi et al. nachgewiesen haben, laufen aber gerade hier Kognition und Emotion zusammen: Experiencing interest involves affect from the outset of experience and can be assumed to be combined or integrated with cognition (Krapp, 2003; Renninger, 2000). An important aspect of this view is that it allows the integration of psychological and neuroscientific approaches with motivation which has not previously been an easy association (Boekaerts, in press; Kuhl, 2000). Future work needs to address the distinctive neural correlates of interest-based information processing that involves both emotion and cognitive systems. (Hidi et al. 2004: 96) Aus diesen Überlegungen lässt sich die These ableiten, dass noticing (nur) dann zum understanding (im Sinne von vertiefendem Verarbeiten) wird, wenn dem fokussierten Gegenstand Interesse unterlegt ist, d.h., dass sich die von Schmidt genannten verschiedenen Bereiche von „consciousness“ im Zusammenspiel verbünden. Als wesentliche „Brücke“ und unabdingbaren Faktor im fremdsprachlichen Lernprozess (bei Schmidt) sowie als Teil der Handlungsausführung im Rahmen verschiedener Lerntheorien (s. Kapitel 2) fungiert hierbei die Aufmerksamkeit. Die Beschäftigung mit der Aufmerksamkeit reicht in die wissenschaftliche Psychologie des 19. Jahrhunderts zurück und kreiste damals schon um die zentralen Fragen nach der Selektion sowie der Kapazität. In der Zeit vornehmlich behavioristischer Ansätze ließ das Interesse an dem Thema merklich nach, erst nach dem zweiten Weltkrieg wandte man sich ihm erneut zu. Zunächst setzte man an den beiden traditionellen Auffassungen des Selektionsproblems an: der 21 Dieses Thema wurde bereits im Rahmen von Selbstevaluierung und rezeptionsspezifischen Lernprozessen behandelt (Hoffmann 2008b, auch 2009b). <?page no="49"?> 49 frühen (z.B. Filtermodell von Broadbent 1958) und der späten Selektion (z.B. Deutsch/ Deutsch 1963): Früh selegiert wird ein Reiz, der noch nicht kategorisiert ist, spät dagegen ein bereits identifiziertes Signal. Beide Modelle gehen von einer Übergangsstelle aus, allerdings befindet die sich je nach Modell an einer anderen Stelle im Verarbeitungsprozess; beide sehen Selektion als unmittelbare Folge der begrenzten Kapazität. Die selegierten Reize werden bewusst repräsentiert, die nichtselegierten in einem nichtbewussten Teil des Systems verarbeitet (Neumann 1996: 599). In den 1960er und 1970er Jahren erstarkte einmal die Annahme einer späten Selektion, da Befunde nachwiesen, dass auch unbeachtete Reize semantisch verarbeitet wurden; diese schienen eine präkategoriale visuelle Speicherung, wie sie z.B. Sperling (1960) vertrat, zu widerlegen. In den 1980er Jahren kommt es zu zwei wichtigen Neuentwicklungen: Die Aufmerksamkeitsforschung verlagert ihren Schwerpunkt auf die sensorische - und speziell auf die visuelle - Aufmerksamkeit, und das Informationsverarbeitungsparadigma wird durch konnektionistische Modelle abgelöst, die z.T. auch Erkenntnisse aus der Neurophysiologie integrieren. So korrespondiert visuelle Aufmerksamkeit mit einer verstärkten neuronalen Aktivierung in bestimmten Arealen. Selektion wird nun als Grundphänomen betrachtet und die begrenzte Kapazität als eine Folge. Der Ort der Selektion wird in der heutigen Aufmerksamkeitsforschung weniger als Übergangsstelle, sondern als eine Folge verschiedener Selektionsprozesse verstanden, d.h., es überwiegt die Vorstellung einer fließenden Selektivität, die an mehreren Orten stattfindet, wobei anscheinend nach oben hin feiner gefiltert wird (Neumann 1996: 619). In Bezug auf die Steuerungsmechanismen präferieren neuere Ansätze Bahnungseffekte gegenüber Hemmung, wobei inhibitorische Vorgänge keinesfalls ausgeschlossen werden, vor allem in der Output-Phase scheinen diese den Vorrang zu haben (Neumann 1996: 613). Ob man sich diese Prozesse als abgestuft oder nach dem Entweder-Oder-Prinzip vorzustellen hat, ist umstritten bzw. wird vor dem Hintergrund der jeweiligen Theorie anders konzipiert. Sämtlichen Zwei-Prozess-Theorien, in denen man zwischen präattentiven, perzeptiven, parallel verlaufenden Verarbeitungsprozessen und einem Raum, in dem bewusst, kontrolliert, sukzessiv konstruiert wird, unterscheidet, liegt die Vorstellung eines selektiven Übergangs zugrunde, deren Wurzeln auf die klassische Philosophie zurückgehen und vor deren Hintergrund heute implizite und explizite Lernkreisläufe ihre funktionelle Zuordnung erfahren. Aufmerksamkeit kann aber auch als Modulation innerhalb einer Bewusstseinsebene, wie sie Wilhelm Wundt vertreten hat, verstanden werden oder auf den Bereich präattentativer, vorbewusster Reize begrenzt sein. Modulation anstelle von Übergang finden wir in konnektionistischen Modellen, bei denen <?page no="50"?> 50 Aufmerksamkeit durch die verstärkte Aktivierung gewisser Einheiten zustande kommt (vgl. Cohen et al. 1990). Zu den „alten“ Themen der Aufmerksamkeitsdebatte gehört heute mehr denn je die Frage, ob Aufmerksamkeit bei automatisierten Prozessen mitwirkt, und ob sie willentlich steuerbar ist. Abgesehen davon, dass die Aufmerksamkeitsforschung darauf eine Vielzahl gegensätzlicher Antworten gegeben hat und weiterhin auf der Grundlage ihres jeweiligen Bezugsrahmens die entsprechenden Beweise liefert, lässt sich grundsätzlich eine Richtung ausmachen, die Aufmerksamkeit als eine aktive Tätigkeit sieht, bei der „Wahrnehmung nicht ausschließlich durch die Sinnesreize bestimmt wird, sondern […] auch von zentralen Prozessen abhängt, welche die Reize interpretieren und aktiv eine kohärente Repräsentation der Welt konstruieren“ (Neumann 1996: 627). Diesem Erklärungsmodell lassen sich grob die Kategorien „bewusst“ und „willentlich“ zuordnen. Dabei wird natürlich nicht geleugnet, dass es auch eine passive und ungewollte Form von Aufmerksamkeit gibt, die z.B. ein auffallendes Wort beim Lesen oder Hören eines fremdsprachlichen Textes hervorruft. Entscheidend ist, ob diesem unwillkürlichen Akt eine aktive Aufmerksamkeit folgt. Die zweite Richtung begründet Aufmerksamkeit auf der Grundlage evolutionistischer und biologischfunktionaler Theorien, nach denen Aufmerksamkeit und die damit verbundene Anstrengung unmittelbar der Handlungssteuerung dienen und über die Veränderung von Aktivierungsmustern erfolgen. Inwieweit Willen bzw. Willensfreiheit damit als Illusion entlarvt wird, ist umstritten, ebenso wie die Frage nach dem Vorhandensein von Bewusstsein vor dem Hintergrund einer fließenden Selektion an Wert verliert. Nichtsdestoweniger wird auch in neurowissenschaftlichen Ansätzen der Aufmerksamkeit vorrangig ein Platz im Bewusstsein zugewiesen. Aufmerksamkeit spielt im Zusammenhang mit dem Bewusstsein eine besondere Rolle. Zum einen ist Aufmerksamkeit der generelle Zugang zum Bewusstsein. Alles, worauf wir nicht unsere Aufmerksamkeit richten, ist uns nur schwach oder überhaupt nicht bewusst, auch wenn die entsprechenden Geschehnisse unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle oder unser Handeln beeinflussen. Auch hängt die Erinnerbarkeit von Sinneseindrücken stark von der Aufmerksamkeit ab, […]. (Roth 2003: 205f) Ihrer fundamentalen Rolle bei fremdsprachlichen Lernprozessen wandte man sich verstärkt in den 1990er Jahren zu. In den letzten Jahren sind die Studien und Abhandlungen zu dem Thema deutlich von dem neurowissenschaftlichen Paradigma beeinflusst, außerdem lässt sich - wie oben bereits erwähnt - die verstärkte Zuwendung zur Wahrnehmungsebene bemerken. Diese Verschiebung lässt sich deutlich bei dem Aufmerksamkeitskonzept von Richard W. Schmidt nachweisen. Während Aufmerksamkeit in seinen früheren Überlegungen (1990, <?page no="51"?> 51 1994a/ b, 1995a/ b) als wesentliches Element von awareness den Übergang vom noticing zum understanding markierte, also das Input-intake-Verhältnis im Mittelpunkt stand, konzentrierten sich die späteren Arbeiten verstärkt auf die Perzeptionsphase, in der auf der Oberflächenebene attention und noticing wirken und metakognitves Wissen ausdifferenziert wird (s.o.). Auch wenn es schwierig ist, in Schmidts späteren Arbeiten ein klares Bild von seinem Aufmerksamkeitskonzept zu erhalten, soll im Folgenden dennoch versucht werden, einige Merkmale zu benennen. Für Schmidt untersteht Aufmerksamkeit partiell unserer willentlichen Kontrolle, und er verweist bei der Definition als willkürliche Tätigkeit auf Wilhelm Wundt und William James. Dabei übernimmt er auch deren passive und ungewollte Form von Aufmerksamkeit und integriert sie in sein Modell: „Involuntary attention is data driven, elicited bottom-up. Voluntary attention is top-down in the sense that attention is directed to outside events by inner intentions“ (Schmidt 2001: 14). Damit sieht er Aufmerksamkeit hauptsächlich als eine innere Tätigkeit, aber von außen nach innen verlaufende Prozesse werden mitkonzipiert. Mit Hinweis auf LaBerge (1995) schließt Schmidt präattentative Zustände in das Aufmerksamkeitskonzept mit ein (Schmidt 2001: 15) und dehnt es auch auf Teilbereiche automatisierter Prozesse aus; unter anderen bezieht er sich hierbei auf Logans Instance Theory. 22 In diesem Sinne argumentiert auch N. Ellis (2005: 311): „without attention, no priming took place.“ Attention wirkt bestimmend sowohl bei der Enkodierung als auch beim Abrufen von gespeichertem Material; bei jedem Erlernen muss der Gegenstand fokussiert werden: „noticing is the interface between the input and the developing set of such constructions“ (Schmidt 2001: 31, s. auch N. Ellis 2001: 63). In diesem Sinne reguliert Aufmerksamkeit für Schmidt den Zugang zum Bewusstsein. Dabei steht er in der Tradition von Neisser (1967, s. Neumann 1996: 615), d.h. einer späten Selektion als Übergang (nicht als Modulation). Bei der Handlungskontrolle nimmt er die gängige Unterscheidung zwischen Novizen- und Expertenwissen auf: Neulinge bedürfen bei ihren Tätigkeiten der Aufmerksamkeit, wohingegen Fachleute sie automatisch ausführen (Schmidt 2001: 16). Hier liegt offensichtlich ein Kognitionsmodell zugrunde, das von der allmählichen Automatisierung deklarativen Wissens ausgeht (wie z.B. Andersons ACT-R). Aufmerksamkeit ist somit Voraussetzung für fremdsprachliches Lernen sowie die Speicherung und Verfügbarkeit von input im Langzeitgedächtnis. Letztendlich liegt für Schmidt, auch wenn Aufmerksamkeit nicht als alleiniger Lernfaktor zu gelten hat und auch Unbeachtetes beiläufig Eingang ins Gedächtnis findet, hier ein signifikanter qualitativer Unterschied: 22 „They [die Untersuchungen] suggested that attention determines what goes into a memory trace in encoding as well as what is taken out of it at retrieval time.‟ (Logan et al. 1996: 636) <?page no="52"?> 52 Although recent evidence […] indicates the possibility of some unattended learning, this appears limited in scope and relevance for SLA. There I have no doubt that attended learning is far superior, and for all practical purposes, attention is necessary for all aspects of L2 learning. (Schmidt 2001: 3) In Anbetracht der in der vorliegenden Studie angenommenen Zweigleisigkeit der Verarbeitungsprozesse verortet sich Aufmerksamkeit im Rahmen bewusster Lernhandlungen und ist als Bestandteil expliziter Lernvorgänge intentional. Damit ist ihr Einsatz im Lernvorhaben begründet und vorrangig ein willentlicher Akt. Auch wenn diese Zuweisung in der aktuellen Debatte an Relevanz eingebüßt hat, verortet sich Aufmerksamkeit in Anlehnung an den frühen Schmidt im Noticing-Bereich - und damit in der späten Selektionsphase -, wobei aber auch ihr Einfluss auf der präattentiven Wahrnehmungsebene in Betracht gezogen wird. Sie wirkt entscheidend bei der Verarbeitung und dem Aufbau von kognitiven und metakognitiven Wissensbeständen mit und determiniert darin die Behaltensleistung. Sie richtet sich auf Form und Inhalt als zwei Aspekte, die bei vertiefendem Lernen zusammengehören (Schmidt 2001: 31f, vgl. R. Ellis 2005: 168). Und auch wenn sicherlich zwischen den verschiedenen Beschreibungsebenen und grammatischen Phänomen einer Sprache differenziert werden muss, scheint auch im Bereich der Syntax der Bedeutungsaspekt für den Erwerb keinesfalls sekundär. Untersuchungen von Klein (1995: 452) belegen, dass lexikalisches Wissen das noticing im syntaktischen Bereich erhöht. Das Identifizieren und (Wieder-) Erkennen eines Wortes setzt an der formalen Wahrnehmungsebene an, schließt aber auch Bedeutungsaspekte mit ein. Die Fokussierung auf das Form-Bedeutungsgeflecht löst es aus dem Kontext und führt zur begrifflichen Instanzierung. 23 In Phrasen, chunks oder formulaic sequences vereinen sich lautliche und formale Merkmale mit mentalen Strukturen; sie spielen daher in der Fremdsprachenerwerbsforschung eine zunehmend wichtige Rolle (vgl. N. Ellis 2003, DeKeyser/ Juffs 2005: 340, Dörnyei 2009: 293ff). Sie verorten sich in sprachlichen Zwischenbereichen „as a semi-fixed grammatical pattern that carries a specific function. It is a linguistic unit that includes one or more open slots in which learners can place a variety of words‟ (Taguchi 2007: 437) und binden somit leichter Bedeutung an sich: „[…] memorized chunks become ‘alive’ once they are used to express personal meaning‟ 23 Zu der stärkeren Formfokussierung in der angloamerikanischen Forschung vgl. Eckerth (2003). Besonders im Rahmen der Aufgabenorientierung wird versucht, die Form-Bedeutung- Aufspaltung zu überbrücken: „The challenge for researchers and task designers lies in creating situations in which a focus on form can be most naturally incorporated at various points in the overall discourse of the task, so that the best of both worlds - focus on meaning and focus on form - can be effectively integrated.‟ (Izumi 2000: 317). <?page no="53"?> 53 (Taguchi 2007: 444). Handwerker und Madlener (2009: 8) gehen davon aus, dass diese Sequenzen implizit über das Speichern in natürlichen Diskursen gelernt werden. Diverse Untersuchungen widersprechen allerdings dieser Annahme (vgl. Dörnyei 2009: 297). So belegen z.B. Boers et al. (2006) bezüglich der Lenkung der Aufmerksamkeit auf formulaic sequences eine deutliche Verbesserung im Mündlichen, was sich allerdings auf ihre flüssigere Anwendung beschränkt, während die Daten bezüglich ihres korrekten Gebrauchs nicht eindeutig sind. Auch Taguchi (2007) geht in ihrer Studie davon aus, dass das explizite Lehren von chunks zu ihrem Erwerb unabdingbar ist. Vor dem Hintergrund der dargelegten Überlegungen wird an dem Begriff Bewusstsein als Überbegriff festgehalten, da er einmal eine Erweiterung des gegenwärtigen Awareness-Konzepts darstellt, zum anderen bei Schmidt in dieser Kategorie Absicht und Bewusstheit inbegriffen, d.h. noch nicht getrennt, sind: The role of consciousness can be seen as an overarching concept which encompasses related questions about the role of explicit and implicit learning and knowledge, the roles of attention, awareness and noticing, and the extent to which learners monitor their language. (Wigglesworth 2005: 98) 1.5 Mündliche Kompetenz bei erwachsenen Fremdsprachenlernenden 24 Sprechen können stellt heute wohl den primären Grund dar, warum sich Lernende eine Fremdsprache aneignen wollen. Der Weg zu diesem Primat führt von der völligen Unbedeutsamkeit mündlicher Kompetenz in der Grammatik-Übersetzungs-Methode über der Aufwertung von Sprechen in der Direkten Methode weiter über die Audiolinguale/ Audiovisuale Methode und mündet bei dem zentralen Stellenwert, den Mündlichkeit in den kommunikativen und interkulturellen Ansätzen einnimmt (Kurtz 2010: 83f, vgl. auch Burwitz-Melzer ed al. 2014, Neuner/ Hunfeld 1993, Moroni et al. 2010: 21f). Ein derartiger Wandel im Verständnis von Fremdsprachenlernen hängt - wie Kurtz (ebd.) hervorhebt - von vielzähligen und vielfältigen Faktoren ab: dem veränderten Menschbild, den Errungenschaften im technologischen Bereich, dem Wandel in der Gesellschaft und damit den Erwartungen gegenüber der Funktion der Fremdsprache. Damit einher geht ein sich ständig erweiterndes Forschungsfeld, was in letzten Jahren immer mehr zu der Erkenntnis geführt hat, dass die mündliche Handlungsfähigkeit in einer Fremdsprache ein hochkomplexes und weit über die Fertigkeit Sprechen hinausreichendes Phänomen ist. Neben artikulatorischen Fähigkeiten in der Sprechhandlung spielen eine Vielzahl anderer Fähigkeiten eine 24 Dieses Unterkapitel wurde im Anschluss an die Pilotstudie hinzugefügt, als sich herausstellte, dass alle Probanden Verbesserungen im Mündlichen als primäres Lernziel anstrebten. <?page no="54"?> 54 entscheidende Rolle, wie das Hör- und Sehverstehen, emotionale Faktoren, kommunikative Kompetenz u.a. (vgl. Rösler 2012: 141). Allerdings werden erst in den letzten Jahren der körperlichen und emotionalen Dimension des Sprechenden und des Sprechakts mehr Aufmerksamkeit zuteil (Decke- Cornill/ Küster 2010: 189, Stöver-Blahak 2012: 14). Grundsätzlich lassen sich bei mündlichen Äußerungen monologisches, dialogisches und interaktives Sprechen unterscheiden (Decke-Cornill/ Küster 2010: 188, Küster 2014: 128), bei dem in unterschiedlicher Wichtigkeit form- und inhalts-bezogene Aspekte eine Rolle spielen. So erfordert ein Vortrag vermehrt Teilkompetenzen, wie korrekte Aussprache, Intonation und Haltung (Stöver-Blahak 2012: 15), während beim dialogischen und interaktiven Sprechhandlungen interaktive Fähigkeiten und non-/ paraverbale Kommunikationsträger (z.B. Gestik, Blickkontakt) an Wichtigkeit gewinnen sowie die Authentizität der Sprechsituation das Sprechtempo bestimmt (Rösler 2012: 140f). Kompetenzübergreifend gilt die Flüchtigkeit des Gesagten, was sich individuell vor- oder nachteilhaft auswirken kann. Sprechen befindet sich außerdem an der Schnittstelle unseres Zugangs zur Welt und ist damit wie keine andere Fertigkeit eng an unsere Selbstwahrnehmung und unser Selbstkonzept gebunden (vgl. Luoma 2004: 9f), was diesen Bereich extrem anfällig macht für emotionale Faktoren, wie Hemmungen oder Sprechangst. Es ist daher nur verständlich, dass das Erlangen von mündlicher Kompetenz eine große Hürde bei erwachsenen Lernenden vor allem im Anfängerunterricht darstellt. Während bei der Erforschung von Mündlichkeit in der Vergangenheit bei psycholinguistischen theoretischen Zugängen die intraindividuellen Prozesse in dem Vordergrund standen, beleuchten seit den Neunziger Jahren Ansätze aus der soziologischen Perspektive vor einem ethnografischen Forschungshintergrund die interindividuellen Prozesse (Kurtz 2010: 87, Lütge 2014: 149f). Im Folgenden sollen beide Ansätze kurz skizziert werden. Um den Sprechvorgang darzustellen, wurden im Bereich der Psycholinguistik diverse Modelltypen entworfen, die sich tendenziell an seriellen symbolorientierten Verarbeitungssystemen orientieren (s. 1.1), wobei einige allerdings auch parallel verlaufende assoziative Abläufe integrieren (vgl. Wolff 2002: 205ff). Das von Levelt entwickelte Ablaufschema zum Erstspracherwerb (1989) ist das Modell, das mehrheitlich in der Fremdsprachenforschung Anwendung findet (vgl. u.a. Aguado 2003, de Bot 2003, Decke-Cornill/ Küster 2010: 189, Stöver- Blahak 2012: 27ff, Wolff 2002: 210ff). Es beschreibt den dreistufigen Verlauf der mündlichen Äußerung von der Konzeptualisierung über die Formalisierung zur Artikulation (Abb. 1). <?page no="55"?> 55 Abb. 1 ̶ Sprechproduktionsmodell nach Levelt (1989: 9) Unter Konzeptualisierung versteht Levelt die Planung der mündlichen Mitteilung, d.h., eine intentionale Handlung (Levelt 1989: 10f, auch 27, 58ff, s.u.), bei der auf verschiedene Wissensspeicher sowohl auf der deklarativen als auch auf der prozeduralen Ebene zurückgegriffen wird. Hier fließen u.a. das Wissen über den Adressaten, die Einschätzung der Redesituation, die Art der Mitteilung usw. ein. Die daraus resultierende präverbale Mitteilung fungiert als input für das anschließende Formulierungssystem, wo sich das Konzept versprachlicht. Dabei werden unter Abruf grammatischen Wissens Syntagmen gebildet und diese dann erweitert. Die so entstandenen Strukturen bilden die sprachliche Grundlage für die lautliche Mitteilung, die mit Rückgriff auf phonologische Informationen vorbereitet wird. In dem Formulierungsbereich können interne (des Sprechenden) als auch externe Kontrollinstanzen (Feedback von anderen Sprechenden) hineinwirken. Diese internal speech erhält in der Artikulationsphase ihre lautliche Form, wandelt sich zur overt speech. Die einzelnen Systeme arbeiten relativ unabhängig voneinander (Levelt 1989: 26), wobei ihnen eine grundsätzlich symbolorientierte Repräsentation zugrunde liegt: „A component’s output representation is, at the same time, the characteristic input for the next processor down the line“ (Levelt 1989: 17), sich zum anderen aber bei „underground processes“ wie Formulieren und Artikulieren (Levelt 1989: 22) auch auf parallel laufende Enkodierungsvorgänge bezogen wird (Levelt 1989: 20). Aber auch bei diesen bei muttersprachlichen Sprechern stark automatisierten Vorgängen werden Kontrollmomente eingeräumt, z.B. beim Gewahren von Fehlern (Levelt <?page no="56"?> 56 1989: 13), wie u.a. auch de Bot (2003: 94) hervorhebt: „In language production almost the attention resources go to the conceptual level, with some attention left for error-controll through the feedback mechanisms.“ Levelts Modell liegt ein prozedurales Ablaufschema zugrunde, bei dem sich die Sprechhandlung als Sprechintention realisiert: „Speaking is usually an intentional activity“ (Levelt 1998: 21). Vor diesem Hintergrund werden im Bereich der daran ansetzenden vorwiegend unbewusst arbeitenden Formulierungs- und Artikulationssysteme Formen von direkter Rückkopplung auf die Konzeptualisierungsphase ausgeschlossen. Dies kann nur über die explizite lautliche Äußerung geschehen: There is no feedback from processors down the line (except for some Formulator-internal feedback). The Articulator, for instance, cannot affect the Formulator´s subcomponents. This makes self-monitoring possible. But there is not even any direct feedback from the Formulator or the Articulator to the Conceptualizer. The Conceptualizer can recognize trouble in any of these components only in the basis of feedback from internal or overt speech. (Levelt 1989: 16, Hervorhebung im Original) Allerdings lockert Levelt die lineare Grundstruktur seines Modells auf, indem er - wenn auch nicht im Sinne assoziativen Verarbeitungssysteme - Prozesse mit zeitversetzten und sich z.T. überlappenden Anfängen mitdenkt: Even though there can be no formulating without some conceptual planning, and there can be no articulating without some phonetic plan, message encoding, formulating and articulating can run parallel. (Levelt 1989: 24) Das Zusammenspiel diverser Formen der Enkodierung, die Funktionsbeschreibung der grundsätzlich auch heute noch als fundamental geltenden drei Dimensionen der lautlichen Äußerung sowie das Vorhandensein unbewusster und automatisierter Prozesse beim Sprechvorgang begründen die Aktualität dieses Modells für die Fremdsprachenforschung. Aber auch die Kritikpunkte an einer stark vom kognitivistischen Lernparadigma geprägten Sichtweise bleiben berechtigt. Bereits Battacchi et al. (1996: 101f) meldeten Zweifel daran an, ob in einer präverbalen (! ) Konzeptualisierungsphase nicht auch schon sehr stark Emotionen, körperliche Befindlichkeiten usw. einfließen, die sich der bewussten Kontrolle entziehen (vgl. auch Funk 2014: 44). Wie bereits dargelegt, begnügt sich die Intentionsfindung keineswegs mit bewussten Vorgängen. Auch scheint die Konzeptualisierungsphase stark von den sprachlichen Merkmalen der erlernten Sprachen abhängig (De Bot 2003: 96 mit Hinweis auf von Stuttenheim 2002). Beim Formulieren und Artikulieren in der Fremdsprache sind auch sicher <?page no="57"?> 57 Beobachtungen wichtig, wie besonders Erwachsene und Anfänger ihr Reden vielfach bewusst steuern (wollen). Darüber hinaus kann sich das individuelle Korrekturverhalten des Sprechenden hemmend auswirken (Rösler 2012: 141), ein durchaus begründetes Verhalten angesichts der Tatsache, dass die grammatische sowie die phonologische Sprechdimension schon relativ früh (in der L1) automatisiert werden (s. 1.4.1, vgl. auch u.a. Decke-Cornill/ Küster 2010: 190, Stöver-Blahak 2012: 28, Wolff 2002: 304) und sich damit - falls nicht kontrolliert - „automatisch“ in die Fremdsprache hineindrängen (Schade 2003: 110f). Daher kommen Aufmerksamkeit und noticing bei der Fertigkeit Sprechen im fremdsprachlichen Lernprozess eine relevantere Rolle zu als beim L1-Erwerb (Aguado 2003: 9, Riemer 2014: 189, Stevener 2003: 28ff), denn sie geben (erwachsenen) Lernenden die Möglichkeit, sich automatisierte Prozesse bewusst zu machen und damit korrigieren zu können, um anschließend durch intensives und beständiges Üben neue Formen zu verankern und zu konsolidieren. Kommen wir nun zu Ansätzen, die aus der Soziologie in die Fremdsprachenforschung gedrungen sind. Ihr Anfang lässt sich mit dem kritischen Beitrag zu den vorherrschenden psycholinguistischen Theorien von Firth und Wagner (1997) datieren, die Lernen aus seiner intraindividuellen Dimension lösen und als interpersonalen Vorgang sehen: Meaning does not occur, they argue, in ‟private thoughts executed and then transferred from brain to brain, but (as) a social and negotiable product of inter action, transcending individual intentions and behaviors.” (Firth/ Wagner 1997: 290, zitiert nach Zuengler/ Miller 2006: 45) Damit definiert sich Lernen als interaktive Tätigkeit: Learning is an inseparable part of ongoing activities and therefore situated in social practice and social interaction. (Firth/ Wagner 2007: 807) Zu deren Erfassung greift man auf die Conversation Analysis (CA) zurück, deren Wirkung sich in den 1970er Jahren zunächst auf die Sprachwissenschaft begrenzte (Fox et al. 2013: 727) und sich dann auf das fremdsprachliche Klassengespräch ausgedehnt hat (Gardner 2008: 229, vgl. Gardner 2013, Schwab 2009, Seedhouse 2004): If learning a language is seen not merely as some kind of internal psychological process that can only be understood though controlled experimental or quasi-experimental methods, but as something that at least much of the time is placed out in the shared cognitive space of a classroom, with cognition regularly rippling to <?page no="58"?> 58 the surface of the talk, then we have an alternative to traditional second language acquisition work, a complementary research agenda using CA’s proven rigour and compatible theoretical programmes such as socio-cultural theory. (Gardner 2008: 238) Forschungsgegenstand der CA ist die Beobachtungsebene „Gespräch“, das sich über die Interaktion zwischen Sprechenden konstituiert. Der Differenzierung zwischen L1 und L2 Sprechenden wird dabei hinfällig: „Doing Conversation Analysis on second language talk is the same as doing Conversation Analysis on first language talk. The rests on a belief that there is no reason to approach second language data any differently from first language data“ (Gardner 2008: 230). Der Blick auf das Lernen erfolgt damit aus der Außenperspektive und greift dabei auf Begründungsmuster bzw. (sprachliche und gesellschaftliche) Konventionen zurück, die dem Gesprächsverlauf eigen sind. Hierbei Verhalten und Veränderungen zu beobachten ist nichts anders als das outcome bei Lernprozessen zu erfassen (Gardner 2013: 607f). Dieser grundsätzlich andere Zugriff auf das Lernen zeigt sich exemplarisch im Umgang mit Korrekturen und Reparaturhandlungen. Vor dem Hintergrund lernpsychologischer Theorien als Defizite klassifiziert, werden sie in der CA als unterschiedliche Sprachkompetenzen identifiziert. So führen Schweigen, Verzögerungen, zu klärende Verständnisschwierigkeiten zwischen native speakers und non-native speakers oder unter Lernenden nicht zu Störungen, sondern zu (neuen) Formen einer fremdsprachlicher Diskursführung: „On the view of interactional competence as sketched here, L2 learners are seen as (variably) competent co-participants rather than deficient communicators“ (Kasper 2006: 90). Die im Vergleich zum einsprachigem Klassenzimmer häufiger vorkommenden expliziten requests wie „Könnten Sie bitte wiederholen“ (Gardner 2013: 605), Wiederholungen, Pausen, Zögern als Zeichen von sprachlicher Kontrolle, der größere Sprechaufwand bei der Gesprächsführung (Gardner 2008: 232ff) 25 und häufigere Abbrüche und Reparaturen in der L2 als in der L1 (Schade 2003: 109) liefern somit die Grundbausteine fremdsprachlicher Gesprächsmuster: The trouble with the standard psycholinguistic account is that it does not entertain the possibility that perturbations in speech may be interactionally occasioned and that dysfluencies may even accomplish critical interactional work. (Kasper 2006: 88) 25 Markee (2000: 104) führt widersprüchliche Belege an, ob sich nicht auch L2 wie die L1 Sprecher lieber selbst korrigieren. <?page no="59"?> 59 Vor dem Hintergrund dieser Konventionen lässt sich der Lernprozess beschreiben und der Wissensaufbau im fremdsprachlichen Dialog rekonstruieren. 26 Auch wenn es für eine definitive Wertung der CA in der SLA noch zu früh ist (Kasper 2006: 86) und die Diskussion noch weiter anhält, inwieweit die CA Lernprozesse zu erklären vermag (Gardner 2013: 606ff), liegt hier sicherlich ein Potenzial für die Erforschung fremdsprachlicher Lernprozesse, und dies nicht nur im Bereich des Mündlichen; denn auf der Ebene des Handlungsgeschehens sucht die CA Begründungsmuster und stellt der Empirie der Fremdsprachenforschung ein methodisch ausgefeiltes Instrumentarium zur Verfügung: CA, with its tools for analyzing and comparing sequences of interaction at different points of time, can be a powerful lens on engagement and participation, knowledge states and understanding. It may not ultimately to be able to demonstrate how learning takes place, but it can document in the way that, for example, mainstream SLA studies cannot, what students are doing when they are engaged in a learning activity, and what they are doing at a later stage when they have, on available evidence, learned to become accomplished users of certain linguistics resources in interaction. (Gardner 2013: 609) Was der Ansatz nicht leisten kann: „[…] it does not provide a theory of how interactional competence is acquired and how it develops over time” (Kasper 2006: 91, Seedhouse 2004: 239), d.h., er macht da Halt, wo die psycholinguistischen Modelle ansetzen, nämlich vor den individuellen Prozessen, die „hinter“ der gesprochenen Sprache stehen (Beyer 2003: 89). Beide Zugänge stehen in einem gänzlich anderen wissenschaftsdisziplinären Kontext und wählen dementsprechend methodisch andere Vorgehen. Dennoch gibt es besonders im Bereich von Mündlichkeit durchaus Berührungspunkte. Während Kurtz (2010: 859) eine Annäherung über die unterrichtlichen Implikationen, d.h. aufgrund praxisnäherer didaktisch-methodischer Erkenntnisse, versucht, stellt m.E. das Aufzeigen von noticing ein Bindeglied dar, bei dem von der Beobachtungebene der CA auf die Tiefendimension des Lernprozesses geschlossen werden kann und sich dabei beide Ansätze ergänzen: Whether there is actual learning is of course much harder - perhaps impossible - to demonstrate, but at least Angela has noticed the corrected form (cf. Schmidt 1990), and produced it. Mennim (2007) provides evidence that repeated noticing an lead to longterm gains in learning a second language. CA is a good tool for locating where noticing takes place. (Gardner 2008: 235, Hervorhebung im Original, auch 236) 26 Zur Rolle der Prosodie im Rahmen konversationsanalytischer Studien vgl. Moroni et al. (2010: 26ff). <?page no="60"?> 60 Neben den positiven Einfluss von consciousness und attention auf die mündliche Produktion zeigen Interaktionssequenzen, dass wiederholtes noticing dem Lernen förderlich ist. Dabei wird sich auf Richard W. Schmidt bezogen, d.h. auf bewusste und intentionale Lernhandlungen (s. 1.4.2), die als solche dann auch durchaus im Rahmen der CA interpretiert werden können. Die Angewandte Linguistik hat in den 1980er Jahren das fremdsprachliche Lernen in die Dimensionen complexity, accuracy und fluency gefasst, die seither die Grundlage der meisten empirischen Untersuchungen bilden. Sie fungieren dabei als Deskriptoren für den schriftlichen und den mündlichen Spracherwerb und werden auch bei der Leistungsbestimmung herangezogen (Housen/ Kuiken 2009: 461ff, vgl. auch Bygate 1998). Während sie anfänglich als abhängige Variablen behandelt wurden, erforscht man sie seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend als unabhängig voneinander. Auch wenn der einschlägige Gebrauch dieser Konstrukte auf eine grundsätzliche definitorische Einigkeit schließen lässt, trügt der Schein: Accuracy, als die korrekte Anwendung der Sprache, bestimmt sich als Nicht-Verstoß gegen die Norm, also in der Messung von Fehlern, wobei sich der Normbegriff von der Standardsprache bis zur muttersprachlichen Performanz dehnt. Complexity verhüllt noch größere Ambiguitäten. Hierunter fallen pragmatische Aspekte, die stark vom sprachlichen Können und Wissen in der L1 beeinflusst sind. Vor allem sind hiermit der Reichtum bzw. Mangel an Ausdrücken und der Schwierigkeitsgrad der Satzstrukturen gemeint. Mit fluency wird der Sprachfluss beschrieben, d h. wie reibungslos und flüssig - schwerpunktmäßig mündliche - sprachliche Äußerungen hervorgebracht werden: This research suggests that speech fluency is a multicomponential construct in which different subdimensions can be distinguished, such as speed fluency (rate and density of delivery), breakdowns fluency (number, length, and distribution of pauses in speech) and repair fluency (number of false starts and repetitions) (Taxakoli and Skehan 205). (Housen/ Kuiken 2009: 463) Um aussagekräftige Daten zu erhalten, muss bei der Operationalisierung genau festgelegt werden, wie die drei Konstrukte zu messen sind, ob z.B. Übergeneralisierungen anders zu werten sind als mangelnde Worte, wie Fehler auf der diskurspragmatischen Ebene zählen oder in welchem Verhältnis die Qualität zur Anzahl von Nebensätzen steht. Beim Sprechtempo sind die Pausenlängen und Selbstkorrekturen auch vor dem Hintergrund der Erstsprache zu bewerten usw. Hinsichtlich der Verflechtung der unterschiedlichen Bewusstseinsstufen erweisen sich Studien, die sich mit der Interaktion dieser drei Komponenten besonders im Mündlichen befassen, als äußerst interessant, auch weil die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen. Während die korrekte Anwendung fremdsprachlichen Wissens, d.h. zumindest im Unterricht bis auf Niveaustufe B2, und auch <?page no="61"?> 61 das Suchen des „eleganteren“ Ausdrucks und der grammatisch komplexeren Form dem Sprechfluss hinderlich und daher nach der Meinung von Fischer (2006: 132, vgl. auch Neuf Münkel/ Roland 1994: 55) „über Bord zu werfen“ sind, scheinen Fortschritte im Bereich der fluency auf Kosten von Richtigkeit und Komplexität der Strukturen zu gehen (R. Ellis 1994: 107). Housen und Kuiken (2009: 465) führen als grundsätzliches Argument für die Priorität eines Bereiches an, dass die Aufmerksamkeit nur begrenzt Kapazität hat und man sich daher auf eine der drei Komponenten konzentrieren muss. Häufig geht das in einem stark inhaltsbetonten Unterricht zulasten der Korrektheit. Andere Untersuchungen belegen aber auch, dass metakognitives Wissen sich sowohl auf den Sprachfluss als auch auf den korrekten Sprachgebrauch positiv auswirken kann (House 1997: 81ff, Roehr 2010: 18, 26, vgl. auch Robinson 2003). Wigglesworth (2005: 105) stellt fest, dass in Studien der letzten zwei Jahrzehnte mehrheitlich fluency und complexity korrelieren, während die Ergebnisse zu accuracy nicht eindeutig sind. Sicher ist, dass flüssiges Sprechen verstärkt auf implizites Wissen zurückgreift (vgl. Bialstok 1994: 160, Schmidt 1992: 358), während das kontrollierte Abrufen des passenden und richtigen Ausdrucks ein expliziter Vorgang ist. Zu einem „Umspringen“ kommt es dann, wenn der Redefluss auf Hindernisse stößt: During fluent language use, we draw on implicit processes, and our attention is focused on meaning rather than form. When comprehension or production difficulties arise, however, explicit processes take over (N. Ellis 2005). We then deliberately focus our attention on language form, and make conscious efforts to analyze input or to construct or monitor output, utilizing internal or external resources. (Roehr 2010: 8) Umgekehrt drängt sich (z.T. falsches) implizites Wissen vor, wenn für das explizite Abrufen nicht die erforderliche Zeit gegeben oder dieses durch Müdigkeit behindert ist: Hence, it is likely that implicit processes not only subserve fluent and effortless language use (N. Ellis 2005), but may also take over again by default when the cognitive resources available for explicit processing are pushed to their limits - because of the time pressures inherent in meaning-focused oral communication (R. Ellis 2005, 2006) and/ or because of cognitive overload as argued above. (Roehr 2010: 25) Die quantitativ-qualitative Studie von Roehr (2010), in der über 17 Monate 56 Mal der Einzelunterricht (insg. 13,25 Stunden) eines erwachsenen englischsprachigen Deutschlerners über Audio aufgenommen wurde, zeigt, dass sich beide <?page no="62"?> 62 Schaltkreise keineswegs behindern müssen, sondern sich gegenseitig unterstützen; hier geht fluency nicht auf Kosten von accuracy. Das Sprechen in der Fremdsprache stellt sich als ein Kontinuum von impliziten und expliziten Vorgängen dar (Roehr 2010: 25, vgl. Ranta 2005: 101) und widersetzt sich Zuordnungen wie „implizit“ zu Form und „explizit“ zu Bedeutung oder umgekehrt; abgesehen davon, dass es wohl - in der Argumentation von Schwab (2009: 316ff) - im Klassengespräch realiter weniger um das Aushandeln von Bedeutung oder Form, sondern um das Ringen um ein Kommunikationsverständnis geht. Daneben scheint die Art, wie im Mündlichen gespeichert und abgerufen wird, auch nicht an grammatische Phänomene gebunden: […] no differences of interest were found for grammatical categories relative to frequency of hesitation. Our hypothesis that the verb group was more hesitation prone than the noun group was not confirmed. This suggests that encoding difficulty is not specific to any one structure across the group of learners. (Temple 2005: 38) Temple (2005) kommt in ihrer Studie im Rahmen einer Non-interface-Position und u.a. in Anlehnung an Segalowitz (s. 1.4.1) zu dem Ergebnis, dass flüssiges Sprechen von Automatisierungsprozessen in der Sprechplanung herrührt. Die Untersuchung von Ranta (2005) zum Zusammenspiel analytischer Fähigkeiten des Lernenden und Sprachproduktion im Mündlichen in einem kommunikationsorientierten Unterricht belegt keinerlei Korrelation: The two groups were not significantly different from each other in terms of speech rate, mean length of run, mean length of pauses, and frequency of reformulations and false starts. The only significant difference was in the frequency of repetitions. The analytic group produced significantly fewer immediate repetitions. This is a dysfluency marker that is identified by Dörnyei and Kormos (1997) as a problem-solving mechanism related to time pressure. […] This suggests that encoding processes of the less analytic group were less automatized than those of the analytic group. However, the speech rate and mean length of run variables, both of which are believed to reflect automaticity in a fairly direct way (Schmidt 1992: 362; Towell et al. 1996), did not reveal any statistically significant differences between the groups. (Ranta 2005: 120, Hervorhebung von SH) Sie schließt daraus, dass es weniger von den persönlichen Eigenschaften abhängig ist, wie flüssig die Lernenden sprechen lernen, sondern in welchem Rahmen und unter Anwendung welcher Methode ihnen die Sprache vermittelt wird. Die Vielfältigkeit der Ergebnisse verdeutlicht, dass sich Erwerbsprozesse im Mündlichen über die sprachlichen Beschreibungsebenen der L1, L2, L3 usw. <?page no="63"?> 63 hinaus wohl nur im Zusammenhang mit den individuellen, interaktionalen und unterrichtsmethodischen Faktoren erschließen lassen (vgl. Dörnyei 2009: 3, vgl. auch Schmidt 1992: 359). Dazu gehört auch der Faktor „Alter“. Auf die diesbezüglich widersprüchliche Datenlage bezüglich des frühen Erwerbs von Lauten und syntaktischen Strukturen sowie deren Automatisierung ist ja bereits hingewiesen worden (s. 1.4.1). Wenn wir uns aber die drei wesentlichen Merkmale von Sprechen anschauen: „1. Zum Sprechen gehört wesentlich die Artikulation des zu Sprechenden. 2. Sprechen geschieht unter einem erheblich höheren Zeitdruck als Schreiben. 3. Sprechen ist immer mit Körpersprache verbunden“ (Neuf-Münkel/ Roland 1994: 36), so wird offensichtlich, dass in allen drei Punkten ältere Lernende einer Fremdsprache tendenziell primär schlechte Startbedingungen haben. Im impliziten Gedächtnis verhaftet wird zunächst einmal automatisch das eigene Lautsystem auf die phonologische Ebene übertragen (Leather/ James 1996: 290), auf welches das explizite Wissen in der Fremdsprache nur selten hinunterreicht (vgl. Börner 1997: 50). Und wenn auch nicht von einer simplen Korrelation zwischen Perzeption und Produktion auszugehen ist, sind doch beide (häufig) miteinander verbunden (Leather/ James 1996: 284). So ist beim verstehenden Hören die notwendige Diskrimination der fremden Lautverbindungen für erwachsene Lernende meist äußerst schwierig (Leather/ James 1996: 273), weil die lange Zeit eingeschliffenen (Hör-)Muster einen sehr feinmaschigen Filter bilden. Dazu können sich im fortgeschrittenen Alter auch physische Hindernisse gesellen. Leather und James (ebd.) führen an, that individuals differ in their capacity for accurate perception of spatial configurations within the mouth (oral stereognosis), and has offered evidence of a correlation between good oral stereognosis and the ability to learn L2 sounds. The capacity for stereognosis apparently increases with the age until the midteens and remains high into adulthood (McDonald& August, 1967), declining with the advancing age (Canetta, 1977). Ältere sind dem Problem der Artikulation, bei der Fremdsprachenlernende allgemein implizit der Erstsprache verhaftet bleiben (vgl. Dörnyei 2009: 233ff, MacWhinney 2008: 363), insofern besonders ausgesetzt. Die Erfolge von Aussprachetraining und Phonetikunterricht zeigen aber auch, dass eine sehr gute Aussprache zwar nicht automatisch erfolgt, jedoch erlernbar ist (Dörnyei 2009: 243, vgl. auch de Bot et al. 2005: 68). Jeder Anfänger überträgt sein Lautsystem sowie die Prosodie seiner L1 auf die neue Sprache (vgl. MacWhinney 2008, Leather/ James 1996: 273ff). Das Ausmaß dieses Vorgangs ist natürlich von verschiedenen Faktoren abhängig, wie auch von dem Prozess, der die L1-Laute hervorgebracht hat: Auch dieser interagiert beim Aufbau des Lautsystems in L2 (Leather/ James 1996: 300). Nur <?page no="64"?> 64 wenn keine Äquivalente bestehen, d.h. wenn nicht assimiliert werden kann, liegt die Konzentration darauf, den anderen Laut zu verstehen und neue Kategorien aufzubauen (Leather/ James 1996: 276). 27 Da das italienische Lautsystem in Vielem von dem deutschen abweicht, müssen sich die italienischen Deutschlernenden im Anfängerunterricht mehrheitlich gerade dieser Aufgabe stellen. Auch der Zeitdruck erschwert Lernenden im fortgeschrittenen Alter den Erfolg beim Sprechen in der Fremdsprache, denn unter Zeitdruck kommt ein eher auf bewusste Prozesse Bauender ins Gedränge und „verfällt“ in implizit gelernte Muster (vgl. R. Ellis 2005: 165ff, R. Ellis 2006: 434). Das hier erforderliche unmittelbare Verarbeiten bzw. Reagieren, das in den Funktionsbereich des (im Alter nachlassenden) Arbeitsgedächtnisses fällt, versagt hier leicht. Wenn in Süditalien Gesten und Gestik auch allgemein zur Kommunikation gehören, so bedeutet dies nicht unbedingt Körpersprache beim fremdsprachlichen Sprechen. Die Körperlichkeit hervorgebrachter Laute verbunden mit dem Einsatz (und dem Hören) der eigenen Stimme konstituieren, gefährden aber auch massiv die eigene Identität (vgl. Appel 2000: 29, Holder 2005: 54, List 2003: 28). Die Angst vor Gesichtsverlust ist gerade bei bereits strukturierten, d.h. meist älteren Menschen größer und führt diese in Versuchung, nicht zu sprechen oder die körperliche Teilnahme am Sprechakt zu bremsen und damit auch ihre Performanz zu verschlechtern. […] the performance accuracy of an open-loop system depends upon a known relationship between its (motor) input and (acoustic) output - a calibration that presumably can only be made with production experience. (Leather/ James 1996: 280) Gemischte Altersgruppen und ein Unterricht, der einerseits schnelleres Reagieren anregt und trainiert, andererseits aber auch Zeit und Raum für Verarbeitungs- und Abrufprozesse lässt (vgl. Garton 2002), sind hier sicherlich ein Weg, das Sprechen in der Fremdsprache bei Erwachsenen zu fördern. 1.6 Fremd- und selbstinitiierte Bewusstmachung The acquisition of explicit knowledge can take many forms. The most prototypical is through instruction in metalinguistic rules, but many other ways 27 Lutjeharms (1994) hatte diesbezüglich bereits für die Worterkennung beim Lesen festgestellt, dass eine zu große Nähe zu der L1 eine tiefere Verarbeitung, d.h. Kategorienbildung, verhindere. Das Gleiche scheint auch für die phonologische Ebene zu gelten (de Bot et al. 2005: 68). <?page no="65"?> 65 exist of making learners aware of linguistic structure. (DeKeyser/ Juffs 2005: 440) Das gängige Zwei-Stufen-Modell, das eine kognitive und eine metakognitive Dimension unterscheidet, wobei letztere durch reflexives Denken auf die primäre Bedeutungsebene referiert (s. 1.1.3), bedarf infolge der multiplen neueren Erkenntnisse diverser Zusätze. Zunächst stellen sich die Übergänge weitaus fließender dar, als es eine zweidimensionale Perspektive erlauben würde. Die Vorstellung verschiedener Lernebenen im Sinne einer sich ausweitenden Verästelung, die sich nicht unbedingt mit der Tiefendimension kognitivistischer Modelle deckt, legt eher mehrdimensional angelegte Verarbeitungsprozesse nahe (vgl. Götze 1997: 3), die in Abhängigkeit einer Vielzahl von Variablen unterschiedlich emotional infiltriert sind, auch wenn dabei grundsätzlich die Zuordnung zu „kognitiv“ und „metakognitiv“ erhalten bleibt. Dabei müssen wir uns vor Augen halten: Für beide Vorgänge sind Lernende sehr unterschiedlich befähigt. Je nachdem, wie viele und welche Kategorien aufgebaut und „Spuren gelegt“ wurden, verfügen sie über eine höchst individuelle Ausstattung, so wie sie auch an Reflexion unterschiedlich gewöhnt sind. Des Weiteren muss sich - wie dargelegt wurde - der hohe Energieaufwand lohnen, den das Gehirn für eine derartige Lernanstrengung zu erbringen hat; es muss die subjektiv empfundene Notwendigkeit dazu vorliegen. Selbstinitiierte Bewusstmachung erhält ihren Anstoß, wenn wir auf etwas treffen, was sich in unsere bereits vorhandenen schematischen Muster nicht problemlos einfügen lässt. Eben die Lücke, die entsteht, wenn wir z.B. vor einem Problem stehen, bei dessen Lösung die bisher eingesetzten Mittel versagen oder wir etwas nicht verstehen, was wir verstehen wollen. Folglich sehen wir uns gezwungen, unser Agieren zu überdenken. Je nach Art der Schwierigkeit kann man es abwenden, andere Strategien ausprobieren, oder aber die Perspektive auf das Problem ändern und damit neue Zugänge konzipieren: Der Problemwahrnehmung folgt eine Analyse, und daran sollte sich die Handlung anschließen (Opwis 1996: 384). Der zweite und vor allem der dritte Schritt wird nur unternommen, wenn er unabdingbar ist bzw. hierfür ein triftiger Grund vorliegt; dies umso mehr, wenn es sich um eingeschliffene Verhaltens- und Denkweisen oder „gesichertes“ fremdsprachliches Wissen handelt, deren Veränderung destabilisierend wirkt: Die Aufbrechung von Automatismen erfordert eine Explizierung von sonst implizit und damit unbemerkt bleibenden Gesichtspunkten. Damit geht einher, daß die Einführung neuer zusätzlicher Interpretationsebenen zunächst eine Verringerung der Effizienz zur Folge hat, allerdings zum Nutzen von neuartigen Möglichkeiten einer globalen Flexibilität. (Opwis 1996: 396) <?page no="66"?> 66 1.6.1 Fremdsprachenlernberatung Consciousness is needed to change behavior. (N. Ellis 2005: 327) Als eine Form fremdinitiierter Bewusstmachung kann die Fremdsprachenlernberatung gelten, wie sie an Universitäten, Fremdsprachenzentren, öffentlichen und privaten Institutionen, (weniger) an Schulen ab Anfang der 1990er Jahre angeboten wird (Claußen 2009, Kleppin 2003, Kleppin/ Mehlhorn 2008, Mehlhorn 2005, Kleppin/ Mehlhorn 2006, Vogler 2007, Vogler/ Hoffmann 2011). Deutlich fortgeschrittener ist ihre Etablierung im mittel- und nordeuropäischen Raum. In Italien sind Sprachlernberatungen z.T. in den an die Universitäten gekoppelten Sprachenzentren und auch innerhalb einschlägiger Studiengänge implementiert, wie z.B. an den Universitäten in Bozen, Meran, Mailand, Modena und Palermo (bis 2010). Allerdings stellt Vogler (2007: 69) fest, dass sich in Italien „die Forschung zum Thema Sprachlernberatung für DaF noch in den Anfängen“ befindet sowie auch die Möglichkeit einer beruflichen Qualifikation oder Fortbildung fehlt (Vogler 2007: 70ff). Das Konzept, in dem Beratung wurzelt, steht im Rahmen der Erziehung zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, so wie sie als Grundwerte des bürgerlichen Bildungsideals schon seit der Aufklärung zirkulieren. Zum Zweiten basiert es auf der erkenntnistheoretischen Grundlage, dass Erkennen der erste Schritt zum Handeln ist, d.h., Bewusstmachung stellt als ersten Zugang zu einer Problemstellung den ersten Schritt zu deren Lösung dar. Während das Beratungskonzept maßgeblich von Carl R. Rogers (2004) ausgearbeitet wurde und in der Psychologie zu Hause ist, erfolgte dessen Ausdehnung auf das Fremdsprachenlernen über die Prinzipien der Selbststeuerung und Lernerautonomie (zu den Begriffen vgl. Schmelter 2004). Durch das Gespräch soll der Lernende Kenntnisse über seinen Zugang (Lernstil, -typ, Methoden) erlangen, sein Lernziel elizitieren und darauf aufbauend die zu unternehmenden Lernschritte formulieren. Die durch die Explikation erzeugte Bewusstmachung schafft eine Handlungsbasis, zunächst auf der Stufe der gemeinsamen Verständigung mit dem Berater, durch den der Lernende auch zusätzlich Informationen erhält, über die er zuvor nicht verfügte und die er gegebenenfalls in sein Lernprojekt integrieren kann; und später in der Praxis des Lernenden in der Umsetzung des Lernvorgehens und -vorhabens. Damit bewegt sich die Beratung vorwiegend auf der Ebene metakognitiven Wissens. Die Frage, die sich nun bezüglich des vorliegenden Forschungsprojekts stellt, ist, ob und inwieweit Beratung damit als Methode zur Schaffung von Bewusstsein einsetzbar ist. Das heißt: Verschafft Beratung wirklich Einsicht in die reflexive Tätigkeit der Lernenden und damit die Voraussetzungen zur Lernhandlung? Da <?page no="67"?> 67 sich die diesbezügliche Auseinandersetzung als eine methodologische versteht, wird sie als Gegenstand in Kapitel 3 behandelt. 1.6.2 Klassenverband 28 Die Einschätzung in der Fremdsprachenforschung von Interaktion als die Bewusstmachung initiierendes Faktum stützt sich auf Studien unterschiedlichster Vorgehensweisen und Zielsetzungen: Interaktionsforschung angloamerikanischer Prägung mit einer stärkeren Ausrichtung auf gruppendynamische Prozesse (vgl. hierzu Eckerth 2003) wie auch Studien mit einem anthropologischen Ansatz im Sinne von Schwerdtfeger (2001, 2003) stimmen letztendlich darin überein, dass kollektives Lernen die kognitiven Tätigkeiten fördert, sei es, indem es - nach konstruktivistischen Theorien - das Abgleichen bereits vorhandener Denkmuster ermöglicht oder - wie Königs nahelegt - direkt beim Bedeutungsaushandeln eingreift, also bereits auf einer Vorstufe anzusiedeln ist (Königs 2005: 452, 456). Wie oder auf welcher Stufe dieser Wissensaufbau vonstatten geht, auf jeden Fall bewirkt das Zusammentreffen von subjektiven und intersubjektiven Wirklichkeiten (Legutke 1996: 60) Akkommodationsprozesse, die für den Einzelnen bedeutsam im Sinne von Bedeutung stiftend sind. In Bezug auf psycholinguistische Ansätze in ihrer Erweiterung durch soziokulturelle Theorien urteilt Wigglesworth (2005: 103): In this perspective, interaction is considered to be the site of cognitive development, including language development. In such interactions, language mediates cognitive development as well as reflects the processes taking place. The approach is based on the premise that interaction is critical to successful SLA and that classroom practice can be designed to maximize learners’ opportunities to notice, test hypotheses, and receive and internalize feedback, processes which are hypothesized to occur within collaborative task-based interaction. In Interaktionssequenzen wie z.B. Rückfragen, Bitten um Wiederholung, Bestätigung oder Korrektur werden auf verschiedenen Ebenen Bewusstmachungsvorgänge angeregt: Der Fragende verarbeitet input, der Befragte wird zur Fokussierung eines Problems aufgefordert, und weiteren Zuhörenden eröffnet sich (zumindest) das breite Spektrum des Mitlernens. Durch die Einbettung gruppeninitiierter Reflexionsprozesse in den Bedürfnisstand des einzelnen Lerners wird dem Bewusstgemachten ein persönlicher Stellenwert unterlegt und damit sein Lernen unterstützt (vgl. u.a. Eckerth 2003: 268, Hoffmann 2008a, Slavin 1996). 28 In Teilen greift dieser Abschnitt Überlegungen aus Hoffmann (2008b) auf. <?page no="68"?> 68 Auf die Frage, was beim interaktiven Geschehen entscheidend zum Fremdsprachenlernen beiträgt, ob die Form der sprachlichen Einbettung, der interpersonelle Umgang oder die Aufgabenstellung einen größeren Einfluss ausüben, liefern die diversen Interaktionshypothesen entsprechend ihrer Ansätze unterschiedliche Antworten. 29 Es scheint darüber hinaus auch, dass die Lernenden die Lehrer-Lerner-Diskurse in der Klasse aufmerksam verfolgen, d.h., dass ihre Aufmerksamkeit nicht merklich absinkt, auch wenn sie nicht direkt involviert sind (Eckerth 1998: 116). Zuhören wird hier offensichtlich bewusst als Form des Mitlernens gewählt. 1.6.2.1 Explizite und implizite Korrekturhandlungen und Modifizierungen Es lassen sich diverse Studien zum Korrekturverhalten anführen, aus denen hervorgeht, dass die Lernenden vorzugsweise von der Lehrkraft korrigiert werden wollen (Lochtman 2002: 15, 23, 117ff, in Anlehnung an Kleppin/ Königs 1991, abweichend Schwab 2009: 365). Dabei besteht häufig die Vorliebe für explizite Korrekturen (Lochtman 2002: 109). Diese erweisen sich offensichtlich aufgrund ihrer höheren (bewussten) Wahrnehmbarkeit bzw. Verständlichkeit im Vergleich zu impliziten Berichtigungen als lernfördernder (Carroll/ Swain 1993: 365f, Lochtman 2002: 63, Lyster/ Ranta 1997: 57, vgl. auch House 1997: 78, 82; Tobiasz 2008: 464). Ähnliche Überlegungen lassen sich auch in Bezug auf die größere Wirkungskraft von negativem Feedback anstellen: Einerseits stellt es die für den Unterricht häufigste und gängigste Korrekturform dar (Lochtman 2002: 81), d.h., es entspricht den Lernerwartungen der Lernenden; darüber hinaus stehen sie im Einklang mit dem Noticing-the-gap-Prinzip und somit mit den kognitiven Sprachlerntheorien unterschiedlichster Prägung (vgl. Gass 2003): Durch Aufmerksamkeitszuwendung wird die Wahrscheinlichkeit der Wahrnehmung des Unterschieds größer, wodurch die Chance, dass ein Lernprozess entsteht, zunimmt. […] Auch Schmidt und Frota (1986) sehen im Noticing-the-gap- Prinzip die lernfördernde Rolle der Fehlerkorrektur und des negativen Inputs im FSU überhaupt. […] Es wird davon ausgegangen, dass Korrekturen - die als solche wahrgenommen werden - als aufmerksamkeitserregende Mittel mit einer größeren Wahrscheinlichkeit das Gewahrwerden des Unterschieds oder einer Kenntnislücke auslösen, als nur positiver Input dies verursachen könnte (vgl. auch Long 1996). (Lochtman 2002: 57f) Die Aufmerksamkeitszuwendung ist demnach bei explizitem negativem Feedback größer und damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass es über 29 Eine Übersicht bieten Henrici (1995) oder Eckerth (2003). <?page no="69"?> 69 noticing zum understanding kommt. Allerdings räumt Susan M. Gass (2003: 246ff) ein, dass hier nach dem jeweils zu erlernenden sprachlichen Phänomen zu unterscheiden ist. Zum impliziten Korrekturverhalten, den recasts, der häufigsten Form von Feedback (Lyster 1998: 189, Schoormann/ Schlak 2012: 20), lassen sich verschiedene Studien vor allem aus der angloamerikanischen Forschung anführen. Die Untersuchungsergebnisse bestätigen zunächst einmal dem impliziten negativen Feedback beim L2-Erwerb prinzipiell eine „facilitative role“ (Long et al. 1998: 367, vgl. auch Mackey 2006). Auf die Frage, wie recasts wirken, fallen die Antworten allerdings unterschiedlich aus (vgl. Schoormann/ Schlak 2012: 20ff). Carroll und Swain (1993) ermitteln in ihrer Untersuchung die Rolle von explizitem und implizitem negativem Feedback von der Lehrerseite bei erwachsenen Lernenden im Rahmen von Mündlichkeit. Sie unterscheiden dabei in der Experimentalgruppe vier verschiedene Formen: 1. explizite Korrektur mit Erklärung, 2. explizite Korrektur ohne Erklärung, 3. implizites negatives Feedback durch recast und 4. implizites negatives Feedback durch request (Sind Sie sich da sicher? ), daneben steht eine Vergleichsgruppe ohne jegliche Form von Rückmeldungen. Die Ergebnisse belegen, dass Feedback grundsätzlich lernförderlich ist und sowohl bei direkter als auch bei indirekter Rückmeldung zu einer deutlich besseren Leistung führt. Zu einem etwas anderen Ergebnis kommen Lyster und Ranta (1997). Auch in dieser Untersuchung von Immersionsunterricht bestätigen sich recasts als die am häufigsten gewählte Korrektur, jedoch erbringt dieses Verhalten keinesfalls die höchste Zahl von uptake. In dem ihrer Studie zugrunde gelegten Modell differenzieren sie zwischen sechs Formen von Lehrerfeedback: explicit correction, recast, clarification request, metalinguistic feedback, elicitation, repetition, deren Einsätze auch häufig verbunden werden, wobei sich die Maßnahmen, bei denen deutlich die Aufmerksamkeit auf den Fehler gelenkt wird, sich als lernförderlicher herausstellen: The feedback types that allow for negotiation of form are the four that lead to student-generated repair, namely elicitation, metalinguistic feedback, clarification requests, and repetition. Both elicitation and metalinguistic feedback proved to be particularly powerful ways of encouraging repairs that involves more than a student repetition of the teacher´s utterance - these feedback moves resulted in student-generated repair 45% and 46% of the time, respectively. Clarification requests and repetition were the next most successful, eliciting student-generated repair 27 % and 31 % of the time, respectively. Recasts and explicit correction, both definitionally incompatible with student-generated repairs, elicited no repair other than repetition. (Lyster/ Ranta 1997: 56) <?page no="70"?> 70 Sicherlich sind die Ergebnisse in den angeführten Untersuchungen nur bedingt vergleichbar, da sich die Untersuchungsgruppen in der Unterrichtsform, in der Fremdsprache, im Sprachniveau, im institutionellen Lernzusammenhang usw. unterscheiden. Es zeichnet sich aber ab, dass das von den Lehrenden - wohl auch im Zuge des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts und seines „erklärungsfeindlichen“ Korrekturverhaltens eingesetzte - bevorzugte Feedback nicht unbedingt zu den erfolgreichsten gehört. Als Erklärung hierfür wird angeführt, dass der Lernende nicht bewusst wahrnimmt, was er falsch macht, dass eben der erforderliche Notice-the-gap-Effekt ausbleibt oder eben an die Lerngewohnheiten aneckt. Dennoch bleibt das implizite Korrigieren theoretisch durchaus gut untermauert, da es innerhalb des inhaltvollen Sprechakts erfolgt: Recast can present learners with psycholinguistics data that are optimized for acquisition because - in the contrast between their own erroneous utterance and the recast - they highlight the relevant element of form at the same time as the desired meaning-to-be-expressed is still active, and the language learner is again engaged in the processes of focused input analysis […]. (N. Ellis 2005: 328, 332) Es gilt daher zu differenzieren, einmal mit Blick auf das sprachliche Phänomen: „Teachers tended to recast grammatical and phonological errors and to negotiate lexical errors“ (Lyster 1998: 208) und zum anderen bezüglich der Lernerkonstellation. Recasts scheinen eher bei Anfängern (Lyster/ Ranta 1997: 56) und bei jüngeren Lernenden eingesetzt zu werden: For instance, whereas the teachers of adults provided a similar proportion of recasts to the teachers of children, they were more likely to provide NF [negative feedback, SH] to their older learners in the form of a negotiation strategy. From this study it is unclear why this might be so; perhaps it is because it is more palatable or appropriate for teachers of adults to negotiate with their students than it is for teachers of children. (Oliver 2000: 142) In der zitierten Studie zeigen beide Gruppen keinen Unterschied im Umgang mit dem jeweils erhaltenen qualitativ unterschiedlichen negativen Feedback (Oliver 2000: 143). Zusammenfassend zeigt sich ein vorzugsweise implizites Korrekturverhalten im Klassenzimmer, wobei sich eine stärkere Anwendung (und teilweise ein größerer Erfolg) von recasts bei jüngeren und an kommunikativen Unterricht gewöhnten Lerngruppen sowie bei fortgeschrittenen Lernern (Mackey/ Philip 1998), außerdem bei den Lernphänomenen Grammatik (besonders in formenfokussierenden Unterrichtssettings) und Aussprache beobachten lässt. Für Erwachsene und Lernende mit stärker auf Frontalunterricht ausgerichteter <?page no="71"?> 71 Lerntradition stellen metalinguistische Erklärungen und fehlerzentriertes Problematisieren zusätzlich aber auch eine angemessene und lernförderliche Methode dar (vgl. Mackey 2006, Norris/ Ortega 2000). Bevor sich weitere verallgemeinerbare Schlüsse ziehen lassen, besteht aber offensichtlich noch Forschungsbedarf. 1.6.2.2 Interpersonale (nonverbale) Einflussfaktoren Nonverbales Verhalten beeinflusst wesentlich das, was wir von einer Mitteilung an Bedeutung wahrnehmen. In diesem Sinne wird diesem relevanten Teil menschlicher Kommunikation seit Anfang der 1970er Jahre in seinen Anwendungen und Funktionen im fremdsprachlichen Klassenzimmer verstärkt Beachtung gezollt (Antes 1996: 445), die sich sowohl auf das Lerner-Lernerals auch auf das Lerner-Lehrer-Gespräch richtet (Allen 2000, Gregersen 2007). Nonverbalia können einmal sprachliche Äußerungen unterstützen, sie ersetzen oder ihnen auch widersprechen, zum anderen aber auch von Verbalisierungen unabhängige Emotionen ausdrücken (vgl. Piontek 1995: 138); häufig wirken sie zeitgleich im Zusammenspiel: „Because of their continuous, active, and often simultaneous nature, they are able to convey several messages at one point in time, whether alone or accompanied by a spoken message“ (Antes 1996: 443). Neben angeborenen Anteilen und damit universell verständlichen nonverbalen Verhaltensweisen erfahren viele gleiche Körpersignale in den verschiedenen Kulturkreisen unterschiedliche Interpretationen, d.h., sie werden im Laufe der Sozialisation mit der entsprechenden Bedeutung erworben. Anwendung und Einsatz hängen dann in der jeweiligen Gesellschaft, aber auch noch von weiteren Faktoren wie der Schichtzugehörigkeit, dem Geschlecht, dem Alter und natürlich der Situation ab. In der vorliegenden Studie, die mit Deutschlernenden am Goethe-Institut Palermo durchgeführt wird, entstammen die Kursteilnehmer alle der Stadt Palermo bzw. dem sizilianischen Hinterland, d.h., sie gehören demselben südeuropäischen Kulturkreis an. Die sie unterrichtende deutsche Lehrkraft ist seit vielen Jahren hier ansässig und insofern des gängigen Ausdrucksverhaltens mächtig, auch wenn sie sich dessen nur in begrenztem Umfang bedient. Aus der langen Liste von Elementen nonverbaler Verständigung in Darn (2005) sind für die vorliegende Studie insbesondere die von Piontek (1995) behandelten wichtig: Mimik, Gestik, das Blickverhalten, die Körperhaltung und die vokale Kommunikation. <?page no="72"?> 72 Mimik Das Gesicht übernimmt die wichtigste Funktion bei der Übermittlung von Emotionen, affektiven Zuständen, Empfindungen und Stimmungen, wie Freude, Angst, Trauer. In dem Maße, in dem diese bewusst sind, kann die Mimik kontrolliert und gegebenenfalls auch intentional eingesetzt werden. Darin begleitet sie häufig die sprachliche Mitteilung. In bestimmten Situationen allerdings entgleitet dem Sprechenden diese Kontrolle über die Gesichtsmuskulatur und der Ausdruck „verrät“ mehr, als der Sprecherin oder dem Sprecher lieb ist. Gestik Bei den körperlichen Signalen lassen sich sprachbezogene Gesten und sprachunabhängige Bewegungen (Adaptoren) unterscheiden. Bei der ersten Gruppe handelt es sich um Illustratoren, die das Gesagte begleiten, oder Embleme, die die gesprochene Sprache ersetzen. Die sizilianische Gestensprache verfügt über ein reichhaltiges Repertoire an sprachbezogenen Gesten beider Kategorien, die der Bevölkerung allgemein bekannt sind und deren man sich tagtäglich bedient (vgl. Oliveri 2002). Körperliche Signale, die von der sprachlichen Mitteilung unabhängig übermittelt werden, sind meist unwillkürlich und als lesbare Zeichen weniger kodifiziert. Blickverhalten Inwieweit in Gesprächen Blickkontakt gesucht bzw. vorausgesetzt wird, ist stark kulturabhängig. Während es im europäischen Raum dazu gehört, dem Partner während der Unterhaltung in die Augen zu schauen, wird dies z.B. im asiatischen Raum als ungehörig empfunden. Das Blickverhalten reguliert die Kommunikation, indem es sich je nach der Sprecherbzw. Zuhörerrolle ändert oder diesbezüglich einen Wechsel ankündigt. Die Augen als „Fenster zur Seele“ erfüllen eine relevante Funktion in der Kommunikation und damit auch im Klassengeschehen. Das plötzliche Hochblicken eines Mitschülers als deutlicher Ausdruck der Ablehnung kann einen Lernenden soweit verunsichern, dass er die Kommunikation abbricht. Körperhaltung, räumliche Distanz und Körperkontakt Die Körperhaltung enthält eine Vielzahl gesprächsrelevanter Mitteilungen. Sie signalisiert Anteilnahme oder Desinteresse, ermutigt zum Sprechen oder unterbricht eine Mitteilung, z.B. durch ein Sich-Abwenden des Partners. Darüber hinaus erteilt sie Aufschluss über soziale Beziehungen und Machtkonstellationen. Wie nah oder fern sich Personen im Gespräch stehen, ist dabei stark kulturell bestimmt: <?page no="73"?> 73 Kontaktkulturen zeichnen sich dadurch aus, daß die Menschen sich meist ziemlich nah gegenüberstehen, lauter sprechen und häufigeren Blickkontakt haben als Menschen aus „Distanzkulturen“. (Piontek 1995: 142) Sizilien gehört im Gegensatz zu Deutschland zu einem Land, bei dem die Kontaktschwelle niedrig liegt. Damit ist allerdings, wie schon angedeutet, keinesfalls eine größere Bereitschaft zu einer stärkeren Einbindung des Körpers beim Lernen impliziert (z.B. im Sinne holistischen Lernens), es überwiegt eher eine körperliche Distanz und Bewegungsscheu im Rahmen tradierter Lernformen. Vokale Kommunikation Die Stimme gilt als der „Kernbereich der Selbstdarstellung einer Person“ (List 2002b: 8, Küster 2014: 129). Die Melodie beim Sprechen, der Klang der Stimme und die Pausensetzung sind typisch für eine Person und gehören zu ihrer Identität. Die Stimme gibt Auskunft über unsere Gefühlslage, sie kann bei größter Erregung versagen oder ungewollt schrill klingen. Leises Sprechen kann Ausdruck von Schüchternheit sein oder des Wunsches, andere bewusst zum Zuhören anzuhalten. In Südeuropa herrscht bei Gesprächen häufig ein hoher Lärmpegel, der durch das verstärkte Durcheinanderreden bedingt ist, was wiederum die Teilnehmenden zu lauterem Reden zwingt. So werden Signale für den Sprecherwechsel kaum wahrgenommen; vielmehr ist die Stimmstärke ausschlaggebend, um zu Wort zu kommen. Nonverbales Verhalten entzieht sich zum großen Teil unserer bewussten Handlungskontrolle, d.h., wir verrichten vieles unbewusst. Es ist verstärkt Ausdruck von Affekten wie Freude, Wut oder Anspannung, oder auch situationsbedingten Emotionen, auch wenn der körperliche Ausdruck durchaus bewusst eingesetzt und kontrolliert werden kann, z.B. der mahnende Blick des Lehrers oder die abwertende Handbewegung bei einem Vorschlag (Hoffmann 2008a). Wie wir nonverbales Verhalten wahrnehmen und darauf reagieren, ist individuell bedingt sowie kulturabhängig. 1.7 Methodologische Vorüberlegungen Den Zugriff auf das Bewusstsein als emotional-rationales Geflecht, das sich zwischen Wahrnehmung und Handlungsausführung verortet, kann nur ein Zusammenschnitt vielfältiger Methoden liefern. Diese sollen Lernprozesse zwischen input, diversen Intake-Ebenen und output (oder outcome) aufdecken (vgl. Mackey 2006: 408, Wigglesworth 2005: 99), denen sich die Fremdsprachenforschung seit den 1980er Jahren mit unterschiedlicher Gewichtung und Perspektive verstärkt zugewandt hat (Norris/ Ortega 2003: 724). Klammern wir im Vor- <?page no="74"?> 74 feld unbewusste Lernvorgänge aus, bleibt dennoch die breite Spanne, die bei vorbewussten Zuständen ansetzt und beim output, dem messbaren Produkt - bestenfalls dem Erwerb - des Lernprozesses, endet. Beim dem vorliegenden Forschungsgegenstand handelt es sich um ein „dynamisches Konstrukt“, das auf verschiedenen Kommunikationsebenen greifbar wird: Where interpretations are to be made about dynamic constructs, such as grammatical development along attested routes of acquisition, multiple instances of behaviour will need to be elicited over time, in order to determine what rules or forms may already be present or not within the learner´s interlanguage system, and what a change in behaviour with a rule or form may indicate. (Norris/ Ortega 2003: 733) Die Spannweite, die im Gegenstand selbst angelegt ist, erhöht allerdings auch die ohnehin schon beträchtliche Anzahl von unvorhersehbaren Variablen im Forschungsprozess: Thus, while elicited behaviours may reflect intended constructs in part, no elicitation procedure, regardless of how much control is exercised by the researcher, is immune to variability introduced by the interaction of the human subject with the measurement task or situation. (Norris/ Ortega 2003: 734) Um diesen „invalidierenden“ Faktoren entgegenzuwirken bzw. sie einzuschränken, haben die Verfahren einmal die Aufgabe, die diversen Bewusstseinsebenen zu erfassen und zum anderen, sich gegenseitig auszuleuchten. Subjektive Theorien, wie sie als wissenschaftliches Konstrukt von Groeben (1986) bzw. Groeben et al. (1988) entwickelt wurden, dienen der Offenlegung bewusster Vorgänge und ihrer Wirkung auf das Lerngeschehen, und als solche werden sie verschiedentlich in der Fremdsprachenforschung eingesetzt (vgl. u.a. Caspari 2003, Kallenbach 1996, Morkötter 2005, Schmelter 2004). Bei ihrer Anwendung lassen sich zwei Varianten unterscheiden: die weite Fassung, bei der das Konstrukt stabile, bewusste und damit mitteilbare Strukturen, aber auch implizites Wissen erfasst, und die enge Version, die mit dem Ziel der Theoriebildung die Realitätsrelevanz subjektiver Theorien zu überprüfen hat (Grotjahn 1998: 41), wobei auf eine kommunikative Validierung zur Verständnisabsicherung und auf Formen der Handlungsvalidierung zur Überprüfung der handlungsleitenden Funktion zurückgegriffen wird. Grotjahn (1998: 47, 49) stellt fest, dass die explanative Validierung in der Fremdsprachenforschung kaum eingesetzt wird und meist die weite Version Anwendung findet. So grenzen sich sowohl Schmelter (2004: 309) als auch Mörkötter (2005: 18f) mit Rückgriff u.a. auf Steinke (1999) von der engen Version ab. Die explanative Validierung setze <?page no="75"?> 75 auf die Fragwürdigkeit einer konsekutiven Verbindung von Bewusstgemachtem und dessen Umsetzung, die bereits schon weiter oben angesprochen wurde. Sie bedeute eine Einschränkung, weil alles nicht Handlungswirksame aus diesem Verfahren herausfalle. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass nur in der Handlung Teilbewusstes oder auch implizites Wissen offenkundig wird. Vor dem Hintergrund funktional-biologischer und handlungsorientierter Ansätze ließe sich argumentieren, dass nur der Schritt zur Handlung die (Lern-)Relevanz belege, da im Tun manifest wird, was für das Individuum „wirklich vonnöten“ ist. Zudem lösen nur das Erscheinen und die Umsetzung von Konstrukten oder Bewusstseinslagen interaktive Lernprozesse aus, die wir als Potenzierung der Bewusstseinsbildung und als lernförderlich definiert haben. Auch hier zutage tretende Divergenzen bieten einen neuen Zugriff auf die Daten, denn was nicht explizit gemacht wurde, sich aber in Handlung zeigt, oder was als bewusstes Muster besteht, aber nicht in Erscheinung tritt, liefert Auskunft über das Lernverhalten. Vor dem Hintergrund eines emotional erweiterten Bewusstseinsbegriffs, in dem eine Vielzahl auch vorbewusster Komponenten Platz hat und der als Spitze den Eisberg unbewusster Vorgänge krönt, kann jeglicher Akt von Verbalisierung nur im Zusammenhang mit anderen Perspektiven einhergehen. Des Weiteren hängt die Aussagekraft der Erhebung sicherlich auch stark davon ab, wie nah man im Gespräch an die Vielschichtigkeit des Bewusstgemachten in seiner emotionalen Verästelung kommt. Je breiter bzw. tiefer die Verständigungsebene ist, desto größer wird auch der Aussagewert und umso wahrscheinlicher wird es, dass der/ die Gesprächspartner/ in, in diesem Fall die/ der Beratene, ihr/ sein Lernvorhaben umsetzt (zum Einsatz von Beratungsgesprächen als Erhebung subjektiver Theorien s. Schmelter 2004: 301ff). Subjektive Theorien beschreiben darin, aber nicht nur, den potenziellen input. In ihrer Erhebung durch Tagebücher und Interviews (vgl. Vollmer 1998: 202) liefern sie eine Perspektive auf das Lerngeschehen. Diese Texte sollten einmal auf den affektiven Gehalt hin überprüft werden, aber es sollte auch die konnotative Bedeutung im persönlichen Sprachgebrauch einbezogen und so eine affektive Inhaltsanalyse erstellt werden. Timm (1998b: 175) unterstreicht dabei, dass diese subjektiven Konstrukte in der Interaktion nach außen treten und gerade dieses Zusammenspiel aussagekräftige Daten liefern kann. Mit der Beschreibung unterrichtlicher Aktivität als Interaktion und damit dem Einbezug der Außenperspektive wird auch der Kritik an introspektiven Verfahren begegnet, nämlich, dass nicht alle kognitiven und emotionalen Prozesse bewusstseinsfähig und damit verbalisierbar sind (Aguado 2004: 27). Input/ Intake. Des Weiteren bietet die Handlungsebene die Sicht von außen auf das Geschehen. Hier werden nicht nur Reflexionen sichtbar - bzw. ihre Un- <?page no="76"?> 76 sichtbarkeit liefert ein Element zur Interpretation -, sondern auch ihr Stellenwert für das Lernvorhaben. Vor allem trägt man so dem oben dargelegten Sachverhalt Rechnung, dass sich Lernen als zielgerichtetes Handeln nicht über die Wiedergabe von Reflexionen erschöpfend aufschlüsseln lässt, was Leow (1997) im Anschluss an seine Untersuchung ausdrücklich im Rahmen der Forschungsdesiderate erwähnt: „In addition, further research still needs to address possible dissociations between awareness (even at the level of noticing) and learners’ L2 behavior“ (Leow 1997: 494). Die dritte Ebene soll den output ermitteln und will darüber auf das intake schließen. Außerdem ist das Produkt im Verhältnis zum input zu sehen und zu beurteilen. Das geschieht durch eine Prüfung (z.B. Testverfahren) des Sprachstands in verschiedenen Momenten des Lernprozesses sowie zur Erfassung des langfristigen Erwerbs durch einen zeitversetzten Nachtest und zum anderen durch die Beurteilung des Experten, d.h. der Lehrenden des Kurses. 1.8 Zwischenbilanz und erster Forschungsfragenkomplex Das vorangegangene Kapitel sollte in einem Streifzug durch die Bezugswissenschaften in den Bewusstseinsbegriff einführen und die hier vorhandenen Grundkonzepte und -begriffe vorstellen und erläutern. Hiernach lässt sich Bewusstsein als ein dynamisches Gebilde beschreiben, in dem kognitive, emotionale und motivationale Elemente gemeinsam wirken. Zu diesem Zusammenspiel ist zu bemerken, dass die Einflusskraft der emotionalen Komponente im Moment der Handlungsentscheidung und -planung an Relevanz verliert. Des Weiteren unterlegt die Handlungskomponente besagten Vorgängen Funktionalität. Bewusstsein arbeitet verstärkt mit deklarativem Wissen, das sich auf einer kognitiven und einer metakognitiven Ebene ansiedelt, aber auch mit handlungsleitenden Kognitionen. Das Wissen kann merklich auf dieses Können wirken, wobei der direkte Einfluss der bewussten Komponente bei zunehmender Automatisierung abnimmt. Auch in der anderen Richtung dringen von dem prozeduralen Wissen kognitive Strukturen ins Bewusstsein. Es wird davon ausgegangen, dass erwachsene Lernende verstärkt auf bewusste Verarbeitungs- und Abrufprozesse zurückgreifen. Bei tieferer Elaborierung wird auf sukzessiv seriell und bei einfacheren kognitiven und nichtsprachlichen Leistungen auf schnell parallel ablaufende Verarbeitungsformen zurückgegriffen. Im Fremdsprachenerwerb sind beide Modellierungen sowie bewusste und unbewusste Prozesse auf das Engste miteinander verknüpft, allerdings bedient sich ihrer jeder Lernende unterschiedlich: <?page no="77"?> 77 Auch Individuen könnten sich bei der Verarbeitung von Informationen unterschiedlich verhalten. So nutzen möglicherweise einige eher schemaartige Strukturen, während andere verstärkt auf prozedurales Wissen zurückgreifen. Die interindividuellen Differenzen legen nahe, dass Menschen unter Umständen auch von unterschiedlichen Formen der Wissensrepräsentation unterschiedlich Gebrauch machen. (Marschollek 2002: 67) Das Verhältnis zwischen psychologischen und physischen Abläufen wird in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Lenk (2004: 205) als probabilistisch und nicht deterministisch gesehen. Das heißt, dass die auf lernpsychologischen Theorien aufbauende Interpretation von (Lern-)Verhalten neurobiologisch plausibel zu erscheinen hat, diese aber nicht begründet. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Awareness-Konzept in der Fremdsprachendidaktik wurde mit Rückgriff auf die fächerübergreifende Emotionsforschung der Bewusstseinsbegriff für die vorliegende Studie weiter ausgebaut. In Anlehnung an die Noticing Hypothesis von Richard W. Schmidt und vor allem an seine frühen Arbeiten beginnen Bewusstseinsprozesse in der Wahrnehmung und führen unter Mitwirkung von Aufmerksamkeit vornehmlich in der Noticing-Phase zum Verstehen bzw. zur Verarbeitung. Dies gilt auch für die mündliche Kompetenz im Fremdsprachenerwerb, bei dem ein konsistenter Teil unseres Lernens auf impliziten Vorgängen beruht. Zur Bewusstmachung tragen einmal selbst-, aber merklich auch fremdinitiierte Prozesse bei; zu diesem Zweck wird für die vorliegende Untersuchung auf die Fremdsprachenlernberatung zurückgegriffen, bei der Analyse der Unterrichtssequenzen finden explizite und implizite Korrekturhandlungen sowie nonverbales Verhalten Beachtung. Derart konzipierte Vorgänge sind auf der Input-, Intake- und Output-Ebene zu ermitteln. Auf der in diesem Kapitel dargelegten Auseinandersetzung baut der erste Forschungsfragenkomplex auf: Zunächst soll überprüft werden, inwieweit Bewusstmachung auf den fremdsprachlichen Lernprozess Einfluss hat und in welchem Maße sich daran eine Verbesserung der mündlichen Kompetenz festmachen lässt. Dazu wird in einem weiteren Schritt der Bewusstseinsgrad (in Anlehnung an die von Anderson konzeptualisierten drei Stufen von Lernen) mit dem Lernresultat korreliert. Allerdings bedarf es hierzu nicht nur der kognitivemotionalen, sondern auch der motivationalen Komponente, der wir uns daher im folgenden Kapitel zuwenden. <?page no="79"?> 79 2. Willentliche Lernhandlungen Dass bewusst Realisiertes nur in Teilen mit Realisierung übereinstimmt, gehört zu unserer alltäglichen Erfahrung und nunmehr zum wissenschaftlichen Verständnis von Bewusstsein; genauso wenig ist die Verarbeitung in bestimmten Bewusstseinsstufen als Folge von Handeln automatisch, sondern das Ergebnis eines subtilen Zusammenspiels kognitiver, emotionaler und motivationaler Faktoren. Beide Vorgänge, sowohl die praktische Umsetzung von Wissensbeständen in Können als auch der Aufbau- oder Umbau von Wissensstrukturen, sind erklärtes Ziel des Fremdsprachenunterrichts und stellen den Brennpunkt dar, in dem Motivation und Bewusstsein zusammentreffen. 2.1 Perspektiven der Motivationsforschung Motivation wird in der Motivations- und Interessenforschung mehrheitlich über das Zusammenspiel von Motiven (dispositionellen Ursachen) und Anreizen (situativen Ursachen) definiert (vgl. z.B. Heckhausen 1989: 9, Seel 2000: 78, Sokolowski 1996: 503, Weiner 1994: 231 u.a.). Grundlagenwerke und Einführungen in die Motivationspsychologie stimmen überein: Typisch für die klassische Motivationspsychologie ist also eine Trennung von Motiv als überdauerndem Personenmerkmal und der je aktuellen Motivation, die aus der Wechselbeziehung zwischen jeweiliger Situation und Motiv resultiert. (Rheinberg 2008: 70) Unter Motiven versteht man „überdauernde Dispositionen“ (Apelt 1981: 44f) wobei hierbei mit wenigen Ausnahmen - wie den frühen Triebtheorien oder der Bedürfnistheorie von Maslow 30 - die angeborenen Funktionen ausgliedert sind, die der Aufrechterhaltung des Organismus dienen, d.h. der Befriedigung primärer physiologischer Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Schlaf usw. (vgl. Heckhausen 1989: 9f). Neben einem angeborenen Bedürfniskern wirkt der frühe familiäre Kontext nachhaltig auf die Motivbildung (Scheffer 2005: 114), d.h., Motive sind in der 30 Die Hierarchie von Maslow (1954) baut auf Bedürfnissen auf. Ausgerichtet auf personenbezogene Motive stellt er eine fünfstufige Skala ausgehend von den niederen Mangelbedürfnissen (den physiologischen Bedürfnissen, Sicherheitsbedürfnissen, sozialen Bindungsbedürfnissen, Selbstachtungsbedürfnissen) bis zu den höheren Wachstumsbedürfnissen (den Selbstverwirklichungsbedürfnissen) auf. <?page no="80"?> 80 Person aufgrund ihrer Vorgeschichte angelegt. 31 So kann z.B. Lernen, und besonders einer Fremdsprache, als positiv besetztes Tun verankert sein und dazu grundsätzlich Motivationspotenzial bestehen. Die Entwicklung dieser Veranlagungen wird durch die Erfahrungen in der Schule zur Sprachlerngeschichte (List 2002b: 7). So stabilisieren sich Motive in Persönlichkeitsstrukturen, deren Grundfesten nur schwer zu erschüttern sind 32 , die aber als erlernt - zumindest im Bereich des Fremdsprachenerwerbs - auch modifiziert werden können (vgl. Abendroth-Timmer 2007: 31, Solmecke 1983: 15, zur Veränderung von Bedürfnisstrukturen allgemein auch Dulisch 1994: 82, Scheffer 2005: 11ff, in Bezug auf das damit verbundene Selbstkonzept Holder 2005: 33ff). Damit bedeuten Motive weder den „Anfang aller Aktivitäten“ (Apelt 1981: 41), noch müssen sie handlungsdeterminierend sein, weil eben „nicht jede Zielvorstellung, die der Mensch sich vergegenwärtigt, […] auch in reale Handlungsvollzüge umgesetzt [wird]“ (Dulisch 1994: 97, Weiner 1994: 181). Das heißt: Auch wenn Fremdsprachenlernen grundsätzlich positiv besetzt ist, muss sich dies keinesfalls im Lerneifer zeigen, es vereinfacht allenfalls den Zugang, bei dem die Stärke des Motivs unbestritten einen wichtigen Faktor darstellt (vgl. Riemer 2010: 169). Genauso wenig muss die Internalisierung des Deutschen als schwere Sprache lebenslang deren Erwerb behindern. Der Anreiz geht von der Gegebenheit aus, auf die das Individuum in seiner bestimmten Lebenssituation trifft, und fungiert als Auslöser für motivationale Prozesse. Seine Signalfunktion kann höchst unterschiedlicher Art sein. So werden z.B. Neuigkeiten, Unregelmäßigkeiten oder Konfliktsituationen Aktivationspotenzial zugeschrieben (vgl. Berlyne 1958, nach Heckhausen 1889: 108ff). Anreizkategorien sind zwar objektiv erfassbar, können aber nur fallspezifisch aufgestellt werden. Dies wird gut durch das viel zitierte Steak-Beispiel (z.B. bei Weiner 1994: 121 oder bei Rheinberg 2008: 49) veranschaulicht: Ein saftiges Steak mag zwar für den Durchschnittsbürger grundsätzlich einen Aufforderungscharakter haben, jedoch variiert dieser signifikant, je nachdem, ob es sich um einen satten oder einen hungrigen Menschen, einen Fleischliebhaber oder einen Vegetarier handelt. Dazu wirken Anreize auf der bewussten oder unbewussten Ebene, sie können neue Bedürfnisse erwecken und sprechen eher emotionale und kognitive Sphären oder beide zusammen an. Bedürfnisse lassen 31 McClelland et al. (1989) beschreiben in ihrer Studie das (mögliche) Auseinanderklaffen von impliziten und sich selbst zugeschriebenen (expliziten) Motiven, die stark durch Normen und Gruppenzugehörigkeit geprägt sind. Ein Merkmal der impliziten Motive ist, dass sie evolutionspsychologisch in einem eigennützigen Verhalten begründet sind (Scheffer 2005: 115). 32 Das gilt vor allem bei extrem ausgeprägten Motiven. Diese können die Wahrnehmung und die Flexibilität einer Person durch den so genannten „Tunnelblick“ stark einschränken (Scheffer 2005: 117). <?page no="81"?> 81 sich dabei als Ungleichgewichte sehr vielseitiger Natur (physiologischer, affektiver, mentaler) auffassen, die „angereizt“ zur Absichtsbildung einer Handlung beitragen bzw. diese direkt in Gang setzen (Dörner/ Stäudel 1990: 106). Das Ergebnis der „Mobilisierung und Energetisierung von Handlungen“ (Weiner 1994: 105) und dessen Bewertung wurde als weitere Größe in kognitiven Ansätzen konzeptualisiert, z.B. in Form von Ursachenzuschreibung in den Attributionstheorien oder in der Einführung des „Folgeelements“ in dem Modell Heckhausens (s. 2.1.3), und fungiert als eigenständige Sequenz in den Theorien, die der Realisierungskomponente eine motivationale Wirkung zuschreiben und davon ausgehen, dass mit „der Erreichung des Handlungsziels […] eine Handlung unter motivationalen Aspekten keinesfalls abgeschlossen“ ist (Dulisch 1994: 99). Blickt man auf die Entstehungsgeschichte der Motivationsforschung zurück, deren diverse Stränge in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen, wird deutlich, wie sich einmal die Gewichtung dieser drei oben dargelegten Komponenten verändert hat und auch welch unterschiedliche Bedeutung ihnen in den jeweiligen Theorien unterlegt wird. Während sich Motivation in den Triebtheorien über die Kraft der aufgestauten Libido definiert, sich im Spannungsfeld zwischen Triebäußerung und -hemmung verortet und im tiefsten Inneren des Menschen schlummert, verschiebt sich im Rahmen behavioristischer Lerntheorien der Fokus auf den äußeren Stimulus, dessen Stärke sich an der Anzahl seines Auftretens misst (Rheinberg 2008: 37). Dagegen sind Ansätze, die Motivation über die durch sie hervorgebrachte Handlung konzipieren, von der Handlungspsychologie beeinflusst und haben in der russischen Psychologie prominente Vertreter. Die hier entwickelten Konstruktsysteme markieren Veränderungsprozesse im Aktionsraum von Individuen. Im Folgenden soll auf drei für die Fremdsprachenerwerbsforschung grundlegende Modelle näher eingegangen werden, die auf die Theoriebildung der vorliegenden Studie gewirkt haben. 2.1.1 Lewins Feldtheorie Auf die Handlungstheorien von Volpert (1992) und Dulisch (1986) wurde bereits im vorhergehenden Kapitel verwiesen. In Bezug auf die Motivation gilt als Grundmodell handlungsorientierter Motivationstheorien die in den 1930er Jahren entwickelte Feldtheorie Lewins (1939, 1942). Verhalten wird als ein energetisches Wechselspiel von Kräften verstanden, die sich aus den Bedürfnislagen der Person und den ihr zugänglichen Lebensräumen zusammensetzen. Jede Veränderung einer Komponente wirkt auch auf die anderen Elemente (daher der Rückgriff auf den physikalischen Feldbegriff). Die Bereiche innerhalb der Per- <?page no="82"?> 82 son werden durch Bedürfnisse (auch als Intentionen bezeichnet) in Spannung gesetzt, denen aufgrund ihrer Ich-Nähe oder -Ferne unterschiedliche Bedeutung zukommt und die sich untereinander unterschiedlich beeinflussen. Die Umweltbereiche präsentieren dagegen (subjektiv wahrgenommene) Handlungsmöglichkeiten, von denen auch wiederum Kräfte ausgehen und die durch sogenannte Pfade verbunden sind. Zwischen den Personen- und den Umweltkonstrukten besteht insofern ein dynamisches Verhältnis, als dass eine Bedürfnislage im Subjekt den Wert des Objekts, d.h. dessen Aufforderungscharakter, bestimmt. Die so entstandene Valenz eines Gegenstandes und der Bedürfnisstand der Person korrelieren und bilden ein Kräftefeld (Lewin 1935: 78, nach Weiner 1994: 121), das nach Erreichen des Handlungsziels an Stärke abnimmt, was zu einem Spannungsausgleich führt. Beachtenswert ist das Modell in Bezug auf die vorliegende Arbeit, da es im Unterschied zu einem Großteil der vorherrschenden Motivationstheorien der Umwelt nicht nur Anreizcharakter zuschreibt, sondern ihr unabhängig vom Subjekt eine Qualität, einen ihr eigenen Anteil, zuerkennt (Lewin 1938: 106f, nach Heckhausen 1989: 144), auch wenn - wie Heckhausen bemerkt - die Beziehung zwischen der Bedürfnisspannung der Person und der wahrgenommenen Natur des Zielobjekts nicht spezifiziert wird (Heckhausen 1989: 144, vgl. auch Rheinberg 2008: 49). Lewin kann auch als Vorläufer zu dynamischen Systemtheorien bezeichnet werden (vgl. Dörnyei 2009: 211ff). Diese in der Mathematik und Biologie beheimateten Zugänge haben ihren Einflussbereich zunehmend auf die Sozial- und Kognitionswissenschaften ausgedehnt und finden seit einigen Jahren auch in der Fremdsprachenforschung Beachtung (de Bot et al. 2005: 14ff, Dörnyei 2009: 99ff, N. Ellis 1998: 642, N. Ellis/ Freeman 2006, Thelen/ Bates 2003: 388, zum Selbstkonzept als dynamisches Konstrukt vgl. Holder 2005: 36, 57). Beschreiben lassen sie sich einmal über ihre Nicht-Linearität und die Selbstorganisation (vgl. Dörnyei 2009: 105, van Geert 2008: 188), in der sich die Einzelteile ständig neu zusammensetzen und ausbalancieren: „[…] dynamic systems is not a specific theory but (that) it is a general view on change, change in complex systems, in particular, or, systems consisting of many interacting components, the properties of which can change over the course of time“ (van Geert 2008: 183). Das Pendeln zwischen Stabilisierung und Destabilisierung wird maßgeblich von Attraktoren ausgelöst, worunter relativ stabile Zustände zu verstehen sind (de Bot et al. 2005: 17, Nowak et al. 2005: 358ff), die im Zusammenschluss oder durch Trennung mit anderen Attraktoren das Kräfteverhältnis dynamisieren. Der Unterschied zum Konnektionismus besteht nicht in der Beschreibungsebene, sondern in der Perspektive: „There is admittedly a difference in emphasis: dynamic systems have emphasized the entire coalitional contributions to behavior, while connectionism has been concerned with changes in mental represen- <?page no="83"?> 83 tations“ (Thelen/ Bates 2003: 389). Wie bei den Emergenz-Theorien sind auch diese Ansätze für die Fremdsprachenforschung schwer zu operationalisieren. 2.1.2 Selbstbestimmungstheorie In Anlehnung an deCharms (1968, Hinweis in Krapp/ Ryan 2002: 63, vgl. dazu Heckhausen 1989: 457, Weiner 1994: 200ff) entwickeln Deci und Ryan die Selbstbestimmungstheorie (1985, 1993), bei der Motivation an dem Grad der Eigenständigkeit beim Handlungsgeschehen, das sich zwischen Autonomie und Kontrolle spannt, misst. Dies erfolgt über die Gegenüberstellung von intrinsisch und extrinsisch, einem Begriffspaar, das in der Motivationsforschung schon seit 1918 (Heckhausen 1989: 455, Rheinberg 2008: 149) mit relativ ungenauen Zuordnungen kursiert, wobei der Unterschied zu „external“ und „internal“ nicht immer eindeutig ist (Heckhausen 1989: 203). Intrinsisch wird „definiert als eine Form der Motivation, die auf inhärenter Befriedigung des Handlungsvollzugs beruht. Eine intrinsisch motivierte Person handelt aus Freude über die Tätigkeit oder einem ‛intrinsischen Interesse’ an der Sache“ (Krapp/ Ryan 2002: 58, vgl. u.a. auch in Deci/ Ryan 2000: 56). Als Beispiel für diese Tätigkeiten wird z.B. das Explorationsverhalten bei Kindern angeführt, ein Verhalten, das unabhängig von Belohnungen und externen Anreizen veranlasst wird, auch das Wohlbefinden bei sportlichen Tätigkeiten gilt hierfür als exemplarisch. Wie Rheinberg bemerkt, deckt sich die Bedeutung von intrinsisch darin in weiten Teilen mit der tätigkeitszentrierten Motivation, bei der Handlungen nicht auf einen Zweck bezogen durchgeführt werden (Rheinberg 2008: 153). Die „intrinsically motivated activities“ stehen in direkter Abhängigkeit zu der Befriedigung von „innate psychological needs“, worunter die beiden Forscher „competence, autonomy and relateness“ (Deci/ Ryan 2000: 57, vgl. Ryan 1995: 404) verstehen: The view proposes that people are intrinsically motivated to extend themselves into the world and to integrate what they experience - but they typically show this attribute only when afforded supports for autonomy, competence, and relatedness. People also inherently prefer to be the “origin” (deCharms, 1968) of their own behavior, as opposed to being regulated by forces outside of the self. (Ryan 1995: 409) Bedürfnisse werden von „starken Wünschen“ abgegrenzt und als Grundtendenz und damit wesentlicher Bestandteil des Menschen aufgefasst. Zu ihnen gehört der Drang einer Person, sich weiter zu entwickeln, die eigene Integrität und Ge- <?page no="84"?> 84 sundheit zu bewahren (Reis et al. 2000: 420, Ryan 1995: 410). Die Selbstbestimmungstheorie übernimmt damit nach eigenen Angaben einmal eine biologisch-evolutionäre Definition, zum anderen steht sie in dem Rückgriff auf das Streben nach Selbstverwirklichung als motivationales Prinzip in der Tradition humanistischer Theorien, auf deren wichtigste Vertreter (Rogers, Maslow, Allport) sie sich auch mehrfach ausdrücklich bezieht. Wie diese nehmen auch Deci und Ryan an, dass besagte „basic needs“ im Menschen genetisch angelegt sind und zu ihrer vollen Entfaltung in einem entsprechenden Umfeld gelangen (so wie restriktive Lebensbedingungen diese auch erschweren können), wo sie sich möglichst konfliktfrei entfalten können (Ryan 1995: 405). In ihrer Herleitung aus den Grundbedürfnissen Autonomie, Leistung und Anschluss zeigt sich die intrinsische Motivation außerdem als eine „lernorientierte Form der Leistungsmotivation“ (Kuhl 2001: 595, 603, Hinweis auch in Rheinberg 2008: 151). Nicht immer wird in den Abhandlungen von Deci und Ryan klar, in welchem Verhältnis diese drei „basic needs“ 33 zu anderen Bedürfnissen stehen, auch weil sie manchmal eher als notwendige Bedingung und nicht als Motivkern erscheinen. Nicht eindeutig in der Theorie ist auch, ob intrinsisch einen Zustand im Individuum beschreibt oder dieser über das Verhältnis, d.h. in Abhängigkeit zur Aufgabe bzw. zum Gegenstand eintritt. Diese Ambiguität begründen Deci und Ryan damit, dass es ihnen bei dem Begriff primär um eine Abgrenzung gegenüber dem Belohnungsanreiz behavioristischer Ansätze einerseits und den Triebmodellen andererseits ging (Deci/ Ryan 2000: 57). Eine weitere Unklarheit liegt m.E. in dem Verhältnis der drei genannten Basisbedürfnisse untereinander, von denen offensichtlich dem Autonomiestreben eine Sonderstellung eingeräumt wird, da sich ja darüber die einzelnen Stufen von motivationalem Verhalten beschreiben lassen, während sich die „Erfüllung“ der Bedürfnisse nach Leistung (competence) und Anschluss (relatedness) sozusagen als zusätzliche Faktoren förderlich auf die Autonomieentwicklung auswirkt: CET [Cognitive Evaluation Theory von Deci/ Ryan 1985] further specifies that feelings of competence will not enhance intrinsic motivation unless they are accompanied by a sense of autonomy or, in attributional terms, by an internal perceived locus of causality (IPLOC; deCharms, 1968). Thus, people must not only experience perceived competence (or self-efficacy), they must also experience their behaviour to be self-determined if intrinsic motivation is to be maintained or enhanced. (Deci/ Ryan 2000: 58, Hervorhebung im Original) 33 Der Begriff „basic needs“ wird in der Psychologie durchaus auch anders verwendet. So fassen z.B. Leventhal/ Scherer (1987: 17ff) darunter vor allem physiologische Bedürfnisse. <?page no="85"?> 85 Während die intrinsische Motivation den Inbegriff selbstbestimmter Tätigkeiten darstellt, beschreibt sich die extrinsische Motivation als ein „construct that pertains whenever an activity is done in order to attain some separable outcome“ (Deci/ Ryan 2000: 60) und weist diverse Stufen von Autonomie auf (Abb. 2): Abb. 2 - Intrinsische und extrinsische Motivation nach Deci/ Ryan (2000: 61) 1. Externale Regulation ist der Inbegriff extern gesteuerten Verhaltens, das seine Motivierung über Belohnung oder dergleichen bezieht. 2. Introjektion bedeutet die erste Stufe von Eigenständigkeit, auf der das Individuum für sich Verhaltensweisen übernommen oder internalisiert hat, die dabei helfen, ein schlechtes Gewissen zu vermeiden. 3. Identifikation bezeichnet einen weiteren Schritt in Richtung auf die Übernahme einer Aufgabe als für sich bedeutsam. 4. Integration setzt die Identifizierung mit dem Lerngegenstand voraus. Die vier Stufen kennzeichnen die allmähliche Verlegung der Handlungsursache nach innen. Der Sprung zum Intrinsischen stellt demzufolge die völlige Loslösung von äußeren Handlungsanreizen dar. Deci und Ryan (2000: 62) merken an, dass nicht immer alle Stufen durchlaufen werden müssen, so wie am Ende nicht zwingend die intrinsisch „bewegte“ Handlung zu stehen hat. Zum Beleg ihrer Theorie haben beide Forscher auch in Zusammenarbeit mit zahlreichen anderen Untersuchungen durchgeführt (im Zusammenhang mit der Interessentheorie s.u.) sowie auf ihrem Ansatz oder auf Teilen daraus diverse Studien aufbauen, so z.B. Boeckerts (1996: 109), die in externer Kontrolle nicht nur ein Hemmnis für intrinsische Motivation, sondern auch ein Hindernis für die Entwicklung von Motivationsstrategien sieht. Ihr Erfolg in der Didaktik rührt si- <?page no="86"?> 86 cher auch daher, dass sie das fächerübergreifende Theorem des „selbstgesteuerten Lernens“ mit einem Motivationskonzept untermauern und darüber hinaus - wenn auch allgemein gehaltene - Handlungsanweisungen für die Didaktik ableiten (z.B. in Deci/ Ryan 2000: 59, 64). Auch in der Fremdsprachenforschung findet die Selbstbestimmungstheorie in einschlägigen Studien zur Motivation grundsätzlich Erwähnung (vgl. Dörnyei 1997: 275, 2001: 28, List 2002b, Riemer 1997: 27f, 2004: 40, van Lier 1996: 109ff u.a.), und mittlerweile gründen auch Studien theoretisch auf dem Konzept (z.B. Noels et al. 2000, 2007, Riemer 2003); häufig bedient man sich zur Beschreibung einzelner Fallbeispiele der extrinsischen Motivationsskala (z.B. Fischer 2006: 108, Hoffmann 2008a: 101), in deren Ausdifferenzierung - wie Abendroth-Timmer betont (2007: 44) - der signifikanteste Beitrag zur Motivationsforschung liegt. Dagegen bereitete der Fremdsprachenlehrforschung sowie auch weiten Teilen der pädagogischen Psychologie (vgl. Csikszentmihalyi/ Schieferle 1993: 208, Krapp 1993: 200, 1999: 388, Prenzel 1993: 243) die Bipolarität der Begrifflichkeit grundsätzlich Schwierigkeiten; tendenziell bevorzugt man ein wechselseitiges Verhältnis und versucht dieses in der wissenschaftlichen Diskussion zu untermauern (vgl. Grünewald 2006: 54ff). Unter Anführung von Wygotsky betont van Lier die Dynamik, die zwischen beiden Faktoren besteht: [...] intrinsic motivation and extrinsic motivation are like two forces which may well start out as being separate, but which converge and intertwine ever more closely, until it may well become impossible to tell one from the other most of the time. (van Lier 1996: 110 f.) [...] To sum up, not only is there no opposition between intrinsic and extrinsic motivation, they are actually two essential forces that must work in concert to stimulate learning. In many activities in everyday life, including scholastic activities, both intrinsic and extrinsic motivation play a part. (van Lier 1996: 112f) So geht auch Dörnyei von fließenden Übergängen aus (Dörnyei 2001: 28f, vgl. auch 1994: 276ff). Auf die Frage, wie man eine Motivationsform, die ein Individuum von sich aus entwickelt, von außen fördern kann und ob überhaupt ein Interesse in Abgrenzung zur Außenwelt entstehen kann, verweist bereits Edmondson darauf, dass „höchstwahrscheinlich jeder "intrinsische" Reiz, Einstellung oder Motivation eine bzw. mehrere "extrinsische" Quellen oder sogar Ursachen haben muss“ (Edmondson 1996: 73). Daran ansetzend wäre auch weitergehend zu fragen, ob Differenzierungen wie im extrinsischen Bereich, nicht auch im intrinsischen vorhanden sind. Allerdings ließe sich bei diesem „prototype of self-determined activity“ (Deci/ Ryan 2000: 62) die Bedürfnisstärke oder das Motivationspotenzial nur schwer in Relation <?page no="87"?> 87 zur Autonomie bestimmen. Und doch liegen wohl auch hier Qualitätsunterschiede vor. Um diese festzustellen, reicht allerdings nicht der Blick auf den Bedürfnisstand bzw. die Motivlage des Lernenden; der Qualitätsgrad innerhalb der intrinsischen Motivation lässt sich m.E. nur in Abhängigkeit von dem Lerngegenstand ermitteln, wie es die Kritische Psychologie mit der Differenzierung von defensivem und expansivem Lernen versucht hat. 34 Holzkamp lehnt dabei das Begriffspaar extrinsisch-intrinsisch ab, das seiner Meinung nach zu kurz greift. Während extrinsische Motivation eigenes Interesse ausschließe (Holzkamp 1995: 73), handle der intrinsisch Motivierte grundlos, einfach um der Sache selbst willen (Holzkamp 1995: 76). »Lernmotivation«, wie wir sie verstehen, ist also der Inbegriff von Lerngründen, die einerseits allgemein im Interesse an der handelnden Erweiterung/ Erhöhung der Verfügung/ Lebensqualität fundiert sind, wobei aber andererseits - und darin liegt ihr Spezifikum als Lernbegründungen - die wachsende Verfügung/ Lebensqualität als Implikat des lernenden Weltaufschlusses antizipierbar ist: Die zu erwartenden Anstrengungen und Risiken des Lernens werden hier also unter der Prämisse von mir motiviert übernommen, daß ich im Fortgang des Lernprozesses in einer Weise Aufschluß über reale Bedeutungszusammenhänge gewinnen und damit Handlungsmöglichkeiten erreichen kann, durch welche gleichzeitig eine Entfaltung meiner subjektiven Lebensqualität zu erwarten ist: Lernhandlungen, soweit motivational begründet, sind mithin quasi expansiver Natur. (Holzkamp 1995: 190, Hervorhebung im Original) Demgegenüber aber sind Lernhandlungen, die man ausführt, um eine Beeinträchtigung der Lebensqualität abzuwenden, defensiver Natur. Damit bedeutet expansives Lernen nicht eine Handlung um ihrer selbst willen, sondern eine durch das Eindringen bzw. Durchdringen eines Gegenstands erreichte Erweiterung der Lebensqualität, eine Vertiefung des Weltaufschlusses. Defensives Lernen zielt dagegen auf die Bewältigung einer durch die Umstände gegebenen Handlungsproblematik, nicht auf die Überwindung einer Lernproblematik (Holzkamp 1995: 193). Aus dieser Perspektive wird auch der in der Psychologie wiederkehrende Diskussionspunkt der Korrumpierung intrinsischer Motivation durch extrinsische Verstärker beleuchtet (z.B. für den Bereich der Grundschule Hartinger 2003). Holzkamp stimmt diesbezüglich mit der mehrheitlich vertretenen Meinung überein, dass Belohnung „genuines“ Interesse sinken lässt (vgl. 34 Zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit diesem Ansatz sei auf Hoffmann (2008a) verwiesen. <?page no="88"?> 88 Deci/ Ryan 1993: 226, Deci et al. 2001 35 , Weiner 1994: 204, 230, 244, eher skeptisch Heckhausen 1989: 461ff): Wenn - so muß ich mich dabei nämlich fragen - das Gelernte für mich nützlich und wissenswert ist, warum muß ich dann dafür noch zusätzlich belohnt werden? Begründungslogische Konsequenz: Da man mich in dieser Weise bestechen muß, wird es mit der Nützlichkeit für mich schon nicht so weit her sein. (Holzkamp 1995: 450) 2.1.3 Das Rubikon-Modell Schon auf Lewin geht die Annahme zurück, dass die Intention, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, einer bestimmten Spannung entspricht, die nach Ausführung der Handlung merklich nachlässt, was mit unterschiedlichen kognitiven und emotionalen Zuständen einhergeht (vgl. Heckhausen 1987). Um diese Veränderungen zu bestimmen, entwickelten Heckhausen und Gollwitzer (Gollwitzer 1996, Heckhausen et al. 1987, 1989) das sogenannte Rubikon-Modell, das in vier Handlungsphasen, der prädezisionalen, der postdezisionalen (oder präaktionalen), der aktionalen und der postaktionalen und damit in drei Übergangsmomenten, der Intentionsbildung, der Handlungsinitiierung und der Intentionsdesaktivierung (Gollwitzer 1996: 534), die Verwandlung von Wunsch in Intention, den Übergang zur Handlung und der anschließenden Wertung nachvollziehen. Durch Retrospektion und Gedächtnistests wurden die unterschiedlichen Bewusstseinslagen in den vier Phasen exploriert und in diversen Untersuchungen belegt (Achtziger/ Gollwitzer 2006, Gollwitzer 1996: 548 ff, Heckhausen 1989: 204ff). Das Modell (Abb. 3) beschreibt Handeln aus der zeitlich horizontalen Perspektive und setzt sich darin von anderen mehrheitlich hierarchisch konzipierten Ansätzen ab. Allerdings induziert es darin auch das Missverständnis, dass es sich um ein striktes Hintereinander von Handlungen handelt, wohingegen auch sich überlappende Momente durchaus mitgedacht sind. 35 Deci et al. legen hierzu eine detaillierte Analyse vor, in der die bereits in vielzähligen Studien belegte These, dass Belohnung die intrinsische Motivation unterlaufe, nochmals bestätigt wird. Dabei wird hier nach Art der Honorierung differenziert: So ist der Korrumpierungseffekt größer bei non-verbalem, aufgabenspezifischem und erwartetem Lob. Besonders auffällig war das Ergebnis bei Schülern. Die Autoren plädieren daher für einen äußerst vorsichtigen Gebrauch von Belohnung im Unterricht (Deci et al. 2001: 15). <?page no="89"?> 89 Abb. 3 - Rubikon-Modell nach Heckhausen (1989: 212) Die prädezisionale Phase ist durch Abwägen gekennzeichnet. Hier gilt es, Wünsche zu erspüren, zwischen ihnen auszuwählen und sie auf ihre Realisierbarkeit hin zu prüfen. Die diesbezüglichen Informationen werden angehäuft und hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Realisierungsmöglichkeiten verglichen. In dieser Phase überwiegt eine „große Offenheit für verfügbare Informationen“ (Gollwitzer 1996: 545). Die dafür erforderlichen mentalen Prozesse laufen assoziativ ab, d.h., dass von einem zum anderen Punkt „gesprungen“ wird, positive wie negative Emotionen evoziert und mit vergangenen Erfahrungen abgelichtet werden. Es handelt sich nach Gollwitzer meist um „aufgabenkongruente Informationen“ (Gollwitzer 1996: 548), d.h. um Gedanken, die sich beweglich und flexibel um den Anreiz scharen. Dazu gehören periphere, zentrale sowie inzidentelle Informationen, denen die „Mobilität der Aufmerksamkeitsallokation“ (Gollwitzer 1996: 565) entspricht. Die Befunde bestätigen, dass diese „abwägende Bewußtseinslage durch eine mobilere Aufmerksamkeitsallokation gekennzeichnet ist als die planende Bewußtseinslage“ (Gollwitzer 1996: 568). Auf dieser Ebene spielen Unbewusstes und der affektiv-emotionale Bereich eine wichtige Rolle, da sie in dieser Phase „frei geschaltet“, d.h. weder gehemmt oder kontrolliert werden, um möglichst viele Stimmen zu hören. Dies mündet in der Intentionsbildung und führt zum Überschreiten des Rubikon, wobei wir uns darunter keinen point of no return vorzustellen haben, sondern eine mit der Zielverpflichtung verbundene klare, konturierte kognitive Umorientierung. In der folgenden, unmittelbar der Handlung vorausgehenden Phase werden Handlungsvorsätze gebildet (Gollwitzer 1996: 536, vgl. Gollwitzer/ Malzacher 1996) und Planungsschritte aufgebaut; die Gedanken richten sich auf die Zielrealisierung, und damit ist die Aufmerksamkeit auf Gelegenheiten und Mittel zur Handlungsausführung gelegt. Aufkommende Zweifel an der Realisierbarkeit des Vorhabens durch konkurrierende Zielintentionen werden dann meist zu- <?page no="90"?> 90 rückgedrängt (natürlich kann es auch zu einer Kollision zwischen ihnen kommen). Die Denkvorgänge verlaufen eher sukzessiv, und es wird kognitiv wie auch emotional selektiert und aussortiert. Die unterschiedlichen Ergebnisse der Untersuchung ergeben: […], daß die Bewußtseinslage des Abwägens mit Gedanken über Handlungs-Ergebnis-Erwartungen und erwartete Werte einhergeht, während sich in der Bewußtseinslage des Planens Gedanken über Inhalte einstellen. Die sich darauf beziehen, wie man ein gewähltes Ziel realisiert. (Gollwitzer 1996: 551) Gollwitzer spricht von einer „parteiische[n] und optimistische[n] Analyse der Informationen“ (Gollwitzer 1996: 546). Die untersuchte Erinnerungsleistung in dieser Phase bestätigte eine deutlich bessere Leistung bei zielrealisierungsbezogenen Informationen (Gollwitzer 1996: 554). Diese Phase durchlaufen natürlich nur Handlungen, die eine Entscheidung voraussetzen, d.h. nicht automatisierte (vgl. Goschke 1996). In der aktionalen Phase dominiert „die Leitung des Zieles“ (Rheinberg 2008: 188, Hervorhebung im Original), das zwar auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein kann, aber alternative Vorgehensweisen ausblendet. Die Konzentration liegt auf den Aspekten, die sich von innen und außen mit der Tätigkeit verbinden lassen. Anstrengung und Ausdauer regeln das Handlungsgeschehen (vgl. Volet 1997, zur Korrelation von Ausdauer und Interesse auch Ainley et al. 2002). Im Mittelpunkt steht der Lerngegenstand, zu dem das Lernsubjekt in diesem Moment den am nächsten gelegenen Punkt erreicht. Hier kann es - laut Gollwitzer (1996: 546) - zu Flow-Erlebnissen kommen, die allerdings aus diesem Modell herausfallen, da der Tätigkeitsablauf volitional bestimmt ist (s. 2.2.2). Unbewusste Kräfte, Impulse oder Affekte sind in der Volitionsphase gehemmt. So werden auf der Handlungsebene Zeichen gesetzt, die in der vierten und letzten Phase dann kategorisiert werden und in der gegebenenfalls die Umkonfiguration von Denk-/ Gefühlsstrukturen stattfindet. In der postaktionalen Phase werden das Ergebnis und dessen Folgen bewertet, also die Informationen eingeholt, die zu einem Vergleich mit dem ursprünglich intendierten Ziel nötig sind. Hier wird entschieden, ob die Intention desaktiviert, revidiert oder perseveriert werden soll. Damit muss einmal das ursprüngliche Vorhaben genau erinnert, also Wissen darüber abgerufen werden, zum anderen muss eine „unparteiische“ Betrachtung des erreichten Ergebnisses einsetzen, womit sich der Radius der Informationsaufnahme wiederum erweitert. Aus dem Abgleichen beider Informationsquellen erwächst die Beurteilung der Folgen, woran die Rückwirkung bzw. der Anreiz auf die Motivationslage des Lernenden anknüpft. Erfolg und Misserfolg wirken sich hier entscheidend aus. In diesem Sinne sprechen - wie schon angedeutet - Heckhausen (1989: 216) und <?page no="91"?> 91 Gollwitzer von dem „Januskopf der postaktionalen Phase“ (Gollwitzer 1996: 538). Bereits Kuhl (1983, 1984) hatte sich verstärkt mit dem Zielstreben beschäftigt und eine Theorie der willentlichen Handlungssteuerung erarbeitet, indem er den Volitionsbegriff ausdifferenzierte (s. 2.2.1) Sicherlich ist ihm unter diesem Aspekt (Kuhl 2001: 144) beizupflichten, dass das Rubikon-Modell demgegenüber eine Vereinfachung darstellt, da Volition hier die „simple“ Fokussierung und Umsetzung von Handlungsabsichten nachzeichnet. Die verschiedenen Formen der volitionalen Verhaltenssteuerung werden nicht problematisiert, so können nicht-volitionale Handlungsprozesse sowie das Flow-Erleben nicht von dem Modell erfasst werden, da die aktionale Phase mit der volitionalen gleichbedeutend ist (vgl. Kuhl 1996: 689). Auch die von Heckhausen hervorgehobenen „klare[n] Trennlinien“ (Heckhausen 1989: 203) zwischen den Phasen, die den zeitlichen Ablauf markieren und die einzelnen Schritte ausgrenzen, sind in Kuhls Kontrolltheorie aufgehoben. Das Forschungsinteresse liegt hier auf den Realisierungsschwierigkeiten, d.h. Blockaden. Das Rubikon-Modell fokussiert dagegen, wie Informationen im „normalen“ Lernhandeln enkodiert, abgerufen und bearbeitet werden und eignet sich daher zum Erfassen kognitiver Orientierungen in motivierten Lernprozessen. Dem Modell von Heckhausen wird ihm im Rahmen lernprozessorientierter Forschungsvorhaben große Wichtigkeit beigemessen. Sein Gewinn liegt in der Hervorhebung der Prozessualität von Motivation und in der Einbeziehung des Individuums mit seinen kognitiven Prozessen. Diese Prozessualität ist mehrdimensional in dem Sinne, dass alle Handlungsstadien miteinander verknüpft sind und nicht unidirektional durchlaufen werden. Weiterhin integriert das Modell die affektive Ebene von Motivation und die Persönlichkeit des Lernenden, indem es nicht in sich geschlossen ist, sondern weitere Motivationstheorien zur Erklärung einzelner Entscheidungsprozesse integriert werden. 2.2 Wille Der Beginn der Willensforschung liegt im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts und verbindet sich mit dem Namen Narziß Ach (1910). In den 1930er Jahren ging allgemein das Interesse an inneren Prozessen merklich zurück und Untersuchungen zum Willensphänomen wurden als „verzichtbar betrachtet“ (Goschke 1996: 583), erst die Handlungspsychologie in den anlaufenden 1980er Jahren führt erneut zu einer „Renaissance des Willens“ (Sokolowski 1996: 487, vgl. Rheinberg 2008: 181). <?page no="92"?> 92 Der Wille (oder die Volition) kann entweder als Teilbereich eines Motivationskonzepts gelten, das in die Handlung selbst hineinreicht, oder muss von ihm unterschieden werden, wenn Motivation auf die Wechselbeziehung von Motiv und Anreiz eingegrenzt wird. Eine deutliche Trennungslinie ergibt sich auch bei einem Motivationsbegriff, dem ausschließlich subkategoriale, affektive Zustände zugeordnet werden (Sokolowski 1996: 504). So ist es nach Sokolowski die Bewusstheit, die Motivation von Volition trennt (Sokolowski 1996: 509), indem er Volitionsprozesse „als bewusstseinspflichtige“ Zielausrichtungsvorgänge (Sokolowski 1996: 486), die die unwillkürliche Steuerung (Motivation) aufgrund einer aktuellen Bedürfnislage willkürlich weiterführen, definiert. Volition setzt danach zumindest einen Aspekt der bewussten Repräsentation voraus und impliziert eine im Vergleich stärkere Bewusstseinskomponente, worin sie sich von komplexen motivationalen Steuerungslagen unterscheidet, „d.h. nach Zielfindung und Zielbindung, besteht die Funktion von ‛Volition’ darin, bei entsprechender Gelegenheit zielgerichtetes Handeln in Gang zu bringen und auf Zielkurs zu halten“ (Sokolowski 1996: 499). Volition wird eingesetzt, wenn der zielgerichtete Handlungsablauf durch interne oder externe Widerstände behindert ist (Sokolowski 1996: 494, Kuhl 2001: 134). Als eine Energie zur Überwindung von Widrigkeiten benutzt auch Rheinberg den Begriff: Gemeint ist im jetzigen Kontext unsere Möglichkeit, aufgrund bestimmter Binnenprozesse eine Handlungsausführung trotz innerer oder äußerer Widerstände bis zur Zielerreichung aufrecht zu erhalten. […] Es müssen Widerstände überwunden werden, damit das geschieht, was man sich nach einem motivationalen Bedeutungsprozess vorgenommen hat. (Rheinberg 2008: 177) Derart abgegrenzt liegen bei Willens- und Motivationsphasen zwei qualitativ ganz unterschiedliche Bewusstseinslagen vor (Rheinberg 2008: 180, 185f), die sich über das Kontrollprinzip definieren: Die willkürliche Zielausrichtung über bewusste Repräsentationen mittels Selbstkontrolle - wie Aufmerksamkeitskontrolle, Emotionskontrolle oder Motivationskontrolle - wird dabei als anstrengend erlebt. Die volitionale Steuerung ist dann vonnöten, wenn die aktuelle unwillkürlich angeregte Motivations- und Emotionslage für das anstehende Handeln ungünstig ist - wie z.B. bei angeregter Furcht. (Sokolowski 1996: 521) Folglich ist Anstrengung bei „glatten“ wie Flow-Handlungsabläufen nicht zu finden. <?page no="93"?> 93 Mit dieser Auffassung geht, wie oben schon angedeutet, des Weiteren einher, dass Willenshandlungen zentral „geschaltet“ werden und sich von automatischen Prozessen unterscheiden, was nicht unumstritten ist. So laufen nach Goschke als automatisch geltende Prozesse durchaus intentional ab, im Sinne einer zuvor gebildeten Intention (1996: 600). Er vertritt - mit Fokus auf die Informationsverarbeitungsprozesse - die Ansicht, dass auch willentliche Handlungen „auf der Operation multipler, parallel-verteilter Handlungsschemata“ beruhen (Goschke 1996: 585), bei deren Aktivierung Intentionen als Modulatoren automatischer Prozesse fungieren (Goschke 1996: 607), was automatische und kontrollierte Prozesse aneinander annähert und die These stützt, nach der keine, auch nicht eine automatisierte, Handlung unbegründet ist (Holzkamp 1995: 312f). Auch Roth (2003: 480ff) zieht das schon im ersten Kapitel erwähnte Bereitschaftspotenzial als Beleg dafür heran, dass der Willkürhandlung bereits eine entsprechende Erregung vorausgeht und damit Wille nicht im präfrontalen Kortex (als bewusst steuerbare Handlung) lagert und dort seinen Ausgang nimmt, sondern letztendlich vom limbischen System bis ins Letzte, nämlich zur Handlungsausführung selbst, bestimmt ist. Dies wird auch durch Studien bestärkt, in denen Lernen in der Willensphase offensichtlich mit Emotionen verbunden ist: In the volitional phase, emotions may inhibit or promote actions towards the goals. Emotions can also affect the variability of the goals during the learning process (Boekaerts, 2001). That is why recognition and regulation of emotional experiences is an essential part of the successful volitional control process. (Järvenoja/ Järvelä 2005: 467) Angesichts der neurobiologischen Befunde und der damit verbundenen Einschränkungen bezüglich eines zu stark durch das Bewusstsein gefärbten Willensbegriffs haben wir daher den Willen wahrscheinlich weniger in Abgrenzung zur Motivation zu sehen und beide nicht ganz so scharf - wie Sokolowski es vorschlägt - auf bestimmte Bewusstseinslagen und Funktionen festzulegen. Sicher aber kennzeichnet Wille in der Entscheidungsfindung und dem Entschluss des Übertritts zur Handlung eine (kurzweilige oder auch länger anhaltende) Veränderung in der Bewusstseinslage, wie sie das Rubikon-Modell konfiguriert. 2.2.1 Motivation, Wille und Aufmerksamkeit Im ersten Kapitel hatten wir Schemata als Schlüssel für unsere Welterfahrung bereitgestellt und veranschlagt, dass damit Grundstrukturen geschaffen werden, die das Lernen von der Wahrnehmung bis zur Ausführung in bestimmte Bahnen <?page no="94"?> 94 leiten. Diese Vorannahmen finden auch im Rahmen der Motivationsbzw. Willensforschung in Bezug auf die Aufmerksamkeitslenkung Bestätigung: Längerfristige oder dauerhafte Dispositionen auf der Basis von Bedürfnissen oder Interessen (Motive s.o.) bewirken unwillkürliche spezifische Aufmerksamkeitszuwendungen der Wahrnehmung - hierfür nimmt Prinz (1990) einen sog. Signifikanzfilter an. Zudem kann unwillkürliche Aufmerksamkeitslenkung auch als unspezifische Selektion einsetzen. Dies geschieht dann, wenn aktuell erfaßte Reize mit dem vordem noch generierten Situationsmodell nicht übereinstimmen - hier handelt es sich dann um das Wirken des sog. Pertinenzfilters, der quasi „diffus“ Nichtübereinstimmung registriert und dann unwillkürlich die Aufmerksamkeit zwecks näherer Exploration auf die „Quelle“ richtet. (Sokolowski 1996: 513) Die Messung von personenspezifischen Motiven […] basiert auf der Annahme, daß sich in mehrdeutigen Situationen die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf bestimmte Aspekte richtet, die für die Person bedeutsam („signifikant“) sind. (Sokolowski 1996: 514) Der hier hervorgehobene Zusammenhang von Motiven und Aufmerksamkeit ist für die vorliegende Arbeit von entscheidender Bedeutung, denn damit scheint gegeben, dass in der Person schematisch angelegte Motive die Aufmerksamkeit „auf sich ziehen“. Prinz geht sogar von einer ihnen inhärenten Handlungsabsicht aus (Prinz 1992). Des Weiteren wird auch deutlich, dass es eben nicht nur die Motive sind, sondern auch der aufgebaute Anreizfilter, dessen Funktion darin besteht, in „der unwillkürlichen Aufmerksamkeitslenkung nach dem Signifikanzprinzip bedeutsame Reizgegebenheiten leichter ins Bewusstsein treten zu lassen“ (Sokolowski 1996: 515). Dörner und Stäudel (1990: 314) brachten dies auf die Formel: „je wichtiger, desto mehr konzentriert sich die Wahrnehmung auf den jeweils absichtsrelevanten Teil der Realität“. Das Zusammenwirken von Volition und Aufmerksamkeit kommt hiernach also einmal über überraschende Geschehnisse oder über Bedürfnisse zustande, aber auch durch die Relevanz - und damit befinden wir uns im Bereich des Bewussten - und eine stärkere Mitwirkung von Kontrollsystemen (Kuhl 1996: 734). So bestätigt sich „die alte motivations- und willenstheoretische Annahme einer bedürfnis- und absichtsgesteuerten Wahrnehmung“ (Kuhl 1996: 680), die die Aufmerksamkeit dahin lenkt, wo sie benötigt wird (vgl. Rheinberg 2008: 160, in Anlehnung an Cranach et al. 1980: 86ff, Heckhausen 1987: 132ff), worüber grundsätzlich auch Konsens in der Interessenforschung herrscht (s.u., vgl. Ainley et al. 2002, Hidi et al. 2004: 101, Krapp et al. 1992, Renninger et al. 1992). <?page no="95"?> 95 Übertragen wir nun diese Erkenntnisse auf unser im ersten Kapitel vorgestelltes Awareness-Konzept, lässt sich daraus für Lernprozesse Folgendes ableiten: (Unwillkürlich und willkürlich) Wahrgenommenes wird über Aufmerksamkeit aus dem Feld der perception in den Noticing-Bereich verschoben, wenn es vom Lernsubjekt als relevant eingestuft worden ist. Während sich perceiving als global aktivierter motivierter Zustand beschreiben lässt, bezeichnet die Noticing- Phase ein willentliches Geschehen. Im Rahmen von Lernhandlungen siedelt sich der Rubikon somit zwischen motivationaler Wahrnehmung und volitionalem „Schritt in Richtung auf den Gegenstand“ an, was sich im Grad der Aufmerksamkeit zeigt. 2.2.2 Flow Im Bereich des weiter oben angesprochenen Tätigkeitsanreizes verortet sich das Flow-Erleben (Csikszentmihalyi 1975, Csikszentmihalyi/ Schiefele 1993, vgl. Engeser/ Rheinberg 2008, Rheinberg 2008: 153ff), bei dem der Zweck der Handlung nicht präsent ist und auch als Anreiz bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Dieses Handeln ist durch eine positive Grundstimmung gekennzeichnet, in der eine Person in ihrer Tätigkeit aufgeht. Das für die aktionale Phase typische Ausblenden „störender“ Kognitionen wird hierbei auf sämtliche höhere Bewusstseinslagen und auf die Selbstwahrnehmung ausgedehnt, während sich die Konzentration verstärkt nur auf die Handlungsausführung richtet. Vor allem lässt sich die Aufhebung von Kontrolle beobachten, da das Übereinstimmen von Anforderung und Fähigkeit willentliches Eingreifen überflüssig macht. „Natürliche Verstärker“ (Kuhl 2001: 595) halten beim Handeln die Motivation aufrecht, wobei klare Handlungsverlaufstrukturen vorliegen müssen, wie z.B. bei Spielen (Csikszentmihalyi/ Schiefele 1993: 211). Der Zustand ist von Selbstvergessenheit gekennzeichnet, auch wenn - wie Kuhl einräumt - „das beständige Auffrischen der positiven Motivation des Tätigkeitsvollzugs […] als Indiz für die latente Beteiligung selbstregulatorischer Funktionen zur Aufrechterhaltung der Tätigkeitsmotivation angesehen werden (Selbstmotivierung)“ kann (Kuhl 2001: 595). Csikszentmihalyi beschäftigte sich ursprünglich mit der Qualität des subjektiven Erlebens, d.h. Flow ist in primis ein Erlebniszustand, der in einem späteren Moment mit dem Lernen und mit der intrinsischen Motivation in Verbindung gebracht wurde. Aber auch wenn verschiedentlich von der Hypothese ausgegangen wird, dass Flow mit intrinsischer Motivation einhergeht und sich im Einvernehmen lernförderlich auf die Leistung auswirkt, bleiben die empirischen Ergebnisse zum Flow-Effekt und seiner Wirkung auf die Leistung widersprüchlich <?page no="96"?> 96 (Rheinberg 2008: 155). Für das Fremdsprachenlernen schränkt Abendroth- Timmer in Anlehnung an Untersuchungen von Weimar (2005) Flow-Effekte zumindest für den Schulbereich ein: Auch sei dahingestellt, ob flow grundsätzlich als höchste und positivste Form einer intrinsischen Motivation gelten kann. […] Zugleich ist im schulischen Kontext die Möglichkeit für Schülerinnen und Schüler, flow zu erfahren, durch strukturelle und inhaltliche Rahmenbedingungen beschränkt (vgl. Weimar 2005: 76 f.). (Abendroth-Timmer 2007: 33) Dass das Lernen einer Fremdsprache für viele Menschen individuelle Flow- Momente bereithält, steht außer Frage. Diese können auch durch entsprechende didaktische Maßnahmen im Klassenverband stimuliert werden. Ein Beispiel dafür liefert Hornung: Beide Schülerinnen bemerken während ihres Schreibens, dass sich ihre Hand automatisiert und verselbstständigt, die Hand scheint eigenmächtig zu schreiben, ohne dass das Ich der schreibenden Person sie steuern würde. Die physische Seite des Schreibens gewinnt Oberhand über die bewusst-steuernde […]. (Hornung 2002: 285f) „Écriture automatique als egozentrisches Schreiben“ erfüllt eine Brückenfunktion (Hornung 2002: 290), die von der Freilegung der eigenen Sprache ausgeht, um zu Formulierungen komplexer und objektiv verständlicher Aussagen zu gelangen. In diesem Sinne bilden sie ein fruchtbares Terrain im Klassenzimmer, das allerdings selten in diesem Sinne genutzt wird und eher Selbstbewusstsein als Selbstvergessenheit honoriert. Damit wird aber auch deutlich, dass es sich bei Flow um ein inneres Erlebnis handelt, das zum Lernen motivieren kann, wenn es entsprechend genutzt wird. Es ist aber m.E. nicht gleichzusetzen mit intrinsisch motivierten Lernhandlungen. Lernen - erinnern wir uns - bezeichnet eine Handlung, in der Emotionen und Kognitionen wenn auch nicht unbedingt auf ein Ziel hin, so doch zumindest richtungsorientiert verlaufen. Wie eine Vielzahl von Studien belegt hat, gerät selbst bei der größten Begeisterung für die deutsche Sprache und der völligen Hingabe bei ihrem Erlernen die Funktionalität der Tätigkeit, der man sich als Lernender widmet, nie ganz aus den Augen. 2.3 Interessenforschung und Interessenbegriff Der Interessenbegriff wurde Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Pädagogik konzeptualisiert und verbindet sich mit dem Pädagogen und Philosophen Jo- <?page no="97"?> 97 hann Friedrich Herbart (1776-1841) (zur Entwicklungsgeschichte der Forschungsdisziplin vgl. Prenzel 1988). In der Folgezeit schwand allerdings das Interesse an diesem Forschungsgegenstand, der für die triebbestimmten und behavioristischen Ansätze zu stark von mentalen Prozessen bestimmt war, und wurde nur vereinzelt, z.B. in der beruflichen Weiter- und Fortbildung oder der Reformpädagogik, aufgegriffen (vgl. Hidi et al. 2004: 91, Wittemöller-Förster 1993: 10ff, nach Abendroth-Timmer 2007: 58). Erst im Zuge der kognitiven Wende geriet die Interessenforschung wieder ins Blickfeld (Krapp 2002: 386) und erlebte seitdem einen konstanten Aufschwung. Die seit den Anfängen vorherrschende Uneinheitlichkeit bei der Begriffsbestimmung und die problematische Abgrenzung zur Motivationsforschung wurde überwunden, indem man gegenüber deren Konzentration auf das handelnde Subjekt und der vorherrschenden kognitiven Orientierung den Interessenbegriff an das Objekt koppelte und seine emotionale Valenz betonte. Für die Interessenforschung im deutschen Raum wurde 1974 mit dem Buch von Hans Schiefele „Lernmotivation und Motivieren“ der Grundstein gelegt. Es folgten diverse Erweiterungen und Ausarbeitungen (u.a. Schiefele 1992, Schiefele/ Wild 2000), in denen sich seit den 1990er Jahren zunehmend die Tendenz zeigt, Berührungspunkte zwischen Motivations- und Interessenforschung zu finden. Exemplarisch scheint hierfür die Anlehnung der „Münchener Interessenkonzeption“ an die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (Krapp 1992b: 300, Krapp 1999: 396ff, Krapp/ Ryan 2002, Krapp 2005, Schiefele/ Schreyer 1994 u.a.) zu sein, sowie Studien wie die von Hidi, Renninger und Krapp (2004, Hidi/ Renninger 2006, Renninger 2009), die Interesse als einen Motivationsfaktor untersuchen und deren Vier-Phasen-Modell sich deutlich an die vierstufige Einteilung extrinsischer Motivation anlehnt. Die Münchener Schule intendiert Interesse im Sinne einer „bedeutungsmäßig herausgehobene(n) Person-Gegenstands-Relation“ (Krapp 1992b: 307), also als ein „relationales Konstrukt“ (Krapp 1992b: 324, vgl. Finkbeiner 2005: 48, dazu auch Abendroth-Timmer 2007: 59, Grünewald 2006: 76). Dieses setzt vor dem Hintergrund pädagogischer Zielsetzungen an den Lerngegenständen und deren Erfassen durch das Subjekt an und greift damit auf Lewins Beziehung zwischen dem Individuum als Handlungspotenzial und seiner Umgebung zurück (Krapp 2002: 386). Interesse wird dabei zunächst bezeichnet als eine besondere Qualität der Beziehung von Menschen (Subjekten) zu bestimmten Sachverhalten (Gegenständen), und zwar eine Beziehung, in der das Subjekt versucht, erkennend, die Eigenart des Gegenstandes verstehend, ihn zu erschließen und dabei selbst Bereicherung zu erfahren. (Schieferle 1986: 156) <?page no="98"?> 98 Interessenbesetzt sind einmal Gegenstände bzw. Lerninhalte, die so konnotiert im Langzeitgedächtnis gespeichert sind: Unlike many other motivational constructs, interest is always directed at certain contents or objects. Thus, content-specificity is one central characteristic of the interest construct. […] According to Renninger (1990, 2000) and Schiefele and Rheinberg (1997), it is possible to think of interest as a specific part of the network of knowledge stored in long-term memory. (Krapp 2002: 387) Individuelle oder persönliche Interessen entstehen im Kindes- und Jugendalter in Auseinandersetzung mit der materiellen und sozialen Umwelt in Form von Bezügen. Auf den hohen Einfluss der Eltern auf diese Entwicklung wurde bereits im Zusammenhang mit der Motivbildung hingewiesen (s. 2.1, vgl auch Apelt 1981: 66ff, in Bezug auf die schulische Leistung auch Holder 2005: 118ff, sonst auch Abendroth-Timmer 2007: 60, MacIntyre et al. 1998: 557), aber auch sonst lassen die Interessen deutlich Gemeinsamkeiten mit den wertbehafteten Motiven als persönliche Dispositionen erkennen, die durch situationsbedingte Anreize „aktiviert“ werden (Krapp 1992a: 12, vgl. dazu Rheinberg/ Vollmeyer 2000: 159). Einmal verwurzelt wird die Beschäftigung mit dem Gegenstand von innen heraus veranlasst, was das Interessenkonzept in die Nähe zur intrinsischen Motivation rückt (Prenzel 1988: 99, vgl. Grünewald 2006: 79, Krapp 2002: 389), d.h., das Wirkungsfeld von Interesse ist im Vergleich zu dem von Motivation enger gesteckt, denn es deckt nur einen Teilbereich ab. Aspekte wie Nützlichkeit oder objektiv einsichtige, aber nicht attraktive Oberziele, wie „Deutsch bringt berufliche Vorteile“, fallen aus dem Interessenbegriff heraus oder werden zumindest sekundär (vgl. Prenzel et al. 1986: 166). Dafür gewinnt die emotionale Komponente an Wichtigkeit: Students who perceived a mathematics task to be attractive and/ or important were prepared to invest more effort in completing the task. However, students who found math tasks important, but not attractive, reported a negative emotional state. In the age group, self-efficacy (level of confidence expressed in relation to mathematics tasks) was not directly related to learning intention. It seems that only those students who feel confident that they can accomplish the task and enjoy doing the task are prepared to invest resources (causality pleasure). (Boekaerts 1997: 178) Auch für Järvenoja und Järvelä spielen Emotionen eine wesentliche Rolle bei Interesse, vor allem bei der Aufnahme einer Lerntätigkeit: „emotions codes in the self-category play an important role, especially in the beginning of the study“ (Järvenoja/ Järvelä 2005: 477). Ainley et al. (2002) erbringen den Beleg dafür, dass die Beziehung zwischen dem Gegenstandsinteresse und den positi- <?page no="99"?> 99 ven Emotionen mit Ausdauer korreliert und damit auch Aussagen über das weitere Lernverhalten induziert: The affective responses and levels of persistence with the texts indicated that the triggering of topic interest sets in motion a sequence of processes including positive affect and persistence. […] The important finding from the pattern of these associations was that topic interest with its associated affect contributed to continued interaction of students with the texts (persistence), and that the level of persistence with a text was significantly correlated with recall. Analysis of the paths of direct and indirect influence among these processing variables demonstrated that the level of topic interest was important for what followed. (Ainley et al. 2002: 425) In den drei zitierten Untersuchungen kennzeichnen positive Emotionen den besagten Personen-Gegenstand-Bezug (vgl. Hidi et al. 2004: 95), was für das Interessenhandeln typisch ist: Interesse korreliert mit freudvollem Handeln und Spaß (Krapp 1992a: 39, Krapp 1993: 202, Krapp 1999: 398). Diese Elemente gehören wesentlich zum Interessenbegriff und machen damit den Punkt deutlich, der Interesse von handlungstheoretischen Motivationsbestimmungen abgrenzt: Zur Beschreibung und Erklärung dieser selektiven Entscheidungen bevorzugt die moderne kognitive Psychologie handlungstheoretische Konzepte. Sie verweist auf kognitive Einschätzungen und Bewertungen von handlungsalternativen, auf Erwartungen und ihre Gewichtung auf der Basis individueller „Bewertungsvoreingenommenheiten“ und auf Prozesse der rationalen Überprüfung von Aufwand und Ertrag. Diese Faktoren und Prozesse sollen erklären, warum manche Ziele und Handlungsmöglichkeiten akzeptiert und andere abgelehnt werden (Heckhausen, 1989). Die handlungstheoretische Interpretation hat jedoch bei genauerer Betrachtung erhebliche Schwächen. Sie kann z.B. nicht erklären, warum viele Alltagshandlungen „unvernünftig“ erscheinen oder rationalen Begründungen eindeutig widersprechen. (Krapp 1992b: 302) Ausgehend von dieser Kritik (vgl. auch Krapp 1999) setzt die Interessenforschung an der „Bedeutung handlungsbegleitender emotionaler Erlebniszustände“ (Prenzel/ Krapp 1992: 2) an und betont in Abgrenzung zu den kognitiv orientierten Ansätzen die Notwendigkeit, subkognitive Kategorien bei der Ermittlung von motiviertem Handeln mit einzubeziehen. Der Interessenbegriff ist durch eine innere Dynamik gekennzeichnet, bei der zwischen dem eben erläuterten individuellen Interesse, das als Träger herausgestellter subjektiver Bedeutungszuweisungen in enger Verbindung zum Selbstkonzept der Person steht (Krapp 2002: 388) und relativ stabil verankert ist (Schiefele 1992: 89), und einem situationalen Interesse unterschieden wird, das <?page no="100"?> 100 die Interesse auslösende Bedingung für weitergehendes Lernen bezeichnet (Krapp 1992a, Krapp 1992b: 309, 2002: 388, vgl. auch Ainley et al. 2002: 420). 36 Meist aber trifft ein durch die Situation aktualisiertes Interesse auf ein schon vorhandenes, um wirklich nachhaltig zu wirken; „nur“ äußere Anreizbedingungen zeigten sich in ihrer Wirkung eher kurzlebig und flüchtig (vgl. Finkbeiner 2005: 49, Hidi et al. 2004: 99). Danach entsteht Lernmotivation nur, wenn der Lernende die sich ihm bietende Lerngelegenheit als bedeutsam übernimmt (Krapp 2002: 400): „Oder anders gewendet: Eine Person identifiziert sich mit den Intentionen, Handlungsmöglichkeiten und Wissensbeständen ihres Interessengebietes“ (Krapp 1992b: 323). Sich so bildende Interessen tragen zu umfassenden Umstrukturierungen des gesamten Systems bei (Krapp 1992b: 309). Die Persönlichkeitsstruktur ist dabei weder gegeben noch Spiegel sozialer Beziehungen, sondern wird vom Individuum selbst auf- und umgebaut: […] the general thesis that interest has a history; it does not develop out of nowhere. Even the occurrence of a pure situational interest depends on preconditions that might result partly from our biological endowment and partly from prior experiences or already existing personal interests (cf. Hidi & Harackiewicz, 2001). Therefore, the emergence of a new interest - even a new situational interest - cannot be seen as the construction of a totally new PO-relationship. Rather, it builds upon structural and dynamic components the individual has acquired in earlier stages of his or her development. (Krapp 2002: 396) Als Auslöser von Interessenhandlungen im Sinne dieser Umstrukturierungen fungieren Bedürfnisse: „Das individuelle Selbst ist der ständigen Veränderung unterworfen, weil die Befriedigung individueller Bedürfnisse und die Auseinandersetzung mit den Anforderungen der gegenständlichen und sozialen Umwelt immer neue Anpassungen fordern“ (Krapp 1992b: 301, auch 323, Krapp 2005). Neben dem offensichtlichen Bezug zu Lewins Feldtheorie (s. 2.1.1) setzt Krapp das Interessenkonzept in den Erklärungsrahmen der Selbstbestimmungstheorie, wobei er die bereits oben behandelten grundlegenden Bedürfnisse (Kompetenzerfahrung, Bedürfnis nach Autonomie und nach sozialer Einbindung) als Faktoren übernimmt, die die emotionale Qualität des Interessiertseins erhöhen bzw. mitbestimmen (Krapp 1992b: 312) und dazu dienen, in Verbindung mit interessenspezifischen Handlungen angenehme Gefühle zu erzeugen, jenseits des Widerspruchs zwischen „Wollen“ und „Sollen“ (Krapp 1993: 202) und „frei 36 Krapp bezieht aber auch die Möglichkeit mit ein, dass ein Interesse durch den Handlungskontext neu entstehen kann und in der Folge interessenorientierter Beschäftigung zu einem subjektiv bedeutungsvollen und anschließend dispositionalen Interesse gefestigt wird (Krapp 1992b: 309). <?page no="101"?> 101 von äußeren Zwängen“ (Finkbeiner 2005: 53). Grundsätzlich sollen Dissonanzen und Widersprüchlichkeiten in Bezug auf das Ich vermieden werden. Dem Interessenkonzept liegt insofern − so wie den Triebreduktionsmodellen − sowohl das Hedonismusals auch das Homöostase-Prinzip zugrunde. Der qualitativ höhere Lerneffekt von Interesse - wie auch von Motivation - gilt empirisch als erwiesen (Boekaerts 1997, Finkbeiner 2005, Hidi et al. 2004: 92, Krapp 1992a: 24, Wild et al. 1992 u.a.): Motiviertes, interessiertes Lernen führt zu einer tieferen Qualität der Textverarbeitung als unmotiviertes, lustloses Lernen. Interesse, Motivation, Gefühle, und Eindrücke, welche die Lernhandlung begleiten, sind von fundamentaler Bedeutung, weil parallel und simultan zum Lerngegenstand oder Lerninhalt der begleitende affektive Zustand mitgespeichert wird (Rahmann, 1976; Rahmann & Rahmann, 1988) und als „emotional body map“ im Gehirn zukünftiges Handeln beeinflusst (Damasio,a2000). (Finkbeiner 2005: 64) Vorbehalte und gegenläufige Befunde bestehen dagegen weiter fort bezüglich eines stabilen Zusammenhangs von Interesse/ Motivation und Leistung (Abendroth-Timmer 2007: 34, Geselle 2006: 19, Grünewald 2006: 79, Krapp 1992a: 23, Krapp 1993: 199, Masgoret/ Gardner 2003: 124, Rheinberg 1999: 190ff, Rheinberg 2000: 158), was sicherlich aufgrund der Schwierigkeit, individuelle Lernprozesse anhand objektiver Leistungsstandards zu messen, wohl auch in Zukunft noch ein Forschungsdesiderat bleiben wird. Blickt man in Deutschland auf die Fremdsprachenforschung der letzten Jahre, in deren Mittelpunkt Motivation und/ oder Interesse steht, so bemerkt man eine zunehmende Nennung des dargelegten Interessenkonstrukts der Pädagogischen Psychologie (u.a. Abendroth-Timmer 2007, Finkbeiner 2005, Grünewald 2006). So urteilt Abendroth-Timmer (2007: 58): „Die Erforschung von Interessen ergänzt die Motivationstheorien um wesentliche Elemente, nämlich den jeweiligen Inhalt bzw. den Lerngegenstand und die Lerntätigkeit.“ Während das Konzept bei Abendroth-Timmer mit der Begründung integriert wird, dass es sich bei Fremdsprachen „um ein spezifisches Fachinteresse“ (ebd.) handele und es bei Grünewald (2006: 76ff) im theoretischen Teil Erwähnung findet, fungiert es bei Finkbeiner als Grundlage für ihre Untersuchung (Finkbeiner 2007: 50ff), bei der sie aber auch die Kieler Interessenschule mit ihrem Fokus auf die Lerntätigkeiten hinzunimmt. Mit Rückgriff auf Häußler und Hoffmann (1995) geht sie davon aus, dass „den Kontexten die mit Abstand größte Bedeutung für die Ausprägung des Sachinteresses zukommt (Finkbeiner 2007: 55). Anzumerken ist, dass es sich hierbei um Studien handelt, die sich mit der Motivation im Schulbereich beschäftigen. <?page no="102"?> 102 Das, was die Interessenhandlung zu beschreiben versucht, und was sie von der Motivationshandlung abgrenzen soll, ist die Beziehung zwischen Person und Gegenstand. Doch kommt mit dem „äußeren Sachverhalt“, wie schon Heckhausen in Bezug auf Lewin bemerkte (1989: 144), „ein Fremdkörper in die psychologische (oder psychobiologische) Natur des Lebensraumes“, dem nur schwer gerecht zu werden ist. Denn wie wir es auch wenden, der Gegenstand ist uns ja nur über unseren subjektiven Zugang erfahrbar. Wie können wir also seine Spezifizität begreifen und seinen Einfluss auf den motivationalen Prozess konzeptualisieren? Der Interessenbegriff der Münchener Schule erschließt den Gegenstand in Bezug zum Subjekt: Der Gegenstand der Interessenhandlung ist zwar ein Sachverhalt, der “außerhalb” der Person existiert; für die Handlung ist jedoch die jeweilige Gegenstandsauffassung der Person entscheidend, d.h. die Vorstellungen, Kenntnisse und Einschätzungen bezüglich des “objektiven” Gegenstandes, so wie sie im Gedächtnissystem repräsentiert sind, und soweit sie im jeweiligen Kontext der Handlung von Bedeutung sind. (Krapp 1992b: 308, Hervorhebung im Original) Auch Krapp bezieht sich bei der Bestimmung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses unter (vielen) andern auf Leontjew (Krapp 1992b), blendet aber die von jenem postulierte unabhängige inhaltliche Beschaffenheit des Gegenstandes aus, die einem unmittelbaren Zugang entgegensteht, denn einer Theorie, in der die Bedürfnisse des Subjekts den Gegenstand erschließen, ist dieser als solcher nicht zugänglich (vgl. Hoffmann 2008a: 98ff). In diesem Sinne spricht Holzkamp in Anlehnung an Leontjew von der „´Weltlosigkeit´ der traditionellen Psychologie“ (Holzkamp 1990: 44, zum subjektwissenschaftlichen Gegenstandsbegriff s. Hoffmann 2008a: 49ff). Auch wenn seine objektive Existenz (Krapp 1999: 397) mehrfach Erwähnung findet, wird ihr de facto nicht Rechnung getragen: „Wie der Gegenstand im konkreten Einzelfall zu bestimmen ist, hängt davon ab, wer sich wofür interessiert“ (Schiefele 1986: 161). Der Gegenstand reduziert sich zum „Umweltausschnitt“, „den die Person von anderen Umweltbereichen unterscheidet und als eingegrenzte und strukturierte Einheit im Repräsentationssystem abbildet“ (Prenzel et al. 1986: 166). Dieser zeichnet sich aber nach Leontjew (1977: 132) gerade in seinem unabhängigen In-der-Welt-Sein aus: „Eine Eigenschaft erhält ihre objektive Charakteristik nur über die Beziehung zu einer anderen objektiven Eigenschaft und nicht über ihre unmittelbare Beziehung zum Subjekt“ (Leontjew 1977: 132). Nur in der Tätigkeit wirkt das Individuum auf die unabhängige inhaltliche Beschaffenheit des Gegenstands ein. Es ist daher falsch, von der Unmittelbarkeit des menschlichen Zugangs auszugehen, da dieser angesichts der objektiven Charakteristik nur ein vermittelter sein könne. <?page no="103"?> 103 Hiernach ist ein Gegenstand interessant, weil er zum Erfassen reizt, und demnach sind, wie bereits erörtert, Interessen nicht beliebig, sowie es auch nicht Handlungen sein können, die sie involvieren, so wie Rheinberg und Vollmeyer behaupten: 37 Die Art der Handlung, die jeweils mit eingeschlossenen Handlungsthemen sowie die handlungsbewirkenden Resultate sind beliebig, solange die Aktivität und/ oder ihre Resultate nur etwas mit dem Interessengegenstand zu tun haben. […] Es können also unterschiedlichste Aktivitäten durch das gleiche Interesse motiviert sein, solange sie nur den intendierten Kontakt zum Interessengegenstand erzeugen bzw. in Aussicht stellen. (Rheinberg/ Vollmeyer 2000: 149, vgl. auch Prenzel et al. 1986: 166) Eine derartige Loskopplung von Gegenstand und Handlung scheint insofern unzulässig, als dass sich der Zugang zum Gegenstand über den vom Subjekt eingenommenen Standpunkt in einem historisch-gesellschaftlichen Kontext aufbaut. Gerade diese daraus entstehenden Erfordernisse sind es, die Lernnotwendigkeit aufbauen und deren Fehlen - wie Solmecke (1983: 42f) konstatiert - die Motivationsschwierigkeiten in der Schule entstehen lassen. Diese Bedingungen sind niemals beliebig, sondern enthalten immer einen determinierten Handlungsbezug. Nach Holzkamp reizt ein Lerngegenstand zu seiner Durchdringung, weil er eine Ahnung erzeugt, sozusagen ein Vorgefühl hinterlässt, so dass sich - wenn man sich auf ihn einlässt - eine neue Welt offenbart (Holzkamp 1995: 201). 38 Die Bedeutung konstituiert sich im Zusammenspiel mit der dem Lerngegenstand innewohnenden Tiefenstruktur und dem individuellen Gegenstandszugang. Die 37 Krapp (1992b: 311, Hervorhebung im Original) nimmt in seinen Abhandlungen diesbezüglich eine andere Haltung ein: „Zu erinnern ist zunächst an die generelle Feststellung, daß Interessen gegenstandsspezifisch sind. Das gilt auch für eine einzelne Interessenhandlung: Sie repräsentiert eine zeitlich begrenzte und durch den situativen Kontext beeinflußte Auseinandersetzung einer Person mit einem Teilbereich des Interessengegenstandes. Der für die einzelne Handlung relevante Interessengegenstand ist notwendigerweise spezifisch. Er wird einerseits durch die handlungsleitenden Intentionen der Person, andererseits durch die situativ gegebenen Handlungsmöglichkeiten konstituiert.“ 38 Dieser Lernprozess setzt prinzipiell an einer Erfahrung des Ungenügens oder der Beeinträchtigung der persönlichen Lebensqualität an, die dazu anspornt, den besagten Lerngegenstand anders zu hinterfragen (Holzkamp 1995: 214), und „affinitive“ sowie „definitive“ Lernphasen vorsieht, die sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Lernsituation abwechseln und in einem prekären Gleichgewicht zueinander stehen. Die affinitiven Momente könnten mit der Aufhebung der Lernintention in einem (scheinbar) leeren Raum verglichen werden, in dem die bewussten Lernbemühungen in den Hintergrund treten und neue Bezüge des Lerngegenstandes „erspürt“ werden (Holzkamp 1995: 330f). <?page no="104"?> 104 Tiefendimension eines Lerngegenstandes offenbart sich allerdings nur im expansiven Lernen, während dem defensiven Lernen lediglich oberflächliche Merkmale zugänglich sind (s. 2.1.2, Holzkamp 1995: 224). Die Passung von Lerngegenstand und Gegenstandsbezug führt über die tiefste Erfassung des Gegenstandes zur höchsten Erkenntnis beim Lernsubjekt. Diese Handlung kann insofern nicht beliebig sein. Die Vielzahl potenzieller Zugänge mag oberflächlich oder tiefgehend ausfallen oder nur Teile oder die Gesamtheit des Gegenstandes begreifen, auf jeden Fall sind sie Ausdruck eines in diesem Moment und an diesem Ort möglichen Person-Gegenstand-Bezugs. Es ist die über den Handlungsvollzug hinausgehende Funktionalität, die den Gegenstand in Bezug zu anderen Gegenständen setzt und ihn in seiner von dem Subjekt unabhängigen Dimension erfasst. Gerade darüber wird die Dynamik des Personen-Gegenstand-Bezugs angekurbelt, konstituiert sich Interesse über das Zusammenspiel zwischen (objektiv) realen und (im Subjekt) repräsentierten Gegenständen. 2.4 Motivationskonstrukte der Fremdsprachenforschung Motivation als Lernfaktor beim Fremdsprachenerwerb hat in den letzten Jahrzehnten signifikant an Bedeutung gewonnen. Wie im Folgenden dargelegt wird, stellen sämtliche der Fremdsprachenforschung zur Verfügung stehenden Modelle eine Adaptation von aus der Psychologie stammenden Konstrukten dar, die im Laufe ihrer Weiterentwicklung ausgefeilt und differenziert wurden (vgl. Riemer 1997: 9). So geht die erste fremdsprachendidaktische Motivationstheorie Gardners von einer Korrespondenz von Einstellung und Verhalten aus, einem Theorem der Sozialpsychologie (ebd., Abendroth-Timmer 2007: 56), die vier von Crookes und Schmidt differenzierten Motivationsstufen (Crookes/ Schmidt 1991) greifen ausdrücklich Faktoren auf, die in Ansätzen der pädagogischen Psychologie und Lernpsychologie enthalten sind, und Dörnyei arbeitet das Rubikon-Modell von Heckhausen bzw. Gollwitzer/ Heckhausen in seinen prozessorientierten Ansatz ein. 2.4.1 Socio-Educational Model Das in der amerikanischen Zweitsprachenerwerbsforschung entwickelte Modell von Gardner und Lambert (1972) unterscheidet eine integrative Motivation, die ursprünglich als der Wunsch nach Aufnahme in die zielsprachensprechende Gruppe aufgefasst wurde, und ein instrumentell motiviertes Lernen, bei dem der Nützlichkeitsaspekt überwiegt. Das Hauptinteresse dieses Ansatzes liegt in der <?page no="105"?> 105 integrativen Orientierung, die ursprünglich als lernförderlicher eingestuft wurde. Aufgrund der Einseitigkeit der Bezugsgruppen - bei Gardners Untersuchungen in einem bikulturellen Land sei von der Relevanz einer positiven Beziehung zur Zielsprache auszugehen - begegnete man sowohl dem begrifflichen Dualismus als auch der Favorisierung einer der beiden Zielorientierungen mit Kritik. Bald wurde die ursprüngliche Annahme, dass integrativ motivierte Lernende bessere Ergebnisse erzielen, in einer Vielzahl von Untersuchungen widerlegt und auch von der Gruppe um Gardner nicht mehr aufrecht gehalten (vgl. Gardner/ MacIntyre 1991, Masgoret/ Gardner 2003, vgl. Abendroth-Timmer 2007: 34, Noels et al. 2007: 30f, Riemer 1997: 10ff, dagegen bestätigend z.B. die Studien von Hernández 2008, Semmar 2006). In ihrem erweiterten Modell aus dem Jahre 1993 werden die individuellen Lernvariablen weiter aufgefächert und in kognitive (Intelligenz, Sprachbegabung, Lernstrategien) und affektive Faktoren (Einstellung, Motivation und Sprechangst) unterteilt, die relativ unabhängig voneinander wirken. Abb. 4 - Socio-Educational Model nach Gardner/ MacIntyre (1993: 89) <?page no="106"?> 106 Zu einer detaillierten Analyse des Modells sei auf Riemer (1997: 24ff) oder Dörnyei (2001: 51ff) verwiesen. Hier möchte ich meine Überlegungen auf das Motiv „Einstellung zur Sprache“ und den Faktor Motivation beschränken. Im vorliegenden Modell wird vorausgesetzt, dass die Entscheidung für den einen oder anderen Motivationstyp nicht aufgrund einer Wertung oder Entscheidung des Lernenden erfolgt, sondern dass eine (nicht steuerbare) Haltung oder gegebene Notwendigkeit situationsspezifische Reaktionen bedingen, denn Einstellungen und Motivation siedeln sich in dem Modell im Bereich der affektiven Faktoren an. Diese Tatsache gehört zu einem wesentlichen Kritikpunkt, wie Riemer anmerkt, und an der Stelle setzen auch Crookes’ und Schmidts sowie Dörnyeis Modellentwicklungen an (s.u.). Einstellungen, unter die das Konstrukt „Language Attitude“ fällt, sind auch nach Abendroth-Timmer aufgrund der herangezogenen aktuellen Forschungslage „kognitiv zugänglich, haben handlungsregulierenden Charakter und werden als affektiv, kognitiv und konativ definiert“ (Abendroth-Timmer 2007: 66). Des Weiteren sind sie als erworben veränderbar, besitzen eine „Nützlichkeitsfunktion“ und dienen u.a. der Identitätswahrung (ebd.: 67). Von diesem Standpunkt aus ist es nicht ganz einsichtig, dass zwischen Motivation und Angst eine Wechselwirkung besteht, zwischen Einstellung und Motivation aber nicht. Wenn wir dagegen annehmen, dass Einstellung sowie - wie weiter oben dargelegt - Motivation durchaus auch bewusste Elemente enthalten und diese wiederum Handlungsziele implizieren, dann ist von einer Wechselwirkung von Motivation und Einstellung auszugehen. Aufgrund der vielfältigen Funktionen und über die z.T. bewusste, d.h. steuerbare Komponente von Einstellung zur Sprache oder Zielkultur ist hiernach das Konstrukt Einstellung durchaus für motivationale und volitive Einflussfaktoren empfänglich. Das Socio-Educational Model ist seit seiner Entstehung mehrfach erweitert worden, die letzte Fassung (Gardner 2001) schließt weitere externe Komponenten mit ein, darunter den Lernkontext, und integriert damit ein wesentliches Element, dessen Fehlen z.B. Dörnyei (s. 2.4.2) bemängelt und als wesentlich in seinem Ansatz herausgearbeitet hat. Vor allem Riemer hat das Modell in seinen Entwicklungsphasen nachvollzogen und für die deutschsprachige Fremdsprachenforschung zugänglich gemacht. Sie deckt dabei mit Verweis u.a. auf Masgoret und Gardner (2003) die „enge“ Auslegung von integrativer Orientierung als „Fehldeutung“ bzw. als von den Autoren später erweiterte Definition auf. Nicht die konkrete Zugehörigkeit, sondern die „Offenheit für fremde Kulturen und dabei insbesondere für die Zielsprachenkultur“ (Riemer 2006: 40) und eine positive Einstellung dazu sei darunter zu verstehen; auch ursprünglich davon abgegrenzte „Konzepte von Bildungs-, Reise- und Kontaktmotiven“ (ebd.: 41) ließen sich dazu zählen. So verstanden ist das Motiv der Integrativität wesentli- <?page no="107"?> 107 cher Bestandteil jeglicher Motivation (ebd.). Des Weiteren wird die bereits erwähnte und schon im Modell aus dem Jahre 1995 angelegte Überwindung der Dichotomie integrativ-instrumentell durch Gardners eigene Äußerungen konstatiert, in dem Sinne, dass beide durchaus zusammenwirken können (Gardner 2005: 8, nach Riemer 2006: 42). Integrative Motivation versteht sich damit als ein „Komplex von Integrativität, positiven Einstellungen von Sprachlernsituation und Antriebsstärke (Motivationsintensität), wobei weitere Motivationsfaktoren, darunter instrumentelle Motivorientierungen, die Antriebsstärke beeinflussen“ (Riemer 2006: 41). Auch die ursprüngliche Favorisierung des integrativ motivierten Lernens wird mehrfach relativiert: Thus, it is conceivable that an individual who is instrumentally oriented could be more motivated than one who is integratively oriented and because of the differences in motivation may experience more success at learning the language. (Masgoret/ Gardner 2003: 129) […] nothing in the model claims that an integrative orientation will be more highly related to achievement in the second language than an instrumental orientation. (Masgoret/ Gardner 2003: 130) Wenn Riemer daher die Arbeiten Gardners und seiner Forschergruppe als „bis heute unübertroffen in ihrer theoretischen und forschungsmethodischen Exaktheit und in ihrem Bestreben, die Interaktion von Motivationsvariablen mit messbaren Ergebnissen des Fremdsprachenlernens“ (Riemer 2006: 40) ansieht und für die Anwendung des Modells plädiert, räumt sie auch ein, dass es in seiner relativ undifferenzierten Zuordnung von Konstrukten zu dem affektiven Bereich einige Aspekte ausblendet, da „insbesondere kognitive Motivationsvariablen, die im Fokus des Erkenntnisinteresses von anderen Forschern stehen (z.B. Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit), hier nur implizit erfasst werden“ (Riemer 2006: 42). Des Weiteren verweist sie auf die mangelnde Berücksichtigung der Handlungsebene, wie sie zwar ansatzweise im Modell von 1995 (Tremblay/ Gardner 1995: 510) aufzuholen versucht wurde, die grundsätzlich aber als handlungsauslösender, dynamischer Faktor unberücksichtigt bleibt (ebd.). Diese beiden Kritikpunkte stellen die Hauptgründe dar, weshalb das Social- Educational Model in der deutschsprachigen Fremdsprachenforschung zwar immer als Meilenstein in der Konzeptualisierung von Motivation erscheint, aber letztendlich verhältnismäßig wenig eingesetzt wird, d.h. empirisch kaum als Grundlage dient. Positiv wird auch sein Erweiterungspotenzial erwähnt; außerdem ist die Tatsache anzumerken, dass es den Fokus auf Emotionen und Affekte in einer Zeit gelegt hat, in der diese kaum Beachtung fanden. <?page no="108"?> 108 Die heftigen Kontroversen in den 1990er Jahren um das Gardnerische Modell (vgl. Übersicht in Riemer 1997, 2004) haben sich äußerst produktiv auf die Forschung ausgewirkt und letztendlich zur Akzeptanz verschiedener Motivationskonstrukte geführt. Vor diesem Hintergrund soll hier nur kurz auf die Stellungnahme von Crookes und Schmidt eingegangen werden, die grundsätzlich das Modell von Gardner als zu dominant und bindend kritisieren (Crookes/ Schmidt 1991: 501, vgl. dazu Dörnyei 1994: 264) und inhaltlich die Vereinheitlichung von Einstellung und Motivation in Frage stellten (Crookes/ Schmidt 1991: 471). Abgelehnt wird auch die positive Konnotation von „integrativ“ in Abgrenzung zu „instrumentell“ (Crookes/ Schmidt 1991: 473). In Anlehnung an aus der Psychologie stammenden Motivationstheorien, die besondere Aufmerksamkeit auf den Lernerkontext legen, entwickeln die beiden Forscher ein Vier-Stufen-Modell. Sie greifen in ihrer Ausführung auf Keller (1983) zurück, der die vier Hauptkomponenten: interest, relevance, expectancy und outcome unterschieden hat: (1) the micro level, which deals with motivational effects on the cognitive processing of SL stimuli; (2) the classroom level, dealing with techniques and activities in motivational terms; (3) the syllabus level, at which content decisions come into play; and (4) considerations relevant to informal, out-of-class, and long-term factors. (Crookes/ Schmidt 1991: 483) Die Relevanz ihres Beitrags liegt einmal in der Berücksichtigung pädagogisch orientierter Motivationsbzw. Interessentheorien, zum anderen in der Forderung nach einem methodischen Umdenken: We hope to see developments away from exclusive reliance on self-report questionnaires and correlational studies toward a research program that uses survey instruments along with observational measures, ethnographic work together with action research and introspective measures, as well as true experimental studies. (Crookes/ Schmidt 1991: 502) 2.4.2 Das prozessorientierte Motivationsmodell Dörnyeis Dörnyei hat unterschiedliche Komponenten des Zweitsprachenerwerbs außerhalb des Landes der Zielsprache untersucht (u.a. Dörnyei 1994, 1997, 2000, 2001). Seine Ergebnisse stellen Gardners Begrifflichkeiten grundsätzlich nicht in Frage; Integrativität wird als „the most powerful general component of the participants’ generalised language-related affective disposition“ (Dörnyei 2001: 51) bezeichnet, allerdings wird diese nicht in Gegenüberstellung von Instru- <?page no="109"?> 109 mentalität gesehen, sondern im Wechselspiel: „that not only can instrumentality complement integrativeness, but it can also feed into it as a primary contributor“ (Csizér/ Dörnyei 2005: 27). Dabei öffnet sich der Integritätsbegriff bei Dörnyei in Anlehnung an Higgins (1987, 1996) in Richtung auf ein „Ideal Self“ oder „Ideal L2 Self“ (Csizér/ Dörnyei 2005: 29), sicherlich zu unterschieden von dem, was Gardner in der Erweiterung seines ursprünglichen Modells darunter versteht. So wie u.a. Crookes und Schmidt plädiert Dörnyei (1994: 273) des Weiteren für eine stärkere Berücksichtigung des Lernkontextes: While acknowledging unanimously the fundamental importance of the Gardnerian social psychological model, researchers were also calling for a more pragmatic, educational-centred approach to motivation research, which would be consistent with the perceptions of practising teachers and which would also be in line with the current results of mainstream educational psychological research. Bei der Suche nach einem „educational-friendly“ Modell (Dörnyei 1994: 283) wird der Schwerpunkt seiner Forschung im Vergleich zu Gardners Untersuchungen auf die Faktoren gelegt, die im Klassenzimmer die Lernsituation determinieren. Auch der von verschiedenen Seiten hervorgehobenen und bemängelten Ausblendung kognitiver Aspekte wird Rechnung getragen, so erhält neben den generellen Dispositionen die kognitive und affektive Ausstattung des einzelnen Lerners mehr Gewicht. In einem frühen Modellentwurf wird darin das Gardner’sche Begriffspaar integriert, grundsätzlich der Situation aber mehr Beachtung geschenkt. Dörnyei unterscheidet drei „sets of motivational components (motives and motivational conditions)“ (Dörnyei 1994: 277): Kursbezogene motivationale Komponenten (interest, relevance, expectancy, satisfaction); lehrerbezogene motivationale Komponenten (affiliative drive, authority type, socialisation of student motivation) und gruppenbezogene motivationale Komponenten (goal-orientedness, norm and reward system, group cohesion, classroom goal structures). Deutlich ist der Rückgriff auf unterschiedliche Ansätze; eingearbeitet werden u.a. auch „intrinsisch - extrinsisch“; was Motivation als einem „multifaceted construct“ (Dörnyei 1994: 279) gerecht werden will. An die Untersuchungen von Clement, Dörnyei und Noels (1994) anknüpfend, ordnet er die oben genannten Komponenten drei Bereichen zu: language level, learner level und learning situation level, die die soziale, persönliche und erzieherische Dimension widerspiegeln. Zu der ersten gehören z.B. die instrumentelle und die integrative Orientierung; die zweite enthält kognitive und affektive Variablen, die dritte bestimmt sich über den Lern(er)kontext (Abb. 5). <?page no="110"?> 110 Infolge neuerer Untersuchungen und mit Hinweis auf die Wichtigkeit der zeitlichen Abfolge wird das Modell weiterentwickelt (Dörnyei 2000: 522). In dem von ihm und Otto (Dörnyei/ Otto 1998, Dörnyei 2000, Dörnyei 2001: 85ff) entworfenen Schema ist das erste Ziel, die Prozesshaftigkeit von Motivation bildlich zu veranschaulichen 39 , wobei sich die beiden Forscher Heckhausens und Kuhls Handlungskontrolltheorie (1985) und dem Rubikon-Modell von Heckhausen bedienen. Hervorgehoben wird angesichts der Prozesshaftigkeit und Nicht-Linearität von Motivation (Dörnyei 2001: 185f, vgl. auch Berndt 2002, Holder 2005: 74) die Möglichkeit, mit dem Modell die zeitliche Abfolge, aber eben auch die Einflussfaktoren für mögliche Intentionswechsel und Handlungsänderungen zu benennen. Dennoch steht Dörnyei seinem Modell heute eher kritisch gegenüber (Dörnyei 2009: 210f). In Anlehnung an dynamische Systeme (s. 2.1.1) distanziert er sich dezidiert von jeglicher Art von Zugängen, die Prozesse über eine Ursache/ Wirkung-Beziehung erfassen wollen, da sie Verhalten nur unzureichend zu erklären vermögen. Handlung motiviert sich demnach über ein Wechselspiel von Attraktoren und Attraktoren-Konglomeraten. Die präaktionale Phase spannt sich von der Zielfindung über die Intentionsbildung zum Beginn der Intentionsumsetzung. Innerhalb der drei Stufen werden unterschiedliche Elemente ausdifferenziert; dabei nimmt im Rahmen der Intentionsbildung die Zielverpflichtung (commitment) eine besondere Rolle ein (Dörnyei 2000: 526). Das Überschreiten des Rubikon markiert im Unterschied zu dem Modell von Heckhausen den Übergang vom Handlungsvorsatz zur aktionalen Phase. Die aktionale Phase besteht aus einem Set von Handlungskontrolle, dem Ausführen untergeordneter Ziele sowie gleichzeitiger Bewertung und mündet im Ergebnis (actional outcome). Von dort aus werden Entscheidungen zum weiteren Handlungsverlauf getroffen und gegebenenfalls die Zielintentionen modifiziert. Beim Erreichen des Ziels tritt die Handlung in die postaktionale Phase ein, in der Ursachen für das Ergebnis gesucht, Strategien ausgearbeitet und Ziele für zukünftiges Handeln gesetzt werden: An accomplished intention may clear the way for a subsequent intention leading to a more distant superordinate goal - in this case the postactional motivation process evolves into a preactional phase and the cycle begins anew. (Dörnyei 2000: 528, 2001: 91). 39 In dem Zusammenhang sei auch auf den weitaus früheren Versuch von Solmecke (1983: 271) verwiesen, der wohl als einer der Ersten ein Handlungsmodell für die Fremdsprachenforschung entwickelt hat. <?page no="111"?> 111 Abb. 5 - Das prozessorientierte Motivationsmodell Dörnyeis (2001: 86, zuerst in Dörnyei/ Otto 1998: 48) Im Unterschied zu der Vorlage ist es nicht diese letzte Phase, die auf den weiteren Verlauf wirkt und ihn prägt, bei Dörnyeis Modell setzten die Pfeile früher, nämlich am Ergebnis, an. Für den motivationalen Prozess wird damit die realisierte Handlung ausschlaggebend, weniger das Erreichen des intendierten Ziels, so wie Csizér und Dörnyei auch an anderer Stelle betonen: „motivation is <?page no="112"?> 112 a concept that explains why people behave as they do rather than how successful their behavior will be“ (Csizér/ Dörnyei 2005: 20). Abendroth-Timmer (2007: 48) beurteilt das Modell Dörnyeis als eine Weiterentwicklung von Heckhausens Motivationsmodell, da jenes die einzelnen Phasen besser ausdifferenziert. So sei es „viel kleinschrittiger. Weiterhin weist dieses Modell einen weiteren Schritt vom Objekt zum Subjekt auf. Alle Phasen sind über die Entscheidungs- und Motivationsprozesse des Lernenden darstellbar“ (Abendroth-Timmer 2007: 50). Als Grundlage für ihre Untersuchung beleuchtet sie einzelne Variablen und zeigt, dass deren Vielzahl keinesfalls Verwirrung stiftet, sondern eine Erweiterung der Forschungsmöglichkeiten impliziert (Abendroth-Timmer 2007: 214ff). Unbestritten stellt die Ausdifferenzierung der Phasen innerhalb der jeweiligen Stufen ein filigraneres Unterscheidungsmittel der Einflussfaktoren dar. Das Schema bedeutet aber auch eine entscheidende Veränderung der Vorlage. Diese „feinen“ Abweichungen zum Rubikon-Modell Heckhausens sind m.E. höchst signifikant und waren entscheidend bei der Wahl des „Originals“ für die vorliegende Untersuchung. Die Adaptation des Modells der Handlungsphasen seitens Dörnyeis verrückt den Fokus auf die Handlungsausführung; damit geht einher, dass der Rubikon nicht bei der Bildung des Intentionsvorsatzes überschritten wird, sondern später, vor Beginn der Intentionsumsetzung. In diesem Modell ist der Wille und sein Verhältnis zur Motivation offensichtlich sekundär (es wird auch nicht von Volition gesprochen, sondern von Handlungskontrolle), so wird in der präaktionalen Phase nicht zwischen Motivation und Volition getrennt und die Phasen werden insgesamt auf drei reduziert (allerdings auf fünf Stufen verteilt), denn die prädezisionale Phase wird als eine Stufe der Motivation innerhalb der präaktionalen Bewusstseinslage gefasst. Diese verstärkte Konzentration auf die Handlung selbst zeigt sich - wie wir schon hervorgehoben haben - auch in dem frühen Ansetzen von (eventuellen) Zielrevidierungen, die eben nicht in der Bewertungsphase starten, sondern unmittelbar beim Vorliegen des „actional outcome“. In diesem Sinne unterstreicht Dörnyei in dem Rubikon-Modell neben der Möglichkeit, motiviertes Handeln in seinem Ablauf zu verfolgen, auch das Potenzial der Ausdifferenzierung einzelner Schritte (Dörnyei 2000: 530). Kritisch erwähnt er dagegen: The main weakness of a process-oriented approach as outlined above is that it implies that the actional process in question is well-definable and occurs in relative isolation, without any interference from other ongoing activities the learner is engaged in. (Dörnyei 2000: 530) <?page no="113"?> 113 Des Weiteren klammere der starre Phasenablauf parallel sich überschneidende und auch widersprüchliche Intentionen aus (ebd.), so wie auch automatische und automatisierte Handlungsabläufe keine Berücksichtigung fänden. Diese Beanstandungen führen letztendlich zu der derzeitigen Übernahme dynamischer Systeme. Dem ersten Einwand lässt sich im Sinne von Gollwitzer (1996) und Heckhausen (1989) allerdings entgegenhalten, dass das Modell grundsätzlich rückläufige Abläufe und Abbrüche durchaus mitdenkt, aber sicherlich nicht automatische - da nicht volitional - erfasst. Dörnyeis sich über Jahrzehnte erstreckende Untersuchungen zeigen ein starkes Interesse am Lerner- und Lernkontext, zu dem neben dem Lernambiente wesentlich die Lehrer-Lerner- und die Lerner-Lerner-Interaktion gehören (Dörnyei 1994, 1997, auch in Clément et al. 1994, Dörnyei/ Kormos 2000, Dörnyei/ Malderez 1997, Kormos/ Dörnyei 2004, MacInteyre et al. 1998 u.a.). Er hat damit sicherlich einen Beitrag dazu geleistet, dass in der Fremdsprachenforschung der positive Einfluss von Gruppenarbeit auf die Motivation und folglich auf das Lernen verschiedentlich nachgewiesen worden ist (u.a. auch in Düwell 1998, Fischer 2006, Gardner/ MacIntyre 1993, Legutke 2003: 260, Oxford 1997, Reinfried 2002: 192 u.a.). 40 Dörnyei hat seinen Blick dabei auf unterschiedliche Aspekte kooperativen Lernens gelenkt, so z.B. auf den Zusammenhang zwischen der angstsenkenden Wirkung von Gruppen und intrinsischer Motivation: […] the cooperative goal structure is more powerful in promoting intrinsic motivation (in that it leads to less anxiety, greater task involvement, and a more positive emotional tone), positive attitudes towards the subject area, and a caring, cohesive relationship with peers and with the teacher [...]. (Dörnyei 1994: 279, vgl. auch Dörnyei 1997) Auch sind hier u.a. die Forschungen von Judit Kormos und Zoltán Dörnyei zur Motivation in L2-aufgabenbasierter Interaktion (2000, 2004) zu nennen: […] we find that the partner’s task and course attitudes affected the quality of talk produced in a positive way. The number of turns was positively correlated with the partner’s general motivation. The number of arguments produced was also influenced by the partner’s task attitude, L2 use anxiety and the composite of motivational variables. These results point to the increased importance of the interlocutor’s motivation in cases when the participants had negative attitudes to the task. It seems that an interlocutor with a positive attitude to the language 40 In Ergänzung dazu die Untersuchung von Reeve et al. (1996), die deutlich negative Konsequenzen auf die intrinsische Motivation bei verstärkter Konkurrenz im Gruppenverband nachweisen konnten. <?page no="114"?> 114 course and the task could engage his/ her less 'enthusiastic' partner more actively in performing a task. (Kormos/ Dörnyei 2004: 15) In den Untersuchungen zur Motivation oder zu motivationalen Aspekten beim Deutsch-als-Fremdsprache-Erwerb wird daher häufig auf seine Studien Bezug genommen und sein Modell als angemessen für den aktuellen Forschungsbedarf beurteilt (z.B. Abendroth-Timmer 2007, Fischer 2006, Grünewald 2006, Motz 2005: 40). Vor allem lässt sich seine Perspektive durchaus durch Ansätze ergänzen, die differenzieren, wo und wie sich das konkrete Lerninteresse in der Kooperation mit anderen realisieren lässt (vgl. Hoffmann 2008a: 102ff). Slavin (1996: 48ff) hat dabei z.B. vier unterschiedliche Ebenen voneinander abgehoben: Die Übernahme eines gemeinsamen Lernziels, das nur vereint zu erreichen ist, soziales Verhalten (emotionales Feedback), Aufbau kognitiver Strukturen und die Erweiterung von Verarbeitungsstrategien (vgl. Königs 2005: 456). 2.4.3 Riemers Motivationskonstrukt für Deutsch als Fremdsprache Riemer entwickelt ihr Modell (Abb. 6), wie schon weiter oben erwähnt, vor dem Hintergrund des Socio-Educational Model Gardners, in das sie aber auch Bausteine anderer Ansätze mit aufnimmt, so z.B. Elemente aus dem Rubikon-Modell (Riemer 2006, 2010), und in dem sie einzelne Faktoren auf der Grundlage eigener Studien ausbalanciert. So erscheint die dreistufige präaktionale Phase deutlich in Anlehnung an Dörnyeis Modell konzipiert. Sie nimmt aber im Bereich der Intentionsbildung und der Handlungsinitiierung weitere Elemente auf, wie z.B. Relevanz (vgl. Dörnyei 1994, nach Keller 1983) oder die Erfolgswahrscheinlichkeit, im Sinne von Einschätzung der eigenen Fähigkeiten aus der Perspektive der Erwartungs-mal-Wert-Theorien (vgl. Heckhausen 1989: 168f) oder des Selbstwirksamkeitskonzepts (Bandura 1977). Aufgefächert werden die sozialen und kontextuellen Faktoren; so stellen die zur Verfügung stehenden Lernmöglichkeiten hier einen eigenen Bereich dar. Auch bei Riemer wird der „Rubikon des Handeln“ (Riemer 2010: 171) zu Beginn des Tätigkeitsvollzugs überschritten und nicht wie bei Heckhausen bzw. Heckhausen/ Gollwitzer bei der Intentionsbildung. <?page no="115"?> 115 Abb. 6 - Motivationsprozesse nach Riemer (2010: 171, auch 2006: 44) Die Aktionsphase wird mit dem Begriff der „Lernanstrengung“ gekennzeichnet, auf die die volitionale Selbstregulation, Aufmerksamkeit und Emotionen wirken. Riemer sieht den Einfluss dieser drei Faktoren über das Zusammenspiel von internen wie externen Faktoren verbunden. Auf das Handlungsergebnis wirken einmal der noch wenig untersuchte Faktor der fremdsprachlichen Eignung und - wie bei Dörnyei - der Lernstil. Bei der Selbstbewertung wird auf das zyklische Moment zurückgegriffen und damit indirekt auf das Folgeelement von Heckhausens Modell: Die Lernergebnisse (sprachliche wie nichtsprachliche) wirken auf der Basis lernerseitiger Selbstevaluation auf den Motivationsprozess zurück und dienen dort der Aktualisierung von Motivorientierungen, Kausalattributionen, Einstellungen zum Fremdsprachenlernen etc., die wiederum den Volitionsprozess unterstützen, der für die Aufrechterhaltung der Lernanstrengung nötig ist. (Riemer 2006: 45) Ausgehend von ihrer 1997 aufgestellten Einzelgänger-Hypothese, nach der sich das „Faktorenbündel“ von Motivation höchst individuell zusammensetzt, hat Riemer dieses mehrdimensional und dynamisch angelegte Konstrukt in einer <?page no="116"?> 116 Vielzahl von Untersuchungen erforscht und ist vor allem in jüngsten Studien der Frage nachgegangen, inwieweit die Komponenten für alle Länder gleichwertig anwendbar sind. Daher agieren zwar die hier angeführten Faktoren interindividuell, sind intraindividuell variabel 41 und zumindest teilweise bewusstseinsfähig, aber das Wie ihres Zusammenspiels bleibt im jeweiligen Fall auszuhandeln: (1) Allgemeine personale und soziale Voraussetzungen ▪ Andauernd(e) Einsatz(bereitschaft) ▪ Persönlichkeitsvariablen (u.a. Selbstvertrauen, fremdsprachenspezifische Angst) ▪ Internalisierte gesellschaftliche Anforderungen ▪ Familiärer Einfluss (2) Zielsprachliche Einstellungen ▪ Einstellungen zur L2, Relevanz der L2 ▪ Einstellungen zum Fremdsprachenlernen ▪ Einstellungen und Orientierungen zur zielsprachlichen Gesellschaft und Kultur (3) Motive und Ziele ▪ Motivorientierung, mittelfristige und langfristige Ziele ▪ Ernsthafter Wunsch und Realisierbarkeit, Ziel auch zu erreichen ▪ Freiwilligkeit (schulisches Pflicht-, Wahlpflicht-, Wahlfach) (4) Vorerfahrung und Erfolgsaussichten ▪ Lernerfahrungen mit anderen L2, Bewertung früherer Sprachlernerfahrungen ▪ Selbstevaluierter Sprachlernerfolg, Erfolgsaussichten (5) Unterrichtskontext ▪ Lehrperson, Lernergruppe ▪ Didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts, Lehr-/ Lernmaterial ▪ Rahmenbedingungen (6) weitere Kontakte zur Zielsprache ▪ Kontakte zur Muttersprachlern ▪ Aktive Beschaffung von (weiterem) L2-Input (Riemer 2006: 37) Wie aus der Aufstellung ersichtlich wird, fließen in diese Liste von Variablen Erkenntnisse aus den Attributionstheorien (vgl. Heider 1958, dazu Weiner 1994: 257ff) ein, wonach die Selbstwahrnehmung und Überzeugung des Lerners, sich (internal) oder einer äußeren Instanz (external) den Grund für Erfolg oder Misserfolg zuzuschreiben, wichtige Konsequenzen hinsichtlich der Lernhandlung 41 Riemer räumt (2005: 57) diesbezüglich ein, dass vielleicht die Persönlichkeitsdispositionen als stabil gelten könnten. Allerdings hängt das von der Konzeptualisierung des Selbstkonzepts ab. So können Persönlichkeitsmerkmale als Teile der Selbstdarstellung fungieren und als adressatenabhängig gelten (vgl. Mummendey 1995). <?page no="117"?> 117 selbst zeitigen. Bereits in früheren Untersuchungen hatte Riemer den Nachweis erbracht, dass es besonders zum Weiterlernen motiviert, wenn sich die lernende Person die Ursachen für den Erfolg selbst zuschreibt und diese auch beeinflussen kann; sogar eigenevaluierte Defizite sind dem Lernprozess durch größere Einsatzbereitschaft dienlich: Motivierend scheint ein Erfolg besonders dann zu sein, wenn der Lernende dessen Ursachen im eigenen intentionalen Arbeitseinsatz begründet sieht. Besonders demotivierend scheint ausbleibender Erfolg besonders dann zu sein, wenn sich der Lernende die Gründe dafür selbst zuschreibt und diese nicht kontrollieren kann, weil er sich für unzureichend sprachbegabt hält, und wenn trotz Mühe kein Erfolg errungen wird. Erfolg motiviert anscheinend auch dann nicht, wenn er nicht auf persönlichen Arbeitseinsatz zurückgeführt wird. Ursachenattributionen sind also wichtige Komponenten eines persönlichkeitsbezogenen Motivationskonzepts in der Fremdsprachenforschung. (Riemer 2004: 40, auch 2001: 380ff) Über die Faktoren „Freiwilligkeit“ und „Motivorientierung“ spannt sich der Bogen zur Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan, auf deren Wichtigkeit für die Fremdsprachenforschung Riemer in ihren Abhandlungen Bezug nimmt (u.a. Riemer 2006: 38f). Der Hinweis von Riemer, dass „ein Großteil der Forschung im Kontext des Englischlernens gewonnen wurde“ (Riemer 2005: 53) 42 , ist im Rahmen des vorliegenden gegenstandsorientierten Ansatzes äußerst relevant sowie auch die Ergebnisse der von ihr durchgeführten internationalen Studie zu Deutsch als Fremdsprache wichtige Erkenntnisse hierfür liefern (Riemer 2005, 2011). Übergreifend stellt Riemer allgemein positive Einstellungen zu Fremdsprachen, eine eher instrumentelle Motivierung, Beurteilung des Status der deutschen Sprache in Abhängigkeit zu anderen Sprachen und das Bildungs-, Reise- und Kontaktmotiv als wesentlich für die Deutschmotivierung fest (Riemer 2005: 68f). So taucht wiederholt der Anreiz von Deutsch „als Herausforderung“ als ein Motivationselement bei Germanistikstudenten auf, „das die Lernenden zu Spezialisten in einem spezifischen Gebiet macht“ (ebd.). Das so getaufte „Exotenmotiv“ lässt sich auch bei italienischen Studierenden wiederfinden: Besonders bei leistungsmotivierten Lernenden wirkt: „Deutsch ist schwer, deshalb möchte ich es lernen“ (Fischer 2006: 107), im Vergleich zu anderen Fremdsprachen gilt dieser Anreiz als besonders motivierend (vgl. Hoffmann 2006: 124, 2010b). Auch lie- 42 Explizit formulieren Masgoret und Gardner (2003: 135) die unterschiedliche Motivationslage bei Zweit- und Fremdsprache als Forschungshypothese (vgl. auch Anmerkung in Hornung 2004: 42). Auch Holder (2005: 285ff) belegt in seiner Studie, dass Übertragungen von Einstellungen und Fähigkeitskonzepten von einer Sprache auf die andere unzulässig sind und fremdsprachenspezifisch differenziert werden muss. <?page no="118"?> 118 gen zum Zusammenspiel von Sachinteresse und Herausforderung bereits Untersuchungen vor, die eine Abhängigkeit beider Größen zu belegen scheinen (vgl. Rheinberg/ Vollmeyer 2000). Abweichend zu den Daten aus der internationalen Studie erweist sich aber in Bezug auf die südeuropäischen Länder in den herangezogenen Studien die Orientierung in Italien nicht als vorwiegend instrumentell, sondern als im Selbst integriertes, aber auch durchaus funktionales Interesse an der deutschen Sprache (vgl. Hoffmann 2010b, Hornung 2003: 360). Das „Nützlichkeitsmotiv“, das Apelt als den wichtigsten Beweggrund bezeichnet hatte (Apelt 1996: 81, nach Abendroth-Timmer 2007: 54), erscheint hier emotional verankert und wirkt so ungetrübt fort. Dieser länderspezifische Unterschied liegt vor allem im Bereich von „affektiv-attitudinalen und sozialen Variablen“, den Riemer als den anfälligsten für individuelle Ausprägungen des Motivationskonstrukts bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit Motivationskonstrukten ist untrennbar an methodologische Fragestellungen gekoppelt. Die von Gardner und seiner Gruppe durchgeführten Untersuchungen bedienen sich quantitativer Ansätze und dementsprechender Testverfahren (AMTB, Likert-skalierte und Multiple-Choice- Items); und auch die von Dörnyei eingesetzten Befragungen, die um eine Vielzahl von Items bereichert sind und insofern seinem erweiterten Modell Rechnung tragen, finden im Rahmen standardisierter quantitativer Forschungsdesigns statt. Auf die Vor- und Nachteile dieser Verfahren zur Datenerhebung und ihre Einbindung in verschiedene Bezugsebenen und -systeme geht Riemer (2004, 2001, vgl. auch Kritik von Crookes/ Schmidt 1991, kritisch auch Scheffer 2005: 5f) ausführlich ein und kommt zu dem Schluss, dass sich die Reichweite so erhobener Daten relativ bald erschöpfe. Den Vorteil ihrer relativ leichten Handhabung und ihres Anspruchs von Vergleichbarkeit und Verallgemeinerung bezahlten sie mit dem Mangel an Tiefgründigkeit (Riemer 2004: 52, auch 2001). Daher bezieht sie sich zur systematischen Erarbeitung einer differenzierteren Kenntnis der Motivationsvariablen auf eine mehrperspektivische Konzeptualisierung und bevorzugt triangulierende Verfahren unter Einbezug von Sprachlernmotivations-Biographien und semi-offenen Interviews (Riemer 2001). In der erwähnten internationalen Studie setzt sie entsprechend „schriftliche Sprachlernbiographien von DaF-Lernenden, semi-strukturierte Lernerinterviews, semistrukturierte Experteninterviews (Lehrende, Schulleiter, Leiter von Sprachabteilungen), Dokumentenanalysen (Informationen zum Schulsystem, Lehrpläne etc.) und Unterrichtsbeobachtungen“ (Riemer 2005: 59) ein. <?page no="119"?> 119 2.5 Motivation und Bewusstsein im Zusammenspiel: zweiter Forschungsfragenkomplex Da die Theoriebildung mit diesem Kapitel abgeschlossen ist, soll an dessen Ende das Schema vorgestellt werden, das als Resultat der vorangegangenen Auseinandersetzung die Grundlage zu der empirischen Untersuchung liefert. Bereits Heckhausen hatte sich angesichts der vielfältigen Ausdifferenzierung der Motivationsfaktoren gefragt, ob die Suche nach einem umfassenden Konzept für die Forschung überhaupt sinnvoll sei und ob sie „alle getrennt erfaßt und berücksichtigt nicht ein summarisches Motivkonzept ersetzen und zugleich mehr Verhaltensvarianz aufklären können; vorausgesetzt es gelingt, die einzelnen Parameter angemessen zu erfassen“ (Heckhausen 1989: 466). In diesem Sinne zielt das folgende Modell nicht auf die Erstellung eines neuen Motivationskonzepts, sondern will einen methodischen Zugriff auf das Zusammenwirken von Motivation und Bewusstsein schaffen. Mit der Nicht-Berücksichtigung unbewusster sowie unwillkürlich und automatisch ablaufender Lernhandlungen soll keinesfalls ihre Existenz oder ihr Einfluss negiert werden, sondern diese bezweckt nur die Ausgrenzung bewusster Prozesse zu deren Erforschung. Das entwickelte Schema für bewusste und motivierte Lernprozesse baut auf den theoretischen Grundlagen der Kritischen Psychologie auf, d.h., dem Gegenstand wird eine eigenständige Valenz zuerkannt und die Lernorientierung über die Begriffe defensiv und expansiv definiert (s. 2.1.2, 2.3). Bei der Beschreibung der Handlungsphasen lehnt es sich an das Rubikon-Modell Heckhausens und Gollwitzers an, wobei die horizontale Zeitfolge weder Überlappungen noch rückläufige Handlungen oder Abbrüche ausschließt und die Trennlinie zwischen Motivationalem und Volitionalem im Sinne sequenzieller Übergänge nicht so scharf gezogen werden soll. In diesem Modell (Abb. 7) werden die drei in der Noticing Hypothesis konzeptualisierten Übergänge von der Wahrnehmung über das Gewahrwerden zum Verstehen implementiert. <?page no="120"?> 120 Schema für bewusste motivierte Lernhandlungen Situation/ Anreiz/ input Subjekt/ Motive Gegenstand Rubikon aktionale Phase Phase L e r n h a n d l u n g (expansiv/ defensiv) output und Folge postaktionale Phase Abb . 7 - Schema für bewusste motivierte Lernhandlungen Als ein Zusammenklang der drei Komponenten Subjekt/ Motive, Situation/ Anreiz und Gegenstand wird der Handlungskontext beim Lernen als ein Spannungsfeld begriffen, aus dessen Perspektive die Wahrnehmung erfolgt. Die perzeptive Verarbeitung erfolgt teilbewusst, aber auch bewusst und willkürlich. Dieser breite Bereich wird durch Motivation global aktiviert, d.h., in ihm mischen sich hinsichtlich der zu bewältigenden Aufgabe Emotionen, Kognitionen eingehender Informationen, abgerufene Vorkenntnisse und Vorbewusstes. Das Verhältnis von Kognition und Emotion wird dabei als fluktuierend sowie situations- und gegenstandsabhängig betrachtet. In dieser Phase ziehen bereits einige Phänomene stärker die Aufmerksamkeit auf sich. In Anlehnung an das Rubikon- Modell wird in der Herausbildung der Handlungsintention der Rubikon überschritten. Der Schritt in den Noticing-Bereich bedeutet eine gezielte und wilperceiving prädezisionale Phase noticing postdezisionale Phase intake/ Ergebnis understanding Speicherung im LZG Fokussierung Handlungskontext <?page no="121"?> 121 lentliche Fokussierung auf ein bestimmtes ausgegliedertes Lernphänomen und damit eine entscheidende Veränderung der Bewusstseinslage. Die intentionskonforme Beschäftigung mit dem Lerngegenstand vertieft vorher selegiertes Material, legt die entsprechenden zur Verfügung stehenden Strategien zurecht und ruft diejenigen ab, die zum adäquaten Erfassen des Gegenstandes nötig sind. Die bewusste Komponente wird hier stärker, auch wenn sicherlich auch subkategoriale Systeme Einfluss haben. Es ist der Moment, in dem bewusste und zunehmend intentional ausgerichtete Erlebnismomente die Oberhand gewinnen und so die Handlung unmittelbar einleiten. Diese Prozesse sind, wie bereits erwähnt, energieaufwändiger und daher anstrengend. Das wird jedoch je nach Qualität der Motivation unterschiedlich erlebt. Der Einsatz von Willen als Energieaufwand bei inneren und äußeren Widerständen muss hierbei nicht negativ und demotivierend wirken (s. 2.2). Ist das der Fall, wird wahrscheinlich die Lernhandlung nicht in die aktionale Phase weitergeleitet oder gerät ins Stocken. In der Durchführung der Handlung realisiert sich das intentionale Lernvorhaben, indem der Lerngegenstand defensiv bearbeitet, d.h. die Anstrengung soweit getrieben wird, dass die bestehende Handlungsproblematik „gelöst“ wird. Hier ist der Lerngegenstand Mittel zum Zweck (oder ein notwendiges Übel), und sein Erfassen begnügt sich mit dem unmittelbaren Gebrauchswert (Die Vokabeln lerne ich, weil die morgen in der Prüfung vorkommen, oder: Den Teil lerne ich auswendig, weil der Dozent den immer abfragt.). Damit ist auch gesagt, dass man nur so viel von dem Lerngegenstand kennen lernen will, wie es der durch die Handlungsproblematik vorgegebenen Notwendigkeit entspricht. Oder es wird eine persönliche Übernahme der Handlungsproblematik als Lernproblematik ausgegliedert, die sich durch den vertiefenden Zugang zum Gegenstand eine Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten verspricht. Solchermaßen motiviertes Lernen ist insofern effizienter, als dass Bewusstes durch ein qualitativ besseres Netz verknüpft wird, denn wie Lernen beim stufenweisen Erfassen zum Gegenstand vorstößt und ihn mehr und mehr entdeckt, wird parallel dazu Wissen vielschichtiger ausgebaut. Das Ergebnis expansiv orientierten Lernens hinterlässt daher über die tiefere Verarbeitung profundere Spuren im Handlungskontext, auf den es im output und als Folge zurückwirkt. Aus diesen Überlegungen ergibt sich für die Studie der zweite Forschungsfragenkomplex: 1. Ist von expansiv orientiertem Lernen potenziell eher auf eine Speicherung im LZG zu schließen? 2. Zeigt sich dabei auch eine bessere Leistung? 3. Prädisponiert oder koppelt sich expansives Lernen eher an bewusste Lernprozesse? <?page no="123"?> 123 3. Methodologisch-methodische Fragestellungen und Erkenntnisinteresse 3.1 Zur empirischen Forschung in DaF 43 Verfahren zur Erzeugung wissenschaftlicher Erkenntnis müssen dem Gegenstand angemessen sein (vgl. u.a. Grotjahn 2006: 247, Chaudron 2001: 68); daran misst sich ihre Aussagekraft und der Wert der gewonnenen Daten. Doch bei dem Kriterium der Angemessenheit handelt es sich keinesfalls um eine eindeutige und allgemeingültige Größe, denn darüber, was angemessen ist, entscheiden zunächst einmal erkenntnistheoretische Vorannahmen, die den Zugang des Forschenden auf den Gegenstand nachhaltig bestimmen und sein Interesse lenken: „Denn nach welchem Konzept man forscht, hängt auch damit zusammen, wie man die Welt sieht“ (Moser 2008: 26). Zudem fließen auch Tendenzen aktualempirischer Forschung ein, wie die Neurowissenschaften und die soziokulturelle Perspektive (Norris/ Ortega 2003: 724, kritisch gegenüber dem sozio-kognitiven Zugang Chaudron 2001: 65, 68 44 ). Folglich sind der Gegenstandsbestimmung Fragestellungen vorangestellt, die bereits den Gegenstand interpretieren und damit methodische Konsequenzen nach sich ziehen. So bedingt z.B. die kognitivistische Auffassung des „Menschen als ein Ziele und Pläne verfolgendes adaptives, d.h. lernfähiges System“ (Grotjahn 2005: 31) eine andere Annäherung an den Gegenstand als eine neurowissenschaftlich orientierte Position, nach der mentales Geschehen auf physiologische Prozesse zurückgeht bzw. durch sie hervorgerufen wird. Völlig anders wiederum stellt sich der Subjekt-Objekt-Bezug dar, wenn er - wie im Radikalen Konstruktivismus - von der Ontologie des Gegenstandes absieht und Realität mit individuellen Wirklichkeitskonstruktionen, einem „Konglomerat von Wahrnehmungskonstrukten“ (Moser 2008: 27), gleichsetzt. In dem Rahmen solcher Menschenbzw. Weltbilder, die Grotjahn (2005: 26, in Anlehnung an Erb 1997) als Subjektmodelle bezeichnet und die als solche weder verifizierbar noch falsifizierbar sind, erfolgen der Rückgriff auf ein Konstrukt und die Entwicklung einer theoretischen Grundlage. Norris und Ortega (2003: 736) heben die Wichtigkeit dieses klar konturierten Theoriegebildes hervor: „Before we count we have to decide what categories to count“ (Norris/ Ortega 2003: 736, mit Rückgriff auf Chaudron 1988) und warnen vor einer „construct underrepresentation“ (ebd.: 731), der zufolge Forschung bedeutungslos werde: 43 Eine erste Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgte in Hoffmann (2011b). 44 Chaudron bemängelt insbesondere an der Forschung, die sich an der Vygotsky’schen Lerntheorie orientiert, den häufigen Mangel an Ergebnissen zum Lernzuwachs. <?page no="124"?> 124 […] without construct definitions, measurement data are meaningless. […] Note that the measurement process there begins and ends with interpretations; thus, intended interpretations are the starting point for developing appropriate measures, and actualinterpretations are the culmination of using measures. (Norris/ Ortega 2003: 719) Der Forschende trifft entsprechend seines Ansatzes eine Auswahl des zu Beobachtenden (ebd.: 735) ebenso wie das Beobachtete in Bezug auf das Konstrukt interpretiert wird (ebd.: 721). Demnach vollzieht sich Forschung in einem zyklischen Prozess (Abb. 8), in dem die Theorie dem empirischen Teil nicht nur vorgelagert ist, sondern in dem sich beide - von der Methodenwahl bis zur Datenanalyse - ständig wechselseitig beeinflussen. Abb. 8 ̶ Zyklischer Forschungsprozess nach Norris/ Ortega (2003: 720) Überlegungen dieser Art schränken das besonders für die qualitative Forschung deklarierte „Prinzip der Offenheit“ ein (vgl. Grotjahn 2006: 256, 45 Hoffmann 45 „Gegen das Prinzip der theoretischen Offenheit qualitativer Methoden werden meines Erachtens zu Recht u.a. folgende Einwände erhoben: Die Vorstellung einer ‚direkten‘ Erfassung der sozialen Realität ist erkenntnistheoretisch äußerst problematisch. Die Forderung nach einem ,möglichst voraussetzungslosen‘ Sicheinlassen auf das Feld verdeckt die grundlegende Konstruktivität wissenschaftlicher Erkenntnis. Die aus dem Ablehnen vorgängiger Selektionskriterien resultierende Notwendigkeit einer extensiven Exploration konfligiert mit der für die qualitative Forschung konstitutiven Forderung nach intensiver <?page no="125"?> 125 2008a: 119f, Kelle/ Kluge 2010: 28ff, Riemer 2007: 451) und setzen dem eine reflektierte Selektivität des Wahrnehmens und Denkens entgegen. Theoretische Konzepte liefern somit den Filter, durch den die Phänomene wahrgenommen und beschrieben werden, zudem auch eine Hilfe, „unerwartete Befunde theoretisch einzuordnen“ (Kelle/ Kluge 2010: 32). Sicherlich bergen sie aber auch die Gefahr der Voreingenommenheit und der daraus resultierenden Verzerrungen. Um dieses Risiko zu verringern, rät Moser (2003: 38), „sich bis zu einem gewissen Grad seinem Gegenstand zu überlassen und seine Vorannahmen nicht zu forcieren“. Auch Steinkes (2005: 323ff, 1999) für die Sozialwissenschaften ausgearbeitete Kernkriterien, an denen sich die qualitativen Studien in der Fremdsprachendidaktik zunehmend orientieren (Intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Indikation des Forschungsprozesses, Empirische Verankerung, Limitation, Kohärenz, Relevanz und Reflektierte Subjektivität) tragen zur Hinterfragung des eigenen Vorgehens bei und implizieren seine feinschrittige Darlegung und eine „warranted interpretation“ (Norris/ Ortega 2003: 722, Hervorhebung im Original). Neben den Faktoren, die den Blick des Forschers auf den Gegenstand lenken, weist dieser selbst vielzählige Eigenschaften auf (vgl. Norris/ Ortega 2003: 734) und induziert so eine Auswahl von Methoden. Grotjahn (2006: 248) beschreibt das Fremdsprachenlernen als einen Prozess, der „auf zumindest drei Ebenen: a) als in einem Zeitabschnitt beobachtbarer Prozess; b) als zu einem Zeitpunkt vorliegendes Resultat (Produkt) beobachtbarer Prozesse; c) als beobachtbares Resultat nicht-beobachtbarer, individueller, mentaler Prozesse“ zu erfassen ist. Als in hohem Maße diskontinuierlich und individuell hängt sein Verlauf „von den subjektiven und impliziten Theorien der Lernenden und Lehrenden u.a. vom Lehrgegenstand Sprache“ (ebd.) sowie von den Lernbedingungen ab. Mit dieser Mehrdimensionalität des Fremdsprachenlernens geht Grotjahn forschungstheoretisch über die simplere Unterscheidung von bewusst und unbewusst ablaufenden Lernprozessen hinaus, wie sie so mancher Studie zugrunde liegt. Eine derartige Beschaffenheit verschränkt sich mit den oben erwähnten erkenntnistheoretischen Vorannahmen und dem theoretischen Ansatz, vor deren Hintergrund bestimmte Eigenschaften stärker in den Mittelpunkt rücken oder nachrangig behandelt werden. Dabei gilt: Je gezielter die oben genannten Charakteristika in der Methodenwahl Berücksichtigung finden, desto erkenntnisträchtiger werden die daraus hervorgehenden Daten. Des Weiteren erfordert die Eigenheit des Forschungsgegenstands, als „dynamisches Konstrukt“ (s. 1.7) Prozess und Produkt in sich zu vereinen (vgl. Königs 2000: 56), Verfahren, deren Grad der gegenstandsadäquaten Annäherung Sinnerschließung (vgl. Meinefeld 2000: 270 und die dort aufgeführten Beispiele).“ (Grotjahn 2006: 256) <?page no="126"?> 126 sich nicht nur in der Wahl, sondern vor allem in der Kombination von Methoden misst. Hier suggeriert Moser (2008: 143), diese der Mehrdimensionalität des Wirklichkeitsbereichs anzupassen, um ihr Potenzial besser auszuschöpfen. Denn nur die Synergie von Methoden kann ein (Daten-) Material garantieren, dessen Dichte und Aussagekraft sich eben genau darüber misst, inwieweit das Ineinandergreifen der gewählten Verfahren gelingt. In Bezug auf die drei von Grotjahn genannten Ebenen heißt das, die sich im Unterricht manifestierenden Prozesse aufzuzeichnen und mit entsprechenden Methoden zu verbinden, die die Lernresultate aufzeigen und die mentalen Abläufe 46 offen legen. Diese verschiedenen Datensätze sollten bereits während des gesamten Forschungsprozesses korreliert werden, da nur so dem Zusammenhang der Ebenen des Fremdsprachenlernens methodisch entsprochen wird. Diesen empirisch zu belegen, darin liegt die grundsätzliche Herausforderung an die Fremdsprachenforschung (Riemer 2007: 450) − d.h., einen Zugriff zu entwickeln, der der Beziehung zwischen Lernprozess und outcome gerecht wird (vgl. Norris/ Ortega 2003: 729) − und alimentiert ein beträchtliches Forschungsdesiderat (Wild 2003: 101). Einen Schritt in diese Richtung macht die interaktionistische Second Language Acquisition-Forschung (Norris/ Ortega 2003: 727f, vgl. auch Aguado 2010: 163), die auf eine entwicklungsgerechte Erfassung des Lernprozesses zielt, um darin ansatzweise die Dichotomie von Kompetenz und Performanz aufzuheben (Norris/ Ortega 2003: 727f). Um den beschriebenen Ansprüchen zu begegnen, wird in der Deutsch-als- Fremdsprache-Forschung zunehmend das Prinzip der Triangulation eingesetzt (vgl. u.a. Aguado/ Riemer 2001, Grotjahn 1999, 2000, 2006, Kasper 1998: 104f, Riemer 2000a/ b, 2004). Allerdings genügt auch hier die Kombination von Verfahren allein nicht, sie muss in der Forschungsanlage selbst begründet sein. So hat man auch ihre Funktion zu explizieren, nämlich ob die erhobenen Daten sich gegenseitig bestätigen bzw. ergänzen oder ob Divergenzen der Hypothesenbildung dienen (Grotjahn 2006: 260). Demnach erhalten wir entweder ein dichteres Bild (Konvergenz oder Komplementariät), oder es offenbaren sich neue Aspekte des Gegenstandes und geben Anlass zu Revisionen und Modifikationen in Bezug auf die theoretischen Annahmen, die verwendeten Konzepte, die entsprechenden Methoden und die Zusammensetzung der Stichproben (Kelle/ Erzberger 2005: 307). Ausschlagend für den Einsatz von Triangulation ist, dass sie auf den Gegenstand maßgeschneidert zu sein (Kluge/ Kelle 2010: 78) und in direktem Bezug zu den theoretischen Vorüberlegungen zu stehen hat (Moser 20010: 49). Dabei kommt es, wie gesagt, weniger auf die Wahl der Methoden oder gar auf ihre Anzahl an als vielmehr auf die Qualität der Triangulierung; entscheidend 46 Der Begriff „mental“ wurde in dieser Studie durch „bewusst“ in seiner emotionalen und motivationalen Erweiterung ersetzt. <?page no="127"?> 127 ist, wie gut die gewählten Methoden miteinander verzahnt sind (vgl. Dörnyei 2009: 280). Dies reicht bis in die Phase der Datenaufarbeitung hinein: Die Kodierung erfolgt methodenübergreifend, so dass die Kategorienbildung die Verbindung zwischen den zu ermittelnden Lernebenen weiter strafft (s. 3.2.2.4). Damit tritt die Gegenüberstellung der beiden unterschiedlichen Forschungsparadigmen „qualitativ“ und „quantitativ“ hinter der Notwendigkeit fremdsprachenerwerbsspezifischer Forschungsmethodologien zurück (Grotjahn 2006: 264, vgl. auch Riemer 2007 47 ). Auch die Tatsache, dass sich im Zeitraum 2002−2004 im Bereich der angewandten Linguistik neben der Mehrheit der Studien mit quantitativen Verfahren (in natürlicher Umgebung, aber auch experimentale Untersuchungen) stärker qualitative Designs durchgesetzt haben, zeugt trotz der traditionell stärkeren Formfokussierung der Second Language Acquisistion-Forschung, die der „Lernervariablen“ nur bedingt Beachtung zollt, von einer zunehmenden Berücksichtigung des Lernprozesses: A fourth notificable trend is the gradual accumulation of longitudinal research that employs primarily qualitative methodologies. These qualitative longitudinal studies are usually framed within Vygotskian sociocultural theory (Lantolf & Thorne, forthcoming), or within a socialisation theory perspective (Kramsch, 2002; Watson-Gegeo, 2004), and they some times draw from both. Accumulation is only gradual, however, because the focus in these longitudinal studies is far from homogeneous. (Ortega/ Iberri-Shea 2005: 34) Neben der Entscheidung, was zu messen und was zu interpretieren ist, bleibt die Länge der Datenerhebung festzulegen (nicht immer muss sich das mit einem Schul-/ Kursjahr überschneiden), und zu welchem Zeitpunkt der „Schnitt zu setzen“ ist. Auf die Frage, wann eine Studie als langzeitlich bezeichnet werden kann, nehmen Ortega und Iberri-Shea (2005: 37) den Mittelwert von 3/ 5 Monaten bis 6 Jahren und begründen bei der Festsetzung des Ausschnittes: 47 Häufig hat allerdings die Entscheidung für das eine oder andere Verfahren forschungstechnische Gründe. Wie Riemer feststellt, müssen Methoden erst einmal bekannt sein, um mit ihnen souverän umgehen zu können. Diesbezüglich weist die DaF/ DaZ-Forschung immer noch einige Mängel auf: „Empirische Forschung im Bereich DaF/ DaZ ist dadurch gekennzeichnet, dass in anderen Disziplinen erreichte Standards (z.B. in Psychologie und dabei v.a. in der pädagogischen Psychologie, in empirischer Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaft) in unserem Fach nicht durchgängig eingehalten werden, oft gar nicht eingehalten werden können - und dies gilt sowohl für quantitative als auch für qualitative Forschung.“ (Riemer 2007: 446) <?page no="128"?> 128 We would like to suggest that, whether biological or institutional scales are chosen for longitudinal SLA research, they can be better motivated when key events and turning points in the social or institutional context investigated are considered. (Ortega/ Iberri-Shea 2005: 38) Diese Überlegungen dehnen sie auch auf die Häufigkeit von Erhebungen aus: Our discussion about scales and turning points is equally relevant when making the decision of how often participants need to be observed and data collected, in that the estimated chronological scope of biological and institutional key events should help determine appropriate frequency and total number of observation points (see Entwisle et al., 2002). (Ortega/ Iberri-Shea 2005: 39) Davon ausgehend, dass fremdsprachliche Lernprozesse grundsätzlich über längere Zeiträume angelegt sind, bemerken Ortega und Iberri-Shea (2005: 26, 41) in dem Bereich der Second Language Acquisition-Forschung einen gewissen Widerspruch in der Überzahl von Querschnittstudien gegenüber einer relativ geringen Anzahl von Longitudinalstudien. Auch Norris und Ortega plädieren für Langzeitstudien (2003: 733, 747, vgl. u.a. auch Aguado 2010: 161, Dörnyei 2007: 81, Marschollek 2002: 127). Kritisch zu der Kürze mancher Langzeitstudien äußert sich auch Schachter (1998: 567ff), da Querschnittstudien keine Auskunft über Lernprozesse gäben. Auch wenn in der deutschsprachigen Fremdsprachenforschung Longitudinalstudien keinesfalls eine Ausnahme darstellen, lässt sich auch hier ein deutlicher Mangel an diesen eben sehr zeitaufwändigen und damit kostspieligen Untersuchungen feststellen. 3.2 Methoden zur Erforschung bewusster Fremdsprachenlernprozesse Erkenntnismuster und theoretisches Konstrukt modellieren als Bezugsebene indirekt das Forschungsinteresse. Es lässt sich aber davon nicht auf Methoden schließen, bestenfalls erscheint der Zugriff auf bestimmte Verfahren in bestimmten Denkmodellen nahe liegender, aber keinesfalls zwingend, auch weil die theoretischen Ansätze der Fremdsprachenforschung ein Konglomerat verschiedener Disziplinen darstellen. 48 48 Selbst ausdrücklich neurodidaktisch ausgerichtete Studien, wie z.B. die bereits im ersten Kapitel erwähnte von Margret Arnold (2002), integrieren schulpädagogisches Grundwissen oder verbinden die Ergebnisse mit ausdrücklichem Hinweis darauf, dass die Daten im Rahmen der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin zu interpretieren sind, andere passen lernpsychologische Ansätze fremdsprachwissenschaftlichen Ansprüchen und Interessen an (z.B. Dörnyei/ Otto 1998, Hoffmann 2008a, Holder 2005). <?page no="129"?> 129 Die Methodenwahl entsteht dagegen in der Berührung zwischen Forschungsinteresse und Forschungsgegenstand. Prinzipiell lässt sich hier mit Rückgriff auf die von Grotjahn genannten Ebenen zwischen Verfahren unterscheiden, die a) den beobachtbaren Lernprozess erfassen; b) das daraus hervorgegangene Lernprodukt beschreiben und analysieren; und c) die mentalen Prozesse aufzeichnen. Dabei soll betont werden, dass eine dem Gegenstand „Fremdsprachenlernen“ angemessene empirische Untersuchung alle drei Ebenen zu berücksichtigen hat. Während sich zur äußeren Beobachtung von Lernprozessen (im Rahmen von Longitudinalstudien) z.B. Videografien (ggf. auch Audioaufzeichnungen) anbieten, die vorzugsweise in einer natürlichen Unterrichtsituation erstellt werden sollten (vgl. Mackey 2006), lassen sich Lernergebnisse vor allem im Testverfahren und des Weiteren in Experteninterviews feststellen. Hier sind quantifizierende Verfahren nötig, die sich in der Auswahl danach richten, ob es sich um Fallstudien mit kriteriumsorientierten Tests oder um eine bezugsorientierte Überprüfung des Erwerbs bestimmter sprachlicher Phänomene im Klassensatz handelt (vgl. Grotjahn 2010: 213) oder bei gruppenübergreifenden Untersuchungen mit Stichproben gearbeitet werden kann (vgl. Merkens 1997). Mit Fokus auf bewusste Lernvorgänge hebt Wigglesworth (2005: 99ff) drei Methoden hervor, mit Hilfe derer Fremdsprachenlernprozesse zu erfassen sind: verbal protocols, worunter gleichzeitiges und retrospektives Lautes Denken zu verstehen ist, die Aufnahme von Schülergesprächen in der und über die Fremdsprache und (halbexperimentelle) Vorgehen zur Erfassung von output. 49 Chaudron (2001: 58) nennt in der Einschränkung auf die Interaktion im Klassenzimmer halbexperimentelle Vorgehen bei der Erforschung von Wirkungszusammenhängen zwischen Lehrmethoden und Lernerperformanz sowie von Lerner-Lerner-Interaktion (häufig im Rahmen von Aufgabenbewältigung), des Weiteren die Diskursanalyse zur Lehrer-Lerner-Kommunikation (unter Rückgriff auf die Konversationsanalyse vgl. Schwab 2009). Zur Offenlegung bewusster Vorgänge und ihrer Wirkung auf das Lerngeschehen eignen sich nach Scheele und Groeben (1998: 22) grundsätzlich alle Methoden qualitativer Forschung. Das Spektrum verengt sich aber, wenn - wie bereits im Rahmen Subjektiver Theorien (s. 1.7) - von bewussten als auch von impliziten Wissenssystemen ausgegangen wird, die wahrnehmungs- und handlungsleitende Funktionen erfüllen. Die Methodenfrage stellt sich auch angesichts neurowissenschaftlicher Erkenntnisse neu, die eine deutliche Abhängigkeit bewusster Vorgänge von emotionalen und unbewussten Zuständen nachweisen (s. 1.3) und auch nachhaltige Spuren in der aktuellen Selbstkonzeptforschung hinterlassen haben: 49 Die herangezogenen Studien fokussieren schwerpunktmäßig geplantes, d.h. verstärkt bewusstes Sprechen im Vergleich zu spontanem (Wigglesworth 2005: 105f). <?page no="130"?> 130 Das Selbstkonzept als Summe subjektiver Auffassungen einer Person über sich selbst beschränkt sich somit nicht auf kognitive Komponenten (Wissen über sich selbst, Selbstwahrnehmung, Selbsteinschätzung), sondern beinhaltet auch affektive Komponenten wie das Selbstwertgefühl (self-esteem) und das Selbstvertrauen (self-assurance). (Holder 2005: 38) So wird die Erfassung bewusster Vorgänge in Abtrennung von Handlung erkenntnistheoretisch und folglich auf der methodologischen Ebene fragwürdig, denn gerade in der Handlung werden Teilbewusstes, Präintentionales, aber auch Zweifel oder Hemmungen offenkundig, eben all das, worauf der Lernende als reflexives Subjekt nur begrenzt Zugriff hat. Wenn die aktionale Phase - wie bereits am Rubikon-Modell ausgeführt (s. 2.1.3) - durch das anvisierte Ziel dominiert wird, dann bieten in der Tätigkeit gegebenenfalls zutage tretende Divergenzen einen neuen Zugriff auf die Daten, denn was nicht explizit gemacht wurde, sich aber in Handlung zeigt, oder „das, was nicht geschieht - vor allem, wenn es geschehen sollte“ (Moser 2008: 75, vgl. auch Kelle/ Kluge 2010: 32), eröffnet neue Perspektiven auf das Geschehen. Dies zu beobachten kann insofern zwar kein Akteurswissen validieren - wie es Scheele und Groeben durch die Überordnung der explanativen Validierung nahelegen (Scheele/ Groeben 1998: 24f) -, dafür aber ein gegenstandsadäquates Vorgehen bereitstellen, um ein solches Wissen angemessen zu hinterfragen. 3.2.1 Videografien Videomaterialien werden insbesondere in drei Wissenschaftsbereichen genutzt: in der qualitativen Sozialforschung, in der Unterrichtsforschung und in linguistisch ausgerichteten Studien (Dörnyei 2007: 183 ff, Nolda 2007: 480). Von seiner ethnographischen Herkunft zeugt bereits der Ausdruck „Videografie“ (Knoblauch 2009: 69f), auch wenn sich die Sozialwissenschaften neben auf visuelle Daten weiterhin sehr stark auf verbales Material stützen (Flick 2004: 233). Vergleichsweise ist der Einsatz von Beobachtungsdaten in der Unterrichtsforschung stärker angestiegen (Wild 2003: 98). Schon seit der Reformpädagogik dient die Beobachtung und Beschreibung des Lerngeschehens der Verbesserung des Unterrichts. Hierin besteht auch heute noch die zentrale Aufgabe der Unterrichtsforschung, wie sie sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hat (vgl. Voigt 1997: 785). Wie in anderen Wissenschaftsdisziplinen vollzog sich auch hier unter dem zunehmenden Einfluss der Sozialwissenschaften in den 1970er Jahren eine Hinwendung zu qualitativen Methoden: <?page no="131"?> 131 Unterricht galt also nicht mehr als ein Geschehen, das von objektiv meßbaren Faktoren bestimmt sei, sondern die Abhängigkeit des Unterrichts von den Sinnstiftungen der Beteiligten stand im Vordergrund. (Voigt 1997: 786) Visuelle Aufzeichnungen galten anfänglich vorwiegend der Lehrer-Lerner-Interaktion, besonders den turns bzw. den jeweiligen Sprechanteilen, aber auch unterrichtsrelevanten Handlungsmustern auf der Lehrerseite. Zunächst tragender Bestandteil der Lehreraus- und -fortbildung werden diese „Unterrichtsmitschnitte“ im Folgenden zunehmend für die empirische Unterrichtswissenschaft eingesetzt, und das Interesse gilt jetzt auch deutlich der Lerner-Lerner-Interaktion. Durch das Abrücken vom Primat des Kognitiven in den 1990er Jahren erhält die methodische Nutzung der Videotechnik einen weiteren Aufschwung. Die Sprechhandlungen werden in einen größeren Handlungskontext eingebettet, und der nonverbalen Kommunikation wird eine größere Bedeutung beigemessen: Unter dem Begriff Sprechhandlung subsumieren wir nicht nur die verbale, sondern auch die nonverbale Kommunikation, d.h. genauer die vokale nonverbale Kommunikation (Paralinguistik) und die nonvokale nonverbale Kommunikation (‚Körpersprache‘). (Diegritz/ Fürst 1999: 33) Wenn auch in geringerem Umfang (vgl. Knoblauch 2009: 72) wird die Konversationsanalyse durch die Hinzunahme von Videos ergänzt und die kommunikative Bedeutung von Gesten, Mimik, Bewegungen im Raum (s. 1.6.2.2) in die sprachliche Analyse mit einbezogen (vgl. Nolda 2007: 481). Dies ist z.B. explizit das Anliegen von Diegritz und Fürst (1999: 55), die im Rahmen eines interdisziplinär angelegten Forschungsprojekts zur Unterrichtskommunikation die Sprechakttheorie erweitern und methodisch begründet auf Videografien zurückgreifen: Der Begriff Sprechakt muß in einem weiteren als von der orthodoxen Sprechakttheorie geprägten Verständnis verwendet werden. D.h., die nonverbale Kommunikation muß ebenso beachtet werden wie die Einbettung der Sprechhandlung in eine spezifische Situation, und der Sprecher darf nicht isoliert betrachtet werden […]. Der methodische Einsatz von Videografien lehnt sich also einmal an Ansätze der qualitativen Sozialforschung an, die durch Beobachtung den natürlichen Verlauf des Geschehens durch die Außenperspektive erfassen und sich dabei keinesfalls auf die verbalen Äußerungen beschränken will (Nolda 2007: 480, vgl. auch Flick 2004: 199f). Des Weiteren setzen sie an dem altbewährten päda- <?page no="132"?> 132 gogischen Prinzip der Beobachtung an, die nach der pragmatischen Wende des letzten Jahrhunderts Handlung und Handlungskontext zunehmend ausdifferenziert: Dabei [Erforschung effektiven Unterrichts, SH] kann jedoch nicht mehr von einem einfachen Wirkungsmodell ausgegangen werden. Vielmehr müssen die Interaktionsprozesse zwischen Angebot und Angebotsnutzung unter Berücksichtigung relevanter Variablen der Unterstützungssysteme auf verschiedenen Ebenen modelliert werden. Dies erfordert entsprechende Untersuchungsdesigns, welche einerseits längsschnittlich ausgerichtet sind und anderseits wichtige Kontextdaten (u.a. Lehrermerkmale, Schülervoraussetzungen) ebenso wie Innenperspektive der Schüler auf die Unterrichtsprozesse erheben. Videodaten leisten in solchen multiperspektivischen Designs aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften einen hervorragenden Beitrag für die Erfassung der Unterrichtsprozesse aus einer objektiven Perspektive. (Pauli/ Reusser 2006: 789) Der das „Lernen“ kennzeichnenden Mehrdimensionalität wird durch Videoaufzeichnungen insofern sehr gut Rechnung getragen. Dies auch, weil sie potenziell den Prozesscharakter abzubilden vermögen (vgl. Wild 2003: 100). 50 In Bezug auf den hervorgehobenen Objektivitätsanspruch muss allerdings eingeräumt werden, dass sie diesem nur unter Vorbehalt entsprechen, denn auch sie „konstruieren eine bestimmte Version von Wirklichkeit“ (Flick 2004: 231): Deshalb sollte der Aufwand einer „Dokumentation“ der Unterrichtsgeschehnisse mittels Video- und Audiotechnik nicht gescheut werden. Sie schafft eine objektivierte Grundlage für spätere Interpretationen, obwohl beispielsweise schon die Kameraführung auf Interpretationen des Geschehens beruht. (Voigt 1997: 786, vgl. auch Nolda 2007: 481f) Dazu kommt noch die Tatsache, dass die Videoeinstellung hauptsächlich auf den jeweiligen Forschungsgegenstand gerichtet ist, d.h. entweder auf die Lehrer- Lerner-Kommunikation, auf die Interaktion zwischen den Lernenden oder auf das Handeln von einzelnen Schülern (Voigt 1997: 788), und folglich das nicht aufgenommene Geschehen ausblendet (dieser Effekt verringert sich, wenn mit mehreren Kameras gearbeitet wird). Auch wenn vor dem Hintergrund der Bedeutung nonverbaler Kommunikation der Meinung Noldas: „Film- und Videoaufnahmen erfassen Sichtbares, können also keine Informationen über die Intentionen und Befindlichkeiten der Betei- 50 Entsprechende Daten fehlten z.B. laut Pauli und Reusser (2006: 774) anfänglich bei den internationalen Vergleichsstudien TIMISS und PISA und wurden aufgrund ihrer Wichtigkeit durch zusätzliche Studien ergänzt. <?page no="133"?> 133 ligten geben“ (Nolda 2007: 482), nur unter Einschränkung beizupflichten ist, herrscht Übereinstimmung darüber, dass die Beobachtungen mit anderen Datenquellen kombiniert werden sollten und erst „einen vollen Aussagewert erhalten können, wenn wir diesen konkreten Unterrichtsinteraktionen auch konkrete Auswirkungen auf die intrapsychischen kognitiven, motivationalen oder emotionalen Prozesse nachweisen können“ (Wild 2003: 100, vgl. auch Flick 2004: 204, 231, Knoblauch 2009: 70). Die Tatsache, dass es sich bei diesen Studien um sehr datenintensive und arbeitsaufwändige Anlagen handelt (u.a. Knoblauch 2009: 72), bei denen die Fülle des Materials auch zum Problem werden kann (Nolda 2007: 484), findet in der einschlägigen Literatur durchgängig Erwähnung. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Beeinflussung der Daten, wobei man dabei zwischen der teilnehmenden und nicht-teilnehmenden Beobachtung zu unterscheiden hat. 51 Während erstere in der qualitativen Forschung verbreiteter ist und einen relativ direkten Zugang zu den Daten ermöglicht, aber in sich die Gefahr der mangelnden Abgrenzung birgt sowie die angestrebte „Natürlichkeit“ der Situation beschneidet (Flick 2004: 205), bezahlt die Nicht-Teilnahme unter Umständen ihre Distanz mit einer geringen Dichte des Materials und einer Verarmung der Analyse. 3.2.1.1 Verfahren zur Bearbeitung visueller Daten Zur Aufarbeitung von Filmen im Bereich der qualitativen Sozialforschung rät Flick zu einem dreiphasigen Vorgehen: der deskriptiven, der fokussierten und schließlich der selektiven Beobachtung (Flick 2004: 207). In dem Versuch, eine Methodologie für Videoanalysen in der Erwachsenenbildung bereitzustellen, trennt Nolda (2007: 483f) ebenso drei Ebenen: die Segmentierungsanalyse, die sich an belegbaren Phänomenen orientiert (z.B. Themawechsel), die Sequenzanalyse, die sich auf die Verbindungen zwischen einzelnen Segmenten konzentriert, und die Konstellationsanalyse mit Fokus auf simultan ablaufende Aktionen. Ein weiteres Vorgehen für die Unterrichtsforschung soll im Folgenden detaillierter behandelt werden, auch weil es in der Fremdsprachenforschung zum Einsatz kam (Göbel 2010, vgl. auch Heine/ Schramm 2007: 197ff). Hugener et al. (2006: 44ff) stellen zwei Beobachtungsverfahren dar, die sie im Rahmen der TIMSS 1999 Videostudie entwickelt und mit den Ergebnissen anderer Studien verbunden haben. Es wird zwischen einem niedrig inferenten Kodieren und einem hoch inferenten Qualitätsranking unterschieden. Auf der ersten Stufe wird Unterricht anhand von Ereignissen, dem Wechsel der Organi- 51 Flick (2004: 201) unterscheidet in Anlehnung an Gold (1958) zwischen dem vollständigen Teilnehmer, dem Teilnehmer als Beobachter, dem Beobachter als Teilnehmer und dem vollständigen Beobachter. <?page no="134"?> 134 sationsformen usw. sequenziert, d.h. in Einheiten unterteilt und damit deren Dauer und Häufigkeit überprüft. Anschließend greifen die Forscher auf das zyklische Verfahren zur Kodierung und Analyse von Videoaufzeichnungen von Jacobs, Kawanaka und Stigler (1999) zurück, bei dem es über ein vorläufiges Kategoriensystem und einer anschließenden Probekodierung zur Validierung der Kategorien mit entsprechender Operationalisierung (beobachtbare Indikatoren) kommt. Bei den dabei entwickelten Kategorien unterscheiden sie zwei Arten: Die Entwicklung eines Kategoriensystems baut immer auf dem bereits zur Anwendung gekommenen auf: Entweder analysiert es die bereits identifizierten Sequenzen unter einem anderen Aspekt (Sozialformen, Inhalte, Funktionen im Lernprozess) und/ oder es beschreibt (ausgewählte) Sequenzen differenzierter. (Hugener et al. 2006: 44f) So bilden zum Beispiel bei dem Kategoriensystem (d.h. Kodierdurchgang) „Sozialformen“ Klassenunterricht, Einzelarbeit, Partnerarbeit und Gruppenarbeit die Kategorien, oder unter „Klassengespräch“ wird nach „Schüler/ in als Stichwortgeber“ und „Schüler/ in als gleichberechtigter Gesprächsteilnehmer“ kodiert. Bei der zweiten Stufe sollen Aspekte der Unterrichtsqualität anhand „exakter Definitionen der zu beurteilenden Kriterien“ (Hugener et al. 2006: 48) fokussiert werden. So werden z.B. der Dimension „Motivationsunterstützung“ u.a. Fragen wie: „Werden die Schüler/ innen aufgefordert, selbst Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen? “ zugeordnet und im Folgenden beobachtet, „inwiefern der tatsächliche Unterricht bzw. die tatsächliche Lehrperson im Video mit diesen idealtypischen Formulierungen übereinstimmt“ (ebd.). Den jeweiligen Dimensionen werden unterschiedliche theoretische Bezugssysteme zugeordnet. Durch das Abgleichen beider Beobachtungsverfahren soll überprüft werden, ob − hier in Bezug auf die oben genannten Kategorien − bestimmte Sozialformen mit bestimmten Qualitätsbestimmungen, in diesem Fall das Beispiel für Motivationsunterstützung, zusammentreffen; es wird also nach dem Wirkungszusammenhang geforscht (Hugener et al. 2006: 50). Beide Kodierungsvorgänge sind verzahnt, wodurch sich dieses zyklische Vorgehen als besonders geeignet zur Unterrichtsforschung erweist. Es ist datenwie auch theoriegestützt, da Kategorien auch an das Material herangetragen werden, und geht nach dem Prinzip der qualitativen Inhaltsanalyse vor. Vor dem Hintergrund der von Mayring (2005: 472f, s.u.) ausgearbeiteten Differenzierung werden hier induktiv <?page no="135"?> 135 Kategorien gebildet und auch strukturierend inhaltlich im Austausch mit vorgelagerten Kategorien analysiert (vgl. Schmidt 1997: 545ff). 52 3.2.1.2 Videomaterial in der Fremdsprachenforschung Der Einsatz von Videos in der Fremdsprachenforschung beginnt, in Einklang mit der oben nachgezeichneten Entwicklung, in den 1970er Jahren (vgl. Schramm/ Aguado 2010: 185). Auch in dieser Disziplin lässt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Nutzung feststellen, verbunden mit einer Vertiefung von methodologischen Fragestellungen; davon zeugen u.a. diverse Beiträge zur empirischen Forschung aus dem deutschsprachigen Raum in dem von Aguado, Schramm und Vollmer herausgegebenen Sammelband (2010) zur Kompetenzforschung und Videografie. Allerdings sei an dieser Stelle auch anzumerken, dass im Verhältnis zu der Menge an Untersuchungen zum Fremdsprachenerwerb, von denen u.a. die englischsprachigen Fachzeitschriften Kunde geben, die Anzahl an videobasierten Studien relativ gering bleibt. Hier drückt sich eindeutig ein Missverhältnis aus zu der übereinstimmenden Befürwortung von Videoaufnahmen, die dem komplexen Geschehen im Unterricht angemessen und objektiver als die Beobachtung durch Personen sind. 53 Des Weiteren zeichnen sich diese durch ihre Kombinierbarkeit mit anderen Verfahren aus und bieten die Möglichkeit der Mehrfachkodierung (Schramm/ Aguado 2010: 186ff). Neben den Grundlagen aus der Unterrichtsforschung vertiefen Schramm und Aguado in ihrem Überblick die für die Fremdsprachendidaktik wesentlichen Beiträge im Bereich der Diskursanalyse, bei deren Anwendung sich bereits Henrici (1995: 51) für den Einsatz von Videoaufzeichnungen ausgesprochen hatte. Zu unterscheiden ist auch hier zunächst die Perspektive auf den Lehrenden, bei der äußerungsbezogene Beschreibungen, z.B. Redeanteile von Lehrenden und Lernenden, oder zutage tretende Handlungsmuster dargelegt werden (z.B. Schwab 2009), sowie Analysen mit Fokus auf die Lerner-Lerner-Interaktion, bei Partnerarbeit (z.B. O’Sullivan 2002), Gruppenarbeit und Projektarbeit (z.B. Mackey 2006). Ein Schwerpunkt in diesem Forschungsfeld liegt im mündlichen Korrekturverhalten und Feedback (s. 1.6.2.1). Dazu hatte bereits das Bochumer Tertiärsprachenprojekt (Bahr et al. 1996) wesentlich beigetragen. Darüber hinaus ist für das Lehrerverhalten relevant, wenn auch nicht auf die Unterrichtssituation bezogen: die videogestützte, diskursanalytische Untersuchung von natürli- 52 In dem von Hugener et al. gewählten Vorgehen wird nicht genau zwischen Kodieren und Kategorisieren unterschieden. Allerdings ist die Kodierung des Materials nicht mit der Kategorienbildung gleichzusetzen, sondern bildet deren Vorstufe. 53 So wird auch leider in Studien wie z.B. der von Lochtman (2002: 185), bei der es um interaktive Prozesse im Unterricht geht, auf Videos verzichtet. <?page no="136"?> 136 chen Gesprächen zwischen Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern, z.B. in der Untersuchung von Yu (2001). Auf die Studie von Kormos (1999), in der Interviews und Rollenspiele zur Ermittlung mündlicher Kompetenz videografiert und hinsichtlich ihrer Nähe zu einer natürlichen Konversation verglichen werden, wird weiter unten bei der Behandlung von Testverfahren noch eingegangen. Die grundsätzliche Eignung von Videos zur Ermittlung fremdsprachlicher Lernprozesse hat sich − wie jegliche Methodenwahl - mit dem Forschungsinteresse und dem Design zu messen. Und damit stellt sich die Frage, wie „die Verbindung von videographierten Unterrichtsinteraktionen mit (Meta-) Kognition, Motivation/ Emotion und insbesondere dem Spracherwerb methodisch hergestellt werden kann“ (Schramm/ Aguado 2010: 197); dies sehen Schramm und Aguado im Einklang mit den von Grotjahn bezeichneten drei Ebenen des Fremdsprachenlernens in der Kombination mit introspektiven und Daten zum Spracherwerb. Neben unter anderen genannten Beispielen triangulierender Verfahren, wie der Untersuchung von Mackey (2006), erscheint besonders der visuelle Erkenntnismehrwert bei Fremdsprachen lernenden Kindern interessant; abgesehen von der von Schramm und Aguado besprochenen Untersuchung von Morgan (2007) ist zuzüglich auch auf die Studien von Dufficy (2004), und Rea- Dickins (2001) hinzuweisen. Auch für die Fremdsprachenforschung behalten die Nachteile dieses Vorgehens ihre Gültigkeit, das im Vergleich zu anderen in bestimmtem Lerngruppen auf Abwehr stoßen kann (vgl. z.B. Nardi 2006: 131) und trotz der wachsenden Perfektionierung der Technik recht arbeitsaufwändig bleibt (vgl. auch Dörnyei 2007: 184f). 3.2.2 Intro- und retrospektive Verfahren Unter Introspektion sind dabei alle Selbstauskünfte von Personen zu verstehen, die darüber Auskunft geben, auf welche Art ihre Wissensinhalte mental organisiert sind und in welcher Abfolge Informationen kognitiv verarbeitet werden (für eine weitere Definition, die auch Gefühle und Motivation einschließt, vgl. Nunan 1992: 115). (Heine/ Schramm 2007: 167) Vor dem Hintergrund des Bewusstseinsbegriffs dieser Studie offenbaren introspektive Verfahren mentale, emotionale und motivationale Prozesse. Diese werden in der Fremdsprachenforschung in Anlehnung u.a. an die kognitive Psychologie und die qualitative Sozialforschung über Lautdenkprotokolle (im Hinblick auf die Fremdsprachenforschung z.B. Aguado 2004, Beyer 2005, Dörnyei 2007: 147ff, Heine/ Schramm 2007, im Rahmen der Psychologie Witt 2010), <?page no="137"?> 137 Interviews (z.B. Friebertshäuser 1997a, Hermanns 2006, Hopf 2005, Mey/ Mruck 2010b), Tagebücher (u.a. Halbach 2000, Stork 2010d) oder auch Legetechniken (z.B. Kallenbach 1996, Schmelter 2004) aufzudecken versucht. Sie bedienen sich der Sprache als Medium und erfassen folglich primär, was den Filter des Bewusstseins willentlich und unwillentlich durchlaufen hat, d.h., sie unterstehen in gewissem Ausmaß einer Zensur. Diese methodische Grenze lässt sich zum Teil durch die Feinnotierung von non- und paraverbalen Handlungen verschieben, Emotionen können damit zwar in ihrer sprachlichen Veräußerlichung nachvollzogen werden, dennoch bleibt: Implizite Vorgänge im Bereich des Unbewussten und wahrscheinlich auch des Vor- und Teilbewussten können introspektive Verfahren nicht greifen, d.h., automatisierte Vorgänge fallen durch ihr Netz: „Introspektion greift dort, wo automatisierte Verarbeitung noch nicht stattgefunden hat […]“ (Beyer 2005: 19). Die Aussagen werden aber nicht nur durch den Willen gezügelt, sondern sind auch von der Fähigkeit des Sprechenden abhängig, seine Gedanken zu verbalisieren (Heine/ Schramm 2007: 175, Wigglesworth 2005: 101f), das bedeutet z.B., dass diese Verfahren bei Kindern oder bei Personen mit begrenztem Zugriff auf das eigene Denken unter Vorbehalt anzuwenden sind (Heine/ Schramm 2010: 175; hier bieten sich andere Techniken an, vgl. z.B. Krumm/ Jenkins 2001). Bevor nun die einzelnen Verfahren erläutert werden, soll einmal auf die praktischen Hinweise zur Datenerhebung durch introspektive Verfahren bei Heine und Schramm (2007: 180) und die m.E. sehr ernst zu nehmende Ermahnung Mosers (2008: 34) verwiesen werden, sich bei verbalen Daten zu vergewissern, die Aussagen richtig verstanden zu haben und sie entsprechend kommunikativ zu validieren (member check, ebd.: 51), anstatt vorschnelle Interpretationen vorzunehmen (zu verbalen Daten vgl. auch Huber/ Mandl 1994b). Dem dienen auch die Feldnotizen, die eine weitere wichtige Quelle darstellen, denn introspektiv hat auch der Forscher sich selbst und seiner eigenen Beobachtung gegenüber vorzugehen. 3.2.2.1 Lautes Denken Lautes Denken und Lautdenkprotokolle eignen sich besonders als ein Weg, um in Erfahrung zu bringen, was Menschen bei einer Tätigkeit „durch den Kopf geht“. Hier sollten sie möglichst zeitgleich durchgeführt werden, da sie Vorgänge des Arbeitsgedächtnisses erhellen wollen (Baumann 2007, Heine/ Schramm 2007: 171, Konrad 2010, Lindemann 2009) und bei späterem Abruf von Wissensbeständen im Langezeitgedächtnis leicht überblendet werden (Heine/ Schramm 2007: 168). <?page no="138"?> 138 Lautes Denken bezeichnet die simultane Verbalisierung einer Person von Gedanken, auf die sie während einer bestimmten Tätigkeit ihre Aufmerksamkeit richtet, ohne dass gezielt metakognitive Gedankeninhalte stimuliert werden. (ebd.: 173) Daher muss die Verbalisierung an sich selbst adressiert sein, da sie bei Fremdadressierung durch eine Metaperspektive (ebd.) gesteuert wird. Letzteres Vorgehen eignet sich dagegen, wenn das „Zur-Sprache-Bringen“ als methodischer Zugriff dient, d.h., wenn „Gedankengänge bewusst manipuliert und gleichzeitig mitverfolgbar werden“ (ebd.: 174) sollen. Heine und Schramm raten grundsätzlich zu Videoaufnahmen bei lautem Denken (ebd.: 179). Kritisch zu der Methode äußern sich in Anlehnung an Vygotsky Goss, Ying-Hua und Lantolf (1994: 265), die das kognitive Problemlösen und gleichzeitige metakognitive Reflektieren als entstellend für beide Tätigkeiten sehen: For Vygotsky, this meant that in the conduct of a mental task, it is difficult, if not impossible, for people to function at the metacognitive and cognitive levels simultaneously, without distorting one or the other process. In other words, when humans are asked to attend to two psychological goals at the same time (that is, solve a mental problem and report on the solving of the problem), either the solving of the problem or the reporting of the solution is likely to break down. (Goss et al. 1994: 265) Auf die Gefahr einer möglichen Einflussnahme auf das Lernverhalten weisen auch Rosa und O’Neill (1999: 519) hin. 3.2.2.2 Interviewformen Interviews stellen die am häufigsten eingesetzte Methode in der explorativ-interpretativen Fremdsprachforschung dar, die damit auf eine beliebte traditionelle Form qualitativer Erhebungen in der Sozialforschung zurückgreift. Der scheinbar umstandslose Zugang zum Feld soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ausarbeitung und Entwicklung von Fragen sowie die Gestaltung bzw. Gesprächsführung keinesfalls als Schwierigkeit zu unterschätzen sind und einer guten Vorbereitung bedürfen (vgl. Friebertshäuser 1997a: 371, Hermanns 2005: 361, Hopf 2005: 358, Hron 1994). Welche Form von Interview gewählt wird, liegt prinzipiell im Forschungsdesign begründet, wobei hier nicht nur das Forschungsinteresse, sondern auch die befragte Personengruppe zu berücksichtigen ist sowie auch der Stellenwert, den das Interview im Gesamtkontext einnimmt, d.h. das Verhältnis zu den anderen Erhebungsverfahren. Vorstrukturierte Leitfaden-Interviews schneiden die interessierenden Themen ziemlich genau heraus, was bei zeitlich nur begrenzt <?page no="139"?> 139 zur Verfügung stehenden Interviewpartnern von Vorteil ist. Allerdings besteht hier das Risiko, aussagekräftige Daten durch das „Abhaken“ des Fragenkatalogs im Keim zu ersticken und sich im Frage-und-Antwort-Spiel mit weniger ausgereiften und aussageschwächeren Daten zufrieden geben zu müssen. Erzählgenerierende Interviews setzen dem Erzählfluss keine Grenzen und werden besonders in der Biografieforschung eingesetzt (vgl. Jacob 1997). Das teil/ halb-standardisierte Interview beschreitet den Mittelweg zwischen Gängelung und Ausschweifen und bietet den Rahmen eines themenorientierten Gesprächs; es stellt in der qualitativen Fremdsprachenforschung die beliebteste Form von Befragung dar. Hierzu gehört auch das Fokussierte Interview, das in den 1940er Jahren im Bereich der Kommunikationsforschung (vgl. Hron 1994: 128, Hopf 2005: 353) entwickelt wurde und auch in Gruppensituationen mit nicht direktiver Gesprächsführung durchgeführt werden kann. Experteninterviews finden in der Forschungsliteratur als Erhebungselement bedeutend weniger Beachtung, auch wenn sie sich gerade in der Unterrichtsforschung als (zusätzlicher) Zugriff anbieten, da Lehrende Träger „von praxisgesättigtem Expertenwissen“ darstellen (Meuser/ Nagel 1997: 482). Der Experte zeichnet sich durch seinen Wissensvorsprung in einem bestimmten, relativ autonom zu handhabenden Handlungsfeld aus und ist an einen Beruf oder eine institutionalisierte Rolle (als Handlungssystem) gebunden, wodurch er sich vom Spezialisten abgrenzt (ebd.: 485). Zur Erhebung bietet sich ein leitfadengestütztes offenes Interview mit nicht zu direkter Führung an, weil sonst der „Experte“ sein Wissen nicht entfalten kann. Gerade bei den Interviewpartnern Forscher und Experte steht der Austausch von Wissen im Vordergrund. Das Interesse bei der Auswertung liegt auf thematischen Einheiten, was bedingt, dass die Tonaufnahmen - im Unterschied zu den anderen Interviewformen - anschließend nur zu Teilen transkribiert und meist paraphrasiert werden (ebd.: 488). 3.2.2.3 Tagebücher Auch wenn die Arbeit mit Lerntagebüchern seit jeher einen festen Bestandteil der (besonders der reformierten) Schulpädagogik darstellt, lässt sich besonders seit den 1990er Jahren ihr vermehrter Einsatz im Unterricht feststellen (Stork 2010c: 261). Der Lernende wird aufgefordert, seine Lernprozesse in regelmäßigen Abständen zu reflektieren, wobei sich dies auch auf thematische Arbeitsschwerpunkte konzentrieren kann. Inwieweit der Lehrende Einsicht erhält, hängt von der jeweiligen Lernsituation und Funktion dieser Niederschriften ab. Der methodische Rückgriff auf Tagebücher zielt darauf ab, Zeugnisse zum persönlichen Erleben von Personen zu sammeln. Ihre Merkmale: Regelmäßigkeit, Chronologie, Subjektivität, Unmittelbarkeit und Reflexion der beschriebene <?page no="140"?> 140 Prozesse (Stork 2010d) machen Tagebücher zur vielfältigen Datenquelle für Selbstbeobachtung. In dieser Funktion werden sie daher in der Pädagogik und Psychologie auch seit Langem als Forschungsinstrument eingesetzt (Fischer 1997: 693ff, Halbach 2000). Besonders ihre Eigenschaft, Prozesse nachzuzeichnen und gegebenenfalls Zugang zu Emotionen und Affekten zu bieten, ist ein wesentlicher Grund, weshalb die Fremdsprachenforschung sie zunehmend nutzt (vgl. Caspari et al. 2003: 501). Ihrem Übergang von einer Form persönlichen Schreibens oder auch von ihrem Einsatz als Forschungsinstrument im Bereich Schule stehen allerdings auch einige Hindernisse im Weg (vgl. Stork 2010d). Als vom Forscher eingeführt und ihm zur Einsicht zugänglich unterliegen sie zwangsläufig einem Auswahlprinzip, d.h., die Beobachtungen werden stärker als für den eigenen Gebrauch einer Prüfung unterzogen. Des Weiteren hängt - wie in der Forschungsliteratur verschiedentlich betont wird (z.B. Mummendey 1995: 31) - ihr Aussagewert von der Praxis und Routine der Schreibenden ab sowie von ihrer Reflexionsfähigkeit und ihrem Reflexionswillen; dementsprechend wird der Bitte um Führung von Tagebüchern mit Neugierde und Interesse begegnet oder diese als zusätzliche Mehrarbeit und Belastung empfunden (vgl. Hoffmann 2008a: 137ff, Neuner-Anfindsen 2005: 190f, Stork 2010d: 48). 3.2.2.4 Aufarbeitung und Analyse visueller und verbaler Daten So wie es sich bei der Wahrnehmung von Ursachen grundsätzlich um Zuschreibungen handelt (Weiner 1994: 221), bilden auch Daten mentale Prozesse nicht ab, sondern müssen rekonstruiert werden (Heine/ Schramm 2007: 196). Daten sind demnach auch keine Ergebnisse, sondern liefern Informationen zur Entscheidungsbildung (Moser 2008: 32). Wie verbale Daten aufgearbeitet werden, trägt entscheidend zu diesem Erkenntnisprozess bei. Je feinmaschiger die Aufarbeitung ist, z.B. Notierung von differenzierten Pausenlängen, Lautstärke, Betonung, Beschleunigung des Sprechrhythmus, nonverbale Kommunikation, aktionale Handlungen usw., desto vielschichtiger ist das Spektrum dessen, was erfasst wird, und desto näher rückt man den Prozessen, die hinter den Daten stehen (Heine/ Schramm 2007: 181, 189, vgl. Göbel 2010). Auf der anderen Seite ist es auch ratsam abzuwägen, inwieweit der Analysezweck eine genaue Transkription erfordert und die eigenen Ressourcen diese erlauben; dementsprechend bieten die Transkriptionssysteme, wie das ursprünglich an Audiodaten entwickelte GAT 1 und 2 (Gesprächsanalytische Transkriptionssystem, Selting et al. 1998, 2009), verschiedene Versionen (Minimal, Basis- und Feinversion) an. In der Fremdsprachenforschung findet daneben HIAT (Halbinterpretative Arbeitstranskription) und CHAT (Codes for Human Analysis of Transkripts) und <?page no="141"?> 141 EXMARaLDA (Extensible Markup Language for Discourse Annotation) verbreiteten Einsatz. 54 Zur Analyse von Video- und Audiomaterial steht heute eine Vielzahl geeigneter Software zur Verfügung, was die aufwändigen Kodierungsarbeiten erleichtert, z.B. MAXQDA, ATLAS.ti, NUD*IST, Transana (vgl. Kelle/ Kluge 2010, Kuckartz 1997, Schmidt 1997). Das Kodieren erfolgt meist in einem Hermeneutischen Zirkel (Heine/ Schramm 2007: 199, vgl. auch Kelle/ Kluge 2010: 56ff), d.h. in Rückkopplungsschleifen, indem Auswertungskategorien, einschließlich Subkategorien, in einem Austausch zwischen durch Vorüberlegungen geprägten und am Material entstandenen Kategorien entwickelt werden (vgl. Schmidt 1997: 544ff). Diese erstellen ein Raster, den Kodierleitfaden, für den weiteren Kodierungsvorgang. Der Leitfaden ist ein „Zwischenergebnis des forschungsbegleitend entwickelten Kategorienverständnisses“ (Schmidt 1997: 550), d.h., Kategorien können im Laufe der Bearbeitung breiter aufgefächert oder auch gestrichen werden: Oft sind die erwarteten Fälle nicht in den Daten zu finden, so dass die Hypothesen revidiert werden müssen. Die ursprünglichen Hypothesen beeinflussen also die Entwicklung des Kodeschemas, wobei die Anwendung des Schemas wiederum neue Hypothesen generiert und alte verwirft. (Heine/ Schramm 2007: 198) Dies hat dann Rückwirkungen auf das Kategoriensystem. In der Forschung wird betont, dass bei fallbezogenen Dimensionierungen diese in das fallübergreifende Schema eingearbeitet werden müssen (Kelle/ Kluge 2010: 78, Schmidt 1997: 552). Die Entwicklung dieses Kategoriensystems kann sequentiell, d.h. nach Erstellung sämtlicher Fallrekonstruktionen, oder sukzessiv, in Erweiterung des ersten Falls, erfolgen. Parallel dazu findet sich häufig der themenbezogene Fallvergleich, eine kategorienbezogene Synopse von Textpassagen (Kluge/ Kelle 2010: 78ff). Hierbei vollzieht sich die Dimensionierung zwangsläufig fallübergreifend. Bei mehrmethodischem Vorgehen kann eine verfahrensübergreifende Kodierung erkenntnisträchtiger sein, in bestimmten Fällen leuchtet aber ein rasterunabhängiger Zugriff den Gegenstand aus einer anderen Perspektive besser aus. Die geschilderten Auswertungsverfahren entsprechen den Grundsätzen der qualitativen Inhaltsanalyse, bei der sich unterschiedliche Formen von Kategorienbildung herausgebildet haben, wie die zusammenfassende, explizierende und strukturierende Inhaltsanalyse sowie die induktive Kategorienbildung (Mayring 2005: 472ff). 54 Zu verschiedenen Transkriptionsverfahren vgl. Dittmar (2009). <?page no="142"?> 142 Bei offenen Fragestellungen, bei denen entweder kein theoretischer Rückgriff möglich ist oder von diesem bewusst abgesehen werden soll, bietet sich das Vorgehen nach der Grounded Theory (Glaser/ Strauss 2005) an. Beim theoretischen Kodieren werden Daten nach ihrer Zerlegung in Begriffe gefasst. Die dabei entstehenden Kodes werden anschließend gruppiert, d.h. kategorisiert. In einem zweiten Schritt ordnet man den so entstandenen Kategorien weitere Kodes zu oder bestimmt Schlüsselkategorien (Schmidt 1997: 663) und verfeinert den Zugriff auf den Text. So entsteht eine Auswahl von Kodes und Kategorien bzw. Kategoriensystemen. Eine weitere Ausdifferenzierung liefert daran ansetzend das axiale Kodieren, wie es Strauss (1994, nach Schmidt 1997) bezeichnete: Durch das achsiale Kodieren werden die bislang anhand des Datenmaterials entwickelten Kodes theoretisch geordnet, indem sie um die „Achse“ der entstehenden Theorie, die ein allgemeines Handlungsmodell darstellt, gruppiert werden. (Kelle/ Kluge 2010: 64) Abschließend werden in der selektiven Kodierung die Kernkategorien herausgearbeitet und in Theorie überführt (vgl. Flick 2004: 257ff). Die Zuordnung des Materials zu den Auswertungskategorien, d.h. das Kodieren, sollte grundsätzlich möglichst genau voneinander abgegrenzt werden (Schmidt 1997: 558); außerdem ist darauf zu achten, „dass theoretische Konzepte nicht zu großen empirischen Gehalt besitzen“ (Kelle/ Kluge 2010: 71) und die Daten „ersticken“: Für ein ex ante entwickeltes Kategorienschema verwendet man als heuristischen Rahmen empirisch gehaltlose theoretische Kategorien und Alltagskonzepte, empirisch gehaltvolle Kategorien kann man bei der Kodierung ad hoc einführen, wenn man in den Daten spontan Zusammenhänge entdeckt, zu denen diese Kategorien passen. (Kelle/ Kluge 2010: 70) 3.2.3 Sprachstandserhebung/ -tests Sprachtests (bei Zertifizierungen spricht man auch von Prüfungen) überprüfen sprachliche Kompetenzen und Wissensbestände. Kommen weitere Formen der Leistungsbeurteilung zum Einsatz, wird meist der Begriff „Evaluation“ oder „Assessment“ vorgezogen (Grotjahn 2010: 211). Die Beurteilung kann bezugsgruppenorientiert (in Bezug auf eine Referenzgruppe) oder kriteriumsorientiert (individuelle Kompetenz meist in Bezug auf den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen) erfolgen. Fremdsprachliche Prüfungen müssen den wesentlichen Kriterien Objektivität, Reliabilität und Validität (ebd., vgl. auch die sechs Nützlichkeitskriterien bei Tschirner 2001: 88f, Grünewald 2014: 61ff) genügen. <?page no="143"?> 143 Das gilt für unterrichtsinterne Tests und umso mehr für die Vergleichbarkeit von vom Unterricht unabhängiger Sprachprüfungen (vgl. Grotjahn 2009). Auch bei der Erforschung von Fremdsprachenlernprozessen werden Lernergebnisse gewöhnlich über Testverfahren ermittelt. Die Frage, inwieweit standardisierte Tests diesem Vorhaben überhaupt gerecht werden können, begleiten die Entwicklung der Testverfahren (Shohamy 2000: 546f, Storch 2002: 136). Die Tatsache, dass sich Forscher dennoch häufig Standardtests zur Überprüfung des Spracherwerbs bedienen, bemängeln Norris und Ortega (2003: 739) als Selbsttäuschung, auf der anderen Seite sei auch nicht zu einem Vorgehen zu raten, bei dem jeder Forscher seinen eigenen Test erstelle; in diesem Fall erliege die Reliabilität. Dagegen raten sie, genau festzulegen und zu explizieren, was als Erwerb gelten soll, und darauf eine bestimmte Selektion von Aufgaben und Situationen zu gründen. Ein besonderes Problem stellt auch die wissenschaftlich begründete zeitliche Festlegung von Nachtests dar: A further question arises in this context: How long do researchers need to probe to see whether the rule is in permanent memory storage? That is, how long after training must one continue posttesting to see whether learners maintain what was taught them in experiments? (Schachter 2005: 566) Der Zeitpunkt für den Nachtest muss vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ansätze zur Informationsverarbeitung (s. 1.1) und der damit verbundenen Lernvorgänge bzw. der Abrufbarkeit von Wissen und Können angesetzt werden (s. 1.4.2). Dem Forschungsinteresse gemäß muss man also zunächst die Zeit berücksichtigen, die von Sekundärkodierungsprozessen und späterhin von deren (potenzieller) Automatisierung in Anspruch genommen wird (vgl. Seel 2000: 46). Eine weitere offene Frage ist, inwieweit grundsätzlich die Korrektheit des Sprachgebrauchs über Lernprozesse Auskunft geben kann. Diesbezüglich äußern sich Norris und Ortega (2003: 737) negativ: „Likewise, measures of grammatical accuracy have difficulty accounting for attested IL developmental phenomena […].“ In dem Zusammenhang betont Chaudron (2003: 779), dass ein flüssigeres Sprechen und eine Erweiterung des Wortschatzes keinesfalls mit einer größeren Korrektheit einherzugehen hat (s. 1.5). Im Bereich von Mehrsprachigkeit erweitert sich das Problemfeld zusätzlich um die Frage, wie Interlanguage-Kenntnisse zu ermitteln sind, denn unterschiedliche Sprachen erzeugen unterschiedliche Interferenzen. Dies ist beim Rückschluss auf die cognitive resource (vgl. Gibson/ Hufeisen 2007) zu berücksichtigen. Zu bedenken ist auch, dass der erreichbare Grad an Objektivität je nach Modalität unterschiedlich ausfällt. Dieser verringert sich z.B. grundsätzlich bei menschlichen Prüfern von schriftlicher oder mündlicher Sprachproduktion, bei Prüfungen von Hörverste- <?page no="144"?> 144 hen anhand zu beantwortenden Fragen oder Einsatzübungen steigt er dagegen merklich an (vgl. Grotjahn 2010: 212f). Bei der in dieser Studie im Mittelpunkt stehenden mündlichen Kommunikation rückt das oben angesprochene Problem der Objektivität in den Vordergrund, nicht nur wegen ihrer Kurzlebigkeit (der wäre ja mit Aufnahmen abzuhelfen), sondern wegen der Komplexität des zu bewertenden Vorgangs. Einmal gehört wie erwähnt neben dem sprachproduktiven auch der rezeptive Bereich zur Kommunikation (Nieweiler 2010: 216). Dementsprechend wird heute die mündliche Kompetenz als die Fähigkeit verstanden, in authentischen kommunikativen Situationen in der Zielsprache sprachlich angemessen zu handeln (Tschirner 2001: 92), und dazu werden eben sowohl mehrschrittige Hörhandlungen gerechnet, wie das Wiedererkennen von Lautgefügen/ Wörtern und grammatischen Strukturen bis zum anschließenden Verbinden von Sinnzusammenhängen, als auch der Weg von der Konstruktion über die Transformation bis zur Exekution der Sprechakte (Neuf-Mündel/ Roland 1994: 34f). Zum anderen spielen bei keiner anderen Kompetenz so viele (nicht fachinhärente) Faktoren bei der Beurteilung mit wie beim Testen von mündlicher fremdsprachlicher Leistung. Ende der 1980er Jahre hat man begonnen, sich mit dieser Prüfungsproblematik in der Fremdsprachenwissenschaft auseinanderzusetzen; es besteht aber weiterhin in diesem Bereich ein großer Forschungsbedarf (vgl. O’Sullivan 2002: 278). Neben Aussehen, Stimme, Interaktionsmustern usw. der geprüften Person, die merklich das Ergebnis beeinflussen (Tschirner 2001: 87), kommen eine Vielzahl persönlicher Eigenschaften hinzu (vgl. z.B. Fischer 2006). Sprechen lernt man durch Sprechen; nun sprechen unterschiedliche Personen unterschiedlich gern, viel, schnell, setzen mehr oder weniger nonverbale Kommunikationsformen ein, und dies intendiert oder nicht (vgl. Diegritz/ Fürst 1999: 33, Nieweiler 2010: 217), leiden unter Redeangst (vgl. Fronterrotta 2011) oder leben in Prüfungssituationen auf. Auch länderspezifisch gibt es große Unterschiede, inwieweit Menschen an Prüfungen gewöhnt sind. Während in Italien bereits schon im Grundschulbereich regelmäßig im Unterricht der Stoff abgefragt wird, was bis zur Hochschule ein Kontinuum darstellt, dann aber nach Erreichen einer beruflichen Position drastisch absinkt, gehört das ständige Vorsprechen und Geprüft- Werden in Deutschland nicht in gleichem Maße zum Schulalltag, reicht aber dafür merklich in Form von Evaluierungen in die Berufswelt hinein. Das heißt zum Beispiel, dass sich im Alter fortgeschrittene italienische Lernende Prüfungssituationen wahrscheinlich anders stellen als ihre jüngeren Mitprüflinge. Deutlich wird der Prüfungsverlauf auch durch die Rollenverteilung beeinflusst. Die von Bärenfänger (2003) im Rahmen einer quantitativen Untersuchung zu sprachlichen Automatismen angeführten Untersuchungsergebnisse zeigen die <?page no="145"?> 145 starke Abhängigkeit der Sprechflüssigkeit von den Interaktionspartnern (vgl. dazu auch O’Sullivan 2002). Natürlich unterlaufen auch auf der Prüferseite neben dem Erscheinungsbild verschiedene weitere Faktoren den Objektivitätsanspruch, wie z.B. der Umgang mit mündlichen Leistungen in der eigenen Lern- und Lehrgeschichte (vgl. Caspari 2003), sowie die individuell „begrenzte Fokusbreite der Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeitsspanne“ (Kieweg 2007: 10, vgl. auch Lennon 2000: 174). Angesichts dieser Unbestimmbarkeiten geht Lennon (2000: 165) davon aus, „daß es wohl keine einheitliche oder monolithische mündliche Sprachkompetenz gibt, sondern daß jede sprachliche Leistung von verschiedenen Variablen, wie Situation, Gesprächspartner, kommunikativem Ziel, abhängig ist“. „Measuring the unmeasurable: spoken competence“ lautete dementsprechend der Titel des Vortrags von Sharon Hartle vom Fremdsprachenzentrum der Universität Verona (2010) zur Effizienz mündlicher Sprachtests auf einer Tagung zum Thema „Standardized Language Testing in Teaching and Research“ an der Universität Modena, und Lennon spricht von der Vermessenheit, „das Unermeßbare messen“ (2000: 167) zu wollen. Wahrscheinlich kann diesem Tatbestand am ehesten Rechnung getragen werden, wenn bei Prüfungen grundsätzlich mehrere Prüfer eingesetzt werden 55 und ihnen Zeit gelassen wird, sich über die Bewertung der formalen und inhaltlichen Aspekte auszutauschen; außerdem ist es ratsam, sich auf wenige Kriterien zu beschränken (Kieweg 2007: 11). Die Beurteilung mündlicher Leistung erfolgt normalerweise auf drei Ebenen, der formalen, der inhaltlichen und der strategischen: Zu den formalen Beurteilungsbereichen gehören 1. Phonetik, 2. Intonation, Flüssigkeit und Sprechrhythmus, 3. Wortschatz/ lexikalische Korrektheit, 4. grammatische Korrektheit. Auf der inhaltlichen Ebene stehen 1. Eigenständigkeit der Sprachproduktion, 2. Grad der Orientierung an Vorlagen, 3. Situations- und Adressatenangemessenheit der Äußerung (Nieweler 2010: 216). Zuletzt kommt noch der kommunikationsstrategische Bereich hinzu. Zum Ziel der Überprüfung mündlicher Leistung werden sowohl indirekte Tests, z.B. Diktate, eingesetzt als auch direkte: 1. monologisches Sprechen: Vortrag, Vorlesewettbewerb, Versprachlichen von Bildimpulsen, Teilnahme an Rollenspielen, Unterrichtsprotokolle, Vortragen von Hausaufgaben, Referaten etc.; 2. Mündliche Interaktion/ dialogisches Sprechen: Rollenspiel, Konversation, Diskussion und Debatte (Nieweler 2010: 215, vgl. auch Kieweg 2007: 11). Der Dialog kann mit dem Prüfer, mit anderen Prüflingen oder einem Außenstehenden stattfinden (vgl. Lennon 2000). Tschirner (2001: 90ff) bezieht 55 Demgegenüber räumt Lennon (2000: 174f) allerdings ein, dass Prüfer meist unterschiedliche Vorstellungen von den Bewertungskriterien haben und auch unterschiedlich auf die vom Prüfling eingesetzten Strategien reagieren. <?page no="146"?> 146 noch semidirekte Prüfungen mit simulierter Authentizität, wie z.B. bei den Tonbandaufnahmen TestDaF, mit ein. Zu den häufigsten Prüfungsformen gehört das Prüfer-Prüfling-Gespräch oder Interview (Lennon 2000: 173), auch wenn mittlerweile diverse Untersuchungen belegt haben, dass diese Form weit von einer wirklichen Kommunikation abweicht bzw. eine diesbezügliche Kompetenz nicht testet, da der Prüfer den Vorgang der Konversation vorgibt, so dass sich der Prüfling kaum durch Rückfragen einbringen kann: In sum, the analysis of non-scripted interviews supports van Lier’s (1989) and Young’s (1995) claims that oral language proficiency interviews are not conversations because these dyadic interactions are asymmetrically contingent as the parties display different degrees of reactivity, and the power relations of the interactants are highly unequal. (Kormos 1999: 176) Die oben im Rahmen von videografiebasierten Studien erwähnte Untersuchung von Kormos (1999) belegt, dass demgegenüber angeleitete Rollenspiele weitaus besser die Fähigkeit überprüfen, mündliche Kommunikation auszuhandeln. 56 Auf die Performanz wirkt sich des Weiteren - wie ja auch bei einem normalsprachlichen Austausch - der Grad der Vertrautheit der Interaktionspartner aus. So belegt die Studie von O’Sullivan (2002), dass besonders die formale Richtigkeit signifikant von der Beziehung zwischen den Aktanten beeinflusst wird. 57 Angesichts der Anlehnung an den natürlichen Konversationscharakter rekonstruieren die mündlichen Prüfungen am Goethe-Institut Gesprächssituationen. Auf B1-Niveau sollen Informationen gegeben und erfragt werden. Beim Zertifikat Deutsch geschieht das in drei verschiedenen Teilen: (Meist) als Gespräch zwischen Gleichgestellten (Paarprüfung) erfolgt zunächst die Vorstellung der Person und darauf die Beschreibung eines alltäglichen Themas anhand eines Impulses sowie die Konversation darüber. Teil 3 sieht ein Rollenspiel mit einer zu lösenden organisatorischen Aufgabe vor. Die Prüfungskriterien sind: Ausdrucksfähigkeit (inhalts- und adressatenbezogene Ausdrucksweise, Wortschatz, Realisierung von Sprechintentionen), Aufgabenbewältigung (Gesprächsbeteili- 56 Vgl. dazu die eher skeptische Haltung gegenüber offenen Rollenspielen bei Kasper (1998: 95), die vor allem darauf beruht, dass der imaginierte Kontext für die sprachliche Leistung hinderlich sein könnte. 57 Die Untersuchungsergebnisse bestätigen die Hypothese einer besseren Leistung bei freundschaftlicher Beziehung zwischen den Interaktanten, darüber hinaus zeigen sie eine starke geschlechtsspezifische Abhängigkeit der Performanz bei sich fremden Partnern. Es ist allerdings anzumerken, dass die Untersuchung an zwei japanischen Universitäten durchgeführt wurde und die Interpretation der Daten vor dem Hintergrund der kulturbedingten Sozialisierung zu erfolgen hat. <?page no="147"?> 147 gung, Verwendung von Strategien, Flüssigkeit), formale Richtigkeit (Syntax, Morphologie) und Aussprache und Intonation, deren Bewertung anhand einer 4- Punkte-Skala (3-Punkte-Skala bei Aussprache/ Intonation) vorgenommen wird, wobei dies internationalen Testverfahren entspricht (vgl. z.B. O’Sullivan 2002: 284). 3.3 Forschungsinteresse und Design Das Forschungsprojekt zielte ursprünglich auf die Erhebung von Bewusstsein beim Erlernen von Deutsch als zweite oder dritte Fremdsprache bei erwachsenen Italienern in jeweils der Kompetenz, die vom Lernenden als vorrangig genannt wurde; es erfuhr aber eine Begrenzung auf die mündliche Kommunikation im Anschluss an die Pilotstudie. Diese Verengung des Gegenstandes stand bereits bei der Vorstellung des Forschungsdesigns auf dem DGFF-Kongress 2009 in der Sektion zur Forschungsmethodologien zur Diskussion. Da ich allerdings befürchtete, dass dies das theoretische Konstrukt, das ja auf dem Zusammenspiel von Motivation bzw. spezifischem Lerninteresse und Bewusstsein aufbaut, brüchig mache, hielt ich an der Absicht fest, den jeweils für den Lernenden wichtigsten Kompetenzbereich zu untersuchen. Bei der Erhebung des Fragebogens in der Pilotstudie wurde jedoch bereits offensichtlich, dass das Spektrum der Interessen nicht sehr breit gefächert und damit auch die Wahrscheinlichkeit, ein „Interessenpendant“ in der Vergleichsgruppe zu finden, kaum zu garantieren war: Drei Viertel der Befragten gaben „Sprechen“ als primäres Lerninteresse an. Die Pilotstudie, auf die ich aus diesem Grunde im Folgenden auch näher eingehen möchte, besiegelte dann meinen Entschluss, den Untersuchungsgegenstand auf die mündliche Kommunikation zu beschränken. Daraufhin lässt sich das Forschungsinteresse wie folgt skizieren: Vorannahme: Erwachsende Lernende greifen (auch im Mündlichen) verstärkt auf bewusste und interessenorientierte Verarbeitungs- und Abrufprozesse zurück, die sich in „betont bewusst“ über beginnende Routine (bewusste und assoziative Prozesse) zur allmählichen Automatisierung (verstärkt assoziative Vorgänge) kategorisieren lassen. Dabei bedienen sie sich zwei unterschiedlicher Modellierungen mentaler Repräsentation. 1. Forschungsfrage: Führt bei besagter Lerngruppe zusätzliche externe Bewusstmachung zu einem deutlichen Lernsprung und schlägt sich dieser auch in einer Verbesserung der mündlichen Kompetenz nieder? Korrelieren die drei genannten Stufen von Einsatz des Bewusstseins mit dem Lernresultat? 2. Forschungsfrage: Zeichnet sich ein Zusammenspiel von expansivem/ defensivem Lernen und dem Bewusstseinsgrad ab? Wenn ja, wie wirkt sich das auf <?page no="148"?> 148 den Lernprozess aus? Zeigt sich das in der Leistung, in der Speicherung im LZG oder in der Bevorzugung von explizitem oder implizitem Lernen? Die Studie wurde am Goethe-Institut Palermo durchgeführt. Es waren ihr diverse Vorstudien zur Konzeptualisierung des theoretischen Ansatzes (Hoffmann 2006a, 2008a/ b, 2009b, 2010b/ c) vorgelagert, und die eingesetzten Verfahren waren in der besagten Pilotstudie (April−Juni 2010) überprüft worden. Die Hauptstudie erstreckte sich von Oktober 2010 bis Juni 2011. Daran nahmen 18 Lernende (10 in der Experimentalgruppe (EG) und 8 in der Vergleichsgruppe (VG), s. 4.1) zweier B1-Kurse teil. Der Kurs siedelte sich auf B1-Niveau an und schloss mit der „Zertifikat-Deutsch“-Prüfung ab. Das unterrichtstragende Lehrbuch war „Passwort 5“. Zu der vorliegenden Untersuchung wurde ein zielgerichtetes Sampling durchgeführt 58 , nach dem die Auswahl der Personen, der Gruppe und der Institution aufgrund theoriegeleiteter Überlegungen erfolgte (vgl. Moser 2008: 48): Die Klientel des Goethe-Instituts besteht hauptsächlich aus erwachsenen Lernenden, bei denen aufgrund der Freiwilligkeit und Gebührenpflicht bei der Kursteilnahme von einer grundsätzlich motivierten Lernhaltung auszugehen ist. Dem Gegenstand angemessen ist eine explorativ-interpretative Longitudinalstudie mit qualitativem Zuschnitt und quantifizierenden Maßnahmen in der Messungsphase. Im Rahmen der Methodenkombination verortet sich auch die Funktion der Vergleichsgruppe, d.h., sie dient nicht der Verifizierung von Daten, sondern stellt ein weiteres komplementäres methodisches Vorgehen dar und erhöht damit die interne Validität der Untersuchung. In beiden Gruppen wurde ein Fragebogen zum Lerninteresse (FB) eingesetzt und anschließend eine Sprachstandserhebung (SSE) zum Mündlichen, der Teilkompetenz, die als primäres Lernziel genannt wurde, durchgeführt. In der Experimentalgruppe fand zusätzlich eine dreimalige Sprachlernberatung (LB) statt, die die Lernenden durch Lerntagebücher (TB) dokumentierten. Der Unterricht der Experimentalgruppe wurde über vier Monate durch Video aufgezeichnet. Am Ende des Kurses, und nochmals 6 Wochen später, wurde die Sprachstandserhebung in beiden Gruppen wiederholt sowie ein Experteninterview (EI) durchgeführt. Bevor nun auf die genannten Methoden und die Form ihrer Anwendung im Folgenden näher eingegangen wird, soll an dieser Stelle der Lernkontext beschrieben werden, d.h. die Lerngewohnheiten der Kursteilnehmer, sowie die Lernbedingungen am Goethe-Institut. 58 In der Grounded Theory entspräche dies einem thematischen Sampling. <?page no="149"?> 149 3.3.1 Unterrichtliches Deutschlernen in Italien Der gesteuerte Fremdsprachenunterricht in Italien wird allgemein als relativ resistent gegenüber methodischen Erneuerungen geschildert (vgl. Colombo 2005, Fischer 2006, Hornung 1999 , Ponti 2001, Thüne 1999b, Simon 2004). In häufig lehrerkonzentriertem und grammatikorientiertem Unterricht scheint die Grammatik-Übersetzungsmethode durchaus keine Seltenheit zu sein und trotz mangelnder lernpsychologischer Fundierung (Rizzardi/ Barsi 2005: 29) auch weiterhin Anwendung sowohl im fremdsprachlichen Klassenzimmer als auch im Sprachunterricht an den Universitäten zu finden. Im Vordergrund steht das (deklarative) Wissen über die Sprache, deren Erlernen beim Verständnis der Strukturen ansetzt und auch wiederum auf sie zielt, um „die intellektuellen Fähigkeiten des Lernenden zu fördern“ (Rizzardi/ Barsi 2005: 30, Übersetzung SH, vgl. auch 28). Dass an italienischen Bildungseinrichtungen dieser aus dem 19. Jahrhundert stammende Zugang scheinbar immer noch stark verankert ist, hat sicher diverse soziale, historische sowie auch bildungspolitische Gründe, die nicht zuletzt auch bewirken, dass die Tradition der klassischen Sprachen hoch gehalten und ihrem Erlernen ein großer Wert beigemessen wird. Daher kann man zumindest bei erwachsenen italienischen Fremdsprachenlernenden tendenziell von einem kognitiv orientierten Zugang ausgehen. Man wird aber dem fremdsprachlichen Lernen an italienischen Schulen nicht gerecht, wenn man es auf diese Form des Unterrichts verkürzt. Zu erwähnen sind eine steigende Anzahl von Lehrenden, die die Auseinandersetzung im Rahmen zahlreicher Fortbildungen mit kommunikativen und interkulturellen Ansätzen ins Klassenzimmer hineintragen 59 und sich auch wissenschaftlich mit Fragestellungen befassen, wie zum Beispiel dem Lehrerselbstverständnis oder der Aktionsforschung (vgl. Pozzo/ Rizzardi 2003), wobei auch zu berücksichtigen ist, dass Deutschlehrer in Italien eine Sprache unterrichten, die im Schulalltag in weiten Teilen des Landes einen deutlich niedrigen Stellenwert einnimmt (Curci 2005: 63). 60 Im Hochschulbereich liegt das wesentliche Interesse im Fach „Lingua e Traduzione - Lingua tedesca“ auf der sprachwissenschaftlichen Ebene. Hier konzentrieren sich die Untersuchungen auf grammatische, im geringeren Umfang auch auf phonologische Phänomene, oder textlinguistische Analysen. Ein weiteres wichtiges Forschungsgebiet stellen die komparativen Studien dar (z.B. 59 Hier seien u.a. die Fortbildungsseminare des Goethe-Instituts erwähnt oder die von DILIT (Divulgazione Lingua Italiana; http: / / www.dilit.it/ formazione/ seminari.php) für italienische Fremdsprachenlehrer. 60 Anders stellt sich die Situation in den Regionen Trentino-Alto Adige, Friaul-Julisch Venetien, Veneto und Lombardei dar, wo Deutsch oft als erste Fremdsprache gelernt wird; in der Provinz Bozen ist Deutsch sogar die zweite Amtssprache (Foschi Albert/ Hepp 2010: 1695). <?page no="150"?> 150 Nied Curcio 2008), insbesondere die Arbeit mit Paralleltexten (Lombardi 2006). Von der Erläuterung sprachlicher Merkmale erfolgt der Schritt zum Üben (z.B. Blühdorn/ Foschi Albert 2012, Di Meola 2004). Eindeutig überwiegt ein Ansatz, der auf die explizite Vermittlung von Kognitionen setzt. Auch wenn die Einseitigkeit dieses Zugangs beklagt wird (Costa 2010: 591), beschäftigen sich erst in den letzten Jahren empirische Studien mit Lernprozessen in Deutsch als Fremdsprache und leiten daraus Konsequenzen für den Aufbau (fremd)sprachlichen Wissens ab (z.B. Baumann 2009, Fischer 2006, Hoffmann 2008a, Hornung 2002, 2003, Nardi 2006, Zech 2009). Sicherlich kennzeichnet eine solche Verteilung der Forschungsschwerpunkte allgemein die Auslandsgermanistik, des Weiteren aber steht sie eben auch in der in Italien dominierenden Tradition, Fremdsprachenlernen als grammatikgeleiteten Top-down-Prozess zu verstehen (Curci 2008). Vor diesem Hintergrund kommt dem Goethe-Institut in Italien eine wichtige Rolle zu. 61 Seinen Werdegang und der spezifische Unterrichtskontext sowie die Stellung, die es in Italien einnimmt, sollen daher im Folgenden genauer ausgeleuchtet werden. Das Goethe-Institut ist nach der 2001 erfolgten Fusion mit Inter Nationes die größte Mittlerorganisation der deutschen auswärtigen Kulturpolitik (Keilholz- Rühle 2003: 597). Es wurde 1951 mit Sitz in München gegründet und steht in der Nachfolge der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums und übernahm von dieser den Auftrag, die deutsche Kultur im Ausland zu verbreiten sowie vor Ort Deutschlehrende auszubilden. Wie auch bei der Vorgängerorganisation bildeten Fragen der Methodik des Deutschunterrichts sowie landeskundliche und kulturhistorische Themen Mittelpunkt der Arbeit. Damit füllte das Goethe-Institut über Jahre eine Lücke, die die germanistischen Institute an den Universitäten gelassen hatten: Die Erforschung des Deutschunterrichts für Nichtmuttersprachler, heute als „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF) an vielen in- und ausländischen Universitäten als Studienfach und Forschungsfach fest etabliert, war ein Bereich, der - im Übrigen bis in die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein - von den germanistischen Instituten der deutschen Universitäten ignoriert worden war (Michels 2005: 81). In diesem Sinne durchzog die Deutsche Akademie und dann das Goethe-Institut seit seiner Entstehung ein methodischer Erneuerungswille, der an die Bedürfnisse „des immer stärker grenzüberschreitenden Wirtschaftslebens angelehnt war“ (Michels 2005: 84) und sich damit an der gesprochenen Sprache orientierte. Die Berlitz-Schulen galten als Vorreiter einer Methode, die die Deutsche 61 Zur einer vergleichbaren Rolle des Goethe-Instituts in Indien vgl. Chaudhuri (2009: 39ff). <?page no="151"?> 151 Akademie bald auch für sich übernahm und die ganz im Sinne der von Wilhelm Viëtor bereits 1882 geforderten Hinwendung an das gesprochene Wort standen: Sie [die direkte Methode, SH] betonte anstelle des überkommenen grammatik- und schriftsprachenlastigen Unterrichts die Vermittlung des gesprochenen Wortes und verzichtete weitgehend auf die Zuhilfenahme der Muttersprache. Die „direkte Methode“ wurde konsequent bei den Grundkursen der Ausländerlektorate der Deutschen Akademie angewandt. (Michels 2005: 84) Unterstützt durch die technischen Neuerungen vollzog sich so ein Paradigmenwechsel, der bis in das erste Jahrzehnt nach Gründung des Goethe-Instituts 1951 hineinreichte und nach dem bewusst „grammatische[n] Grundstrukturen zugunsten eines möglichst umfangreichen Alltagswortschatzes“ (Michels 2005: 86) vernachlässigt wurden. Abgesehen von der Tatsache, dass die ins Ausland gesandten Lehrer nicht die Sprache vor Ort zu beherrschen brauchten, schien eine solche Vermittlung auch berufstätigen Erwachsenen in den Abendkursen angemessener. Die Betonung der kommunikativen Kompetenz ist also tief im methodischen Konzept des Goethe-Instituts verankert und bildet die Grundlage seines Bildungsauftrags, der einmal in Bezug auf die Lehrerausbildung „Defizite in der Unterrichtspraxis“ im Ausland beheben wollte, sich zum anderen aber auch als Alternative für die methodisch doch noch in vielen Ländern häufig rückständigeren Sprachkurse an den Universitäten anbot − allerdings wurde hier ausdrücklich vermieden, die Verbindungsarbeit als Kolonisierungsversuch zu missbrauchen. Ganz im Gegenteil, die Fort- und Weiterbildung für Deutschlehrende an Schulen baut auf die Kooperation mit den Institutionen und Verbänden vor Ort. Die ursprüngliche Zielgruppe einer gesellschaftlichen Elite, die vom Akademiker über den Wirtschaftsmanager bis hin zum Gymnasiasten reichte, hat sich sicherlich gewandelt, auch wenn durch die Erhebung von Kursgebühren weiterhin eine Auswahl getroffen wird. Durch die verstärkte Zusammenarbeit mit den Universitäten hat sich der Aufgabenbereich für das Goethe-Institut und das Angebot für Studierende, die mittlerweile in Ländern wie Italien die größte Lerngruppe darstellen (Lesekurse, Erasmusvorbereitungskurse usw.) erweitert. Die Einsicht, dass sich die deutsche Sprache auf dem Rückzug befindet (auch wenn sich jüngst gegenläufige Tendenzen beobachten lassen) und sich nach Englisch als zweite, oft aber auch als dritte Fremdsprache ansiedelt, hat vom Goethe-Institut geförderte Studien wie das Tertiärsprachenprojekt (Neuner/ Hufeisen 2001) ins Leben gerufen, die einmal deutlich die bereits seit kurz nach der Gründung bestehende Verbindung zur Forschung zeigen, zum anderen Deutschlernen bewusst und verstärkt im Rahmen der Mehrsprachigkeits- <?page no="152"?> 152 didaktik positionieren und als Zeichen für eine europapolitische Orientierung dieser Institution zu werten sind. Das Goethe-Institut kann durch die kapillare Verteilung in 76 Ländern auf eine eigene Infrastruktur aufbauen, die sich besonders nach dem Mauerfall in Osteuropa ausgedehnt hat, das früher im Herder-Institut seinen Ansprechpartner hatte. In den 1990er Jahren setzte aber gleichzeitig eine Schließungswelle ein, die auch Italien, das zu der „große(n) Zahl der klassischen Partnerländer“ (Jahrbuch 2009: 79) gehört, hart traf. Heute befinden sich hier sieben Institute und sechs für die Spracharbeit zuständige Goethe-Zentren (ebd.: 80). Die Institute gehen alle auf Gründungen in der Zeit von 1954−1961 zurück und sind seitdem wichtige Ansprechpartner für Universität und sonstige Institutionen. Nach den etwas mühsamen Anfängen der Nachkriegszeit in den 1960er und 1970er Jahren erlebten diese Institute ihre Blütezeit in den 1980er Jahren. Das Goethe-Institut Palermo wurde im Jahre 1963 gegründet. Die Umzüge von der Jugendstil-Villa an der Prachtstraße Palermos in eine großzügige Etagenwohnung im Neubauviertel (mit Unterstützung der Stadtverwaltung) zehn Jahre später und schließlich 2000 in die als Kulturzentrum ausgebauten ehemaligen Lagerhallen der Stadt, gemeinsam mit dem Centre culturel français, zeigen nicht nur den Niedergang einer vom Abbau betroffenen Kulturarbeit, sondern auch den verminderten Stellenwert, den das Deutsche (auch) in diesem Teil Europas beklagt. Drei Jahre zuvor war die Schließung bzw. Trennung von Goethe-Institut und Goethe-Zentrum erfolgt, wo heute vier Lehrerinnen und ein Sekretär fest angestellt sind und Kurse für jährlich rund 400 Teilnehmer angeboten werden. Außerdem gehört Palermo mit Genua und Triest zu den Standorten, an denen das Goethe-Institut (wenn auch in Miniaturausgabe) und das Goethe-Zentrum zusammenliegen und die Prüfungslizenz besitzen. Trotz Kürzungen und einer nicht immer einfachen Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden genießen beide Institutionen ein tief verankertes hohes Ansehen in Palermo. Südlich von Neapel ist das Goethe-Zentrum als einziges Institut ein Anlaufpunkt für Personen, die in Deutschland studieren oder arbeiten wollen sowie für die Kinder und Kindeskinder italienischer Migranten, die sich ihre Kenntnisse zertifizieren lassen und/ oder Lücken des ungesteuerten Deutscherwerbs im Inland füllen wollen. Wie in der vorliegenden Studie übereinstimmend ausgesagt wird, steht dieser Ort für hochwertige Unterrichtsqualität, aber auch wesentlich für Sich-in-Deutschland-heimisch-Fühlen. Die Unterrichtsmethode steht heute im Zeichen eines „neokommunikativen“ Ansatzes (Königs 1991: 22), auf dessen Grundlage die seit Jahren hier tätigen Lehrerinnen durch Lehrerfortbildungsmaßnahmen weitergebildet werden. <?page no="153"?> 153 3.3.2 Methodenwahl der vorliegenden Studie Mit Rückgriff auf das entwickelte Schema am Ende des zweiten Kapitels sollen das Handlungsdreieck (Lerngegenstand/ Lernsituation/ Lernsubjekt), die darauf aufbauende Handlungsebene, die erbrachte Lernleistung und die folgende Evaluierung erhoben und korreliert werden. 3.3.2.1 Fragebogen zur Erfassung des Handlungsdreiecks Zur Fixierung des Handlungsdreiecks 62 (Abb. 9) wurde als erster Schritt an alle Beteiligten ein Fragebogen ausgeteilt (November 2010, zwei Wochen nach Kursbeginn). Dieser konnte im Anschluss an die Stunde oder auch in der folgenden Stunde (z.B. bei Fehlzeiten oder verspäteter Anmeldung seitens der Schüler) ausgefüllt und abgegeben werden. In dieser Form wurde eine gemeinsame Grundlage geschaffen, auf der alle an der Untersuchung beteiligten Schüler über ihr Deutschlernen am Goethe-Institut nachdenken und mir ihre diesbezüglichen Überlegungen zugänglich machen sollten. Situation/ Anreiz/ input Subjekt/ Motive Gegenstand Abb. 9 ̶ Handlungsdreieck Vor dem Hintergrund eines subjektwissenschaftlichen Gegenstandsbegriffs, dessen Eigenschaften sich nicht über die Beziehung zum Subjekt, sondern zu anderen Gegenständen bestimmen (s. 2.3), sollte die Fremdsprache Deutsch möglichst in ihrer objektiven Beschaffenheit erfasst werden. Die Fragen (1−3) fokussierten daher auf Bezüge zu anderen Fremdsprachen und der Muttersprache. 62 Eine Forschungsübersicht zu Studien, die die drei Bereiche voneinander getrennt beleuchten, liefert Schachter (1998). Handlungskontext <?page no="154"?> 154 1. Come descriverebbe la lingua tedesca? In quali caratteristiche differisce o è simile all’italiano e ad altre lingue straniere? Cosa la rende interessante/ affascinante e cosa, invece, noiosa/ respingente? 1. Wie würden Sie die deutsche Sprache beschreiben? Welche typischen Merkmale hat sie im Unterschied zu/ in Übereinstimmung mit dem Italienischen und zu anderen Fremdsprachen? Was macht sie attraktiv und interessant/ unattraktiv? 2. Secondo lei, la lingua tedesca si impara in maniera diversa rispetto ad altre lingue, p.es. l’inglese? 2. Lernt man Ihrer Meinung nach Deutsch anders als z.B. Englisch? 3. Durante il suo apprendimento è cambiata la sua opinione sulla lingua tedesca, e su come impararla? Quelli che all’inizio reputava i tratti salienti, sono rimasti gli stessi durante il corso di studio? 3. Stimmen die Dinge, die Sie am Anfang mit der deutschen Sprache und dem Deutschlernen verbunden haben, mit denen überein, die Sie jetzt für typisch halten? Die folgenden drei Fragen (4−6) zielen auf den Lernzusammenhang, d.h. auf den institutionellen Rahmen und die Unterrichtssituation, in denen die Deutschstunden stattfinden: 4. Cosa Le piace delle modalità di insegnamento/ apprendimento al Goethe-Institut? Perché ha scelto proprio questo corso? Ha delle aspettative precise? 4. Was gefällt Ihnen am Deutschlernen am Goethe-Institut? Warum haben Sie gerade diesen Kurs gewählt? Haben Sie bestimmte Erwartungen? 5. Conosceva già l’insegnante e gli altri partecipanti al suo corso? 5. Kannten Sie Ihre Lehrerin und die anderen KursteilnehmerInnen schon? 6. Cosa le piace di più / di meno durante la lezione? 6. Was macht Ihnen am meisten Spaß im Unterricht und was machen Sie nicht so gerne? Forschungstheoretisch wurde das Subjekt über seine intentionale Bezogenheit auf die Welt definiert, die sich in der aktiven Umsetzung von Handlungsmöglichkeiten realisiert (s. 2. 3, vgl. Einschränkung in Hoffmann 2008a: 46ff). Seine Lernabsichten spiegeln „Handlungsentwürfe vom Standpunkt der eigenen Lebensinteressen“ (Holzkamp 1995: 21) wider. In dem Lerninteresse, das sich auf das Deutschlernen allgemein und speziell auf bestimmte Kompetenzen konzentriert, kristallisiert sich somit der Zugang des Subjekts zum Lerngegenstand heraus. Dieser ist aus der eigenen Lerngeschichte heraus motiviert und dort verankert (Fragen 7, 8). Er zeigt sich im gegenwärtigen Unterricht durch Vorlieben, Strategien usw. (Frage 9) und hofft auf die Öffnung neuer Handlungsräume in der Zukunft (Frage 10): 7. Apprende il tedesco anche in altri contesti, p.es. all‘università? Nota delle differenze nell’ambiente/ nel metodo/ negli obiettivi ecc.? <?page no="155"?> 155 7. Lernen Sie auch anderswo, z.B. an der Universität, Deutsch? Bemerken Sie Unterschiede bezüglich des Lernkontextes/ der Methode/ der Zielsetzungen usw.? 8. Da quanto tempo studia il tedesco? Come ci è arrivato? 8. Wie lange lernen Sie schon Deutsch? Wie sind Sie dazu gekommen? 9. Cosa vorrebbe imparare in particolare? Se dovesse fare una scala di valori con le competenze (saper fare) o le conoscenze (sapere) che vorrebbe assolutamente raggiungere durante questo corso, cosa metterebbe al primo e all’ultimo posto? C’è un motivo per questa classifica? 9. Was möchten Sie im Deutschen besonders gut können? Wenn Sie eine Werteskala anfertigen müssten mit den Kompetenzen oder dem Wissen, was Sie in diesem Kurs unbedingt erreichen wollen, was stände an erster und was an letzter Stelle? Gibt es einen speziellen Grund dafür? Bitte möglichst genau angeben. 10. Collega al suo progetto di imparare il tedesco un obiettivo concreto? Ha progetti simili in altre lingue? 10. Verbinden Sie mit Ihrem Projekt, Deutsch zu lernen, ein konkretes Ziel? Haben Sie ähnliche Projekte in anderen Sprachen? 3.3.2.2 Tagebücher, Beratung und Videografien zum Lernverlauf Rubikon aktionale Phase output und Folge postaktionale Phase Abb. 10 ̶ Lernverlauf Der Lernverlauf (Abb. 10) beschreibt den Weg von der Wahrnehmung zur Ausführung der Handlung und deren Evaluierung. Zu seiner Erfassung erfolgt in der Experimentalgruppe aus der Innensicht die Führung von Tagebüchern und eine dreimalige Beratung (1. Beratungszyklus: Dezember 2010, 2. Beratungszyklus: Februar 2011, 3. Beratungszyklus: Mai 2011; Führung der Tagebücher ab dem 1. Beratungstermin) sowie aus der Außenperspektive die Videografien des Unterrichts (Januar - April 2011). Die Führung der Tagebücher fand im Rahmen der Beratung statt, d.h., hier sollten alle Beobachtungen in Bezug auf das elizitierte Lernvorhaben dokumen- Fokussierung noticing postdezisionale Phase perceiving prädezisionale Phase <?page no="156"?> 156 tiert werden. Sie wurden jeweils eine Woche vor dem 2. und 3. Beratungstermin eingesammelt. Der Einsatz von Beratung als methodischer Zugriff erfolgte im Zeichen der von Moser suggerierten methodischen „Anpassung“ zu Forschungswecken (s. 3.1). Diese begründet sich darin, dass sich Beratung - wie kaum eine introspektive Methode - an den individuellen Handlungsprozess des Lernenden schmiegt und darin in ihrem Ablauf den oben schematisierten Handlungsphasen entspricht: Von der Elizitierung des Lernvorhabens mit der Planung der Handlungsschritte über deren Ausführung bis zur abschließenden Evaluierung weist sie deutlich Analogien zu dem vierphasigen Handlungsprozess auf und liefert damit nicht nur Momentaufnahmen, sondern begleitet ihrem fremdsprachenpädagogischen Ziel gemäß dem Gegenstand. In diesem wesentlichen Unterschied liegt ihre erhöhte Aussagekraft, hierin bestehen allerdings auch die Grenzen ihres methodischen Einsatzes. Denn es verschärft sich das Merkmal dieser Instrumente, mit deren Hilfe nicht nur Reflexionen angeregt, sondern diese auch als Datenmaterial zugänglich gemacht werden: Sie greifen in einem bestimmten Umfang in das Lerngeschehen ein und verwischen damit den Übergang zwischen Vermittlung und Forschung: Thus, while elicited behaviours may reflect intended constructs in part, no elicitation procedure, regardless of how much control is exercised by the researcher, is immune to variability introduced by the interaction of the human subject with the measurement task or situation. (Norris/ Ortega 2003: 734) Obwohl im vorliegenden Fall das Lernverhalten dadurch in gewissem Sinne manipuliert wird bzw. werden soll, möchte ich dennoch nicht von einem treatment im Rahmen experimenteller Verfahren sprechen (vgl. z.B. Izumi et al. 1999), da dadurch der grundsätzliche Lerneffekt ausgeblendet würde. Es handelt sich vielmehr um eine hybride Form empirischen Zugangs (vgl. Riemer 2007: 450). Aus forschungsimmanenten Gründen wich die Beratung an folgenden Punkten von der im ersten Kapitel (s. 1.6.1) behandelten traditionellen Form ab: Die Lernenden kamen in die Beratung, nicht weil sie ein bestimmtes Lernbedürfnis oder -problem hatten, sondern weil sie dazu aufgefordert wurden, sich ihren Interessenschwerpunkt bewusst zu machen, ihre bisher eingesetzten Methoden zu reflektieren und anschließend entsprechende Lernschritte zu unternehmen. Dieser Mangel an Dringlichkeit bedingte erstens, dass in dem ersten Treffen zunächst versucht wurde, das im Fragebogen angegebene Interesse näher zu bestimmen und die bisher eingeschlagenen Lernwege zu benennen 63 und erst beim 63 Wie Cavallini und Wagner (2011) konstatieren, ist keinesfalls davon auszugehen, dass Lernende sich ihrer Methoden und Lerntechniken bewusst sind. <?page no="157"?> 157 zweiten Treffen, im Anschluss an die Reflexion zu den angewandten Wegen, „neue Vorschläge“ zu unterbreiten. Wie Vogler (2011: 27) resümiert, können diese angesichts unterschiedlicher Autonomiestufen des Lernenden auch präskriptiver ausfallen. Die Tatsache, dass die Abstände zwischen den Beratungsterminen von längerer Dauer waren, hat einmal forschungstechnische Gründe, zum anderen sollte den berufstätigen Lernenden auch mehr Zeit für die Übungen und zum Führen des Tagebuches gegeben werden. Die Berufstätigkeit vieler war auch der Grund dafür, dass die Gespräche bei ihnen zuhause geführt wurden. Sie dauerten zwischen 30 und 40 Minuten. Die erste Beratung lehnte sich im gewissen Umfang an vorformulierte Fragen an, da deren Beantwortung dem Forschungszweck diente 64 : Können Sie mir Ihr Lernvorhaben, in der deutschen Sprache gut sprechen zu können, genauer beschreiben? Warum ist gerade das Sprechen und Verstehen für Sie besonders wichtig? Gibt es noch anderes, was Sie im Deutschen gut können möchten? Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie Sie diesbezüglich im Englischen oder in einer anderen Fremdsprache oder gar in Ihrer Muttersprache vorgegangen sind? Glauben Sie, dass der Weg im Deutschen der gleiche ist? Wie haben Sie in der Schule Fremdsprachensprechen gelernt? Haben Sie mit Ihrer Familie im Ausland Urlaub gemacht? Spricht man in Ihrer Familie andere Sprachen? Was hat in Bezug auf Ihr Lernziel bisher gut funktioniert, was weniger? Wie gehen Sie vor? Was könnte Ihnen dabei helfen, Ihr Ziel zu erreichen? Was wirkt sich positiv aus? Was könnte Sie daran hindern, Ihr Ziel zu erreichen? In welchen Situationen klappt das Sprechen und Verstehen bereits besser? Wo haben Sie schon Fortschritte gemacht? Was könnten Sie konkret ausprobieren, um Ihr Ziel besser oder schneller zu erreichen? Bei der zweiten Beratung fasste ich am Anfang die wichtigsten Punkte des ersten Gesprächs nochmals zusammen, z.T. ergänzt durch Aussagen aus den Tagebüchern, danach wurden die Lernenden dazu aufgefordert, ihre Tagebucheinträge zu kommentieren bzw. den Lernerfolg anhand der dort beschriebenen Übungen einzuschätzen. Zusätzlich standen auch die Videoaufnahmen zur Verfügung, auf die ich gegebenenfalls zu sprechen kam. Diese dienten mit als Quelle für angemessene Vorschläge, die sich anschließend - je nach der Art des anfangs gewählten Vorgehens - auf Aufgaben, die Sprechen vorbereiten, aufbauen oder strukturieren, bezogen (vgl. Neuf-Münkel/ Roland 1994: 38). Für 64 Die Beratungsgespräche wurden auf Italienisch geführt. <?page no="158"?> 158 dieses eher präskriptive Vorgehen entschied ich mich beim zweiten Treffen, wenn die von den Lernenden im ersten Gespräch vorgeschlagenen Vorgehensweisen als nicht zufriedenstellend eingestuft oder nicht umgesetzt wurden, wobei darauf zu achten war, ob nicht grundsätzlich die Bereitschaft fehlte, mehr in das eigene Lernen zu investieren. Zu den einzelnen Stufen wurden verschiedene Übungsformen vorgestellt: z.B. zur Vorbereitung: Imitatorische Aufgaben zur Verbesserung des artikulierenden Sprechens und diskriminierenden Hörens, Aufbau zur Verbesserung des artikulierenden Sprechens (Einzellaute, Wortakzente, Satzintonation); weiterführend: Grammatikregeln visualisieren, pattern drills, durch Phrasen erweiterte Sätze, Auflösung von langen Sätzen in kurze; und zur Strukturierung: Statements formulieren, Nacherzählen, sich Texte zu Bildern überlegen bzw. Bilder beschreiben usw. Die Lernenden übernahmen z.T. einige Übungen direkt als Lernvorhaben für den nächsten Monat, andere passten die Vorschläge stärker den individuellen Ansprüchen an. Die dritte Beratung am Ende des Kurses galt ausschließlich der Evaluierung der Beratungsmaßnahme, d.h., sie erhebt damit die postaktionale Folgephase. Bei der Verschriftlichung habe ich mich in den Audioaufnahmen der Lernberatungen auf die wort- und inhaltsgetreue Wiedergabe in der italienischen Standardsprache beschränkt, d.h. auf die Anwendung eines Transkriptsystems wurde verzichtet. Der Aufwand rechtfertigte in diesem Fall nicht den wissenschaftlichen Ertrag, einmal weil die Texte auf Italienisch vorliegen und damit Pausen, Dehnungen, Akzentsetzung usw. nicht oder nur schwer auf die deutsche Übersetzung übertragen werden können (vgl. diesbezügliche Überlegungen in Hoffmann 2008a: 160), zum anderen standen bei diesem methodischen Schritt das Inhaltliche, die Informationen im Vordergrund und das Bemühen, die Person in ihrem Lernverhalten zu erfassen. Mit diesem Ziel wurden Auffälligkeiten beim Sprechen, z.B. das Sprechtempo, wie im Falle von Liliana, oder die Tonhöhe, wie z.B. bei Chiara, gesondert vermerkt. Ansonsten erfolgte eine wortwörtliche Transkription mit entsprechender Zeichensetzung, einschließlich einzelner Silben und „ähms“, während diese Phänomene in der beiliegenden deutschen Übersetzung wegfallen. Die jeweiligen Redebeiträge schließen mit einem Punkt bei merklichem Stimmenabfall, ansonsten ohne Satzzeichen. Die inhaltsgetreuen Übersetzungen wurden von mir selbst angefertigt. Nachdem der Fragebogen einen vorwiegend theoriegeleiteten Zugang bereitgestellt hatte, werden die Beratungen stärker datenorientiert kodiert und Kategorien gebildet: zu Merkmalen des Deutschen, z.B. komplexe Grammatik, schwierige Sprache (Subkategorien: in Bezug auf Englisch, Latein, Muttersprache Italienisch und/ oder differenziert nach Kompetenz); zum Unterrichtskontext (Lehrerin, Mitlernende, Lehrmethode, Ambiente), z.B. vorwiegend einsprachiger Unterricht, vertraute Lernumgebung; zum individuellen Lernzugang Fremd- <?page no="159"?> 159 sprachenlernerfahrungen aus der Schule, Zukunftsprojekte, Emotionen und Gefühle beim Lernen (Subkategorien: Emotion Freude oder das Gefühl Angst). Als Zulieferer für den Kodierungsprozess fungieren auch die Tagebücher. Daraus geht der Leitfaden als Grundlage für die Videos hervor. Der Leitfaden wird jeweils fallspezifisch erstellt und liefert die Grundlage für die Videoanalyse. Die Videoaufnahmen erfolgten bei teilnehmender Beobachtung, d.h. alle wissen, dass sie beobachtet werden (vgl. Schwab 2009: 122). Als ehemalige Lehrerin und Beraterin am Goethe-Institut war ich einigen Schülern bekannt. Daher wurde bereits in der ersten Lernberatung bei den meisten auf das „Du“ übergegangen. Mit den Kolleginnen verbindet mich eine jahrzehntelange gemeinsame Arbeit. Deshalb ist der Störfaktor der Videokamera wohl für die meisten als nicht relevant einzuschätzen, außerdem wurde auch ein recht behutsamer Einstieg ins Feld praktiziert: Die Videokamera kam erst nach dem ersten Beratungsgespräch zum Einsatz und wurde nicht überstrapaziert (nicht länger als durchgehend zwei Unterrichtseinheiten). Nach einer ersten Sichtung aller Videoaufnahmen wurde das gesamte Material in Sprecheinheiten sequenziert und zu den einzelnen Sprechern die Länge ihres turns, ob dieser selbst- oder lehrerinitiiert war und ob es sich um eine Frage/ Antwort oder einen Beitrag (ohne direkten Bezug auf eine Frage) handelt, vermerkt. Auf dieser Grundlage erfolgte auf der niedrig inferenten Ebene eine Quantifizierung der Beiträge zum Vergleich im Klassensatz und bezüglich der einzelnen Sprecher. Auf der zweiten hoch inferenten Ebene verortet sich die Analyse einiger ausgewählter Redeeinheiten, wobei der Aufarbeitung dieser visuellen Daten das Basistranskript von GAT 2 (Selting et al. 2009) zugrunde lag und folgende Konventionen Anwendung fanden: 1.) Die Verschriftlichung erfolgt in Anlehnung an die Standardsprache. 2.) Die jeweils neuen Beiträge beginnen eine Zeile. Bei Überlappungen werden eckige Klammern [ ] benutzt und es wird dort eingesetzt, wo das simultane Sprechen beginnt bzw. endet. 3.) = bedeutet einen schnellen Sprecheinsatz und befindet sich am Ende der vorangegangen und am Anfang der nächsten Zeile. 4.) (geschätzte) Pausen: Mikropause (.), kurze, mittlere und lange Pause (-), (--), (---). Darüber hinaus gemessene Pause von ca. 0.8 Sek. Dauer: (0.8) 5.) Die Tonhöhen wurden wie folgt gekennzeichnet: ? hoch steigend, , steigend, − gleichbleibend, ; fallend, . tief fallend. 6.) Akzentuierungen wurden durch Großbuchstaben kenntlich gemacht, Dehnungen mit : , : : , : : : . 7.) Die Beschreibung außersprachlicher Handlungen wurde in eine doppelte runde Klammer ((: : ; ; ; )) und interpretierende Kommentare wurden in doppelte Anführungszeichen << >> gesetzt. <?page no="160"?> 160 8.) Unverständliche Äußerungen markieren eine leere runde Klammer ( ), Unsicherheiten beim Verständnis eine runde Klammer und bei der Zuordnung der Sprechenden ein ? . 9.) Abkürzungen: H=Hoffmann, K=Kursleiterin, K2=Kursleiterin im Pilotkurs und in der Vergleichsgruppe 10.) Bei den transkribierten Videoaufnahmen wurden körperliche Bewegungen im Raum, Veränderungen der eigenen Position oder der Blickrichtung, Gesten oder Mimik dann festgehalten, wenn sie im Geschehen als signifikant erachtet wurden. Bei den Redebeiträgen der Einzelfallanalyse wurde der in der Beratung entwickelte Leitfaden angelegt, überprüft und entsprechend modifiziert. Beobachtungen von nonverbaler Kommunikation und paraverbalen Aktionen unterfütterten die Kategorien. In dem endgültigen Kodierschema fanden auch die Divergenzen in den einzelnen Datensätzen Berücksichtigung (s. 3.1). Eine einzelfallübergreifende Kodierung quer durch die Datensätze erschien dem Forschungsanliegen unangemessen. Bei der Analyse wurde z.T. auf die Software MAXQDA zurückgegriffen. 3.3.2.3 Sprachstandserhebung und Experteninterview zur Messung des Lernprodukts output und Folge postaktionale Phase Abb. 11 ̶ Ergebnis der Lernhandlung Die eingesetzte Sprachstandserhebung muss auf der konzeptuellen Grundlage dieser Arbeit stehen und nach den oben dargelegten Anforderungen folgende Kriterien erfüllen: 1. Sie muss das prüfen, was den Lernenden primär interessiert, sowohl inhaltlich als auch formal. 2. Sie muss daher einerseits individuell anwendbar, aber auch in gewissem Maße vergleichbar sein. Da intake im output manifest wird und vorrangig dort gemessen werden kann, wird nun das Ergebnis der Lernhandlung erhoben (Abb. 11). Der output intake/ Ergebnis understanding Speicherung im LZG <?page no="161"?> 161 beeinflusst die postaktionale Folgephase. In einem circa 15-minütigen „elizitierten Gespräch“ mit vorgegebener Gesprächsaufgabe (Kasper 1998: 96) zwischen Forscherin und Lernenden wurden drei Themen angesprochen, die einerseits eine Wiederaufnahme (auf Deutsch) aus dem jeweils auf Italienisch abgefassten Fragebogen darstellen. Die Fragen decken abermals das Handlungsdreieck ab, denn sie beziehen sich auf Gegenstand, Lernumgebung und Subjekt. Gleichzeitig lehnen sie sich auch an die angestrebte Zertifikatsprüfung an: Wie in den drei Teilen des mündlichen Prüfungsteils (s. 3.2.3) standen in der Konversation inhaltlich der persönliche Bereich (Frage 2), ein Thema (Frage 1) und die Planung (Frage 3) einer zukünftigen Handlung im Mittelpunkt. Zur Bewertung wurden die Kriterien und die Punkteskala der B1- Prüfung angelegt (s.o.). Das der natürlichen Kommunikation näher stehende Rollenspiel (s. 3.2.3) eignete sich in diesem Fall nicht, da bestimmte Themen angesprochen werden sollten. Verstärkt standen die formalen Aspekte und die Ausdrucksfähigkeit im Vordergrund, da sich für die Aufgabenbewältigung eher die videografierten Konversationen im Unterricht anbieten. Die Bewertung der formalen Richtigkeit und Ausdrucksbreite orientiert sich an den Deskriptoren der Blätter zu B1-Prüfungen des Goethe-Instituts, berücksichtigt aber auch die von Foster und Skehan (1996: 310, nach O’Sullivan 2002: 281) vorgenommenen Operationalisierungen zur „grammatical complexity“, da diese die gewählten Satzmuster nach Schwierigkeitsgrad divergieren und damit Details zur Beschreibungsebene der sprachlichen Äußerung liefern. Die Hörverstehenskompetenz wurde gesondert vermerkt. Zur Veranschaulichung folgt ein Beispiel, in Klammern stehen Stichpunkte aus dem Fragebogen, die gegebenenfalls in weiteren Fragen aufgegriffen werden: 1. Sprachstandserhebung (Name) ausgeführt am Fragen: 1. Sie sagen, dass der Klang und die Grammatik die deutsche Sprache von anderen unterscheiden. Können Sie diese Charakteristiken etwas genauer beschreiben? Was fällt Ihnen leichter/ schwerer im Vergleich zu anderen Sprachen? 2. Was verbinden Sie mit dem Deutschlernen am Goethe-Institut (Mitlernende, Ort, Lehrerin, Material etc.)? 3. Die Konversation. Sprechen und Gesprächen folgen, ist für Sie ein wichtiges Lernziel in diesem Kurs, weil Sie in Zukunft mit deutschen Mandanten in ihrer Sprache verhandeln wollen. Können Sie mir über diese Möglichkeit etwas konkreter erzählen? <?page no="162"?> 162 Kriterien Punkte Begründung Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache/ Intonation insg. Tab. 1 ̶ Bewertungsbogen für das Gespräch Das Gespräch fand jeweils am Anfang (November/ Dezember 2010) und am Schluss (Anfang Mai 2011) des Kurses sowie sechs Wochen danach (Mitte Juni) statt. Der Zeitpunkt für den Nachtest wurde unter Berücksichtigung der Tatsache gewählt, dass ein bewusst fokussierter Lerngegenstand, der anschließend durch Üben konsolidiert wird, im LZG gespeichert und damit auch nach circa einem Monat abrufbar sein müsste. Die Fragen passten sich inhaltlich an den Zeitpunkt des Gesprächs an: z.B. Frage 2 bei der 2. Erhebung: Wie haben Sie sich während des Kurses in der Klasse gefühlt? Haben Sie mit den Mitlernenden zusammenarbeiten können? Wie sind Sie mit dem Lehrbuch zurechtgekommen? Und Frage 2 beim 3. Gespräch: Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Mitlernenden? Gehen Sie noch in die Bibliothek/ zum Film usw. am Goethe-Institut? Das Experteninterview wurde nach Abschluss der Kurse einzeln mit den Lehrerinnen der zwei Gruppen durchgeführt. Die anfängliche Frage an beide lautete, ob sie allgemein einen Lernfortschritt in der Klasse und dann bei den einzelnen Kursteilnehmern bemerkt haben, im Besonderen in einer Kompetenz und am Schluss in Bezug auf das Mündliche. Das Interview wurde aufgenommen und zusammengefasst. Zeitplan der Hauptstudie (November 2010 - Juni 2011, Tab. 2): Fragebogen zum Lerninteresse Sprachstandserhebungen (EG/ VG) Lernberatungen (EG) Unterrichtsbeobachtung (EG) Experteninterviews (EG/ VG) Tagebuch (EG) November November/ Dezember Dezember Januar bis April: 10 x 2 UE Juni Dezember bis April Anfang Mai Februar Mitte Juni Mai Tab. 2 ̶ Tabellarische Übersicht zum Ablauf der Hauptstudie <?page no="163"?> 163 3.3.3 Pilotstudie 65 Die Pilotstudie zu der vorliegenden Untersuchung dauerte vom 20. April bis zum 30. Juni 2010. Sie wurde im Rahmen von zwei parallel laufenden B1-Semesterkursen (80 Unterrichtseinheiten in Gruppen bis zu zehn Teilnehmern, Lehrbuch „Begegnungen“) durchgeführt. Der Eintritt ins Feld erfolgte vier Unterrichtswochen nach Kursbeginn und endete fünf Wochen nach Kursende. Als bevorzugter Kompetenzbereich wurde in der Experimentalgruppe (drei Studentinnen, eine Berufstätige, ein Student, ein Postdoc-Stipendiat) dreimal Sprechen genannt, des Weiteren Übersetzen, Leseverstehen und kulturelles Wissen. In der Vergleichsgruppe überwiegt das Lernziel Mündlichkeit bei fünf von den sechs Studentinnen, eine Lernende interessiert vor allem der Erwerb von Lexik beim Lesen. Damit ragt die mündliche Kommunikation als primäres Lerninteresse heraus. Es soll nun auszugsweise ein Fall herausgegriffen werden, der die oben erwähnten Nachwirkungen auf die Hauptstudie gezeitigt hat. Das Ziel der folgenden Darstellung besteht in der Offenlegung der Prozesse, die das Forschungsinteresse auf den Bereich der mündlichen Kommunikation gelenkt haben, verbunden mit einer Methodenreflexion. Daher wird an dieser Stelle weder auf die Aufbereitung der Daten eingegangen sowie auch die Analyse nur in Ansätzen erfolgt. Zeitplan der Pilotstudie (Tab. 3): Fragebogen zum Lerninteresse Sprachstandserhebungen (EG/ VG) Lernberatungen (EG) Unterrichtsbeobachtung (EG) Experteninterviews (EG) Tagebuch (EG) 20. April 27. April 27. April Video 1 (4. Mai) 30. Juni 27. April bis 28. Mai 27./ 28. Mai 11. Mai Video 2 (20. Mai) 18./ 23. Juni 28. Mai Tab. 3 ̶ Tabellarische Übersicht zum Ablauf der Pilotstudie Es handelt sich bei dem Fallbeispiel um den Postdoc-Stipendiaten Dario, der als primäres Lernziel schnelleres Lesen und das Verstehen altertumswissenschaftlicher Fachtexte genannt hat. 66 Die Einschätzung des Deutschen als grammatisch komplex, aber gerade deshalb interessant, basiert auf dem Vergleich zum Engli- 65 In Teilen in Hoffmann (2011a/ b). 66 Die folgenden Angaben stammen aus dem Fragebogen. <?page no="164"?> 164 schen und Italienischen. Die Entscheidung, am Goethe-Institut Deutsch zu lernen, ist durch den guten Ruf des Instituts (FB4: „alto profilo scientifico“) begründet; seit zwei Jahren besucht er Kurse bei der gleichen Lehrerin. Der junge Mann verfügt über sehr gute Englisch- und Lateinkenntnisse. Er würde gerne zu Forschungszwecken und/ oder beruflich eine Zeitlang nach England oder Deutschland gehen. In der ersten Lernberatung 67 (27.4.2010) wird mehrmals der Rückgriff auf das Englische als vorherrschende Strategie zur Entschlüsselung von Wortbedeutungen genannt: […] io certe parole in tedesco non le conosco ma le conosco in inglese, quindi la parola tedesca è simile all’inglese e quindi conoscendo il significato in inglese riesco ad arrivare al significato in tedesco […] quindi la somiglianza propria di parola. (LB1/ 8.30 Min.) […] bestimmte Worte kenne ich im Deutschen nicht, aber dafür im Englischen, da das deutsche Wort dem englischen ähnelt, und da ich die Bedeutung im Englischen weiß, komme ich darüber auf die Bedeutung im Deutschen […] eben über die Ähnlichkeit der Wörter. Analogieschlüsse aus dem Englischen werden auch im Tagebuch vermerkt (29.4.2010) und durch seine mündlichen Äußerungen im Unterricht: 01 Dario 02 K2 03 Dario 04 K2 05 Dario 06 K2 07 Dario 08 K2 09 Dario 10 K2 11 Dario 12 K2 äh letzten jahre− im letzten jahr, im letzten jahre bin ich nach PAris− paRIS. paris geflogen (.) ähm: : ich ((zeigt auf sich)) habe äh: einen ähm: äh: billiger ostell reserviert and <<englische Aussprache>> ik mit meinem äh: freunden äh ha haben eine ähm: internationale atmosfere <<englische Aussprache>> gefunden. ((lacht)) das heißt? das bedeutet das bedeutet äh drunk drunken <<englische Aussprache>> younge <<englische Aussprache>> leute− sehr viele betrunkene leute− betrunkene= = betrunkene jugendliche ((schreibt an die Tafel, übersetzt und liest die Wörter laut vor)) an anbekennte leute in meinem zimmer− UNbekannte. 67 In der Pilotstudie erfolgte die Transkription nur in Teilen; daher wird hier zu ihrer Lokalisierung der Zeitpunkt (in Minuten) zu Beginn der Äußerung bzw. Videosequenz angegeben. <?page no="165"?> 165 13 Dario ja (.) unbekannte unbekannte leute in meinem zimmer äh liegen in meinem bett. ((veranschaulicht mit den Armen das „Liegen“, lacht und nickt dabei)) Video 1/ 3.06 Min. Dagegen helfen bei der Syntax Lateinkenntnisse: „La sintattica tedesca la trovo molto simile a quella in latino.“ (Die deutsche Syntax ist m.E. der lateinischen sehr ähnlich, LB1/ 9.03 Min.). Allerdings interferiert das Regelwissen auch negativ, z.B. bei der irrtümlichen Zuordnung der Kasusmarkierung „m“ zum Akkusativ (LB2/ 35.28 Min.), hier muss Dario bewusst gegensteuern. Das Verständnis einzelner Ausdrücke erfolgt außerdem auf der Grundlage der Fachsprache. Laut Dario ist es dieses Vorwissen, das das Textverständnis erleichtert. Mehrmals bestätigt er diese Erfahrung. Schon gleich am Anfang des ersten Gesprächs und mit Nachdruck fügt der Lernende bezüglich seines im Fragebogen genannten Lerninteresses Folgendes hinzu: Devo devo comunque precisare che dopo un soggiorno in Germania, precisamente a Friburgo lo scorso anno, il mio interesse si è ulteriormente rafforzato, ma non soltanto per la conoscenza dei testi di antichistica ma anche per la cultura tedesca e infatti vorrei mi piacerebbe anche trascorrere un periodo di studi in Germania […]. (LB1/ 2.20 Min.) Ich muss hier allerdings präzisieren, dass sich mein Interesse nach einem Aufenthalt in Deutschland letzten Sommer in Freiburg verstärkt hat, aber nicht nur in Bezug auf das Verstehen von Texten der Altertumswissenschaften, sondern auch auf die deutsche Kultur bezogen. So würde ich gern zu Forschungszwecken eine Zeitlang nach Deutschland gehen […]. Auch im zweiten Gespräch wird entschieden von einer Änderung des ursprünglichen Vorhabens gesprochen: „Sono cambiate le mie idee. Voglio avere una visione più ampia del tedesco“ (Meine Vorstellungen haben sich geändert. Ich möchte einen weiteren Einblick in das Deutsche haben, LB2/ 12.04 Min.). Mit dem expliziten Hinweis darauf, auch sein neu erwachtes Interesse mit zu berücksichtigen, beschließt Dario den ersten Lernschritt in Bezug auf sein Lernvorhaben: Er nimmt sich vor, vermehrt allgemeinsprachliche Texte zu lesen, um so seinen Vokabelschatz zu bereichern. Zum Gebrauch des Wörterbuchs sagt er aus, dass er darauf nur zurückgreife, wenn das Wort für ihn nicht ableitbar sei. Die Videoaufnahmen zeigen, dass Dario als Einziger immer ein Wörterbuch vor sich liegen hat, das er je nach Unterrichtsstoff konsultiert, sicherlich macht er das häufiger, als man nach seinen diesbezüglichen Behauptungen vermuten würde. Zum Teil gibt er die nachgeschlagene Bedeutung den anderen Kursteil- <?page no="166"?> 166 nehmenden weiter. An seine Gewohnheit, ehemals unbekannte und z.T. nachgeschlagene Wörter aufzuschreiben, knüpft der darauf aufbauende Lernschritt an, diese Wörter in Wortfeldern zu gruppieren. Die zweite Lernberatung (11.5.2010) beginnt mit der Feststellung, dass der eingeschlagene Weg bezüglich einer Beschleunigung der Lesefertigkeit von Fachtexten nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt hat (s. auch Tagebuch 29.4.2010): Però devo dire, che non mi hanno aiutato tanto perché non mi hanno aiutato. […] Questi (testi di lingua comune, SH) aiutano più per il corso. (LB2/ 6.54 Min.) Ehrlich gesagt waren die keine große Hilfe für mich. Die (allgemeinsprachlichen Texte, SH) nützen eher im Kurs. Die gewählte Vorgehensweise ist für das „nachgerückte“ zweite Lernziel eindeutig Erfolg versprechender: La lettura di questo testo (più semplice, SH) dà soddisfazione perché riesco a mettere in pratica le cose del corso, gli insegnamenti del corso. Quindi dà molto più stimolo questo tipo di lettura rispetto all’altro. (LB 2/ 26.45) Das Lesen dieses Textes (einfacher Text, SH) macht zufrieden, weil ich hier die Sachen im Kurs, das, was ich da gelernt habe, praktisch umsetzen kann. Das ist weitaus motivierender als das andere Lesen. Der gleiche Ausdruck - „stimolo“ in Bezug auf die Erfolgserlebnisse im Unterricht - taucht auch am Ende des dritten Treffens auf (LB3/ 15.00 Min.), wobei abermals die emotionale Beteiligung beim Sprechen über dieses „neue“ Interesse am Deutschen zu Tage tritt. Dario wird sich aber auch der Schwierigkeit bewusst, beide Lernziele mit demselben Vorgehen zu erreichen. Während bei den von ihm gewählten (leichten) Lesetexten einzelne Wörter das Problem bilden, liegt dieses bei den Fachtexten in den komplexen Strukturen: „Mi perdo nella frase“ (Da verliere ich den Faden, LB2/ 15.50 Min.). Die Entscheidung am Ende der Sitzung, Verbindungselemente wie Konjunktionen und Adverbien zu sammeln bzw. zu ordnen und daran gezielt anzusetzen, dabei aber einfachere Texte „in Kursnähe“ zu wählen, stellt sozusagen einen Kompromiss zwischen beiden Handlungszielen dar. Er selbst formuliert es als methodische Übung hinsichtlich des erstgenannten Lernvorhabens. Auf die Frage zu Beginn des dritten Beratungstreffens (28.5.2010), ob er Fortschritte bezüglich seines (ersten) Lernvorhabens bemerkt habe, antwortet Dario: <?page no="167"?> 167 Si, miglioramenti dovuti dalla lettura dei testi scientifici in tedesco, ultimamente nelle ultime settimane ho letto molto […] per la conferenza […]. (LB3/ 00.18Min.) Ja, Fortschritte beim Lesen wissenschaftlicher deutschsprachiger Texte, in den letzten Wochen habe ich viel gelesen […] wegen der Tagung […]. Im weiteren Gespräch erläutert er darüber auch seine Lerntheorie, auf die er bereits beim zweiten Treffen zu sprechen gekommen ist: La comprensione negli ultimi tempi è migliorata. Riesco in meno tempo un maggior numero di pagine, ricorro meno al vocabolario, mi ricordo più termini […] poi anche devo confessare il lessico è ripetitivo e ho notato che i termini ricorrono. […] più lessico infatti più lessico nella lettura, riesco a leggere più speditamente […] le congiunzioni si, ma prevalentemente la lettura […]. Il termine deve ritornare frequentemente poi si memorizza […] anche a distanza di giorni, aiuta, riesco a memorizzarli. (LB3/ 7.12 Min.) Das Verständnis hat sich in letzter Zeit verbessert. Ich schaffe in weniger Zeit mehr Seiten, ich erinnere mich an mehr Begriffe, nehme weniger das Wörterbuch zur Hilfe […], aber ich muss gestehen, die Wörter wiederholen sich. […] mehr Lexik, mehr Wörter beim Lesen, ich kann schneller lesen. […] Ja auch die Konjunktionen, aber vor allem das Lesen. […] Ein Begriff muss häufig vorkommen, dann erinnert man sich daran, […] auch nach Tagen hilft das, so kann ich sie [Begriffe, SH] mir merken. Neben dem häufigen Auftreten von Begriffen sind es - wie er weiter ausführt - auch die Schlüsselwörter (LB3/ 11.04 Min.), die über das Interesse die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ihn damit beim schnellen Erfassen des Inhalts leiten. Die Reflexion über die eigenen Methoden und ihre Verbesserung evaluiert er positiv: „Per me è stato utile, p.es. i suggerimenti che mi hai dato“ (Mir waren die Tipps, die du mir gegeben hast, nützlich, LB3/ 14.10 Min.). Auf die Frage, was bereits schneller und ohne großes Nachdenken abrufbar ist, präzisiert er: Dario Immediato mi vengono i sostantivi. Soprattutto quelli che conosco, i verbi, anche se mi capita comunque che il significato non lo conosco, ma individuo subito che è verbo […] poi anche riesco a capire che è un präteritum […] H Perché tu sai la regola? Dario Sì sì la regola. Infatti qua una cosa che ho segnato non ricordo dove. (sucht eine Textstelle) Riconosco prevalentemente le forme regolari del Präteritum […] (hat die Stelle gefunden). Pur essendo una forma irregolare. Ma K2 ci ha (unverständlich) (deutet mit einer Handbewegung an, dass die Kursleiterin die Ablautreihen der Verben oft abgefragt hat.) H Quindi di memoria? Dario Sì di memoria. E quindi i verbi, molti riesco a capire. Molto spesso non co- <?page no="168"?> 168 nosco il significato. […] più la parte formale […] la parte forse più facile da individuare. (LB2/ 5.15 Min.) Dario Ich erinnere mich sofort an die Substantive. Vor allem, die ich kenne, bei den Verben, auch wenn ich die nicht kenne, verstehe ich sofort, das ist ein Verb […] ich erkenne dann auch die Präteritumform […] H Weil du die Regel kennst? Dario Ja, ja die Regel. Genau hier, da habe ich was vermerkt, ich weiß jetzt nicht mehr wo (sucht eine Textstelle). Ich erkenne vor allem die regelmäßigen Präteritumformen wieder […] (hat die Stelle gefunden). Auch wenn das hier eine unregelmäßige Form ist. Aber K2 hat uns (unverständlich) (deutet mit einer Handbewegung an, dass die Kursleiterin die Ablautreihen der Verben oft abgefragt hat) H Also auswendig lernen? Dario Ja, auswendig. Und daher die Verben, viele von denen erkenne ich wieder. Oft weiß ich nicht ihre Bedeutung. […] eher von der Form her […] das ist vielleicht der Teil, den man am leichtesten wiedererkennt. Er stellt bei den regelmäßigen Präteritumformen eine unmittelbare Aktivierung von Regelwissen fest, die starken Verben scheinen dagegen wie die Substantive als Wort(form) erinnert zu werden. Die Anwendung der genannten Strategien, Ableitung aus dem Englischen und Lateinischen, d.h. interlinguales Wissen, bestätigt sich - wie schon oben dargestellt - in der Unterrichtsbeobachtung. Der Lernende bedient sich oft, z.T. offensichtlich willentlich, aber häufig auch ohne weiter nachzudenken, des Englischen. Er bemerkt außerdem selbstinitiiert eigene grammatische Fehler und korrigiert sich mit Rückgriff auf interlinguale Regelkenntnisse, häufig die Derivation betreffend, zu der auch das Tagebuch einige Reflexionen enthält (z.B. TB 2.05.10). Mit der Begründung, dass für ihn das Deutsche immer wichtiger wird, merkt er an, dass in seinem englischen Vortrag neuerdings die deutsche Aussprache interferiert. Das Interesse am Erwerb der deutschen Sprache sprengt die anfängliche rein funktionale Ausrichtung seines Lernens: È una lingua più interessante dell‘inglese. Mi sta appassionando di più. Perché ha dei progetti mentali simile al latino e a me il latino mi piace, è da una vita, da quando avevo 14 anni. [...] non è meccanica. (LB3/ 15.12 Min.) Das ist eine interessantere Sprache als das Englische. Die begeistert mich mehr. Weil die konzeptuell dem Lateinischen ähnelt, und Latein mag ich, seit Ewigkeiten, seitdem ich 14 bin. Die ist nicht mechanisch. <?page no="169"?> 169 Nach Aussagen der Lehrkraft im Experteninterview lässt sich kein signifikanter Zuwachs an Lexik beobachten, aber eine deutlich regere Beteiligung in Form zunehmend spontaner und längerer Äußerungen im Unterricht und flüssigeres Sprechen. Bei der Sprachstandserhebung wurde auf einen unbekannten Text zurückgegriffen, den der Proband selbst als für sich besonders interessant wählte. Beim Lesen wurde er dazu aufgefordert: 1. unbekannte Worte/ Wörter mit rot anzustreichen; 2. unbekannte Wörter, deren Sinn aber durch den Kontext oder intralinguale, interlinguale und extralinguale Inferenzen erschließbar ist, mit blau; 3. Wörter, deren Bedeutung nicht bereit steht, die aber als bekannt wahrgenommen werden, mit grün. 68 Dario/ Experimentalgruppe 1. SSE 2. SSE 3. SSE Unbekannte Wörter/ Worte 10 1 2 Erschließbare Worte 4 12 7 Vergessene Bedeutung bei Wiedererkennen der Wortform 10 1 13 insg. 24 14 22 Tab. 4 ̶ Sprachstandserhebungen von Dario Bei Dario erfolgt von der 1. zur 2. SSE ein rapider Abfall von völlig unbekannten Wörtern und Worten. In dem Nachtest lässt sich ein proportional ansteigender Wert bei den wiedererkannten Wortformen ohne Bedeutungszuweisung verzeichnen (Tab. 4). Anzumerken ist, dass sich die Wörter förmlich im Block verschieben: Es handelt sich zu einem Großteil um die gleichen Ausdrücke, die zunächst von der unbekannten in die Gruppe der erschließbaren Worte gelangen und dann vier Wochen nach Kursende als Wortform wiedererkannt werden, denen aber keine Bedeutung zugewiesen werden kann. Insgesamt verändert sich die Zahl der nicht gewussten Worte nicht signifikant. Aus der Vergleichsgruppe sollen die Ergebnisse der Fremdsprachenstudentin Serena den Fall Dario näher beleuchten. Sie gibt in dem Fragebogen an, dass ihr Hauptinteresse im Bereich der Lexik liegt: „Vorrei ampliare la conoscenza del lessico e di alcuni modi di dire propri della lingua“ (Ich möchte meine Kenntnisse in der Lexik und einiger feststehender Ausdrücke verbessern, FB9). Zunächst wird keine Vorliebe bezüglich einer Kompetenz genannt, auf meine Nachfrage nennt sie das Lesen als einen für sie wichtigen Bereich. Abgesehen von der Schulzeit lernt sie Deutsch an der Universität, insgesamt seit acht Jahren. Auch sie bezeichnet Deutsch als sehr faszinierend („particolarmente affa- 68 Da die Lesekompetenz nicht mehr Gegenstand der Hauptstudie ist, wird auf eine ausführliche Begründung dieses Vorgehens verzichtet und sich auf den Exkurs zur Lesekompetenz in 1.4.1 beschränkt. <?page no="170"?> 170 scinante“, FB1). Als besonders schwierig im Vergleich zu anderen Fremdsprachen werden die Regeln der Syntax und die Wortbildung genannt (ebd.). Das Goethe-Institut zeichnet sich für sie durch die Aufmerksamkeit und das Interesse der Lehrenden gegenüber den Lernenden aus. Der Text, der als Grundlage für den Test genommen wird, ist ein Auszug aus einem Roman, den sie sehr gerne lesen möchte. Die Sprachstandserhebungen zeigen folgenden Zuwachs im Vokabelbereich: Serena/ Vergleichsgruppe 1. SSE 2. SSE 3. SSE Unbekannte Wörter/ Worte 24 15 15 Erschließbare Worte 21 16 10 Vergessene Bedeutung bei Wiedererkennen der Wortform 6 3 5 insg. 41 34 30 Tab. 5 ̶ Sprachstandserhebungen von Serena Während von der ersten zur zweiten SSE die Zahl der fehlenden Wörter auf allen drei Ebenen gleichmäßig abnimmt, bleibt die Anzahl der unbekannten Wörter im Nachtest konstant, das Verständnis aus dem Kontext verbessert sich weiterhin, während sich das Wiederkennen von Wörtern auf der (nur) visuellen Ebene leicht erhöht. Insgesamt werden im Nachtest im Vergleich zum Kursbeginn signifikant weniger nicht gewusste Worte (27 %) vermerkt (Tab. 5). Bei Dario lässt sich der rapide Rückgang der unbekannten Wörter zugunsten von Ausdrücken, die zwar nicht als Begriff konkret benannt, aber durch den Kontext erschlossen werden können, der zusätzlichen (externen) Bewusstmachung zurechnen. Intra- und interlinguales Wissen wird aktiviert und erweitert und findet anschließend Anwendung. Allerdings macht der Nachtest deutlich, dass dieses Wissen langfristig nicht aktiv verfügbar bleibt, sondern (nur) als Worthülse erinnert wird, was dem Lernenden nach eigenen Aussagen (s.o.) ja auch leichter fällt. Darios zuerst elizitiertes Lernziel, nämlich eine Beschleunigung der Lesefertigkeiten, ist damit in Ansätzen erreicht. Dass kein relevanter aktiver Bedeutungsaufbau erfolgt ist, bestätigt die Kursleiterin, die gleichzeitig auch auf die deutliche Verbesserung von Darios mündlicher Leistung im Unterricht hinweist. Die dem widersprechende Selbstbeurteilung (s.o.) könnte darin begründet sein, dass er seinen Vokabelzuwachs primär über die schnellere Abrufbarkeit von Vokabeln beim Sprechen wahrnimmt, denn der Lernende hat offensichtlich seinem „neuen“ Interesse gemäß im Mündlichen schneller Wörter und Ausdrücke parat, oder auch in der Tatsache, dass für Dario das Erkennen der Oberflächenmerkmale eines Wortes Vokabelzuwachs bedeutet. Darios Lernen erfolgt prinzipiell nach dem Prinzip des Einschleifens, d.h. des wiederholten Gebrauchs und damit „festeren“ Abspeicherns sowie schnelleren <?page no="171"?> 171 Abrufens von Regelwissen und Wörtern sowie durch den teilautomatisierten Rückgriff auf das Englische. Darin begreift er Lernen als assoziativen Vorgang, bei dem er stärker auf die Form fokussiert und diese offensichtlich im LZG speichert. Es setzt aber auch explizite Lernvorgänge ein (Einsatz von Regelwissen, z.B. beim Präteritum der regelmäßigen Verben oder zur Wortbildung sowie Grammatikkenntnisse aus dem Lateinischen). Diese steuern z.T. auch gegen automatisierte Prozesse, wie z.B. bei der fälschlichen Übertragung des Grammatikmorphems zum Akkusativ aus dem Lateinischen. Die durch die Beratung verstärkten Prozesse spielen von der Intentionsbildung bis zur Evaluierungsphase nach Abschluss der Handlung eine Rolle und unterstützen besonders bei ihm, dem Anfänger, das Lernen (vgl. Goss et al. 1994: 282). Sie tragen darüber hinaus zur Realisierung seines nachträglich entwickelten Vorhabens, zu einer persönlichen Verbindung zum Deutschen und zum damit verbundenen Engagement im Unterricht, bei. Ein wesentliches Faktum stellt die Tatsache dar, dass in Bezug auf das Gesamtergebnis Serena besser abschneidet als Dario. Eine Erklärung liefert der Blick auf die unterschiedlichen Datensätze. So bemerken wir im Falle der Interessenermittlung Divergenzen (erster Fragebogen im Unterschied zu der Beratung, den Videomitschnitten und dem Experteninterview) oder einen offenen Widerspruch, wie bezüglich des Vokabelzuwachses, den der Lernende bei sich feststellt, der aber als Bedeutungsaufbau weder im Test noch von Seiten der Lehrkraft Bestätigung findet. Als Beispiel einer gegenseitigen Bekräftigung können dagegen die unterschiedlichen Belege zur Umsetzung seines neu entstandenen Interesses für das Deutsche gelten. Die emotionale Beteiligung, mit der er in der Beratung auf diese Veränderung pocht, sein deutlich sichtbarer und von der Lehrenden bemerkter verstärkter Einsatz im Unterricht lassen klare Aussagen über die Verschiebung der emotionalen und motivationalen Komponente auf dieses nachgerückte Anliegen zu, das sich dadurch auch stärker als expansive Lernhandlung kennzeichnet. Diese Ergebnisse haben folgende Konsequenzen für die Hauptstudie: 1. auf der forschungstheoretischen Ebene: In der prädezisionalen Phase wird unmittelbar am Anfang das nachwachsende Lernziel, nämlich ein Eintauchen in „das Deutsche“, eingeführt, das deutlich emotional besetzt ist und sich als Lernvorhaben vordrängt. In der zweiten Sitzung wird deutlich, dass die zwei Handlungsvorsätze und die daran anschließenden Schritte offensichtlich in Konflikt geraten. Es folgt eine Revidierung, die die Verwirklichung des zweiten Lernziels in den Unterricht am Goethe-Institut verweist, wo es sich dann umso stärker Bahn bricht. Diese Beobachtungen bedeuten für die Theoriebildung ein Umdenken, in dem Sinne, dass das angewandte Modell von Heckhausen sehr flexibel zu handhaben ist, weitaus mehr, <?page no="172"?> 172 als es der Autor bereits formuliert hat (Heckhausen 1886: 213). Es entstehen augenscheinlich neue Lernvorhaben, auch wenn der Rubikon bereits in Bezug auf eine vorhergehende Intention überschritten wurde. Innerhalb der verschiedenen Handlungsphasen ist folglich von Intensitätsschwankungen auszugehen, und von einer gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen Handlungsziele sowie der Methoden zu ihrem Erreichen. In der Pilotstudie wurde es damit auch unmöglich, den Lernverlauf vor dem Hintergrund des entwickelten Schemas zu skizzieren, da das erste und damit methodisch erhobene Vorhaben mitunter weniger handlungsleitend und interessenbesetzt erschien als das zweite und damit das Modell seinen Zugriff verspielt hatte. 2. in Bezug auf das Forschungsinteresse und dessen methodische Erfassung: Das Fallbeispiel (und auch die Fragebögen zum Lerninteresse in beiden Gruppen) hat gezeigt, dass die wesentliche Motivation, sich am Goethe-Institut Palermo in einen B1-Kurs einzuschreiben, der Aufbau und die Verbesserung der mündlichen Kommunikation ist. Wobei die Lernenden - mit unterschiedlicher Gewichtung - darunter ein „verständliches, flüssiges, spontanes (-freies) Sprechen, das nicht unbedingt fehlerfrei sein muß, aber Korrektheit anstrebt“ (Neuf- Münkel 1994: 37) intendieren. Selbst bei breiter gestreuten oder auch anders gelagerten Interessen nimmt dieser Bereich während des Kursbesuchs zu und erscheint stärker emotional-motivational besetzt. Trotz der Beratungen im Vorfeld und der Vorstudien war ich nicht von einem so eindeutigen und einstimmigen Interessenschwerpunkt ausgegangen. Aber auch ein weiterer Punkt überzeugte mich davon, die Untersuchung (nur) auf diese Kompetenz zu richten: Mag der gewählte methodische Zugang für introspektive Daten wohl passend sein, so ist er in Bezug auf das Lernen durch Lesen dennoch nicht der angemessenste. Kognitive und emotionale Prozesse mit diesem Ziel wären durch Lautes Denken (s. 3.2.2.1) anstelle der Videografien besser fassbar. Das heißt: Auch wenn die Methoden dem Forschungsinteresse, dem Beitrag des Bewusstseins beim Deutschlernen, entsprechen, muss dennoch den zu erforschenden Kompetenzen gemäß eine weitere Ausdifferenzierung erfolgen. Da dies im Rahmen dieser Studie nicht möglich war, entschied ich mich für die Eingrenzung des Forschungsgegenstandes unter Beibehaltung der gewählten Methoden. 3. forschungstechnische Änderungen: Zunächst war die Studie in Semesterkursen geplant, was sich als zeitlich zu eng erwies, auch weil die Kursteilnehmer nicht immer zu den Terminen, die der Forschungsrhythmus vorgab, kommen konnten. Bei einem Jahreskurs konnte der Terminkalender etwas lockerer gehandhabt werden. Ursprünglich nur für die Experimentalgruppe vorgesehen, erfolgte das Experteninterview auch mit der Lehrerin in der Vergleichsgruppe, da hier der Datenbedarf - besonders im Vergleich zu der anderen Gruppe - nicht gesättigt war. <?page no="173"?> 173 4. Interpretation der Daten im Klassensatz und Einzelfallanalyse In diesem Teil der Arbeit werden die empirisch gewonnenen Daten in ihrer aufbereiteten Form dargelegt und vor dem Hintergrund des erörterten Ansatzes und der darauf aufbauenden Forschungsfragen interpretiert (s. 3.3). Dabei erfolgt nach Vorstellung der beiden Gruppen der Vergleich der ausgewerteten Fragebögen zum Lerninteresse sowie der dreimaligen Sprachstandserhebungen im Klassensatz. Auf der Grundlage der Videografien wurde anschließend die Partizipation am Unterricht der Experimentalgruppe quantifiziert. Den zweiten Teil bilden die neun qualitativen Einzelanalysen, die zusätzlich auf die Beratungen und die Unterrichtsmitschnitte zurückgreifen. Sowohl die Daten im Klassensatz als auch die Einzelfallanalysen werden durch die beiden Experteninterviews abgeglichen. 4.1 Experimental- und Vergleichsgruppe 4.1.1 Kursteilnehmer und Kurs 69 Von den zehn Lernenden der Experimentalgruppe sind sechs zum Teil im Beruf stehende Akademiker (davon drei Juristen, zwei haben ein literarisches bzw. sprachwissenschaftliches Studium abgeschlossen und einer ist Naturwissenschaftler), drei studieren Fremdsprachen und eine arbeitet im künstlerischen Bereich. Es überwiegt eine humanistische Schulausbildung. Vier der Kursteilnehmer sind Männer. Die jüngste Teilnehmerin ist 20 und die älteste 50 Jahre alt, d.h., der maximale Altersunterschied beträgt 30 Jahre. Das Durchschnittsalter liegt bei 31,1 Jahren, was für die Kurse des Goethe-Instituts Palermo relativ hoch und durch die Tatsache bedingt ist, dass vier Lernende über dreißig bzw. vierzig sind. Eine Studentin hat wegen eines Studienaufenthalts in Deutschland den Kurs im März abgebrochen. Die bis dahin von ihr erhobenen Daten wurden bei der Analyse im Klassensatz soweit möglich hinzugezogen, aber es wurde keine Fallstudie erstellt. Alle Teilnehmer haben Englisch als erste Fremdsprache und Schulwissen im Französischen. Drei besitzen Grundkenntnisse im Spanischen. 69 Zur Anonymisierung wurde bei der Beschreibung der Teilnehmer auf jegliche nähere Angaben zur Person verzichtet, auch wenn dadurch z.T. Hinweise und Erklärungshilfen wegfallen. Die Einverständniserklärungen der Untersuchungspartner zur Veröffentlichung der Daten liegen vor. Bei den drei Minderjährigen in der VG waren die Mütter bei der Datenerhebung anwesend. <?page no="174"?> 174 Die Vergleichsgruppe bestand ursprünglich aus acht Lernenden. Hier fand aber ein relativ starker Schülerschwund statt, so dass die Klasse am Ende auf fünf Personen zusammenschrumpfte. Eine schied schon am Anfang aus der Untersuchung aus, da von ihr kein Fragebogen abgegeben wurde. Die Teilnehmenden waren bei der Einschreibung (und im ersten Kursmonat) drei Schülerinnen, zwei Fremdsprachenstudierende und drei Berufstätige (zwei Angestellte und ein freiberuflich Arbeitender). Vier Lernende besuchen oder besuchten ein naturwissenschaftliches Gymnasium, jeweils zwei ein humanistisches und ein neusprachliches. Das Durchschnittsalter lag bei 25 Jahren, was dem Normalstand der Klientel am Goethe-Institut Palermo entspricht. Der Altersunterschied lag bei maximal 23 Jahren. Auch hier ist Englisch die erste Fremdsprache und Französisch auf Schulniveau vorhanden. 4.1.2 Ergebnisse des Fragebogens zum Lerninteresse In den Tabellen (Tab. 6 ̶ 16) werden die Ergebnisse aus den Fragebögen nach den beiden Gruppen differenziert aufgeführt. Bei Fragen, auf die nicht nur mit Ja oder Nein geantwortet werden konnte, wurden Kategorien abgeleitet (s. 3.2.2.4) und deren Vorkommen quantifiziert 70 : 1. Wie würden Sie die deutsche Sprache beschreiben? Welche typischen Merkmale hat sie im Unterschied zu/ in Übereinstimmung mit dem Italienischen und zu anderen Fremdsprachen? Was macht sie attraktiv und interessant/ unattraktiv? faszinierend/ interessant schwierig rational/ logisch Ähnlichkeit zum Englischen Ähnlichkeit zum Lateinischen/ Griechischen dem Italienischen nicht ähnlich EG 8 6 3 4 2 6 VG 6 1 2 4 3 3 insg. 14 7 5 8 5 9 Tab. 6 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 1 Von der deutschen Sprache geht auf die Mehrzahl der Kursteilnehmer Faszination aus. Sie wird als „(molto) affascinante“ und/ oder „interessante” definiert. In der Vergleichsgruppe ist diese Anziehung noch emotionaler aufgeladen: „Ogni volta che sento qualcuno parlare in tedesco mio cuore batte fortissimo“ (Jedes Mal, wenn ich jemanden Deutsch sprechen höre, schlägt mir das Herz höher, 70 Die Auswertung rekurriert auf zehn Fragebögen aus der EG und sieben aus der VG. Die Übersetzung wurde von mir durchgeführt. <?page no="175"?> 175 Marta). Oder: „Adoro la lingua tedesca“ (Ich liebe die deutsche Sprache, Barbara). Drei Personen (zwei aus der EG und eine aus der VG) drehen das häufig gegen die deutsche Sprache angeführte Argument ihres „harten Klanges“ um und leiten ihre Faszination von dem melodischen oder süßen Klang ab („musicale“ oder „dolce“). Die Schwierigkeit dieser Sprache beruht den Aussagen nach auf ihrer Grammatik: „la rende noiosa e respingente” (Die Grammatik ist lästig und schreckt ab, Dora, auch Liliana), „La lingua tedesca è abbastanza complessa, generi, casi, aggettivi che si declinano, rappresentano un grosso ostacolo da superare per ben padroneggiare la lingua” (Die deutsche Sprache ist ziemlich komplex, Genus, Kasus, Adjektive, die man deklinieren muss, stellen ein großes Hindernis dar, das man zu überwinden hat, will man die Sprache beherrschen, Sandra); dazu kommen die zu langen Worte: „vocaboli troppo lunghi“ (Michele). Mit ihrer Regellastigkeit verbindet sich aber auch die ihr inneliegende Rationalität: „È affascinante il rigore logico della sintassi, ma questo rigore è anche quello che la rende una lingua ostrica“ (Die Strenge der Logik in der Syntax ist faszinierend, sie macht diese Sprache aber auch unzugänglich, Ferdinando). Das negativ zu bewertende „unzugänglich“ paart sich hier mit dem positiven „logisch“. Die Nähe zum Englischen bezieht sich auf die Lexik, nur eine Person sieht auch Ähnlichkeiten zur Grammatik (Barbara), die dagegen nach Meinung von fünf Teilnehmern an Latein und Griechisch erinnert. Beim Vergleich mit dem Italienischen stechen zwei Aussagen heraus, die der Distanz zur Muttersprache Ausdruck verleihen: „È completamente differente dall’italiano“ (Deutsch ist völlig anders als das Italienische, Chiara), „Il tedesco è certamente una lingua lontana dall’italiano“ (Deutsch ist sicher weit vom Italienischen entfernt, Antonio). 2. Lernt man Ihrer Meinung nach Deutsch anders als z.B. Englisch? ja nein EG 5 (50 %) 5 (50 %) VG 2 (29 %) 5 (71 %) insg. 7 10 Tab. 7 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 2 Als ein für alle Sprachen gültiges Vorgehen wird „viel Űben“ sowohl in der Experimentalgruppe als auch in der Vergleichsgruppe angegeben. In der Experimentalgruppe, in der sich mehr Stimmen für ein unterschiedliches Herangehen an den Deutscherwerb aussprechen, wird einmal ein Mehr an Hörübungen für notwendig befunden, und zum anderen der größere Lernaufwand beim Sich- Merken von Vokabeln (samt Genus, Pluralendung, Zuordnung zu starken/ schwachen Verben usw.) angeführt. <?page no="176"?> 176 3. Stimmen die Dinge, die Sie am Anfang mit der deutschen Sprache und dem Deutschlernen verbunden haben, mit denen überein, die Sie jetzt für typisch halten? ja nein EG 4 6 VG 4 3 insg. 8 9 Tab. 8 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 3 Bei der Experimentalgruppe rührt die Meinungsänderung daher, dass in drei Fällen Angst vor der Komplexität der deutschen Sprache oder Vorurteile vorhanden waren, bei den anderen drei wurden der Lernaufwand bzw. die Schwierigkeiten unterschätzt. Bei der Vergleichsgruppe ist der einzige Grund, der zu einer veränderten Einstellung zu der deutschen Sprache geführt hat, ein wachsendes Interesse und eine stärkere Motivation: „La amo di piu“ (Ich liebe sie jetzt mehr, Barbara). 4. Was gefällt Ihnen am Deutschlernen am Goethe-Institut? Warum haben Sie gerade diesen Kurs gewählt? Haben Sie bestimmte Erwartungen? Sympathie füradie Kursleiterin Lehrer sind Muttersprachler „Methode“ Klassenklima/ deutsches Ambiente zufällig EG 2 - 8 1 1 VG - 2 4 3 insg. 2 2 12 4 1 Tab. 9 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 4 Die Wichtigkeit der Lehrmethode (EG 80 %, VG 57 %) sticht heraus, worunter verschiedenes fällt: An erster Stelle (5-mal) die Abwechslung in der Unterrichtsführung (Einsatz unterschiedlicher Medien, Förderung aller Kompetenzen), dann das Sprechen und die Interaktion in der Zielsprache (4-mal), aber auch ein klares Unterrichtskonzept, deutliches Sprechen und viel Geduld. 5. Kannten Sie Ihre Lehrerin und die anderen KursteilnehmerInnen schon? ja,adie Lehrerin ja,aeinenaoder mehrere Kursteilnehmer nein EG 5 7 2 VG 2 2 3 insg. 7 8 5 Tab. 10 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 5 <?page no="177"?> 177 Die Mehrheit der Experimentalgruppe (80 %) kannte sich untereinander und/ oder die Lehrerin, bei der Vergleichsgruppe sind es weniger (57 %). Allerdings ergaben sich bei der Beantwortung Unstimmigkeiten, die einmal davon herrührten, dass einige Lernende die Frage auf ihre erste Einschreibung am Goethe-Institut bezogen haben und nicht auf den laufenden Kurs. Zum anderen entspricht die Aussage der Kursleiterin der Vergleichsgruppe (Experteninterview VG), die Schüler zum Großteil schon seit drei Jahren zu kennen, nicht den weiteren erhobenen Daten. Auch im Gespräch mit der Lehrkraft der Experimentalgruppe wird zunächst gesagt, dass aus der „Kerngruppe vom Vorjahr“ zu Beginn drei Personen als Neuzugang herausfallen, allerdings stellt sich im weiteren Gesprächsverlauf heraus, dass es realiter die Hälfte der Klasse war (Experteninterview EG) und dass das „Herausfallen“ eher mit der Lernmethode und dem interaktiven Verhalten dieser drei Personen in Verbindung zu bringen ist. 6. Was macht Ihnen am meisten Spaß im Unterricht und was machen Sie nicht so gern? Spaß macht: Sprechen/ Interaktion alles Übersetzen geleitet werden neue Vokabeln EG 4 2 1 1 1 VG 5 - - - insg. 9 2 1 1 1 Tab. 11 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 6a In der Vergleichsgruppe haben zwei Personen und in der Experimentalgruppe eine Person nicht bzw. nicht sachgerecht auf diese Frage geantwortet. Dennoch lässt sich absehen, dass in beiden Gruppen das Sprechen, die Konversation und Interaktion mit den anderen Kursteilnehmern und der Lehrerin einen zentralen Stellenwert einnimmt. Auf die Frage, was weniger Spaß macht, fehlen jeweils bei der EG und in der VG drei Angaben; vier weitere Antworten beziehen sich nicht auf die Kompetenzen oder direkt den Unterricht: Chiara führt an, dass sie nach der Pause müde ist. Liliana „nervt“ das Klingeln des Weckers am Samstagmorgen. Silvio findet die Unterrichtszeit zu kurz. Gianni hinkt dem Programm hinterher. Emilia ist das Schweigen bei schwierigen Fragen peinlich und Michele bemängelt an der Unterrichtsführung bzw. der Methode, dass die Lehrerin auch Italienisch sprechen sollte. Weniger Spaß macht: <?page no="178"?> 178 Schreiben Hören Gruppenarbeit EG - 1 (im Sinne von schwierig) 1 VG 2 1 insg. 2 2 1 Tab. 12 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 6b Die Spärlichkeit und auch das Unsachgerechte dieser Angaben können ggf. dahingehend gedeutet werden, dass während des Unterrichts unangenehme Gefühle nicht vordergründig sind und mehrheitlich sämtliche Tätigkeiten als angenehm empfunden werden. 7. Lernen Sie auch anderswo, z.B. an der Uni, Deutsch? Bemerken Sie Unterschiede bezüglich des Lernkontextes/ der Methode/ der Zielsetzungen usw.? Ja Nein EG 2 8 VG 2 5 insg. 4 13 Tab. 13 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 7 Im Rahmen institutionalisierten Lernens stellt das Goethe-Institut für die Mehrheit den einzigen Lernort dar. Allerdings erwähnen verschiedene Kursteilnehmer, über selbstgewählte Texte, Fernsehen, Musik und persönliche Kontakte unabhängig vom Kurs Deutsch zu lernen. 8. Wie lange lernen Sie schon Deutsch? Wie sind Sie dazu gekommen? 1-3 Jahre 4+ Jahre EG 6 (60 %) 4 (40 %) VG 5 (71 %) 2 (29 %) insg. 11 6 Tab. 14 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 8 In beiden Kursen hat die Mehrheit vor max. drei Jahren angefangen, Deutsch zu lernen, d.h. die Kursfolge am Goethe-Institut normal durchlaufen. Drei Lernende in der EG sind „Wiederholer“ und eine weitere besucht schon mit Unterbrechungen seit sieben Jahren Kurse am Goethe-Institut (auch im Inland). Die beiden Lernenden in der VG, die schon über drei Jahre Deutsch lernen, haben damit in der Schule angefangen oder hatten den Sprachkontakt aufgrund einer befristeten Beschäftigung in Deutschland. 9. Was möchten Sie im Deutschen besonders gut können? Wenn Sie eine Werteskala anfertigen müssten mit den Kompetenzen oder dem Wissen, was Sie in <?page no="179"?> 179 diesem Kurs unbedingt erreichen wollen, was stände an erster und was an letzter Stelle? Gibt es einen speziellen Grund dafür? Bitte möglichst genau angeben. Sprechen Hören Lesen Schreiben Grammatik Vokabeln Übersetzen EG 8 2 - 2 1 2 2 VG 7 4 - 1 - 2 1 insg. 15 6 - 3 1 4 3 Tab. 15 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 9 In der Tabelle sind die Kompetenz(en) oder Wissensgebiete aufgeführt, die von den Kursteilnehmern als die wichtigsten eingestuft wurden. Dazu sei angemerkt, dass sich hinter dem Begriff Sprechen ein relativ undifferenzierter Kommunikationswunsch verbirgt, der auch verstehendes Hören oder Kommunikationsstrategien mit einbezieht, wie es in Aussagen wie: „interagire nel miglior modo possibile“ (bestmöglich interagieren, Giulia), oder: „Vorrei essere in grado di essere autosufficiente in una conversazione ed esprimermi correttamente“ (Ich möchte in der Lage sein, mich in der Konversation frei und korrekt zu äußern, Enrico) zu Tage tritt. 10. Verbinden Sie mit Ihrem Projekt, Deutsch zu lernen ein konkretes Ziel? Haben Sie ähnliche Projekte in anderen Sprachen? Arbeit/ Leben zu Studienzwecken 71 Tourismus keine Aussage EG 7 1 1 1 VG 5 1 1 insg. 12 2 2 1 Tab. 16 ̶ Ergebnis des Fragebogens, Frage 10 Arbeiten in Deutschland, auch wenn z.T. mit recht vagen Vorstellungen oder einfach nach dem Man-kann-ja-nie-wissen-Prinzip (Michele), ragt als Begründung für das Deutschlernen hervor. Daher koppeln sich die Projekte vorwiegend an die deutsche Sprache. Bei der Kategorisierung und anschließenden Quantifizierung des Lerninteresses an Deutsch als Fremdsprache am Goethe-Institut zeigt sich, dass die Faszination der deutschen Sprache stark von ihrer Andersartigkeit bezüglich des Italienischen ausgeht, wozu auch ihre Logik und lernaufwändige Grammatik gehören. Die Aussagen stimmen in weiten Teilen mit den Ergebnissen früherer Untersuchungen in Süditalien (Hoffmann 2006a, 2010b) überein und bestätigen 71 Damit sind Studiengänge gemeint, bei denen ein(e) oder zwei Vorlesung(en)/ Seminar(e) in „Deutsch als Fremdsprache“ zu belegen sind, sowie die Studiengänge mit Deutsch als Hauptfach. <?page no="180"?> 180 „Deutsch als Herausforderung“ als entscheidende Motivation für die Wahl dieser Fremdsprache in Italien sowie in Europa (vgl. Fischer 2006, Riemer 2005). Für die vorliegende Untersuchung ist interessant, dass in der Experimentalgruppe stärker die Schwierigkeit des Erlernens der deutschen Sprache und der Unterschied zur Muttersprache bemerkt wird. Exemplarisch drückt diesen Sachverhalt Antonio (FB 1) aus: „Sebbene la costruzione della frase è spiazzante per noi italiani, quanto meno ad un primo approccio, le regole grammaticali affinano la nostra logica“ (Obwohl uns Italiener die Satzstruktur besonders am Anfang desorientiert, stärkt die Grammatik unsere Logik.). Das „Durcheinander“, das die deutsche Sprache bei „uns Italienern“ auslöst, wird augenscheinlich durch ihre logische Grammatik wieder ausgeglichen. Die Wahrnehmung des Deutschen als anders in Bezug sowohl auf die Muttersprache als auch auf die erste Fremdsprache Englisch koppelt sich in der Experimentalgruppe bezüglich des methodischen Vorgehens auch an eine stärkere Berücksichtigung des Hörverstehens und ein massiveres Vokabeltraining (Frage 2) und findet auch in der Priorität der Methode als Kriterium bei der Kurswahl am Goethe-Institut ihren Niederschlag (Frage 4). Die deutsche Sprache befremdet aber nicht nur, anfänglich schreckt ihre komplexe Grammatik förmlich ab (Liliana) und lässt das Erlernen als einen unüberwindbaren Berg erscheinen: „All’inizio guardavo alla lingua tedesca come una montagna insormontabile“ (Am Anfang kam mir das Deutsche wie ein unüberwindlicher Berg vor, Sandra). Diese negativen Gefühle weichen mit der Zeit und führen zu einer positiveren Haltung (Frage 3). Bei der Vergleichsgruppe ist der Grund, der zu einem veränderten Zugang zu der deutschen Sprache geführt hat, bei allen ein wachsendes Interesse und eine stärkere Motivation. In beiden Gruppen evoziert die Frage 3 Emotionen: In der Experimentalgruppe motivieren diese einen „vorsichtigen“ Zugang, in der Vergleichsgruppe erhöhen sie die Lernmotivation, lösen Begeisterung aus. Frage 6 und 9, die auf den Spaßfaktor und das Hauptinteresse am Kurs fokussieren, bestätigen - wie bereits ausgeführt (s. 3.3.3) -, dass das zentrale Anliegen der Schüler am Goethe-Institut, aber nicht nur hier, sondern auch allgemein der italienischen Deutschlernenden, die mündliche Kommunikation ist. Es ist aber auch hinzuzufügen, und das zeigt auch die Relevanz, die die Schüler der Abwechslung im Unterricht zuschreiben (Frage 4), dass die Lernenden am Goethe-Institut im Prinzip in allen Kompetenzen gefördert werden möchten. Der „alte Kern“ in der Experimentalgruppe ist größer als in der Vergleichsgruppe (Frage 5). Hier befinden sich auch mehr Lernende, die schon über das normale B1-Kurspensum hinaus Kurse besucht haben. Arbeiten und Leben in Deutschland motiviert bei einem Großteil der Kursteilnehmer die Entscheidung, Deutsch zu lernen. Allerdings enthält keiner der <?page no="181"?> 181 Fragebögen konkrete Angaben darüber, zumal einige Lernende noch nie in Deutschland gewesen sind oder sich noch mitten in der Schulausbildung befinden. Das grundsätzliche Interesse, eine Arbeit zu finden und sich diese in Deutschland vorzustellen, ist in einer Region wie Sizilien mit ständigem wirtschaftlichen Notstand und mit einer entsprechenden Emigrationsgeschichte stark verbreitet (vgl. Hoffmann 2008a, 2010b). Inwieweit dieses Ziel als realistisch wahrgenommen wird bzw. wirklich motiviert, muss im Einzelfall untersucht werden. 4.1.3 Sprachstandserhebungen Im Folgenden werden die Ergebnisse der drei Sprachstandserhebungen im Mündlichen aufgeführt, die im Anschluss an die Auswertung des Fragebogens, also rund sechs Wochen nach Kursanfang, anschließend am Kursende und sechs Wochen danach, in der Experimental- und in der Vergleichsgruppe durchgeführt wurden. In den Teilkompetenzen sowie für die Gesamtsumme wurde im Klassensatz der Mittelwert erstellt und die Differenz zwischen EG und VG berechnet. Um die Lernentwicklung in beiden Gruppen festzustellen, enthält die Tabelle des zweiten und dritten Tests außerdem die Differenz zu dem bzw. den jeweils vorherigen. Die 1. Sprachstandserhebung (Tab. 17) zeigt insgesamt einen besseren Leistungsstand bei der Vergleichsgruppe (+1,11). In der Ausdrucksfähigkeit ist der Unterschied am größten (+0,51), dagegen im Rahmen der Aussprache gering (+0,114). Zu der Anfangssituation in ihrer Gruppe sagt die Kursleiterin der EG Folgendes: Am Anfang war die Kurskonstellation „relativ schwierig“ (00.32). Es gab eine Gruppe, die nun schon im dritten Jahr gemeinsam bei ihr den Kurs besucht, ein „eingespieltes“ Team sozusagen, und drei Lernende (Michele, Antonio und Chiara), die den B1-Kurs wiederholen „mussten“ und „die darüber nicht sonderlich glücklich waren“ (00.59). Das führte anfänglich zu Spannungen und Schwierigkeiten in der Interaktion mit ihr und in der Gruppe. Besonders offenkundig waren diese im Umgang mit Chiara. „Dazu kommt, dass die A2 Gruppe eine sehr gute Gruppe war, während die Wiederholer eher schlechter waren.“ <?page no="182"?> 182 1. SPRACHSTANDSERHEBUNG 72 EG Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte insg. Dora 1,5 2 1 2,5 7 Michele 2 2,5 2 2 8,5 Emilia 2 2 2,5 3 9,5 Chiara 0,5 0,5 1 2,5 4,5 Liliana 2 2 1,5 3 8,5 Bettina 4 4 4 3 15 Sandra 2 2 3 3 10 Gianni 0,5 0,5 1 2,5 4,5 Ferdinando 2 2 2,5 3 9,5 Antonio 1,25 1,75 1 1,5 5,5 insg. 17,75 19,25 19,5 26 82,5 Mittelwert 1,775 1,925 1,95 2,6 8,25 Differenz zur VG -0,51 -0,253 -0,228 -0,114 -1,11 VG Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte insg. Enrico 2,5 2 2 2,5 9 Silvio 1,75 1,75 1,5 2,5 7,5 Beatrice 2,25 2 2,25 3 9,5 Barbara 2,5 2,5 2,5 3 10,5 Marta 3 3 3 2,5 11,5 Giulia 1,5 2 1,5 2,5 7,5 Laura 2,5 2 2,5 3 10 insg. 16 15,25 15,25 19 65,5 Mittelwert 2,285 2,178 2,178 2,714 9,36 Tab. 17 ̶ 1. Sprachstandserhebung im Klassensatz Dazu sei aber angemerkt, dass es in dem vorliegenden Test nicht ausschließlich die Werte der Wiederholer sind, die das Gesamtniveau drosseln und die die 2- Punkte Grenze unterschreiten. Einen besseren Start scheint die Vergleichsgruppe zu haben, die von der Kursleiterin als „von Beginn ein angenehmer Kurs“ bezeichnet wird, was sich allerdings nicht auf die Leistung bezieht, sondern auf das allgemeine Klassenklima. 72 Um bei der Beurteilung möglichst genau differenzieren zu können, wurde auch mit Zwischenwerten gearbeitet, wie 1-2 = 1,5; +/ - = + 0,25/ -0,25, 1-2 = 1,75 <?page no="183"?> 183 2. SPRACHSTANDSERHEBUNG EG Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte insg. Michele 2 2,5 2 2,5 9 Emilia 2,75 2,75 3 3 11,5 Chiara 2 2 2,5 3 9,5 Liliana 3,25 3,25 2,75 3 12,25 Bettina 3,5 3,5 3,5 3 13,5 Sandra 2,75 2,5 2,75 3 11 Gianni 2 2 2 3 9 Ferdinando 3,25 3,25 2,75 3 12,25 Antonio 2,25 2,75 2,75 1,75 9,5 insg. 23,75 24,5 24 25,25 97,5 Mittelwert 2,638 2,722 2,66 2,805 10,83 Differenz zur 1. SSE +0,863 +0,797 +0,71 +0,205 +2,58 Differenz zur VG +0,038 +0,072 -0,09 -0,095 -0,07 VG Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte Insg. Enrico 2,75 2,75 2,75 3 11,25 Silvio 2 2 2 2,5 8,5 Beatrice 2,25 2,25 3 3 10,5 Marta 3,75 3,75 3,5 3 14 Laura 2,25 2,5 2,5 3 10,25 insg. 13 13,25 13,75 14,5 54,5 Mittelwert 2,6 2,65 2,75 2,9 10,9 Differenz zur 1. SSE +0,315 +0,472 +0,572 +0,186 +1,54 Tab. 18 ̶ 2. Sprachstandserhebung im Klassensatz In der 2. SSE (Tab. 18) am Ende der Kurse lässt sich feststellen, dass die EG in Bezug auf ihren allgemeinen Sprachstand im Mündlichen einen größeren Fortschritt gemacht hat (+2,58) als die Vergleichsgruppe (+1,54), so dass beide Klassen am Ende des Kurses ungefähr gleich abschneiden (VG +0,07). Die EG verbessert sich am meisten in der Ausdrucksfähigkeit (+0,863), weist aber auch Fortschritte in der Aufgabenbewältigung (+0,797) und in der formalen Richtigkeit (+0,71) auf. In beiden Teilbereichen erreicht sie damit sogar einen leichten Vorsprung gegenüber dem Niveau der VG. Die Werte in der Aussprache ändern sich nur geringfügig. Die VG macht den größten Lernschritt im Be- <?page no="184"?> 184 reich der formalen Richtigkeit (+0,572); hier sowie in der Aussprache bleibt sie, wenn auch nur geringfügig, der EG überlegen. Zu dem Lernverlauf in der VG äußert sich die Kursleiterin: Drei sind in den ersten Monaten nur selten gekommen, was sich auf das Klassenklima negativ ausgewirkt hat, auf die Beziehung untereinander und auf den Unterricht. Am Ende, so die letzten zwei Monate, als es klar war, dass diese Personen nicht mehr kommen würden, hat sich das dann eingespielt. Das war für die verbleibenden Teilnehmenden dann besser. Auch in der EG haben sich die Anfangsschwierigkeiten in den letzten Monaten gelegt. 3. SPRACHSTANDSERHEBUNG EG Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte insg. Michele 2 2,5 2 2,5 9 Emilia 3,25 3,25 2,75 3 12,25 Chiara 2,25 2,75 4 3 12 Liliana 4 4 3,75 3 14,75 Bettina 4 4 3,75 3 14,75 Sandra 3,75 3,75 3,25 3 13,75 Gianni 3 2,75 3,5 3 12,25 Ferdinando 3,5 4 2,25 3 12,75 Antonio 3 2,5 2,75 2 10,25 insg. 28,75 29,5 28 25,5 111,75 Mittelwert 3,194 3,277 3,111 2,833 12,45 Differenz zur 1. SSE +1,419 +1,352 +1,161 +0,233 +4,17 Differenz zur 2. SSE +0,556 +0,555 +0,45 +0,028 +1,59 Differenz zur VG +0,794 +0,827 +0,61 -0,067 + 2,17 <?page no="185"?> 185 VG Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache insg. Enrico 2,75 2,75 2,75 3 11,25 Silvio 2 2 2,25 3 9,25 Beatrice 2,5 2,5 3 2,5 10,5 Marta 3 3,25 2,75 3 12 Laura 1,75 1,75 1,75 3 8,25 insg. 12 12,25 12,5 14,5 51,25 Mittelwert 2,4 2,45 2,5 2,9 10,25 Differenz zur 1. SSE + 0,115 +0,272 + 0,322 +0,186 + 0,89 Differenz zur 2. SSE -0,2 -0,2 -0,25 +/ - -0,65 Tab. 19 ̶ 3. Sprachstandserhebung im Klassensatz Der Nachtest zeigt eine kontinuierliche Verbesserung der mündlichen Leistung in der EG (+1,59), deren Lernzuwachs erwartungsgemäß im Vergleich mit dem ersten Lernsprung (+2,58) abnimmt, aber nicht durch einen Lernverlust wie in der VG gekennzeichnet ist (-0,65). Insgesamt hat die EG langfristig deutlich mehr dazugelernt als die VG (+2,17). Einen signifikanten Lernzuwachs bestätigt auch die Kursleiterin: In der abschließenden Bewertung sagt sie, dass sie „total zufrieden mit dem Kurs“ (6.50) ist. Alle haben den Abschlusstest, einen Modellsatz B1, bestanden: „Das fand ich ganz toll“ (7.22), „ein richtiger Erfolg“ (8.04), eben auch die drei, die keine guten Schüler sind (9.45). Bemerkenswert findet sie, dass die Gruppe am Kursende ihren Lernfortschritt alle mit 2 oder 3 eingestuft hat, also nicht mit „sehr gut“, während für sie selbst der „Lernfortschritt in der Gruppe wirklich eklatant war. Ich hab gedacht, die haben wirklich große Lernfortschritte gemacht. Jeder auf seine Weise“ (12.30-12.34). […] Der Fortschritte im Sprechen sind sie sich auch bewusst, sie wissen, dass sie jetzt auf Deutsch kommunizieren können. Die Kursleiterin der VG gibt kein Gesamturteil ab, sondern bewertet die Fortschritte der einzelnen Lernenden. Der Lernfortschritt in der EG erreicht den Mittelwert von +4,17. Die größten Fortschritte lassen sich in der Ausdrucksfähigkeit (+1,419) und in der Aufgabenbewältigung beobachten (+1,352). Die Anfangsschwierigkeiten in diesen Teilkompetenzen verringern sich allmählich im Kursverlauf und werden auch nach Kursende weiter abgebaut (+0,556 und +0,555). In Bezug auf das Anfangsresultat beträgt bei der VG der Mittelwert im Nachtest +0,89, wobei dagegen im Vergleich zum zweiten Test am Ende des Kursjahres deutliche Einbußen in sämtlichen Teilkompetenzen bis auf die Aussprache zu registrieren sind. Die <?page no="186"?> 186 Gruppe lernt langfristig am meisten im Formalen hinzu (+0,322). Das Niveau der Aussprache variiert in beiden Klassen nur geringfügig (EG +0,233, VG +0,186), auch der Lernzuwachs in diesem Teilbereich weist keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen auf (EG -0,067). Diese Ergebnisse deuten auf ein mittel-/ langfristig effektiveres Lernen in der EG hin. Während der Nachtest in der VG einen Stillstand bzw. Rückschritt im Lernprozess nachweist, lässt sich in der EG beobachten, dass der Lernprozess in allen Teilkompetenzen voranschreitet, d.h., die Gruppe lernt kontinuierlich während der Unterrichtszeit und baut bemerkenswerterweise auch noch nach Kursende ihr Wissen und Können weiter aus. Die anfänglich bessere mündliche Kompetenz der VG, besonders in der Ausdrucksfähigkeit, aber - wenn auch weniger eklatant - in den anderen Teilkompetenzen, erweitert sich im Kursjahr, hinkt aber dem Fortschritt der EG hinterher. Diese Ergebnisse geben zu der Annahme Berechtigung, dass der verstärkt bewusste und durch die Lernberatung gesteuerte Zugang, für den die ältere Lerngruppe wahrscheinlich grundsätzlich empfänglicher war, zu dieser besseren Gesamtleistung geführt hat. Außerdem zeigen die Werte der 3. SSE, dass sich das erlangte Wissen auch nach ausbleibendem input konsolidiert und sogar in allen Teilbereichen leicht ausgebaut wird, während bei mangelnder Unterrichtspraxis und fehlendem Sprachkontakt das Lernen der VG stagniert bzw. ihre mündliche Kompetenz abnimmt. Die beiden Gruppen gemeinsamen geringen Veränderungen im Bereich der Aussprache erklären sich zunächst mit den schon hohen Anfangswerten in den zwei Klassen, geben aber auch zu Überlegungen bezüglich der effektiven Schwierigkeit, die Aussprache in der Fremdsprache zu schulen bzw. zu korrigieren, Anlass (vgl. 1.5). Darüber hinaus sei auch bemerkt, dass niemand aus der Experimentalgruppe Ausspracheprobleme als Lernvorhaben elizitiert. <?page no="187"?> 187 4.1.4 Interaktion im Unterricht 73 Die Videografien sollen einmal Aufschluss geben über die Frequenz sowie die Art und Qualität 74 der Wortmeldungen in der EG. Dazu erfolgte zunächst die Sequenzierung und Kategorisierung sämtlicher Wortmeldungen. Auf einer zweiten qualitativen Ebene wurden bei der Untersuchung der Einzelfälle ausgesuchte Redebeiträge transkribiert und hinsichtlich der Forschungsfragen analysiert (s. 3.3.2.2). Die erste Tabelle (Tab. 20) enthält die Anzahl aller Wortmeldungen in Relation zu der aufgenommenen Unterrichtszeit 75 . Der errechnete Mittelwert wurde anschließend grafisch dargestellt (Abb. 12). Datum 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 19.3. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Aufnahmezeit in Minuten 32 82 78 65 - 84 66 86 81 85 Anzahl der Wortmeldungen 77 122 174 131 - 213 175 189 191 193 Mittelwert 0,42 0,67 0,45 0,50 - 0,39 0,38 0,46 0,42 0,44 Tab. 20 ̶ Wortmeldungen in Relation zur Unterrichtszeit 73 Von Mitte Februar bis Mitte März fanden aufgrund Ausfalls der Lehrkraft wegen Krankheit bzw. Vertretung keine Aufnahmen statt. In diesem Zeitraum wurde nur an einem Termin (19.3.11) zwar aufgenommen, das Material aber nicht bei der Sequenzierung ausgewertet. Von den geplanten zehn Mitschnitten liegen daher nur neun vor. Es handelt es sich hierbei um den gesamten Unterrichtsverlauf der ersten beiden von vier Unterrichtseinheiten und um die verbale Interaktion in der Großgruppe. Ein mehrfach durchgeführtes Spiel zum Vokabeleraten, in dem zwei Gruppen gegeneinander antraten, wurde aufgenommen, aber nicht bei der Quantifizierung der Unterrichtszeit berücksichtigt, sondern nur bei der qualitativen Analyse, da sich hier zwei Unterrichtsgeschehen parallel abspielten und sich dies von dem sonstigen Verlauf unterschied. 74 Bei „Art“ wird zwischen selbst- und lehrerinitiiert unterschieden. Unter Qualität fällt die Differenzierung zwischen Antwort, Frage, eigenständiger Beitrag und Vorlesen. Die Zählung der Wortmeldungen erfolgt auf der Grundlage von Sequenzen. Hierbei können auch mehrere Wortmeldungen einer Person eine Sequenz bilden, wenn der direkte inhaltliche Bezug zum Thema erhalten bleibt. Der Sprechanteil der Kursleiterin wird nur mitgerechnet, wenn er sich innerhalb des Redewechsels befindet. Einwürfe von anderen Kursteilnehmern innerhalb der Sequenz werden unter dem entsprechenden Namen nochmals als solche aufgeführt, d.h., hier können sich bei den Sequenzen die Minutenangaben überschneiden. 75 Bei dem ersten Termin (22.1.11) ist die Aufnahmezeit stark reduziert, da eine Kursteilnehmerin anfänglich Probleme damit hatte, gefilmt zu werden, außerdem handelt es sich um die 3. und 4. Unterrichtsstunde. <?page no="188"?> 188 Abb. 12 ̶ Grafische Darstellung der Wortmeldungen in Relation zur Unterrichtszeit Durchschnittlich zwei Wortmeldungen pro Minute bescheinigen sicherlich die von der Kursleiterin bemerkte rege und relativ gleich bleibende Beteiligung und eine gelungene Unterrichtskommunikation (s.o.), wobei die verminderte Partizipation am 29.1.11 auf eine verhältnismäßig lange Hörübung zurückzuführen ist. Die geringen Schwankungen hängen ansonsten von dem Unterrichtsstoff und der damit verbundenen Sozialform ab. Um die Art der Beteiligung (Tab. 21) im Hinblick auf ihre Intentionalität zu überprüfen, wurde zwischen selbst- und lehrerinitiiert (SI/ LI) differenziert: Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. insg. insg. 77 122 174 131 213 175 189 191 193 1465 davon SI 76 101 140 117 205 166 162 151 169 1287 davon LI 1 21 34 14 8 9 27 40 24 178 Tab. 21 ̶ Art der Beteiligung Von den insgesamt 1465 Wortmeldungen sind 1287 selbst- und 178 lehrerinitiiert. Erwartungsgemäß überwiegen am Goethe-Institut Palermo und im Gegensatz zum Schulkontext (vgl. Schwab 2009: 149) selbstinitiierte Redebeiträge, denn im Normalfall handelt es sich bei den Kursteilnehmern um an Interaktion interessierte Personen (s.o.). Adressierte Fragen bzw. Aufforderungen sich zu äußern, finden wir meist bei der Hausaufgabenkontrolle, die bei den aufgenommenen Unterrichtseinheiten immer am Anfang stattgefunden hat und auf die circa 2/ 3 der lehrerinitiierten Wortmeldungen entfallen. Dementsprechend handelt es sich bei den lehrerinitiierten Beiträgen zum Großteil um das Vorlesen <?page no="189"?> 189 von Sätzen aus Übungen, während die selbstinitiierten Wortmeldungen mehrheitlich Antworten auf Lehrerfragen sind, d.h. anders als bei Garton (2002: 48), die bei „Lernerinitiative“ Reaktionen auf Lehrerfragen ausschließt und darunter lediglich Fragen und Beiträge fasst, wird in der vorliegenden Untersuchung der Begriff „selbstinitiiert“ auf jedwede freiwillige Äußerung ausgedehnt. Dennoch entspricht das Klassengespräch am Goethe-Institut nur bedingt einer „form of institutional talk“ (Garton 2002: 47) und das Ergebnis dem gängigen Schema: Lehrerfrage - Schülerantwort - Lehrerfeedback (vgl. Schwab 2009: 150), denn die Lehrende leitet als durchgehende Methode die an sie gerichteten Fragen an die Schüler weiter, d.h., es werden damit indirekt auch Schülerfragen beantwortet. Es bezeugt aber darüber hinaus auch eine Unterrichtsführung, in der schwerpunktmäßig in der Großgruppe gearbeitet wird, in die die Fragen aus den Partner- und Kleingruppenarbeiten gesammelt einfließen und wo die muttersprachliche Dozentin als zentrale Figur das Lernen arrangiert. 76 Auf eine Quantifizierung der Länge der einzelnen Wortmeldungen auf Klassenebene wurde verzichtet, weil die Anzahl längerer Beiträge (über eine Minute Sprechzeit) oder Sequenzen mit mehreren turns (mehr als drei) unerheblich ist. Einzelne relevante Beiträge fanden in der Einzelfallanalyse Berücksichtigung. Auch ein quantitativer Vergleich der gesamten Wortmeldungen der Kursteilnehmer untereinander erschien mir wenig aussagekräftig für die Forschungsfragen und auch irreführend wegen der Fehlzeiten einiger Teilnehmer. Die Daten der Unterrichtsbeteiligung der Lernenden werden wie oben im Rahmen der jeweiligen Fallstudie herangezogen. Dazu eine Übersicht: Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Dora - 9 7 9 - - - - - Michele 0 - 14 13 8 5 - 6 9 Emilia 2 11 13 24 27 11 24 22 17 Chiara 4 22 21 6 23 18 33 45 11 Liliana 21 - 25 33 - 35 32 - 23 Bettina 10 10 - 9 - - - - 13 Sandra 20 23 16 21 74 50 - 42 58 Gianni - 7 7 9 17 12 11 12 4 Ferdinando 14 29 46 - 49 36 69 51 39 Antonio 6 11 25 7 15 8 20 13 19 Tab. 22 ̶ Anzahl der Wortmeldungen 76 Dies wurde besonders in der Stunde vom 19.3.11 deutlich, in der eine Praktikantin vertreten hat, deren Unterrichtsführung sich darin unterschied, dass sie bei kollektiven Arbeitsformen in die Gruppen „hineinging“ und damit Fragen kleingruppenintern und nicht in der Klasse beantwortet wurden. <?page no="190"?> 190 Die vorgenommenen Quantifizierungen sollten den Rahmen für den qualitativen Teil der Untersuchung abstecken. Vor allem galt es, die Unterrichtssituation am Goethe-Institut allgemein und speziell in dem untersuchten Kurs zu erfassen und damit das weitere Verfahren zu begründen. 4.2 Einzelfallanalysen Von den neun Lernenden, die den Sprachkurs am Goethe-Institut beendet haben, liegen sämtliche Datensätze vor, die jedoch eine sehr unterschiedliche Dichte aufweisen, wobei sich ihre stärkere oder schwächere Aussagekraft ausgleicht, und das Material damit eine differenzierte Betrachtung der Lerngeschichte und des Lernvorhabens, eine Wertung des Lernstands und die Analyse der Interaktion im Unterricht zulässt. Die Zusammenschau mündet im Fazit in der schematischen Darstellung des Lernprozesses (s. 2.5). Auf der Grundlage der Interpretation konnten die Lernprozesse hinsichtlich ihres Bewusstseinsgrades auf einer dreistufigen Skala festgehalten werden, wobei mit dieser Anordnung nicht zwingend eine Progression intendiert ist, d.h., wer betont bewusst lernt, kann, muss aber nicht, in seinem Weiterlernen verstärkt auf assoziative Prozesse zurückgreifen, genauso wenig lässt sich von verstärkt assoziativen Vorgängen darauf schließen, ob und in welchem Ausmaß die bewusste Phase durchlaufen wurde. Es handelt sich somit nicht um eine grafische Darstellung der von Anderson konzeptualisierten Übergänge vom deklarativen Wissen über prozedurales Können (s. 1.1.1), sondern primär um eine Bestimmung des individuellen Zugangs im untersuchten Zeitabschnitt: Michele Antonio Gianni Emilia Chiara Sandra Ferdinando Bettina Liliana I______I______I______I_______I______I______I______ I______I betont bewusst bewusst und assoziativ verstärkt assoziativ Abb. 13 ̶ Grafische Zuordnung der Lernenden zu bewusstem vs. assoziativem Lernen 4.2.1 Betont bewusste Lernprozesse 4.2.1.1 Michele 4.2.1.1.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben Es handelt sich bei Michele um einen Lernenden Ende dreißig, der nach eigenen Angaben verschiedene Studiengänge u.a. mit den Hauptfächern Englisch und Französisch absolviert hat und sich im Moment der Datenerhebung im Spanischen Grundkenntnisse aneignet (LB 1/ 6). In Bezug auf die ersten beiden <?page no="191"?> 191 Fremdsprachen spricht er von einem „livello di brillantezza“ (brillanten Niveau, LB 1/ 69). Dieses Vorwissen lässt sich allerdings im Unterricht nicht nachweisen, weder in (bewussten) interlingualen Bezügen noch in Form unbeabsichtigter Interferenzen. 77 In den Lernberatungen gibt es keinerlei Hinweise auf eine derartig intensive fremdsprachliche Ausbildung sowie auch datenübergreifend nicht auf eine fachlich geschulte Ausdrucksweise zurückgegriffen wird. Vor dem Hintergrund der belegten Studiengänge verwundert es auch, dass der Lernende noch nie Auslandsreisen unternommen hat (LB 1/ 8, 50). Es entsteht der Eindruck, dass er sich seine Kenntnisse mithilfe von Selbstlernkursen aufgebaut hat (LB 1/ 24, 26, 75, 79, LB 2/ 50, LB 3/ 4). Michele hat nach eigenen Aussagen (Privatgespräch) noch nie gearbeitet, auch wenn er diesbezüglich ausweichend antwortet, und besitzt keinerlei konkreten Vorstellungen darüber, wie er das Deutsche einsetzen möchte. Er hat sich wiederholt in den B1-Kurs eingeschrieben, weil er im vergangenen Jahr erhebliche Schwierigkeiten gehabt hat, dem Unterricht zu folgen: […] per esempio, nelle prove di ascolto che ho fatto l’anno scorso ho avuto molte difficoltà perché non riesco a comprendere, diciamo il settanta per cento, quindi magari se indovino qualche cosa ci vado ad intuito perché sento magari qualche vocabolo, ma non perché riesco ad afferrare il senso del discorso (LB 1/ 8) […] zum Beispiel bei den Prüfungsteilen im Hörverstehen, die ich im letzten Jahr gemacht habe, habe ich große Schwierigkeiten gehabt, weil ich circa 70 % nicht verstehe. Ich rate oder verlasse mich auf meinen Instinkt, weil ich vielleicht ein Wort, aber nicht den ganzen Sinn verstehe. Er kannte die Lehrkraft nicht, hatte aber am Goethe-Institut zuvor drei Kurse besucht. Die deutsche Sprache beurteilt er wegen ihrer Grammatik, aber besonders ihrer „zu langen Wörter“ (vocaboli troppo lunghi“, FB 1, auch FB 2, 9) als schwierig. Daher lernt man Deutsch auch anders als andere Sprachen (FB 2); eine Aussage, die in der Lernberatung als ein „Mehr“ an Üben erklärt und insofern revidiert wird (LB 1/ 28), als dass das Lernvorgehen das gleiche bleibt. Einerseits schätzt er es, dass die Unterrichtssprache Deutsch ist, andererseits bemängelt er das aufgrund der erwähnten Schwierigkeiten beim Hörverstehen (FB 4, 6). In der ersten Lernberatung kommt er immer wieder auf seine mangelnden Vokabelkenntnisse zu sprechen (LB 1/ 6, 8, 10, 28, 45, 47, 63, 71, 72, 77), woraus zu entnehmen ist, dass sein Lernbedürfnis hier ansetzt: 77 In den videografierten Unterrichtsmitschnitten benutzt Michele zweimal versehentlich englische Ausdrücke: supermarket (Video 6b/ Michele 2) und european (Video 6b/ Michele 4). <?page no="192"?> 192 […] perché le altre lingue, quando ho studiato le altre lingue soprattutto mi sono concentrato sull’apprendimento di molti vocaboli e poi da lì, chiaramente poi la lettura dei testi, per comprendere i testi anche l’ascolto, perché se non si conoscono molti vocaboli già sei penalizzato. (LB 1/ 10) […] weil ich mich in den anderen Sprachen, die ich gelernt habe, vor allem auf die Vokabeln konzentriert habe, viele Vokabeln, und daran ansetzend das Lesen von Texten, und um die Texte zu verstehen auch das Hören, denn wenn man nicht viele Wörter kennt, ist man gleich schon im Nachteil. Sein bisheriges Vorgehen zum Vokabelerwerb beschreibt er wie folgt: […] quindi magari cominciare a prendere in considerazione i vocaboli che non si conoscono, scriverli sul quaderno, cercare di memorizzarli e poi il giorno dopo fare un ripasso vedendo quali vocaboli, di quali vocaboli si ricorda il significato e (quindi) così già una buona parte di vocaboli in più entra nella memoria. (LB 1/ 77) […] also vielleicht bei den Vokabeln ansetzen, die man nicht kennt. Die schreibt man in ein Heft und versucht, sie sich zu merken. Am nächsten Tag wiederholt man die und sieht, an welche Bedeutung man sich erinnert. So bleibt einem ein Gutteil der Vokabeln im Gedächtnis. No, no là ci sono proprio dei glossari quindi, diciamo, copiarli sul quaderno, memori, ripeterli ad alta voce e poi il giorno dopo vedere se si, se partire diciamo dal vocabolo, secondo me italiano, non da quello tedesco perché magari il vocabolo tedesco, se si legge il vocabolo tedesco il significato si si si ricorda, leggere la parola italiana è più difficile ricordare come si traduce in tedesco. (LB 1/ 79) Nein, da (im Selbstlernkurs, SH) gibt es richtige Glossare, die schreibt man ab in ein Heft und lernt und wiederholt die laut. Am Tag darauf setzt man m.E. am besten an der italienischen Vokabel an, nicht an der deutschen, denn wenn man die liest, erinnert man sich leichter an die (italienische, SH) Bedeutung. Die italienische Vokabel lesen, das ist schwieriger, sich daran zu erinnern, wie man die ins Deutsche übersetzt. Michele plädiert für zweisprachige Vokabelhefte und prüft, inwieweit er die Begriffe gelernt hat, indem er die deutsche Bedeutung abdeckt. Ob diese Methode die einzige ist, die man ihn in der Schulzeit oder während seiner universitären Ausbildung gelehrt hat, geht nicht hervor. Sicherlich ist davon auszugehen, dass er am Goethe-Institut mit anderen Vorgehensweisen vertraut gemacht worden ist. Da er hinzufügt, dass diese Wortlisten wohl auch thematisch geordnet sein können (LB 1/ 81, 83), schlage ich ihm vor, verstärkt die Vokabeln der im Unterricht behandelten Themen zu sammeln und diese zu lernen bzw. zu wiederholen, worauf er auch eingeht (LB 1/ 85). Das Tagebuch enthält nur fünf recht einsil- <?page no="193"?> 193 bige Eintragungen, die zweimal „Vokabellernen“ vermerken (TB 17. und 24.2.2011). Allerdings fügt er hinzu, dass er manches gemacht, aber nicht eingetragen habe. Auch in der zweiten Lernberatung klagt Michele darüber, dass ihm die nötigen Vokabelkenntnisse fehlen: No, so che la mia preparazione non è buona quindi diciamo, però ho sempre questa difficoltà, che devo ricordarmi come si dice quella parola, anche per quanto riguarda l’ascolto è più del settanta per cento, io molte volte quando c’è l’ascolto in classe mi affido solo all’intuito, cioè, magari se sento una parola che è presente nella frase, di cui si deve dare la risposta, allora posso capire se la frase è giusta o sbagliata, a livello proprio di comprensione non non riesco a comprendere quasi niente, e praticamente dovrei esercitarmi nell’ascolto, però prima devo riuscire a memorizzare un certo numero di vocaboli (LB 2/ 14) Nein, ich weiß, dass meine Kenntnisse noch nicht ausreichen, ich habe immer diese Schwierigkeit, dass ich mich erinnern muss, wie man das Wort sagt. Auch in Bezug auf das Hörverstehen. Bei über 70 % von dem, was ich höre, verlasse ich mich nur auf die Intuition. Wenn ich vielleicht ein Wort im Satz höre, das in der Antwort vorkommt, dann verstehe ich, ob der Satz richtig oder falsch ist. Aber verstehen, so richtig verstehen, tue ich fast gar nichts, also ich müsste mein Hörverstehen üben, aber vorher muss es mir gelingen, eine gewisse Anzahl an Vokabeln zu merken. In dem Gespräch insistiere ich darauf, dass der Vokabelerwerb in semantischen Zusammenhängen fruchtbarer ist, und erwähne Formen von Assoziogrammen, die dieses Lernen fördern (LB 2/ 37, 39, 45, 57, 65). Der Lernende geht im Gespräch aber nicht darauf ein und wiederholt seine Technik des Vokabelabdeckens (LB 2/ 49, 50, auch 61, 62). Im dritten Beratungsgespräch bleibt zu konstatieren, dass er die veranschlagten Übungen nicht oder nur ansatzweise gemacht hat (LB 3/ 2, 10, 14). Der Abschlusstest im Kurs bestätigt Probleme im Hörverstehen (LB 3/ 4), bei dem er die meisten Fehler gemacht hat. Darüber hinaus erwähnt er diverse Schwierigkeiten im Schriftlichen: […] e infatti comunque ho notato anche, siccome nel nel test c’era anche una lettera, diciamo sono ho visto che non ho fatto poi così moltissimi errori rispetto a, quando ho fatto le varie lettere durante l’anno ne facevo di più, il problema, però riguardo la lettera appunto che a volte magari mi confondo, quando c’è la frase secondaria a volte mi mi dimentico che il il soggetto va prima, va subito dopo la congiunzione e magari la lo mettevo dopo e infatti, come ho notato, c’erano molti errori riguardanti l’ordine, cioè le cose che andavano prima io le mettevo dopo, magari il soggetto dopo il verbo o viceversa. (LB 3/ 14) <?page no="194"?> 194 […] Ich habe nämlich gemerkt, dass ich im Brief im Test gar nicht so viele Fehler wie während des Jahres gemacht habe. Das Problem bei den Briefen ist, dass ich manchmal was verwechsle. Wenn es einen Nebensatz gibt, vergesse ich, dass das Subjekt zuerst direkt nach der Konjunktion kommt und setze das danach. Das eben, ich habe gesehen, dass ich viele Fehler in der Satzordnung gemacht habe. Das, was vorher kommt, habe ich danach geschrieben, wie das Subjekt nach dem Verb oder umgekehrt. Neben dem Fehlen an Vokabeln sind es die syntaktischen Verbindungen, bei denen Michele etwas verwechselt, vergisst (s.o.) oder bei denen er „sich verirrt“ („mi perdo“, LB 3/ 18). Und auch wenn er dem zum Trotze bekräftigt, dass nicht die Grammatik die eigentliche Fehlerquelle darstelle (s.o.), sondern die mangelnden Vokabelkenntnisse das primäre Hindernis bilden (LB 3/ 24, 30), wird hier offensichtlich, dass die Schwierigkeiten auch von einem grundsätzlichen Fehlen an Bezügen, an semantischen sowie syntaktischen Zusammenhängen, herrühren. Während der Beratungen entsteht das Gefühl von viel Unausgesprochenem und fehlender Kommunikationskompetenz − auch wenn er selbst die Gespräche positiv evaluiert (LB 3/ 24, 30) −, wobei ich nicht zu entscheiden vermag, ob Michele nicht versteht, was ich in meinen Vorschlägen intendiere, oder ob er das Gesagte für sich nicht übernehmen will. Die Meinung der Expertin festigt diesen Eindruck: Bei Michele „ist alles ziemlich fossilisiert“ (20.27). „Da hat sich auch nicht so viel verändert“ (20.53) sowohl auf das Sprechen als auch auf die anderen Kompetenzen bezogen. Etwas besser ist es wohl beim Schreiben. Im schriftlichen Ausdruck im Abschlusstest hat er dann auch nicht so schlecht abgeschnitten. Er schreibt sehr viel und macht auch viele Fehler, die formale Richtigkeit ist aber bei der B1-Prüfung eben nur ein Kriterium. Er hat Schwierigkeiten auf der kommunikativen Ebene, weil er schlecht interagieren kann. Entweder nimmt er kaum an dem Geschehen teil oder spricht sehr viel und sehr laut, beachtet dabei aber nicht die Kommunikation mit den anderen. Es ist daher kaum möglich, „mit ihm eine Kommunikation aufzubauen“ (21.55). „Der aktive Wortschatz ist wohl ziemlich gering“ (22.36). Aus der Beratung gehen Verwirrung und Vokabelerwerb mit dem Unterpunkt Übersetzen als Kernbegriffe zum Leitfaden für die weitergehende Analyse hervor. <?page no="195"?> 195 4.2.1.1.2 Lernstand SSE Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte insg. 1. 2 2,5 2 2 8,5 2. 2 2,5 2 2,5 (+0,5) 9 (+0,5) 3. 2 2,5 2 2,5 ( 0/ +0,5) 9 (0/ +0,5) Tab. 23 ̶ Sprachstandserhebungen von Michele Die Sprachstandserhebungen (Tab. 23) im Mündlichen bestätigen das Urteil der Expertin und den Eindruck aus den Beratungsdaten. Besonders im dritten Prüfungsgespräch greift er sehr oft auf das Italienische zurück, weicht also der von ihm erwähnten Anstrengung aus (LB 1/ 73, LB 3/ 18), alternative Ausdrücke oder Umschreibungen für die deutsche Übersetzung des italienischen Wortes zu suchen. Er hält seinen anfänglichen Lernstand. Der vor ihm anvisierte Zuwachs an Vokabeln lässt sich nicht feststellen. 4.2.1.1.3 Lernen im Unterricht Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.2. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Wortmeldungen imaVerhältnis zum Kurs 78 0 fehlt 14 8 % 13 10 % 84 % 53 % fehlt 63 % 95 % davon SI - 10 13 8 5 5 5 Tab. 24 ̶ Wortmeldungen von Michele Von Michele stammen nur wenige Beiträge, von denen darüber hinaus eine Vielzahl auf Italienisch ist. In dem ersten Video blättert oder schreibt der Lernende in seinem Heft und scheint dem Unterricht nur teilweise zu folgen. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses Verhalten eine Reaktion auf die Videokamera ist. Ähnliche Vermutungen trafen auch bei Chiara zu, die ihr Unbehagen mir gegenüber allerdings explizit gemacht hatte. In den Aufnahmen am 5.2. sind von den 10 selbstinitiierten Wortmeldungen 5 auf Italienisch, d.h., entweder nennt er die italienische Bedeutung von deutschen Ausdrücken oder er äußert sich auf Italienisch. Für die folgende Analyse wurden die oben kodierten Bereiche als Grundlage genommen. Aus dem vierten Unterrichtsmitschnitt stammt die folgende Sequenz im Rahmen einer Unterrichtsdiskussion, in der Kriterien bei der Wahl einer Sprachschule gesammelt werden. Die Diskussion hat in der 26.28 Minute lehrerinitiiert 78 Da in der vorliegenden Untersuchung nicht die Quantifizierung im Mittelpunkt steht, sondern mit diesen Angaben Tendenzen aufgezeichnet werden sollen, werden die Prozentsätze aufbzw. abgerundet. <?page no="196"?> 196 begonnen und leitet nach Abschluss (44.3) zum thematisch verwandten Leseverstehen über. Die folgende Sequenz (40.05-40.48) verortet sich relativ am Schluss des Gesprächs: 01 K […] das gebäude; die räume, ist das wichtig? räume. was meinst du mit räumen? ((an Liliana gerichtet)) 02 E licht. 03 K das licht. 04 E die: ((zeigt auf die Tafel und schaut zu Dora)) 05 L die weiße sache; wo du schreibst. 06 K die weiße sache; wo ich schreibe. wie heißt denn die weiße sache; wo ich schreibe? (.) wie nennt man das denn hier? ((klopft auf die Tafel)) 07 M wenn man wenn die kursteilNEHmer wenn die alle kursteilnehmer wollen wollen äh die die: die sprache lernen. 08 K okay. (-) keiner weiß; wie das weiße ding hier heißt? nein? […] Video 4a/ Michele 9 Michele ist dem Unterrichtsgespräch gefolgt und hat sich auch zuvor zweimal zu Wort gemeldet. Sein Beitrag hier steht allerdings in keinerlei Zusammenhang zur Frage bzw. zum Diskurs, auch weil das Thema Lernergruppe als Kriterium für die Wahl eines Kurses bereits zuvor angesprochen und abgeschlossen wurde (Video 4a/ Emilia 15). Der Artikel vor „alle“ ist als Übersetzungsfehler zu werten (tutti i corsisti) und relativ häufig bei italienischen Muttersprachlern zu beobachten. Auch entspricht die Stellung des Modalverbs den Regeln der italienischen Satzordnung. Die zweite Sequenz folgt einem Vergleich von zwei Sprachschulen: 01 K […] was ist für euch wichtiger, der spaß oder vielleicht das resultat, ((Durcheinanderreden)) 02 M das der zert zertifikat ist sehr wich(.)tig. aber äh äh: ähm wenn du will eine neue sprache lernen ist sehr wichtig auch die methode weil ähm zum beispiel äh fahren in andere lander fahren mit einem ähm ähm zum beispiel mit eine äh deutsche familie leben ist sehr wichtig aber äh du du kann ähm hm ähm kann alle alle alle äh alle zeit andere sprachen mit mit die leute äh und ähm: i ist zum beispiel äh: der methode ist sehr sehr wichtig aber die zertifikat i ist nur für deine curriculum come si dice? 03 K ja, curriculum ist ( ). 04 M curriculum aber [die methode] 05 K [ja. metho: de. ] habn wir auch nicht gesagt. für euch nicht so,= 06 M =zum beispiel viele viele viele leute äh ähm die probleme haben ähm a causa di? <?page no="197"?> 197 07 K wegen. 08 M weden die methode. wenn der metho die methode ist nikt gut- 09 K ja. ist das zu abstrakt? […] Video 4b/ Michele 1 In der längeren Wortmeldung (02) stammen die Fehler zunächst von Übertragungen aus dem Italienischen. So zeugen auch die zwei Fragen nach der Entsprechung der italienischen Ausdrücke davon, dass Michele beim Sprechen direkt aus der Muttersprache übersetzt. Zum anderen aber reiht er scheinbar gedankenlos und unkontrolliert Wörter wie „will“, „lander“ oder „kann“ aneinander, ohne deren syntaktische, semantische oder pragmatische Beziehung zu berücksichtigen. Es wäre davon auszugehen, dass er auf seiner Niveaustufe zu deren richtiger grammatischer Realisierung durchaus das nötige Vorwissen besitzt. Ein ähnliches sprachliches Verhalten lässt sich auch - außerhalb des sequenzierten Unterrichtsdiskurses am Anfang von Video 4b - während einer Partnerarbeit beobachten, bei der Michele viel, aber unkoordiniert spricht. Hier konkretisiert sich die von ihm in der dritten Lernberatung erwähnte Verwirrung (s.o., LB 3/ 14, 18) bei der Strukturierung von Sätzen. Auf die Frage, was ein Au-pair-Mädchen für Arbeiten verrichtet, antwortet der Lernende zu einem späteren Zeitpunkt im Kursverlauf: 01 M ein frau eine frau die arbeit arBEItet äh in eine familie äh zu zum beispiel ähm sie in äh in der supermarket geht zu (.) äh (.) zu alle alle kaufen äh arbeitet mit äh mit altere altere alte alte leute öh- 02 K hm: also mit alten leuten (.) [vielleicht] 03 M [persone anziane.] 04 K hm. eigentlich nicht mit alten leuten. […] Video 6b/ Michele 2 Wiederum bestätigt sich der Eindruck, dass der grammatische Superrevisor völlig ausgeschaltet ist, was umso mehr erstaunt, da Michele im Einklang mit seinen Mitlernern die Komplexität der deutschen Grammatik durchaus präsent ist (FB 1). Ähnlich verläuft das Gespräch, in dem die Risiken zur Sprache kommen, einen fremden Menschen in der eigenen Wohnung aufzunehmen: 01 M besser ist; keine geld haben in äh in der haus mit andere persone weil diese weil wir kö wir kennen wir kennen nicht= 02 K =genau 03 M äh von von diese persone- 04 K ähä. ähä. <?page no="198"?> 198 05 M äh. a aber nicht nur für hm au-pair au-pair: (.) personen aber äh auch für alle die persone die hm äh die arbeitet die in äh in unser unser haus arBEItet zum beispiel ähm come cameriera? 06 K ja: also wenn ihr zum beispiel einen habt; der beim putzen, also eine putzhilfe ((schreibt das Wort an die Tafel)) […] Video 6b/ Michele 3 Nachdem in dieser Stunde das Thema „Au-pair-Mädchen“ im Mittelpunkt gestanden hat und der Begriff daher häufig benutzt worden ist, verwundert es, dass er ihm beim Sprechen nicht einfällt. Michele hat in der Stunde gefehlt, in der das Kapitel Verben mit Präpositionen behandelt wurde, d.h., der grammatische Stoff ist ihm zumindest in diesem Kursjahr noch nicht begegnet: 01 M ik kon konzentriere auf äh auf (.) darüber, no? 02 K also moment moment. also vielleicht hört ihr; michele; machst, also michele, ähm macht jetzt den satz a. ähä. michele probierst du? 03 M konzentrier ik konzentriere no ich äh mik konzentriere mich konzentriere mik äh (0,5) auf ((schaut ratlos)) auf den non si deve? non si deve fare la con darauf darüben? ((Antonio sagt zu ihm: „Dopo dopo.“)) ah: ich konzentriere mik auf die die prüfung. 04 K okay. sehr gut. Video 9b/ Michele 1 01 K so. jetzt die version b. 02 M ((Während K spricht, probiert er leise für sich den Satz)) ich konzentriere mich darauf; ähm äh da dass äh die die arBEIT g gut machen, 03 E dass ich die arbeit gut mache. 04 M dass ich die arbeit gut mache. Video 9b/ Michele 2 Bei den verständlichen Schwierigkeiten in Bezug auf die Bildung und den Gebrauch der Präpositionaladverbien verfällt der Lernende in die fehlerhafte Aussprache von „ich“ und „mich“, d.h., er greift auf das Italienische zurück, wo „ch“ / k/ ausgesprochen wird, wie es auch bei dem Kursteilnehmer Antonio zu beobachten ist und in dem Zusammenhang ausführlicher behandelt wird (s.u.). Grammatische Unsicherheiten treten auch bei der Genitivbildung auf (Video 10a/ Michele 2), wobei diese jedoch auch den anderen Kursteilnehmern gemeinsam sind. In der letzten Sequenz äußert er sich zu dem falschen Freund „Raten“: <?page no="199"?> 199 01 K […] [ja zum beispiel rate als rate. gut.] 01 M [wenn wenn] du zum beispiel äh ähm kann kaufst du eine äh una macchina? 02 K ein auto- 03 M ein auto und ähm kann kann du ähm bezahlen nicht alle. 04 K ähä. 05 M und du jede jede monate äh hm bezahlen. 06 K mit raten. 07 M zum beispiel für eine äh zwei jahren drei jahren. 08 K ja; aber das ist auf deutsch auch rate. […] Video 10b/ Michele 1 Auch zum Kursende scheint sich an diesem unüberlegten Neben- und Hintereinander von Wörtern nicht viel geändert zu haben und relativ einfache Worte wie Auto scheinen nicht erinnert zu werden. 4.2.1.1.4 Fazit Micheles Lernen gleicht einem Übersetzungsakt und ist damit stark bewusstseinsbestimmt. Konstant fordert er die deutschen Übersetzungen von Ausdrücken und Wörtern aus dem Italienischen ein, auf deren Erwerb sein Lernen hauptsächlich zielt. Dazu wählt er zweisprachige Vokabellisten, ein Vorgehen, in dem der Merkwert deutlich durch die Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Wörter gedrosselt wird, weil so keine oder kaum assoziative Netze gespannt werden, die zur Aktivierung des mentalen Lexikons hilfreich und nötig sind (s. 1.1.1, 1.3). Dieses sowohl vom Kontext als auch von Kognitionen und Emotionen losgelöste Lernen mindert merklich seinen Lernerfolg. Damit lässt sich nicht nur das Fehlen eines signifikanten Lernfortschritts und seine schwache Leistung erklären, sondern auch das „syntaktische Durcheinander“, das er selbst an sich feststellt. Michele hat darüber hinaus größere grammatische Schwächen, die sich sowohl in den drei Tests als auch im Unterricht nachweisen lassen und die zum Teil das Verständnis seiner Äußerungen erheblich beeinträchtigen. Allerdings hält er konsequent an seinem Verfahren fest, obwohl ihm durch die Lernberatung und in den Kursen am Goethe-Institut andere Wege zugänglich sind. Ob sein Lernverhalten eine willentliche Verweigerung darstellt oder ob der Lernende zu einem reflexiven Zugang nicht fähig ist, vermag ich nicht zu beurteilen, da bei Michele im Rahmen der introspektiven Daten Widersprüche auftreten, die eine angemessene Analyse hinsichtlich der Forschungsfragen erschweren. Hinzu kommen Kommunikationsprobleme zwischen den Untersuchungspartnern in der Lernberatung (Forscherin/ Beraterin - Lernender). Von seinen Äußerungen und seinem Verhalten lässt sich aber sicher nur begrenzt auf die Übernahme einer Lernproblematik schließen, die sich Wege zur Erweiterung <?page no="200"?> 200 der eigenen Handlungsmöglichkeiten sucht. In diesem Sinne handelt er defensiv (Abb. 14). Genauso losgelöst wie die Aneignung seiner Vokabeln ist auch Micheles Verhalten im Klassenverband. Zwischen den Aktanten im Unterrichtsgeschehen (Lehrende, Lerngruppe - Lernender) bestehen offensichtlich Relationsschwierigkeiten (s.o.). Er scheint selbstreferenziell vor allem seinem eigenen Diskurs zu folgen. Zum Teil liegt das sicherlich in den von ihm benannten Problemen im Hörerstehen. An manchen Tagen ist auch nicht klar, ob seine Aufmerksamkeit von anderen Dingen eingenommen ist oder ob ihn der Unterrichtsstoff nicht interessiert und er daher nicht am Geschehen in der Klasse teilnimmt. Für ihn ergeben sich folglich nur wenige Gelegenheiten zu sprechen; sein output ist gering. Unter diesem Verhalten leiden aber auch die Wahrnehmung und die Aufnahme von neuem Stoff, womit sich auch sein intake reduziert. Beides trägt zu den von der Expertin genannten Fossilisierungen bei, der Stabilisierung unkorrekter Formen und Strukturen, die nicht mehr überdacht werden und nur unter größten Anstrengungen behoben werden können (s. 1.1.3). kaum Kontakt zur Gruppe Schwierigkeit, dem Unterricht zu folgen kommunikationsschwach lange Wörter, komplizierte Syntax (schwer zugänglich) kein konkretes Lerninteresse defensives Lernhandeln sehr fehlerhaftes und z.T. stockendes Sprechen mit häufigem Nachfragen (auf Italienisch) nach Vokabeln Abb. 14 ̶ Schematische Darstellung des Lernprozesses von Michele Vokabelerwerb übersetzen Erweiterung der Ausdruckfähigkeit im Schriftlichen Vokabelhefte Vokabelhefte <?page no="201"?> 201 4.2.1.2 Antonio 4.2.1.2.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben Antonio ist ein Lernender fortgeschrittenen Alters. Er verbindet mit dem Vorhaben Deutsch zu lernen den Wunsch, auf seinen Reisen, aber auch vor Ort mit Ausländern kommunizieren (FB 10) und damit andere Kulturen kennen lernen zu können (LB 1/ 1-6). Er lernt Deutsch nur am Goethe-Institut, besucht aber außerdem noch Kurse in anderen Sprachen. Auf das Goethe-Institut ist er durch die Werbung aufmerksam gemacht worden. Am meisten macht ihm das Übersetzen Spaß. Von seinen Lernerfahrungen im Englischen oder Französischen hinsichtlich der Kompetenz Sprechen sagt er während der ersten Lernberatung: Ho affrontato l’inglese per la prima volta al liceo classico, dove non è proprio rilevante lo studio della lingua inglese; e lì più che altro ho imparato a mm scrivere e a conoscere il significato delle parole, però devo dire che al termine del mio corso di studi al liceo classico non sapevo assolutamente parlare inglese (LB 1/ 40) Englisch habe ich zum ersten Mal auf dem humanistischen Gymnasium gelernt, wo diesem Fach nicht gerade besondere Wichtigkeit zukommt. Da habe ich vor allem Schreiben gelernt und die Bedeutung der Worte. Ich muss aber sagen, dass ich nach Abschluss der Schule absolut nicht Englisch sprechen konnte. Diese - wenn auch für das Sprechen erfolglose - Lerngewohnheit beibehaltend, hat er bisher das verstehende Hören vernachlässigt: Mm, devo dire, è una mia pecca, al alla comprensione orale ancora non ho dedicato molto tempo, è che io per istinto sono più portato a fare lo scritto che non ee sentire. (LB 1/ 63) Ich muss zugeben, es ist meine Schuld, dass ich dem verstehenden Hören bisher wenig Zeit gewidmet habe. Ich bin instinktiv eher dem Schreiben zugeneigt und nicht dem Hören. Dennoch sieht er hierin einen wichtigen Schritt zum Sprechen, vor allem in Bezug auf das Deutsche: Penso che comunque vada curato maggiormente l‘ascolto perché la costruzione della frase è peculiare. (FB 2, auch 12) Ich denke allerdings, dass man stärker dem Hören Aufmerksamkeit schenken muss, da die Satzkonstruktion ihre Eigenart hat. <?page no="202"?> 202 Diese Verbindung von Hören und Syntax bzw. Grammatik findet sich auch an anderen Stellen (z.B. LB 1/ 28). Das Hören dient außerdem der Schulung der Aussprache: Ee, cioè, no, ehm, penso che curando l’ascolto io posso poi a avere una buona fonetica che mi permetta poi di potere capire la lezione di un insegnante o potermi accostare alla visione di un film in tedesco; […] (LB 1/ 16) Ich glaube, dass ich mir durch das Hören eine gute Aussprache aneigne, die es mir dann ermöglicht, der Stunde zu folgen oder einen Film auf Deutsch sehen zu können. […] Trotz mehrfachen Hörens, so merkt er an, bereitet ihm das Verstehen aber immer noch große Schwierigkeiten, auch ist das Deutsche ihm vom Klang her fremder als das Englische (LB 1/ 32, 38). Hinzu kommt ein langsames Lernen, das er einmal mit seinem Alter in Verbindung bringt: […] quindi mm bisogna andare con i piedi di piombo perché non è facile la comprensione, devo dire che a me risulta molto difficile anche perché io mi sto accostando in tarda età, (LB 1/ 16). […] also man muss hier mit äußerster Vorsicht vorgehen, weil das Verständnis keinesfalls einfach ist. Ich muss sagen, es ist für mich sehr schwer, auch weil ich mich (dem Deutschlernen, SH) im fortgeschrittenen Alter nähere. Zum anderen ist die Langsamkeit beim Lernen Zeichen seines Charakters: Eehm, cioè, io, prima di tutto, ammiro gli insegnanti, gli insegnanti che ho avuto, però, è un problema mio personale: io sono molto lento nell’apprendere quindi magari ee ho più difficoltà rispetto agli altri, nel senso che se gli altri capiscono la frase dopo il secondo ascolto, per me è necessario avere quattro o cinque ascolti, ecco, in questo senso. E quindi è un problema mio, devo soffermarmi ripetutamente su ogni frase, su ogni parola, cercando nel dizionario, vedere la fonetica, quindi (LB 1/ 49) Also vor allem bewundere ich die Lehrer, die ich gehabt habe, aber es ist ein persönliches Problem: Ich bin sehr langsam beim Lernen, d.h., ich habe mehr Schwierigkeiten als andere. Während die anderen den Satz nach dem zweiten Hören verstehen, sind für mich vier oder fünf Mal Hören notwendig. In diesem Sinne ist es mein Problem, ich muss mehrmals bei jedem Satz Halt machen, bei jedem Wort, das muss ich im Wörterbuch suchen, nach der Phonetik gucken. Um sämtliche Wörter eines Hörtextes wiederzuerkennen, braucht er daher vorab die Transkripte: <?page no="203"?> 203 […] Cioè, devo capire che significa quello che leggo e poi cioè questo mi aiuta a capire l’ascolto; cioè interagisce naturalmente la comprensione, la traduzione interagisce con l’ascolto nel senso che se io so tradurre capisco meglio, se io non so tradurre capisco meno, perché la parola è più, è più più lontana, se io so che reisen significa viaggiare e lo sento, ee, ecco ee, subito lo percepisco (LB 1/ 85, auch 26) […] Das heißt, ich muss verstehen, was ich lese, und das hilft mir dann beim Hörverstehen, das interagiert natürlich mit dem Verständnis, die Übersetzung interagiert mit dem Hören. Wenn ich also übersetzen kann, verstehe ich auch besser. Wenn ich nicht übersetzen kann, verstehe ich weniger, weil das Wort weiter weg ist. Wenn ich weiß, dass „reisen“ „viaggiare“ bedeutet, und ich das Wort höre, dann nehme ich es sofort wahr. Verstehen wird mit Übersetzen gleichgesetzt und als Voraussetzung für die Wahrnehmung gesehen. Übersetzen setzt dabei am gelesenen Wort an. Als eine „Manie“ (LB 1/ 28) bezeichnet Antonio seine Angewohnheit, unbekannte Wörter im Wörterbuch zu suchen und geschrieben sehen zu müssen. Aber nicht nur die Wortbedeutung - vor allem der Substantive (LB 2/ 57) - sondern auch die grammatische Struktur muss ihm bekannt sein: […] cioè in una frase se io capisco che la negazione va alla fine o che il verbo modale va alla fine ee già questo mi permette di, una comprensione migliore. Quindi è anche importate la struttura grammaticale della frase ai fini della comprensione orale. (LB 1/ 28) […] Wenn ich in einem Satz weiß, dass die Negation am Ende steht oder das Modalverb, dann ermöglicht mir das ein besseres Verständnis. D.h, auch die grammatische Struktur ist wichtig für das verstehende Hören. In der Lernberatung wird als erster Schritt zur Verbesserung der mündlichen Kommunikation ein differenzierteres Vorgehen abgesprochen, bei dem sich Antonio vor dem Hören die wichtigsten Wörter eines Hörtextes heraussucht und diese schriftlich festhält, laut liest und dann den gesamten Text hört. Dieses schrittweise Herangehen hat er bisher nicht ausprobiert und auch das Nachsprechen der einzelnen Wörter nur selten angewandt. Das laute Wiederholen zum Einprägen einzelner Wörter wird aber als ihm bekannte und gute Methode bezeichnet (LB 1/ 20, 95). In diesem Sinne wird vereinbart, dass Antonio bis zum nächsten Treffen Extraübungen zum Hörverstehen macht und dabei die CD des kurstragenden Lehrbuchs benutzt. Das eine Woche vor der zweiten Lernberatung eingesammelte Tagebuch enthält nur wenige Angaben, die sich im Stile eines Hausaufgabenheftes auf die durchgeführten Übungen beschränken. Antonio hat nicht das ausprobiert, was <?page no="204"?> 204 bei dem vorherigen Treffen abgemacht war, sondern sein ursprüngliches Vorgehen beibehalten: Er hat die Transkripte eines literarischen Hörtextes gelesen und übersetzt, ohne sich auf bestimmte Schlüsselworte zu konzentrieren und seine Aufmerksamkeit zu bündeln (LB 2/ 57). Danach hat er − den Text vor Augen − die CD gehört (LB 2/ 32-38). Auf die Frage, ob ihm dies seiner Meinung nach genutzt habe, ist er zunächst unsicher (LB 2/ 49, 51), dann aber wiederholt und unterstreicht er die Wichtigkeit der Übersetzung: Utile perché io ho la possibilità di ehm raffrontare quello che sento avendo la traduzione, ee avendo il testo sotto mano ee io riesco a capire meglio quello che viene detto. Poi perché ho letto prima il testo, magari lo traduco, quindi quando sento le parole mi sembrano più familiari, ecco. Quindi io ho sempre bisogno comunque a priori di una lettura del testo e di una traduzione, prima di sentirlo, perché se io dovessi sentire il testo senza guardare, senza gua, non capirei quasi niente, ancora. (LB 2/ 53) (Es war, SH) nützlich, weil ich die Möglichkeit gehabt habe, das, was ich höre, mit der Übersetzung zu vergleichen. Da ich ja den Text vorliegen habe, verstehe ich besser, was gesagt wird. Da ich den Text auch vorher gelesen, gegebenenfalls übersetzt habe, erscheinen mir die Wörter eben vertrauter. D.h., ich muss auf jeden Fall immer zunächst den Text lesen und übersetzen, bevor ich ihn höre. Wenn ich den Text nur hören würde, ohne ihn zu sehen, würde ich im Moment noch so gut wie gar nichts verstehen. Sich beim Hören langsam voranzutasten und sich von leichter zugänglichen auf detaillierte Informationen und Wortmaterial vorzuarbeiten, wird zwar als gute Methode angesehen, für sich selbst aber nicht übernommen (LB 2/ 75-83), und die persistenten Probleme, die er beim Hörverstehen im Unterricht am 29.1.11, einem Hörkrimi, in der Klasse wahrnimmt und die auch in der Videoaufnahme hervortreten, werden mit einem Mangel an Üben (vgl. auch LB 1/ 69) begründet: Io ho avuto l’impressione di aver capito meno degli altri, però dico è un problema mio, perché, insomma non mi sono esercitato molto nel nell’ascolto, il problema è questo, devo trovare maggior tempo a disposizione per poter dedicarmi al all’ascolto. Sì, nel senso che più mi applico e più capirò. (LB 2/ 83) Ich hatte den Eindruck, weniger als die anderen verstanden zu haben, aber wie gesagt, das ist mein Problem, weil ich nicht so viel für das Hören getan habe, das ist das Problem. Ich muss dafür mehr Zeit finden. Je mehr ich übe, desto mehr verstehe ich. Daraufhin spreche ich ihn nochmals auf das laute Lesen an als einen ersten Schritt, sich über das Imitieren an den Klang der Fremdsprache zu gewöhnen, zumal er ja auch selbst das Nachsprechen von Wörtern als für sich sinnvoll er- <?page no="205"?> 205 achtet (s.o., LB 1/ 95). Außerdem rate ich zu einem einfacheren und didaktisierten (Hör-)Text, da Antonio offenbar nicht von der wortwörtlichen Übersetzung ablassen möchte (LB 2/ 84-87). Auf die Wahl des geeigneten Materials angesprochen, schlägt Antonio abermals ein literarisches Buch (mit CD) vor, das weit über seinem Kenntnisstand liegt. Er lässt sich aber im Gespräch davon überzeugen, dass ein Text auf A2-Niveau geeigneter ist. Im Folgenden wird ein didaktisierter Hörkrimi aus der Bibliothek des Goethe-Instituts ausgeliehen. Zum einen interessiert ihn diese Gattung, zum anderen schien es mir eine gute Gelegenheit, der Frustration aus besagter Stunde ein erfolgreiches Lernerlebnis entgegenzusetzen. Der Vorschlag, sich selbst beim lauten Lesen aufzunehmen, stellt sich als unrealisierbar heraus, so wie auch mein Hinweis auf weitere gute Übungen im Internet als zu zeitaufwändig abgelehnt wird (LB 2/ 125, 129). Am Ende des Gesprächs scheint Antonio aber sowohl das Arbeiten mit einem leichteren Text als auch das laute Lesen als Vorhaben übernommen zu haben. Zu Beginn der dritten Lernberatung erzählt Antonio, dass die Lektüre ihm gefallen und er daher das Buch beendet habe, außerdem bestätigt er, dass er laut gelesen hat, auch wenn es für ihn ungewohnt war 79 : No, io infatti ho seguito questo consiglio perché di solito io non, mi limito alla traduzione e all’ascolto, ma non a leggere o a ripetere l’ascolto, questo raramente lo faccio. (LB 3/ 22) Ich habe nämlich diesen Ratschlag beherzigt. Normalerweise beschränke ich mich auf die Übersetzung und auf das Hören, also nicht lesen oder das Gehörte wiederholen, das mache ich nur selten. Den Nutzen der Übung als Vorbereitung auf das Sprechen sieht er allerdings limitiert, da er die Übung nur einmal gemacht und nicht mehrmals wiederholt hat. Auf die Frage, ob er die Lernberatung als nützlich einstuft, antwortet er: No, no, diciamo, io penso che più che altro è stato utile come stimolo, perché uno stimolo esterno in più rispetto alla normale frequentazione del corso, è stata una specie di spina nel fianco, non nel senso negativo, ma nel senso, diciamo, positivo nel senso che è servito così da stimolo per fare un lavoro che è stato in più rispetto a quello che il corso impone, cioè gli esercizi a casa. In questo caso questa traduzione di questo libretto è stato utile perché eehm ho imparato nuovi vocaboli e quindi ho anche sentito ee (LB 3/ 38) 79 Das Tagebuch enthält abermals nur die Seitenzahl und den Titel des jeweiligen Kapitels. <?page no="206"?> 206 Nein, sagen wir, vor allem war sie als Anregung nützlich, weil es eine weitere Anregung außerhalb des normalen Kursbesuches war, was angestachelt hat, nicht im negativen Sinn, sondern im positiven als Anregung, mehr zu machen als das, was einem im Kurs auferlegt wurde, d.h. die Hausaufgaben. In diesem Sinne war die Übersetzung dieses Büchleins nützlich. Ich habe viele neue Vokabeln gelernt und dann habe ich auch gehört. Seinen Aussagen nach hat die LB zunächst einmal eine motivierende Wirkung, wie er sie sich bereits in der ersten Lernberatung gewünscht hatte (LB 1/ 71). Auf das Sprechen angesprochen, sieht er eine leichte Verbesserung: „Un un leggero miglioramento, un leggero miglioramento“ (LB 3/ 46). Den größten Nutzen hat er aus dem Mehr an Übungen gezogen, hauptsächlich aus dem Vokabelerwerb durch das Übersetzen. Mehrmals kommt er in dem letzten Gespräch darauf zurück, dass für ihn beim Fremdsprachenlernen das Übersetzen zentral ist, weil er sich so Vokabelkenntnisse aneignet, 80 deren Wissen, d.h. deren Abrufbarkeit, bildet die Grundlage seines Lernens (LB 3/ 24, 59), alles andere baut darauf auf und kommt später: Certo, voglio dire, ee è una mia questione personale quella di stare molto attento al significato della parola, cioè è una prerogativa mia. Che poi voglia migliorare pure nell’ascolto, nella nel parlare questo io penso che, cioè, sempre che non ci siamo dei problemi nel futuro, penso che mi metterò, cioè, ee mi metterò nella posizione di potere migliorare anche nell’ascolto, nella pronuncia, nel parlare, nel dialogare, penso che verranno successivamente alla conoscenza dei vocaboli, queste attività. Perché per, io mi conosco per come sono fatto capisco che dopo avere conosciuto una buona parte di vocaboli poi a man mano ci sarà pure spazio per la discussione per la pronuncia, per l’ascolto, per, insomma, potere interagire con gli altri studenti meglio rispetto a quanto faccia adesso. (LB 3/ 67) Klar, das ist eine persönliche Sache, dass ich so auf die Bedeutung der Worte achte, das ist meine besondere Eigenschaft. Dass ich mich auch im Hören, im Sprechen verbessern will, vorausgesetzt, dass es zukünftig keine anderen Probleme gibt, daran werde ich mich auch setzen. Ich werde mir die Voraussetzungen schaffen, mich auch im Hören, in der Aussprache, im Sprechen, im Gespräch verbessern zu können. Ich glaube, dass diese Tätigkeiten nach dem Wissen der Vokabeln kommen. Ich kenne mich, ich weiß, wie ich gebaut bin. Nachdem ich einen Großteil der Vokabeln gelernt habe, gibt es mehr Raum für die Diskussion, die Aussprache, das Hören, also dafür, mit den anderen Lernenden besser zu interagieren, als ich es im Moment mache. 80 Die Wörter „tradurre“ oder „traduzione“ erscheinen in den drei Treffen 17 Mal. <?page no="207"?> 207 Dass das Übersetzen nicht der im Goethe-Institut eingesetzten Methode entspricht, war Antonio m.E. nicht so klar, er ist ja auch zufällig auf die Institution gestoßen (FB 8). Er fühlt sich aber in dem Kurs sichtbar wohl und ist zufrieden mit dem Unterricht (s. Experteninterview zur Kursevaluierung). Unübersehbar ist aber auch, dass sein Vorgehen mit der Unterrichtsmethode der Kursleiterin kollidiert, die sich in dem Experteninterview dementsprechend äußert: Problematisch bleibt Antonio, „der es einfach nicht schafft, vom Italienischen loszukommen“ (16.26). „Auch beim Sprechen muss er immer das italienische Wort einschieben oder nachschieben, entweder um sich selbst rückzuversichern, auch wenn das gar nicht nötig wäre“ (18.47) „Er muss das weiter auf Italienisch sagen“ (17.04). Er ist darin der Einzige. Vielleicht eine „Unsicherheit, dass er sich das Sprechen in einer fremden Sprache nicht zutraut“ (17.21). Bei einer B1-Prüfung wirkt sich das negativ aus, weil gerade der Rückgriff auf die Muttersprache vermieden werden soll. In den anderen Kompetenzen, wie Schreiben und Hören hat sie eindeutig Fortschritte gesehen. Auch wenn er sich beim Hören „nicht darauf beschränkt zu hören und zu verstehen, sondern es kommt immer wieder das Italienische ins Spiel“ (19.15). In dem Zusammenhang erwähnt sie die häufigen Ermahnungen im Unterricht, nicht ständig die Wörter nachzuschlagen und unaufgefordert der Klasse mitzuteilen. Am Ende fragt sie sich, ob es überhaupt so sinnvoll ist, darauf zu bestehen, da er ja offensichtlich davon nicht ablassen möchte. Mit der Hypothese der Unsicherheit trifft die Kursleiterin wohl einen wichtigen Punkt: In merito a un testo io vado sul sicuro nel senso che il testo non può sbagliare. (LB 2/ 87) Bei einem Text gehe ich sicher, der Text irrt sich nicht. Das Sich-Klammern an das geschriebene sichtbare Wort ist eine Lernkomponente von Antonio, die er in der Schulzeit ausgebildet und die sich in den folgenden Jahren so verfestigt hat, dass er sich nunmehr kaum davon lösen kann und will. Darauf baut seine für ihn für alle Kompetenzen gültige Lerntheorie auf. Die Muttersprache lichtet die neue Sprache ab. Es gibt kein „Sich-Fallen- Lassen“ in die zu entdeckende Sprachwelt, sondern ihr Erschließen vollzieht sich vor dem Hintergrund in der Ausgangssprache definierter Strukturen und Merkmale. Im Kodierungsprozess lassen sich drei Themenkomplexe ausmachen: 1. die Rolle der italienischen Muttersprache und das Übersetzen, 2. die Langsamkeit des Lernens und das Festhalten am gewohnten Lernstil, 3. die Konzentration auf Wortbedeutung und grammatische Phänomene. <?page no="208"?> 208 4.2.1.2.2 Lernstand Gleichwohl hat Antonio im Mündlichen entscheidend dazugelernt (+4,75). Das bestätigen er selbst sowie die Kursleiterin, und es bezeugen auch die Ergebnisse der dreimaligen Sprachstandserhebung (Tab. 25): SSE Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache insg. 1. 1,25 1,75 1 1,5 5,5 2. 2,25 (+1) 2,75(+1) 2,75 (+1,75) 1,75 (+0,25) 9,5 (+4) 3. 3(+0,75/ +1,75) 2,5 (-0,25/ +0,75) 2,75 (-/ +1,75) 2(+0,25/ +0,5) 10,25 (+0,75/ +4,75) Tab. 25 ̶ Sprachstandserhebung von Antonio Der erste Test zeigt erhebliche Schwierigkeiten in allen Teilkompetenzen des Mündlichen. Demgegenüber signalisiert das zweite Resultat eine deutliche Verbesserung, nicht nur im Bereich der Vokabelkenntnisse und der Komplexität der Ausdrücke, sondern auch bei der Aufgabenbewältigung und vor allem im Formalen, d.h., Antonio gelingt es am Ende des Kurses, etwas flüssiger zu sprechen, indem er - wie auch bei den Videoaufnahmen deutlich wird - sowohl die gelernten Wörter schneller abruft als auch die Grammatikregeln korrekter umsetzt. Bei der dritten Sprachstandserhebung erstaunen die vielen Wörter, die der Lernende beim Sprechen erinnert und deren lautliche Realisierung auch meist gelingt. Die Vokabeln (selten Ausdrücke) scheinen allerdings manchmal relativ unverbunden als Wortmaterial abgespeichert zu sein. So ist sein Sprechen gespickt mit für das Niveau B1 ungewöhnlichen Wörtern. Demgegenüber fällt die Einfachheit der Satzstrukturen etwas ab, formale Fehler beeinträchtigen zum Teil das Verständnis, der erste Lernfortschritt in diesem Bereich wird nicht fortgesetzt. Sechs Wochen nach Ende des Kurses hat der Lernende etwas an der gewonnenen Routine verloren. Sein Sprechen wirkt aber weniger mühsam als am Anfang, auch wenn offensichtlich im Bereich der Aufgabenbewältigung und in der Aussprache langfristig weniger gelernt wurde als in der Ausdrucksfähigkeit und in der formalen Richtigkeit. Unter Beibehaltung der eigenen Methode, die durch den Unterricht und in der Lernberatung Anstöße erhalten hat, aber grundsätzlich nicht modifiziert wurde, hat Antonio aber unbestritten seine mündliche Kompetenz verbessert. Damit konsolidieren sich die Lernschwerpunkte Lexik, wobei die Konzentration seines Lernens auf dem Bedeutungsaspekt liegt (s.o., auch LB 1/ 90), und Grammatik. <?page no="209"?> 209 4.2.1.2.3 Lernen im Unterricht Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Wortmeldungen im Verhältnis zum Kurs 68 % 11 9a% 25 14 % 75 % 15 7 % 85 % 20 11 % 13 7 % 19 10 % davon SI 5 7 19 4 14 7 17 8 13 Tab. 26 ̶ Wortmeldungen von Antonio Insgesamt hat Antonio 124 Mal das Wort ergriffen, 94 Mal ging dabei die Initiative von ihm aus. Antonio gehört zu denen, die relativ wenig im Kurs sprechen (Tab. 26). Das ist ihm durchaus bewusst (s.o.). Häufig handelt es sich bei seiner Unterrichtspartizipation um die Übersetzung einzelner Vokabeln, also um sehr kurze Wortmeldungen. Manchmal wird er auch von der Kursleiterin nach einem Wort gefragt, was ihn darin bestätigt, dass er mittlerweile über ein bemerkenswertes Vokabelwissen verfügt und sich darin auszeichnet (vgl. LB 3/ 26, 28). Antonio hat immer ein oder auch zwei Wörterbücher vor sich aufgeschlagen und wird in den Stunden mehrmals ermahnt, nicht im Wörterbuch nachzuschlagen und/ oder im Unterricht bei Worterklärungen unaufgefordert die italienische Übersetzung zu liefern (s.u.). Bei der Wahl der zur Gesprächsanalyse herangezogenen Unterrichtssequenzen werden die in der LB unter Einbezug der FB entwickelten und durch die drei SSE untermauerten Kategorien angelegt und durch in der Unterrichtsinterkation hinzutretenden Beobachtungen erweitert. Rolle der italienischen Muttersprache und das Übersetzen Die erste zu analysierende Videosequenz enthält einen mehrfachen Redewechsel, der zum Thema die grammatische Bestimmung von „ihr“ in einem vorgelesenen Satz aus den Hausaufgaben hat: 01 A ihr è terza singolare? ihr- 02 K ja. moment. antonio. okay also: frage fragen zu dem satz= 03 A =ihr. 04 K ihr? 05 A [terza singolare? ] 06 K [was ist ihr? ] 07 S adjektiv= 08 A =POSsessivadjektiv 09 K possessivartikel. und das ist, 10 A dritten singular. 11 K dritte person singular. 12 A potrebbe essere qualche seconda plurale? <?page no="210"?> 210 13 K okay. stop. stop. stop. <<K gibt zu verstehen, dass Antonio auf Deutsch weitersprechen soll>> 14 A (---) ähm könnte ähm sein auk äh ähm zwei zwei plurale- 15 K was meint ihr, könnte das auch die zweite person plural sein? ihr auto- 16 ? euer auto euer- ((im Chor)) 17 K ABER es könnte die DRITTE ((Sandra spricht mit)) person plural sein. 18 A ((nickend)) dritte dritte dritte. 19 K ja. okay? Video 1/ Antonio 1 Antonio ist stark an dieser grammatischen Frage interessiert. Das zeigen die unmittelbar einsetzenden Antworten und die Überlappung. Nach der entsprechenden Aufforderung fährt er in seiner Frage auf Deutsch fort, was sein Redetempo gewaltig drosselt (14). Beim letzten Wort lässt die Konzentration nach, wie an seinem Gesichtsausdruck deutlich wird, und es „rutscht“ ihm das italienische „plurale“ hinein. Das Italienische drängt sich in dem Moment vor, in dem das Wort fehlt, wie wir weiter unten sehen, oder wie hier bei nachlassender Aufmerksamkeit. Dies geschieht auch im Bereich der Aussprache: Er realisiert bei „auk“ den Wort- und Silbenauslaut nicht als / ç/ , sondern als Verschlusslaut / k/ . Das passiert ihm auch anderwärtig, z.B. drei Minuten später: 01 A is richtik o falsch? oder falsch. Video1/ Antonio 3, vgl. auch in Video 6b/ Antonio3 Oder: 01 A sik helfen. aiutarsi. sik helfen bei de übungen Video 8a/ Antonio 2 Neben der Tatsache, dass dieser Laut italienischen Deutschlernenden grundsätzlich Schwierigkeiten bereitet, ist die Übertragung aus dem Italienischen, das das geschriebene „ch“ grundsätzlich als ∕ k ∕ ausspricht, noch eine weitere Erklärung und im Falle von Antonio sicherlich nicht unterzubewerten. Dieses häufige „automatische“ Übertragen führt zu einer z.T. unverständlichen Aussprache, z.B. durch die falsche Akzentsetzung (auf der zweitletzten Silbe). Folgendes Beispiel ist ein vorgelesener Satz aus den Hausaufgaben zur indirekten Rede: 01 K ja Antonio. machst du weiter? 01 A dri dritten. anna sagt. dass man sie: äh in die nottaufNAHme (.) ein: geliefert habe. Video 2b/ Antonio 3 <?page no="211"?> 211 Dass diese falsche Aussprache nicht nur auf die von ihm erwähnte Vernachlässigung der lautlichen Form von dem Wort als Bedeutungsträger zurückzuführen, sondern auch durch eine nicht geschulte Hörfertigkeit bedingt ist, zeigt ein weiteres Beispiel. Es handelt sich wiederrum um das Vorlesen von Sätzen aus Übungen: 01 A sie haben viel zu tun, weil es am samstag eine wichTIge veranSTALtung gibt. 02 K verANstaltung. der akzent. verANstaltung. 03 A veranSTALtung. 04 K nein. veranstaltung. 05 A veranSTALtung. ((lacht)) 06 K okay. verANstaltung. der akzent ist auf an. verANstaltung. okay. ((nickt)) Video 3/ Antonio 1 Antonio hört den Unterschied bei der Akzentsetzung offensichtlich nicht heraus, er realisiert seinen falschen Wortakzent nicht. Auch sein Nicken am Schluss deutet darauf hin, dass er das Andere in seiner Aussprache zu dem der Lehrerin nicht wahrnimmt und insofern auch nicht korrigiert. Hier überträgt der Lernende offensichtlich implizit Regeln der italienischen Akzentsetzung auf das Deutsche, was die Annahme bekräftigt, dass es ihm nicht gelingt, sich auf die neue Sprache und deren Regeln einzulassen. In einem letzten Redewechsel soll die Nichtbeachtung der Umlaute fokussiert werden. Antonio liest Sätze aus einer zuhause gemachten Übung: 01 A so gibt übeall und bunte blumen und bluten. 02 K kannst dus noch mal bitte wiederholen? (-) <<Antonio schaut, als ob er die K nicht verstanden hätte>> nochmal. 03 A es gibt- 04 K okay. es gibt. 05 A und es reckt herr frisch. 06 K und es rie: cht, es riecht herrlich frisch. mhm. 07 A es krigt so frolig, wenn die vogel wieder singen. 08 K okay? einverstanden? 09 A es sneit ganz oben in de bergen. 10 K es schneit. es schneit. ähä. 11 A es gefäld mir so, dass in der sonne zu sitzen. es freut mich so, dass ich keine winterjage mehr trage. 12 K winterjacke. ähä. okay. 13 A ach. es geht mir unglaublich gut. Video 4a/ Antonio 3 <?page no="212"?> 212 In diesem Redewechsel scheint er die Umlaute in „blüten“ und „Vögel“ regelrecht zu überlesen. Bemerkenswert ist daher eine Selbstkorrektur am Ende des Kurses von „Gaste“ in „Gäste“ (Video 10a/ Antonio 2). Bei der Übertragung grammatischer Formen lassen sich im Laufe des Kurses italienisch-deutsche Mischformen beobachten: 01 K was bedeutet geheimnis? ((gibt die Frage von Gianni an die Klasse weiter)) 02 A etwas äh (.) etwas äh verstecken? verstecken? ((blickt zur Lehrerin)) äh versteckt, etwas versteckt. 03 K (.) jaa. aber ist das. verstecken. verstehst du gianni etwas verstecken? Video 8a/ Antonio 2 Auf die Schnelle bildet Antonio das Partizip ohne das Flexionsmorphem, was allerdings für das B1-Niveau erstaunlich wäre. Er übernimmt aber nicht aus dem Italienischen das Partitivpronomen „di“ (qualcosa di nascosto). Dass sich dieser Ablösungsprozess von der L1 sehr langsam vollzieht, zeigt die Sequenz in der folgenden Stunde: 01 A è possibile eh costruirla con una finale? 02 K finale? 03 A ehm si ehm eh johanna onkel erinnert- 04 K nein, das geht gar nicht. johanna ist das subjekt und dann brauchen wir das= 05 A =johanna ist subjekt. 06 K das verb. 07 A onkel ist dativ. 08 K nein. 09 A allo zio. 10 K nein, aber im deutschen ist es NICHT dativ sondern akkusativ. 11 A äh onkel onkel onkel. 12 K tut mir leid. 13 A onkel im akksusativ äh sarebbe onkel? rimane lo stesso? 14 K ja das substantiv, ja aber wir haben einen artikel. 15 A äh: johanna äh den onkel. 16 K non o moment moment johanna ist position eins. ((im Hintergrund hört man Chiara)) und jetzt Antonio, und jetzt johanna (.) das verb 17 A äh erinnert. 18 K okay. okay. ci siamo. also johanna erinnert- 19 C den onkel. 20 K prima. 21 C an= 22 A =onkel zu? <?page no="213"?> 213 23 K nein nein. 24 A no? 25 K es ist AKKUsativ. es ist nicht zu und es ist nicht äh dativ. 26 C an früheres versprechen. 27 K versprechen. fehlt noch ein artikel, dann ist es perfekt. Video 9a/ Antonio 8 Antonio scheint nicht realisieren zu können, das „jdn. an etwas erinnern“ im Deutschen mit dem Akkusativ steht und nicht wie im Italienischen mit dem Dativ. Das verwirrt ihn so, dass er zunächst das Substantiv deklinieren (13) und am Schluss (22) den Dativ von Onkel mit „zu“ bilden will, was wohl einer intuitiven Übersetzung des Italienischen „allo“ darstellt und sicher nicht auf einem mangelnden Regelwissen beruht. Langsamkeit Für die von ihm selbst hervorgehobene Langsamkeit allgemein beim Lernen finden wir in den Unterrichtsmitschnitten vielerorts Bestätigung. Während bei den auf Italienisch durchgeführten Lernberatungen die Sprachgeschwindigkeit normal ist (Levelt 1989: 198 geht von einem Wort alle 44 msec. aus, nach Schwarz 2008: 210), ist Antonio bei der mündlichen Produktion im Deutschen extrem langsam. Für den folgenden Satz, den er im Rahmen von Übungen zur indirekten Rede lehrerinitiiert zu bilden hat, braucht er 14 Sekunden: 01 A er: sei ähm um 10 uhr äh (0,8) gekommen. Video 1/ Antonio 6 Neben den Verzögerungspartikeln, deren Vorkommen auch in seiner Muttersprache normal ist, braucht vor allem das Abrufen der richtigen Form des Partizip Perfekts viel Zeit. Antonio muss sich nach eigenen Aussagen grundsätzlich auf die (soweit vorhersehbaren) Antworten vorbereiten (LB 3/ 55). Wenn das nicht möglich ist, wird das Sprechen sehr mühsam. In der folgenden Sequenz hatte er vorher das Wort „geduldig“ nachgeschlagen und „eingeworfen“. Die Lehrerin fordert ihn daraufhin auf, es zu erklären, da es die anderen nicht kennen: 01 A ähm wenn die LEHrerin ähm ähm (.) die äh kussteilnehmer äh helfe helfen hilft. 02 K ok also, das ist hilfsbereit. geduldig (.) oder ungeduldig gibt es auch. 03 A vor äh NERvös (.) ohne sein nervös. 04 K also ungeduldig (.) ist nervös. 05 A ungeduldig nervös. Video 4a/ Antonio 6 <?page no="214"?> 214 Bei der Suche nach dem richtig konjugierten Verb aktiviert er erst den Infinitiv und dann „sucht“ er die 3. Person. Im turn 03 setzt er einfach die Wörter so hintereinander, wie er es vom Italienischen kennt (senza essere nervoso), ohne auf die deutschen Regeln zu achten, um eben im Dialog schneller parieren zu können, aber auch bar jeglicher Kommunikationsstrategien, die ihn auf eine alternative Formulierung ausweichen lassen könnten. Dazu auch: 01 A mit äh (-) difetti come si dice? 02 S problemi. 03 A mit problem. Video 7b/ Antonio 2 Die folgenden zwei Sequenzen machen die große Anstrengung deutlich, die Antonio aufbringt, um die Bildung des Fragepronomens „wovon“ zu verstehen oder praktisch umzusetzen. 01 A über abhängen von äh: die äh mh sagen vorvon? vorvon hängst worvon worvon- Video 8b/ Antonio 1 01 A ähm vor ähm vorwom. 02 K moment moment moment. wo plus präposition- 03 A (-) worvom. äh: worvom. 04 K wo? vorsicht. wo? 05 A wovon. 06 K gut. [so ist es richtig] 07 A [wovon] <<Antonio ist sichtbar erleichtert.>> (0,6) hängt das PROgramm ab? 08 K sehr gut. Video 8b/ Antonio 2 Da Antonio bereits in der ersten Sequenz drei Minuten zuvor offensichtlich Probleme bei der Bildung des Fragepronomens hat, ist anzunehmen, dass die Bildungsregel nicht klar ist und er die Silben deshalb verdreht und dass das Problem nicht bei der Realisierung der Regel auftritt. Nach der richtigen Ableitung (05) schließt Antonio die Augen und strahlt vor Glück (07). Der Ausdruck von so starken Emotionen lässt auf die Intensität der erlebten Lernhandlung schließen. Manchmal spiegeln sich in seinem Gesicht aber auch negative Emotionen wider, wie Unzufriedenheit mit der eigenen Performanz (z.B. Video 7b/ 44.40), die wohl z.T. daher rühren, dass Antonio dem Geschehen nicht richtig folgen und sich dementsprechend nicht einbringen kann (LB 1/ 71). <?page no="215"?> 215 In einem weiteren Beispiel kurz vor dem Ende des Kurses finden wir abermals sowohl den genannten Aussprachefehler des „ch“ als auch das unaufgeforderte „Nachschieben“ des Italienischen. Evident ist auch, dass Antonio sich nur einem Phänomen widmen kann: 01 K antonio machst du den satz dreizehn? 02 A dreizig. 03 K dreiZEHN dreiZEHN. 04 A DREIzehn. DREIzehn ähm die ähm (0,8) das kind- 05 K gut. 06 A das kind ((schreibt)) ähm das kind äh (--) fürkteten für fürkteten- 07 K sehr. für? 08 A teten. 09 K (.) ein kind. singular. fürch- 10 A ah fürchtete. 11 K ((schreibt an die Tafel)) FÜRCHTETE hier ist das te. sandra. fürchTETE ((Unterbrechung, weil die Klassentür geöffnet wird)) fürchtete. 12 A fürchtete fürchtete sich (0,7) ähm von den (.) von den gespenster. 13 K sich fürchten von? 14 A von äh den geSPENster. 15 K bettina korrigiert. sich fürchten (.) 16 B ((sehr leise)) vor. 17 K ganz laut. 18 B vor. 19 K ja, VOR antonio. nicht von. ((unverständliche Zwischenfrage von einem Kursteilnehmenden)) ja, das gibt es auch. also sich fürchten vor, 20 A vor gespenster. 21 K ja. 22 A fantasmi. 23 K gut. Video 10a/ Antonio 7 Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist hier relativ schnell erschöpft, zumal es sich bei der Aussprache von „ch“ sowie den grammatischen Morphemen beim Präteritum der schwachen Verben und Plural bzw. Singularendungen um einen Lernstoff handelt, dem Antonio als wiederholender B1-ler sicherlich schon mehrfach begegnet ist. Das fehlende „n“ bei „Gespenster“ wird auch nicht bemerkt. <?page no="216"?> 216 Interaktion Auf die Frage: Was bedeutet Strumpf? antwortet Antonio, der das Wort vorher im Wörterbuch nachgeschaut hat: 01 A lange Hohse. lange (.) calze da donna 02 K auf deutsch. ein strumpf ist ein lange hose? Video 6b/ Antonio 1 Der Gesichtsausdruck von Chiara ist erstaunt und völlig ungläubig. Antonio reagiert darauf aber nicht. Er ist fest davon überzeugt, dass seine Übersetzung richtig ist, denn er hat (wahrscheinlich) beim Wort „Strumpf“ „calze da donne“ (Nylonstrümpfe) gefunden, die Bedeutung von „calze“, eben Socken oder Söckchen, ist ihm entgangen. Die Sicherheit, die er aus dem geschriebenen Wort zieht, und die er auch nicht in Frage stellt, behindert die Kommunikation, setzt Barrieren. Auf der anderen Seite aber merkt man, dass das Abrufen allmählich schneller geht und dass er sich bemüht, auf Deutsch die Worte zu erklären, die er als Vokabel parat hat: 01 K tätigkeit. das kennen wir. auf deutsch, antonio. 02 A machen. äh. ähm. ähm. (.) oder tun. äh. 03 K gut. Video 6b/ Antonio 6 (vgl. auch Video 6b/ Antonio 8, Video 6c/ Antonio 1) Die Assoziation von „machen“ zu „Tätigkeit“ kommt unmittelbar, während die Pause vor „tun“ und der konzentrierte Gesichtsausdruck von Antonio zeigen, wie er die Vokabel erinnert. Ein schnelles Abrufen gelingt ihm auch beim Vokabelratespiel (Video 8a), wo er unmittelbar das Verb „klopfen“ nennt. Antonios Gesicht verrät nach diesem Erfolg große Freude (Video 8a/ 28.50-29.07). In der anschließenden Unterrichtszeit liefert er neun Beiträge, was für ihn beträchtlich ist und darauf hinweist, wie motivierend diese positiven Emotionen wirken. In derselben Stunde bei der Definition von „au-pair“ kapituliert er aber auch: 01 K was hat das zu tun mit au-pair? 02 A äh. über die arBEIT 03 K über die arbeit? 04 A au-pair. äh: bedeutet. ähm äh dass die arBEIten äh arbeit äh in ((Ansatz einer Geste)) ähm (-) ((ist sichtbar in Schwierigkeiten, setzt an und bricht ab)) un modo di lavorare. un modo di lavorare <<schüttelt den Kopf, als ob er damit bekräftigen will, dass er es auf Deutsch nicht ausdrücken kann>> 05 K kein italienisch. kein italienisch. ((alle lachen)) Video 6b/ Antonio 2 <?page no="217"?> 217 Antonio hat auch passende Ausdrücke gespeichert, die er bei relativ kurzer Aktivierung abruft: 01 K antonio keine idee? 02 A (.) keine ahnung. 03 K keine ahnung? (( lacht)) Video 10b/ Antonio 1 In der zweitletzten Stunde belegt eine weitere Sequenz, dass die Kommunikation (mit der Lehrerin) direkter funktioniert und dass Antonio schneller versteht, was man ihm sagt. Antonio soll Sätze aus den Hausaufgaben vorlesen, hat aber sein Heft vergessen und muss die Sätze ad hoc bilden: 01 A äh: (-) wast du weisst du ähm an äh an äh (-) an welchen krankheit herr fischer gestorben ist? 02 K an ist korrekt. mit welchem kasus? 03 A krankheit ist feminin? 04 K krankheit ist feminin. genau. und sterben an plus? 05 A akKUsativ ((K gibt negatives Feedback)) dativ. 06 K also an? 07 A welcher. 08 K gut. okay. sehr schön antonio. machst du noch eins? 09 A äh bitte antworten sie (-) auf- 10 K gut. 11 A äh auf äh: meine frage. 12 K das ist richtig, okay. Video 9a/ Antonio 1 Antonios glückliches Gesicht (Video 9a/ 20.54) verrät, dass er sich seiner schnelleren Reaktionsfähigkeit bewusst ist, auch wenn es sich hier nicht um freies Sprechen handelt, sondern um eine grammatische Übung. Auch hier folgen diesem Erfolgserlebnis mehr Beiträge als gewöhnlich, nicht immer mit dem gleichen positiven Resultat: 01 K antonio, kannst du auf deutsch erklären, was sich gewöhnen an bedeutet? 02 A wenn ik äh ähm äh kann ((hustet)) kann ähm (-) auf deutsch ik nicht- 03 K kannst du nicht? 04 A ne auf italien. 05 K ne ne ne ja das- 06 A ja. ((beide lachen)) 07 K kennt jemand das verb? doch du kannst das auf deutsch. ein beispiel. 08 A (0,5) 09 K chiara, du hast eine idee? Video 9b/ Antonio 2 <?page no="218"?> 218 „Italien“ als Übersetzung von „italiano“ zeugt von einem panischen Rückzug bzw. Rückfall ins Italienische. 4.2.1.2.4 Fazit Bei der Bearbeitung des Videomaterials wurde der Kodierungsvorgang weiter ausdifferenziert. Unter der Rolle der italienischen Muttersprache und dem Übersetzen wurden die Subkategorien Grammatik und Lexik ausgeleuchtet und die Aussprache hinzugefügt. Die Langsamkeit des Lernens zeigte sich im Sprechtempo, in der Reaktionszeit, manchmal auch in der Unangemessenheit der Wortmeldungen, und den Verzögerungen beim Abrufen einzelner Ausdrücke. Alle interaktiven Lernhandlungen sind durch sichtbare Anstrengung gekennzeichnet, wie sie z.T. in Emotionen zu Tage tritt. Wie Antonio selbst aussagt, nimmt er nur das wahr, was ihm durch die Übersetzung als bekannt zugetragen wird. Dieser betont bewusste Vorgang verleiht seinem Lernen, und vor allem seinem Sprechen in der Fremdsprache, etwas ungemein Schwerfälliges. Es verlangsamt sein Vorgehen und beeinträchtigt damit auch seine Interaktion mit den anderen. Die von der Kursleiterin erwähnten Integrationsprobleme liegen - wie in den Videoaufnahmen sichtbar wird - z.T. auch darin begründet, dass er es durch das explizite Abrufen zeitlich nicht schafft, an der Kommunikation teilzunehmen. Antonio hat in seiner Schulzeit die Erfahrung der Grammatik-Übersetzungs- Methode gemacht und wendet das damit verbundene Vorgehen konsequent auf sein Lernen der Fremdsprache Deutsch an. Darin lässt er sich trotz des neo- oder postkommunikativen Ansatzes (s. 3.3.1) am Goethe-Institut, der Sprachlernberatung und der im Unterricht erfahrenen Schwierigkeiten nicht beirren, obwohl er sich damit sogar Ermahnungen einhandelt, denn er übersetzt die Wörter, lernt sie sowie die Grammatikregeln auswendig und versucht, beides im Unterricht anzuwenden, d.h. im passenden Moment einzuwerfen. Die Muttersprache Italienisch ist allgegenwärtig und drängt sich immer dann vor, wenn die Konzentration nachlässt oder wenn Antonio vor Ausdrucksschwierigkeiten steht, die er nicht bewältigen kann. Kommunikationsstrategien sind nur spärlich vorhanden, und der Rückgriff auf andere Sprachen ist kaum zu beobachten. In der letzten Stunde (Video 10b/ Antonio 2) spricht er das Wort „spanisch“ englisch aus und in der 3. Sprachstandserhebung taucht ein „but“ auf, was sich aber damit erklären lässt, dass er im seinen Urlaub in England plant und sich entsprechend darauf einstimmt. Das Englische ist sonst nicht präsent. Antonio ist ein langsamer Lerner. Er ist wohl auch ein langsam handelnder Mensch, der sich mit „sicheren“ und „absichernden“ Dingen umgibt. „Vivo in un mondo chiuso“ (Ich lebe in einer abgeschlossenen Welt), sagt er in einem Gespräch nach Abschluss der letzten Sprachstandserhebung - und das trifft es <?page no="219"?> 219 wahrscheinlich. Zu der Langsamkeit gesellt sich eine gewisse Inflexibilität, die aber andererseits auch konstanten Einsatz in Bezug auf den Deutschkurs bedeutet: Antonio hat kein einziges Mal gefehlt und regelmäßig das gemacht, was man ihm an Hausaufgaben aufgetragen hat. Die Langsamkeit beim Deutschsprechen ist aber auch dadurch bedingt, dass Sprechen für ihn lautes Übersetzen heißt. Da er durchgehend zuerst das italienische Schema aktiviert, wird bei seinen Sprechhandlungen immer ein Schritt zwischengeschaltet. Als Verfahren zum Sprechen in der Fremdsprache ist es aber durchaus denkbar und möglich - wie ja auch sein Fortschritt belegt. Dieser betont bewusste Zugang festigt das aufgebaute Wissen, besonders solide ist offensichtlich der Wortschatzaufbau, der sich erweitert, auch wenn der Sprachkontakt in der Klasse wegfällt. Schwieriger wird es bei der Bewältigung von Sprechhandlungen und dem expliziten Abrufen von Grammatikregeln. Hier verfängt er sich, weil er im Gespräch nicht so schnell die Regel im Italienischen parat hat und ihm damit die Grundlage fehlt, die Regeln fürs Deutsche zu aktivieren und anzuwenden. Unter (Zeit-) Druck verfällt er ins Italienische. Bei der Aussprache verhält es sich ähnlich. Die Vernachlässigung der lautlichen Realisierung der von ihm gelernten Begriffe, der er sich erst nachträglich widmen will (s.o.), führt daher nur schleppend zu einer Verbesserung der Aussprache. Häufig greift er auch hier in seiner Not und implizit auf die italienischen Ausspracheregeln zurück. Im Bereich der Mündlichkeit wäre es für ihn sicher förderlicher, zielsprachenorientierter vorzugehen und sich dabei von der Muttersprache zu lösen und bestenfalls von assoziativen Verarbeitungsprozeduren treiben zu lassen. Aber Antonio will (und kann) offensichtlich seinen Ansatz nicht hinterfragen 81 bzw. er setzt für sich die Prioritäten so, dass das Mündliche - auch wenn Kommunikation mit sein Hauptanliegen ist - bisher vernachlässigt wurde. So scheint ihn auch diese seine schlechte Aussprache wenig zu bekümmern. Eher bedrücken ihn seine Schwierigkeiten beim verstehenden Hören. Sein Lernhandeln bewegt sich innerhalb streng vorgegebener Bahnen im Freizeitbereich, wo Zeit und Energie genau abgesteckt sind, und markiert ein defensives Verhalten (Abb. 15). 81 Er scheint überhaupt wenig daran gewöhnt zu sein, sein Verhalten zu reflektieren. Das zeigt auch seine Unfähigkeit oder Verweigerung, das Tagebuch den Angaben gemäß zu führen. <?page no="220"?> 220 angenehmes Klassenklima, Lehrmethode im Kontrast zum eigenen Lernstil langsam fremder Klang, ungewöhnlicher Satzbau unflexibel Sprache zum Reisen defensives Lernhandeln mühsames Reden unter Abruf erinnerter Wörter Abb. 15 ̶ Schematische Darstellung des Lernprozesses von Antonio 4.2.1.3 Gianni 4.2.1.3.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben Der Lerner ist Anfang dreißig, berufstätig und gehört zur Kerngruppe. Das Goethe-Institut war ihm von einem Verwandten empfohlen worden, der die erworbenen Deutschkenntnisse erfolgreich in einer Arbeit im Ausland hat einsetzen können (FB 8). Auch für Gianni verbindet sich das Hauptinteresse an der deutschen Sprache mit dem Leben und Arbeiten in Deutschland (FB10, LB1/ 20): Perché, comunque, il perché essenzialmente, appunto perché mi servirebbe parecchio ee nel caso decidessi di andare a lavorare all’estero poiché per me come sedi estere in cui lavorare sicuramente la Germania è una delle più ee gradite, decisamente; ee, allora mi rendo conto che (unverständlich) devo essere in grado di propormi all’eventuale ee datore di lavoro se mi devo proporre e quindi devo essere in grado di capire cosa, di comprendere, di discutere, di parlare, di ee proporre le mie capacità, le mie conoscenze eccetera, eccetera. Eeee, e eventualmente, nel caso di un trasferimento, devo essere in grado di vivere appunto la quotidianità, questo sì, come dicevi Wortbedeutungen (besonders von Substantiven) Verstehen von grammatischen Phänomenen Vokabeln, Grammatik übersetzen Konzentration auf ausgewählte HVs Hörübungen zum Verstehen mündlicher Äußerungen <?page no="221"?> 221 bene, deriva anche da quella esperienza che ho fatto, Erasmus, in cui mi sono reso conto che la quotidianità diciamo è tutt’altra cosa rispetto a quello che si studia sui sui libri e quindi bisogna essere in grado di cavarsela nelle situazioni più disparate, anche con le persone, e qui viene il difficile, con le persone che non parlano la lingua, diciamo, perfetta come si studia sui libri; ee quindi anzitutto ci vogliono delle buone basi e poi quando, per come la vedo io, poi c’è da esercitarsi e studiare parecchio anche sul sul luogo, quindi anzitutto devo essere capace di partire con delle buone basi e poi (LB1/ 4) Weil, also, der wichtigste Grund ist, dass mir das (Deutschlernen, SH) dient, falls ich mich entscheiden sollte, im Ausland zu arbeiten, da mir ganz sicher der Sitz in Deutschland am meisten zusagt. Also mir ist schon klar, dass ich dazu in der Lage sein muss, mich meinem zukünftigen Arbeitgeber vorzustellen, daher muss ich erst mal was verstehen, diskutieren können, sprechen, meine Fähigkeiten darstellen, meine Kenntnisse usw. und im Fall, dass ich umziehen sollte, den Alltag dort angehen. Das kommt, wie du schon richtigerweise gesagt hast, von meiner Erfahrung als Erasmusstudent. Da ist mir klar geworden, dass der Alltag etwas total anderes ist als das, was man in den Büchern lernt. Da muss man mit den schwierigsten Gegebenheiten zurechtkommen, auch mit den Personen. Und das ist das Schwierige, mit den Personen, die nicht die perfekte Sprache sprechen, die man in den Büchern gelernt hat. Hier braucht man erst einmal eine gute Grundlage und dann muss man, so sehe ich das jedenfalls, viel vor Ort lernen. Also vor allem muss ich in der Lage sein, mit guten Grundlagenkenntnissen zu starten. Der Unterschied zwischen den fremdsprachlichen Notwendigkeiten im Alltag und der von Menschen und unvorhersehbaren Situationen unberührten Welt der Bücher ist eine Erkenntnis, zu der der Lernende während seines Studienaufenthaltes in England gekommen ist. Sie berührt sich aber auch grundsätzlich mit seinem Wahrnehmungsschema, in dem das Verhältnis zur Außenwelt mit ihren Anforderungen oft spannungsgeladen ist. Zum realen Leben gehört das Sprechen einer Fremdsprache, das ihm - im Gegensatz zum Schreiben - bereits beim Englischerwerb keinesfalls leicht gefallen ist (LB 1/ 14, 16, 18, 20, 28). Die deutsche Sprache wird demgegenüber einerseits als zunehmend und unerwartet sehr schwierig empfunden (FB 3, LB 3/ 8, 16), auf der anderen Seite aber ist der „gap“ zwischen geschriebener und gesprochener Sprache nicht ganz so „sofferto“ (leidvoll) wie beim L2-Englisch-Erwerb (LB 1/ 20). Neben der Tatsache, dass das Englische z.T. „automatisch“ (LB 1/ 31) noch vor dem Italienischen abgerufen wird und eine beträchtliche Hilfe bei der Speicherung der deutschen Worte darstellt (LB1/ 38), tragen zu einer emotional positiven Besetzung auch das angenehme Klassenklima, die anregende Unterrichtsführung und das Gefühl, „geleitet zu werden“, bei (FB 4, 5). Zu seinen Fortschritten im Sprechen bemerkt er: <?page no="222"?> 222 Sì, perché so più parole, perché so molte più più strutture grammaticali, quindi magari adesso sono in grado di ee dire delle frasi e specialmente con dei tempi un po’, appunto, delle forme che so al preteritum oppure il congiuntiv zwei quindi so descrivere concetti che prima non sarei stato assolutamente in grado di descrivere. (LB1/ 63) Ja, weil ich mehr Wörter kenne und viel mehr grammatische Strukturen, daher bin ich jetzt vielleicht in der Lage, Sätze zu formulieren, vor allem mit (verschiedenen, SH) Zeiten, Präteritumformen oder Konjunktiv II, so kann ich Begriffe beschreiben, die ich zuvor nie hätte beschreiben können. Gianni beschreibt über das Kennen von Wörtern und Strukturen seine Verbesserung der Sprechfertigkeit, wobei Wissen und Können deckungsgleich sind und damit gerade die Merkmale ausgeblendet werden, die Mündlichkeit für ihn so problematisch, ja bedrohlich machen. Auf eine aktive Anwendung dieser erworbenen Kenntnisse zielt dann auch das Lernvorhaben der ersten Lernberatung, das bewusst vorbereitete Telefongespräche mit Freunden aus Deutschland vorsieht (LB 1/ 91). Damit zusätzlich auch das Hören, das zweite Problemfeld, geschult wird, will der Lernende außerdem vermehrt deutsches Fernsehen schauen. Im Tagebuch vermerkt er, dass ihm bei der Vorbereitung des Telefongesprächs mit dem deutschen Freund „1000 dubbi e paranoie“ (1000 Zweifel und Ängste, TB 26.1.2011) bezüglich der grammatischen Richtigkeit aufsteigen. Die Eintragungen bezüglich der Unterhaltung via Skype (TB 28.1.2011) tragen teilweise dramatische Züge, weil der Lernende sehr offen seine von ihm wahrgenommene Unzulänglichkeit beschreibt. Obwohl er „bloccatissimo“ (völlig gehemmt) einige Wörter herausbringt, wird die Kommunikation bald abgebrochen, weil er einmal kaum versteht, was der andere sagt, vor allem aber: „Soprattutto ancora di più della „comprensione” mi preoccupa il fatto che ho difficoltà di parlare“ (Noch mehr als das Verstehen, beunruhigt mich die Tatsache, dass ich Schwierigkeiten habe zu sprechen, ebd.). Diese Schwierigkeiten verursachen seiner Meinung nach die Hindernisse, die durch den relativ armen Vokabelschatz und durch das Denken an die grammatischen Regeln entstehen: Prima, però, devo attivare il mio vocabolario e riuscire di „buttarmi“ di più, quando parlo. Per adesso, mi mancano troppe parole e mi blocco pensando a tutte le regole di grammatica, ai generi, le declinazioni, eccettera eccettera eccettera! (ebd.) Zunächst aber muss ich meinen Wortschatz aktivieren und es schaffen, einfach loszusprechen. Im Moment fehlen mir zu viele Wörter und ich verkrampfe mich, wenn ich an all die Regeln denke, an den Genus, die Deklinationen usw. <?page no="223"?> 223 In der zweiten Lernberatung werden diese Probleme noch in einem anderen Licht gesehen, nämlich als Sprechhemmungen, die den Lernenden schon seit seiner Schulzeit begleiten und mit der Angst vor Blamage begründet werden: No, ma questo succedeva anche a scuola, all’università, c’erano amici e colleghi che parlavano, parlavano e dicevano delle emerite sciocchezze io invece non (unverständlich), forse per paura di fare qualche figura col professore, quindi ee preferivo stare zitto (LB 2/ 55) Das passierte mir auch auf der Schule, an der Universität, da waren die Freunde und Kommilitonen, die sprachen und irgendwelche Dummheiten sagten, und ich dagegen, vielleicht aus Angst, mich bei dem Professor zu blamieren, ich sagte lieber nichts. Auf die oben angeführte im Tagebuch festgehaltene misslungene Kommunikation angesprochen, widerspricht Gianni vehement, dass diese Erfahrung entmutigend gewesen sei (LB 2/ 28, 30). Das wesentliche Hemmnis läge in seinem Anspruch, keine Fehler zu machen: […] io vorrei inconsciamente ogni volta prima di parlare, avere la frase già pronta essere sicuro di avere scandagliato tutti gli elementi per non sbagliare nulla, solamente che chiaramente quando nei primi periodi non si ha una sufficiente dimestichezza ci si blocca perché ci si blocca a pensare alla regola, alla parola che non si conosce e si finisce col non dire nulla. (LB 2/ 32) […] Jedes Mal, bevor ich spreche, möchte ich unbewusst schon den fertigen Satz parat haben und sicher sein, alles überprüft zu haben, um nichts falsch zu machen. Nur wenn man am Anfang noch keine Routine hat, stockt man klarerweise, wenn man an die Regel und an das Wort, das man nicht kennt, denkt, und am Ende sagt man gar nichts mehr. Im Anschluss daran rate ich ihm, zu versuchen, nachsichtiger sich selbst gegenüber zu sein, und kopple das an Beobachtungen von seiner erfolgreichen Partizipation aus dem letzten Unterricht (12.2.2011), worauf der Lernende sehr positiv geradezu emotional aufgewühlt reagiert: „Ho provato, ho cominciato a provare, a provare, provare” (Ich habe das probiert, ich habe angefangen, das zu probieren, zu probieren, zu probieren, LB 2/ 49). Neben dem Vorhaben, die Selbstkontrolle zu entschärfen (LB 2/ 34), um damit leichter im Klassengespräch interagieren zu können, wird beim zweiten Treffen abgemacht, den Schwierigkeitsgrad der Übungen zu verringern und sich zunächst weniger authentischer Kommunikation zu stellen als durch (mündliche) Übungen semantische Felder aufzubauen und zu erweitern, sowie mit Phrasen bzw. Elementen Sätze zu bilden. Es sollen <?page no="224"?> 224 damit einmal der Lexikaufbau, aber auch grammatische Strukturen fokussiert werden. Aus dem Tagebuch geht hervor, dass Gianni in der Zeit zwischen der zweiten und der dritten Lernberatung, vor allem mit Hilfe von YouTube, von Nachrichten online und dem deutschen Fernsehen an seinem Hörverstehen gearbeitet hat. Bis auf eine Bemerkung zu seiner Erfahrung mit der „Deutschen Welle“: „Però va meglio di quanto pensassi. Da riprovare“ (Geht besser als erwartet, kann man nochmal versuchen, TB 26.2.11), enthalten sämtliche Reflexionen negative Einschätzungen in Bezug auf seine Kapazität, hörend zu verstehen. Die Eintragungen schließen mit Ausdrücken wie „poco confortanti“ (wenig tröstlich, TB 9.4.2011) oder Ähnlichem, gepaart mit dem Klagen über Zeitmangel für das Lernen. Die Ergebnisse der Übungen werden auch in der dritten Lernberatung als „non non tanto esaltanti“ (keinesfalls berauschend, LB 3/ 2) beurteilt, darüber hinaus entsteht teilweise der Eindruck eines mit Arbeit überlasteten Menschen: […] invece quest’anno ho talmente tanti impegni di lavoro, tante cose da fare che già dico sempre che servirebbe una giornata di quarantotto ore, cioè le ventiquattro ore non mi bastano per il lavoro che devo fare, perché mi chie, chiedono ormai il mondo di oggi è così sempre più ee si chiede sempre di più, si chiede sempre di più, mi chiedono sempre di più e quindi ee chiaramente già per il lavoro ventiquattro ore non bastano, figuriamoci per fare ehm qualcos’altro, diciamo, come per esempio il tedesco. (LB 3/ 6, auch in LB 1/ 44) […] dagegen habe ich in diesem Jahr so viele Verpflichtungen bei der Arbeit, so viel zu machen, ich sage schon immer, dass der Tag 48 Stunden haben müsste, die 24 reichen mir nicht für die Arbeit, die ich machen muss, weil sie mich, weil die Welt heute immer mehr verlangt, es wird immer mehr verlangt, sie verlangen immer mehr von mir, klar, dass 24 Stunden nicht mehr reichen, umso weniger für andere Dinge, wie z.B. das Deutsche. Vor diesem Hintergrund evaluiert er seine Lernfortschritte als mäßig und nicht seinen Erwartungen entsprechend: Rispetto a quando abbiamo parlato a dicembre è andato un po’ meglio nel senso che appunto ogni tanto ho cercato di parlare, di dire qualche cosa, però chiaramente ee sempre meno rispetto a quanto avrei voluto, sicuramente. (LB 3/ 23) Im Vergleich zum Dezember, als wir miteinander gesprochen haben, ist es ein bisschen besser gelaufen, d.h., ich habe versucht zu sprechen, etwas zu sagen, es ist aber sicher immer noch weniger, als ich gewünscht hätte. <?page no="225"?> 225 Auf die im Video beobachteten Abbrüche von Redebeiträgen (z.B. Video 7b/ Gianni 1, 9) angesprochen, präzisiert er, dass diese meist vorkommen, wenn er keine Möglichkeit hat, die Übungen vorzubereiten (LB 3/ 29-31). Die LB bewertet er als nützliche Anregung (LB 3/ 34) und hofft, davon in der unterrichtsfreien Zeit profitieren zu können. Vor allem will er die Angebote im Internet (GI und Deutsche Welle) nutzen, diese Absicht äußert er auch im Tagebuch (TB 28.4.11). Aus den vorliegenden Daten ergab sich ein Leitfaden mit den Begriffen 1. Angst/ Hemmungen beim Sprechen, 2. Wichtigkeit der Korrektheit, 3. eigene Stärke im Schriftlichen und 4. Englisch als Lernhilfe. Vor allem das Wortfeld zu negativen Gefühlen war stark vertreten, so häufen sich Ausdrücke wie „angosciare“ (Angst haben/ machen), „sofferto“ (leidvoll), sein Sprechen definiert der Lernende als „tentativo maldestro“ (schlecht gelungener Versuch), worin grundsätzlich eine überkritische bzw. negative Einstellung zu dem eigenen Fremdsprachenlernen hervortritt. 4.2.1.3.2 Lernstand SSE Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte insg. 1. 0,5 0,5 1 2,5 4,5 2. 2 (+1,5) 2 (+1,5) 2 (+1) 3 (+0,5) 9 (+4,5) 3. 3(+1/ +2,5) 2,75 (+0,75/ +2,25) 3,5 (+1,5/ +2,5) 3 (0/ +0,5) 12,25 (+3,25/ 7,75) Tab. 27 ̶ Sprachstandserhebungen von Gianni Während es Gianni bei der ersten Sprachstandserhebung kaum gelingt, sich sprachlich zu äußern (s.o., bestätigt in LB 3/ 23), formuliert er beim zweiten Test am Kursende vollständige Sätze, stockt weniger, auch wenn er weiterhin ab und zu nach dem deutschen Wort für italienische Ausdrücke fragt, und verbessert seine mündliche Kompetenz damit gewaltig. Der Lernfortschritt ist in der Ausdrucksfähigkeit sowie in der Aufgabenbewältigung signifikant (+1,5), aber auch im Formalen sind deutlich weniger Fehler zu bemerken. Die Ergebnisse der dritten Sprachstandserhebung belegen, dass sich der Lernprozess auch deutlich nach Kursende fortgesetzt hat (+3,25). Seinem Vorhaben entsprechend (s.o.) hat der Lernende auf unterschiedliche Weise an seinem Deutsch gearbeitet, verschiedentlich auch mit Deutschen Kontakt gehabt, da er Ende des Sommers zu einem Kongress nach Deutschland fahren will. Den größten Lernsprung macht er im Nachtest im Rahmen der Korrektheit (+1,5), was diesen Bereich als Kategorie absichert, aber auch die Anzahl der Wörter ist gestiegen, und die Auswahl ist vielfältiger geworden. Insgesamt hat Gianni einen beträchtlichen Fortschritt <?page no="226"?> 226 im Mündlichen gemacht (+7,75), was auch von der Expertin - mit Betonung des Formalen - bekräftigt wird: Gianni ist ein ruhiger Typ. Er hat große Fortschritte im Schreiben gemacht. Die Korrekturen versucht er jedes Mal umzusetzen, und das gelingt ihm auch. Er spricht nicht viel, aber wenn er spricht, ist es richtig (32.12). Von der Korrektheit her ist er sehr viel besser geworden, aber ihm fehlt das Freie und Offene (32.43). Er spricht nicht, weil er Angst hat, Fehler zu machen, sondern weil er Sprechhemmungen hat (33.17). Im Rahmen der Methodenreflexion erscheint vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Datenanalyse die Einschätzung als „ruhiger Typ“ interessant, weil sie die (oder eine) Außensicht auf den Lernenden widerspiegelt und damit das Potenzial der introspektiven Daten, eben den Einblick in das, was dahinter liegt, verdeutlicht. 4.2.1.3.3 Lernen im Unterricht Gianni ist der Lernende mit den wenigsten Unterrichtsbeiträgen. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um einzelne Wörter. Er äußert selbstinitiiert kaum einen vollständigen Satz, oft klinkt er sich bei den Beiträgen der anderen ein. Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Wortmeldungen im Verhältnis zum Kurs fehlt 76 % 74 % 97 % 17 8 % 12 7 % 11 6 % 12 6 % 42 % davon SI - 4 3 6 15 10 4 3 1 Tab. 28 ̶ Wortmeldungen von Gianni In den der zweiten Lernberatung folgenden beiden Unterrichtsmitschnitten (26.3. und 2.4.11) lässt sich ein leichter Anstieg der Beteiligung bemerken, bei dem vor allem die selbstinitiierten Beiträge zunehmen, wohingegen sonst der lehrerinitiierte Anteil übermäßig groß ist. Auch im Verhältnis zur Klasse (s. Tab. 21) stechen besonders am 9.4. und am 16.4. die lehrerinitiierten Beiträge hervor und belegen die in der LB und dem TB geäußerten Schwierigkeiten, sich spontan in die Gruppe einzubringen. In den Videografien wird aber auch seine Anstrengung sichtbar, diesem Problem zu begegnen. Aufgrund der nur geringen zur Verfügung stehenden visuellen Daten wurde bei der Interpretation der Sequenzen auf eine Unterteilung in Kategorien verzichtet: Der erste Dialog behandelt den Grund, aus dem die Kursteilnehmer Deutsch lernen: <?page no="227"?> 227 01 K bei euch, also bei eurer arbeit; braucht ihr deutsch, oder könntet ihr deutsch brauchen? ((Zustimmung aus der Klasse )) gianni du? oder kommuniziert ihr auf englisch? 02 G auf englisch (.) aber (-) in deutschland äh sind viele mö positionen posti di lavoro positionen; 03 K positionen, 04 L arbeitsplätze. 05 K arbeitsplätze ja arbeitsplätze. (.) okay ((schreibt das Wort an die Tafel.)) arbeitsplatz oder; also es gibt arbeitsplätze in deutschland, 06 G äh für: chemie und (.) inge inge inge si dice, 07 K ingenieure ingenieure, aha. 08 G in deutschland und in österreich ähm äh spanien in der schweiz. 09 K aha aha also du auch so ein bisschen wie emilia äh, wir lernen die sprache, um dann eventuell im ausland zu arbeiten.= 10 G =vielleicht Video 4a/ Gianni 2 Das Gespräch weitet sich auf die Frage aus, wie viele Kursteilnehmer ein Deutschkurs haben sollte: 01 K gianni hast du? oder ist es wie du sagst egal, (.) zwanzig oder zehn, das ist egal. 02 G nein; das ist= 03 K =nicht egal, 04 G für mich ist es besser (.) wenn (.) nur ähm (-) fünf bis zehn leute in einem kurs sind. 05 K hm hm. Video 4a/ Gianni 5 Bei fehlenden Wörtern weicht der Lernende auf das Italienische aus bzw. fragt auf Italienisch nach dem deutschen Wort, er probiert aber auch bei Wörtern lateinischen Ursprungs die Ableitung aus dem Italienischen aus, wie mit „Positionen“ im ersten Beispiel (02). In der zweiten Sequenz wird der Sprachfluss durch die zwei Mikropausen leicht skandiert (04), die wohl durch ein Nachdenken verursacht sind; Syntax und Wortwahl sind richtig (vgl. auch Video 4b/ Gianni 2).Dasselbe Verhalten lässt sich auch zu einem späteren Zeitpunkt im Kursverlauf beobachten. Das behandelte Thema ist hier die Arbeit als Au-pair-Mädchen, wobei in der zweiten Sequenz über ein diesbezügliches Stellenangebot diskutiert wird: <?page no="228"?> 228 01 K […] würdet ihr es gerne machen? (-) gianni nein? du sagst im moment bist du etwas SKEPtisch, (--) skeptisch? [skeptisch] 02 G [ ja.] 03 K ja? warum, 04 G hm (.) ich ich weiß nicht. aber das ist eine (.) sensation; 05 K =ein gefühl ein gefühl, ja; 06 G ja. 07 K ja. warum? warum? (---) 08 S mö möchtest nicht ( ) kaufen (-) ((stockend und schwer verständlich)) 09 G ((an Sandra gerichtet)) ich mag ich mag nicht äh äh ähm (.) putzen oder äh (-) einkaufen äh für andere (.) leute. 10 S ( ) 10 K okay. also sagen wir mal, die hausarbeit würde dir nicht so gefallen. […] Video 6b/ Gianni 1 01 K okay. warum, was passt? 02 C alles. 03 K alles, 04 G nicht alles. ((leise)) 05 K nicht alles gianni? 06 G vielleicht ein (.) problem ist deutsch(.)kenntnisse. ausreichend versus versus si può dire? 07 K ja- 08 G äh (.) sie akzeptieren nicht äh leute mit geringen deutschkenntnissen. 09 K ja. warum meinst du das ist ein problem? (---) 10 G ob sie suchen äh (-) sie suchen (-) leute mit äh GUT deutschkenntnissen. 11 K seid ihr einverstanden mit gianni? […] Video 6c/ Gianni 4 Die Sequenz zum Mehrgenerationenhaus zeigt einmal den wiederholten automatischen Rückgriff auf das Englische („but“ in Video 7b/ Gianni 5): 01 K gianni was meinst du? auch skeptisch? weil die menschen- 02 G für mich ist das eine sehr gute idee. 03 K hm. 04 G (.) weil ähm allein leute (.) kann äh andere leute finden und vielleicht ein bisschen hi hilfe? <<fragende Geste>> finden; wenn they va be <<Geste, die das englische Wort als Ausrutscher kennzeichnen>> wenn sie ähm brauchen (-) etwas (-) zum beispiel. Video 7b/ Gianni 10 <?page no="229"?> 229 Sein Sprechverhalten deutet aber auch auf eine größere Bereitschaft zur Fehlertoleranz hin. Vor dem Hintergrund dessen, was wir anhand der verbalen Daten über den Lernenden wissen, besteht die berechtigte Annahme, dass er sich beim Verb „brauchen“ bewusst wird, den Nebensatz abgeschlossen zu haben. Ein kurzes Innehalten und der leicht konsternierte Gesichtsausdruck liefern hierzu weitere Indizien. Er führt den Satz aber fort, indem er das Nachfeld füllt, wie er es vom Italienischen oder Englischem gewöhnt ist, lässt sich also von der Unkorrektheit nicht bremsen. Bei dem Thema „Falsche Freunde“ aus dem Spanischen ist er zunächst überrascht und anfänglich unschlüssig, ob er die Handlungsaufforderung übernehmen soll: 01 K man glaubt vielleicht, es ist einfach, aber gianni was, 02 G hm posso mehr einfach als andere- 03 K einfacher. 04 G einfacher als andere: fremdsprachen; aber- 05 K aha- 06 G aber es ist (.) nicht so einfach; 07 K nicht so einfach. […] Video 10b/ Gianni 2 Dieses Mal lässt er sich auf den Dialog ein, in anderen Situationen verweigert er dagegen eine Antwort (z.B. Video 8a/ Gianni 2) oder es scheint, dass er sich nicht angesprochen fühlt und sich deshalb bei lehrersowie schülerinitiierten Korrekturen nicht selbst berichtigt (Video 3b/ Gianni2, Video 7b/ Gianni 1, 9, Video 9b/ 2, 4). 4.2.1.3.4 Fazit Das Sprechen in einer Fremdsprache bedeutet für Gianni eine doppelte Herausforderung, weil er grundsätzlich mit Sprechhemmungen zu kämpfen hat. Ob seine Angst, sich durch Fehler zu blamieren, eine Folge davon ist oder Anlass dazu, steht außerhalb dieses Forschungskontexts, sowie auch derartige Ängste nur unter bestimmten Umständen Gegenstand der Sprachlernberatung sein können (vgl. Fronterotta 2011). Dass er diese Hemmungen in der Klasse angehen kann, ist ihm nicht nur bewusst geworden, sondern er hat auch versucht, dieses Vorhaben zu realisieren (s.o., auch LB 2/ 49). Dies unterstützen das von ihm hervorgehobene angenehme Klima in der Klasse (FB 4), aber sicher auch die Angewohnheit der Kursleiterin, den Lernenden direkt anzusprechen, was seinen Bedürfnissen entgegenkommt. Er selbst heißt es gut, zum Sprechen gezwungen zu werden (LB 2/ 16). Dass negative Gefühle aber nur bis zu einem bestimmten Punkt durch die Atmosphäre und das Lehrerverhalten ausgeglichen werden kön- <?page no="230"?> 230 nen, steht auch außer Frage: „Möglich ist ein solches Arbeiten (unter Berücksichtigung von Gefühlen, SH) nur in einer angstfreien Atmosphäre. Jedoch bedeutet eine angstfreie Atmosphäre nicht gleichzeitig, dass sich dadurch alle Lerner angstfrei fühlen“ (Ogasa 2011: 18). Hinzu kommt, dass Gianni offensichtlich unter beträchtlichem Arbeitsstress steht, was sich auf das Gesamtbefinden des Lernenden negativ auswirkt. Angst und Überlastung sind eine deutliche Bremse für sein Lernen, das sich ̶ auch wenn deutlich Ansätze zu einem expansiven Lernen bestehen ̶ in dem untersuchten Zeitabschnitt eher einem defensiven Verhalten zuordnen lässt. Die Erweiterung der eigenen Handlungsräume als Motor für sein Lernen besteht als Fernziel. Wie stark ein solches Interesse wirken kann, lässt sich an den Erfolgen im Nachtest nachweisen; die Wochen nach Kursende schaffen offensichtlich günstigere Bedingungen und ebnen den Weg für expansives Lernen (Abb. 16). Da der Lernende in der mangelnden Lexik einen Teil seiner Sprechschwierigkeiten ausmacht, legt er seinem Interesse gemäß, unter Umständen in Deutschland zu arbeiten, verstärkt den Fokus darauf. Es ist ihm am Ende des Kursjahres und in den Wochen danach gelungen, dieses Vorhaben umzusetzen. Es ist aber vor allem der formale Bereich, in dem größere Lernfortschritte zu verbuchen sind. Die Tatsache, dass der Lernende in der zweiten sowie auch in der dritten Sprachstandserhebung einen bemerkenswerten Lernsprung in der formalen Richtigkeit vollzogen hat (s. auch Experteninterview), bestätigt sein profundes Bedürfnis, formal richtig zu sprechen und als korrekter Sprecher wahrgenommen zu werden. Darauf und auf seinem Bedürfnis nach Kontrolle beruht vor allem sein betont bewusster Zugang zum Deutschlernen. Dies macht ihn zu einem sehr aufmerksamen Zuhörer und gewissenhaften Schüler. Im Bereich der mündlichen Kompetenz wird das Defizit an Sprechhandlungen damit zum Teil kompensiert. Dass die Schwierigkeiten beim hörenden Verstehen und beim produktiven Sprechen bei ihm nicht mit einer fehlerhaften Aussprache zusammenfallen, liefert m.E. aber auch den Hinweis darauf, dass er weitaus mehr implizit übernimmt, als dass man von seinem bewusstseinsbetontem Zugang her vermuten würde. Dem förderlich ist wohl auch der langjährige und ständige Umgang mit der ersten Fremdsprache Englisch sowohl im Inals auch im Ausland. <?page no="231"?> 231 angenehmes Klassenklima, gut bekannte Mitlernende Sprechhemmungen zunehmend sehr schwierige, komplexe Sprache korrektes Sprechen gute Englischkenntnisse defensives Lernhandeln formal relativ korrektes Sprechen, für B1 angemessene, abrufbare Wörter, zeitweise stockend Abb. 16 ̶ Schematische Darstellung des Lernprozesses von Gianni 4.2.1.4 Emilia 4.2.1.4.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben Die zwanzigjährige und damit jüngste Kursteilnehmerin ist im dritten Jahr am Goethe-Institut eingeschrieben, wo sie sich „a casa mia“ (zu Hause, LB 3/ 18) fühlt und die Kursleiterin bzw. deren Methode als „unico nel suo genere“ (einzig in ihrer Art, FB 4) lobt. Diese positive Erfahrung stellt sie den Deutschkursen an der Universität gegenüber (FB 7, 79, LB 3/ 14) oder auch dem Fremdsprachenlernen in der Schule (LB 1/ 18). Im Gegensatz zu diesem vor allem theoretischen Ansatz an den öffentlichen Bildungsanstalten, auf den sie mehrmals zu sprechen kommt und bei dem auf der Schule auch persönliche Faktoren negativ mitgewirkt haben (LB 1/ 18, 53, 55), vollzieht sich das Lernen am Goethe-Institut und in (an Privatschulen durchgeführten) Englischkursen (LB 1/ 18) vorwiegend über die Anwendung der Sprache: […] mai comunque ho preso una grammatica e studiato sistematicamente la lingua, quindi ho proprio affrontato questo studio soltanto attraverso la comunicazione orale; Lexik, grammatische Strukturen Lexikaufbau Verbesserung der formalen Richtigkeit schnelleres Abrufen Hemmungen in der Klasse überwinden, Hören (Authentische) Kommunikation zum Lexikaufbau ( etwas mehr) Sprechen im Klassenkontext, authentische Kommunikation <?page no="232"?> 232 poi sì, c’era l’esercizio scritto, c’era anche la pratica dell’ascolto, però comunque era molto diretto come conversazione. (LB 1/ 18) […] Nie habe ich eine Grammatik genommen und systematisch die Sprache gelernt, d.h., ich habe sie nur über die mündliche Kommunikation gelernt; dann waren da auch die schriftlichen Übungen und die zum Hörverstehen, alles war aber vorwiegend auf das Sprechen gerichtet. Die Sprechpraxis ist für Emilia eindeutig positiv besetzt und stellt den richtigen Lernweg dar (LB 1/ 97). Dem Deutschen gegenüber herrscht eine positive Einstellung in der Familie (LB 1/ 67, 69). Sie selbst ist auf die deutsche Sprache durch ihre beste Freundin gestoßen (FB 8), und nach anfänglichen Vorurteilen gefällt sie ihr sehr gut: „Nel corso degli anni ho imparato ad apprezzarla e ad amarla sempre di più“ (Im Laufe der Jahre habe ich sie schätzen und lieben gelernt, FB 3). Es ist vor allem der Klang, der sie anzieht und den sie als melodisch („musicale“, FB 1) beschreibt. Sie stellt Unterschiede zum Englischen fest, weniger im lexikalischen als vor allem im morphosyntaktischen Bereich (LB 1/ 34, 44). An die Deutschsowie an Englischkenntnisse koppelt sie ihre Berufswünsche, die sie gegebenenfalls auch im Ausland realisieren will (FB 10, LB 1/ 10, 12, 14). Als präferierter Zugang nach der Konversation mit (vorzugsweise) Muttersprachlern wird Musik genannt, auch fürs Englische (LB 1/ 87). Musik hilft ihr beim Lernen und beim Einprägen neuer Vokabeln, aber auch von „Formeln“, festen Ausdrücken (LB 1/ 95). In dem Sinne wird in der ersten Lernberatung ein Arbeiten mit Musik und Hörübungen vereinbart, zu deren Vertiefung auch parallel die Texte hinzugezogen werden (LB 1/ 105). Aufzeichnungen über ihr Tun liegen nicht vor, weil der Lernenden das Tagebuch abhanden gekommen ist. Nach eigenen Aussagen hat sie verschiedene Übungen gemacht und dort festgehalten, dass vor allem das Fehlen von Vokabeln ein Hemmnis dargestellt habe: Appunto, secondo me la cosa principale è il lessico perché mi blocca anche lì, la conoscenza di molte parole non mi permette, la non conoscenza non mi permette di andare avanti come vorrei; cioè, magari una determinata parola di cui non conosco il significato non non mi permette materialmente di poter proseguire con l’esercizio (LB 2/ 20) Genau das ist es meiner Meinung nach, die Lexik, die mich hemmt, die Kenntnis vieler Wörter, die Unkenntnis vieler Wörter hindert mich daran fortzuschreiten, so wie ich will. Da ist vielleicht ein bestimmtes Wort, dessen Bedeutung ich nicht kenne, was mich konkret daran hindert, die Übung weiterzumachen. <?page no="233"?> 233 So wird in der zweiten Lernberatung eine Vertiefung von semantischen Feldern zu verschiedenen Alltagsthemen vereinbart (LB 2/ 64, 65). Die Grammatik erscheint dagegen ein geringes Problem; nur wenn sie an die Regeln beim Sprechen denkt, gerät sie ins Stocken (LB 2/ 24): Grammatica bene o male alla fine imparar, una volta imparata la struttura, quella regola, insomma, per esempio, abbiamo studiato il passivo allora una volta, si applica il passivo si fa in questo modo, in questo modo però a livello poi di proprio parola, insomma non (LB 2/ 22) Die Grammatik lernt man irgendwie, wenn man einmal die Struktur kennt, die Regel, also wir haben zum Beispiel dann einmal das Passiv gelernt. Man wendet das Passiv so und so an, aber dagegen auf der Wortebene (ist es schwieriger, SH). Ihre eigenen Grammatikfehler beim Sprechen führt Emilia auf mangelnde Konzentration zurück (LB 2/ 38). Sie betont mehrmals, dass ihr die Regeln bekannt sind (LB 2/ 49, 51, 53), wodurch der Eindruck entsteht, dass sie sich für Verstöße rechtfertigen müsse oder zumindest befürchtet, damit einen schlechten Eindruck zu hinterlassen. Diese Angst nennt sie explizit im Zusammenhang mit ihrer Unsicherheit, sich zu Wort zu melden: Però poi l’insicurezza poi mi blocca, entrano in gioco poi la timidezza, l’insicurezza, insomma una serie di di scomponenti che mi mi bloccano, comunque “lo dico o non lo dico? ”, “sì o no? ”, “sbaglio o non sbaglio? ”, non non mi lancio, va bè poi sbagliando comunque potresti anche farlo, però io non mi sento; spesso mi capita di rimanere… dico “no, poi se sbaglio mi sento…”, è come quasi se mi sentissi in colpa, cioè dico “va, io l’ho studiato però lo sbaglio” e magari dico “allora sto zitta che è meglio” così evito di fare brutte figure. (LB 3/ 20, auch LB 3/ 14, 22) Dann ist da die Unsicherheit, die mich hemmt. Dazu kommen die Schüchternheit, die Unsicherheit, also eine Reihe von Faktoren, die mich hemmen. „Sag ich das oder sag ich das nicht? “ „Ja oder nein? “ Nein, ich traue mich nicht, okay, egal, wenn du was falsch machst, das könntest du schon machen, aber dann fühle ich das nicht. Häufig bleibt es dann dabei und ich sage: „Nein, denn wenn du es falsch sagst, fühle ich mich…“ Es ist, als ob ich mich schuldig fühlen würde, ich meine: „Ich habe das gelernt, und jetzt mache ich das aber falsch.“ Und dann sage ich mir: „Also dann ist es besser, wenn ich gar nichts sage.“ Dann vermeide ich es, unangenehm aufzufallen. In diesem inneren Dialog wird deutlich, welchem Druck die Lernende ausgesetzt ist. Dieser geht einher mit einem hohen Stellenwert von Fremdeinschätzung: <?page no="234"?> 234 Già questo un po’ mi gratifica, tra virgolette, questa cosa che lei mi sta dicendo, comunque, che parlo quanto meno comprensibile (LB 2/ 55) Das bestätigt mich schon ein bisschen, so in Anführungszeichen, wenn Sie mir sagen, dass ich zumindest verständlich spreche. Freudig erwähnt sie, dass die anderen Kursteilnehmer sie darauf aufmerksam gemacht haben (LB 2/ 28, 30), dass sie sich in der letzten Stunde (am 12.2.11, Video 4) mehr beteiligt hat (s.u.). Sie führt das eventuell auf die Videokamera (! ) zurück oder auf das Thema der Unterrichtseinheit (Sprachenschule/ Fremdsprachenlernen): Giusto giusto, infatti l’abbiamo notato tut, l’hanno notato pure i miei compagni di corso hanno notato “oggi hai parlato molto di più”, però non capita spesso perché buh, sarà stata lei con la telecamera o forse anche diciamo (LB 2/ 28) Richtig, richtig, das haben wir alle, das haben auch die anderen Schüler bemerkt: “Heute hast du viel mehr gesprochen.“ Aber das passiert nicht so oft. Ich weiß auch nicht. Vielleicht weil Sie da waren mit der Kamera oder vielleicht... In der Zeit zwischen der zweiten und dritten Lernberatung wird Emilia mit einem neuen Tagebuch ausgerüstet, aber dieses bleibt − bis auf ein paar Zeilen − leer. In der dritten Lernberatung bestätigt sie, dass sie aus Zeitgründen kaum extra Übungen hat machen können. Dennoch evaluiert sie die Beratungstreffen positiv, da sie ihr Anstöße gegeben haben: Sì, perché comunque, come dicevo prima alla fine c’è questo confronto, cioè, lei viene e mi aiuta a vedermi da fuori, mentre io mi vedo come sono io, non è che, non mi sento, non mi vedo, lei magari può darmi, una cioè ha una percezione diversa, quindi, magari questo confronto diciamo può essere poi alla fine effettivamente. (LB 3/ 28) Ja, weil sie (die LB, SH), wie ich schon vorher gesagt habe, am Ende diese Gegenüberstellung bringen, das heißt, Sie kommen und helfen mir, mich von außen zu sehen, während ich mich sehe, wie ich bin, das heißt nicht, dass ich mich nicht fühle, mich nicht sehe. Sie können mir vielleicht etwas geben, eine andere Wahrnehmung, das kann am Ende nützen. Sì, mi può anche spronare a comportarmi in modo diverso o comunque ad avere un atteggiamenti diversi nei nei confronti della lingua, del mio at, del mio comportamento (LB 3/ 30) Ja, das kann mich dazu anregen, mich anders zu verhalten oder auf jeden Fall eine andere Haltung in Bezug auf die Sprache einzunehmen im Vergleich zu meiner. <?page no="235"?> 235 Dass die Lernberatung auch zu ihrer Entscheidung geführt hat, mit einer Mitlernenden einen Kurs in Deutschland zu besuchen, beantwortet sie als durchaus möglich (LB 3/ 84, 85). 82 Allerdings kosten sie Erfahrungen dieser Art einen beträchtlichen Kontroll- und Energieaufwand, wie es der Ausdruck „violentarsi“ (sich vergewaltigen, LB 3/ 49) überdeutlich demonstrieren. In den Gesprächen mit Emilia fehlen Worte wie „gioia“ (Spaß, Freude) oder „voglia“ (Lust) und bei „Stellung beziehen“ bezüglich der eigenen (Lern-)Handlungen ersetzt das Müssen das Wollen (LB 3/ 51). Die Kursleiterin, die die Lernende seit fast drei Jahren kennt, bemerkt eine signifikante Änderung in ihrem Verhalten und einen deutlichen Lernzuwachs: Emilia hat auch „Riesenfortschritte“ (29.58) gemacht. Da sie ja auch an der Universität Deutsch studiert, sollte man annehmen, dass sie einige Sachen besser versteht als die anderen, aber sie ist wohl „schulgeschädigt“ (30.23), d.h., sie hat schlechte Erfahrungen auf der Schule gemacht. Sie lässt sich ganz schnell verunsichern, auch wenn sich das in diesem Kurs stark gelegt hat. Sie fängt an zu sprechen und bricht dann ganz schnell wieder ab. Jetzt ist sie freier und offener und hat nicht mehr so viel Angst vor Fehlern. Sie hat „unglaublich an Selbstsicherheit“ (31.22) gewonnen. Im Rahmen der Kodierung werden die Begriffe 1. Unsicherheit, 2. Sicherheiten im Grammatischen und 3. Lexikzuwachs als Hauptinteresse notiert. 4.2.1.4.2 Lernstand SSE Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte insg. 1. 2 2 2,5 3 9,5 2. 2,75 (+0,75) 2,75 (+0,75) 3 (+0,5) 3 11,5 (+2) 3. 3,25 (+0,5/ +1,25) 3,25 (+0,5/ +1,25) 2,75 (-0,25/ +0,25) 3 12,25 (+0,75/ 2,75) Tab. 29 ̶ Sprachstandserhebungen von Emilia Die von der Expertin bemerkten „Riesenfortschritte“ in der mündlichen Kompetenz lassen sich in den drei Sprachstandserhebungen (Tab. 29) nicht nachweisen; mit +2,75 befindet sich der Lernzuwachs im unteren Durchschnitt der Klasse. Vorstellbar ist, dass die Prüfungssituation, das „Bestehen“ vor „Autoritäten“, bei einem wie oben dargelegten Lernprofil die mündliche Leistung schmälert. In Bezug auf die grammatische Korrektheit wird deutlich, dass das Wissen, von dem die Lernerin bei sich selbst ausgeht (s.o.), vorhanden, aber beim Spre- 82 Das Projekt wurde dann aber nicht durchgeführt. <?page no="236"?> 236 chen nicht immer abrufbar bzw. in der Anwendung noch weiter zu festigen ist. Dies klingt ja auch deutlich in der Beurteilung der Expertin an (s.o.). Größere Fortschritte hat Emilia in der Ausdrucksfähigkeit und in der Aufgabenbewältigung gemacht, d.h., mehr Vokabeln stehen schneller bereit. Das Ergebnis schwächt die Kategorie „Sicherheit im Grammatischen“ ab, während es den Schwerpunkt im Wortschatzerwerb untermauert. 4.2.1.4.3 Lernen im Unterricht Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Wortmeldungen im Verhältnis zum Kurs 23 % 11 9 % 13 7 % 24 18 % 27 13 % 11 6 % 24 13 % 22 12 % 17 9 % davon SI 2 9 10 23 26 9 23 15 16 Tab. 30 ̶ Wortmeldungen von Emilia Anhand der Werte (Tab. 30) lässt sich eine stärkere Interaktion im Unterricht im letzten Drittel des Kursjahres nachweisen, auch die oben angesprochene stärkere Partizipation am 12.2. tritt deutlich hervor. An diesem Tag liefert Emilia 18 % der gesamten Wortmeldungen und kurbelt damit ihre eigene Beteiligung vehement an. Die Daten zeigen aber auch, dass dieser Einsatz nicht gleichbleibend ist, es gibt auch in dem letzten Kursteil Abfälle. Die Wortmeldungen sind vorwiegend selbstinitiiert, nur am 16.4. wird sie häufiger im Rahmen der Hausaufgabenkorrektur zum Vorlesen aufgefordert. Die Analyse konzentrierte sich hauptsächlich auf die Kategorien Unsicherheit und grammatisches Wissen. Während der Sichtung des Materials und dessen Bearbeitung wurden beide ausdifferenziert: Zur Unsicherheit entstand die Subkategorie Feedback (von Lehrer- und von Schülerseite) und bei den Grammatikkenntnissen waren deklaratives und prozedurales Wissen zu unterscheiden, was in den verbalen Daten in der Gegenüberstellung Theorie-Anwendung (Schule/ Universität-Privatschulen) schon angeklungen war. Es wurde auf eine Unterteilung der Sequenzen nach den Kategorien verzichtet und stattdessen ein übergreifender Titel für Emilias Lernen gewählt. Unsicherheit vs. Sicherheit durch Feedback und über Grammatikkenntnisse Sequenzen, die Unsicherheit im sprachlichen Handeln von Emilia bekunden, lassen sich in den Unterrichtsmitschnitten zahlreich anführen. Es handelt sich hierbei um Abbrüche, um explizite Verweigerungen wie „Ich kann das nicht“, wonach jemand anderes einspringt, und um Hilfeersuchen (Video 2a/ Emilia 2, Video7b/ Emilia 5, Video 8a/ Emilia 4, Video 9a/ Emilia 7, Video 10b/ Sandra 14); der Eindruck verstärkt sich durch ihr zum Teil leises Sprechen, das sich <?page no="237"?> 237 „probeweise“ manchmal zunächst an den Nachbarn richtet (Video 9a/ Emilia 2, 8).Die folgenden vier Sequenzen behandeln zunächst die Frage, wie im Italienischen in der indirekten Rede das Zeitverhältnis von Haupt- und Nebensatz ist, in dem zweiten Redewechsel handelt es sich um eine Verständniskontrolle bei einem Hörverstehen, die dritte Gesprächseinheit fokussiert den Unterschied zwischen „liegen“ und „legen“ und in der vierten werden Fragen bei der Einstellung eines Au-pair-Mädchens gesammelt: 01 K […] sagst du mal laut? 02 E wir benutzen (.) 03 K ja was ist das denn? was müssen wir machen im italienischen? 04 E dass die wenn wir präteritum haben ähm wir benutzen die präteritum im nebensatz (-) 05 K im italienischen? ((nickt)) ja? alle einverstanden? Video 1/ Emilia 1 01 K […] und die frage b? warum fuhr er ins restaurant? 02 E weil er <<Unsicherheit, wer sprechen soll, Chiara und Emilia setzen gleichzeitig an>> er nicht kochen kann; 03 K gut. 04 E und seine frau ist nicht zu hause. 05 K sehr gut. sehr gut. prima […] Video 2d/ Emilia 2 01 K was ist der unterschied? ähm. 02 E ich liege das buch. ich lege= 03 F =ich liege auf den tisch ähm 04 E das buch liegt auf dem tisch. ich lege das buch auf ((zeigt gestisch „auf den Tisch“)) 05 K sehr gut. genau. Video 3b/ Emilia 2 01 K […] was könnten sie noch fragen? 02 E haben sie ähm einen kurs besucht? 03 K genau. hast du einen kurs besucht oder hast du deutsch in der schule gelernt? ja? […] Video 6b/ Emilia 7 Die Wortmeldungen belegen die von ihr erwähnten grammatischen Kenntnisse sowohl auf der deklarativen als auch auf der prozeduralen Ebene. Zu bemerken ist im zweiten und dritten Ausschnitt die nachdrückliche positive Rückmeldung <?page no="238"?> 238 der Kursleiterin. Derartiges Feedback erhält sie zusätzlich von Mitlernenden, besonders von Sandra, mit der sie sich besonders gut versteht: 01 E sie schlagen ähm einen kurs zu besuchen vor. ((Sandra schaut sie lobend an und Emilia lächelt)) 02 K gut. […] Video 6b/ Emilia 8 Emilia ist hier eine relativ schwierige Satzkonstruktion beim freien Sprechen gelungen. In der nächsten längeren Sequenz geht es darum, warum man Sprachen lernt: 01 K ja; warum noch? warum lernt man noch sprachen? (0,5) 02 E treffen freunde ((lacht)) freunde no im internet und, 03 K ah. im internet? 04 E ja es gibt viele äh si seiten äh: wenn du äh mit anderen mit anderen personen sprechen (.) du kann kannst sprechen. 05 K also da gibt es zum beispiel ich weiß nicht ein forum deutschlernen oder sowas, 06 E hm nein es ist- 07 L zu chatten? 08 E [ja aber manchmal] 09 L [wenn man chatten sagt] 10 K chatten <<engl. Aussprache>> ja, 11 E ja scambio? 12 K austausch. 13 E ja es gibt einen (.) 14 D austausch. 15 K äh in in fremd speziell spezifisch für bestimmte sprachen? 16 E ja. ((leise)) 17 K ah das ist ja interessant und dann schreibst du auf deutsch? 18 E ich kann äh deutsch sprechen und äh den (.) andere personen können sprechen- ((lehnt sich zurück)) <<Es sieht so aus, als ob sie Schwierigkeiten hat.>> 19 S italienisch. 20 E ja italienisch. ähm tandem. 21 K ah online-tandem. wusst ich nicht, dass es sowas gibt. wusstest du, dass es sowas gibt sandra? ((Sandra nickt und zieht die Schulter hoch)) ah und das machst du? 22 E nein ich habe äh einmal äh benutzt aber leute ist sind immer ähm ((schaut zu Dora rüber)) maleducate. 23 K ach ja; wieso sind sie nicht so freundlich? <?page no="239"?> 239 24 E nein. 25 K okay. […] Video 4a/ Emilia 10 Emila gerät in turn 04 offensichtlich am Ende des Satzes in Schwierigkeiten und reiht die Worte in der italienischen Reihenfolge aneinander. Auch in turn 22 wird zunächst - wie im Italienischen - der Singular des Verbs „sein“ abgerufen, aber unmittelbar korrigiert. Zu einem späteren Zeitpunkt im Kursjahr macht sie diesen Fehler nicht mehr (Video 7b/ Emilia 11, s.u.). Das neue, von der Kursleiterin genannte Wort „Austausch“ traut sie sich anscheinend nicht zu wiederholen, vielleicht hat sie es auch akustisch nicht richtig verstanden. Es wird nach kurzer Pause von ihrer Nachbarin helfend hinzugefügt, wie es der Blickkontakt zwischen beiden verdeutlicht. Vor den Ausdrucksschwierigkeiten (18) macht die Lernende diesmal nicht Halt, auch wenn es sie sichtbar Anstrengung kostet. Sie nimmt das von der anderen Nachbarin suggerierte Wort auf und führt das Gespräch weiter. Die Redesequenz wird von vielen nicht offiziell identifizierbaren (s. 1.6.2.2) Gesten untermalt und in Momenten der Hilflosigkeit verstärkt eingesetzt. Die unten stehende Diskussion behandelt das Thema Generationenhaus: 01 K habt ihr im auf sizilien doch noch die funktionierende familie; dass ihr sowas gar nicht braucht? emilia. 02 E ich hm war einverstanden mit ferdinando. 03 K aha. 04 E leute sind (.) sehr egoistisch. 05 K aha. 06 E manchmal. 07 K aha. 08 E so ist (.) das ist nicht (.) äh möglich. 09 K also du meinst es ist utopisch […] Video 7b/ Emilia 11 Wie oben schon angemerkt, benutzt die Lernende in turn 04 diesmal spontan richtig die Pluralform von „sein“ bei „Leute“. Das Thema der folgenden Gesprächseinheit ist „Verben mit Präpositionen“. Die Mitschülerin Chiara zeigt Unsicherheiten bei der Bedeutung von „sich freuen auf“: 01 K ihr erinnert euch an die bedeutung sich freuen auf, 02 C äh sono contenta. 03 K mmm. ((winkt ab)) 04 E ich warte auf no (.) es gibt zwei- <?page no="240"?> 240 05 K ähä 06 E sich freuen über. 07 K gut. 08 E und freuen auf. 09 K ähä- 10 E freuen über ist für etwas ((an Chiara gerichtet)) dass musst o (.) ich weiß es nicht. 11 K doch doch du weißt es, du weißt es ((Emilia schluckt. Man hört Chiara im Hintergrund)) 12 E ich ich bin no ich habe mich gefreut äh: über den den brief. ((schaut fragend K an)) 13 K ich hab mich über den brief gefreut. 14 E ich habe gekommen. (-) so (.) es ist ist es passiert. 15 K ähä. (--) Video 8a/ Emilia 4 In turn 14 zeigen sich grammatische Unsicherheiten bezüglich der Subjekt- Verb-Umstellung. Auch in dieser Sequenz überwindet die Lernende ihre Hemmschwelle und nimmt nach Ermutigung der Lehrkraft das Thema wieder auf. Ähnliches offenbaren die beiden aufeinander folgenden Szenen am selben Tag: 01 K […] ich formuliere meine frage so; dass ich als antwort die prüfung habe. 02 E woran (.) denkst du (.) an? äh denkst du an? no basta ((legt den Kopf auf die verschränkten Arme auf den Tisch. Alle lachen.)) 03 K piano piano also- 04 E woran no woran wartest (.) denkst denkst du? 05 K ist das richtig? ((an die Klasse gerichtet, Emilia nickt)) […] Video 8a/ Emilia 13 01 K […] emilia; was hast du gemacht? 02 E ich habe= 03 K =wie ist dein interrogativpronomen? 04 E hm? 05 K wie ist dein interrogativpronomen? ((betont langsam) 06 E weil die subjekt ist nicht eine eine person. (-) 07 K okay. also prüfung ist KEIne person ähä. also was hast gemacht? wie ist dein rezept für ferdinando? 08 E ah du musst ähm du musst die präposition plus die fo di woform äh benutzen (--) zum beispiel äh: : mit warten auf (.) worauf wartest du? ich warte auf den bus. ich hm zum beispiel ich ich warte auf [dich] <?page no="241"?> 241 09 F [wowovor heisst was? ] Video 8a/ Emilia 14 Es gelingt ihr (turn 08 der zweiten Sequenz), die grammatische Regel zu verbalisieren, wobei sie sogar einen „Fachausdruck“ (woform) benutzt. In der vorangegangenen Gesprächseinheit ist es abermals die Kursleiterin, die sie dazu anspornt, nicht aufzugeben. Das gelingt nicht immer, auch wenn im folgenden Beispiel die gesamte Klasse Schwierigkeiten hat, einen Satz zur Illustration des Gebrauchs der Präpositionaladverbien im Hauptsatz mit Bezug zum Nebensatz zu finden: 01 K wir brauchen kein substantiv sondern einen satz einen nebensatz. 02 E ich erinnere mich an meine (.) kindheit. 03 K das ist auch ein substantiv. 04 E was? 05 K ich möchte jetzt kein substantiv. ich möchte einen satz einen infinitivsatz oder einen objektsatz. 06 E ich erinnere mich (---) nein- 07 K wir hatten; ich hatte irgendetwas korrigiert. habt jemand noch den satz? ich hatte einen satz korrigiert; der falsch war; und wir haben darüber gesprochen. Video 9a/ Emilia 18 Die Sequenz aus der letzten Stunde zeigt die Emotion Freude bei der Kursteilnehmerin im Rahmen spontaner Partizipation bei Auskünften zu den persönlichen Fremdsprachenkenntnissen: 01 K […] und wie siehts aus mit spanisch? 02 E ja. ((hebt lachend die Hand)) 03 K ja? ((lachend)) 04 E an der uni. 05 K an der uni als dritte sprache. hm. hast du jetzt erst spanisch gelernt? 06 E etwas. ((wiegt mit dem Kopf)) 07 K hm ist spanisch schwierig für italiener? 08 E nein aber (-) äh ((leise vor sich: come si dice)) etwas äh besonderes. 09 K ähä. spanisch hat viele falsche freunde. 10 E ja ((nickt)) Video 10b/ Emilia 2 Wie bezüglich der verbalen Daten bemerkt wurde, fehlen in Emilias Aussagen über ihr Lernen Ausdrücke der Freude, des Spaßes und Vergnügens. Anders stellt sich die Situation in der Klasse dar. Emilia zeigt, z.B. beim Vokabelraten <?page no="242"?> 242 (Video 2a) oder auch in anderen Unterrichtszenen, emotionale Teilnahme in Form von Freude und Spaß bei der Teilnahme am Geschehen. Als weniger an Erfolge gebunden, sondern Ausdruck eines Sich-Wohlfühlens, lässt sich der Zustand als positives Gefühl definieren (s. 1.3). Auch wenn Emilia in der obigen Sequenz die Frage der Kursleiterin nicht versteht (05, 06) und beim Ringen um eine angemessene Beschreibung der Schwierigkeiten des Spanischen das Italienische „particolare“ (besonders) übersetzt, ist hierbei hervorzuheben, dass sie das substantivierte Adjektiv flektiert (08), was eine bemerkenswerte Schwierigkeit auf dem Niveau und speziell beim Sprechen darstellt. 4.2.1.4.4 Fazit Der von der Expertin bemerkte signifikante Zuwachs an Selbstsicherheit (s.o.) lässt sich anhand der Analyse bestätigen. Emilia stellt sich längeren Redewechseln und widersteht häufig der Versuchung, ihre Äußerungen abzubrechen oder sich ihnen gänzlich zu verweigern. Zu diesem Fortschritt hat nachweislich das positive Feedback sowohl auf der Klassenebene als auch seitens der Lehrerin beigetragen, die wahrscheinlich auch dank ihrer mehrjährigen Kenntnis der jungen Frau diese Form zur Stärkung der Persönlichkeit einsetzt. Die von Emilia anvisierte Erweiterung der Lexik kommt vorwiegend in den drei Sprachstandserhebungen heraus. Da sie das in der LB ausgehandelte Lernvorhaben praktisch nicht übernimmt und diesbezüglich weder Aussagen ihrerseits noch von der Lehrenden vorliegen, könnte man annehmen, dass dieser Prozess in Teilen implizit verlaufen ist oder in anderem Unterrichtskontext an der Universität stattgefunden hat. In den Videoaufnahmen lässt sich eine bemerkenswerte Zunahme an Wortschatz nicht nachweisen. Dagegen ist hier die geübtere Anwendung grammatischer Strukturen offensichtlich, was in den Tests so nicht hervortritt. Hierfür können, wie schon gesagt, die charakterlichen Merkmale der Lernenden verantwortlich sein, die in prüfungsähnlichen Situationen stärker hervortreten. Die Grammatikkenntnisse erfüllen aber auch noch eine weitere Funktion, denn sie tragen zur größeren Sicherheit der Lernenden im Klassenverband bei. Das Kapitel Präpositionen, wie z.B. in Video 8, stellt eindeutig eine Wiederholung für die Lernende dar. Die Sicherheit für sie erwächst aus ihrer Fähigkeit, diese Vorkenntnisse in den Unterricht einzubringen. Sie setzt also an Top-down Prozessen an, d.h. an metakognitivem Wissen in Form von Regeln mit den dazugehörigen Beispielsätzen, und wendet dieses im Unterricht an. Darüber erfolgt ihre Zuordnung zu den betont bewusst Lernenden. Die Lernberatung hat in ihrem Fall und nach ihren Aussagen weniger direkt auf das konkret Erlernte gewirkt, sondern vor allem „den Rücken gestärkt“, was zu einem Mehr an Sprechhandlungen - und damit indirekt zu einer Verbesserung <?page no="243"?> 243 der mündlichen Kompetenz geführt hat. Die positiven Emotionen, die eng an das für sie angenehme Lernen in dieser Gruppenkonstellation gebunden sind, haben Teil an einem Entwicklungsstand, bei dem die Erfolge vorzugsweise dazu dienen, sich selbst zu behaupten und darin einen gewissen Status zu bewahren, womit dieses Lernen als defensives Lernen einzustufen ist (Abb.17). fühlt sich am G.I. heimisch begeistert von Kursleiterin und deren Methode unsicher klangschön Stärke im Grammatischen defensives Lernhandeln allmählich selbstsicheres, flüssigeres und korrekteres Sprechen im Klassenkontext Abb. 17 ̶ Schematische Darstellung des Lernprozesses von Emilia 4.2.1.5 Chiara 4.2.1.5.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben Chiara beschäftigt sich schon seit Jahren mit der deutschen Sprache; sie ist aber erst seit diesem Jahr in der Gruppe, auch die Lehrerin kannte sie vorher nicht. Die Brücke zum Deutschen bildet die Anthroposophie, d.h. ihr Interesse, einschlägige Texte im Original lesen zu wollen, Tagungen und Kongressen folgen sowie Seminare besuchen zu können (LB 1/ 2, 6). Hinzu kommen gute Freunde in Deutschland, die sie regelmäßig besucht und diese sie. Häufig wird auch miteinander telefoniert. In ihrem Leben ist die Lernende immer viel gereist, in der letzten Zeit vor allem nach Deutschland (LB 1/ 38). Deutsch empfindet sie als schwierige Sprache, weil es völlig anders als das Italienische ist. Im Gegensatz zum Englischen erscheint es ihr genauer und rela- Neue Lexik aufbauen und festigen Hörübungen zum Wortschatzerwerb (etwas mehr) Sprechen im Klassenkontext Sich trauen, im Unterricht zu sprechen Festigung von grammatischem Wissen Zuwachs an Wortschatz <?page no="244"?> 244 tiv starr in der Satzstruktur (FB 1). Gelernt wird Deutsch wie andere Fremdsprachen auch. An ihre Schulerfahrung in Bezug auf das Englische erinnert sie sich nicht, nur dass sie eine gute Lehrerin hatte − das ist ihr im Gedächtnis geblieben (LB 1/ 12, 20) −, in deren Unterricht viel gelesen wurde. Das Lesen ist für Chiara auch weiterhin ein wichtiges Element zum Fremdsprachenerwerb: „[…] leggo sempre, ogni giorno leggo, però è un impegno“ (Ich lese immer, jeden Tag, ja das ist für mich ein Muss, LB 1/ 53, auch zweisprachige Bücher LB 2/ 10, 14, 16, 18). Dies hilft bei der Verbesserung der Sprechkompetenz: Sì, in primo luogo si impara intanto conoscendo la grammatica che è fondamentale e poi chiaramente parlandolo, andando in Germania sicuramente, immergendosi nel nell’ascolto, nella lingua, nel dovere parlare per forza, e poi certamente leggendo (LB 1/ 22) Zunächst einmal lernt man viel über die Grammatik. Das ist fundamental, und dann natürlich durch das Sprechen, klar, indem man nach Deutschland fährt, dort die Sprache hört und in sie eintaucht, gezwungen ist zu sprechen, und sicherlich durch das Lesen. Auch wenn sie hier einen „holistischen“ Zugang beschreibt, ist das authentische Gespräch zum Aufbau von mündlicher Kompetenz am relevantesten: Il materiale forse… beh, non lo so. Intanto il tempo da dedicare magari alla lettura, allo studio, e e poi il potere parlare con… la lingua, questo, secondo me è quella importantissimo, perché (di solito) (LB 1/ 46) Das Material, ja vielleicht. Die Zeit, die man dem Lesen widmet, dem Lernen an sich und dann sprechen können in der Sprache, das ist meiner Meinung nach ganz wichtig. Per esempio l’anno scorso è venuta una mia amica qui ed è stata venti giorni da me e parlava solo il tedesco. Questo è un aiuto, secondo me, perché si è costretti, per forza, a memorizzare le parole, a lasciarsi andare alla lingua, all’ascolto (LB 1/ 49) Zum Beispiel ist letztes Jahr meine Freundin für 20 Tage gekommen und hat mit mir nur Deutsch gesprochen. Das ist eine Hilfe m.E., weil du so gezwungen bist, dir die Wörter zu merken, sich in der Sprache treiben zu lassen, beim Hören. Neben der Tatsache, dass sie die Notwendigkeit zu sprechen spüren muss, taucht Chiara in die Sprache ein, lässt sich in ihr treiben und nimmt diese so auf. Diese Durchlässigkeit, dank derer keine Barrieren gegenüber dem Neuen oder Fremden dessen Aufnahme verhindern (vgl. List 2002b: 7), ist ein weiteres Merkmal <?page no="245"?> 245 der Lernenden. Es lässt sich als ein kontrolliertes Loslassen beschreiben, denn die Grammatik- und Vokabelkenntnisse bleiben weiterhin präsent: 26 Chiara Dopo una settimana io ho fatto un salto in avanti enorme che però non avrei potuto fare se non avessi studiato la grammatica qui a Palermo al Goethe; sono delle cose tutte 27 H insieme 28 Chiara complementari 29 H Ma lei quando parla pensa alla grammatica? No, o sì? 30 Chiara Beh, un po’ ci devo pensare. 31 H E questo influisce, perché parla più piano. 32 Chiara Per forza, (perché sai) i vocaboli e questo influisce perché devo prima pensare. LB 1/ 26-32 26 Chiara Nach einer Woche (in Deutschland, SH) habe ich einen Riesenschritt gemacht, der aber ohne die Grammatik, die ich hier am Goethe-Institut Palermo gelernt habe, nicht möglich gewesen wäre; das sind alles Dinge 27 H zusammen 28 Chiara sich ergänzend 29 H Aber wenn Sie sprechen, denken Sie dann an die Grammatik? Ja oder nein? 30 Chiara Also ein bisschen denke ich schon daran. 31 H Und das beeinflusst Sie, weil Sie dann langsamer sprechen. 32 Chiara Klar, (weißt du), die Vokabeln und das beeinflusst, aber ich muss vorher nachdenken. An ihrer Vorliebe für das Lesen ansetzend, beschließen wir, dass sie hierbei für sie wichtige oder interessante Wörter (mit der italienischen Bedeutung) herausschreibt und diese in neue Sätze einbaut. Diese soll sie dann laut und mehrmals lesen (LB 1/ 74, 78, 80). Chiara übernimmt das Lernvorhaben, auch wenn sie Zeitprobleme anführt (LB 1/ 81, 83). Die Lernende spricht sowohl in der Muttersprache als auch im Deutschen langsam, überdacht und leise (vgl. hierzu auch die explizite Aufforderung vonseiten der Lehrenden, lauter zu sprechen in Video 9a/ Chiara 7). Das ist ihr bewusst und durchaus intentional (LB 2/ 49, 51): „Secondo me è importante scandire bene le lettere, le paro, ma anche in italiano“ (M.E. ist es wichtig, die Buchstaben, die Wörter deutlich auszusprechen, auch im Italienischen, LB 2/ 55). In ihrem Anliegen, grammatisch korrekt die Fremdsprache zu benutzen, definiert sie sich als Perfektionistin (LB 3/ 10), was sie allerdings auf den Kurs beschränkt; in der authentischen Kommunikationssituation mit ihren Freundin- <?page no="246"?> 246 nen fällt dieser Anspruch weg (LB 2/ 73). Wenn das formal richtige Sprechen nicht gelingt, verärgert sie das, wie sie in der zweiten Lernberatung näher ausführt (LB 2/ 85). Da ihr das vor allem bei der Adjektivdeklination geschieht, suggeriere ich ihr, diese im Rahmen von Sätzen durch lautes Sprechen einzuüben. Diesbezüglich meldet sie Bedenken an, da ihr das laute Nachsprechen ohne einen Gesprächspartner oder Zuhörer widerstrebt (LB 2/ 105, 107). Das Tagebuch von Chiara enthält einmal mit neuen Wörtern gebildete Sätze aus der ersten Übungsphase. Nach der zweiten Lernberatung erwähnt sie auch lautes Lesen, vor allem aber hält sie hier ihre Erfolgsmomente fest: Ho letto spesso ad alta voce. Mi hanno telefonato le mie amiche. Le prime volte non riuscivo a conversare facilmente con loro. Ma ad un certo punto la paura di parlare al telefono con loro in tedesco mi è svanita e sono riuscita a conversare con loro come se fossero davanti a me, e non ho mai avuto difficoltà di comprensione. (TB Februar, ohne genaues Datum) Ich habe oft laut gelesen. Meine Freundinnen haben mich angerufen. Die ersten Male hatte ich Schwierigkeiten, mit ihnen normal zu sprechen. Aber an einem bestimmten Punkt war die Angst, am Telefon mit ihnen auf Deutsch zu sprechen, wie weggeblasen und ich habe mit ihnen so gesprochen, als ob sie vor mir säßen. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, sie zu verstehen. […] Ho ricevuto una lettera della mia amica (Name) ho capito tutto quello che ha scritto senza bisogno del vocabolario e le ho risposto subito! (TB 4.3.2011) Ich habe von meiner Freundin (Name) einen Brief erhalten und alles verstanden, was sie geschrieben hat, auch ohne Wörterbuch, und ich habe ihr sofort geantwortet. Im Februar hat die Lernende an sich einen deutlichen Lernsprung wahrgenommen. Dieses Erfolgserlebnis spornt sie zur Aktion an, d.h. zur Anwendung der Fremdsprache in der authentischen Kommunikation. In der dritten Lernberatung nimmt sie auf das oben erwähnte Telefonat Bezug: Vero, sì, che è meglio; tra l’altro la prima volta non riuscivo a spiccicare una parola, poi invece la seconda volta e la terza volta, l’ho scritto, […] (LB 3/ 8) Ja richtig, das ist besser; auch (im Vergleich dazu, SH) als ich das erste Mal kein Wort herausgebracht hatte, dann beim zweiten und dritten Mal, das habe ich geschrieben. Die Lernberatung evaluiert sie entsprechend als sehr positiv, besonders weil sie auf die Willensbildung gewirkt hat: <?page no="247"?> 247 […] penso che se avessi anche fatto di più sarebbe stato meglio perché secondo me abbiamo pensato delle cose importanti. (LB 3/ 16) […] ich denke, wenn ich mehr gemacht hätte, wäre es besser gewesen, weil wir m.E. wichtige Dinge angesprochen haben. È come se mi avesse dato più, al di là degli esercizi che ho fatto, anche più volontà, più impegno per (LB 3/ 20) Es ist, als ob mir (die LB, SH) etwas mehr gegeben hättest, etwas über die Übungen hinaus, die ich gemacht habe, mehr Willen, mehr Einsatz. Anche questo fatto che avevo l’appuntamento con te, quindi questo è (LB 3/ 22) Auch die Tatsache, dass ich diesen Termin mit dir hatte, das war es. In dem Zusammenhang steht auch ihre Entscheidung, die B1-Prüfung am Kursende zu machen (LB 3/ 38), was sie anfänglich in keinster Weise in Erwägung gezogen hatte (Video 4a/ Chiara 4) und jetzt als positive Herausforderung bewertet, sich und ihre Leistung zu messen. Ihr Lernen bewährt sich auch genau in dem Bereich, der ihr wichtig ist: Ihr gelingt es, einem Seminar auf Deutsch zu folgen: E io ho capito tutto tranne qualche parola, qualcosa che mi poteva sfuggire e che poi gli ho chiesto, però io ho capito che posso quindi, perché lui fa lo stesso a Stoccarda poi d’estate, che potrei andare e e seguire. (LB 3/ 49) Und ich habe alles verstanden, bis auf ein paar Worte, nach denen ich ihn dann gefragt habe. Aber ich habe begriffen, dass ich es kann, dass ich ihm (dem Seminarleiter, SH) auch im Sommer dabei in Stuttgart folgen kann. Questa è stata una cosa bellissima, sia per il contento del seminario, ma anche per (LB 3/ 51) Das ist wunderbar, sowohl wegen des Inhalts aber auch Però il fatto che veramente l’ho seguito perfettamente. (LB 3/ 53) Eben die Tatsache, dass ich ihm problemlos habe folgen können. Diese deutliche von ihr wahrgenommene qualitative Verbesserung, die sie zweimal mit dem Superlativ „una cosa bellissima“ (etwas Wunderschönes, s.o. und LB 3/ 44) emotional gewichtet, wird auch von der Kursleiterin bemerkt: <?page no="248"?> 248 Chiara war „eine große Überraschung“, „ein richtiges Erfolgserlebnis“ (8.06). Sie hat schon zu Beginn fast fehlerlos geschrieben. Sie riskiert allerdings weniger, hält sich daran, was sie kann (28.41). Die anfängliche Hemmschwelle beim Sprechen ist überwunden (24.07). Im letzten Viertel des Kurses hat sie angezogen (25.04). Vielleicht ist gar nicht so viel passiert im Sinne eines Lernfortschrittes, sondern die Einstellung hat sich geändert, da war auf einmal etwas anders (25.42), „dieses Freie plötzlich“ (25.55). Am Anfang hat auch sie, zwar nicht so stark wie Antonio, das Italienische eingefordert, aber dann ging es auch ohne. Als Leitfaden für die weitere Auswertung fungieren 1. die Neugierde und Offenheit gegenüber dem Deutschen, 2. die Wichtigkeit des grammatisch korrekten Sprechens und 3. die Handlungsbetontheit von Chiaras Lernen. 4.2.1.5.2 Lernstand SSE Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte insg. 1. 0,5 0,5 1 2,5 4,5 2. 2 (+1,5) 2 (+1,5) 2,5 (+1,5) 3 (+0,5) 9,5 (+5) 3. 2,25 (+0,25/ +1,75) 2,75 (+0,75/ +2,25) 4 (+1,5/ +3) 3 12 (+2,5/ +7,5) Tab. 31 ̶ Sprachstandserhebungen von Chiara Beim ersten Prüfungsgespräch ist Chiara fast stumm und spricht fehlerhaft. Es ist allerdings davon auszugehen, dass sie durch diese für sie völlig ungewohnte Situation verunsichert war. Diese Hemmungen hat sie bei der zweiten Erhebung abgelegt, die den von der Lernenden an sich selbst festgestellten und durch die Kursleiterin hervorgehobenen großen Fortschritt bestätigt (+5). Signifikant ist der definitive Zuwachs im Formalen (+3). Hier gelingt es ihr offensichtlich, ihre Kenntnisse auszuweiten, zu festigen und beim Sprechen abzurufen. Ein Vorgang, der sich auch in den Wochen nach Abschluss des Kurses unvermindert fortsetzt (+1,5) und die grammatische Korrektheit als wichtige Kategorie in ihrem Lernen untermauert. Auch die Flüssigkeit im Sprechen nimmt zu (+1,5) und ist auch nach sechs Wochen nicht zum Stillstand gekommen (+0,75), was auf ihr anwendungsorientiertes Handeln hindeutet. Der aktiv abrufbare Wortschatz steigt ebenfalls an (+1,5), verbessert sich dann aber beim Nachtest nur geringfügig (+0,25). Insgesamt ist der Lernenden eine erstaunliche Verbesserung ihrer mündlichen Kompetenz gelungen (+7,5). <?page no="249"?> 249 4.2.1.5.3 Lernen im Unterricht Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Wortmeldungen im Verhältnis zum Kurs 45 % 22 18 % 21 12 % 65 % 23 11 % 18 10 % 33 18 % 45 24 % 11 6 % davon SI 4 17 16 5 21 17 32 39 10 Tab. 32 ̶ Wortmeldungen von Chiara Chiara verwandelt sich im Laufe des Kursjahres von einer aktiven Zuhörerin zu einer aktiven Teilnehmerin am Unterrichtsgeschehen. Sie realisiert dies vorrangig im letzten Monat durch eine rege Beteiligung vor allem bei der Klärung grammatischer Phänomene, wie in der Lektion zu Verben mit Präpositionen (Video 8a/ Chiara 10-20 und Video 9a/ Chiara 1-36). In diesem Zusammenhang problematisiert sie, formuliert Beispielsätze und ruft unmittelbar Vokabelwissen ab. In vielen Fällen, z.B. bei Fragen, verfällt sie hierbei ins Italienische, weshalb sie von der Kursleiterin auch ermahnt wird (Video 8b/ 5.28). Sie interveniert aber auch direkt, indem sie sich in die Diskussion einbringt (z.B. Video 7b/ Chiara 5). Ähnlich wie bei Antonio scheint die Lernende stark daran interessiert, die deutsche Sprache auf der metakognitiven Ebene zu verstehen. Dass sie diesbezüglich auch über ein für ihre Klassenstufe überdurchschnittliches Wissen verfügt, wird ihr im Unterricht vonseiten der Lehrerin bestätigt (Video 8a/ 33.55, Video 9b/ 7.10-7.12, s. auch Experteninterview). Die Lernende hat anfänglich als einzige Bedenken bezüglich der Videoaufnahmen vorgebracht (s.o.). Diese legen sich aber relativ schnell, auf meine diesbezügliche Nachfrage antwortet sie, dass sie bereits in der zweiten Stunde die Kamera kaum mehr wahrgenommen habe. In der letzten Stunde blickt sie sogar lächelnd direkt in meine Richtung. Diese Hemmungen begründen wohl auch die spärliche Beteiligung am ersten Aufnahmetag. Die Lernende scheint hier eingeschüchtert. Aber auch wenn im Verlauf des Kursjahres die Wortmeldungen ansteigen, bestehen ihre Beiträge meist nur aus einzelnen Worten oder sehr kurzen Äußerungen. Es gibt kaum längere Redewechsel mit Chiara, für deren Analyse die grammatische Korrektheit als Kernkategorie bestimmend ist. In dem zweiten Unterrichtsvideo wird sie bei den Verständnisfragen zu einem Hörtext aufgefordert, eine Hypothese zu formulieren: 01 K […] chiara; keine idee? welches problem hat er? 02 C er vielleicht- ((hebt die Hände zum Schutz vor sich und zieht die Schulter hoch)) 03 K ja ja; vielleicht. ((lacht)) 04 C äh: er hat nicht polizei angerufen. <?page no="250"?> 250 05 K gut. er hat die polizei nicht angerufen. (-) 06 C aber; warum? warum? ((winkt ab)) Video 2b/ Chiara 13 Wahrscheinlich hätte sich Chiara nicht zu Wort gemeldet, da sie sich der Unvollständigkeit ihrer Antwort bewusst ist und dies sie daran hindert, sich zu äußern. Beim Sprechen entschuldigt sie sich gestisch und verbal dafür. Auch im folgenden Unterrichtsmitschnitt bestätigt sich ihr Anliegen, korrekt zu sprechen (s.o.): 01 K […] kennt ihr jemanden; der schon mal als au-pair gearbeitet hat? vielleicht kommilitoninnen. freundinnen. (.) chiara du; ja? 02 C ich kenne äh (.) eine äh eine äh sie ist eine alte frau. 03 K ah. 04 C sie hat diese arbeit vor vielen jahren gemacht. 05 K aha. (-) ja. 06 C eine deutsche frau. 07 K und sie war hier in italien; als au-pair? 08 C ja. 09 K okay. und hat sie dir darüber erzählt? (.) hast du informationen darüber? 10 C ja; ich bin freundin von ihren tochter. 11 K ah ja. okay. okay. […] Video 6b/ Chiara 4 Chiara spricht überlegt und artikuliert die einzelnen Wörter. Sie spricht auch relativ langsam, genauso wie im Italienischen. Insofern wirkt das Sprechtempo natürlich. In turn 04 gelingt ihr im Gespräch ein korrekter Satz, der für das sprachliche Niveau durchaus Schwierigkeiten enthält. Turn 10 zeigt das von ihr erwähnte grammatische Hindernis der Flexionsendungen. Dieser Wunsch nach fehlerfreiem Sprechen motiviert auch ihre Aufnahmebereitschaft, indem sie unmittelbar den indirekt korrigierten Satz für sich nachspricht: 01 K […] ähm. warum besucht man eine sprachschule? (-) 02 C um eine andere spreche sprechen. 03 K um eine andere sprache zu sprechen. ((spricht den Satz leise nach.)) okay warum noch? Video 4a/ Chiara 3 <?page no="251"?> 251 Wie die Kursleiterin festgestellt hat, ist Chiara eine Lernende, die angesichts ihres Perfektionismus (s.o.) nur wenige Risiken eingeht, d.h., sie handelt meist − auch durchaus spontan − wenn sie sich sicher fühlt; wie in der folgenden Sequenz, in der sie beginnt, unaufgefordert den Satz zu formulieren, während die Kursleiterin die einzelnen Satzteile an der Tafel schreibt: 01 C ich warte auf den bus. ich warte darauf; dass äh der bus kommt. Video 9b/ Chiara 2 Während sie den zweiten Satz formuliert, bewegen sich ihre Augen, um die einzelnen Wörter an der Tafel zu suchen und sie in der richtigen Reihenfolge zu dem Satz zusammenzusetzen. Chiara wendet hier augenscheinlich eine Regel oder Regeln an, nach der sie die entsprechenden Begriffe ordnet. Dass sie den Gebrauch der Verben mit Präpositionen beherrscht, zeigt der Beispielsatz, den sie nach Aufforderung bildet, um die Bedeutung des Verbs „sich gewöhnen an“ zu erklären: 01 K […] chiara; du hast eine idee? 02 C hm. ich gehe nach russia und äh gewöhne mich an da das ((guckt K zweifelnd an)) schnee. 03 K an den schnee. ja: 04 C immer schnee. 05 K ja. […] Video 9b/ Chiara 4 4.2.1.5.4 Fazit Chiara ist eine vielseitig motivierte und aktive Lernerin. In den Gesprächen mit ihren deutschen Freundinnen fokussiert sie das Hören und freie Sprechen, bei dem sie nach eigenen Aussagen auch nicht auf Fehler achtet, während sie im Unterricht der grammatischen Richtigkeit einen großen Stellenwert beimisst. Sie „bastelt“ gerne an den deutschen Sätzen, wobei ihr Rückgriff auf das Italienische bei Grammatikfragen aus dem Bedürfnis erwächst, die Dinge in der Tiefe begreifen zu wollen, was als Voraussetzung für deren Anwendung fungiert. Beim Sprechen greift sie auf Regelwissen zurück, was sie zwar als Bremse, aber doch als unumgänglich empfindet. Ihre Beiträge nähern sich im Laufe der Untersuchung zunehmend einem für sie normalen Sprechtempo an, auch wenn sie relativ kurz sind. Daneben sind relativ wenige Pausen und Verzögerungen innerhalb der sprachlichen Äußerung sowie die Abnahme italienischer Bedeutungsfragen bzw. bewusster Rückgriffe auf die Muttersprache zu bemerken, was auf eine beginnende Routine in ihrem Sprechen hindeutet. <?page no="252"?> 252 Im Laufe des Kursjahres kommt es zu einer Veränderung in ihrem Lernverhalten, das wohl darin begründet liegt, dass Chiara ihr Wissen und Können beim Sprechen in ihrem Lebenskontext einsetzen kann, d.h., dass sie konkret Fortschritte konstatiert. Sie hat so ihr Lernen als veränderbar erfahren, die Mittel dazu entdeckt und sich damit die Handlungsmöglichkeiten eröffnet, wie sie es sich erhofft hatte (LB 1/ 6). Dieses Erfolgserlebnis motiviert sie, die Grenzen etwas weiter zu stecken (s. B1-Prüfung, das Vorhaben, ein Seminar in Deutschland zu besuchen), was wiederum auf ihr Lernen wirkt und dies verändert. Der ansehnliche qualitative Sprung, den sie selbst beschreibt und den die Expertin feststellt, kennzeichnet ein expansives Lernhandeln (Abb. 18). Dazu hat einmal ihre mentale Offenheit nicht nur der anderen Sprache und dem Klassengeschehen gegenüber beigetragen, sondern auch hinsichtlich der Anregungen aus der Lernberatung, von der sie so merklich profitiert. Im Zusammenschnitt der Methoden entsteht so trotz der nur spärlichen Zeugnisse aus der Unterrichtsbeobachtung ein relativ kongruentes Gesamtbild. anfängliche Fremdheit am Institut offen schwierig, genau, starr handlungsorientiert an Wissen interessiert expansives Lernhandeln korrektes Sprechen, besseres Verstehen mündlicher Äußerungen Abb. 18 ̶ Schematische Darstellung des Lernprozesses von Chiara Metakognitives Wissen Grammatikkenntnisse festigen und ausbauen Strukturübungen, lautes Lesen zum korrekten Sprechen Grammatik kontrolliertes Sprechen im Unterricht authentische Kommunikation Achten auf grammatische Phänomene beim Sprechen <?page no="253"?> 253 4.2.2 Bewusste und assoziative Lernprozesse 4.2.2.1 Sandra 4.2.2.1.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben Sandra ist eine junge Akademikerin, die sich im Rahmen ihrer Ausbildung weiter spezialisiert. Sie gehört zur Kerngruppe des Kurses, d.h., sie besucht das Goethe-Institut im dritten Jahr und hat seit der ersten Anmeldung dieselbe Lehrerin (FB 4, Experteninterview). Prägend für ihren Zugang zum Deutschen sind einmal ihre positiven Erfahrungen mit dem Englischlernen auf der Schule, die sie in einem einwöchigen Praktikum bei den Vereinten Nationen in New York (LB 1/ 14) unter Beweis stellen konnte: Sì, sì, c’era questa professoressa molto (brava), poi anche il metodo, ci faceva lavorare in classe, gruppi, farci le domande, insomma, differenziava un po’ le lezioni, ho un ottimo ricordo e sono arrivata a fare praticamente al quinto anno il livello decimo del Trinity su dodici, quindi diciamo che i risultati li ho avuti. Anche a a New York, è vero che ero un po’ fuori allenamento, è vero che l’americano è completamente diverso dal British English, però, insomma, non non ho avuto queste grandissime difficoltà, cioè, mi sapevo destreggiare; a parte i primi giorni di confusione totale, perché senti tantissime (voci) diverse, gli americani non li capisci, anche perché si parlava di commercio illecito di armi, insomma, non si parlava di “che fai oggi, che non fai”, però, però ti aiuta a metterti in contatto con tanta, con con gente completamente diversa da te che ha orizzonti completamente diversi, vite completamente diverse, mm cioè, questa è la bellezza di di conoscere una lingua. (LB 1/ 55) Ja, da hatten wir die Lehrerin, die war sehr (gut), auch die Methode, die hat uns in der Klasse in Gruppen arbeiten und uns gegenseitig Fragen stellen lassen. Auch der Unterricht war abwechslungsreich. Die war wirklich gut und im fünften Jahr auf dem Gymnasium habe ich praktisch die zehnte Stufe von zwölf am Trinity erreicht. Das heißt, die Ergebnisse hat man gesehen. Auch wenn ich in New York ein bisschen raus war, ist es allerdings auch wahr, dass das amerikanische Englisch völlig anders ist als das britische, habe ich nicht so große Schwierigkeiten gehabt, also ich konnte mich schon zurechtfinden. Abgesehen von den Anfangsschwierigkeiten, weil du so viele unterschiedliche (Stimmen) hörst. Die Amerikaner versteht man nicht. Außerdem ging es um illegalen Waffenhandel, d.h. nicht um „was machst du heute, was machst du heute nicht“, aber das hilft, dich mit ganz vielen völlig unterschiedlichen Menschen zu verständigen, die einen völlig anderen Horizont haben, ein völlig anderes Leben führen, ja das ist das Schöne daran, eine Sprache zu können. „La bellezza di conoscere una lingua”, ein Ausdruck, der von emotionaler Partizipation zeugt, besteht für Sandra in der Erweiterung des eigenen Horizonts und erscheint fundamental, um eine Sprache zu lernen. Im Experteninterview wird <?page no="254"?> 254 die Lernerin als “strebsam, ehrgeizig und lernfähig“ bezeichnet; sie selbst beschreibt sich als grundsätzlich lernmotiviert. Als ihr wesentliches Merkmal nennt sie: „la voglia la voglia di imparare“ (die Lust zu lernen, LB 1/ 71). „Sì, sì, la voglia di arrivare al risultato“ (der Wunsch, das Ziel zu erreichen, LB 1/ 73) und „arricchire il proprio bagaglio“ (das eigene Wissen bereichern, LB 1/ 24, s. auch LB 2/ 117). Das Interesse an Sprachen ist dabei keineswegs auf das Deutsche beschränkt, aber mit dieser Wahl hofft sie, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern: „il tedesco fa la differenza“ (Deutsch macht den Unterschied, FB 10, LB 1/ 24), da das Deutsche als sehr schwierige Sprache von nur wenigen gelernt wird. Unmittelbar wird so das Lernen einer Fremdsprache in Verbindung mit der Erweiterung der eigenen Handlungsräume in Verbindung gebracht (FB 9). Dazu registriert die Lernerin das positive Ergebnis in Form des erreichten Zertifikats im Englischen (s.o.) und in der Erfahrung, sich im Ausland in der Fremdsprache über relativ komplexe Themen austauschen zu können. Der verbuchte Erfolg motiviert und wird in diesem Sinne zum Weiterlernen eingesetzt. Inwieweit das bewusst als Strategie geschieht, ist nicht eindeutig feststellbar, kennzeichnet aber sicherlich das Vorgehen der Person (s.u.). Kommunikative Lernformen und ein abwechslungsreicher Unterricht bilden einen wesentlichen Teil ihrer positiven Erinnerung an die Englischstunden auf dem Gymnasium, sind Bestandteil der Anerkennung ihrer Lernfortschritte und münden in das, was die junge Frau für sich als ihren Zugang zur Realität beschreibt: Kommunikation. Avendo ee fatto, appunto questa esperienza all’ONU ho un po’, diciamo, allargato i miei orizzonti, nel senso che ee mi sono resa conto che mm qualora un domani io volessi uscire da quella che è la realtà della Sicilia, la realtà dell’Italia, naturalmente ci si va a confrontare con altre diversissime realtà con le quali proprio bisogna avere una, eehm, un approccio e la base di ogni approccio è la comunicazione. […] Poi un domani potrei ehm imparare un´altra proprio per il fatto di parlare, comunicare è per me è sempre una fonte di arricchimento ed è ovvio che iniziando un’esperienza del genere si può anche conoscerla bene la lingua perché non avrebbe senso fermarsi adesso, la conoscenza ancora parziale, non sono, non mi reputo, diciamo, suffi, sufficiente sì, però eehm così brava da poter dire “parlo perfettamente, ee correntemente”, no, però il mio obbiettivo è quello sia a livello personale che poi a livello lavorativo, un domani… (LB 1/ 24) Nachdem ich diese Erfahrung bei der UNO gemacht und damit meinen Horizont erweitert habe, habe ich gemerkt, wenn ich irgendwann mal diese Realität hier in Sizilien verlassen sollte, dann muss ich mich klarerweise mit ganz verschiedenen Realitäten auseinandersetzen und die Grundlage dieser Auseinandersetzung ist die Kommunikation. […] Dann könnte ich in der Zukunft auch noch eine andere (Sprache, SH) lernen, gerade weil eben Sprechen, Kommunizieren für mich immer eine Quelle der <?page no="255"?> 255 Bereicherung ist, und es ist selbstverständlich, wenn man einmal diesen Weg eingeschlagen hat, würde es keinen Sinn machen, den auf halber Strecke zu unterbrechen. Im Moment habe ich noch keine ausreichenden Kenntnisse. Ich schätze mich noch nicht so gut ein, perfekt, korrekt zu sprechen. Nein, aber das ist mein Ziel sowohl auf der persönlichen als auch auf der beruflichen Ebene, für die Zukunft. Ihr Drang nach Kommunikation und das Wissen darum, dass Sprechen für sie der richtige Weg zum Lernen ist (LB 2/ 155), bedingen eine lebhafte Beteiligung im Unterricht (s.u.). „Sandra probiert wie Ferdinando sofort den neuen Stoff aus“ (Experteninterview). Entsprechend ist ihr kommunikatives Verhalten im Unterricht von einem „buttarsi“ (sich in etwas hineinwerfen) gekennzeichnet, das sie an sich selbst mehrfach als positiv hervorhebt (LB 2/ 16, 115, LB 3/ 20): Quello che va bene, ma perché è il mio carattere, cioè io a lezione sono sempre quella che scherza, proprio, ma poi parlo anche sbagliando di grosso perché, ma mi butto perché sono, questo questo mi piace il fatto che mi è, mi mi infilo in frasi impossibili che poi magari completano gli altri o K però almeno ci provo e imparo come si fa. Quello che, secondo me, mi manca è un esercizio maggiore, ma anche da parte mia ehm più tempo spendere per i compiti, fare qualcosa che, fare qualcosa in più rispetto a quello che lascia K, insomma, un un impegno maggiore, anche guardarmi un film, manca, ma lo ammetto, però purtroppo già il fatto che riesca a fare i compiti e andare a lezione con tutto quello che ho sempre avuto, a parte l’università, ora questa cosa di Napoli, questo, questo è più che altro, poi da parte mia la volontà c’è, mi butto, non sto zitta, perché altrimenti non farei proprio niente. (LB 1/ 65) Also das ist gut so, auch weil das meinem Charakter entspricht, also im Unterricht bin ich immer diejenige, die scherzt, aber auch die, die spricht, auch wenn ich dicke Fehler mache, aber ich mache einfach, es gefällt mir, dass ich mich an unmöglichen Sätzen versuche, die dann die anderen oder K weiterführen. Also ich versuche es halt und lerne, wie man’s macht. Das, was mir meiner Meinung nach fehlt, sind mehr Übungen, aber auch von meiner Seite aus mehr Zeit zum Üben und etwas darüber hinaus machen, was K an Hausaufgaben aufgibt, d.h., das Mehr an Einsatz fehlt, auch einen Film sehen, das gebe ich zu, aber leider ist es schon viel, dass ich überhaupt die Hausaufgaben mache und zum Unterricht komme, neben der Universität und jetzt die Sache in Neapel, das ist es vor allem. Von meiner Seite aus ist der Wille da, ich schmeiße mich rein, bleibe nicht still, weil ich sonst nämlich gar nichts machen würde. Dieses handlungsbetonte Lernverhalten wird durch eine hohe Fehlertoleranz abgestützt und durch die entsprechende Lerntheorie untermauert: Sì, sì, molte cose sì, le subordina, sì queste cose sì, a parte gli aggettivi che per me sono… e i verbi, (che ne so) il preteritum queste cose, però ee poi quando parli anche se sbagli una desinenza non ha importanza, anche in italiano può capitare di sba- <?page no="256"?> 256 gliare un tempo e nessuno se ne accorge, quello che manca, quel, sento proprio la mancanza è il lessico, […] (LB 1/ 81, auch LB 2/ 16) Ja, ja viele Dinge, die Nebensätze, ja eben diese Sachen, abgesehen von den Adjektiven, die sind für mich (was weiß ich) und die Verben, das Präteritum, eben diese Sachen, aber dann wenn ich spreche, auch wenn ich eine Endung falsch mache, das ist nicht so wichtig, auch im Italienischen macht man mal was falsch und niemand nimmt das wahr. Das, was fehlt, ja was ich wirklich als Mangel empfinde, das ist die Lexik. Das, was sie hauptsächlich als störend bemerkt, ist das Fehlen von Vokabeln beim Kommunikationsprozess. Dementsprechend wird der Lernfokus in der ersten Lernberatung auf das Abrufen und den Erwerb von Vokabeln beim Sprechen festgelegt. Als Vorgehen schlägt die Lernerin das mehrmalige Lesen von Wörtern aus Übungen und Texten vom letzten Schuljahr (LB 1/ 101) und das Verfassen von Aufsätzen vor. Auch wenn ich an diesem Vorgehen Zweifel anmelde (LB 1/ 102, 108), da gerade Sandra das Sprechen für sich als fundamental beim Fremdsprachenerwerb herausgestellt hat (LB 1/ 32), scheint sie von diesem Verfahren überzeugt. Hinzugefügt wird noch das Bilden von Sätzen mit den neuen bzw. reaktivierten Wörtern. Als ich sie in der zweiten Lernberatung darauf anspreche, warum sie die Aufsätze nicht geschrieben hat und auch sonst nicht so viel von dem gemacht hat, was abgemacht war, führt sie Zeitprobleme an (LB 2/ 10, 12). Allerdings hat sie deutsches Fernsehen geschaut und deutsche Musik gehört und im Tagebuch freudig vermerkt, dass das Verstehen besser klappt (TB 22.12.2010). Im Zusammenhang mit dem Schreiben wird das Anfertigen von Schemata als wichtige Hilfe beim Einprägen von Wissen genannt (LB 2/ 22), dies ist aber stärker mit Zeit und Anstrengung verbunden und offensichtlich für die Lernerin ein Problem. Daher empfindet sie einen „spielerischen“ Zugang für sich im Moment als angemessener, wie sie in der zweiten Lernberatung betont, oder wie es an dem Spaß abzulesen ist, der ihr das Vokabelratespiel im Unterricht (Tagebuch 21.1.2011, auch LB 1/ 81, LB 3/ 22) bereitet: […] il fatto che a me il tedesco piace, però giustamente lo associo a un impegno, ora come ora, e già ho questo impegno dello studio che mi prende quasi tutta la mia giornata, quindi se il tedesco lo vedessi anche come una pausa, uno svago, certamente sarei più portata a fare (LB 2/ 51) […] Die Tatsache, dass ich Deutsch mag, dass ich damit aber Anstrengung assoziiere, jetzt, wo ich gerade für den Kurs lernen muss, was mir den ganzen Tag wegnimmt, wenn ich das Deutsche wie eine Pause sehen könnte, eine Abwechslung, dann wäre ich eher bereit etwas zu tun. <?page no="257"?> 257 Um Spiel und wenig Zeit in einem Arbeitsvorhaben zu verbinden, schlage ich in Anlehnung an ihren Wunsch nach „ordine mentale“ (Schemata, LB 2/ 22, in diesem Zusammenhang auch das wiederholte Bedürfnis nach Schreiben) und semantischen Einheiten (LB 2/ 26, 30), die Erstellung von Mindmaps, Antonymen, Synonymen, durch Phrasen erweiterte Sätze (s. 3.3.2.2) vor, die dann mündlich zu einem passenden Zeitpunkt im Laufe des Tages abgerufen werden (LB 2/ 80). Dabei erwähne ich zusätzlich die Möglichkeit, z.B. mit dem so parat gestellten Material mental Personen zu beschreiben oder (soeben) Erlebtes zu erzählen (LB 2/ 92, 96). Sandra nimmt vor allem den Vorschlag der zu erweiternden Sätze an (LB 2/ 117, 145, 161), das Tagebuch enthält entsprechende Übungen. In der dritten Lernberatung bestätigt die Lernerin, dass sie sich hauptsächlich auf Sätze konzentriert hat, die sie um unterschiedliche Elemente erweitert hat (LB 3/ 4) und wertet diese Arbeit als positiv: Che poi magari erano frasi che io avevo incontrato, le ho rielaborate però anche come metodo mio personale per la grammatica io uso ricordarmi delle frasi già fatte così che le posizioni sono quelle e poi cambio le parole ma i verbi sono quelli. E questo mi è servito, appunto per la ripetizione che è positiva; io questo, il riscontro l’ho avuto pure a lezione, ehm, parlando, dovendo dire delle frasi mi accorgo che sto attenta al verbo, alla proposizione, certo poi ho sempre problemi che non mi vengono i vocaboli, però questa è una cosa che poi col tempo, con la lettura, oppure questo mese che passerò in Germania parlando lì per forza devo imparare, però, insomma (LB 3/ 6) Das waren vielleicht Sätze, die ich gesehen habe, die habe ich ausgebaut. Auch nach meiner eigenen Methode für die Grammatik erinnere ich normalerweise schon bestehende Sätze mit einer bestimmten Ordnung und darin ändere ich die Wörter, aber die Verben bleiben. Das war nützlich, eben dieses Wiederholen war gut. Und das Resultat habe ich auch im Unterricht gesehen, als ich Sätze sagen musste, da habe ich gemerkt, dass ich mehr auf das Verb geachtet habe, auf die Stellung. Klar das Problem, dass mir die Vokabeln fehlen, besteht weiter, aber das wird mit der Zeit besser, beim Lesen, oder während des Monats, während ich in Deutschland sein werde, da muss ich ja sprechen. Auch das allgemeine Urteil der Lernberatung ist positiv: Einmal, weil sie geholfen hat, die eigenen Schwierigkeiten zu fokussieren, zum anderen, weil sie an den eigenen Kenntnissen (Vokabeln sowie Grammatik) angesetzt und diese ausgebaut hat, demzufolge fühlt sie sich im Unterricht sicherer (LB 3/ 22). Die letzte Eintragung im Tagebuch (29.4.2011) enthält auch eine entsprechende Bemerkung: <?page no="258"?> 258 Facendo un resoconto del lavoro di questi mesi, ho notato un netto miglioramento nel modo di parlare. Ho meno difficoltà nel ricordare i vocaboli, nonché minori difficoltà nel costruire la frase. L’uso del vocabolario monolingue, la lettura dei vocaboli usati a lezione, mi hanno aiutato ad avere più padronanza della lingua. Questo miglioramento ha prodotto i sui frutti anche nello scritto. Oggi, nel fare la composizione ho incontrato meno difficoltà rispetto a quanto accadeva in passato. Posso quindi dire che questo lavoro di questi mesi mi è stato molto utile. Wenn ich nun Bilanz ziehe nach der Arbeit dieser Monate, bemerke ich eine deutliche Verbesserung beim Sprechen. Ich habe weniger Schwierigkeiten, die Vokabeln zu erinnern und Sätze zu bilden. Der Gebrauch des einsprachigen Wörterbuchs und das abermalige Lesen der im Unterricht vorgekommenen Vokabeln haben mir geholfen, besser die Sprache zu beherrschen. Das hat sich auch auf das Schreiben ausgewirkt. Heute habe ich bei dem Aufsatz weniger Schwierigkeiten gehabt als früher. Daher kann ich sagen, dass die Arbeit der letzten Monate sehr nützlich gewesen ist. Sandra bewertet ihren Lernfortschritt in Übereinstimmung mit der Kursleiterin als positiv, die allerdings als bestehendes Problem das verstehende Hören bei der Lernerin nennt (Experteninterview), das als solches nicht nachzuweisen war. Dahingegen deuten - im Gegensatz zur eigenen Wahrnehmung (s.o.) - enttäuschende Ergebnisse bei dem schriftlichen Teil der internen Abschlussprüfung darauf hin, dass hier nicht so viel gelernt wurde, wie die Lernerin selbst angenommen hat (LB 3/ 89). Diese Tatsache schmerzt sie, aber Sandra relativiert diesen Misserfolg als „Zwischenfall“, für den Begleitumstände, wie eine momentane Konzentrationsschwäche, verantwortlich seien (LB 3/ 16), die hervorgetretenen Lücken könnten durch aktive Konversation wieder gefüllt werden (LB 3/ 20). Darin bestätigt sich einmal ein Vorgehen, das sich vorwiegend an den errungenen Erfolgen orientiert, zum anderen wird deutlich, welchen Lernwert sie ihrem kommunikativen Handeln beimisst. Dazu gehören auch das (mündliche) Wiederholen des Stoffes (LB 1/ 32, 42, LB 2/ 157), d.h. das Einschleifen von Wissen, und die Vorliebe für das einsprachige Wörterbuch, ein Zeichen dafür, dass Sandra sich zum Lernen in der fremden Sprachwelt bewegen möchte (TB 13.1.2011, LB 2/ 69). Als typisch für ihren Zugang ist zunächst das „sich in die Konversation schmeißen“ (buttarsi), 2. das Bedürfnis nach Wiederholen 3. ihre Fehlertoleranz und 4. die emotionale Beteiligung beim Lernen zu nennen. <?page no="259"?> 259 4.2.2.1.2 Lernstand SSE Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache insg. 1. 2 2 3 3 10 2. 2,75 (+0,75) 2, 5 (+0,5) 2,75 (-0,25) 3 11 (+1) 3. 3,75 (+1/ +1,75) 3,75 (+1,25/ +1,75) 3,25 (+0,5/ +0,25) 3 13,75 (+2,75/ +3,75) Tab. 33 ̶ Sprachstandserhebungen von Sandra Der Lernstand im ersten Sprachtest zeigt Schwächen in der Ausdrucksfähigkeit und der Aufgabenbewältigung. Im formalen Bereich und in der Aussprache sind die Schwierigkeiten geringer. Am Ende des Kurses haben sich die Möglichkeiten, sich auszudrücken sowie Intentionen sprachlich umzusetzen, geringfügig verbessert. Es lässt sich eine leichte Verschlechterung im Formalen nachweisen (-0,25). Der Lernfortschritt um einen Punkt belegt einen durchschnittlichen Lernzuwachs. Dieser vergrößert sich entscheidend beim Nachtest (+2,75), auch hier mit Schwerpunkt im Bereich der Ausdrucksfähigkeit (+1) und der Aufgabenbewältigung (+1,25), wo die Lernende fast die Höchstpunktzahl erreicht. Im Forschertagebuch wird festgehalten, dass zu Beginn des dritten Sprachtests nach einem zögerlichen Einstieg die Lernerin über das spontane Abrufen eines chunk aus dem Unterricht, des Ausdrucks „ich finde es wichtig, dass“, sich „ruckartig“ auf das Prüfungsgespräch einstellt und dies mit einem deutlichen Lernsprung im Vergleich zu dem vorherigen meistert. Vor allem der Zuwachs an Vokabeln und die Flüssigkeit des Diskurses stechen hervor, was die oben genannten Kategorien Wiederholen und aktives Sprechverhalten abstützt und auch den Vokabelerwerb nahe legt. Auch wenn die Kommunikation dadurch nicht signifikant eingeschränkt ist, bleiben Grammatikfehler in Morphologie und Syntax. Der zu bemerkende Vokabelerwerb und die erreichte Kompetenz in der Aufgabenbewältigung entsprechen den Zielen, wie sie in der Lernberatung elizitiert worden waren. Unstimmigkeiten liegen im formalen Bereich, in dem die Lernende sowohl im Tagebuch als auch in der dritten Lernberatung größere Kenntnisse bei sich festgestellt hat. Allerdings liefert bereits das unter den Erwartungen liegende Ergebnis im schriftlichen Teil des Kursabschlusstests einen Hinweis auf fortbestehende grammatische Unsicherheiten. Der mittel-/ langfristige Erwerb von +3,75 liegt im Kursdurchschnitt. 4.2.2.1.3 Lernen im Unterricht Sandra gehört mit Ferdinando und Liliana zu den Interaktionsfreudigsten der Gruppe. Von ihr stammen mit die meisten Wortmeldungen, die fast ausschließlich selbstinitiiert sind und sich z.T. direkt an die Mitlernenden richten (z.B. Vi- <?page no="260"?> 260 deo 2b/ Sandra 7, Video 2b/ Sandra 9), von denen sie selbst auch durch Blickkontakt Unterstützung einfordert und aufnimmt (Video 6b/ Sandra 7). Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Wortmeldungen im Verhältnis zum Kurs 20 26 % 23 19 % 16 9 % 21 16 % 74 35 % 50 29 % fehlt 42 22 % 58 30 % davon SI 20 21 14 19 74 49 - 40 55 Tab. 34 ̶ Wortmeldungen von Sandra Die Beteiligung im Kursverlauf verrät, dass in den letzten zwei Monaten drei von vier Malen über ein Viertel der Unterrichtsbeiträge von Sandra stammen. Auch wenn die Interaktion von einer Vielzahl von Faktoren abhängig ist, wie u.a. dem Lernstoff, den Partizipationsmöglichkeiten, Sozialformen, dem persönlichen Befinden oder auch die Anbzw. Abwesenheit anderer Kursteilnehmer (so fehlt z.B. am 26.3. Liliana, gerade in Video 7b zeigt sich ein deutliches Mehr an Interagieren), lässt sich die gestiegene Anzahl von Wortmeldungen am Kursende sicher auch auf die Intervention durch die Lernberatung zurückführen, auch weil sich die Steigerung im Anschluss an die zweite Lernberatung vollzogen hat. Zu erwähnen ist auch, dass in dieser Zeit die Entscheidung fällt, im Herbst einen Sprachkurs in Deutschland zu besuchen. Im Folgenden werden anhand der in der Lernberatung herausgearbeiteten und vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Sprachstandserhebungen erweiterten Kategorien die Videosequenzen analysiert. Die visuellen Daten induzierten außerdem auch das Hinzufügen der Kategorie Freude, die als ein wesentlicher Bestandteil Sandras Lernhandlungen begleitet. Grammatik und Vokabelerwerb In den folgenden drei Sequenzen geht es um den Konjunktivgebrauch in der indirekten Rede. Sandra möchte diesen den anderen Kursteilnehmern erklären: 01 S wenn die formen ähm: uguale sind. 02 K welche [formen]? 03 S [mit] indikativ. 04 K welche formen? 05 S ähm: ((Ferdinando sagt etwas Unverständliches)) konjunktiv zwei konjunktiv ein im: ist= 06 K =identisch= 07 S =identisch mit konjunktiv. konjunktiv mit indikativ (.) präsens. 08 K ok. Video 1/ Sandra 8 <?page no="261"?> 261 Die Verbendstellung im Nebensatz (01) gelingt. Das fehlende Wort (07) wird unmittelbar aufgenommen. Bei dem Redewechsel fällt der starke Blickkontakt zwischen Sandra und der Kursleiterin auf. 01 S wir ähm sch schrieben kann schrieben- 02 K können wir schreiben mm. 03 S können wir schreiben NEXTES <<Wort skandiert>> mal äh fahren würden sie mit dem dzug. 04 K die strukur? 05 S würden sie mit dem dzug fahren. 06 K genau genau. ((schreibt an die Tafel)) Video 1/ Sandra 12 Das skandierte Wort (03) scheint bewusst erinnert zu werden, während die richtige Satzstruktur nach request der Kursleiterin (04) erfolgt. Die falschen Verbformen (01) werden durch recast korrigiert. Zu bemerken ist der Aussprachefehler der Lautverbindung / ts/ bei „Zug“, den Italiener häufig stimmhaft aussprechen, wie sie es aus der Muttersprache gewohnt sind (Kaunzner 1997: 98). In der folgenden Sequenz will Sandra Gianni den Gebrauch des Konjunktivs I erklären: 01 S konjunktiv ein oder konjunktiv zwei ähm: wenn ähm: gehe wenn die personen ist die dritte singular ähm du ähm musst konjunktiv EIN (.) schreiben. 02 K hm. ((bestätigt)) 03 S okay? (.) mit er es paola anna konjunktiv ein. ähm wenn die subjekt ist plural oder äh die erste (.) plural? 04 K ja ja. 05 S ähm du musst konjunktiv zwei ((zeigt zwei mit den Fingern)) äh schreiben. (.) wir können machen mit ähm similar? 06 K gleich oder identisch. 07 S identisch mit präsens (.) du musst ähm präsens mit die endungen so haben habe ähm konjunktiv ZWEI ähm. 08 K ja den kennt ihr. konjunktiv zwei. Video 2b/ Sandra 3 Die Regeln der Satzstellung werden mehrfach verletzt (01, 03, 05), dazu fallen die falschen Flexionsendungen bei den konjugierten Verbformen und das falsche grammatische Morphem auf (01, 07). „Schreiben“ wird richtig erinnert (05). Das Zögern davor scheint weniger durch das Suchen der richtigen Form begründet, sondern rührt wohl eher daher, dass die Lernerin ein anderes Verb, nämlich „benutzen“, sucht. Interessant sind „Paola, Anna“ als Ersatz für das fe- <?page no="262"?> 262 minine Personalpronomen (03), was von dem prompten Einsatz von Kommunikationsstrategien zeugt, da keine Pause vor den Eigennamen ist und auch sonst der Gesichtsausdruck keinerlei Unsicherheiten verrät. „Identisch“ ist noch nicht gespeichert worden, was bei lautlich ähnlichen Worten aufgrund des Kontrastmangels ja ein häufig beobachtbares Phänomen darstellt (Lutjeharms 1994: 164). Am Ende des Kurses wird es dagegen spontan erinnert und eingesetzt (s.u., Video 10a/ Sandra 35). An Gianni, der sie wohl vorher etwas gefragt hatte, ist die folgende Erklärung gerichtet: 01 S mit sein du kannst du du kannst für alle personen singular plural konjunktiv singular den konjunktiv ein schriben. 02 K schreiben. 03 S schreiben. mit die verb sein ((Gianni nickt)) Video 2b/ Sandra 9 Sie überlegt beim Sprechen die Folge von Verb und Subjekt, wählt aber dann die nicht korrekte Subjekt-Verb-Stellung (01). Abermals stolpert sie über das Verb „schreiben“. Die Verbendstellung im Nebensatz gelingt dagegen, als eine andere Kursteilnehmerin sich in der Satzbildung verfängt und sie einspringt: 01 K das wird ganz kompliziert. nein. ganz die polizei kann- 02 S kann denken, dass walter die dieb ist. Video 2b/ Sandra 19 Auch in einem weiteren Beispiel aus dem Unterricht eine Woche später ist die Konstruktion der Frage mit Nebensatz korrekt: 01 K sandra? <<Sandra hatte vorher bereits zur Frage angesetzt, war aber unterbrochen worden>> 02 S kann man die stühle und tische sagen äh: wenn beide äh plural sind? eine [hat-] 03 K [ja also] die stühle und tische müssen aufgestellt werden. Video 3a/ Sandra 10 Dass Sandra Zeit zum Nachdenken braucht, d.h. den Nebensatz bewusst bildet, zeigt der Verzögerungspartikel vor „wenn“ (02). Beide Male werden die Sätze im Rahmen von Grammatikunterricht gebildet. Im folgenden Beispiel, einem Beitrag im Rahmen einer Diskussion zum Einstieg in das Thema „Sollte die Lehrerin deine Muttersprache sprechen können“? , misslingt das Abrufen der richtigen Form: <?page no="263"?> 263 01 S hm wenn du ähm äh bi eins bi zwei c ein (.) wenn man kann gute sprechen, ähm ist nicht so ähm (.) wichtig. << das Wort wird ihr von einem anderen Kursteilnehmer oder K suggeriert>> aber in in ähm ersten lektionen ist äh wichtig. Video 4a/ Sandra 12 Das Wort „wichtig“ wird durch Handgesten sichtbar zu erinnern versucht, und als ein anderer Teilnehmer (oder K) „wi“ anklingen lässt, ausgesprochen. Beim folgenden Satz wird es dann wieder aufgenommen. Die falsche Verbstellung im Nebensatz ist wahrscheinlich eine Übernahme aus dem Italienischen sowie wohl auch das fehlende Subjekt in dem letzten Satzteil darauf zurückzuführen ist. Die Konzentration auf die grammatische Korrektheit gelingt hier nicht, wahrscheinlich weil die Mitteilung hier den Vorrang hat. Das gleiche Phänomen zeigt auch eine längere Sequenz in derselben Unterrichtsstunde: 01 K also liliana. du hast gesagt. deutsch lernen auf italienisch ist eine katastrophe. was meint ihr? (0.5) 02 S italienisch sprechen mit alles äh kursteilnehmer (.) 03 K auch eine katastrophe? 04 S ja. 05 K hm- ((lacht)) 06 S weil du äh ((alle lachen)) [nicht deutsch] 07 G [am anfang] es ist äh ist es nicht nicht eine katastrophe, 08 K am anfang nicht, ja das hattest du ja auch gesagt, weil am anfang ist es vielleicht (.) besser ja ((Gianni nickt)) ahä aber dann ist es eine katastrophe= 09 S =aber immer sein eine katastrophe weil du ähm: keine deutsch spricht sprichst und du nicht no NIEmand niemand è nessuno. äh niente? 10 K nichts. 11 S nichts lern lern- 12 K lernst= 13 S =lernst Video 4b/ Sandra 2 In ihrer Äußerung nimmt Sandra nach kurzem Zögern das Wort Kursteilnehmer auf (02), das in dieser Unterrichtseinheit zuvor aktiviert und an die Tafel geschrieben wurde (Video 4a/ 20.15). Die Verbendstellung (09) wird überlegt und richtig benutzt, die Konjugation durch Selbstkorrektur berichtigt. Diesbezügliche Unsicherheiten treten aber nochmals im folgenden turn (09) auf oder auch in <?page no="264"?> 264 einer Sequenz im Video vom 26.2.11, bei der Gianni mit der konjugierten Verbform aushilft: 01 K was fragt man? wenn man sagt, ich habe deutschkenntnisse? 02 S seit wann st äh lern äh: 03 G [lernst du] 04 S [lernst du] deutsch? Video 6c/ Sandra 22 Sandra „kommt“ spontan das Wort „studieren“ vom Italienischen „studiare“ für „lernen“. Sie korrigiert sich aber schon gleich nach den ersten zwei Buchstaben. Die Schnelligkeit der Eigenkorrektur und das kurze Schließen der Augen erinnert an konditioniertes Lernen: Im Deutschunterricht in Italien wird dieses Phänomen ständig behandelt und die Schüler werden vor diesem Fehlschluss gewarnt. Sicherer bewegt sich Sandra im Bereich der Wortbildung, so leitet sie z.B. spontan das Wort „abgehen“ von „Abgeher“ ab (Video 6b/ Sandra 20) oder bildet durch Analogieschluss das fehlende Substantiv: 01 K was ist eine agentur? die agentur hat kontakt- 02 S mit der arbeitssuCHENde und die arbeitge (.) gebende ((unterstreicht mit der Geste das Geben)) 03 K die arbeitgebenden. GUT <<Sandra freut sich sichtbar>> Video 6c/ Sandra 4 Auch wenn das Wort „Arbeitssuchende“ an diesem Tag im Gespräch mit Emilia gefallen ist (Video 6b/ Emilia 8), scheint es, dass es sich in der oben stehenden Sequenz um die Anwendung zweier grammatischer Regeln zur Bildung des Partizip Präsens sowie der Substantivierung von Partizipien handelt. Sie zeigt, dass Sandra die Regeln kennt und sie beim Sprechen bewusst - siehe kurzes Innehalten vor dem Verbstamm „gebende“ - anwendet. Ein weiteres Beispiel für dieses Vorgehen, das allerdings zur Übergeneralisierung führt, enthält die letzte videografierte Unterrichtsstunde. Hier schlägt die Lernende bei der Suche nach dem Adverb von „traurig“ „traurigerweise“ vor. Dass sie hier etwas ausprobiert, bei dem sie selbst nicht sicher ist, zeigt das etwas unsichere Lächeln (Video 10a/ Sandra 10). Das Suffix „-weise“ kennt sie offensichtlich, dieses entspricht in manchen Fällen bei der Bildung von Adverbien dem italienischen „-mente“. Emotionen Sowie die Reflexionen zu ihrem Lernen emotional positiv aufgeladen sind (s.o.), wird Sandras Lernen bei Erfolg durch Freudenausbrüche begleitet (vgl. Hoff- <?page no="265"?> 265 mann 2012). Diese machen Emotionen sichtbar, bedeuten aber natürlich nicht, dass anders Reagierende frei von Emotionen sind. Als sie beim Vokabelratespiel sofort das unbekannte Wort „Dieb“ aus der Vorstunde errät, jubelt sie (Video 3a/ Spiel/ Sandra 2). Freude besitzt nach D’Urso/ Trentin (2009: 230) folgende Merkmale: Die Emotion Freude kann unterschiedliche Gründe haben: […] ein Erfolg oder ein verdientes positives Urteil; […] Das Merkmal von Freude scheint daher nicht nur die Erfahrung eines angenehmen Erlebnisses zu sein, sondern es ist hierbei auch ein gewisses Maß an Überraschung und Erregung notwendig. (D’Urso/ Trentin 2009: 230; Übersetzung von SH) Dementsprechend finden wir im Gesichtsausdruck und in weiteren körperlichen Erscheinungsformen eine plötzliche Veränderung, wie in einem Lächeln oder Lachen, im Aufreißen der Augen oder des Mundes, verbunden mit Ausrufen, dazu lassen sich das Heben der Arme und/ oder ein Aufspringen usw. beobachten. Die Videoaufnahmen zeigen diese typischen Merkmale. In der oben geschilderten Szene motiviert diese starke positive Emotion Sandra offensichtlich dazu, sich unmittelbar im Anschluss nochmals als Ratende aufzustellen. In anderen Momenten ist es weniger aufkommende Freude, sondern auf dem Gesicht sich abzeichnende Erleichterung und sich lösende Anspannung bei gelungenen bzw. abgeschlossenen Redebeiträgen, die von der Anstrengung zeugen, die die mündliche Äußerung im Unterrichtsdiskurs kostet und insofern (auch) als Beleg für den Einsatz des Bewusstseins zu deuten ist (z.B. Video 2b/ Sandra 8, Video 6b/ Sandra 4). Daneben dient diese Emotion Sandra auch als Kommunikationsebene: In der oben transkribierten Sequenz (Video 6c/ Sandra 4) signalisiert zusätzlich die Geste des nach oben gerichteten Daumens gegenüber Gianni und der Blickkontakt die Freude über das erfolgreiche Mühen. Flüssigkeit der sprachlichen Äußerung Nach den Wohngewohnheiten junger und weiter unten älterer Menschen gefragt, antwortet sie: 01 S sie reisen und sie sie leben im ausland oder in norditalien in anderen regionen und nicht mimit eltern, aber mit kolLEgen oder äh mit anderen jungen personen. Video 7b/ Sandra 4 Das Sprechtempo entspricht dem Redefluss eines Muttersprachlers, auch von der Aussprache und Prosodie gibt es keine Auffälligkeiten, lediglich das grammatisch falsche „aber“. Der Satz weist allerdings auch keinerlei komplexe <?page no="266"?> 266 Strukturen auf. Die Sitzhaltung von Sandra ist entspannt nach hinten an die Stuhllehne angelehnt. Sie schaut die Lehrende beim Sprechen an und nur kurz bei „mimit eltern“ auf den Tisch nach unten, als ob sie sich in dem Moment verstärkt konzentrieren müsste. Alles wirkt wie in einer normalen Unterhaltung. 01 S meine großmutter. die lebt allein. 02 K ganz alleine? 03 S hm. ((nickt)) 04 K aha. okay ist das bei euch= 05 S =sie ist eine ((lacht)) JUNge großmutter. sie reise reist hm spesso- 06 K oft. ähä. 07 S oft. äh sie sie hat viele freundin. 08 K okay. Video 7b/ Sandra 8 Bei ihren vier turns fällt abermals die gelöste Redeweise auf. Die Annäherung an eine natürliche Unterhaltung entsteht auch durch die Hervorhebung mittels des Demonstrativpronomen „die“ (01), das im Deutschen passt, aber keinerlei Entsprechung im Italienischen hat. Sandra fehlt eine Woche (9.4.11) und hat bei ihrem Zurückkommen (16.4.11) sichtbar Schwierigkeiten mit dem grammatischen Stoff (präpositionale Ergänzungen, Pronominaladverbien). Sie begnügt sich bei den Antworten mit einzelnen Worten. Bei dem Thema „Falsche Freunde“ in der letzten videografierten Unterrichtsstunde fühlt sie sich deutlich wohler: 01 K was sind die falschen freunde? 02 S ein wort, das ist identisch äh als italienisch aber die bedeutung ist nicht identisch. Video 10a/ Sandra 34 01 E die klingen (.) als eine andere andere worte, aber es ist nicht. Video 10a/ Emilia 10 01 K also vielleicht nochmal. was ist ein falscher freund? habt ihr ein beispiel? 02 S ähm äh es ist kalt. kalt im italienisch, bedeutung sonne ähm eine ähm highe <<englische aussprache>> hohe äh graden graden- 03 K hohe temperatur. 04 S hohe hohe temperatur. aber in deutsch ist nicht identisch. Video 10a/ Sandra 35 <?page no="267"?> 267 Wie oben schon erwähnt, erinnert sie sich diesmal spontan an das Wort „identisch“. Englische Ausdrücke − hier wie nach deutscher Regel dekliniert − rutschen Sandra vermehrt in dieser Stunde heraus (z.B. Video 10a/ Sandra 30, Video 10b/ Sandra 5), was vielleicht durch das Thema mit verursacht wird. 4.2.2.1.4 Fazit Bei Sandra lässt sich im Laufe des Kurses im Vergleich zum Vorjahr eine veränderte Haltung beobachten, die sie selbst in der zweiten Lernberatung feststellt: Sì, infatti prima di quest’anno non avevo sentito questa esigenza, forse perché gli anni scorsi eravamo più concentrati sulla grammatica o comunque non non era richiesta… parlavamo di meno e quindi ovviamente magari non… magari non sentivo questa questa mancanza. Quest’anno sì, la sto sentendo di più e infatti mi sto… (unverständlich) (LB 2/ 71) Ja, vor diesem Jahr habe ich dieses Bedürfnis nicht gehabt, vielleicht weil wir uns in den Vorjahren so sehr auf die Grammatik konzentriert haben, oder es war einfach nicht nötig, wir sprachen weniger und daher habe ich klarerweise nicht empfunden, dass das mir fehlt. Dieses Jahr dagegen empfinde ich diesen Drang stärker. Das Bedürfnis nach einem intensiveren mündlichen Austausch schafft neue Ansprüche, denen die Lernerin mit einem größeren Einsatz begegnet; der Grund hierfür ist teilweise in der Lernberatung auszumachen. Tatsache ist, dass Sandra einen Lernsprung im Mündlichen vollzogen hat und dass sich auf der motivationalen Ebene das Deutschlernen tiefer in ihr verankert hat, was sich dann auch in der Entscheidung für den Sommerkurs im Inland ausdrückt. Sie verbindet damit stärker als zuvor eine Erweiterung von Handlungsräumen und weist damit ein expansives Lernverhalten auf (Abb. 19). Sandra taucht in die Welt der Sprache ein, die sie zu lernen beabsichtigt. Sie will in dem Kurs konsequent Deutsch sprechen, weil sie das für sich als die gewinnbringendste Methode ansieht. So antwortet sie z.B. auf eine unterrichtsunabhängige Frage zu Beginn einer Stunde, die ihr von der Kursleiterin auf Italienisch gestellt wird, auf Deutsch (Video 9a/ Sandra 2) und zieht trotz der Schwierigkeiten (LB 2/ 22) das einsprachige Wörterbuch vor (TB 13.1.2011, LB 2/ 69). Als Strategie zur Festigung neuen Stoffes probiert sie neu Eingeführtes unmittelbar aus (z.B. das Wort Kursteilnehmer in Video 4b/ Sandra 2), denn sie weiß, dass Wiederholen und Üben wesentlich zum Aufbau ihres fremdsprachlichen Könnens dazugehören. Bei ihrem Lernziel Sprechen setzt sie auf ihre hervorragende Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit. Die sie kennzeichnende Risikofreudigkeit („buttarsi“) und die Lust am Spiel wirken sich besonders bei der Wortbildung positiv aus, da hier Regelwissen angewandt und/ oder auch über <?page no="268"?> 268 Analogien auf die Form geschlossen wird. Es wird bewusst experimentiert. In anderen Vorgängen liegen dem Lernen assoziative Prozesse zugrunde, wie an der unmittelbaren Selbstkorrektur von „studieren“ fälschlich für „lernen“ zu erkennen war (Video 6c/ Sandra 22). Dieser klassische Fehler italienischer Deutschlerner ist durch vielzählige Korrekturen im Unterricht fast ausgemerzt. Die richtige Anwendung von „lernen“ für das italienische „studiare“ ist zur Routine geworden. Der Vokabelerwerb, das erste von ihr benannte Anliegen, steht hier im Mittelpunkt. Auch wenn sie das so nicht wahrnimmt, verschiebt sie damit ihre Aufmerksamkeit auch auf die Wortbildung. Das führt dazu, dass sie die lexikalischen Morpheme leichter aktiviert, während sie die grammatischen eher vernachlässigt. Die Lernerin erreicht entsprechend ein hohes Niveau im Bereich der Ausdrucksfähigkeit und in der Aufgabenbewältigung. Ihrem Kommunikationsbedürfnis fällt die Syntax dann zum Opfer, wenn das Inhaltliche Vorrang hat, daher sind die Ergebnisse in diesem Bereich auch widersprüchlich. Dabei sind es vor allem die Flexionsendungen und grammatischen Morpheme, die der Lernerin beim Sprechen entfallen bzw. falsch sind. Sandras Lernen ist stark emotional getönt, was sich einmal auf die Motivation auswirkt, d.h. in ihrem Fall eine rege Beteiligung im Unterricht, und damit auch auf den kognitiven Bereich in der Zunahme des Wortschatzes durch das „Spiel“ mit Wortbildungsregeln. Beides führt zur „Verflüssigung“ ihres Sprechens durch den intensiv produzierten output. <?page no="269"?> 269 gut integriert in den Kurs (gehört zur Kerngruppe) sehr zufrieden mit der Lehrkraft lernmotiviert ziemlich komplex, besonders die Grammatik erfolgsorientiert kein unmittelbarer Zugang risikofreudig expansives Lernhandeln flüssigeres Sprechen mit komplexeren, nicht immer richtigen Sätzen Abb. 19 ̶ Schematische Darstellung des Lernprozesses von Sandra 4.2.2.2 Ferdinando 4.2.2.2.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben Ferdinando ist von einem anderen Kurs in die Gruppe gewechselt (Experteninterview). Er ist Anfang dreißig und lernt Deutsch seit zwei Jahren vorrangig aus beruflichen Gründen (LB 1/ 2), in diesem Zusammenhang zieht er es auch in Erwägung, eine Zeitlang seinen Wohnsitz nach Deutschland zu verlegen (FB 10). Unabhängig davon fühlte er sich aber schon immer von der deutschen Kultur (Literatur, Film und Musik) angezogen (LB 1/ 2). Die Sprache empfindet er als faszinierend, besonders wegen ihrer logischen Strenge („il rigore logico“, FB 1), die sie wesentlich vom Italienischen und Englischen unterscheidet; wohingegen Ähnlichkeiten zur englischen Lexik bestehen, was ihm merklich als Übersetzungshilfe dient. Sì, nel senso che ho notato che tra inglese e tedesco ci sono molte somiglianze per quanto riguarda i vocaboli, molti vocaboli inglesi sono simili o comunque è facile, poi, vederli in tedesco, comunque, tradurli in tedesco; molte volte, infatti, mi viene anche più semplice fare traduzione tra il o anche compensare tra inglese e tedesco che Lexikerwerb Wortbildung durch Ableitung und Analogiebildung Strategien Wörter in verschiedenen Zusammenhängen wiederholen Wortschatzerwerb über Wörter schreiben und lesen starke Unterrichtsbeteiligung <?page no="270"?> 270 non tra tedesco e italiano, ad esempio, perché comunque, a parte la costruzione sintattica perché la costruzione sintattica del tedesco è molto più logica, quasi matematica da un certo punto di vista, non si può sbagliare, […] (LB 1/ 6) Ja, in dem Sinne, dass ich viele Ähnlichkeiten zwischen Englisch und Deutsch bemerkt habe, vor allem bei den Vokabeln. Viele englische Wörter sind ähnlich oder zumindest ist es einfach, sie ins Deutsche zu übersetzen. Oft fällt es mir leichter zu übersetzen oder auch vom Englischen ins Deutsche überzuleiten als vom Italienischen, also bis auf die syntaktische Struktur, weil die im Deutschen viel logischer, ja fast mathematisch ist, da kann man nichts falsch machen. Seinen Fremdsprachenunterricht auf der Schule beurteilt er als mangelhaft. Erfolgreicher waren der Einfluss seiner im Englischen bewanderten Schwester, Reisen nach England und verschiedene Eigeninitiativen wie private sowie berufliche Korrespondenz; vor allem aber schreibt Ferdinando die eigenen Fortschritte seiner eigenen Neugierde zu: […] mi ha aiutato molto per avviarmi comunque a cominciare a leggere i testi in lingua a a essere curioso, ecco, la la curiosità mi ha aiutato moltissimo perché purtroppo scolasticamente non ho avuto dei buoni docenti. (LB 1/ 16, auch LB 1/ 24) […] Am Anfang hat mir beim Lesen der Texte in der Fremdsprache sehr viel dabei geholfen, dass ich neugierig bin, weil ich leider auf der Schule keine guten Lehrer hatte. Fremdsprachen lernt man auditiv (FB 2), daher erwähnt er auch lobend, das im Unterricht nur in der Zielsprache gesprochen wird (FB 4, LB 1/ 38). Gerade dieses Hören bereitet ihm aber im Gegensatz zum Lesen noch Schwierigkeiten, wobei er vom inhaltlichen Globalverständnis ausgehend die grammatische Form erschließt. Besonders wichtig ist hierfür seiner Meinung nach die Syntax des Deutschen (LB 1/ 20). Analog zu seiner Erfahrung im Englischen erfolgt über das Handeln bzw. Üben der Fremdsprache automatisch ihr Erwerb: Piano piano lavorare su questo, essere sempre più sicuro e automaticamente anche il mio tedesco diventerebbe migliore, immagino. Ad esempio una mia amica tedesca mi dice sempre “dai, prova, appunto, a parlarmi in tedesco, velocemente senza rallentare, senza dare spiegazioni”, niente, io capisco il cinque per cento di quello che dice; dice sempre “no, ma tu ti devi buttare, buttati perché se non ti butti rimarrai sempre un po’ chiuso da questo punto di vista” e provo a seguire il suo consiglio. (LB 1/ 46, auch in 24, 49, 59, 65) <?page no="271"?> 271 So langsam daran arbeiten, immer sicherer werden, dann wird auch mein Deutsch automatisch besser, das glaube ich zumindest. Zum Beispiel sagt mir meine deutsche Freundin immer: „Probier es, sprich auf Deutsch, schnell und ohne Zögern oder Erklärungen.“ Ich verstehe so 5a% von dem, was sie sagt. Sie sagt immer: „Du musst einfach lossprechen, rede einfach drauf los, wenn du das nicht machst, dann wirst du immer beim Sprechen Probleme haben,“ und ich versuche, ihrem Rat zu folgen. Dieses Sprechen ist − und vor allem war − für Ferdinando spannungsgeladen; einmal da er sich in Gruppenarbeit grundsätzlich nicht wohl fühlt (LB 1/ 38), zum anderen kostet ihn das Reden vor Publikum aufgrund seiner Schüchternheit eine große emotionale Anstrengung: Di natura io sono timido, infatti le prime volte che anche parlavo all’università, convegni, congressi, queste cose, ee, l’emozione era tantissima, ma nel corso dei dei tre anni di dottorato in cui ho svolto molte di queste attività sono anche migliorato nel modo di esporre e quindi ho acquisito maggiore sicurezza. Dovrei fare la stessa cosa col tedesco, quindi ( LB 1/ 44, auch 38) Von Natur aus bin ich schüchtern. Das erste Mal als ich an der Universität gesprochen habe, auf Tagungen, Kongressen usw. war ich sehr aufgeregt, aber im Laufe der drei Jahre des Doktorats habe ich das so oft gemacht und kann jetzt auch besser die Dinge darlegen, und so bin ich auch sicherer geworden. Das Gleiche müsste mit dem Deutschen passieren. Diese weitere Erfahrung untermauert seine Lerntheorie, nach der wiederholtes Handeln den Lernerfolg zeitigt (zum Abbau der Publikumsangst siehe LB 2/ 8). Auch die Expertin beobachtet diesen Zugang und knüpft daran indirekt die Verbesserung seiner fremdsprachlichen Kompetenzen: Ferdinando hat zwar Lücken, ist aber einfach „unheimlich motiviert, unheimlich extrovertiert, unheimlich kommunikationsfähig“ (26.38). Er versucht sofort, die Sachen umzusetzen (28.00). Er hat sich in allen Kompetenzen verbessert. In der ersten Lernberatung wird der Fokus auf das Hören gelegt, wobei zunächst das inhaltliche Erfassen, dann aber das Erkennen der grammatischen Satzstruktur das Ziel darstellt: Ee, allora, metterei come primo obiettivo l’ascolto, ee come obiettivo, appunto, ascoltare più volte, ma non soltanto cose differenti, ma anche che so uno stesso brano ee più volte. […], concentrarmi su su un brano e ascoltarlo più volte, tre, quattro, cinque volte, eee così in questa maniera migliorare proprio la l’ascolto, automaticamente la comprensione, quindi penso che ascolto e comprensione va vadano assieme da questo punto di vista. (LB1/ 59, 61, 65, 66) <?page no="272"?> 272 Also an erster Stelle steht das Ziel Hören, eben mehrmals Hören, aber nicht nur verschiedene Sachen, sondern auch das Gleiche mehrmals […] mich auf ein Stück konzentrieren und es mehrmals, drei, vier, fünf Mal hören, auf diese Weise, mein Hören verbessern und damit automatisch das Verstehen, also ich glaube, dass Hören und Verstehen zusammenlaufen. Ee, sì, sì, questa cosa potrebbe essere utile perché, ovviamente, se ascolto un brano cinque volte, magari alla terza volta i vocaboli riesco a riconoscerli meglio quindi posso anche spostare la mia attenzione su quella che è la costruzione la costruzione grammaticale, la costruzione sintattica che è, diciamo, un po’ quella cosa che mi spaventa di più eehm (LB 1/ 61) Ja, das (differenzierte Hören, SH) könnte nützlich sein, wenn ich etwas fünfmal höre, vielleicht schaffe ich es beim dritten Mal, die Vokabeln schneller wiederzuerkennen, dann kann ich meine Aufmerksamkeit auf die grammatische Konstruktion lenken, die Syntax, das ist ehrlich gesagt das, was mir am meisten Angst macht. Seine diesbezüglichen Lernanstrengungen werden im Tagebuch festgehalten und reflektiert. Dies führt Ferdinando (als Einziger) auf Deutsch, was seiner Absicht entspringt, „a ragionare su in maniera più tedesca possibile“ (so deutsch wie möglich zu denken, LB 1/ 30). Wie besprochen konzentriert sich der Lernende auf das Hören, speziell zum Thema Musik, das ihn besonders interessiert. Nach dem Einstieg über einen Hörtext hält er fest, dass ihm die mitlaufenden Illustrationen helfen (TB 16.12.2010, in Bezug auf die Nachrichten im Fernsehen LB 2/ 22) und wählt daher für seine zukünftigen Übungen Videos. Zu einem späteren Zeitpunkt sucht er sich bewusst Filme, in denen langsam gesprochen wird (TB 11.4.2011). Beim zweiten Hören der ersten Übung (nach 24 Stunden) vermerkt er: „Das Verständnis ist mehr klar. Ich verstehe mehr Wörte als letztes Mal“ (TB 14.12.2010). Sein Vorgehen beschreibt er folgendermaßen: […] Ich habe im Allgemeinen verstanden, und ich habe unbekannte Wörter verstanden. Ich habe sie zu erst zweimal gehört und dann habe ich sie in der Wörterbuch gesucht. Ich bin froh, dass diese Wörter (unleserlich) korrespondierte. (TB 29.3.2011) Von dem inhaltlichen Verstehen geht es nach der zweiten Lernberatung (s.u.) weiter zum formalen Erfassen, was ihm bedeutend schwerer fällt: […] Wenn die Sätze die Verben am Ende haben, ist die Verständnis mehr schwer weil man die ganze Worte sich erinnern muss. Wenn ich die ganze Worte mich erinnern muss, wahrscheinlich werde ich die Bedeutung vergessen. Es ist einen großen Problem! (TB1.4.2011). <?page no="273"?> 273 Aber auch diesbezüglich ist „mehrere Konstanz“ (TB 18.4.2011) das Erfolgsrezept: […] Zum Beispiel, in der Film habe ich eine Finalsezte kennengelernt. Zuerst habe ich „um“ gehört und dann habe ich an der Ende „zu plus Infinitiv Verb“ gekannt. Das ist nicht viel aber es ist ein Anfang […]. (TB 18.4.2011) In der letzten Aufzeichnung gilt seine Aufmerksamkeit den Konjunktivformen und dem Passiv, wobei er vermerkt, dass ihm Schreibübungen im Anschluss an einen Film hilfreich sind (FTB 26.4.2011). Ferdinandos Tagebuch ist eine ergiebige Quelle zum Verständnis seiner Lernprozesse. Es zeigt sich darin gepaart zum Lernwillen seine Fähigkeit zur Reflexion. Die Schwierigkeiten hinsichtlich der Grammatik werden explizit gemacht und treten auch in der Verschriftlichung hervor. Sein focus on form dient einmal einem besseren inhaltlichen Verständnis, darüber hinaus aber dem Ziel, die Struktur der deutschen Sprache zu verstehen und diese damit korrekt anzuwenden. In der zweiten Lernberatung reflektiert Ferdinando sein Verhalten im Unterricht: No, ma infatti anche un po’ mi rendo conto che nell’ultimo periodo delle lezioni eehm intervengo di più direttamente in in tedesco, pur magari sbagliando qualche costruzione, infatti ne parlavo anche con K, magari appunto sbaglio qualche costruzione, però lei infatti dice “no, ma tu ti devi buttare, buttati, buttati, parla anche se sbagli, poi l’importante è che ti ricordi che hai sbagliato così la prossima volta magari ti correggi un minimo eee non hai questo questo blocco”; […] (LB 2/ 14) Nein, also ich bemerke schon, dass ich mich in der letzten Zeit mehr im Unterricht auf Deutsch äußere, vielleicht mache ich dabei manch eine Konstruktion falsch, darüber habe ich auch mit K gesprochen, ja vielleicht mache ich die Konstruktion falsch, aber sie sagt mir: „Nein, probier es einfach, sprich los, auch wenn es falsch ist, es ist wichtiger, dass du dich das nächste Mal an den Fehler erinnerst und dich vielleicht berichtigst, dafür aber nicht mehr so gehemmt bist.“ Der Lernende setzt nun vermehrt auf seine aktive Beteiligung und knüpft an ein solches Handeln die Hoffnung, sich besser an den gelernten Stoff zu erinnern: Sì perché se devo comunicare, in qualche maniera, penso, anche se sbaglio qualche cosa, l’importante è che il senso di quello che voglio dire venga venga capito, al all’inizio poi magari posso raffinare un po’ meglio. No, questa cosa di parlare (essere attivo) è dell’ultimo periodo perché mi sono, diciamo, punzecchiato da solo e quindi devo farlo, perché se no mi metto là, l’ascolto è passivo tutto quello che ricordo poi automaticamente poi lo dimentico. (LB 2/ 18) <?page no="274"?> 274 Ja also wenn ich irgendwie kommunizieren will, denke ich, auch wenn ich Fehler mache, ist der Sinn wichtig, der muss zuerst verstanden werden, den Rest kann man anschließend verbessern. Nein, das mit dem Sprechen, (aktiv sein) ist in der letzten Zeit gekommen, weil ich mich selbst, sagen wir mal, getriezt habe, d.h., ich muss das machen, wenn ich das nicht mache, ist das Hören passiv und alles, an was ich mich erinnere, vergesse ich automatisch. Hierbei drückt sich ein Wandel im Vorgehen Ferdinandos aus: Die formale Richtigkeit wird auf später verschoben und ist damit ein Produkt von Einschleifprozessen und weniger ein regelgeleitetes Sprechen. Diese Veränderung nutzt einmal charakterliche Merkmale und damit persönliche Stärken, versucht aber zusätzlich auch den Schwächen beizukommen: [… ] io là mi scoraggio perché in matematica, pur avendo fatto lo scientifico, prendevo sempre tre e quindi dico, allora forse… la la mia, come ti posso dire? come posso dire? impostazione logica che non è molto logica, appunto, nel senso che non non c’è chi è portato proprio a riconoscere schemi e cose varie e quindi capisce i meccanismi sintattici, io magari sono un più ee portato a riconoscerli attraverso un u il loro uso e non attraverso la comprensione del meccanismo che sta sotto, che sta dietro. (LB 2/ 28) [… ] und da (in Bezug auf die Logik, SH) verliere ich den Mut, weil ich in Mathematik, obwohl ich auf ein naturwissenschaftliches Gymnasium gegangen bin, immer schlechte Noten hatte. Daher, also, wie soll ich sagen, wie soll ich es sagen, mein logisches Vorgehen ist nicht so logisch, ich meine, ich bin nicht so dafür geeignet, Schemata oder so etwas zu erkennen, wie syntaktische Zusammenhänge, ich bin eher dafür geeignet, die über ihren Gebrauch zu erkennen und nicht über das Verstehen ihres Mechanismus, darüber, was darunter liegt. Poi faccio, appunto l’esempio della matematica, io capivo, appunto, sapevo fare le equazioni dopo, appunto, averne sbagliate un sacco, per dire; invece c’è chi subito capisce logicamente quali passaggi deve fare e non ha problemi, ee questo. Per questo ripeto che, secondo me, io avrei, appunto, proprio bisogno di parlarlo molto, di usarlo mol, di usare molto la lingua, in quella maniera, appunto, capirei l’utilizzo concreto della sintassi, perché se si se si rimane soltanto a livello un po’ astratto, logico, non sono molto ferrato, e quindi per colmare questo deficit devo proprio applicarlo. (LB 2/ 30) Dann das Beispiel mit der Mathematik, ich habe begriffen, d.h., ich konnte die Gleichungen, nachdem ich ganz viele falsch gemacht hatte. Dagegen gibt es Leute, die das sofort kapieren, von der Logik her, problemlos die verschiedenen Schritte. Das ist es eben. Daher denke ich, wie schon gesagt, dass ich viel (Deutsch, SH) sprechen und anwenden muss. Auf diese Weise könnte ich den konkreten Gebrauch der Syntax <?page no="275"?> 275 verstehen, denn wenn die abstrakt, logisch bleibt, dann kann ich das nicht. Um diese Schwäche auszugleichen, muss ich (die deutsche Sprache, SH) anwenden. Ferdinando begründet hier seine Theorie des Lernens durch häufige Anwendung als Strategie, die er zum Ausgleich eines „Defizits“ entwickelt hat. Um bei dieser Methode die (syntaktischen) Fehler zu reduzieren, schlage ich ihm vor, sich beim Hören gezielt auf bestimmte Konnektoren zu konzentrieren (LB 2/ 96), was der Lernende auch breitwillig annimmt (s.o. TB, LB 2/ 135) und in der dritten Lernberatung entsprechend positiv evaluiert: Allora, io innanzitutto ho notato anche un miglioramento dalla prima volta alla, sino all’ultima volta nel senso anche come un po’ l’immediatezza nel nell’adeguarmi al parlare in tedesco, nel parlare anche di quelli che sono i miei problemi relativi al alla lingua tedesca. Ee probabilmente se avessi avuto diciamo meno occupazioni di circostanza e mi sarei (applicato) di più perché (unverständlich) nel corso del tempo immediato sono molto, sono state molto utili; se avessi avuto più tempo libero mi sarei applicato di più, però diciamo, ho fatto, diciamo, quello che potevo, nei ritagli di tempo e comunque almeno una in settimana una o due volte al giorno, ritagliavo un po’ di tempo per vedermi mezz’oretta, venti minuti di film e poi quando accumulavo qualche cosa scrivevo, buttavo giù qualche cosa, infatti spesso sono anche delle suggestioni momentanee, ee così perché comunque era un po’ monitorare quello che era il mio lavoro strada facendo. Ee, però no, io io sono sono contento perché (quello che ho fatto) (LB 3/ 10) Also vor allem habe ich einen Fortschritt im Vergleich zum ersten und zum letzten Mal festgestellt, in dem Sinne, dass ich mich daran gewöhnt habe, direkter und auf Deutsch zu sprechen. Auch in Bezug auf meine Probleme im Deutschen. Wenn ich weniger beschäftigt gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich mehr geübt. So auf die lange Sicht sind die (Übungen, SH) sehr nützlich. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich mehr gemacht, aber sagen wir mal, ich habe das gemacht, was ich zwischendurch konnte. Mindestens einmal die Woche einmal oder zweimal pro Tag habe ich mir für eine halbe Stunde, 20 Minuten Zeit genommen, um einen Film zu sehen. Und wenn sich was angesammelt hatte, habe ich was geschrieben, so spontan, manchmal auch nur irgendwelche Eindrücke. Das war so wie ein Monitor, auf dem die Straße sichtbar wird, auf der ich gehe. Also ich bin zufrieden damit. Der angesprochene „Monitor“ ist durch die Lernberatung installiert worden und hat zum Lernerfolg beigetragen. Damit sind Ferdinando verstärkt die Umstände bewusst geworden, wann spontanes und korrektes Sprechen auseinanderbrechen, und wie er hier Prioritäten setzt: Un po’ euforico oscillavo un poco tra il pessimismo. Per esempio ieri ho incontrato questa ragazza tedesca, ee, amica di una mia amica pure tedesca, da da (Leipzig) e <?page no="276"?> 276 abbiamo cominciato a parlare: all’inizio andava bene, poi a un certo punto mi sono proprio stancato e ho cominciavo a sbagliare tutte cose; un po’ di stanchezza poi non non ti fa, perché comunque mi rendo conto che per parlare bene devo stare molto a riflettere, però magari in ambiti di conversazione conversazione, anche un po’ come avviene a lezione, mi butto così, come va va, se sbaglio sbaglio e insomma tutte queste cose. E no, per eliminare proprio questa cosa, cioè ora mi butto molto di più e insomma, me ne frego di meno se sbaglio, l’importante è proprio ee trovare il contatto comunicativo, ee (LB 3/ 16, 53) Ein bisschen euphorisch und ein bisschen pessimistisch. Gestern zum Beispiel habe ich eine Frau aus Leipzig getroffen, eine Freundin von einer deutschen Freundin, und wir haben angefangen zu sprechen. Am Anfang hat es gut geklappt, dann war ich irgendwann müde und habe alles falsch gesagt. Ein bisschen müde und schon geht es nicht. Da ist mir klar geworden, dass wenn ich gut sprechen will, muss ich viel nachdenken. Dann aber bei der Konversation, auch wie im Unterricht, spreche ich einfach los, so wie’s läuft, läuft’s eben. Wenn ich Fehler mache, mache ich die eben. Um das (sich nicht zu sprechen trauen, SH) zu vermeiden, spreche ich jetzt viel mehr, es ist mir eher egal, ob ich was falsch mache. Wichtig ist, diesen Kontakt durch Kommunikation herzustellen. Sì, e mi e me ne rendo conto perché anche ieri sera quando parlavo con queste, con queste ragazze, nel momento in cui devo interagire in maniera molto d’impatto, subitanea, ee questi schemi è difficile andarli a ad applicare allora, poi soprattutto se un comincia a parlare si pensa di meno agli schemi. Quello che vorrei fare io è diciamo parlare tanto in modo tale che poi questi schemi mi vengano automatici, questa è la cosa. (LB 3/ 44) Ja gestern habe ich auch in dem Gespräch mit den Frauen gemerkt, dass wenn ich spontan interagiere, ist es schwierig, diese Schemata abzurufen. Vor allem wenn du anfängst zu sprechen, dann denkst du weniger daran. Das, was ich machen möchte, ist so viel zu sprechen, dass diese Schemata automatisch kommen. Das ist es. Nochmals wiederholt er, über das quantitative Mehr an Sprechen die grammatischen Strukturen zu automatisieren. Bezüglich dieses Vorgehens beobachtet er bereits an sich erste Anzeichen von Erfolg (LB 3/ 46, 48). Zum aktiven Handeln assoziiert er stärkeres Interesse und konzentrierteres Arbeiten (LB 3/ 28), dem gegenüber steht ein passives Verhalten (s.o., LB 2/ 18) sowie Schweigen verbunden mit Unkonzentriertheit (LB 3/ 26). Ferdinandos Lernen lässt sich aufgrund der introspektiven Daten erstens durch seine charakterlich angelegte Neugierde, zweitens durch ein handlungsbetontes, aber auch reflektierendes Verhalten und drittens auf frequency setzendes Vorgehen beschreiben. <?page no="277"?> 277 4.2.2.2.2 Lernstand SSE Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache Punkte insg. 1. 2 2 2,5 3 9,5 2. 3,25 (+1,25) 3,25 (+1,25) 2,75 (+0,25) 3 12,25 (+2,75) 3. 3,5 (+0,25/ +1,5) 4 (+0,75/ +2) 2,25 (-0,5/ -0,25) 3 12,75 (+0,5/ 3,25) Tab. 35 ̶ Sprachstandserhebungen von Ferdinando Die von ihm wahrgenommene formale Schwäche tritt auch in den drei Sprachstandserhebungen zutage. Beim zweiten Test ist der Lernzuwachs in diesem Bereich relativ gering (+0,25), und am Ende des Kurses fällt seine Leistung ab (- 0,5), sogar leicht unter den Stand im Dezember (-0,25). Beim ersten Gespräch treten außerdem Probleme beim Verstehen der Fragen bzw. einzelner Wörter auf (Anmerkungen im Forschertagebuch). Diese verringern sich im zweiten Test deutlich, so wie auch die Antworten ausführlicher ausfallen. Im Formalen sind Selbstkorrekturen zu vermerken. Bei der dritten Sprachstandserhebung spricht der Lernende eindeutig flüssiger als am Anfang (+2), was den „Kurswechsel“ während der LB untermauert. Er erwähnt außerdem, dass er in den letzten Wochen ab und zu mit Freunden Deutsch geredet habe. Ferdinando macht immer noch viele Grammatik- und auch so manchen Ausdrucksfehler, korrigiert sich aber häufig selbst bzw. bemerkt den Fehler und versucht, sich zu verbessern (allerdings nicht immer erfolgreich). 4.2.2.2.3 Lernen im Unterricht Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Wortmeldungen im Verhältnis zum Kurs 14 18 % 29 24 % 46 26 % fehlt 49 23% 36 21 % 69 37 % 51 27 % 39 20 % davon SI 14 27 42 47 35 55 41 38 Tab. 36 ̶ Wortmeldungen von Ferdinando Die Anzahl der Wortmeldungen bestätigt eine sehr rege Beteiligung, die im letzten Drittel noch zunimmt. Ferdinando ergreift vorwiegend selbstinitiiert das Wort. Da er aber teilweise bei den Hausaufgaben Probleme signalisiert, wird er von der Lehrerin an manchen Tagen häufiger bei deren Kontrolle aufgerufen (z.B. Video 8 und 9). Hier bringt der Lernende die eigenen Belange auch wiederholt durch Nachfragen ein. Von den in der Lernberatung herausgearbeiteten <?page no="278"?> 278 Merkmalen liegt das Augenmerk bei der Unterrichtsinteraktion vor allem auf der Stärke im flüssigen Sprechen und den formalen Schwächen. Flüssiges Sprechen und formale Schwächen In den ersten beiden Sequenzen ist der Konjunktivgebrauch in der indirekten Rede das Thema, die dritte bezieht sich auf einen zu analysierenden Satz und die vierte auf die Hausaufgaben: 01 K […] moment; was haben wir vor der pause= 02 F =wir benutzen wir benutzen konjunktiv eins; wann? 03 K =wenn= 04 F =wenn äh: alle lerner wir äh ähm indirekte satze sätze haben. 05 K okay. […] Video 1/ Ferdinando 5 01 K […] warum ist es nicht habe; sondern sei? 02 F äh: weil äh mit äh verbi di movimento- ((macht eine Geste zur Darstellung von Bewegung)) 03 K ähä. okay. 04 F äh. benu äh: benu nur sein verben benutzen. 05 K äha. also ich sage, ich bin gekommen, nicht ich habe gekommen. (.) ja? […] Video 1/ Ferdinando 14 02 F in die ersten wir haben man als subjekt. 03 K hm. 04 F in die zweite äh die k die äh kön können nicht zwei subjekte haben. (-) man und sie (.) sind zwei subjekte in den gleiche äh sätze. 05 K hm. 06 F äh. es ist nicht [richtig.] 05 K [ah hier ist das man] ((korrigiert an der Tafel)) also das geht nicht. und das? […] Video 2b/ Ferdinando 5 01 F ((räuspert sich)) ich habe äh diesen äh übung äh: (.) ich habe äh nicht nicht äh macht; weil ich äh: ((räuspert sich)) nach rom= 02 K =ach ja. stimmt. stimmt. du warst nicht da. […] Video 3a/ Ferdinando 1 Die Ausschnitte zeigen grammatische Lücken bei Genus, Plural- und Partizipbildung (auch Schwierigkeiten beim Lesen der Zahlen, in diesem Fall Maßeinheiten und Jahreszahlen in Video 2b/ Ferdinando 1, beim Kasus nach (gängigen) Präpositionen in Video 8a/ 42), die von ihm gefürchtete Verbentstellung im Nebensatz sowie des Infinitivs im Hauptsatz mit Modalverb sind allerdings richtig <?page no="279"?> 279 (03 in Video 1/ Ferdinando 5, nach Korrektur in 04 in Video 1/ Ferdinando 14, 04 in Video 2b/ Ferdinando 5). Der Lernende vermag grammatische Regeln zu formulieren, wie zur Bildung des Passivs mit Modalverben und zu einem späteren Zeitpunkt zum Einsatz der Präpositionaladverbien: 01 K […] ja wie funktioniert das? (0.8) 01 F wir haben äh modal ähm den modalVERB äh im präsens (.) und äh (-) die verb im infinitiv mit äh werden. 02 K hm. okay. […] Video 3a/ Ferdinando 12 01 F wenn äh hat wenn wir haben einen de: präposition äh che regge äh in einem nebensatz äh wir müssen äh darüber schreiben. da da plus präposition schreiben. und die nebensatz äh ist ein nebensatz. basta. Video 9b/ Ferdinando 3 Auch im Bereich der Konjugation bestehen Unsicherheiten beim Sprechen (04 in Video 6b/ Ferdinando 5, 03 in Video 6b/ Ferdinando 12): 01 K […] wer arbeitet oft als au-pair? 02 F äh das mädchen zum beispiel ein mädchen äh au-pair äh au-pair- 03 K aha. 04 F sie arbei sie arbeit sie arbeitet äh in einer familie. 05 K ja. 06 F äh sie äh- 07 K ähä. 08 C schläft zuhaus. 09 K äha. 10 C und isst zuhaus. 11 K äha […] Video 6b/ Ferdinando 5 01 F sie äh: sie arbeit arbeitet nicht so gut. 02 K ja. 03 F oder sie äh essen zu viel. 04 K ((lacht)) sie isst [zu viel.] ja. 05 F [isst] zu viel. ((schüttelt dabei den Kopf)) Video 6b/ Ferdinando 12 Ferdinando bemerkt seine Probleme, wie sein mehrmaliges Ansetzen verdeutlicht. In der zweiten Sequenz verwechselt er die dritte Person Singular mit der <?page no="280"?> 280 dritten Person Plural, was ihm auch sonst passiert (Video 6b/ Ferdinando 8). Er wird indirekt durch recast korrigiert und nimmt die Korrektur fast gleichzeitig auf. Sein Kopfschütteln verweist darauf, dass ihm der Fehler durchaus bewusst ist. Gesten, die das Bemerken seiner Fehler kommentieren, finden wir besonders in den letzten Videografien häufig. Diese begleiten zum Teil seine wiederholten Abbrüche und Neuansätze, wie hier bei der Definition von Au-pair-Mädchen: 01 F äh oft äh sie ist äh oft ist sie äh eine äh fremde äh mädchen. Video 6b/ Ferdinando 6 Bei der Selbstkorrektur unterstreicht der Gesichtsausdruck sowie die Kopf- und Handbewegung, dass sich Ferdinando an die Verbumstellung beim Sprechen erinnert. Daher wiederholt er wohl auch „oft“. Bei Mädchen wird der feminine Genus angenommen und das Adjektiv angeglichen. Die zahlreichen „ähs“ verweisen auf die Notwendigkeit von „Denkpausen“, wie auch das weitere Beispiel zeigt. Hier geht es um die Frage, wer Göttingen kennt: 01 K […] göttingen. hat jemand schon mal den namen gehört? göttingen. 02 F ja. 03 K warum? woher? 04 F ja <<wird durch Sprechen im Hintergrund unterbrochen>> 05 K ach so. ja okay. ((zu Sandra und Emilia)) 06 F in göttingen äh gibt es eine: wichtige uni. 07 K okay. 08 F äh aber ich weiß nicht äh wo gottingen göttingen äh (0.5) <<macht eine Handbewegung, die liegen ausdrückt>> äh leg no no legt liegt. 09 K gut. du weißt nicht; wo es liegt. […] Video 6b/ Ferdinando 15 In dem folgenden Ausschnitt zum Thema „Soziales Jahr“ versucht Ferdinando in einem längeren Redewechsel eine Episode zu erzählen . 01 F zum beispiel eine meine eine meiner meine eine meiner freun freun: freundin- 02 K ja. 03 F ähm hat es hat es gemacht. äh: sie äh: fahren sie fahrt nach graz. 04 K aha. 05 F äh. 06 K ja und wo hat sie da gearbeitet? in einer institution? = 07 F =ja. in einer institution. mit (.) äh sie äh machen sie macht verschiedene ((sucht im Lehrbuch das Wort und liest es dann)) tätigkeiten äh aber sie ver find sie find die: deine- <?page no="281"?> 281 08 K deine? 09 F äh äh liebe auch. 08 K ah sie hat dort auch ihre große liebe gefunden? ihre, aber nicht meine. ihre liebe gefunden. hat sich verliebt. ((beide lachen)) 09 F ja. aber dann äh nicht ((verneint mit dem Zeigefinger)) ((beide lachen)) äh und dort sie hm haben äh no sie äh: okay. al passivo. dort deine fahrrad- 10 K moment moment moment. dort, 11 F dort- 12 K jetzt- 13 F hm. 14 K jetzt jetzt kommt ( )- 15 F il verb. 16 K jetzt kommt ähä. 17 F ist dein fahrrad- 18 K nicht deine- 19 ? seine. 20 K auch nicht sein. ist es eine freundin oder ein freund? 21 F ähm ( ) una mia amica. 22 K also, 23 S ihre. 24 K ihr oder ihre. ich weiß nicht. das substantiv. 25 F fahrrad (.) quindi ihr fahrrad ist no già ho detto gestohlen wer no worden. 26 K gut. ((lacht)) 27 F äh ((sichtbar erleichtert)) dann sie ähm- 28 K und dann- 29 F und dann ähm allora und dann (-) ist (.) sie (.) hier (.) in italien. 30 K ach. 31 F nach italien nach italien zurückgekommen. 32 K ah ach ihr fahrrad ist gestohlen worden und dann hat sie gesagt sie jetzt ist schluss. 33 F äh? 34 K dann war schluss. dann hat sie gesagt; jetzt fahre ich wieder nachhause. 35 F ((drückt aus, dass er nicht verstanden hat)) ho pensato che ho detto prima. 36 K ((beide lachen)) also das fahrrad ist gestohlen worden. 37 F ja. 37 F und das war ein trauma. 38 F ja. sie sie war- 39 K sie geht nachhause. 40 F fahrrad gestohlen. und die die fidanzeting äh weg. äh sie war sehr sehr äh traurig. und sie äh zurück hier zurückgekomm. 41 K und sie- <?page no="282"?> 282 42 F gekommen. Sie IST hier zurückgekommen. 43 S eine glückliche freundin. 44 K ja; nicht so gut. Video 6b/ Ferdinando 28 Die grammatischen Schwierigkeiten und die aktivierte Kontrolle dämmen seinen Redefluss erheblich ein. Ferdinando gibt aber nicht auf, auch wenn es ihn offensichtlich größere Anstrengung kostet und die Konzentration am Schluss nachlässt (35). Beim Wort „fidanzeting“ (40) versucht er schnell durch Anhängen des Englischen „ing“ das italienische Wort „fidanzato“ (Verlobter) zu abstrahieren. Dieser besonders für italienische Jugendliche typische Übertragungsvorgang aus dem Englischen im deutschen Diskurs dürfte dem Lernenden als falsch bewusst sein, aber in seinem Wunsch, seine Redeabsicht durchzusetzen, der jedoch gleichzeitig durch die aufkommende Müdigkeit weitere Suchvorgänge im Wortgedächtnis entgegenstehen, greift er zu dieser „Lösung“. Durchaus denkbar sind bei Ferdinando aber grundsätzlich auch Hörschwierigkeiten, die sowohl zu Konzentrationsschwächen als auch zu Problemen beim verstehenden Hören führen (vgl. auch Video 6b/ Ferdinando 25): 01 K […] und was meint ihr; wie funktioniert diese vermittlung? 02 F (ob) 03 K wie wie wie wie. 04 F ah. äh. ich bin eine: äh father <<engl. Aussprache>> und ein kind und ich sucht eine mädchen au-pair au-pair- 05 K au-pair mädchen. 06 F äh? 07 K au-pair mädchen. 08 F okay. au-pair mädchen. äh so ich frage äh: für eine au-pari au-pair mädchen äh an der arbeitsagentur. 09 K gut. […] Video 6c/ Ferdinando 5 Auch hier finden wir neben dem Rückgriff auf das Englische das Nachfragen aufgrund eines nicht verstandenen Wortes. Das Englische rutscht verschiedentlich hinein: In einer Sequenz nennt er „fast“ anstelle des Deutschen „sofort“, wobei dies nach einer Minipause geschieht (Video 7b/ Ferdinando 5, auch in Video 9b/ Ferdinando 14), d.h., es könnte sich durch auch um eine bewusst eingesetzte Kommunikationsstrategie handeln. In dem folgenden Redewechsel zum Thema Altenheime hat er in turn 16 wahrscheinlich das englische „by“ abgerufen. <?page no="283"?> 283 01 K […] ferdinando; welche situation kennst du denn so aus deinen bekannten; deiner familie? 02 F ich habe keine großeltern; aber äh zum beispiel meine meine mutter ähm äh arbeitet in einem altenzi in einem altenheim. 03 K aha. 04 F aber äh diese altenheim ist eine (.) kleine wohnung. äh dort leben leben sie fünf oder: maximum sechs personen und die= 05 K =und alle sechs, 06 F die umwelt ((malt einen Kreis in die Luft)) ist sehr familiärisch. 07 K ah. okay. so eine wie eine art wohngemeinschaft für alte menschen, 08 F (-) no nein eine wohnung. 09 K ja aber so das prinzip von einer wohngemeinschaft. wie für studenten nur für alte (.) menschen? 10 F hm. <<drückt Unverstehen aus>> 11 L dass jeden hm alte menschen hat eine zimmer? 12 F hä? 13 L zum beispiel jede alte menschen oder- 14 F eine oder doppelzimmer. ähm ähm 15 L =ist geht- 16 F es es hängt ähm ähm bei dipende da? 17 K von. 18 F von äh ähm wie viel alt alte leute sind. 19 K also; es hängt (.) wie strukturiert; wie ist die struktur? es hängt […] Video 7b/ Ferdinando 6 Turn 6 zeigt einen weiteren Wortbildungsversuch durch Generalisierung, in diesem Fall aber unter Anwendung einer deutschen Regel zur Adjektivbildung. Ein weiteres Beispiel zur Wortbildung ist „Feriensbeginn“ (Video 8b/ Ferdinando 22). In beiden Fällen ist nicht nachweisbar, ob diese Regel bewusst angewendet oder „automatisch“ durch die wiederholte Anwendung von Beispielen übertragen wird. Die Tatsache aber, dass es weder zu Verzögerungen kommt, noch explizit nachgefragt wird oder gestisch Zweifel bezüglich der Wortwahl zum Ausdruck gebracht werden, lässt auf eine spontane, d.h. unreflektierte Anwendung schließen. Das Wort Wohngemeinschaft ist bereits vorher gefallen, aber Ferdinando hat es wahrscheinlich nicht wahrgenommen bzw. gespeichert. Der Schlusssatz mit „abhängen von“ wird in der Klasse zusammen gebildet, was einige Minuten dauert und allen Schwierigkeiten bereitet. Das Thema „Präpositionen“ ist dann auch zentral in den folgenden Unterrichteinheiten: 01 K […] warum wo plus r plus präposition? warum habe ich das r in klammern geschrieben? 02 F ah; die r äh hängt äh ähm von die erste stabe- <?page no="284"?> 284 03 K buchstabe. 04 F buchstabe: äh ab. 05 K gut. […] Video 8a/ Ferdinando 34 Hier benutzt Ferdinando „abhängen von“ richtig. Offensichtlich denkt er bei der Anwendung des Verbs nach. Reflektiertes Sprechen lässt sich auch in der folgenden Einheit aufzeigen, bei der es um den Termin für die B1-Prüfung geht: 01 F auch für mich zum beispiel kann ich kann die prüfung äh kann ich die prüfung machen kann ich die prüfung äh: : im: september oktober machen? Video 9a/ Ferdinando 3 Ferdinando korrigiert sich hier mehrmals bezüglich der Satzstellung selbst. Die verschiedenen Ansätze, Dehnungen und „ähs“ verzögern das Sprechen, das aber dennoch als „natürlich“ wahrgenommen wird und sich damit an ein durchdachtes, kontrolliertes Sprechen im Normaltempo annähert. In anderen Fällen fragt er nach mehrfachem Probieren, ob die Verbumstellung erforderlich ist (Video 9a/ Ferdinando 31). Auch wenn es für dieses grammatische Phänomen sehr wohl auch gelungene Beispiele gibt (Video 10b/ Ferdinando 10), fordert ihm sicherlich die Satzstellung auch noch am Schluss des Kurses ein großes Maß an Aufmerksamkeit ab, wie im Folgenden in Bezug auf ein Hörverstehen zu „Falschen Freunden“ deutlich wird: 01 K […] gymnasium ist ganz klar eine schule. und er hat (.) ja ferdinando- 02 F ähm der junge mann ha hatte äh: : ähm die sportplatz ((mimt mit einer Geste das Joggen)) äh: verstanden. äh so er so er spedire sche schen schenk no. ((winkt ab)) 03 A geschickt. 04 F ah so sí er ihn- 05 K so- 06 F so er hat ((winkt ab)) so hatte- 07 K okay. 08 F er ihn. 09 K gut. 10 F (.) zur sportplatz geschickt. ((streicht sich ostentativ zum Ausdruck der Anstrengung den Schweiß von der Stirn)) 11 K zum sportplatz geschickt. [warum hat] er ihn zum sportplatz geschickt? 12 F [sudato] Video 10a/ Ferdinando 24 <?page no="285"?> 285 Andere Grammatikkenntnisse erscheinen dagegen gefestigter und beim Sprechen leichter abrufbar zu sein. Am zweitletzten Unterrichtstag formuliert bzw. wiederholt Ferdinando nicht nur die Regel zur Anwendung der Präpositionaladverbien, sondern nennt auch scheinbar mühelos Beispielsätze (z.B. Video 9b/ Ferdinando 6 und 7), was die Kursleiterin umgehend lobend hervorhebt. Allerdings verbleiben z.T. elementare Lücken, wie ja auch die zweite und dritte Sprachstandserhebung bezeugen. 4.2.2.2.4 Fazit Ferdinando ist ein sehr lernwilliger und aufnahmebereiter Lernender, der seine Erfahrungen mit anderen Fremdsprachen reflektiert und für das Deutsche nutzbar macht. Sein Zugang ist vom handelnden Umsetzen des gelernten Stoffes geprägt, wobei er sich mit seiner Sprechangst konfrontiert und diese mehr und mehr überwindet. Sein Lernen vollzieht sich sowohl assoziativ über Routine als auch über Regelanwendung, wobei sich hier sein augenscheinlich vorhandenes metakognitives Wissen den Weg zum Können bahnt, wie es an den Selbstkorrekturen, den zahlreichen Verzögerungen und der Lernanstrengung sichtbar wird. Im Unterricht gelingt ihm der Umgang mit dem formal-grammatischen Aspekt des Deutschen im Rahmen der Lehrer-Lerner- oder Lerner-Lerner-Interaktion, da hier mangelnde Formen suggeriert oder Fehler korrigiert werden. Hier erhält Ferdinando den Anstoß zum Nachdenken. Ist er im Prüfungsgespräch auf sich gestellt, so überwiegt der Wille zum möglichst flüssigen Sprechen zuungunsten der grammatischen Korrektheit. Dass die Priorität der Kommunikation gehört, wird in den Lernberatungsgesprächen explizit ausgedrückt. In diesem Sinne verschiebt sich ab dem zweiten Treffen die Aufmerksamkeit auf eine Potenzierung des sprachlichen outputs, womit der Lernende darauf setzt, die Grammatik über frequency zu automatisieren. Der Test belegt, dass dieser Fokuswechsel zu einem Stillstand bzw. Rückgang im Formalen führt, dafür aber die Flüssigkeit antreibt. Es lassen sich aber auch, wie erwähnt, vor allem im Unterrichtsdiskurs Anzeichen dafür ausmachen, dass sich bestimmte grammatische Formen langsam setzen, wie das bereits im Englischen geschehen ist. Ferdinando verbindet mit dem Deutschen verschiedene Zukunftspläne, wie der Zugang zum wissenschaftlichen Ambiente, die ihn zum Lernen motivieren und besonders in seinem Anliegen des (korrekten) Sprechens antreiben. Zu diesem Zweck reflektiert er sein Vorgehen, wägt in seinem Handeln die eigenen Stärken und Schwächen ab und reguliert entsprechend sein Verfahren. Darin erscheint er als ein Mensch, dessen Lernen auf Veränderung im Sinne von Verbesserung der eigenen Lebenssituation zielt, was sein Verhalten als expansiv kennzeichnet (Abb.20). <?page no="286"?> 286 Schwierigkeiten mit Gruppenarbeit neugierig streng logisch handlungsorientiert reflexiv expansives Lernhandeln flüssiges Sprechen mit häufig falschen Satzstrukturen Abb. 20 ̶ Schematische Darstellung des Lernprozesses von Ferdinando 4.2.3 Verstärkt assoziative Lernprozesse 4.2.3.1 Bettina 4.2.3.1.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben Die Lernende ist Anfang zwanzig und Studentin. Sie hat zuvor noch nie einen Deutschkurs besucht. Ihre Kenntnisse im Deutschen fußen auf Kindheitserfahrungen in der Schweiz und dem Sprechen mit der Schweizer Mutter. Inwieweit aber das Alltagsgespräch mit dieser auf Deutsch stattfindet, dazu liegen widersprüchliche Aussagen vor (FB 8, LB 1/ 10, 55, 73, TB 20.12.2011). Insgesamt überwiegt der Eindruck, dass die Verständigung im Alltag nicht auf Deutsch verläuft (LB 3/ 16), auch wird als Muttersprache Italienisch (Bettina LB 1/ 40) angegeben. Neben profundem Wissen im Bereich der Altsprachen besitzt die Lernende nach eigenen Angaben auch gute Englisch- und Französischkenntnisse. Diese, vor allem das Englische, setzt sie als Lernhilfe bei den Vokabeln für das Deutsche ein: Si, infatti. Penso che l’apprendimento dei vocaboli riesco a memorizzarla facilmente, magari aggr raggruppandoli per famiglie semantiche, a volte, riuscendo a a, anche facendo dei paragoni stessi tra le varie lingue riesco a creare delle famiglie e ricor- Grammatik (Syntax) schnelleres Abrufen von Wörtern „Verflüssigung“ von Strukturen Sprechen Hörverstehen 1. Inhalt 2. Form starke Unterrichtsbeteiligung <?page no="287"?> 287 darle anche in questa maniera, magari una parola tedesca può assomigliare ad una parola inglese e riesco a ricordarle meglio anche in questa maniera, varie parole eeehm, è un apprendimento, diciamo orecchiabile (LB 1/ 38) Ja, genau. Ich glaube, dass ich mir die Vokabeln gut merken kann, vielleicht indem ich sie in Wortfamilien gruppiere, manchmal gelingt es mir auch, Vergleiche zwischen den verschiedenen Sprachen zu ziehen und Familien zu schaffen und mich so daran zu erinnern. So ähnelt vielleicht ein deutsches Wort einem englischen und damit merke ich es mir besser, verschiedene Wörter, sagen wir mal übers Hören. Vokabeln werden in Wortfamilien interlingual vernetzt und in Form einer Interimssprache gespeichert, wobei das Hören den prävalenten Kanal darstellt. Dieser auditive Zugang beschreibt eine vorwiegend unreflektierte Aufnahme, ein automatisches Speichern und Abrufen (LB 1/ 30), das ihr zum Problem wird, weil sich ihr das Warum der spontanen Anwendung entzieht: Perché la mia reale difficoltà sta proprio nel fatto che ho im ho appreso la lingua tedesca a attraverso mia madre, però senza studiare effettivamente la struttura del tedesco perché lo parlo come se fosse ad orecchio, nel senso, l’ho sempre parlato e lo parlo però senza comprendere realmente le strutture. (LB 1/ 10) Weil meine reale Schwierigkeit darin besteht, dass ich die deutsche Sprache über meine Mutter gelernt habe, also ohne richtig den Aufbau zu lernen, weil ich nach dem Gehör spreche, d.h., ich habe immer so gesprochen und spreche so, ohne eigentlich die Strukturen zu verstehen. Bettina kann bestimmte Lernvorgänge (s.o.) aus dem L3- und L4-Erwerb, eben Englisch und Französisch, beschreiben, über andere, wie z.B. den Vokabelerwerb, hat sie aber noch nie nachgedacht, speziell in Bezug auf das Deutsche: „Per il tedesco io sinceramente non non riesco a ricordare come ho appreso effettivamente le parole, ma perché, gliel’ho detto, è una cosa inconscia“ (In Bezug auf das Deutsche kann ich mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, wie ich eigentlich die Worte gelernt habe, weil das, wie ich Ihnen schon gesagt habe, unbewusst ist, LB 1/ 16). Im Vergleich zum Englischen erscheint ihr die deutsche Sprache schwieriger (LB 1/ 42, 44), komplexer und lernaufwändiger, als sie anfänglich gedacht hatte. Dazu trägt auch ihr persönlicher Bezug zum Deutschen bei, den sie häufig als Hindernis empfindet: A volte, infatti, avrei preferito partire completamente da zero, mi creda, nel senso apprendere come tutti gli altri miei compagni di corso direttamente da da zero, passo passo gradualmente; invece così mi ritrovo ad un livello in cui ho, ad esempio un vo- <?page no="288"?> 288 cabolario, conosco tantissime parole, che poi siano pronunciate un po’ in maniera differente rispetto al tedesco standard, però app, mi ritrovo in deficit in altre, in altri campi, in altri, magari riguardo alle competenze, perciò un po’ (LB 1/ 65) Manchmal hätte ich es vorgezogen, glauben Sie mir, wie alle anderen Kommilitonen im Studiengang von Null auf angefangen zu haben, Schritt für Schritt. Dagegen habe ich zum Beispiel, was den Wortschatz angeht, ein (bestimmtes, SH) Niveau, ich kenne sehr viele Worte, auch wenn ich sie im Vergleich zum Hochdeutschen etwas anders ausspreche, aber dafür hinke ich in anderem hinterher, zum Beispiel im Bereich der Kompetenzen 83 Mit dem eingeschobenen Imperativ „mi creda“ (glauben Sie mir; der gleiche Ausdruck in dem gleichen Zusammenhang auch in LB 1/ 75) verleiht die Lernerin ihrer Aussage Nachdruck, und in dem folgenden Vergleich mit den Kommilitonen „come tutti gli altri miei compagni“ (wie alle meine Kommilitonen) spielt deutlich die Wahrnehmung des Andersseins hinein (LB 1/ 69). Den Zusammenhang zwischen „inserirsi“ (sich integrieren) und „die Sprache kennen“ stellt Bettina selbst her; er ist mit ein Grund, warum sie das Goethe-Institut besucht: „Infatti mi sta servendo proprio frequentare il Goethe per questo motivo, per per inserirmi, proprio per conoscere la lingua“ (Genau deshalb ist es mir nützlich, das Goethe-Institut zu besuchen, um mich zu integrieren, eben um die Sprache zu kennen, LB 2/ 22). Dazu gesellt sich das Gefühl, diesem „natürlichen“ Lernen ausgeliefert zu sein: Ma perché, ad esempio, noto che nel nell’imparare altre lingue che per me sono completamente straniere come l’inglese, il francese andava, era una cosa graduale, pari passo, e allora è come se ci fosse una struttura piano piano avessi un mattone sopra un mattone riesco a comprendere come effettivamente ci, mi debba muovere nella nell’espressione della lingua; invece qui mi viene, ho delle delle basi che ho, le ho naturali, come se dovessi esprimermi naturalmente, però a volte non non riesco a capire il meccanismo, non rie, non ragiono effettivamente su come, si strutturi la lingua. (LB 2/ 16, auch in LB2/ 18) Weil ich zum Beispiel bemerke, dass es beim Lernen der anderen Sprachen, wie im Englischen und Französischen, Schritt für Schritt vorwärts ging. Das war so, als ob Stein auf Stein ein Gebäude entsteht und ich verstehe, wie ich mich in der Sprache zu bewegen habe. Hier dagegen gelingt es mir, da habe ich natürliche Grundlagen, so als ob ich mich natürlich ausdrücken würde, aber manchmal verstehe ich den Mechanismus nicht. Mir ist es eigentlich nicht klar, wie die Sprache aufgebaut ist. 83 Mit „Kompetenzen“ intendiert die Lernende Grammatikkenntnisse ( LB 1/ 2). <?page no="289"?> 289 Um diesen Zustand abzubauen, schlägt die Lernerin vor, einmal den input durch ein Mehr an Radio hören und durch deutsches Fernsehen (LB 1/ 93) zu erhöhen. Des Weiteren nimmt sie sich vor, sich mehr am Unterricht zu beteiligen, was sie aus Schüchternheit (LB 1/ 93, TB vom 15.1.2011, 12.2.2011) oft unterlässt. Come strategia potrei, in primo luogo, intervenire più spesso a lezione anche soprattutto quando la professoressa propone di parlare su un argomento o di fare (letture) o una tematica particolare, intervenire io magari superando i miei limiti a volte del carattere, può essere dato anche da questo, un po’ di (LB 1/ 91) Als Strategie könnte ich zunächst mehr im Unterricht intervenieren, präsent sein, vor allem wenn die Lehrerin ein Gesprächsthema vorschlägt oder einen Text oder eine besondere Thematik, indem ich meine eigenen charakterlichen Schwächen überwinde, das kann auch ein wenig daher kommen. Im Tagebuch hält Bettina gewissenhaft die verschiedenen Gelegenheiten zur Konversation außerhalb des Unterrichts fest, besonders in den Weihnachtsferien in der Schweiz, und sonstige Übungen (Filme sehen, Zeitungen lesen usw.). Das Sprechen wird eingebettet in positive Emotionen, die sie mit den Angehörigen in der Schweiz verbindet: „Ho vissuto momenti indimenticabili con la mia famiglia“ (Ich habe unvergessliche Momente mit meiner Familie erlebt, TB 26.12.2010, auch am 25.12.2010). In diesem Zusammenhang konstatiert sie auch Lernfortschritte (TB 26.12.10 und 29.12.2010, am 15.1.2011 in Bezug auf den Zuwachs an Vokabeln) und positives Feedback von einem deutschsprachigen Cousin auf eine von ihr verfasste, lange E-Mail (TB 2.1.2011). Diese Vermerke und die Reflexionen bezüglich ihrer Schwierigkeiten, z.B. in Bezug auf die Verbstellung (TB 15.1.2011), zeigen, dass sie die Arbeit an einer bewussteren Wahrnehmung der Sprachstrukturen und deren korrekten Einsatz als Lernvorhaben übernimmt. In der zweiten Lernberatung spreche ich sie zunächst auf ihre weiterhin relativ spärliche Unterrichtspartizipation an: Io le ho spiegato perché durante le lezioni magari vorrei intervenire perché poi riesco magari a a rispondere a quello che magari la pro, la pro la K stessa chiede, capisco tutto quanto, però mi manca a volte la la, magari la molla, la spinta per intervenire. (LB 2/ 6) Ich habe Ihnen erklärt, dass ich mich während des Unterrichts manchmal einbringen möchte, manchmal schaffe ich es auch, darauf zu antworten, wonach uns die Lehrerin fragt. Aber manchmal fehlt mir die Energie, der Antrieb, mich einzubringen. <?page no="290"?> 290 Die Erklärung verweist auf individuelle Faktoren. In den Videoaufnahmen scheint der Grund manchmal eine aufgrund ihrer größeren Vorkenntnisse vorgenommene Selbstzensur zu sein. So schaut sie bei einer spontanen und schnellen Antwort auf eine Lehrerfrage entschuldigend in die Gruppe (Video 2b/ Bettina 6).In dem Gespräch lenke ich die Aufmerksamkeit stärker auf die Bewusstmachung der Lernschritte hin, die zunächst die Regel fokussieren und daran (mündliche) Übungen anschließen, damit die Lernende so ihr Sprechen hinterfragt und sich die angewendeten Formen bewusst macht (LB 2/ 54). Das Vorgehen trifft auf Zustimmung (LB 2/ 62, 65, 67), und auch im Tagebuch hält sie mehrmals ein derartiges Üben fest. Trotz einer zweimonatigen Unterbrechung des Kurses aus Studiengründen widmet sich die Studentin weiterhin - wenn auch in verringertem Maße - diesen Übungen (s. TB). Auch wenn der Eindruck entsteht, dass sich ihr Hauptinteresse in der Zeit ab Mitte/ Ende Februar auf die BA-Abschlussarbeit richtet, hebt sie in ihrer Evaluierung während der dritten Lernberatung die positive Wirkung dieser weiteren „Verpflichtung“ hervor: Per me è stato utile perché se magari non ci fossi stata tu con, dandomi degli esercizi o comunque degli incontri stabiliti di volta in volta, magari non avrei, non avrei svolto questi esercizi, non mi sarei esercitata al di là dei compiti per il Goethe, non avrei effettivamente, non sarei stata così zelante nel fare gli esercizi, secondo me sì è stata, è stata utile. (LB 3/ 18) Für mich ist das nützlich gewesen, wenn du nicht gewesen wärest und mir die Übungen gegeben hättest oder zumindest die Termine, dann hätte ich wahrscheinlich diese Übungen nicht gemacht. Dann hätte ich die nicht über die Hausaufgaben für das Goethe-Institut hinaus gemacht, dann wäre ich nicht so eifrig bei den Übungen gewesen. Meiner Meinung nach ist das nützlich gewesen. Selbstständig erhöht sie deren Schwierigkeitsgrad (LB 3/ 6, TB 14.4.11) und beurteilt am Schluss ihren Zugang als „un po’ piu consapevole“ (ein bisschen bewusster, LB 3/ 22). Darüber hinaus beteiligt sie sich willentlich mehr im Unterricht (LB 3/ 28 in Bezug auf die letzte Unterrichtstunde). Bettina hat eine sehr positive Einstellung zum Lernen am Goethe-Institut (FB 4, LB 1/ 87), versteht sich gut mit der Lehrerin und fühlt sich in der Klasse wohl (LB 1/ 87). Als Gegenmaßnahme zu ihrer Schüchternheit ist es ihr sehr recht, von der Kursleiterin zum Sprechen aufgefordert zu werden (TB 12.2.11). Die Beurteilung der Expertin stimmt mit dem Bild überein: <?page no="291"?> 291 Bettina hat an Selbstsicherheit gewonnen. Sie war eigentlich schon auf einem höheren Niveau als die anderen. Sie ist eher still und zurückhaltend. Auf jeden Fall hat sie Fortschritte gemacht. Merkmale von Bettinas Lernen sind erstens der stärker automatisierte Zugang, vor allem im Wortschatzbereich, zweitens die Interimsprache und drittens ihre Schüchternheit. 4.2.3.1.2 Lernstand SSE Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache insg. 1. 4 4 4 3 15 2. 3,5 (-0,5) 3,5 (-0,5) 3,5 (-0,5) 3 13,5 (-1,5) 3. 4 (+0,5/ 0) 4 (+0,5/ 0) 3,75 (+0,25/ - 0,25) 3 14,75 (+1,25/ - 0,25) Tab. 37 ̶ Sprachstandserhebungen von Bettina Bettinas Lernstand im Mündlichen liegt schon zu Kursbeginn auf B1-Niveau. Einen leichten Abfall belegt die zweite Erhebung, in der die Lernende unkonzentriert und wenig bei der Sache erscheint. Dies bestätigt das bereits hervorgehobene Nachlassen des Interesses am Lernvorhaben im zweiten Teil des Kursjahres. Der Nachtest bestätigt die anfänglichen Leistungen, verbunden mit einem sichereren Auftreten in der Prüfungssituation. 4.2.3.1.3 Lernen im Unterricht Bettina hat über die Hälfte des Kurses gefehlt. In den Stunden, in denen sie anwesend war, liegt die Anzahl ihrer Wortmeldungen relativ niedrig, und sie sind meist einsilbig oder kurz, allerdings bei Vokabelfragen durchgehend richtig. Sie gehört zu den „Schweigsamen“ der Gruppe. Außerdem spricht sie ziemlich leise, was in den Beratungen weniger zu Tage tritt. Ihr Eindruck, sich in der letzten Stunde mehr zu Wort gemeldet zu haben, relativiert sich durch das Verhältnis zu den Wortmeldungen insgesamt. Ihre Beiträge sind vorwiegend selbstinitiiert. Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Wortmeldungen im Verhältnis zum Kurs 10 13 % 10 8 % fehlt 97 % fehlt fehlt fehlt fehlt 13 7 % davon SI 10 8 7 11 Tab. 38 ̶ Wortmeldungen von Bettina <?page no="292"?> 292 Wegen der geringen Anzahl der Wortmeldungen im Klassendiskurs wird auf eine Unterteilung nach Kategorien verzichtet. 01 K [… ] das war die frage von chiara. und was antwortet ihr? 02 B hätte ist nicht richtig. habe ist richtig (.) [konjunktiv eins.] 03 K [ja und warum? ] 04 B weil er ist ein singular subjekt; habe. 05 K ja: wie ist denn; wie wäre denn (.) der indikativ von haben indikativ präsens? Video 2b/ Bettina 3 01 B er sagt, dass- 02 K okay. 03 ? dass ((Bettina, Dora und Emila sprechen untereinander)) 04 K er sagt; dass- 05 B er ins restaurant gegangen sei. 08 K gut. ((schreibt den Satz an die Tafel.)) [… ] Video 4a/ Bettina 3 Die Antworten erfolgen im Rahmen grammatischer Übungen zur indirekten Rede. In der ersten Sequenz - wie in der unten stehenden - bereitet die Verbendstellung im Nebensatz Schwierigkeiten, wie es ja auch in der zweiten Lernberatung problematisiert wurde (auch wenn Bettina das Aufweichen dieser Regeln bei „weil“ von der authentischen Kommunikation mit ihren Verwandten her übernommen haben könnte). Andere Beispiele belegen aber, dass sie sich beim Sprechen die Struktur nicht zu überlegen scheint: 01 K bettina du. warum was hast du gründe; spezielle gründe oder- 02 B das studium weil viele bücher die brauche für die (.) tesi. 03 K ja für deine abschlussarbeit ja, die examensarbeit. 04 B ja. viele sind (.) deutsch. 05 K okay; okay also für die literatur brauchst du das. ((Bettina nickt)) gut. […] Video 4a/ Bettina 5 Bettina nimmt in der zweiten Lernberatung auf diese Stunde Bezug (s.o.), in der sie es als angenehm empfunden hat, direkt von der Lehrerin zur Äußerung angehalten zu werden. Das Thema der folgenden beiden Sequenzen ist die Klärung eines Missverständnisses aufgrund eines falschen Freundes und die unterschiedliche Bedeutung von „Note“ im Deutschen und Italienischen: <?page no="293"?> 293 01 K warum hatte der= 02 B =weil das französische ginasium <<ital. Aussprache von / Ʒ/ >> ist ein sportplatz. 03 K ja: 04 B bedeutet sportplatz; 05 B ja. gut. Video 10a/ Bettina 8 01 K […] in der musik gibt es NOten. und was noch? 02 B zum beispiel in der schule ähm wenn du (.) die lehrer der lehrer ähm gibt einer schülerin ähm noten acht gut sehr gut- 03 K ja. und ist das auf italienisch, 04 B nein. ((schüttelt dabei den Kopf.)) Video 10a/ Bettina 10 In dieser Stunde gelingen Bettina zum ersten Mal zwei kurze Redewechsel. Wie sie in der dritten Beratung erwähnt (s.o.), hat sie sich bewusst darum bemüht, mehr zu sprechen und gegen ihre Schüchternheit anzugehen. Auch wenn sich das nicht auf die Zahl der Beiträge niedergeschlagen hat, so ist aber zu bemerken, dass es sich diesmal um Sequenzen mit mehreren turns handelt. Die italienische Aussprache von „g“ als / Ʒ/ scheint spontan und nicht bewusst zu sein. Im turn 02 der zweiten Sequenz liegt die Konzentration einmal auf der Planung der Aussage und zum anderen darauf, die in Italien und Deutschland unterschiedlichen Notensysteme zusammenzubringen. In der Äußerung konzentriert sich Bettina auf die Vermittlung dieses interkulturellen Wissens, nicht auf die Verbendstellung. Noch hinzuzufügen ist, dass sie im weiteren Verlauf dieser Unterrichtsstunde als einzige das deutsche Wort „Esel“ (Video 10b/ Bettina 3) weiß, das sie wahrscheinlich nicht aus diesem Unterrichtszusammenhang kennt. 4.2.3.1.4 Fazit Aus den Beratungsgesprächen und den Tagebüchern lässt sich ein vorrangig impliziter Zugang zum Deutschen ablesen, der positiv an die Kindheit und an die Familie gekoppelt ist. So ist die für sie beste Methode ein „full immersion tra la gente“ (in die Menge eintauchen, LB 1/ 51). Zum anderen bedingt er aber auch einen Ausschluss aus den gängigen Lernverfahren ihrer Mitstudierenden bzw. -lernenden. Dazu kommt das Gefühl von Unsicherheit, die ein mangelndes Wissen im Vergleich zum Können vermittelt. Die unbewusste Aufnahme wird negativ konnotiert und mit passiv assoziiert (LB 1/ 105), wohingegen Bettina in der aktiven (und richtigen) Anwendung ihr Lernpotenzial sieht (LB 1/ 55, 61) und die den Sprachstrukturen zugrunde liegenden Regeln begreifen will, wie sie es <?page no="294"?> 294 auch beim Erwerb der anderen Fremdsprachen getan hat. Genauso unbewusst, wie sie Deutsch spricht, rutscht ihr dabei auch das Italienische mit hinein. In den Beratungen zeigt sich ein Mensch, der Stimuli offen, aber reflektiert begegnet und sich leiten lässt. Allerdings schwächt sich die willentliche Übernahme des Lernvorhabens im Laufe des Kurses ab, was auch an dem merklichen Rückgang der Eintragungen im Tagebuch während ihrer längeren Abwesenheit abzulesen ist. Sowohl in der Fremdals auch in der Eigenbewertung werden Erfolge vermerkt, auch wenn Bettina nur wenige Beiträge zum Unterricht beisteuert und diese auf eine vorwiegend nicht reflektierte (= falsche) Anwendung der fokussierten grammatischen Strukturen deuten, denn die Lernende hält weder inne, noch korrigiert sie sich selbst oder drückt in Gesten oder in ihrer Mimik Unsicherheiten bei der Formulierung der Sätze aus. In der Testsituation kommen diese Regelverstöße zwar auch ab und zu vor, da aber kontinuierlich und mehr, vor allem kontrollierter, gesprochen wird, verblassen diese Fehler im Verhältnis zu den korrekt formulierten Nebensätzen und anderen grammatischen Phänomenen. Ihr Lernverhalten lässt sich anfänglich als expansiv bezeichnen, da es verstellte („offuscato“, LB 2/ 24) Handlungsperspektiven erschließen und damit einen Teil von Bettinas Persönlichkeit neu ausstaffieren will (Abb. 21), gerät aber ins Stocken, als die Lernende ihre Konzentration verstärkt auf ihre Studienabschlussarbeit lenkt, und reduziert sich hauptsächlich auf ein Mehr an Übungen (s.o). Was offensichtlich durch die Lernberatung ausgelöst wird, ist ein größeres Maß an Selbstbewusstsein. <?page no="295"?> 295 gutes Verhältnis zu der Kursleiterin und zum Institut schüchtern, schwierig, komplex, lernaufwändig vorwiegend impliziter Zugang defensives Lernhandeln sicheres Sprechen mit einigen wenigen Regelverstößen, viele abrufbare Vokabeln Abb. 21 ̶ Schematische Darstellung des Lernprozesses von Bettina 4.2.3.2 Liliana 4.2.3.2.1 Lerngeschichte und Lernvorhaben Liliana, eine freiberuflich Tätige Anfang dreißig, hat vor einigen Jahren am Goethe-Institut Palermo bereits diverse Niveaustufen durchlaufen und zwei Deutschkurse im Inland besucht, wo sie sich auch im Rahmen des Erasmus-Programms länger aufgehalten hat. Zum Deutschlernen ist sie zufällig gekommen (FB 8, LB 1/ 6), hat es dann weiter verfolgt, weil es sie einmal amüsiert, dass die anderen sie nicht verstehen, wenn sie spricht: „Mi piace molto il fatto che gli altri non tutti la capiscono, quindi quando io parlo con la mia amica svedese in tedesco a Palermo non mi capisce nessuno e per me è molto divertente“ (Ich mag das, wenn die anderen mich nicht alle verstehen, also wenn ich mit meiner schwedischen Freundin hier in Palermo Deutsch spreche und mich niemand versteht, finde ich das höchst lustig, LB 1/ 6), zum anderen erhofft sie sich damit eine bessere Platzierung auf dem Arbeitsmarkt (FB 10, LB 1/ 6), auch wenn dieser Grund zweitrangig ist (LB 2/ 8). Die Lernende ist in einem großbürgerlichen Bewusstmachung sprachl. Strukturen „etwas bewussterer“ Umgang mit grammatischen Strukturen Achten auf Verbendstellung, Überwindung von Schüchternheit Hörübungen, Sprechpraxis authentische Kommunikation <?page no="296"?> 296 Ambiente aufgewachsen und heimisch, in dem regelmäßig Reisen ins Ausland unternommen werden (LB 1/ 26, 28) und Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung zur Verfügung stehen, worunter auch die Fremdsprachenkenntnisse fallen. Im Vergleich zum Englischen und Italienischen bemerkt sie vor allem den anderen Klang des Deutschen (FB 1), des Weiteren wirke die Grammatik aufgrund ihrer Flexionsendungen auf Außenstehende abschreckend: „Chiunque non conosce il tedesco lo teme, sapendo che ci sono i casi e le declinazioni come in latino e in greco“ (Jeder, der die deutsche Sprache nicht kennt, hat vor den Fällen und den Endungen Angst, wie im Lateinischen und Griechischem, FB 3). Trotz dieser Unterschiede vollzieht sich der Deutscherwerb ihrer Meinung nach grundsätzlich auf die gleiche Art und Weise wie in anderen Sprachen: E ripetendo quello che gli insegnanti dicono, quindi in realtà il metodo soprattutto è sempre lo stesso che uno impara dagli altri, cioè ripete le frasi che inizialmente vengono dette; poi l’inglese è molto più facile perché è tutto in inglese, i film, le canzoni quindi le le fonti di parole e e che quindi che poi uno utilizza sono di più; in inglese vedo i telefilm, i film in inglese e poi le parole che io ho sentito le ripeto, in tedesco è molto più difficile. (LB 1/ 14) Indem man wiederholt, was die Lehrer sagen, also eigentlich ist die Methode immer die gleiche. Man lernt von den anderen, d.h., man wiederholt am Anfang die Sätze, die einem gesagt werden; das Englische ist insofern viel leichter, weil alles auf Englisch ist, die Filme, die Musik und daher hat man mehr Möglichkeiten und benutzt sie auch mehr. Im Englischen sehe ich Fernsehfilme, Filme und dann wiederhole ich die Wörter, die ich gehört habe, im Deutschen ist das viel schwieriger. Sprachen bedeuten Erfahrungsmöglichkeiten: „Si possono fare più esperienze nella vita più lingue si conoscono“ (Je mehr Sprachen man kennt, desto mehr Erfahrungen kann man im Leben machen, LB 1/ 6). Man erlernt sie über das Nachahmen und Nachsprechen, was eine Lernmethode kennzeichnet, die vor allem von dem gehörten input profitiert: […] certo poi a scuola l’inglese c’erano brani scritti da leggere e da comprendere, però per quanto riguarda me apprendo di più oralmente, ma tutto comune, pure le materie giuridiche, cioè apprendo di più quando mi si racconta qualche cosa, io poi la memorizzo nel momento in cui mi viene raccontata e detta anche una parola utilizzata e mi rimane, più che leggerla. (LB 1/ 22) […] klar dann in der Schule gab es auch schriftliche Texte zu lesen und verstehen. Also was mich angeht, ich lerne besser über das Mündliche, bei allem, auch im Juristischen, also ich lerne besser, wenn man mir etwas erzählt. Ich merke mir das dann so- <?page no="297"?> 297 fort in demselben Moment, auch ein angewendetes Wort, das bleibt hängen, mehr als beim Lesen. Daran koppeln sich das „ripetere“ (wiederholen), und die Anwendung bzw. das Sprechen (LB 1/ 65, auch LB 1/ 16, 20), wobei das Englische leichter ist/ als leichter empfunden wird (s.o.). Dementsprechend sieht sie ihre beachtliche Sprechfertigkeit weniger als Ergebnis von Kursbesuchen als vielmehr ihres Deutschlandaufenthalts im Rahmen des Erasmus-Programms an (LB 2/ 46). Dieser Zugang scheint maßgeschneidert, denn Liliana besitzt neben einem guten auditiven auch ein gutes visuelles Erinnerungsvermögen: „[…] io non ripasso particolarmente perché le cose spesso mi restano […]“ (Ich wiederhole eigentlich nichts, weil ich mir die Sachen (in Bezug auf Gelesenes, SH) oft so merke, LB 1/ 95, zum guten Gedächtnis auch Liliana LB 3/ 42) auch ein kommunikatives Verhalten, das weder durch Schüchternheit gehemmt wird: „non ho grandi timidezze“ (ich bin nicht schüchtern, LB 1/ 67) noch durch Überheblichkeit (z.B. aufgrund ihrer Vorkenntnisse) aneckt. Ihre Aufnahme in den Klassenkontext verlief daher auch problemlos: Auch Liliana ist irgendwie eine Außenseiterin, aber auch die hat sich leicht integrieren können (10.34), „die hat eher stimuliert“ (10.55). […] Sie ist sehr bereichernd für die Gruppe (33.52), ohne auf diese Druck auszuüben, vielleicht auch, weil sie nicht so perfektionistisch ist. Auf die Nachteile ihrer Methode angesprochen, nennt sie orthografische Schwierigkeiten (LB 1/ 32) und grammatische Unsicherheiten (LB 1/ 34, 36), die die Lernende schon seit Beginn ihres Deutschlernens begleiten (LB 2/ 30), die ihrem Sprechen aber auch in der Muttersprache anhaften (LB2/ 24, auch in Video 1/ Liliana 20, Video 4a/ Liliana 11, s.u.). Die Grammatik vergesse sie schneller als die Wörter (LB 1/ 36). Außerdem stellt sie zu ihrem Sprechen fest, dass sie grundsätzlich schnell redet (LB 2/ 38). Die Probleme in der Grammatik werden in der ersten Lernberatung aufgegriffen und als Vorhaben formuliert (LB 1/ 85). Als ich in diesem Sinne nach Möglichkeiten frage, wie sie ihr Sprechen besonders von der Korrektheit her verbessern könnte, führt die Lernende dreimalig das Lesen (LB 1/ 38, 49, 85) an, was sicherlich erstaunt vor dem Hintergrund ihres Lernprofils, auch weil sie mit dem Lesen keine Fokussierung formaler Aspekte intendiert, sondern die Aufnahme von Sinneinheiten: […] se uno legge tante volte poi c’ha la frasetta fatta, per cui non sai che aus va più dativo, però ti ricordi, com’è? Aus der Zeit o quello che è; questo diciamo, sicuramente se lo leggi ti resta più impresso […] (LB 1/ 42) <?page no="298"?> 298 […] Wenn einer das so oft liest, dann hat er den fertigen Ausdruck, d.h., du weißt nicht, dass „aus“ mit dem Dativ steht, aber du erinnerst dich daran, wie nochmal? aus der Zeit oder so; das meine ich, wenn du das liest, bleibt das eher im Gedächtnis […] Das Lesen in Bezug auf ein korrekteres Sprechen scheint sie aber selbst nicht ganz zu überzeugen, was der Gebrauch des Adverbs „magari“ (möglicherweise, vielleicht) erkennen lässt, das sich an den entsprechenden Stellen häuft (LB 1/ 38, 57, 85, 87 zweimal, 99 zweimal, 120). Neben dem Lesevorhaben sollen auch vermehrt Filme bzw. deutsches Fernsehen geschaut werden, die allerdings ausschließlich zum Erwerb neuer Worte eingesetzt werden: „[…] dei film in inglese imparo tantissimo, parole nuove, questo solo per apprendere parole nuove“ (Von englischen Filmen lerne ich sehr viel, viele neue Wörter; das (mache ich, SH) nur, um neue Worte zu lernen, LB 1/ 57). Dieses inhaltsfokussierte Lernen macht Liliana eindeutig Spaß: Anche perché viene la curiosità di capire cosa ha detto l’attore, soprattutto se un film piace, proprio mm e quindi, cioè, stai lì, lo risenti tante volte finché non capisci la parola, la cerchi, capisci il significato, e uno è contento che ha capito proprio un’intera frase che ha detto nel film o nel telefilm. (LB 1/ 61) Hier ist dann die Neugierde, weil man verstehen will, was der Schauspieler sagt, vor allem wenn dir der Film gefällt. Dann sitzt du davor und hörst das viele Male, bis du das Wort verstehst, das suchst du und findest die Bedeutung, und bist dann zufrieden, dass du sogar einen ganzen Satz aus dem Film oder der Fernsehserie verstanden hast. Die zwei Einträge im Tagebuch zwischen der ersten und zweiten Beratung berichten von Grammatikübungen für den Unterricht und Zeitproblemen. Auffällig ist die Gegenüberstellung vom schnellen Erarbeiten eines Lesetextes, bei dem die richtigen Antworten „erraten“ (indovinato) werden und das Nicht-Erinnern des Genus der Substantive sowie der Verb-Präposition-Verbindungen − und das damit verbundene Nachschlagen (TB 18.2.2011). Folglich wird auch nur die Hälfte dieser Aufgabe erledigt. In der zweiten Lernberatung konstatiere ich die fehlende Umsetzung des Lernvorhabens, für die als Begründung die mangelnde Zeit angeführt wird (LB 2/ 10, 12). Liliana präzisiert, dass sich die Lücken nicht auf das Regelwissen beziehen, das nach eigenen Angaben vorliegt (LB 2/ 18) und auch im Unterrichtsdiskurs hervortritt, wenn sie z.B. Grammatikregeln formuliert (Video 7b/ Liliana 12, Video 8a/ Liliana 16). Das Problem betrifft kognitives Wissen auf der deklarativen Ebene, dass z.B. Auto Neutrum (LB 2/ 30) oder das Partizip von „kommen“ nicht „gekommt“ ist (Video 1/ Liliana 16, s.u.). Auf letztere Sequenz spreche ich die Lernende in der zweiten Lernberatung direkt an (LB 2/ 19), wobei ich <?page no="299"?> 299 bei der Schilderung des Ablaufs die Annahme äußere, dass sie über ihr Regelwissen auf die richtige Form gestoßen sei. Ihre Reaktion lässt sich aber eher dahingehend auslegen, dass sie sich an das Partizip als Wortform nicht korrekt erinnert hat (LB 2/ 21). Um dieses Wissen zu verankern und abrufbar zu machen, wird ihr ein Mehr an Anstrengung abverlangt, da Lücken aus der Vergangenheit aufzuarbeiten sind. Das ist Liliana durchaus bewusst (LB 2/ 30). Am Lernen über Beispiele ansetzend, schlage ich vor, grammatische Strukturen in Wiederholungsübungen einzuschleifen, sozusagen im Eigendrill, indem z.B. aus dem Unterricht bekannte oder in Übungen vorkommende Adjektiv- Substantiv-Kombinationen oder Sätze mit jeweils anderen Substantiven und den entsprechenden Flexionsendungen am Adjektiv erst nachgesprochen, dann durch andere Formen ersetzt und diese wiederum mehrmals wiederholt werden. Und das so oft wie möglich. Die Lernende scheint skeptisch (LB 2/ 63). Und in der Tat belegen nur wenige Übungen ihr Tun in diesem Sinne, darüber hinaus wird von einem deutschen Film berichtet, bei dem sie ihr gutes Verstehen bemerkt (TB 29.4.2011). Im anschließenden dritten Gespräch wird dies damit begründet, dass Sì, ho provato un po’ perché il film è più facile come tempi, magari anche la sera se sono stanca attacco il film in tedesco ed è più semplice da vedere di capire, vedere cosa capisco, sempre eh per fare Übungen ho visto che dovevo prendere il vocabolario, prendere tutte le desinenze se non le so, quindi non è che le posso pensare soltanto devo proprio avere i libri in mano e scriverli perché da sola non le so. (LB 3/ 10) Ja, ich habe es ein wenig probiert, weil der Film von der Zeit her einfacher ist, vielleicht so am Abend, wenn ich müde bin, häng ich mich vor einen deutschen Film, das ist einfacher anzusehen und zu verstehen, zu sehen, was ich verstehe. Bei den Übungen habe ich gemerkt, dass ich dazu das Wörterbuch nehmen muss, alle Endungen, wenn ich die nicht weiß, das kann ich mir nicht einfach so überlegen, dazu brauche ich die Bücher und dann muss ich die schreiben, weil ich die so nicht weiß. Ihre Einschätzung der Lernberatung bezieht sich daher einmal auf die Bewusstmachung: In generale, ho capito, sì, no, no, secondo me sono stati utilissimi, anzi mi hanno fatto riflettere sul fatto che effettivamente se voglio utilizzare il tedesco nel mio lavoro futuro dovrei proprio, diciamo, approfondirlo bene, nel senso riuscire a parlarlo in maniera abbastanza corretta con un cliente, perché se mi dovesse capire qualcuno che è tedesco, se, di sicuro ha difficoltà a capirmi se sbaglio tutti i casi, non metto la desinenza giusta o una preposizione giusta, se sbaglio preposizione cambio il senso, quindi ho capito questo sicuramente, che se dovessi vedere in futuro che mi dovesse servire proprio fare il tedesco per lavoro lo approfondirei in maniera molto più seria, <?page no="300"?> 300 tipo non so, fare i lezioni private, forse non andrei al corso, ma per problemi di tempo, e farei una cosa proprio più mirata, anche un mese in Germania, lezioni private, qualcosa di proprio massiccio, più (LB 3/ 20) Im Allgemeinen habe ich verstanden, ja, nein, meines Erachtens sind die (drei Beratungen, SB) sehr nützlich gewesen, ja sie haben mir klar gemacht, dass wenn ich in Zukunft Deutsch wirklich im Beruf einsetzen will, muss ich das richtig vertiefen, d.h., ich muss mit einem Mandanten möglichst korrekt sprechen. Weil wenn mich ein Deutscher verstehen soll, der hat sicherlich Schwierigkeiten damit, wenn ich alle Fälle falsch sage, die Endungen oder die Präpositionen nicht richtig sind. Eine falsche Präposition ändert den Sinn. Das habe ich sicher verstanden. Wenn ich sehen sollte, dass mir das Deutsche wirklich für die Arbeit dienen sollte, dann lerne ich viel ernsthafter, was weiß ich, Privatstunden, vielleicht ginge ich nicht zum Kurs, aber wegen Zeitproblemen, da würde ich zielorientierter lernen, auch einen Monat in Deutschland, Privatstunden, richtig massiv. Auch wenn Liliana bei ihrer Aufzählung von Methoden zum Thema „ernsthafteres Lernen“ nicht die Tatsache nennt, dass sie sich - davon unabhängig - willentlich einer Anstrengung stellen muss, wenn sie ein bestimmtes Wissen aufarbeiten will, hat sie aber zumindest in der Beratung begriffen, dass es hierzu Mittel und Wege gibt: Questo sì, sì, a voglia. E ho capito che ci sono i metodi per farlo, io pensavo sempre che ho imparato oramai le cose in maniera sbagliata non le posso correggere, cioè nel senso le ho imparate male e non posso correggerle e invece no, si può correggerle, basta pensarci. (LB 3/ 28) Ja, das ist klar. Ich habe verstanden, dass es dafür Methoden gibt. Ich dachte immer, ich habe das nun mal falsch gelernt und kann das nicht mehr verbessern, ich meine, einmal gelernt und ich kann das nicht mehr verbessern, dagegen ist das nicht so, man kann das verbessern, es reicht, daran zu denken. Außerdem hat die Lernende für sich entdeckt, dass die Konzentration auf grammatische Phänomene zur Verbesserung der sprachlichen Performanz führt. Dementsprechend hat sie verstärkt auf diese Aspekte im Unterricht geachtet: […] sì, un po’ più preoccuparmi sempre sull’aspetto grammaticale un po’ di più di prima quindi ho, diciamo, magari preso più appunti, sono stata più attenta sulle cose di grammatica anche cercando, ma anche se non ci riuscivo, di formulare le frasi in maniera corretta, però questo sì, diciamo preoccuparmi di più dell’aspetto, che è quello che più mi manca che è la parte, appunto, della correttezza grammaticale della frase. (LB 3/ 34) <?page no="301"?> 301 […] ja, etwas mehr auf den grammatischen Aspekt achten, etwas mehr als vorher, sagen wir mal, mehr Notizen machen, ich war aufmerksamer bei der Grammatik und habe versucht, auch wenn das nicht so funktioniert hat, die Sätze korrekter zu formulieren. Also sagen wir mal, mehr diesen Aspekt beachten, den, der mir fehlt, eben den grammatischen Teil in einem Satz. Damit hat sie dieses Lernvorhaben ansatzweise übernommen, im Moment überwiegt aber offensichtlich das Spaßprinzip beim Deutschlernen, mit einem - trotz der genannten Schwächen - für sie funktionalen Zugang: „Funziona bene è più facile, è più leggero, meno impegnativo, funziona male che poi non ho idea di come si scrivono le parole, […]“ (Das funktioniert gut, ist einfach, unbeschwerter, weniger anstrengend; schlecht ist, dass ich dann nicht weiß, wie man die Wörter schreibt […], LB 1/ 32). Auch die Wahl einer für sie zu niedrigen Niveaustufe belegt eine Entscheidung, die dem Lustprinzip größeren Raum lässt und nur bedingt aufwändigen Einsatz impliziert. Neben diesem Merkmal ist gleichzeitig die aktive und aufmerksame Beteiligung am Unterricht favorisiert, die die Lernende als angenehm und nicht anstrengend empfindet, sowie auch die bewusste Wahrnehmung von gehörtem und gesehenem input, was besonders den Vokabelerwerb begünstigt. Das Verhältnis zur Grammatik bleibt zwiespältig. 4.2.3.2.2 Lernstand SSE Ausdrucksfähigkeit Aufgabenbewältigung Formale Richtigkeit Aussprache insg. 1. 2 2 1,5 3 8,5 2. 3,25 (+1,25) 3,25 (+1,25) 2,75 (+1,25) 3 12,25 (+ 3,75) 3. 4 (+0,75/ + 2) 4 (+0,75/ + 2) 3,75 (+1/ +2,25) 3 14,75 (+2,5/ +6,25) Tab. 39 ̶ Sprachstandserhebungen von Liliana Die drei Sprachstandserhebungen belegen eine kontinuierliche und signifikante Verbesserung der Sprechkompetenz (+6,25). In der Aussprache erreicht die Lernende schon gleich am Anfang die maximale Punktzahl, in den anderen drei Teilbereichen macht sie während des Kursjahres einen deutlichen Lernsprung (+1,25), der sich auch im Nachtest mit leichter Abschwächung wiederholt (+0,75/ +0,75/ +1). Der markanteste Zuwachs ist in der formalen Richtigkeit zu vermerken (+2,25). Besonders bei dem dritten Test ist die Lernende sichtbar bzw. hörbar darauf konzentriert, so wenig Fehler wie möglich zu machen, was sich aber keinesfalls negativ auf die Flüssigkeit des Sprechens auswirkt. <?page no="302"?> 302 Hinsichtlich ihrer Vokabelkenntnisse bestätigt Liliana, dass sie im und durch den Kurs Vokabeln, d.h. vorwiegend „altes“ Wissen aktiviert hat: No e poi, diciamo, sì, sì, questo sì, però diciamo poi, lo vedi, riprendendo un po’ il tedesco molte parole magari che avevo dimenticato e quindi all’inizio del corso non mi ricordavo avendolo ripreso un po’, cioè ritornano alla memoria tante parole di prima che già sapevo prima e che magari, appunto, non avevo utilizzato fino ad adesso, visto che ne utilizzo le stesse (LB 3/ 44, auch 46, 51, 53) Nein und dann, sagen wir, ja, ja, das ja, aber sagen wir dann, das siehst du dann, viele Wörter, die ich wohl vergessen habe und an die ich mich daher am Anfang des Kurses nicht erinnert habe, an die habe ich mich dann wieder erinnert, als ich wieder mit dem Deutschen angefangen habe. Ganz viele Wörter, die ich schon kannte, und die ich vielleicht bisher nicht benutzt hatte, da ich ja nur immer dieselben benutze. 4.2.3.2.3 Lernen im Unterricht Video 22.1. 29.1. 5.2. 12.2. 26.3. 2.4. 9.4. 16.4. 30.4. Wortmeldungen im Verhältnis zum Kurs 21 27 % fehlt 25 14 % 33 25 % fehlt 35 20 % 32 17 % fehlt 23 12 % davon SI 21 22 31 34 31 20 Tab. 40 ̶ Wortmeldungen von Liliana Die Anzahl der fast ausschließlich selbstinitiierten Wortmeldungen bestätigt eine rege Beteiligung, die im zweiten Kursabschnitt leicht abfällt. Sie ist die Einzige, die auch (wenn auch wenige) Fragen an die Lehrerin stellt, die sich nicht direkt auf das Unterrichtsgeschehen beziehen, sondern Ausdruck eines persönlichen Interesses an dem Thema selbst sind (Video 4a/ Liliana 20, Video 7a/ Liliana 4). Allerdings ist auch zu bemerken, dass die Lernende häufig fehlt und den Kurs meist mit einiger Verspätung erreicht. In der Sequenzanalyse werden die Kategorien Grammatikerwerb und Vokabelkenntnisse ausgeleuchtet. Grammatikerwerb und Unlust Die ersten zwei Videosequenzen zum Thema des Konjunktivgebrauchs bei der indirekten Rede zeigen Fehler bei der Verbstellung sowie Probleme in der Aufgabenbewältigung und Ausdrucksfähigkeit, die das Verständnis deutlich behindern: 01 K was habn wir denn VOR der pause gesagt? 02 L (.) dass wir benutzen nicht konjunktiv zwei, wenn wir haben eine konjunktiv eins äh andere als präsens als äh konjunktiv präsens. <?page no="303"?> 303 03 K moment- ((lacht)) […] Video 1/ Liliana 6 01 K konjunktiv eins, konjunktiv zwei, 02 L dass wenn anders ist du kannst man kann äh konjunktiv eins äh verstehen, das ist anders als (.) äh die andere ((lacht)) konjunktiv eins. Video 1/ Liliana 7 In zwei weiteren Momenten fehlen ihr die Verbparadigmen: 01 K das ist jetzt vergangenheit. genau. 02 L er sagt dass er in unsere wohnung ähm ge (.) kommt habe no ((schaut hilfesuchend in Richtung von Sandra)) gekommt (.) sei; 03 K gekommt? 04 B gekommen. 05 L gekommen sei. 06 K okay. Video 1/ Liliana 16 Und zwei Wochen später im Rahmen einer Übung zum Passiv: 01 K und liliana machst du weiter, 02 L das MIkrofon muss hm ge getest werden. 03 K wie ist das partizip von testen? 04 C getestet. 05 L getestet- ((leise, nickt dabei und schreibt)) 06 K ja, getestet. Video 3a/ Liliana 10 Beide Male erfolgt nach dem request keine Selbstkorrektur, sondern das Partizip wird von einer Mitschülerin suggeriert, was angesichts der Tatsache, dass Liliana schon relativ viele Grundkurse besucht hat und die Verben gebräuchlich sind, erstaunt. In der folgenden Sequenz kommen u.a. Unsicherheiten bei der Präteritumbildung von „sagen“ zum Vorschein: 01 K so jetzt zur frage von liliana. 02 L ich hab wiederholen? 03 K kannst du nochmal fragen? genau. 04 L was passiert, wenn ich habe er äh mit präteritum im hauptsatz so er s äh weiß es ich nicht präteritum er sagt- ((schaut in die Klasse)) 05 S er kam. 06 L nein die frage- <?page no="304"?> 304 07 K also die frage, was passiert wenn ich hier (.) im hauptsatz kein präsens habe, sondern vergangenheit. Video 1/ Liliana 19 Bei grammatischen Lücken hält die Lernerin unmittelbar in der Klasse nach Hilfe Ausschau, augenscheinlich will sie die Handlungsführung an andere abgegeben, und es wird Unlust gegenüber der Notwendigkeit nachzudenken spürbar. Liliana greift bei schwierigeren Konstruktionen auch z.T. „spontan“ auf die Strukturen der Muttersprache zurück. Das Thema folgender Sequenz ist die Wahl einer Sprachenschule: 01 K ja braucht man denn als tourist (.) die sprache? 02 L vielleicht ist es ein bisschen zu viel um eine sprachschule (.) um machen nur um tourist zu sein. 03 K ja, ja […] Video 4a/ Liliana 7 Die erste Infinitivkonstruktion mit „um“ stammt an dieser Stelle m.E. von einem auch im Italienischen falschen Gebrauch von „per“, was die weiter oben erwähnten sprachenübergreifenden Schwächen im Grammatischen offenlegt. Dahingehende Schwierigkeiten in der L1 werden auch in dem anschließenden Redewechsel explizit angesprochen: 01 K […] ihr sagt jetzt ich möchte ich möchte jetzt schwedisch ((Liliana schütttelt den Kopf)) nein schwedisch als deutscher lernen. ich suche eine schule. was ist wichtig für euch? 02 L dass die mh der lehrer schwedisch ausländisch ist muttersprachler ist; 03 K okay, also muttersprachliche lehrer sind wichtig, aha okay (.) warum ist das wichtig? ((schreibt an die Tafel)) waRUM ist das wichtig? ist das für alle wichtig? 04 L ja. 05 K für alle? okay? warum? 06 L weil äh ein muttersprachler kann nicht äh könnte wenige fehler machen, auch wenn wenn er seine selbst sprache sprecht sprecht. 07 K okay, also muttersprachler spricht die EIgene sprache. aha, also muttersprachler macht keine fehler= 08 L =oder wenige; 09 K oder wenige. 10 L ich mache viele fehler auch im italienisch. 11 K ((lacht)) was noch was ist denn noch wichtig? Video 4a/ Liliana 11 <?page no="305"?> 305 Die turns 07-08 zeigen, wie schnell Liliana reagieren kann, was auch andernorts sichtbar wird (z.B. Video10a/ Liliana 13). Bei Übungen mit grammatischem Fokus wird die Verbendstellung im Nebensatz durchaus beachtet: 01 L die unterkunft sin sie sie empfehlen, wo er schlafen kann. so das ist ein grund für ihn; Video 4b/ Liliana 7 01 L ich erinnere mich daran, wenn wir (.) nach deutschland gefahren haben; Video 7b/ Liliana 15 Sie misslingt dagegen meist, wenn die Konzentration auf dem Inhalt liegt: 01 L ja, wir benutzen nicht so viel die: altenheime, es ist, sie, ich denke, dass die siciliani <<ital. Aussprache>> finden altenheime wie eine (.) äh traurig oder= 02 S =[nur für kranke] (.) 03 L [schlecht] 04 L nur für kranke (.) personen. 05 K aha. 06 L ja nur wenn du kannst nicht eine: wie sagt man nicht arzt nicht eine person. 07 K eine pflege, eine pflegerin. 08 L eine pflegerin bezahlen sonst- 09 K also altenheime ist eigentlich keine akzeptable alternative (.) HIER. Video 7b/ Liliana 5 Zum Thema Generationenhaus: 02 L es ist vielleicht, jeder hat ein haus, aber sie wohnen dieselbe gebäude, so können können sich sich einander äh helfen und etwas zusammen machen.machen. Video 7b/ Liliana18 Es gibt im letzten Teil des Kursjahres aber auch Momente, in denen Liliana zu eigenständigem Suchen nach der korrekten grammatischen Form angehalten wird: 01 K […] ist das eine gute idee oder findet ihr das etwas (.)? gute idee? ja? ((Chiara nickt)) gute idee? <?page no="306"?> 306 02 L es hängt auf ab den leuten an ((fragender Blick zur Lehrerin)) es hängt an, es hängt von den leuten ab. ((leicht abgehackt)) 03 K oh: genau ((beide lachen)) […] Video 7b/ Liliana30 Durch die negativen Signale wird sie durch die Lehrerin dazu „gezwungen“, die Konstruktion so oft zu korrigieren, bis sie richtig ist. Sie ist zwar damit in Zukunft noch nicht parat, aber in der Woche darauf verläuft ihr Abrufen mit weniger Hindernissen: 01 K ich hänge von zeit ab? 02 L die die lösung hängt von: von das no das nein äh dem wetter die an äh ab. 03 K ja okay. […] Video 8b/ Liliana2 Bei der Suche nach dem grammatisch korrekten Satz blickt Liliana wieder mehrfach zur Lehrerin und erhält von ihr negatives Feedback, woraufhin sie dann weiter sucht und letztendlich sowohl den Artikel im angemessenen Kasus als auch das Präfix richtig nennt. Dass diese Suche eine Aktivierung von gespeichertem Wissen ist, bestätigt die Lernende in der dritten Beratung (LB 3/ 38). Aus den letzten Unterrichtseinheiten lässt sich ein Beispiel anführen, in dem die Verbendstellung innerhalb einer Gesprächssituation richtig realisiert wird: 01 K […] habt ihr im moment falsche freunde vom italienischen? fallen euch wörter ein, die wir kennen? 02 L batterie und pillen; das pille. für uns pile ist batterie. und pille mit zwei l auf deutsch sind die pillen ((zeigt gestisch die Einnahme von Tabletten)) die: tabletten, die man essen muss, [wenn man krank ist]. 03 K [okay okay] aber auch batterie, gianni, kann dir auch passieren. batteria ist auf italienisch was zum spielen. andere wörter noch. Video 10a/ Liliana 10 In der Videosequenz sieht man beim turn 02, dass die Form der Lippen nach „man“ sich für den Bruchteil einer Sekunde zu einem „m“ berühren, das dann aber nicht ausgesprochen wird, was darauf hindeutet, dass die Lernende „muss“ vorziehen möchte, sich aber dann (wohl automatisch) korrigiert. „Tabletten“ wird mit leichter Verzögerung abgerufen und auch die verdeutlichende Gestik erweckt den Eindruck, dass das Wort nicht sofort greifbar ist. Zu beobachten ist auch der relativ natürliche Redefluss, der auch bei dem zweiten Nebensatz nicht ins Stocken gerät. <?page no="307"?> 307 Vokabelkenntnisse Beachtlich sind ihre Vokabelkenntnisse bzw. die Kenntnis von idiomatischen Ausdrücken und Sprichwörtern: 01 K wie heißt das auf deutsch? dieses tier, dieses graue tier. 02 L ihr sagt, wer nämlich mit h schreibt ist (.) dämlich. 03 K ja, da hat aber nichts mit dem tier zu tun. ((lacht)) weil 04 L nein ja ich ich habe gesagt, dass war zwei ( ) 05 K ((schreibt das Sprichwort an die Tafel, Gemurmel in der Klasse)) ja hier hat liliana ein sich an ein ein sprichwort erinnert. ((lacht)) also wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich. 06 L ja aber dämlich= 07 K =dämlich ist nicht das tier.= 06 L =das ist eine andere wo bedeutet tier. 07 K was bedeutet dämlich? = 08 L =dumm. 09 K ja. Video 10b/ Liliana 3 Liliana hat hier wohl Brücken gebaut, die über das besagte Sprichwort mit dem Wort „dämlich“ zu dem Wort „Esel“ führen. Das Verbindungsglied „dumm“ ist sowohl der Lehrenden als auch ihr selbst nicht bewusst. Automatisch assoziiert sie „Esel“, das Sinnbild für dumm, mit dem Synonym dämlich. Da die Mitlernenden das Sprichwort nicht verstehen, wird sie von der Lehrenden aufgefordert, es zu erklären: 01 K Liliana kannst du das erklären? 02 L äh dass man soll nicht h schreiben mit zwischen n und a, weil wenn du so machst, bist du dumm idiot dämlich. 03 S ah. Video 10b/ Liliana 4 Weiter geht die Stunde mit der Suche nach Sprichwörtern oder Redeweisen mit dem Wort „Esel“: 01 L es ist noch etwas mit (.) esel. wenn ich sage: meine mutter und ich ist (.) nein du hast keine äh mit esel. 02 K nein nein. ((lacht)) 03 L wenn ich sage [ich mit mit meiner mutter-] 04 K [DOCH DOCH natürlich] (.) ((alle lachen)) 05 L ich bin total verrückt. 06 K doch du hast recht ((schreibt das Sprichwort an die Tafel, Sandra liest z.T. mit)) ja? <?page no="308"?> 308 07 L meine mutter und ich. 08 K ja also das ist im deutschen nicht gut. ja, also ich beginne normalerweise nicht mit ich. ich sage nicht, ich und ferdinando. oder ich und meine freunde. das ist nicht gut. Video 10b/ Liliana 5 Sie soll auf Aufforderung der Kursleiterin das Sprichwort „Der Esel nennt sich selbst immer zuerst“ erklären: 01 K liliana, kannst du’s erklären, 02 L ja, weil wenn ein kind auf deutsch spricht und diesen fehler macht, dass es sagt, wenn ich und meine mutter statt meine mutter und ich die mutter sagt zu seinem kind, der esel nennt sich immer zuerst. das bedeutet dass man soll nicht ich und meine mutter auf deutsch sagen, aber meine mutter und ich. ((Blickkontakt zu Sandra, um das Verständnis zu überprüfen)) Video 10b/ Liliana 6 Wie auch von der Kursleiterin hervorgehoben (Experteninterview) und auch von der Lernerin selbst ausgesagt, besitzt sie einen reichen, z.T. passiven Wortschatz und Ausdrücke, die sie während des Unterrichts spontan zu Tage fördert. 4.2.3.2.4 Fazit Liliana setzt in ihrer langjährigen und vielfältigen Erfahrung mit der deutschen Sprache verstärkt auf assoziatives Lernen, wobei sie sich hierbei auf ihre schnelle visuelle und auditive Aufnahmefähigkeit verlässt. Diese begünstigt ein reaktionsschnelles Verhalten in der fremdsprachlichen Kommunikation, was sich merklich in der Aufgabenbewältigung niederschlägt und einem auf Kooperation angelegten Lernen dient: „Man lernt von den anderen“ (s.o.). Der ständige Blickkontakt zu den Mitlernenden und zur Lehrenden sowie ein aufmerksames Verfolgen des Unterrichtsgeschehens spiegeln ihr großes Interesse an einem möglichst unmittelbaren Verstehen des Inhalts wider. Beim Rückgriff auf das Vokabular und auf idiomatische Ausdrücke wird deutlich, dass die Lernende „automatisch“ vielschichtiges Wissen abzurufen vermag. Lernen soll wenig Energie kosten und dient vor allem der Unterhaltung, der Erzeugung positiver Gefühle. Die Übernahme des Lernvorhabens, d.h. das Interesse an einer korrekteren Sprachanwendung, bleibt oberflächlich und wird nur in Ansätzen übernommen. Liliana verschiebt die Lösung der grammatischen Probleme auf den Zeitpunkt, zu dem aufgrund ihrer Arbeit hierfür die konkrete Notwendigkeit besteht. Dieses Verhalten wird ihr in der Lernberatung klar. Sie pflichtet daher dem Zustand bei, den ich zur Definition ihres Lernverhaltens wähle: „stand-by“ (LB 3/ 21, 22). In diesem Sinne ist ihr Bemühen in der dritten <?page no="309"?> 309 Sprachstandserhebung interessant, wo sie sich (mir gegenüber) sichtbar und erfolgreich darum bemüht, weniger Fehler zu machen. Im Unterrichtsdiskurs schwindet dieses Vorhaben und gelingt nur, wenn sie dazu gezwungen wird. So auch die Einschätzung der Kursleiterin: „Fehler sind da und werden wohl auch immer und ewig bleiben. Großen Wortschatz, tollen Wortschatz, viele idiomatische Ausdrücke“ (33.31). Sie ist sehr bereichernd für die Gruppe (33.52), ohne auf diese Druck auszuüben, vielleicht auch, weil sie nicht so perfektionistisch ist. Sie hat Spaß an der Sache, macht Fehler, was aber für sie kein Problem darstellt. Damit spricht die Lehrende das Risiko einer zunehmenden Fossilisierung an, die das Lustbzw. Unlustprinzip und damit Herausschieben der Lernhandlung mit sich bringt: „[…] it is also true that affective factors can prevent learners from getting beyond a certain stage of developement. In other words, affect can cause learners to fossilize“ (Schumann 1994: 240). Solange sie mit dem Deutschen keinerlei weiterreichende Interessen verbindet, fehlt - wie sie selbst sagt - der Ansporn, gegen die Unlust anzugehen und grammatische Formen zu lernen. Ihr Verhalten ist in diesem Sinne defensiv (Abb. 22). altbekanntes Ambiente extrovertiert viel Grammatik Lernen aus Spaß melodisch defensives Lernhandeln schnelles, unmittelbares Sprechen mit relativ vielen Vokabeln, aber grammatischen Lücken Abb. 22 ̶ Schematische Darstellung des Lernprozesses von Liliana Aktivierung von Vokabelkenntnissen und idiomatischen Ausdrücken widersprüchliche Ergebnisse im Grammatikbereich Grammatische Richtigkeit rege Beteiligung im Unterricht Grammatik (durch Lesen) Konzentration auf grammatische Phänomene im Unterrichtsdiskurs <?page no="311"?> 311 5. Schlussfolgerungen und Desiderata Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, den Erwerb von Deutsch als Fremdsprache im Spiegel von bewussten und interessengelenkten Prozessen zu erfassen, um damit Rückschlüsse auf Lernfortschritte und Leistung ziehen zu können. Für das Vorhaben wurde ein Modell für eine Lerngruppe entwickelt, bei der verstärkt von einem bewussten und motivierten Zugang zum Deutscherwerb auszugehen war: erwachsene Schüler am Goethe-Institut. So wie unterschiedliche Merkmale von Wörtern und sprachlichen Äußerungen eine Rolle bei ihrer Speicherung und Abrufbarkeit spielen (vgl. Schwarz 2008: 231), bestimmte Wortgruppen vor anderen gemerkt werden (vgl. MacWhinney 2008: 342ff) und lernerübergreifende Schwierigkeiten das Erlernen grammatischer Phänomene mehr oder weniger für explizites bzw. implizites Lernen prädestinieren (vgl. R. Ellis 2006: 435 84 ), sollte in der vorliegenden Studie die individuelle Komponente über den bewussten Einsatz und die Intentionalität gemessen werden. Diese Herangehensweise versteht sich dabei nicht in Abgrenzung zu den hier angesprochenen Ansätzen in der Sprachwissenschaft, der angewandten Linguistik und dem Vorgehen in der Second Language Acquisition Research, sondern als deren Ergänzung. Mit den beiden Forschungsfragenkomplexen sollten einmal über die Zuordnung der Prozesse zu verschiedenen Bewusstseinszuständen Vorannahmen und Thesen überprüft werden. Dazu dienten das Aufzeigen von Lernvorgängen und die Erfassung von Fortschritten und Leistungsstand in dem primären Lernziel, dem Mündlichen. Die Kategorisierung von expansivem oder defensivem Lernverhalten in Relation zu diesen Ergebnissen hatte des Weiteren zum Ziel, Hypothesen bezüglich eines Zusammenspiels von Bewusstseinsstufen, Leistung und Motivation aufzustellen. Zum Nachweis bewusster, vorrangig schemaorientierter Verarbeitungs- und Abrufprozesse wurde auf Erscheinungsformen geachtet, wie sie sprachlich und nonverbal an die Oberfläche treten: Da davon auszugehen ist, dass der explizite recall von Wissen das Sprechtempo verlangsamt (s. 1.4), fungierte der Redefluss, d.h. Stocken/ Pausen, Selbstkorrekturen, explizites Sich-Unterbrechen (mit/ ohne Nachfragen), Wiederholungen oder Verzögerungspartikel, als wichtiges Merkmal für bewusste Vorgänge. Außerdem signalisierte Nonverbales, z.B. ein fragender Blick, eine Unsicherheit ausdrückende Geste oder Anzeichen von Anstrengung, dass der Lernende über etwas „stolpert“, d.h. innehält und über- 84 In Anlehnung an Studien aus den 1990er Jahren sind nach R. Ellis frequency, saliency, functional value, regolarity, processability die Merkmale, die implizites Lernen begünstigen. Nach dieser Studie dominieren implizite Vorgänge bei produktiven Tätigkeiten, während sich explizite Vorgänge rezeptiven Handlungen zuordnen lassen (R. Ellis 2006: 459). <?page no="312"?> 312 legt. Durch Üben und Wiederholen konnten diese Vorgänge nachweislich beschleunigt und ansatzweise zur Routine werden, was den Energieaufwand allmählich reduziert, wie es sich ebenfalls sprachlich und nicht-sprachlich manifestierte. „Automatische“ Rückgriffe auf die L1, Englisch als Zweitsprache oder eben auf das Deutsche sowie flüssiges, unkontrolliertes Sprechen wiesen auf derartige assoziativ-serielle Vorgänge hin. Die introspektiven Daten sollten diese Verhaltensweisen „kommentieren“, unterfüttern oder dementieren, gleichzeitig aber - in Form der Lernberatung - das Interesse verstärkt auf den Lerngegenstand lenken und damit das besagte Zusammenspiel fokussieren sowie die Weichen stellen für eine Zuordnung zu einem expansiven oder defensiven Lernverhalten. Die Sprachstanderhebungen in beiden Gruppen dokumentierten den Einfluss von Bewusstsein auf den Lernfortschritt und die Leistung. Zum Abschluss möchte ich in drei Schritten die Untersuchungsergebnisse in ihrer Gesamtheit betrachten, daran Reflexionen zu den eingesetzten Methoden sowie dem zugrunde gelegten Modell ansetzen und letztendlich Rückschlüsse auf zukünftige Forschungsprojekte ziehen. Antworten auf die Forschungsfragen. Anhand einer Gegenüberstellung (Tab. 41) werden zunächst die einzelnen Lernenden auf der Skala in Bezug zu ihren Fortschritten, den erbrachten Leistungen und dem Lernverhalten gesetzt. Lernfortschritt Ergebnis/ Leistung Lernverhalten Michele 0,5 9 defensiv Antonio 4,75 10,25 defensiv Gianni 7,75 12,25 defensiv expansiv Emilia 2,75 12,25 defensiv Chiara 7,5 12 expansiv Sandra 3,75 13,75 expansiv Ferdinando 3,25 12,75 expansiv Bettina -0,25 14,75 expansiv defensiv Liliana 6,25 14,75 defensiv Tab. 41 - Gegenüberstellung von Lernfortschritt, Leistung und Lernverhalten Offensichtlich wirkt sich ein betont bewusster Zugang negativ auf die nach den Kriterien des Goethe-Instituts bewertete mündliche Leistung aus: Die erste Gruppe liegt punktemäßig im unteren Bereich und schneidet schlechter ab als die zweite und vor allem die dritte Gruppe. Bei Chiara sind deutliche Anzeichen von Routine zu bemerken. Da sich diese aber wegen der wenigen Redebeiträge konkret nur begrenzt belegen lassen, wurde von einer entsprechenden Zuordnung zur zweiten Gruppe abgesehen. Zwei der fünf Lernenden der ersten Gruppe machen erhebliche Lernschritte (Gianni, Chiara, aber auch Antonio). Dazu sei aber eingeräumt, dass sowohl Chiara als auch Gianni bei der ersten <?page no="313"?> 313 Sprachstanderhebung sehr gehemmt waren, was dementsprechend auf den ersten Sprachstandtest gedrückt hat und mit die erhebliche Differenz in der Punktzahl bedingt, d.h., die Verbesserung darf nicht als Leistungssprung überbewertet werden. In Bezug auf ihr Lernverhalten ließ sich bei Chiara während des Kursjahres ein qualitativer Lernsprung feststellen, bei Gianni scheint sich dieser nach Kursende anzudeuten und wurde insoweit als Tendenz vermerkt, wie er sich vor dem Hintergrund der geäußerten Lernvorhaben nach Kursende und auf der Grundlage des beachtlichen Lernfortschritts im dritten Sprachtest rekonstruieren lässt. Die Leistung der mündlichen Kompetenz steigert sich augenscheinlich parallel zu der Automatisierung von Abrufvorgängen. So schneidet die mittlere Gruppe tendenziell (leicht) besser ab. Bei beiden begleitete ein qualitativer Sprung ihr Lernen: Sandra bindet den Deutscherwerb immer stärker an eine Erweiterung ihrer (beruflichen) Handlungsmöglichkeiten und setzt dabei bewusst auf ihre kommunikativen Fertigkeiten und ihre Ausdrucksfähigkeit. Deutlich treten in den ausgewählten Sequenzen bewusste Prozesse neben assoziativen auf. Dagegen wird sich Ferdinando in der Mitte des Kursjahres seines Vorgehens und seiner Stärken (und Schwächen) bewusst und setzt diese im Sinne seiner (beruflichen) Zielsetzungen ein. Auch bei ihm mischen sich bewusstes Lernen und durch Praxis Eingeschliffenes. Beide kennzeichnet folglich ein expansives Verhalten. Von den zwei Schülerinnen, die verstärkt auf automatisierte Vorgänge zurückgreifen, nimmt Bettina eine Sonderstellung ein, da sie Deutsch zwar nicht als L1 gelernt, aber sicher frühen und häufigen Kontakt zu der deutschen Sprache gehabt hat. Sie ist bereits zu Kursbeginn auf B1-Niveau. Ihr Lernen ist deutlich durch Automatismen bestimmt, denen sie besonders anfänglich eine bewusste Ebene unterlegen will, was aber als Lernvorhaben an Zugkraft verliert, womit sich ihr Lerneifer letztendlich auf die Wahrung ihrer Ausgangssituation limitiert. Auch Liliana hat aufgrund vielzähliger Kursbesuche und Auslandsaufenthalte gegenüber den anderen einen merklichen Vorsprung, der sich aber erst am Kursende nachweisen lässt. Sie greift auf diese Routine beim Sprechen zurück, staffiert sie aber nur geringfügig mit Wissen aus, obwohl sie dies als Lernvorhaben ursprünglich formuliert hatte. Insofern lernen beide defensiv. Zusammenfassend lassen sich die Ergebnisse in drei Punkten konkretisieren: 1. Der Erwerb der Fremdsprache Deutsch vollzieht sich bei gut der Hälfte der erwachsenen Lernenden auf einer betont bewussten Ebene, darüber hinaus sind Mischformen von schemaorientiertem und assoziativem Lernen zu beobachten. Nur zwei von den neun Lernenden greifen verstärkt auf routinierte Vorgänge zurück. Dieses Resultat entspricht den Vorannahmen und verweist darauf, dass der Weg vom deklarativen zum prozeduralen Wissen für erwachsene Lernende als <?page no="314"?> 314 durchaus begehbar, wenn auch keineswegs vorgeschrieben ist. Insgesamt wirkt sich Bewusstmachung positiv auf das Lernresultat in der mündlichen Leistung aus: Die Experimentalgruppe schneidet besser ab als die Vergleichsgruppe (s. 4.1). Bei einer differenzierten Analyse (s.o.) zeigt sich allerdings, dass sich die Leistung in Relation zur Abnahme der bewusst gesteuerten Lernprozesse verbessert. 2. Der Lernfortschritt lässt sich quantitativ weder einem bestimmten Bewusstseinsgrad zuordnen, noch korreliert er mit der erbrachten Leistung im Mündlichen oder einem bestimmten Lernverhalten. 3. Die expansiv Lernenden setzen sowohl bewusste als auch assoziative Lernprozesse ein und zeigen deutliche Anzeichen einer beginnenden Routine beim Sprechen. Daher lässt sich die erste Forschungsfrage nur differenziert beantworten: Bewusstes Lernen fördert grundsätzlich die mündliche Leistung in Deutsch als Fremdsprache, verliert aber bei fortgeschrittenen Lernenden an Relevanz; hier wird verstärkt auf routinierte Verfahren zurückgegriffen, wie u.a. auch schon Gass et al. (2003: 532) nachweisen konnten: „Focused attention had less significance in our experiments at the most advanced level than it had at less advanced levels.“ Zunächst ist es aber deutlich von der Lernerpersönlichkeit abhängig, ob stärker bewusst gelernt wird oder eher unbewusst; das ist zunächst individuell. Die Äußerung von Ferdinando: Sì perché se devo comunicare, in qualche maniera, penso, anche se sbaglio qualche cosa, l’importante è che il senso di quello che voglio dire venga venga capito, al all’inizio poi magari posso raffinare un po’ meglio. No, questa cosa di parlare (essere attivo) è dell’ultimo periodo perché mi sono, diciamo, punzecchiato da solo e quindi devo farlo, perché se no mi metto là, l’ascolto è passivo tutto quello che ricordo poi automaticamente poi lo dimentico. (LB 2/ 18) Wenn ich irgendwie kommunizieren muss, denke ich, auch wenn ich was falsch mache, ist es wichtig, dass am Anfang der Sinn von dem verstanden wird, was ich sagen will, das andere kann ich später verbessern. Nein, diese Sache mit dem Sprechen (aktiv sein) ist besonders in der letzten Zeit gekommen, dazu habe ich mich, sagen wir mal, selbst angestoßen, das muss ich machen, weil ich sonst da sitze und passiv zuhöre und all das, woran ich mich automatisch erinnere, dann wieder vergesse. steht im Gegensatz zu dem vorsichtigen Vorgehen Antonios, dem bedachten Sprechen Chiaras oder Giannis Wunsch, vor dem Sprechen den richtigen Satz „im Kopf“ zu haben (LB 2/ 32). Sie beschreiben jeweils eine grundsätzlich andere Herangehensweise an die Fremdsprache. Auch wenn dieser Zugriff im weiteren Verlauf von dem erreichten Leistungsstand mitbestimmt wird, ist der <?page no="315"?> 315 anfängliche bewusste „Verstärker“ notwendig, was auch die Ergebnisse der Vergleichsgruppe belegen: Sie verliert den anfänglichen Lernvorsprung, besonders nach Kursende, weil offensichtlich die Sprachpraxis, d.h. die Frequenz durch Sprachkontakt, als wichtiges und wesentliches Element der Förderung wegfällt. Im Nachtest zeigen gerade die „Guten“ der Vergleichsgruppe einen deutlichen Leistungsabfall (s. 4.1.3, z.B. Marta in Tab. 19), was darauf schließen lässt, dass sich das Gelernte noch nicht konsolidiert hat, d.h. die angelegten Spuren noch leicht verwischt werden können. Die Experimentalgruppe macht in allen Kompetenzen signifikante Fortschritte, auch in der Morphosyntax, d.h. correctness, hinkt sie nur leicht hinterher. Dies widerlegt die in der einschlägigen Forschungsliteratur gängige Annahme, die in der Morphologie das Problemfeld ausmacht, das sich der bewussten Aneignung am hartnäckigsten entzieht 85 : What are these fragile aspects of language where input fails to become intake, the sorts of thing with which L2 learners have difficulty? Morphology presents major problems (R. Ellis, 1994) […] And the reason, I believe, is because L2learners continue to process these aspects of language implicitly, following the habits and tunings laid down for the L1 […] (N. Ellis 2005: 322, vgl. auch N. Ellis 2008) Auch wenn die Kursleiterin einen Zusammenhang von Alter und Lernverhalten (Experteninterview EG) zurückweist, ist nicht zu übersehen, dass zwei von den fünf betont bewusst Lernenden weit über und zwei knapp unter 40 sind. „Age matters in language learning but it is not quite clear how” (Dörnyei 2009: 249). Das heißt, man hat hier zu differenzieren: Während bei Antonio aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur, seiner Lerngeschichte, seiner Ziele in der Fremdsprache Deutsch und seines willentlichen Vorgehens während des Kursjahres die Übungen das Abrufen nur langsam beschleunigt haben, wird bei Chiara dieser Vorgang zunehmend schneller. Neugierde und Sprachpraxis im Privatleben sind hier der Boden, von dem ein entscheidender Lernsprung seinen Ausgang nimmt. Ebenso kann eine in der Person tief verankerte Sprechangst (Gianni) entscheidend als Bremse für eine Erweiterung der Sprechkompetenz fungieren. Die in der Forschungsliteratur für den Erwerb bei Älteren favorisierte Lexik (s. 1.5) sticht bei Antonio hervor. Dagegen wird aber dieser Teilbereich bei Chiara und Gianni nicht überdurchschnittlich weiter aufgebaut und ausdifferenziert; auch im Falle von Michele bleibt er unverändert. Gianni und Chiara zeigen Lernfortschritte und gute Leistung sowohl im Formalen als auch in der Aussprache. Das Bild ist also durchaus widersprüchlich. Gemeinsam bleibt den älteren 85 Auch Gass et al. (2003: 522) belegen in ihrer Studie, dass sich attention - unerwarteterweise - auf den grammatischen Bereich positiv auswirkt. <?page no="316"?> 316 und damit betont bewusst Lernenden allerdings - wenn auch mit unterschiedlicher Begründung und Gewichtung - ein langsames oder verlangsamtes Sprechhandeln, was folglich auch die Gefahr einer unter Zeitdruck schlechteren Performanz im Mündlichen birgt und sich damit erklärt, dass Bewusstsein eine - wenn auch durchlässige - Barriere zwischen dem Lernsubjekt und dem Gegenstand schafft, die das Sprechen erst durchdringen muss. Zum Teilbereich Aussprache belegt der Fall Gianni, dass sich empirisch kein Zusammenhang zwischen einer simplen Korrelation zwischen Perzeption und Produktion feststellen lässt (s. 1.5). Bei Antonio und Michele kann man dagegen aus den Daten heraus einen solchen Zusammenhang begründen. Eine durch persönliche Disposition angelegte und durch Erfahrung erstarkte Handlungsorientierung und ein extrovertiertes Verhalten tragen bei Sandra und Ferdinando dezidiert zu Erfolgen in der mündlichen Kompetenz bei (vgl. Fischer 2006: 75ff), können aber - wie im Falle von Liliana - auch in ein Hindernis für die weitere Entwicklung umschlagen. Die zweite Forschungsfrage lässt sich dahingehend beantworten, dass ein expansives Verhalten als ein interessenorientierter Zugang auf den Lerngegenstand verstärkt mit einem explizit-impliziten Lernen Hand in Hand geht. Der Zuschnitt dieser Studie verbietet jegliche Form von Generalisierung, doch lässt sich anhand der Ergebnisse folgende Hypothese aufstellen: Während die Lernfortschritte als individuell von vielzähligen Variablen abhängig erscheinen, steht die Leistung im Mündlichen quantitativ in Abhängigkeit zum Bewusstseinsgrad. Einen qualitativen Lernsprung, im Sinne expansiven Lernens, vollziehen aber die Kursteilnehmer, die bewusste Zustände zunehmend durch Routine ersetzen, d.h. bewusste und weniger bewusste Zustände kombinieren. Dieses Ergebnis stellt eine interessante Hypothese für zukünftige Arbeiten dar, die Motivation/ Interesse mit bewussten und/ oder unbewussten Lernhandlungen korrelieren. In diesem Zusammenhang liefert auch der Rückgriff auf Phrasen oder chunks, wie er bei Sandra festzustellen war (s. 4.2.2.1.2), wichtige Hinweise sowohl für die Didaktik als auch die theoretische Konzeptualisierung derartiger Bedeutungsträger (s. 1.4.2). Methodenreflexion. Anhand des Modells ließen sich bewusste Prozesse und ihre Auswirkungen auf das Lernen und damit auch Formen einer beginnenden Prozeduralisierung von Wissen adäquat aufzeichnen. Wir stoßen aber auch auf die Grenzen dieses Schemas: So ist die schwache willentliche Übernahme einer Lernproblematik, wie z.B. bei Liliana, ein Element, das die Aussagekraft schmälert. Das Problem der mangelnden Umsetzung der Vorhaben in Lernhandlung stellt sich allerdings generell, denn in Bezug auf das ausgehandelte Lernprojekt wurde allgemein nur bedingt umgesetzt, was vereinbart war. Dafür lässt sich einmal die Unverbindlichkeit des Vorhabens als Begründung anführen <?page no="317"?> 317 (s. 3.3.2.2), aber auch die Tatsache, dass die Anmeldung zu einem Deutschkurs und die motivierte Teilnahme daran nicht zwingend einhergehen mit der Übernahme von Extralernvorhaben. Aus den Daten lässt sich primär auf den Erfolg der Lernberatung auf der motivationalen Ebene und hinsichtlich der Stärkung des Selbstbewusstseins schließen, und nur teilweise in der praktischen Umsetzung der Lerntipps und Übungen. Darin stellt sie aber sicher ein positives Element auf der ethischen Ebene des Forschungsvorhabens dar: Die Lernenden empfanden die Treffen als Anregung, und die Kollegin bestätigt, dass der Klassenzusammenhalt durch dieses gemeinsame Projekt merklich gestärkt wurde. Videografien erheben das Unterrichtsgeschehen, d.h. die Handlungen derjenigen, die aktiv daran teilnehmen. So ist zu fragen, ob nicht eine weitere Quelle, z.B. Audioaufnahmen der drei Sprachstanderhebungen, die dünne Datenlage bei schüchternen oder sprechscheuen Kursteilnehmern (z.B. Gianni, Bettina) hätte ausgleichen können, auch wenn der Einwand bestehen bleibt, dass die Prüfungssituation grundsätzlich von einer natürlichen Kommunikationssituation abweicht (s. 3.3.2.3) und damit auch auf der Forschungsebene mit ihrem Fokus auf den Unterrichtsdiskurs nur eingeschränkt zum Vergleich hätte herangezogen werden können. Der Einsatz der Videokamera bestätigt sich als wichtig(st)er Zugang zum Handlungskontext, auch wenn Dörnyei (2007: 184) beizupflichten ist, dass first, the camera was always lagging behind the action because of the unpredictable nature of classroom events and second, the technique introduced a strong subjective component because the camera operator was forced to continually make instantaneous decisions about who or what was worthy of the camera’s ‘precious focus’. Zweifellos wäre es von Vorteil gewesen, mit zwei oder auch drei Kameras zu arbeiten, wobei zumindest eine Stativkamera auf die Lehreraktion zu richten gewesen wäre (s. 3.2.1). Dazu fehlte mir die Möglichkeit, abgesehen von der Tatsache, dass der relativ enge Klassenraum wohl mit diesen technischen Geräten überlastet gewesen wäre. Probleme aufgrund von Videoscheu, wie sie am Anfang von Chiara geäußert wurde, waren nicht feststellbar; manche (z.B. Liliana, Sandra) fühlten sich offensichtlich bei den Aufnahmen wohl. Wer sich einem solchen Unternehmen stellt, sollte sich auf MitarbeiterInnen stützen können. Dies erleichtert die Arbeit erheblich, aber vor allem schöpft man damit das Potenzial eines triangulierenden Zugangs am besten aus. Eine entsprechende Hilfe stand mir in Form einer italienischen Muttersprachlerin, mit der ich schon im Rahmen anderer empirischer Studien zusammengearbeitet hatte, bei der Transkription der Lernberatungen zur Verfügung, aber leider nur vereinzelt bei der Aufarbeitung des Videomaterials. Eine Ablichtung des Materials durch eine andere Person hätte dessen Validierungsgrad erhöht und auch <?page no="318"?> 318 eine deutliche Erleichterung dargestellt, denn die Aufarbeitung und das Abgleichen der verbalen Daten mit den Videografien sind zwar ergiebig, bestätigen sich aber als äußerst mühsam. Auch die Querverbindungen zum Expertenwissen waren sehr aufschlussreich, da sie eine andere Wahrnehmungsebene widerspiegeln (vgl. Gianni, der „ruhige Typ“, oder die Bemerkung zur gewonnen Selbstsicherheit von Bettina). Die methodischen Überlegungen auf der Lehrerseite reflektieren darüber hinaus auch auf die Forschungsfragen (z.B. Sinn und Funktion von Italienisch im Umgang mit Antonio). Beobachtungen und weiterführende Überlegungen. Auch wenn die vorliegende Untersuchung die Rolle und Person der Lehrkraft ausgeblendet bzw. nur am Rand behandelt hat, tritt ihre Relevanz datenübergreifend hervor. Auch hinsichtlich der Forschungsfragen erscheint ihr Verhalten von Einfluss. Das gilt zunächst einmal auf der Feedbackebene, bei der es auf das fachliche und menschliche Können ankommt, sowie darauf, welche Form von Rückmeldung und wie viel davon angebracht ist. So sichert z.B. das häufige Feedback für Emilia die Lernende ab und hilft damit, ihr Selbstbewusstsein aufzubauen. Wie unterschiedlich das Bedürfnis nach Rückmeldung ist, zeigt z.B. die Untersuchung von Noels et al. (2007), die das Lehrer-Lerner-Verhältnis von Fremdsprachenlernenden von Heritage and Nonheritage Learners untersuchen. Die Ergebnisse belegen, dass beide Gruppen deutlich anders Feedback einfordern und damit umgehen. Das, was in dem Fragebogen zum Lerninteresse dieser Studie im weitesten Sinne unter Lehrmethode fällt und von den Kursteilnehmern als wichtig hervorgehoben wird, erweist sich als ausschlaggebend für die Motivation: Guter Unterricht kann nicht stattfinden, wenn man sich nicht auf den anderen einlassen und ihn somit akzeptieren kann - dies gilt für Schüler und Lehrer. Somit ist es notwendig, im Deutschunterricht diverse Medien, Lernmaterialien, Lehrstrategien und -methoden einzusetzen. Auf die Zusammensetzung kommt es an. Nur wem es gelingt, ein ideales Mischverhältnis zu erreichen, wird zufriedenstellende Lernermotivation erzeugen, […]. (Classen 2001: 44) Neben dem abwechslungsreichen Unterricht wird auch die Geduld der Lehrerin positiv vermerkt. Zeit und Raum zu lassen trägt entscheidend zum Klassengespräch bei (s. 1.5). Zeit brauchen besonders betont bewusst Lernende, denen sonst die Grundlage für ihr Lernen entzogen wird (Antonio), aber auch den Sprechängstlichen (Gianni) muss Raum zugestanden bzw. zugewiesen werden, wo sie sich zu einer Äußerung durchringen können. Bei der Unterrichtsbeobachtung fällt auf, dass die Kursleiterin den Lernenden Zeit bei der Beantwortung von Fragen lässt, so wie auch in der Interaktion das Wiederholen eine ständige Komponente in ihrem Unterricht darstellt. Nicht zuletzt werden der Stel- <?page no="319"?> 319 lenwert und die Einflusskraft der Lehrmethode auf den Lernprozess und auf die Leistung offensichtlich. Am Beispiel von Antonios Lernstil, der im Kontrast zu der angewandten Lehrmethode stand, stellt sich die Frage, inwieweit sich das auf den Lernprozess und die erbrachte Leistung ausgewirkt hat. In dem Kurs wurde nach dem Prinzip der aufgeklärten Einsprachigkeit unterrichtet, wie es am Goethe-Institut Palermo grundsätzlich geschieht und was von den Kursteilnehmern als Kriterium für die Wahl der Institution angegeben wird. Bis auf die Einschränkungen durch Michele, der die Erklärungen manchmal lieber auf Italienisch erhalten hätte, und Gianni, für den im Anfängerunterricht auch manchmal dem Italienischen mehr Platz eingeräumt werden sollte, spricht sich die Mehrheit uneingeschränkt für Deutsch als Unterrichtssprache aus. Insbesondere stechen diesbezüglich Sandras (Video 4b/ Sandra 2) und Lilianas Bemerkungen (Video 4a/ Liliana 11) hervor. In diesem Rahmen steht das implizite Korrekturverfahren durch recasts oder negatives Feedback (fragender Gesichtsausdruck, Abwinken usw.), aber auch requests (z.B. Video 4a/ Liliana 2), nur selten wird direkt korrigiert. Dies wird offensichtlich von den Schülern als angemessen wahrgenommen, auch wenn sich das bei den meisten grundsätzlich von ihrer schulischen oder universitären Lernerfahrung unterscheidet. Im Unterschied zu Untersuchungen in anderen Sprach- und Kulturräumen (vgl. z.B. Izumi 2000, Tobiasz 2008) fordern diese Lernenden keine explizite Korrektur, sondern haben sich bei der Anmeldung am Goethe-Institut (zum Großteil) bewusst für eine andere Vermittlungsmethode entschieden. Die vorliegende Studie offenbart, dass so mancher Lernende aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Form Angst hat, in der Gruppe zu sprechen. Abgesehen von der Wahl bestimmter Unterrichtsformen wie Spiele, die Freude bereiten (vgl. Ogasa 2011: 188) und damit Ängste mindern (in dem Sinne werden sie von den Lernenden dieser Untersuchung auch mehrfach positiv erwähnt), ist auf der emotionalen Ebene die Figur des/ r Lehrenden zentral und bestimmend für eine entspannte Zusammenarbeit. Das Klassenklima bleibt letztendlich - ob zu Recht oder nicht - ihre Aufgabe (vgl. Ogasa 2011: 179). Und last but not least bekräftigt diese Studie, dass der fremdsprachliche Lernprozess für den Lernenden bedeutungsvoll sein muss; denn nur wenn die Lernenden den Nutzen ihrer Mühen sehen, bauen sich darüber Emotionen auf und eröffnen sich neue Perspektiven für ihr Leben (vgl. Classen 2001: 47). Diese brauchen von öffentlicher Seite Unterstützung, nämlich die politische Bereitschaft, Deutsch als Fremdsprache zu verteidigen und auszubauen (z.B. in Bezug auf die USA: Classen 2001: 44, in Bezug auf Russland: Kartaeva 2005). Neben der bereits angesprochenen Perspektive auf den Lehrer innerhalb des kognitiv-emotionalen und motivationalen Geflechts von Lernen stellt diese in- <?page no="320"?> 320 stitutionelle Dimension von Motivation sicherlich ein weiteres noch zu erforschendes Gebiet dar. <?page no="321"?> 321 Literaturverzeichnis Abbot-Smith, Kirsten & Tomasello, Michael (2006). 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Sie schließt eine Forschungslücke, da in ihr zum ersten Mal ein Chat-Raum untersucht wird, der zum Erlernen einer Fremdsprache entwickelt wurde und jederzeit frei zugänglich ist. Die Arbeit fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen des Deutschlernens im Chat des Projektes JETZT Deutsch lernen des Goethe-Instituts sowie nach der Rolle der Chat-Tutorinnen im Umgang mit Fehlern und sprach- und kulturbezogenen Fragen. Anhand zahlreicher Chat-Protokolle aus tutorierten und untutorierten Stunden werden die Daten im Licht der Interaktionstheorie und des interkulturellen Fremdsprachenlernens quantitativ und qualitativ analysiert. <?page no="360"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! VERSATZ 190 MM/ 30 MM Eva Burwitz-Melzer / Frank G. Königs / Claudia Riemer (Hrsg.) Perspektiven der Mündlichkeit Arbeitspapiere der 34. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik 272 Seiten €[D] 48,00 / SFR 61,80 ISBN 978-3-8233-6924-0 Mündlichkeit scheint - verfolgt man die methodischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte - für den Fremdsprachenunterricht selbstverständlich zu sein. Bisweilen ist vom Primat des Mündlichen die Rede, und man könnte den Eindruck gewinnen, als seien damit zahlreiche Probleme gelöst, die man dem traditionellen Fremdsprachenunterricht mit seiner Fokussierung der Schriftlichkeit vorgehalten hatte. Dass dem nicht so ist, zeigen die 26 Beiträge des vorliegenden Bandes, in dem sich Vertreter der deutschen Fremdsprachendidaktik aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Rolle der Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht auseinandersetzen. Dabei entsteht ein Kaleidoskop unterschiedlicher Sichtweisen auf Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht, das Anregungen sowohl für die weitere Forschung auf diesem Gebiet als auch für die unterrichtliche Praxis enthält. <?page no="361"?> Das Buch befasst sich mit dem Zusammenspiel von kognitiven, emotionalen und motivationalen Faktoren beim Aufbau von mündlicher Kompetenz in Deutsch als Tertiärsprache bei erwachsenen Italienern. Es stützt sich dabei auf ein interdisziplinäres Vorgehen, das theoretisch erörtert und in seiner Methodenwahl ausführlich dargelegt wird, insbesondere die Videografie sowie intro-/ retrospektive Verfahren. Die Ergebnisse der Studie veranschaulichen die Lernprozesse einmal klassenübergreifend, zum anderen erfolgt eine detaillierte Analyse der einzelnen Lernenden. Das Literaturverzeichnis liefert Lehrenden, Studierenden und Forschern eine erschöpfende bibliographische Quelle zu den behandelten Themen. Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik