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Floris van Schoonhoven

Lalage sive Amores Pastorales - Lalage oder Bukolische Liebesgedichte (1613)

0514
2014
978-3-8233-7897-6
978-3-8233-6897-7
Gunter Narr Verlag 
Iris Heckel

Floris van Schoonhoven (~1594-1648) verfasste in Leiden lateinische Gedichte, die 1613 als Poemata antehac non edita erschienen. Im vierten Buch dieser Sammlung, das den Titel Lalage sive Amores Pastorales trägt, umwirbt der Hirte Daphnis die Geliebte Lalage. Einen besonderen Reiz dieses ludicrum carmen macht das Zusammenspiel von bukolischem Setting, metrischer Vielfalt und Elementen der Liebeselegie und des Romans aus. Hier knüpft der Autor an die literarische Tradition der Lusus Pastorales an, die um 1500 in Italien entstand. Der vorliegende Band bietet eine moderne Edition des lateinischen Textes mit deutscher Übersetzung und einen ausführlichen Kommentar, in dem Schoonhovens souveräner Umgang mit antiken Vorbildern wie Catull oder Horaz, aber auch mit humanistischen Prätexten deutlich wird. In der Einleitung werden nach einem Kapitel zu Schoonhovens Leben und Werk die Struktur des Gedichtbuches, Sprache, Metrik und Imitationstechniken sowie die Gattungszugehörigkeit untersucht.

<?page no="0"?> herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Iris Heckel Floris van Schoonhoven Lalage sive Amores Pastorales - Lalage oder Bukolische Liebesgedichte (1613) Neo L atina Heckel (Hrsg.) Floris van Schoonhoven: Lalage Floris van Schoonhoven (~1594 -1648) verfasste in Leiden lateinische Gedichte, die 1613 als Poemata antehac non edita erschienen. Im vierten Buch dieser Sammlung, das den Titel Lalage sive Amores Pastorales trägt, umwirbt der Hirte Daphnis die Geliebte Lalage. Einen besonderen Reiz dieses ludicrum carmen macht das Zusammenspiel von bukolischem Setting, metrischer Vielfalt und Elementen der Liebeselegie und des Romans aus. Hier knüpft der Autor an die literarische Tradition der Lusus Pastorales an, die um 1500 in Italien entstand. Der vorliegende Band bietet eine moderne Edition des lateinischen Textes mit deutscher Übersetzung und einen ausführlichen Kommentar, in dem Schoonhovens souveräner Umgang mit antiken Vorbildern wie Catull oder Horaz, aber auch mit humanistischen Prätexten deutlich wird. In der Einleitung werden nach einem Kapitel zu Schoonhovens Leben und Werk die Struktur des Gedichtbuches, Sprache, Metrik und Imitationstechniken sowie die Gattungs zugehörigkeit untersucht. Neo L atina <?page no="1"?> Floris van Schoonhoven Lalage sive Amores Pastorales - Lalage oder Bukolische Liebesgedichte (1613) <?page no="2"?> Herausgegeben von Thomas Baier, Wolfgang Kofler und Eckard Lefèvre in Verbindung mit Achim Aurnhammer Neo L atina 22 <?page no="3"?> Floris van Schoonhoven Lalage sive Amores Pastorales - Lalage oder Bukolische Liebesgedichte (1613) herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Iris Heckel <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Stiftung Pegasus Limited for the Promotion of Neo-Latin Studies St. Gallen, Schweiz. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1615-7133 ISBN 978-3-8233-6897-7 <?page no="5"?> F LORIS quas iuvenis Batavûm in arvis cingentes Lalages caput corollas floribus variis et arte nexit, illas, ne iaceant siti peremptae, spargam Iris recreamque roscido arcu. Floris van Schoonhoven <?page no="6"?> meinen Eltern <?page no="7"?> Inhalt Vorwort ........................................................................................................ 11 1 Einleitung ................................................................................................ 13 1.1 Floris van Schoonhoven ............................................................... 18 1.1.1 Biographie ........................................................................... 18 1.1.2 Werke ................................................................................... 30 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales .................................. 36 1.2.1 Gesamtkomposition ........................................................... 38 1.2.1.1 Anlage des Buches .................................................. 38 1.2.1.2 Der Lalage-Zyklus .................................................. 39 a) Aufbau .................................................................................. 39 b) Personal: Hirten, Waldgötter und mythische Figuren ......... 42 c) Setting ................................................................................... 46 1.2.1.3 Gedichtstrukturen ................................................... 48 1.2.2 Intertextualität .................................................................... 49 1.2.2.1 Gattungszugehörigkeit ........................................... 52 1.2.2.2 valles, quas tenuit meus Catullus .............................. 61 1.2.2.3 Imitationstechnik .................................................... 65 1.2.2.4 Sentenzen ................................................................. 75 1.2.3 Sprache ................................................................................ 77 1.2.4 Metrik .................................................................................. 81 1.3 Hinweise zur Edition ................................................................... 87 a) Orthographie ......................................................................... 90 b) Interpunktion ........................................................................ 92 c) Akzentsetzung ....................................................................... 93 2 Text und Übersetzung ........................................................................... 96 3 Kommentar ........................................................................................... 167 3.1 Paratexte ...................................................................................... 167 Autor und Titel ........................................................................... 169 Dedicatio ...................................................................................... 170 Ad benevolum Lectorem ........................................................... 174 Praefatio ....................................................................................... 178 Ex Anacreonte ............................................................................. 184 3.2 Die Gedichte an Lalage .............................................................. 186 Ad Lalagen. Carmen I ................................................................ 186 <?page no="8"?> Inhalt 8 Ad Lalagen. Carmen II ................................................................196 Ad Lalagen. Carmen III ..............................................................202 Ad Lalagen. Carmen IV ............................................................. 210 Ad Echo. Carmen V .................................................................... 215 Ad Lalagen. Carmen VI ............................................................. 221 Ad Lalagen. Carmen VII ............................................................ 231 Ad Lalagen. Carmen VIII .......................................................... 236 Ad Lalagen. Carmen IX ............................................................. 242 Ad Lalagen. Carmen X ............................................................... 247 Ad Lalagen. Carmen XI, Ex Dousa Fil. versum ...................... 251 Ad Lalagen. Carmen XII ............................................................ 256 Ad Lalagen. Carmen XIII ........................................................... 264 Ad Lalagen. Carmen XIV .......................................................... 267 Ad Lalagen. Carmen XV ............................................................ 270 Ad Lalagen. Carmen XVI .......................................................... 274 Ad silvas, in quibus osculatus erat Lalagen. Carmen XVII .. 282 Ad Lalagen. Carmen XVIII ........................................................ 285 Ad Lalagen. Carmen XIX ........................................................... 291 Ad Lalagen. Carmen XX ............................................................ 296 Ad Lalagen. Carmen XXI ........................................................... 300 Ad Lalagen. Carmen XXII ......................................................... 304 Ad Lalagen. Carmen XXIII ........................................................ 310 Ad Lalagen narrans ei somnium suum. Carmen XXIV ......... 317 Ad Lalagen. Carmen XXV ......................................................... 327 Ad Lunam. Carmen XXVI ......................................................... 341 Ad Lalagen. Carmen XXVII ...................................................... 344 Pastor et Echo. Carmen XXVIII ................................................. 348 Ad Lalagen. Carmen XXIX ........................................................ 353 Ad Faunum. Carmen XXX ......................................................... 359 Ad Lalagen. Carmen XXXI ........................................................ 363 Ad Lalagen. Carmen XXXII ....................................................... 370 Ad Lalagen. Carmen XXXIII ..................................................... 372 Ad Lalagen. Carmen XXXIV ..................................................... 377 Ad Lalagen. Carmen XXXV ...................................................... 382 Ad campos, in quibus Lalage cubuerat. Carmen XXXVI ...... 385 Ad Lalagen. Carmen XXXVII .................................................... 390 Lalage potitus triumphat. Carmen XXXVIII ........................... 393 Ad Lalagen aegrotantem. Carmen XXXIX .............................. 397 Lalagen mortuam deplorat. Carmen XL ................................. 403 <?page no="9"?> Inhalt 9 3.3 Die Elegien ................................................................................... 414 Elegia I .......................................................................................... 419 Elegia II ........................................................................................ 426 4 Bibliographie ........................................................................................ 435 4.1 Editionen der Werke Schoonhovens ........................................ 435 4.2 Digitale Reproduktionen der Erstausgabe im Internet ......... 435 4.3 Mittelalterliche und frühneuzeitliche Texte ............................ 435 4.4 Humanistische Editionen, Übersetzungen und Kommentare antiker Texte ........................................................ 438 4.5 Archivmaterial und handschriftliche Quellen ........................ 439 4.6 Gedruckte Quellen ..................................................................... 440 4.7 Biographische Lexika ................................................................. 441 4.8 Literatur ....................................................................................... 441 4.9 Bildnachweis ............................................................................... 456 Abkürzungsverzeichnis ........................................................................... 457 Register ....................................................................................................... 459 <?page no="11"?> Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2012 vom Fachbereich „Sprach- und Kulturwissenschaften“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Hans Bernsdorff, der das Projekt anregte und stets anteilnehmend begleitete. Sein Rat und seine Kritik, vielfältige Anregungen und Hinweise und nicht zuletzt unsere zahlreichen wissenschaftlichen „Streitgespräche“ haben maßgeblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Herrn Prof. Dr. Robert Seidel danke ich für die Übernahme des Korreferats. Er hat die Arbeit von Beginn an mit Interesse verfolgt und mir viele wichtige Anregungen speziell zum Bereich des Neulateinischen gegeben. Für die Übernahme des dritten Gutachtens, die kritische Lektüre und detaillierte Anmerkungen danke ich Herrn Prof. Dr. Dr. Helmut Seng. Zwei Forschungsaufenthalte in Leiden im Sommer 2009 und im Frühjahr 2011 boten die Möglichkeit, Archivmaterial sowie Drucke und Handschriften aus der Zeit Floris van Schoonhovens einzusehen. Ich danke dem Scaliger Institut der Universität Leiden für ein Stipendium während des ersten Aufenthaltes und dem Koordinator Kasper van Ommen für die freundliche Aufnahme und Betreuung vor Ort. In der Koninklijke Bibliotheek Den Haag, im Archiv der Hoogheemraadschap van Schieland en de Krimpenerwaard in Rotterdam und insbesondere im Leeszaal Bijzondere Collecties der Universiteitsbibliotheek Leiden und im Streekarchief Midden-Holland in Gouda durfte ich auf Floris van Schoonhovens Spuren wandeln. Bei meinen Recherchen bin ich dort überall Bibliothekaren und Archivaren begegnet, die mir bei der Suche nach Informationen geholfen haben. Ihnen allen sei für ihr freundliches Entgegenkommen gedankt. Im Sommer 2009 hatte ich das Glück, in Leiden Herrn Prof. Dr. Karl Enenkel anzutreffen, der sich bereits in mehreren Publikationen mit Floris van Schoonhoven beschäftigt hatte. Ihm danke ich für einen anregenden Gedankenaustausch, wertvolle Hinweise sowie für die Möglichkeit, mein Gesamtprojekt und einige problematische Einzelstellen einem Kreis von Experten der neulateinischen Literatur vorstellen und in zwanglosem Rahmen diskutieren zu können. Den Herausgebern Prof. Dr. Thomas Baier, Prof. Dr. Wolfgang Kofler und Prof. Dr. Dr. h.c. Eckard Lefèvre sei für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe NeoLatina gedankt. Herrn Kofler und Herrn Baier gilt zudem mein herzlicher Dank für ihre kritische Durchsicht des Manuskriptes, ihre <?page no="12"?> Vorwort 12 hilfreichen inhaltlichen Anmerkungen und die große Geduld, mit der sie zahlreiche Fragen der formalen Gestaltung des Buches geklärt haben. Den Mitarbeitern des Narr Verlages danke ich für die reibungslose Zusammenarbeit bei der Drucklegung. Herrn Tilmann Bub oblag die Betreuung des gesamten Projektes. Er hat sich mit großem Engagement nicht nur um die Organisation, sondern auch um gestalterische Details bemüht. Frau Karin Burger fand für jedes satztechnische Problem eine Lösung und hat mich zu Fragen des Layouts beraten. Herzlich danke ich auch meinen Kollegen und Freunden, die durch einen regen Austausch von Gedanken und Hinweisen sowie durch lebhafte Diskussionen in öffentlichen und privaten Doktorandenkolloquien zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Namentlich erwähnen möchte ich Herrn Dr. Timo Christian, der es nie müde wurde, schwierige Stellen bei einer Tasse Kaffee von allen Seiten zu beleuchten, und Frau Dr. Carolin Ritter, die einen Großteil des Manuskriptes akribisch gelesen und mich vor manchem Fehler bewahrt hat. Einen ganz persönlichen Dank möchte ich meinen Eltern Erika und Horst Heckel aussprechen, die mich während des Studiums und der Promotionszeit in jeder Weise unterstützt haben. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Frankfurt am Main, im März 2014 Iris Heckel <?page no="13"?> 1 Einleitung Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert erlebte die neulateinische Literatur in den Niederlanden eine zweite große Blütezeit. Einen ersten Höhepunkt hatten die Prosaschriften des Erasmus und die Dichtung des Johannes Secundus gebildet. Beide Autoren waren 1536 gestorben. Mit der Gründung der Universität in Leiden 1575 verlagerte sich das kulturelle Zentrum in den Norden der Niederlande. 1 Dort immatrikulierte sich im Mai 1611 ein junger Mann aus dem nahe gelegenen Gouda, Floris van Schoonhoven. Der Gedichtband Poemata antehac non edita, den Schoonhoven 1613 in den Druck gab, stellt ein bislang wenig beachtetes Zeugnis der kulturellen Blüte in Leiden dar. 2 Bekannter wurde das zuerst 1618 in Gouda erschienene Emblembuch. 3 Schoonhoven gehörte nicht zu den berühmten Dichtern und Philologen seiner Zeit wie etwa Janus Dousa der Ältere oder Daniel Heinsius. Seine Ausbildung in den klassischen Sprachen, die neben dem lateinischen Lektürekanon auch die Beschäftigung mit dem Griechischen einschloss, hatte er hauptsächlich auf der Lateinschule in Gouda erhalten, ergänzt wohl durch ein Grundstudium der artes in Leiden. 4 Sein eigentliches Studienfach war Jura, Ziel des Studiums die Niederlassung als Rechtsanwalt in Gouda. Dennoch zeigt Schoonhoven in seinen Poemata nicht nur eine profunde Kenntnis der antiken Literatur wie auch mehrerer Bereiche der neulateinischen Dichtung, sondern zudem eine souveräne Beherrschung des Lateinischen. Die Gedichte sind in den unterschiedlichsten Metren vom daktylischen Hexameter und elegischen Distichon über den catullischen Phalaeceus bis hin zu horazischen Oden verfasst, rhetorisch weder schmucklos noch überladen und in einem flüssigen, klaren Stil geschrieben. 5 Schoonhoven schöpft reichlich aus antiken und neuzeitlichen Prätexten, bleibt ihnen aber keineswegs sklavisch verhaftet. Enenkel lobt seine Horaz-Imitation, die „mit ihrem Vorbild behutsam und umsichtig“ umgehe, so dass Schoonhoven „eine Reihe kongenialer Nachschöpfungen hervorgebracht“ habe. 6 1 Vgl. Heesakkers 1989, 3-4. 2 Zu einigen überblicksartigen Darstellungen s. Kap. 1.1.2. Zur Einordnung Schoonhovens in den Kontext des Leidener Humanismus vgl. auch Enenkel 1999b, 197. 3 S. Kap. 1.1.2. 4 S. dazu Kap. 1.1.1. 5 So auch Grant 1965, 182: „His Latin is smooth, fluent, and very clear. He has mastered the resources of Latin verse-rhetoric, but does not overwork them. He displays, in a word, all the typical virtues of a very fine minor poet.“ 6 Enenkel 1999b, 198. <?page no="14"?> 1 Einleitung 14 Die Poemata antehac non edita erfuhren in Leiden einige Wertschätzung. 7 Die Universitätsprofessoren Dominicus Baudius und Daniel Heinsius hielten sie eines Ehrengedichtes für würdig. 8 Das vierte der insgesamt sechs Bücher, 9 Lalage sive Amores Pastorales, wurde ein Jahr nach dem Erscheinen der Poemata in die Sammlung Delitiae Poetarum Belgicorum des Frankfurter Herausgebers Janus Gruter aufgenommen 10 und erhielt dadurch eine weitere Verbreitung als die übrigen Gedichte. Die Amores Pastorales stellen ein Zeugnis für die allgemeine Beliebtheit bukolischer Dichtung in der Frühen Neuzeit dar. 11 Im Gegensatz zu den sechs hexametrischen Eklogen der Bucolica, die das fünfte Buch der Poemata antehac non edita bilden, 12 gibt das Buch Lalage sive Amores Pastorales die Form der antiken Ekloge zugunsten der um 1500 entstandenen literarischen Mischgattung der Lusus Pastorales auf. 13 Somit sind die Amores Pastorales ein Beispiel für eine zwar ebenfalls in antiken Traditionen wurzelnde, jedoch in ihrem konkreten Erscheinungsbild typisch neulateinische Literaturform. Ein wichtiges Thema schon der antiken bukolischen Dichtung ist die Liebe von Hirten. In den Paratexten kennzeichnet Schoonhoven die Amores 7 Vgl. auch Enenkel 1999b, 197: „Schoonhovens Gedichtband wurde von führenden leidener Humanisten, Dominicus Baudius und Daniel Heinsius, günstig aufgenommen.“ 8 Zum Ehrengedicht s. ausführlicher Kap. 1.1.2. Ich zitiere Baudius’ In editionem Poëmatum Ornatissimi adolescentis Florentii Schoonhovii (auf den ersten Seiten der Poemata, ohne Nummerierung): Primitias operum tibi dedicat, inclyta Leida, / Schoonhovius, genii pignora cara sui, / quas e Parnassi collegit vertice vates, / texeret ut faustâ nobile nomen avi. / hos si vere novo potuit producere flores, / quam fecunda seges tempore messis erit? 9 S. dazu Kap. 1.1.2. 10 S. auch Kap. 1.3. 11 Vgl. z.B. IJsewijn 1998, 62: „Bucolic poetry has been extraordinarily popular among Neo-Latin poets.“ In der Regel werden dafür zwei Gründe genannt (vgl. z.B. IJsewijn 1998, 62): Erstens galt die Bukolik gemäß der rota Vergilii als niedere Gattung, die folglich für erste eigene Dichtübungen besonders geeignet schien, und zweitens schrieb man ihr, ebenfalls im Rückgriff auf die Interpretation Vergils, eine allegorische Funktion zu. Schon Servius bemerkt zu Verg. ecl. 1,1: hoc loco Tityri sub persona Vergilium debemus accipere; non tamen ubique, sed tantum ubi exigit ratio. Petrarca treibt die allegorische Verschlüsselung bekanntlich besonders weit. Der Begriff der rota Vergilii oder rota Vergiliana ist mittelalterlich, doch geht das Modell der aufsteigenden Stufen bereits auf Donat und Servius zurück, die Vergils Hauptwerke, Bucolica, Georgica und Aeneis, mit den drei Stilebenen Ciceros in Verbindung gebracht hatten, wobei der Bukolik der niedere Stil (genus tenue) zukam. Nach Donat werden zudem verschiedene Stufen der Kulturentwicklung durchlaufen. Der Gedanke der sozialen Hierarchie ist später sehr präsent. Zudem wird ein Aufstieg von der niederen Gattung der Bukolik über das Lehrgedicht hin zum „hohen“ Epos gesehen. (Vgl. Krauss 1976, 141-142; Putnam 2010, 17-20.) 12 S. Kap. 1.1.2. 13 Vgl. Grant 1965, 182; Grant 1957, 98: „… there is no example in Neo-Latin literature of the invention of a new, major form of poetry. The nearest one comes to free invention is the production of such a minor development as the lusus pastoralis.“ Zur Gattungszugehörigkeit s. ausführlich Kap. 1.2.2.1, ebenso zum Begriff des Bukolischen. <?page no="15"?> 1 Einleitung 15 Pastorales als spielerische Dichtung (ludicrum carmen) 14 und jugendliche Poesie (iuvenilia). 15 Den Charakter des Autors solle der geneigte Leser nicht nach diesen frivolen Gedichten beurteilen, aber im zarten Jugendalter (teneris et iuvenilibus annis) sei es wohl einmal erlaubt, Liebesgedichte zu verfassen. 16 Schoonhoven folgt mit seiner Hirten-Liebesdichtung einer Mode seiner Zeit, die sich in Literatur und Malerei widerspiegelt. Daniel Heinsius schreibt in einem Brief an Constantijn Huygen, dem er für den Erhalt einer Ekloge dankt, 17 das traditionelle Thema von Eklogen sei die Liebe, und sogar der keusche Vergil habe als junger Mann in seinen Bucolica Gedichte über die Liebesleidenschaft geschrieben. 18 In der Malerei des 17. Jahrhunderts findet sich häufig der Typus der lasziven Hirtin. So schuf Paulus Moreelse etwa fünfzehn Gemälde mit diesem Motiv, darunter De schone herderin („Die schöne Hirtin“). 19 Für die Rezeption des Buches Lalage sive Amores Pastorales in zeitgenössischer Dichtung gibt es sowohl in der lateinischen als auch in der niederländischen Literatur je einen Beleg. Paul Fleming (1609-1640) nennt in einem lateinischen Kussgedicht, in dem er etliche Liebhaber mit ihren Geliebten aufzählt, auch Schoonhoven und Lalage; vgl. Suavia 13,23: [tot basiationes, quot …] Lalage Schönhovioque … [tot una da mihi uni]. 20 Der niederländische Fall ist nicht ganz so eindeutig. Daniel Heinsius veröffentlichte drei Jahre nach dem Erscheinen von Schoonhovens Poemata antehac non edita einen Band Nederduytsche Poemata. Darin ist ein Gedicht enthalten, das die Überschrift Pastorael trägt und von der unglücklichen Liebe eines Hirten Corydon zu Phyllis handelt. 21 Diese beiden Namen entstammen der antiken Bukolik, doch spielt das Gedicht in Holland, und zahlreiche heimische Orte wie Leiden, Katwijk, Noordwijk und Scheveningen werden genannt. Auch einige der genannten Personen tragen niederländische Na- 14 S. Ad Lect. 15 S. Ded. Tatsächlich sind die Poemata, bei deren Erscheinen Schoonhoven etwa neunzehn Jahre alt war, insgesamt ein Jugendwerk. Dass er speziell die Amores Pastorales als iuvenilia bezeichnet, ist also dem Charakter dieses Gedichtbuches geschuldet. 16 S. Ad Lect. 17 Der handschriftliche Brief fiel mir beim Stöbern in den Beständen der „Bijzondere Collecties“ in der Universiteitsbibliotheek Leiden in die Hände. Er ist auf den 29. Oktober 1620 datiert, also wenige Jahre nach dem Erscheinen von Schoonhovens Poemata. Vgl. Brieven, Daniel Heinsius ad Const. Hugenium patrem, Universiteitsbibliotheek Leiden, Signatur: PAP 2, Leiden 1620. 18 Nemo quoque nescit, cum Idylliorum sive Eclogarum argumenta sint ἐσχηµατισµένα , et aliud plerumque dicant aliud intelligant, materiam eorum antiquissimam amores esse. … Et quis nescit Virgilio, ob insignem morum probitatem ac verecundiam, Parthenii haesisse nomen. Tamen - Phyllidis hic idem, teneraeque Amaryllidos ignes, / Bucolicis iuvenis luserat ante modis. (Das Distichon ist ein Zitat von Ov. trist. 2,537-538.) 19 S. dazu die Einleitung zu Lal. 32. 20 Diesen Hinweis verdanke ich Frau Dr. Beate Hintzen. S. auch den Komm. zu Lal. 31,6. 21 Nederduytsche Poemata (1616), S. 26-33. <?page no="16"?> 1 Einleitung 16 men: Trijn (S. 29), Kees (S. 32) und Floris (S. 27 und 30). Floris ist offenbar ein anderer Hirte. Er hält sich in Phyllis’ Nähe auf, 22 scheint aber kein Rivale zu sein, sondern gesteht sogar, niemand sei schöner als Corydon. 23 Da Heinsius Schoonhovens Hirtengedichte nachweislich kannte, 24 liegt die Vermutung nahe, dass er in seiner „Pastorale“ einen Hirten nach Floris van Schoonhoven benannte, vielleicht als kleine Hommage an den jüngeren Dichter und seine bukolische Liebespoesie. Schoonhovens Gedichtband Poemata antehac non edita steht klar in der Tradition seiner Zeit. Imitationen von Secundus’ Basia lassen sich darin ebenso nachweisen wie Einflüsse der zeitgenössischen Professoren Baudius 25 und Heinsius. Wenngleich kein Philologe und Dichter von Berufs wegen, zeigt Schoonhoven doch nicht weniger als diese den Anspruch, seine Kenntnis antiker und neulateinischer Literatur unter Beweis zu stellen und sich gleichzeitig wetteifernd mit den Prätexten zu messen. So ist Schoonhoven ein „Amateur“ im besten Sinne des Wortes, oder, wie er selbst es in der Widmung der Amores Pastorales mit scherzhafter Pointe formuliert, ein Liebhaber der Musen. 26 Seine Gedichte zeigen, was ein sprachbegabter junger Mann mit einer soliden literarischen Bildung leisten konnte, auch ohne die Beschäftigung mit Poesie zu seinem Hauptberuf zu machen. Kristeller plädiert dafür, im Rahmen der Erforschung frühneuzeitlicher Texte nicht nur die großen Autoren zu beachten, sondern „das reiche Erbe einer geistig überaus regen und lebendigen Zeit in seiner ganzen Fülle und Breite zu überblicken und zu würdigen.“ 27 Die bedeutenden niederländischen Dichter Johannes Secundus, Janus Dousa und Daniel Heinsius sind nicht zuletzt jeweils durch Tagungsbände des Freiburger Neulateinischen Symposion erschlossen, 28 ihre Texte zumindest teilweise modern ediert, übersetzt und kommentiert. 29 22 Corydon lernt Phyllis auf einer Hochzeitsfeier kennen; Floris sitzt in ihrer Nähe, Corydon an ihrer rechten Seite. Vgl. Nederduytsche Poemata, S. 27: „Ik sach eerstmael aen u wesen / In een bruyloft daer ghy waert / Met het volck van’t dorp vergaert. / Doen heb ick u eerst gepresen. / Floris sat niet ver van dy, / En ick aen de rechter sy.“ 23 Vgl. Nederduytsche Poemata, S. 30: „Ia moer Floris dorst wel seggen, / Dese leste kurremis, / Datter niemandt schoonder is.“ 24 Daniel Heinsius verfasste ein Ehrengedicht für die Poemata antehac non edita (s.o.), so dass er die Texte wenigstens oberflächlich gelesen haben wird. 25 Vgl. Enenkel 1999a, 177 und 183-185. 26 S. Ded.: Amo, inquam, nec unam tantum, duas, aut tres, sed omnes illas lepidas novem sorores. 27 Kristeller 1959, 368. 28 Johannes Secundus und die römische Liebeslyrik, herausgegeben von Eckart Schäfer, Tübingen 2004 (NeoLatina, Bd. 5); Daniel Heinsius: Klassischer Philologe und Poet, herausgegeben von Eckard Lefèvre und Eckart Schäfer, Tübingen 2008 (NeoLatina, Bd. 13); Ianus Dousa: Neulateinischer Dichter und Klassischer Philologe, herausgegeben von Eckard Lefèvre und Eckart Schäfer, Tübingen 2009 (NeoLatina, Bd. 17). 29 Z.B. die Liebeselegien des Johannes Secundus durch Paul Murgatroyd (2000). <?page no="17"?> 1 Einleitung 17 Auch Schoonhovens Werke haben bis heute immer wieder Beachtung gefunden. Die Arbeiten der neueren Forschung, die sich mit Schoonhovens Werk beschäftigen, werden in Kap. 1.1.2 ausführlicher vorgestellt. 30 Es handelt sich durchweg um Überblicksdarstellungen. Einzelne Stellen aus Schoonhovens Werken werden zudem gelegentlich in moderner Literatur zu bestimmten Motiven oder Themen zitiert. 31 Eine eingehende philologische Untersuchung von Schoonhovens Dichtung hat bislang jedoch nicht stattgefunden. Die vorliegende Arbeit soll dies für das Buch Lalage sive Amores Pastorales leisten. Ich beginne mit einem biographischen Abriss 32 sowie einer Übersicht über das Gesamtwerk, 33 um eine Betrachtung der Amores Pastorales vor dem Hintergrund von Schoonhovens Leben und Schaffen zu ermöglichen. Der Text der Gedichte wird nach Prinzipien ediert, die ich in Kap. 1.3 darlege. Eine eigene Übersetzung ist beigegeben. In einem detaillierten Zeilenkommentar wird der Text formal, sprachlich und inhaltlich erschlossen. Dem Kommentar eines jeden Gedichtes ist zudem eine Einleitung vorangestellt, die in Form eines kurzen Essays allgemeine Hinweise zu Strukturen, Themen, literarischen Formen und Motiven, wichtigen Prätexten und ähnlichem bietet. Ein Schwerpunkt der Kommentierung liegt auf der Antikenrezeption, doch wurden auch neulateinische Prätexte berücksichtigt. Einige strukturell wichtige Vorbilder konnten dabei vollständig erfasst werden, 34 doch war dies selbstredend nicht für den gesamten Bereich der neulateinischen Literatur möglich, zumal ein Großteil des vorhandenen Materials nach wie vor weder in modernen Editionen zugänglich noch systematisch erfasst ist. In einem allgemeinen Kapitel zum Buch Lalage sive Amores Pastorales werden die Beobachtungen des Kommentars zusammengefasst und ausgewertet. 35 30 Dort findet sich auch eine Auflistung der Werke in verschiedenen biographischen und bibliographischen Lexika. 31 Zum Emblembuch z.B. Ginzburg 1976, 38-41; Screech 1980, 262. Zu den Poemata z.B. Vosters 1997, bes. 301-303. Lal. 17 hat Eingang in eine moderne Gedichtsammlung gefunden, die im Internet über die Universität Leiden aufgerufen werden kann: J.P. Guépin: Liefdesgeluk. een verzameling zoete gedichten. Im chronologisch geordneten Abschnitt VII B (Vota; Dankbetuigingen) ist als Nummer acht Schoonhovens Carmen 17 aufgenommen. Vgl. folgende Internetadresse: http: / / www.let.leidenuniv.nl/ Dutch/ Latijn/ GelukTekst.html. 32 Literatur und Archivmaterial zur Biographie sind in Kap. 1.1.1, Anm. 36 verzeichnet. 33 Kap. 1.1.2. 34 Z.B. Navageros Lusus und die Lusus Pastorales des Flaminio; s. auch Kap. 1.2.2.1. 35 Kap. 1.2. <?page no="18"?> 1 Einleitung 18 1.1 Floris van Schoonhoven 1.1.1 Biographie Floris van Schoonhoven 36 (lateinisch: Florens oder Florentius Schoonhovius) wurde um das Jahr 1594 37 in Gouda geboren. Er stammte nach Walvis aus einer der angesehensten und ältesten Familien der Stadt. 38 Sein Vater Dirck Jacobsz., 39 der es in Gouda bis zum Amt des Bürgermeisters brachte, 40 kam jedoch ursprünglich wohl aus Schoonhoven. 41 Im Jahr 1590 heiratete er in Gouda Niesje Verharst, deren Vater, Floris Gysberse Verharst, in den Jahren 1578-1579 Bürgermeister gewesen war. 42 Dirck Jacobsz. 36 Schon zu Lebzeiten wurde Floris van Schoonhoven in den Athenae Belgicae des Franciscus Sweertius erwähnt (Antwerpen 1628, 237). Die Angaben sind dort jedoch dürftig: „Florentius Schoonhovius Goudanus, Batavus, Poëta, scripsit adolescens … [Aufzählung der Werke].“ Ähnlich Foppens’ Eintrag (Bibliotheca Belgica, Brüssel 1739, 279) sowie Zedler (Erstdruck Leipzig/ Halle 1743); noch knapper ist C. J. de Lange van Wijngaerdens Vermerk in der „Geschiedenis der Heeren en Beschrijving der Stad van der Goude“ (Amsterdam/ Den Haag 1817, 2. Teil, 167). Die erste Kurzbiographie Schoonhovens ist in der 1714 erschienenen Stadtgeschichte Goudas enthalten, die der katholische Priester Ignatius Walvis verfasste (Beschryving der Stad Gouda, Teil 1, 312-313). Als nächstes ist Paquot zu nennen (Memoires pour servir à l’histoire litteraire, Bd. 3, Löwen 1770, 258- 260), der vor allem Verwandte Schoonhovens aufzählt und weitere Personen aus seinem Umfeld in Gouda und Leiden nennt. Außerdem bietet Paquot eine recht detaillierte Beschreibung von Schoonhovens Werken. Biographische Wörterbücher des 19. und 20. Jahrhunderts stützen sich im Wesentlichen auf Walvis und Paquot; vgl. z.B. van der Aa 1874, 129; Fruytier 1924, 1230-1231. Auch weitere biographische Einträge jüngeren Datums scheinen direkt oder mittelbar auf diese frühen Quellen zurückzugehen, wie die unreflektierte Übernahme zum Teil falscher oder ungenauer Informationen zeigt. So wiederholt noch Köhler (1995, 759) Paquots Angabe, Schoonhoven sei 1618 in Leiden zum Doctor Iuris promoviert worden - tatsächlich geschah dies 1614 in Orléans (s.u.). Eine sorgfältig recherchierte Biographie bietet erst Enenkel (1999a, 177-180), der neben Walvis auch weitere gedruckte Quellen sowie Archivmaterial heranzieht. Ahsmann (1990, 541) verzeichnet Daten, die Schoonhovens beruflichen Werdegang betreffen. Zusätzliche Informationen vor allem zu Schoonhovens Amt als Deichgraf (s.u.) sind bei van Aesch zu finden (1981, 3-5; 2004, 20). 37 Vgl. Walvis 1714, Teil 1, 312: „in of ontrent den jaare 1594.“ Bei seiner Immatrikulation am 31. Mai 1611 war Schoonhoven 17 Jahre alt; vgl. Album studiosorum Academiae Lugduno Batavae, 1875, 101. Ein Porträt, das auf den ersten Seiten des 1618 erschienenen Emblembuchs abgedruckt ist, zeigt Schoonhoven aetatis suae XXIV. 38 Vgl. Walvis 1714, Teil 1, 312: „Florentius Schoonhoven uit een der aloudste en beste stamhuizen Ter Goude … gesproten.“ 39 = Jacobszoon. 40 Vgl. Walvis 1714, Teil 1, 87-88. 41 Van Aesch (1981, 2) nimmt an, dass Dirck Jacobsz. in Schoonhoven geboren wurde. Seine Eltern waren Jacob Anthonisz. und Catharina Symonsdr. [= Symonsdochter]. 42 Vgl. Walvis 1714, Teil 1, 82 und 312. Zuvor war er in den Jahren 1567, 1569, 1570, 1574 und 1575 Schöffe; vgl. Walvis 1714, Teil 1, 80. <?page no="19"?> 1.1 Floris van Schoonhoven 19 Schoonhoven und Niesje Verharst hatten sechs Töchter; Floris war der einzige Sohn. 43 Wohl zunächst noch unter dem Rektorat des Dirck Traudenius, 44 dann des Willem Traudenius 45 besuchte Floris van Schoonhoven die Lateinschule in Gouda. 46 Gedichte und Widmungen seiner späteren Werke belegen, dass er von Willem Traudenius unterrichtet wurde. 47 Paquots Angabe, Schoonhoven habe auch bei Traudenius logiert, bezieht sich wahrscheinlich auf ein Widmungsgedicht an dessen Sohn Gerard Traudenius. 48 Abb. 1: Lateinschule in Gouda Nach Abschluss der Schullaufbahn nahm Schoonhoven in Leiden ein Studium der Rechte auf. In den Varia Carmina beschreibt er seinen Aufbruch aus Gouda in zwei Abschiedsgedichten an seinen Garten und die Musen. 49 43 Vgl. van Aesch 1981, 2. 44 Rektor seit 1602; vgl. Walvis 1714, Teil 1, 217. 45 Rektor seit 1607, 1614 abgelöst von seinem Sohn Gerard Traudenius; vgl. Walvis 1714, Teil 1, 217 und 312. 46 S. Abb. 1. 47 Vgl. Embl., S. 232-233 (Poemata aliquot): Ad doctissimum virum, D. Gulielmum Traudenium, praeceptorem olim suum; Poemata antehac non edita, S. 99: Ad doctissimum virum, D. Gulielmum Traudenium, praeceptorem optime de me meritum; Poemata, S. 177-178 (Widmung der Hymni Poenitentiales): Doctissimo, praestantissimoque viro, D. Gulielmo Traudenio, Goudanae Scholae moderatori vigilantissimo, et praeceptori meo numquam satis colendo. s. 48 Vgl. Paquot 1770, 258; Schoonh. Poemata, S. 151 (Widmung des Buches Bucolica): … hasce meas Eclogas, domi tuae (ut scis), humanissime Traudeni, natas, tibi offerre placuit. Solche Arrangements waren durchaus üblich; vgl. z.B. Enenkel 1997, 18-19 zum contubernium des Justus Lipsius mit seinen Schülern. 49 Var. Carm., S. 81-83: Leydam tendens hortulo suo valedicit; S. 109-110: Iuri operam daturus suis Musis valedicit. <?page no="20"?> 1 Einleitung 20 Beide sind Loblieder auf das ruhige und schlichte Landleben fern vom Lärm der Stadt; vgl. z.B. S. 109: strepitu carentes semper ambivi dies, / pertaesus urbis saepe rus me contuli. 50 Dieses mußevolle Leben musste Schoonhoven nun auf Geheiß seiner Eltern aufgeben: severiora Bartoli 51 volumina / Themidosque templum … / lustrare cogor iussibus parentium. 52 Dass die Aufnahme eines Jurastudiums gegen den eigenen Willen erfolge, ist jedoch topisch und sollte daher nicht überbewertet werden. Enenkel schreibt zum Bildungsweg (studia humanitatis): „In den humanistischen Autobiographien finden sich Standardfaktoren, die diesen Weg behindern: engstirnige Eltern, die ihre Söhne zum verhaßten Jura- oder Medizinstudium zwingen, unfähige und begriffsstutzige Lehrer …, widrige finanzielle Umstände, die zur Ausübung trivialer Tätigkeiten verpflichten usw.“ 53 Den Garten bei Gouda, den seine Familie besaß, besingt Schoonhoven übrigens auch in weiteren Gedichten der Varia Carmina. 54 Gouda war von zahlreichen Gärten umgeben, deren Gedeihen Walvis der guten Luft und der Sauberkeit der Stadt zuschrieb, da aller Unrat von der Hollandsé IJssel, einem Fluss mit Tidenhub, weggespült werde. 55 Verse wie dum volvit trepidans lympha lapillulos 56 legen nahe, dass Schoonhovens Garten sich in der Nähe eines Flusses befand. Enenkel vermutet ihn an der Gouwe, da Schoonhoven wohl auf dem Wasserwege, also zunächst auf der Gouwe, nach Leiden reiste und dort vielleicht Abschied nehmend zu seinem Garten zurückgeblickt habe. 57 Andererseits weidet der Hirte Daphnis im Lalage- Zyklus seine Schafe an der Hollandsé IJssel. 58 Über die tatsächliche Lage eines Gartens der Familie Schoonhoven lässt sich nur spekulieren. Die Ruhe und Abgeschiedenheit des Gartens oder allgemein des Lebens auf dem Lande lädt in besonderer Weise zur Meditation und zum Dichten 50 Das Motiv kommt auch sonst in den Varia Carmina vor; vgl. z.B. S. 99: linquamus strepitus furentis urbis, / secessus tacitos petamus horti. 51 Bartolus de Saxoferrato (~1313-1357), berühmter Rechtsgelehrter des Mittelalters, dessen Schriften bis ins 18. Jahrhundert als Standardwerke galten. Vgl. Weimar 1980, 1500-1501. 52 Var. Carm., S. 109. 53 Enenkel 1997, 16. 54 Vgl. z.B. S. 25-26: Ad hortulum suum sub adventum hiemis; S. 50: Laus horti; S. 52-53. 55 Vgl. Walvis 1714, Teil 1, 28. Walvis behauptet gar, dass man nirgends sonst in Holland eine Stadt finde, die von einer solchen Menge an Gärten umgeben sei. Zur IJssel s. den Komm. zu Lal. 5,3: Isula. 56 Var. Carm., S. 50; Enenkel (1999b, 221, Anm. 36) zitiert S. 98: nuper aprico residens in horto, / … qua susurranti fluvius perennis / murmure manat. 57 Vgl. Enenkel 1999b, 205 mit Anm. 36. Er schränkt jedoch ein, dass sich ein „unumstößlicher Beweis“ für die Lage des Gartens aus den vorhandenen Stellen nicht gewinnen lasse, und verweist dabei auch auf die Topik des locus amoenus. (S. dazu den Komm. zu Lal. 1,6-12.) 58 S. Lal. 5,3 mit Komm. <?page no="21"?> 1.1 Floris van Schoonhoven 21 ein. 59 In seinem Abschiedsgedicht an die Musen kündigt Schoonhoven jedoch an, sich auch während des Studiums in Leiden weiterhin seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen zu wollen, so ihm Zeit dazu bleibe: me dedo Iuri, sed tamen, quando mihi / potero vacare, vos [sc. Musas] revisam sedulo. 60 Das Erscheinen seiner Werke in späteren Jahren zeigt, dass Schoonhoven diesem Vorsatz treu blieb. Sein Gedichtband Poemata antehac non edita, in dem auch das Buch Lalage sive Amores Pastorales enthalten ist, wurde 1613 in Leiden gedruckt. Auch das Emblembuch, das erst 1618 in Gouda herausgegeben wurde, war wohl noch während der Studienjahre entstanden. 61 Doch kehren wir zurück zu Schoonhovens beruflichem Werdegang. Am 31. Mai 1611 immatrikulierte er sich im Alter von siebzehn Jahren an der damals noch jungen Universität Leiden 62 als Philosophiae studiosus. 63 Abb. 2: Academiegebou in Leiden (Gebäude der Universität seit 1581) Dass Jurastudenten sich zunächst den artes widmeten, war durchaus üblich, selbst wenn sie - was wir in Schoonhovens Fall aufgrund seines Alters annehmen können - die Lateinschule abgeschlossen hatten. Der Grund 59 Vgl. z.B. Var. Carm., S. 18-19: melius ruri quam in urbibus scribi carmina; s. auch die Einleitung zu Eleg. 2. 60 Vgl. Var. Carm., S. 110. 61 1613-1614. Zum Werk s. ausführlicher Kap. 1.1.2. 62 Gegründet 1575. S. Abb. 2. 63 Vgl. Album Studiosorum Academiae Lugduno Batavae, 1875, 101: „Maii. (…) 31. (…) F LORENTIUS S CHOONHOVEN Goudanus. 17, P.“ <?page no="22"?> 1 Einleitung 22 dafür war vor allem, dass eine gute Beherrschung der Unterrichtssprache Latein auch für das Jurastudium unabdingbar war. 64 Schoonhoven studierte unter anderem bei Dominicus Baudius 65 und Daniel Heinsius. 66 Anhand eines Tagebuches des Juraprofessors Everard Bronchorst lassen sich einige Stationen von Schoonhovens Studium rekonstruieren. 67 So nahm er an einem privaten Kolloquium mit insgesamt acht genannten Studenten teil, das Bronchorst am 31. Oktober 1612 einrichtete. 68 Bronchorst war ein leidenschaftlicher Befürworter der Disputatio und hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass diese Form wissenschaftlichen Disputierens sich an der Universität Leiden etablierte. 69 Dabei verteidigte ein Student (defendens oder respondens) unter dem Vorsitz eines praeses einige Thesen gegen die Argumente anderer Studenten (opponentes). 70 Disputationes konnten übungshalber oder pro gradu abgehalten werden. 71 Für Bronchorst hatten die Disputationen vor allem einen didaktischen Nutzen: Die Studenten sollten zum einen lernen, ihren Standpunkt in kontroversen Diskussionen zu überprüfen (Wahrheitsfindung), und zum anderen das Reden und Diskutieren an sich üben - eine für ihren späteren Beruf als Rechtsanwälte unabdingbare Fähigkeit. 72 Am 20. Juni 1613 wurde Schoonhoven zur Feier anlässlich der am Vortag gehaltenen Disputation von Everard Bronchorsts Sohn Gerardus eingeladen, da er ihm ein Gratulationsgedicht geschrieben hatte. 73 Wenige Monate später opponierte er bei der Disputation des Carolus Gallus. 74 Schoonhoven selbst hielt seine disputatio pro gradu am 11. Juni 1614 unter dem 64 Vgl. Ahsmann 1990, 248 mit Anm. 103. 65 Zu Baudius’ Einfluss auf Schoonhoven vgl. Enenkel 1999a, 177 und 183-185. 66 Beide schrieben für seine Poemata kurze Ehrengedichte. S. dazu Kap. 1.1.2. 67 Vgl. auch Enenkel 1999a, 177 mit Anm. 4. 68 Vgl. Bronchorst 1898, 126: 31 Octobris institui privatum collegium disputantium Institutiones, primaque eo die habita disputatio respondente Carolo Gallo. Collegarum nomina haec sunt: 1 Carolus Gallus, 2 Lambertus Beyma, 3 Gerardus Bronchorst, 4 Gerardus Voet, filius Cancellarii Geldriae, 5 Cornelius à Santhorst, 6 Petrus Bezemerus, 7 Theophilus de Katz Zelandus et 8 Florentius Schoonhovius. 69 Vgl. Ahsmann 1990, 275. 70 Vgl. Ahsmann 1990, 275; Marti 1994, 866-867. 71 Vgl. Ahsmann 1990, 288-289. 72 Vgl. Ahsmann 1990, 276. 73 Vgl. Bronchorst 1898, 134: [Junius] 19 respondit filius Gerardus, me praeside, de Emptione et venditione publice, accurate et confidenti animo. Opposuerunt Berkius, Lanschott, Carolus Gallus, Lambertus Beyma, Santhorst et Theophilus Katz. 20 Exhibui domi convivium, quo vocavi omnes praedictos opponentes, praeterea Florentium Schonhovium, qui scripserat filio carmen gratulatorium, Petrum Bezemerum et quendam Loo, studiosum Juris, cum D. Vorstio et uxore ejus. 74 Am 26. Oktober 1613; vgl. Bronchorst 1898, 137: 26 Octob. respondit me praeside Carolus Gallus, cognatus, de XX Controversi juris assertionibus, promte et erudite. Opposuerunt Florentius Schonhoven, Petrus Bezemerus, filius Gerardus, Lambertus Beyma et Cornelius à Santhorst. <?page no="23"?> 1.1 Floris van Schoonhoven 23 Vorsitz Bronchorsts zum Thema De Legatis; es opponierten vier Studenten, darunter Gerardus Bronchorst. 75 Everard Bronchorst nennt Schoonhovens Leistung promte et egregie. Dies ist als ernst gemeintes Lob zu werten, denn oft genug kommen auch Urteile wie mediocriter 76 oder gar timide et parve 77 vor. Nach Abschluss des Studiums begab Schoonhoven sich im Sommer 1614 auf eine peregrinatio Academica, die ihn nach Orléans führte. Dort immatrikulierte er sich am 23. September 78 und wurde am 10. November zum Doctor Utriusque Iuris promoviert. 79 Von Orléans reiste er weiter nach Angers, wo er sich am 23. Dezember in das Album van de Nederlandse Natie te Angers eintrug. 80 Abb. 3: Album van de Nederlandse Natie te Angers, Fol. 16 r In der Mitte der Seite prangt ein farbiges Wappen; darüber ist der Wahlspruch servire tempori, et loco, est politicum gesetzt. Rechts unter dem Wappen ist der Eintrag mit Namen, Herkunft, Ort und Datum gezeichnet: Florentius Schoonhovius / Gouda-Batavus / Anno 1614 Die 23 Decembris / Andega- 75 Vgl. Bronchorst 1898, 140: 11 Junii respondit me praeside Florentius Schonhovius de Legatis, promte et egregie. Opponebant Bezemerus, Carolus Gallus, filius meus et Santhorst. 76 Vgl. z.B. Bronchorst 1898, 138 (Johannes Cock, 27. Januar 1614). 77 Vgl. Bronchorst 1898, 137 (Arnoldus Westrein, 11. Dezember 1613). 78 Vgl. Ahsmann 1990, 541. 79 Vgl. Ahsmann 1990, 541; Huijbrecht [u.a.] (Hgg.): Album Advocatorum, 1996, 280. 80 Fol. 16 r; heute in der Koninklijke Bibliotheek in Den Haag; Signatur: 77 K 5. S. Abb. 3. <?page no="24"?> 1 Einleitung 24 vi. Das Wappen, gemalt in der üblichen Form mit Helm über dem eigentlichen Wappen und Federbusch, ist zweigeteilt. Die linke Hälfte zeigt den roten Löwen von Süd-Holland, der über dem Helm noch einmal dargestellt ist. 81 In der rechten Hälfte sieht man das eigene Wappen Floris van Schoonhovens. 82 Dieses Wappen ist noch heute auch an seinem Haus „De Wildeman“ in Gouda (Westhaven 40) zu sehen, das er im Jahre 1634 kaufte. 83 Abb. 4a: Haus „De Wildeman“ (rechts) und Nachbarhaus, Gouda, Westhaven Abb. 4b: Wappen an Schoonhovens Haus (auf dem Absatz über der Glasfront) Nach seiner Bildungsreise kehrte Floris van Schoonhoven nach Gouda zurück, wo er bis zu seinem Lebensende wohnte. Am 7. August 1616 heiratete er Annetgen Thomasdr. 84 Sie hatten mehrere Kinder, von denen jedoch 81 Zu dieser Darstellungsform (Wappen mit Helm und Federbusch, roter Löwe im Wappen und noch einmal über dem Helm) vgl. z.B. De Nederlandsche Provinciewapens naar Heraldische Gegevens ± 1500; dort in der Beilage die Abbildung des Wappens „Zuid Holland.“ 82 Die „fasces“ sind das Wappenzeichen des Geschlechts van Arkel; vgl. Sierksma 1960, 24 (Bild) und 165-166 (Beschreibung). Sie kommen in den Wappen vieler Orte dieser Region vor, die mit dem Geschlecht van Arkel in Verbindung standen; so z.B. Leerbroek, Schoonrewoerd, Vuren und etliche mehr. (Vgl. Sierksma 1960, 84/ 204; 122/ 228; 139/ 240.) Im Album van de Nederlandse Natie te Angers übernimmt Schoonhoven noch die Farben des Wappens van Arkel (silber mit rot; vgl. Sierksma 1960, 165-166); das Wappen an seinem Haus trägt dagegen die Farben golden auf blauem Grund. Eine Schwarz-Weiß-Zeichnung bietet van Aesch 1981, 5: „Wapen van Mr. Floris Schoonhoven.“ 83 S. Abb. 4 (a und b). In dem benachbarten Haus (Westhaven 42) wohnte Floris van Schoonhovens Vater. Vgl. van Aesch 1981, 3. 84 Vgl. Trouwboek van de Nederduits-Gereformeerde gemeente (St. Janskerk), 1574-1617 (tweede gedeelte). fol. 305 r, Streekarchief Midden-Holland, Signatur: G OUDA DTB 15. Vgl. auch Enenkel 1999a, 177 mit Anm. 7. <?page no="25"?> 1.1 Floris van Schoonhoven 25 mindestens zwei bereits in jungen Jahren starben. 85 Drei Kinder lebten zum Zeitpunkt von Schoonhovens Tod noch. 86 Beruflich war der nächste Schritt nach Jurastudium und Promotion traditionell die Zulassung als Advokat am Hof van Holland in Den Haag. 87 Schoonhoven legte seinen Eid 88 am 6. Juni 1617 ab. 89 Die recht lange Zeit zwischen Promotion und Zulassung lässt sich damit erklären, dass das Jurastudium sehr theoretisch angelegt war und die Absolventen sich danach durch Lehrbücher und Hospitieren bei Staatsanwälten erst mit der Rechtspraxis vertraut machen mussten. 90 Der Eid musste jeweils am ersten Rechtstag nach Dreikönig („Koppermaandag“) erneuert werden; andernfalls erlosch die Zulassung automatisch. Machte ein Anwalt anderweitig Karriere, so dass die Zugehörigkeit zum Hof van Holland beruflich keine Bedeutung mehr für ihn hatte, schwand natürlich der Anreiz, sich jedes Jahr erneut in Den Haag registrieren zu lassen. 91 Da Schoonhoven sich in Gouda als Rechtsanwalt niederließ, ist davon auszugehen, dass er diese Mühe recht bald nicht mehr auf sich nahm. 92 Der Religionsstreit innerhalb der Niederländischen Reformierten Kirche (Hervormde Kerk) beeinflusste Schoonhovens weiteres Leben. 93 Zu Beginn 85 Im November 1620 und im Juni 1632. Vgl. Streekarchief Midden-Holland, Index op de rekeningen wegens begraven in/ bij de St.-Janskerk te Gouda 1575-1670, band 3 (Mars-Z), S. 641- 642; Archief van de kerkmeesters van de St.-Janskerk te Gouda, 1572-1820 (ac 566), Jaarrekeningen 1632 (566, inv.nr. 302, fol. 10 v): „Een kint van Mr. Floris Schoonhoven.“ 86 Vgl. Streekarchief Midden-Holland, Sterftelijsten St.-Janskerk, 1634 sept. - 1653 februari (vele hiaten), G OUDA DTB 25, September 1648: „mister Floris Schoonhoven op de haven 3 kinderen.“ Nach Walvis (1714, Teil 1, 313) waren es drei Töchter. 87 Vgl. Huijbrecht [u.a.] (Hgg.): Album Advocatorum, 1996, 8: „De grote traditie was, dat men eenmaal afgestudeerd en gepromoveerd advocaat bij het Hof werd zoals zovelen eerder hadden gedaan. Steeksproeven maken het aannemelijk dat slechts weinig van Hollandse universiteiten afkomstige juristen deze stap niet namen.“ 88 Der angehende Advokat musste geloben, seine Vorgesetzten zu ehren, kein Unrecht zu tun, sich mit den festgelegten Taxen zufriedenzugeben usw.; darüber hinaus war ein Treueeid gegenüber den Staten van Holland, Zeeland en Friesland abzulegen. Vgl. Huijbrecht [u.a.] (Hgg.): Album Advocatorum, 1996, 7. 89 Vgl. Tweede Deel van het Register van de Hove, Nationaal Archief, Den Haag, Hof van Holland, 1428-1811, 3.03.01.01, inv.nr. 5943. Vgl. auch Huijbrecht [u.a.] (Hgg.): Album Advocatorum, 1996, 280; Ahsmann 1990, 541. 90 Vgl. Huijbrecht [u.a.] (Hgg.): Album Advocatorum, 1996, 12. 91 Vgl. Huijbrecht [u.a.] (Hgg.): Album Advocatorum, 1996, 8 und 20. 92 Überprüfen konnte ich dies erst für die Jahre ab 1631, in denen Schoonhoven tatsächlich nicht mehr registriert ist. Vgl. die Lijsten van de jaarlijks op Koppermaandag gerecenseerde advocaten, procureurs, deurwaarders, boden en opperklerken van de procureurs, wel aangeduid als boden van de Staten en de beide Hoven. 1631-1699, Nationaal Archief, Den Haag, Hof van Holland, 1428-1811, 3.03.01.01, inv.nr. 5991. 93 Vgl. im Folgenden Wüllschleger 1989, 19-27 (sehr übersichtlich gestalteter Überblick über die Hintergründe und den Gang der Ereignisse); Eijnatten/ Lieburg 2005, 175-177; <?page no="26"?> 1 Einleitung 26 des 17. Jahrhunderts hatte der theologische Disput zwischen Franciscus Gomarus und Jacobus Arminius in Leiden für Aufsehen gesorgt. 94 Arminius propagierte eine gemäßigte Form der Prädestinationslehre, die von den konservativen Gomaristen als Ketzerei angesehen wurde. Auch nach Arminius’ Tod im Jahre 1609 verloren die dogmatischen Streitigkeiten keineswegs an Schärfe. Als die Arminianer 1610 in einer „Remonstrantie“, 95 nach der sie im Folgenden auch als Remonstranten bezeichnet wurden, die Staten van Holland um Beistand anriefen, erhielt der Konflikt eine politische Dimension. Die Gomaristen antworteten 1611 mit einer Gegenschrift („Contra-Remonstrantie“). Johan van Oldenbarneveld und die Staten van Holland unterstützten die Arminianer, während sich die übrigen niederländischen Provinzen unter der Führung von Prinz Maurits von Oranien auf die Seite der Gomaristen oder Contra-Remonstranten stellten. 1618 ließ Prinz Maurits Oldenbarneveld und andere führende Persönlichkeiten der Arminianer 96 ihres Amtes entheben; die Betroffenen wurden gefangen genommen oder flüchteten ins Ausland. Bei der anschließend einberufenen Synode von Dordrecht (13. November 1618 - 29. Mai 1619) hatten die Gomaristen von vornherein das Übergewicht. Im Januar 1619 wurden die Remonstranten von der Synode ausgeschlossen. Die Lehre der Contra-Remonstranten wurde bestätigt, Zusammenkünfte der Remonstranten verboten. Floris van Schoonhoven spielt bereits in einem Gedicht der Hymni Poenitentiales, die zu den 1613 in Leiden veröffentlichten Poemata antehac non edita gehören, auf die dogmatischen Streitigkeiten an. 97 Er nennt als Kernpunkte des theologischen Disputes die Prädestinationslehre und die Frage, ob der Mensch über einen freien Willen verfüge. Schoonhoven tadelt die streitenden Parteien, die sich in ihrem Bestreben, mit guten Argumenten zu glänzen, nicht mehr darum kümmerten, gut zu leben und gut zu sterben. 98 Was Gott verborgen habe, solle man nicht zu ergründen trachten. Auch in seinem 1618 erschienenen Emblembuch äußert Schoonhoven sich mehrfach zu dem Religionis dissidium. 99 In Emblem 3 mit dem Titel Altum sapere pericolosum warnt er davor, durch Streit um Dinge, die dem Abels 2002, 425-432 (Entwicklung in Gouda). Vgl. auch Enenkel 1999a, 179. Die Literatur, die Enenkel dort in Anm. 20 nennt, ist unterschiedlich ergiebig. Sehr ausführlich van Deursen 1974; informativ und übersichtlich Hoenderdaal/ Luca 1982. 94 Gomarus war seit 1594 Professor an der Universität Leiden, Arminius wurde 1603 berufen. Beide gaben ihre Auffassungen in öffentlichen Diskussionen kund. Da Schoonhoven erst 1611 nach Leiden kam, als Arminius bereits gestorben war, erlebte er selbst dies nicht mehr mit. 95 Darlegung der theologischen Kernpunkte der Arminianer. 96 Den Juristen Hugo de Groot und den Hofprädikanten Johannes Uytenbogaert. 97 Vgl. Hym. Poen., S. 195-196, Carmen XIV. 98 Vgl. Hym. Poen., S. 196: disputare cuncti / malunt, quam bene vivere atque obire. 99 Dazu ausführlich Enenkel 1999a, 179-181. <?page no="27"?> 1.1 Floris van Schoonhoven 27 menschlichen Verstand ohnehin verborgen blieben, einen Bürgerkrieg zu provozieren. 100 In seiner Widmung des Emblembuches an den Stadtrat Goudas lobt er die Viri Amplissimi dafür, dass sie in Gouda die Einheit der Religion erhalten und so die Stadt vor den üblen Folgen des Religionszwistes bewahrt hätten. 101 Schoonhovens Haltung ist offensichtlich von humanistischen Idealen geprägt. Religiöser Fanatismus und daraus resultierender Unfrieden bis hin zu einem möglichen Bürgerkrieg werden auf das schärfste verurteilt. 102 Das trifft auf das oben genannte Gedicht der Bußhymnen ebenso zu wie auf mehrere Embleme. 103 Die Widmung an den Stadtrat passt jedoch bei näherem Hinsehen nicht ganz in dieses Bild. Dies zeigt sich, wenn man - was bislang niemand unternommen hat - die Zueignung im Kontext der Religionspolitik Goudas in den ersten zwei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts betrachtet. Gouda stand auf Seiten der Arminianer. Auch die Familie von Dirck Jacobsz. Schoonhoven, der im Stadtrat zahlreiche Ämter bekleidete und mehrfach Bürgermeister war, 104 gehörte der Gemeinde der Remonstranten an. 105 Die Gomaristen bildeten in Gouda eine religiöse Minderheit und wurden verfolgt. Bei Missachtung des Verbotes, Gottesdienste abzuhalten, konnten sie aus der Stadt vertrieben werden. Dies änderte sich erst im Oktober 1618, als Prinz Maurits mit militärischer Gewalt drohte. 106 Die Widmung in Floris van Schoonhovens Emblembuch ist jedoch auf den 1. 100 Vgl. bes. Embl., S. 10-11. 101 Vgl. Embl., S. II und III. 102 Vgl. bes. Enenkel 1999a, 178: „He had strong affinities with tolerant humanism“; Ginzburg 1976, 39: „Schoonhovius decided to publish his emblem-book, as a plea for religious peace.“ Wie Enenkel gezeigt hat (1999a, 182-185), war Schoonhoven von Justus Lipsius’ Politica beeinflusst, vermittelt möglicherweise durch Dominicus Baudius, den Schoonhoven während seines Studiums in Leiden selbst hörte. Enenkel hebt besonders Lipsius’ Verurteilung des Bürgerkrieges hervor, der Schoonhoven teilweise im Wortlaut folgt. 103 Bes. Emblem 3 (S. 9-12): Altum sapere periculosum (Mahnung, nicht aufgrund von dogmatischen Streitigkeiten einen Bürgerkrieg zu riskieren); Emblem 4 (S. 13-14): In publico malo felices (Verurteilung von Kriegsgewinnlern). 104 1599 wurde er Mitglied des Stadtrats, 1603 nachberufen als Vorsitzender des Kirchenvorstandes (Fabriekmeester), 1604 Schatzmeister (Tresorier), 1605 Schöffe und zwischen 1611 und 1616 mehrfach Bürgermeister. Vgl. Walvis 1714, Teil 1, 85; 87-88; 312; van Aesch 1981, 3. Zudem war er 1601-1603 und 1605-1606 Raad ter Admiraliteit van Amsterdam, 1608-1610 und 1617-1618 Mitglied der Gecommiteerde Raden van Holland en West- Friesland und 1614-1618 Dijkgraaf van de Krimpenerwaard. Vgl. van Aesch 1981, 2-3. 105 Dies ergibt sich aus der Rolle, die Dirck Jacobsz. Schoonhoven bis zum Jahre 1618 im Stadtrat Goudas spielte. Zudem war die Familie nicht in der Mitgliederliste der „dissidierenden“ Contra-Remonstrantischen Gemeinde von 1617 verzeichnet. Vgl. Abels 1989, 85-86: „Register van Lidmaten der Dolerende Gemeente van Gouda.“ 106 Vgl. Abels 1989, 75-84. <?page no="28"?> 1 Einleitung 28 März 1618 datiert, als der remonstrantisch gesinnte Stadtrat noch fest im Sattel saß. Die von Schoonhoven hochgelobte Einheit der Stadt in religiösen Belangen war also keineswegs die Folge einer besonderen Fähigkeit der städtischen Regierung, die verfeindeten Parteien zu einen, sondern die „Einheit“ wurde durch konsequente Unterdrückung der Minderheit erreicht. Vor diesem Hintergrund kann vor allem Emblem 66 (Principiis mali obstandum; Embl., S. 197-198) nicht als Propagierung humanistischer Ideale verstanden werden. 107 Ich zitiere einige Auszüge: Monetur autem hoc Emblemate Princeps seditiosos et conclamatae nequitiae cives merita poena punire et e Republica sua eicere. … Multos servamus, dum unum tollimus. … Melius enim est, ut pereat unus quam unitas, membrorum potius aliquod quam totum corpus intereat. Sed haec omnia moderate et pro delicto. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass Schoonhoven Frieden und innere Einheit wichtiger sind als der Gedanke der Toleranz. Dazu kommt, dass Schoonhoven und seiner Familie mit dem Erhalt des Status quo in Gouda gedient war, während ein Bürgerkrieg die eigene Situation nur verschlechtern konnte. Die weitere Entwicklung bestätigte dies. Sobald Prinz Maurits Soldaten vor Gouda aufmarschieren ließ, 108 gab sich die remonstrantisch gesinnte Regierung kampflos geschlagen. Am 1. November 1618 entließ Prinz Maurits den alten Stadtrat in Gouda, dem auch Schoonhovens Vater angehört hatte. 109 Dirck Jacobsz. bekleidete danach in Gouda kein Amt mehr. Am 12. November 1618 legte er zudem sein Amt als Dijkgraaf van de Krimpenerwaard nieder, vorgeblich aus Altersgründen, in Wahrheit sicherlich aufgrund der oben beschriebenen Ereignisse. Er erreichte jedoch, dass das Amt auf seinen Sohn überging. 110 Vielleicht war der junge Floris van Schoonhoven, der bislang kein politisches Amt innegehabt hatte, weniger vorbelastet als sein politisch aktiver Vater. Die Aufgabe eines Deichgrafen bestand in der Zeit von 1430-1811 vor allem in der Aufsicht über die Wasserwege und Deiche. In Zusammenarbeit mit dem Dijkcollege musste er darauf achten, dass die Instandhaltungspflichtigen der Pflege der Deiche tatsächlich nachkamen; auch war er 107 Enenkel (1999a, 181) führt das Emblem an, ohne eine Verbindung zu den politischen Ereignissen herzustellen. 108 Vgl. Abels 1989, 83; s.o. 109 Vgl. Walvis 1714, Teil 1, 88: „Op den 1. November, 1618 sijn de voorgaende Magistraten by sijn Princelyke Excellentie afgedanckt, ende van haaren eedt ontslagen …“; Archief van de Oud-Katholieke parochie van de H. Johannes de Doper (St. Jan Baptist) te Gouda, 1627-1967 (ac 92), Aantekeningen van pastoor Ignatius Walvis betreffende kerkelijke zaken sinds 1573, in het bijzonder te Gouda, ca. 1708 (inv.nr. 1), zum Jahr 1618. Vgl. auch van Aesch 1981, 3. 110 Vgl. van Aesch 1981, 3. <?page no="29"?> 1.1 Floris van Schoonhoven 29 zuständig für die Rechtsprechung in diesen Angelegenheiten. 111 Voraussetzung dafür, das hoch angesehene Amt ausüben zu können, waren Besitzungen innerhalb des Gebietes des Krimpenerwaard. 112 Diese hatte Floris van Schoonhoven durch seine Frau Annetgen Thomasdr. erlangt, die aus Haastrecht stammte. 113 In Gouda selbst übte Floris van Schoonhoven nie eine politische Funktion aus. Am 3. Mai 1624 legte er auch das Amt des Deichgrafen nieder. 114 Es wird vermutet, dass der „freiwillige“ Verzicht damit in Zusammenhang gestanden habe, dass Schoonhoven zum katholischen Glauben übergetreten sei. 115 Von der Konvertierung berichtet Walvis in seiner Stadtgeschichte Goudas. 116 Enenkel weist darauf hin, dass diese Angabe nicht durch Archivmaterial belegt sei. 117 Walvis als katholischer Geistlicher habe die Geschichte Goudas aus katholischer Perspektive aufgezeichnet, „and one cannot rule out the possibility that he simply annexed a well-known son of the city to the Catholic cause.“ 118 Andererseits kam Walvis bereits 1688 nach Gouda, 119 nur 40 Jahre nach Floris van Schoonhovens Tod. Es ist sehr gut möglich, dass ihm Dokumente vorlagen, die heute verloren sind, etwa Mitgliederverzeichnisse der katholischen Kirche. Zudem lebten in Gouda zu diesem Zeitpunkt sehr wahrscheinlich noch Menschen, die Floris van Schoonhoven persönlich gekannt hatten, vielleicht sogar Kinder oder Enkel von ihm. Walvis begründet Schoonhovens Konvertierung damit, dass ihn der Religionsstreit zwischen Arminianern und Gomaristen so sehr abgestoßen habe, dass er „zu seiner Mutterkirche zurückgekehrt“ sei. 120 Wahrscheinlicher ist, dass er den Konfessionswechsel zumindest nicht ausschließlich aus idealistischen Motiven vollzog. Spätestens ab 1620 wurden die in Gouda verbliebenen Remonstranten zunehmend verfolgt und an der Ausübung von Gottesdiensten zu hindern versucht. Innerhalb kürzester Zeit schrumpfte die remonstrantische Gemeinde Goudas von mehreren tausend auf einige hundert Mitglieder. 121 Die katholische Kirche in Gouda erhielt in 111 Vgl. van Aesch 1980, 49. 112 Vgl. van Aesch 2004, 18. Das Krimpenerwaard erstreckt sich südlich von Gouda und wird von den Flüssen Hollandsé IJssel (im Norden), Lek (im Süden) und Vlist (im Osten) begrenzt. 113 Vgl. van Aesch 2004, 20. 114 Vgl. van Aesch 1981, 4. 115 Vgl. van Aesch 1981, 4-5. 116 Vgl. Walvis 1714, Teil 1, 313. 117 1999a, 178. 118 Enenkel 1999a, 178. 119 Vgl. Sluijter-Seijffert 1988, 31; Abels 2002, 446. 120 Vgl. Walvis 1714, Teil 1, 313: „d’Opgereze kerktwist tusschen Gommarus en Arminius stiet hem dusdanig dat hy tot sijne moederkerke wederkeerde.“ 121 Vgl. Abels 2002, 431-432. <?page no="30"?> 1 Einleitung 30 dieser Zeit dagegen starken Zulauf. 122 Die Ausübung des katholischen Glaubens war offiziell zwar ebenfalls verboten, doch fanden im Geheimen dennoch Gottesdienste statt, 123 die inoffiziell toleriert wurden. 124 Über Schoonhovens Leben nach 1624 ist wenig bekannt. In Gouda übte er wohl weiterhin seinen Beruf als Rechtsanwalt aus. 125 Im Archiv in Gouda sind auf Microfiche einige zwischen 1625 und 1636 datierte Dokumente einsehbar, die ihn betreffen und zum Teil von ihm unterzeichnet sind. 126 In einer im April 1625 ausgestellten Vollmacht ist er als „Mr. Floris van Schoonhoven, ex goudsche dijkgraef van de Crimpenerwaert“ bezeichnet. 127 Floris van Schoonhoven starb im September 1648. 128 Er wurde in der St.-Janskerk in Gouda begraben. 129 1.1.2 Werke Das Œuvre Floris van Schoonhovens umfasst zwei Werke. 1613 erschien in Leiden der Gedichtband Poemata antehac non edita, der drei Bücher Varia Carmina, den Gedichtzyklus Lalage sive Amores Pastorales, ein Buch Bucolica und ein Buch Hymni Poenitentiales enthält. Etwa zur selben Zeit 130 entstan- 122 Vgl. Sluijter-Seijffert 1988, 27; Abels 2002, 442. 123 Vgl. Leverland 1989, 112; Sluijter-Seijffert 1988, 27. 124 Die Obrigkeit drückte beide Augen zu und ließ sich dies offenbar gut bezahlen. Vgl. Sluijter-Seijffert 1988, 27. 125 Enenkel (1999a, 178) weist darauf hin, dass Schoonhoven, falls er tatsächlich zum Katholizismus übergetreten war, sicherlich von allen offiziellen Ämtern ausgeschlossen, aber nicht notwendig an der Berufsausübung gehindert worden wäre. Dass er bis zu seinem Tod Anwalt blieb, sei auch deswegen wahrscheinlich, weil er im Index der Begräbnisrechnungen noch als Rechtsanwalt bezeichnet werde. Vgl. Index op de rekeningen wegens begraven in/ bij de St.-Janskerk te Gouda 1575-1670, band 3 (Mars-Z), S. 642; Archief van de kerkmeesters van de St.-Janskerk te Gouda, 1572-1820 (ac 566), Jaarrekeningen (566, inv.nr. 317, fol. 26 v), 5. Oktober 1648: „Mr. Florentius Schoonhoven Advocat.“ 126 Streekarchief Midden-Holland, Signatur: G OUDA - index not. akten 1593-1699 = Maat- Schra (band 6), 132/ 119: testament (29. 08. 1631); 179 I/ 102: schuldvordering (10. 10. 1631); 179 II/ 27: volmacht (20. 01. 1633; mit eigener Unterschrift); 180/ 85: overeenkomst (04. 05. 1634; mit eigener Unterschrift); 180/ 107: overeenkomst (09. 06. 1634; mit eigener Unterschrift); 180/ 141: transport (03. 08. 1634); 180/ 553: insinuatie (04. 10. 1636). 127 Streekarchief Midden-Holland, Signatur: G OUDA - index not. akten 1593-1699 = Maat- Schra (band 6), 127/ 141: volmacht (08. 04. 1625; mit eigener Unterschrift). 128 Vgl. Streekarchief Midden-Holland, Sterftelijsten St.-Janskerk, 1634 sept. - 1653 februari (vele hiaten), G OUDA DTB 25, September 1648: „mister Floris Schoonhoven op de haven 3 kinderen.“ Schoonhovens Frau Annetgen Thomasdr. war bereits 1631 gestorben. Vgl. van Aesch 1981, 3. 129 Die St.-Janskerk gehörte zu dieser Zeit zur reformierten Kirche, doch wurden dort sogar katholische Priester beigesetzt. Vgl. Sluijter-Seijffert 1988, 27. 130 Enenkel (1999a, 177-178) vermutet, dass Schoonhoven die Emblemata 1613-1614 verfasste, noch während seiner Studienzeit in Leiden. Schoonhoven selbst schreibt in seinem <?page no="31"?> 1.1 Floris van Schoonhoven 31 den die Emblemata partim moralia, partim etiam civilia, die jedoch erst 1618 in Gouda gedruckt wurden. Die Emblemata erfuhren bereits in den ersten Jahrzehnten nach ihrem Erscheinen mehrere weitere Auflagen. 131 Im Jahr 1975 wurde ein photomechanischer Nachdruck der Erstausgabe angefertigt. 132 Die Poemata antehac non edita haben dagegen nach der Erstausgabe von 1613 keine weiteren Auflagen erhalten. 133 Die erste Übersicht über Schoonhovens Gesamtwerk bieten die Athenae Belgicae des Franciscus Sweertius (erschienen 1628 in Antwerpen, also noch zu Schoonhovens Lebzeiten). Sweertius nennt die einzelnen Bücher der Poemata sowie das Emblembuch. 134 Neben der Aufzählung der Titel finden sich kurze Angaben zu Publikationsort und -jahr. 135 In späteren bibliographischen und biographischen Lexika 136 werden ebenfalls nur die genannten Werke aufgelistet. Auch in der Universitätsbibliothek Leiden und im Streekarchief Midden-Holland in Gouda konnte ich keine Hinweise auf weitere gedruckte Werke Schoonhovens oder auf überlieferte Handschriften finden. Es ist also davon auszugehen, dass er nach dem Emblembuch tatsächlich nichts mehr geschrieben hat. 137 Paquot 138 gibt eine recht detaillierte Inhaltsangabe der Poemata und zitiert zwei Gedichte daraus, 139 während er die Emblemata lediglich erwähnt. Ellinger beschäftigt sich in seiner „Geschichte der neulateinischen Lyrik in den Niederlanden“ 140 mit den Poemata. Neben einem allgemeinen Überblick über die behandelten Themen geht er auf einzelne Gedichte genauer ein. Ellingers Bewertung von Schoonhovens Poesie entspricht jedoch nicht Vorwort an den Stadtrat in Gouda, das auf den 1. März 1618 datiert ist, dass er das Emblembuch drei Jahre lang aufbewahrt habe, bevor der Verleger Andreas Burier ihn zur Veröffentlichung überreden konnte. (Embl., S. III; vgl. auch Enenkels Anm. 3.) Das Werk muss folglich spätestens 1615 vollendet gewesen sein. 131 In der Universiteitsbibliotheek Leiden habe ich neben der Erstausgabe Gouda 1618 noch die Ausgaben Leiden 1626 und Amsterdam 1648 einsehen können. Außerdem existiert eine Auflage Amsterdam 1635. Paquot (1770, 259) verzeichnet zudem eine Ausgabe Amsterdam 1619. 132 Herausgegeben von Dmitrij Tschizewskij, Emblematisches Cabinet, Bd. VII, Hildesheim/ New York 1975. 133 Eine Ausnahme bildet der Gedichtzyklus Lalage sive Amores Pastorales; s. Kap. 1.3. 134 Sweertius 1628, 237. 135 Beim Emblembuch ist der erste Nachdruck (Amsterdam 1619) angegeben; s. Anm. 131. 136 S. Kap. 1.1.1, Anm. 36. 137 Zu diesem Ergebnis kommt auch Enenkel (1999a, 178). Im Erscheinungsjahr der Poemata war Schoonhoven etwa neunzehn Jahre alt, bei der Veröffentlichung der Emblemata nicht älter als vierundzwanzig; s. die Biographie mit Anm. 37. 138 1770, 259-260. 139 Leydam tendens hortulo suo valedicit (Var. Carm., S. 81-83) und Ecloga IV (Buc., S. 164- 167). 140 Ellinger 1933, 285-288. <?page no="32"?> 1 Einleitung 32 den Kriterien moderner Forschung. 141 Grant bietet in seiner Monographie über „Neo-Latin Literature and the Pastoral“ 142 eine kurze, aber treffende Beschreibung von Schoonhovens bukolischer Dichtung, die er als „artpastorals“ charakterisiert. Den besten Eindruck von Schoonhovens Gesamtwerk gewinnt man anhand mehrerer Aufsätze von Enenkel, 143 auf die ich jeweils im Einzelnen verweise. Die drei Bücher V a r i a C a r m i n a nehmen die erste Hälfte der Poemata antehac non edita ein. Varietas wird hier schon durch metrische Vielfalt erreicht. Für viele Gedichte verwendet Schoonhoven die Form horazischer Oden, dazwischen Jamben, Phalaeceen und gelegentlich Hexameter. 144 Er selbst war sich des Unterschiedes bewusst, da er in aller Regel die Gedichte in lyrischen Strophen mit Ode überschreibt, solche in anderen Versmaßen dagegen nicht. Inhaltlich wird Abwechslung vor allem dadurch erzielt, dass die Gedichte jeweils in sich geschlossene Einheiten zu verschiedenen Themen bilden, die in zwangloser Ordnung aufeinanderfolgen. Gemeinsam ist ihnen eine grundsätzlich philosophische Ausrichtung. Schoonhoven kombiniert dabei Elemente der Stoa mit christlichen Einflüssen. Es geht um Fragen der Moral und Ethik, um richtige Erziehung und immer wieder um das wahre Glück. Vieles findet sich in ähnlicher Form schon bei Seneca: 145 Wahrer Reichtum besteht nicht in materiellem Besitz, sondern in einem ruhigen, von zufälligem Glück und äußeren Gütern unabhängigen Leben; ein wahrer König ist nicht jemand mit großer politischer Macht, sondern jemand, der seine Affekte beherrscht; die Seele fühlt sich im Körper gefangen und strebt danach, sich vom Irdischen zu lösen. Ein immer wieder aufscheinender Leistungsgedanke scheint dagegen calvinistischen Ursprungs zu sein. 146 Auch deutet Schoonhoven zum Beispiel die stoische Auffassung, dass der Tod eine Befreiung von den Übeln der Welt und gleichzeitig Geburtstag des ewigen Lebens sei, als christliche Jenseitshoffnung um. 147 141 So schon Enenkel (1999b, 219, Anm. 14), der von „überholten Wertmaßstäben“ spricht. 142 Grant 1965, 182-183. 143 Zum Emblembuch: A Leyden Emblem Book, in: The Emblem Tradition and the Low Countries, 177-195; Florentius Schoonhovius’s Emblemata partim moralia, partim etiam civilia, in: Emblems of the Low Countries, 129-147. Zu den Poemata: Ein holländischer Horaz, in: The Emblem Tradition and the Low Countries, 197-225. 144 Ellingers Behauptung (1933, 285), die Varia Carmina seien „sämtlich in lyrischen Maßen, überwiegend in Odenform“ verfasst, ist also nicht ganz zutreffend. 145 Zum Einfluss Senecas auf Schoonhoven vgl. auch Enenkel 1999b, passim. 146 Vgl. z.B. Var. Carm., S. 22: faber ipse famae ac / nominis esto. 147 Vgl. Sen. ep. 102,26: dies iste, quem tamquam extremum reformidas, aeterni natalis est; dagegen Schoonh. Embl., S. 134-135: huic avi [sc. Phoenici] nos Christiani aequiparandi sumus, cum ille dies quem impii tamquam extremum timent, nobis aeterni natalis sit. <?page no="33"?> 1.1 Floris van Schoonhoven 33 Zur Meditation und geistigen Schau des Himmels laden insbesondere die Ruhe und Abgeschiedenheit des Landes ein. Unter freiem Himmel, fern vom Lärm und Gestank der Stadt, lässt es sich zudem am besten dichten. Konkret nennt Schoonhoven immer wieder seinen Garten in Gouda als Rückzugsort. 148 Das wichtigste literarische Vorbild der Varia Carmina ist Horaz. Enenkel fasst Schoonhovens Horazrezeption folgendermaßen zusammen: „Was sind die Wesensmerkmale, denen sich Schoonhoven verwandt fühlte und die er sich umgestaltend aneignete? Sie betreffen erstens Horaz’ Einstellung zur vita activa-vita contemplativa-Problematik, einschließlich des aurea mediocritasbeziehungsweise paupertas-Ideals; zweitens seine Religion des Dichtertums, einschließlich seines gesellschaftlichen Selbstverständnisses als Dichter; drittens das Modell der dichterischen Inspiration, des furor oder enthusiasmus poeticus; und viertens die stoische Philosophie, die Schoonhoven in den Oden zu entdecken vermeinte.“ 149 Schoonhoven rezipiert insbesondere die Themen des Horaz, die sich mit der stoischen Lehre in Einklang bringen lassen. Enenkel bringt dies auf die Formel, Schoonhoven habe „Horaz mit Seneca kombiniert.“ 150 Die meisten Gedichte der Varia Carmina gehören der gehobenen Poesie an. Trotz der losen Anordnung entsteht insgesamt der Eindruck einer kohärenten philosophisch-christlichen Ethik. Gelegentlich lockert Schoonhoven die Varia Carmina jedoch durch das Einstreuen spielerischer Gedichte auf. So besingt er mit parodistischem Pathos den Tod einer Elster, 151 oder er verwünscht einen Eierdieb, dem im Bauch ein Küken schlüpfen und ihn von innen mit seinem Schnabel quälen solle wie einen zweiten Prometheus. 152 In einer anderen Ode lädt er an einem nebligen Tag Freunde ein, mit ihm zu trinken, denn Wein, in Maßen genossen, fördere das Dichten. 153 Dezidiert spielerisch ist Schoonhovens bukolische Poesie. 154 Auf die Varia Carmina folgt zunächst der Gedichtzyklus L a l a g e s i v e A m o r e s P a s t o r a l e s , der Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Es schließt sich ein Buch B u c o l i c a an, das sechs hexametrische Eklogen enthält. Schoonhoven greift darin konventionelle Themen antiker Bukolik auf. Dazu gehö- 148 S. dazu Kap. 1.1.1. S. ferner die Einleitung zu Eleg. 2. 149 Enenkel 1999b, 198-199. 150 Enenkel 1999b, 212. Die „Stoizierung des Horaz“ führt Enenkel auf Lipsius’ De constantia zurück (Enenkel 1999b, 210). 151 Var. Carm., S. 43-45; s. auch die Einleitung zu Lal. 19. 152 Var. Carm., S. 49; s. auch die Einleitung zu Lal. 11. 153 Var. Carm., S. 90-92. 154 Schoonhoven weist in den Vorreden jeweils darauf hin, er habe diese Gedichte animi causa geschrieben. S. Ded. und Ad Lect.; vgl. ebenso die Widmung des Buches Bucolica an Gerard Traudenius, S. 151. <?page no="34"?> 1 Einleitung 34 ren vor allem das Dichtertum der Hirten 155 und ihre unglückliche Liebe. 156 Weiter ist zum Beispiel der Topos des Goldenen Zeitalters zu nennen. 157 Grant weist darauf hin, dass Schoonhoven in der fünften Ekloge das bukolische Motiv des reichen Rivalen, das normalerweise nur in Form einer kurzen Erwähnung vorkomme, zu einer vollständigen Ekloge humanistischen Typs ausgebaut habe. 158 Dasselbe gilt auch für das Motiv des Raubes in Schoonhovens zweiter Ekloge. 159 Am bekanntesten ist wahrscheinlich die vierte Ekloge, 160 in der zwei Hirten von ihren negativen Erfahrungen in der Stadt berichten und dagegen das Landleben loben. Bemerkenswert ist, dass Schoonhoven dem Thema des Stadt-Land-Gegensatzes, das er in den Varia Carmina aus philosophischer Sicht behandelt, hier durchaus humoristische Züge abgewinnt. 161 Den Abschluss der Poemata bilden die H y m n i P o e n i t e n t i a l e s , 22 religiöse Bußhymnen. In einem Musenanruf distanziert der Dichter sich zunächst von Bukolik und Liebesdichtung, denn nun wird er zu Höherem berufen. 162 Das erste Carmen zeigt sodann einen reuigen Sünder, der bereit ist, seinem bisherigen Leben abzuschwören. 163 Nach einer Bitte um Gottes Beistand 164 nimmt er den Kampf gegen die Versuchungen der Welt auf. Dabei werden zum Teil philosophische Motive aus den Varia Carmina aufgegriffen, nun aber dem ausschließlich religiösen Kontext angepasst: Die Seele ist im Körper gefangen; man soll mit wenigem zufrieden sein (Fasten); ein Leben auf dem Lande ermöglicht Naturbetrachtung, die zur Schau Gottes führt. Immer wieder wird in den Hymnen Irdisches gegeißelt und der verderblichen Macht des Fleisches die Kraft des Geistes gegenübergestellt, der sich durch Meditation und Gebet zu Höherem erhebt und zu seinem himmlischen Ursprung strebt. Die Verachtung irdischen Lebens gipfelt schließlich in einer Jubelhymne angesichts einer schweren Krankheit, als der Sprecher glaubt, er werde sterben und folglich das wahre Leben beginnen. 165 155 Vgl. z.B. die erste Ekloge, Schoonh. Buc., S. 155: dulce sonas, Corydon, nec tantum me iuvet austri / sibilus aut apis errantis per pascua murmur, / quantum saepe tuas posse exaudire Camenas. 156 Vgl. die Eklogen 1, 3, 5 und 6. 157 Vgl. Schoonh. Buc., S. 158-159. 158 Vgl. Grant 1965, 183. 159 Vgl. Verg. ecl. 3,16-20. 160 Paquot (1770, 259-260) zitiert diese Ekloge vollständig. 161 Vgl. z.B. Buc., S. 165: dein cum pro more suoque / tempore coepisset stomachus latrare …. Grant (1965, 183) spricht sogar von „strong elements of satire.“ 162 Vgl. Hym. Poen., S. 181: iam maiora vocant, iam tuba pro levi / sumenda est calamo; silva, cachinnuli / et dulcis Lalage iam valeant simul; / nostrum maior enim vis animum rapit. 163 Hym. Poen., S. 182-183. 164 Carmen II, Hym. Poen., S. 183-184. 165 Hym. Poen., S. 201-202: nam viva mors, et mortua / vita est in hoc mundo mihi. <?page no="35"?> 1.1 Floris van Schoonhoven 35 Die E m b l e m a t a p a r t i m m o r a l i a , p a r t i m e t i a m c i v i l i a stehen thematisch den Varia Carmina nahe. Auch hier fällt besonders der Einfluss der stoischen Moralphilosophie auf. 166 Einige Emblemata civilia spielen jedoch auch auf aktuelle Ereignisse an. 167 Die insgesamt 74 Embleme sind immer nach demselben Schema aufgebaut: Zuerst gibt eine sentenzartige Überschrift das Motto an. Darunter folgt ein Kupferstich, 168 der meist bildhafte Allegorien zeigt. Diese werden durch ein kurzes Gedicht ausgeführt. Anschließend wird das auf diese Weise aufgerissene Thema in einem Prosakommentar von zwei bis vier Seiten erläutert, der reiche Zitate vor allem der antiken und spätantiken Literatur bietet. 169 Enenkel hat die essentielle Bedeutung dieser Commentarii für das Verständnis der Embleme dargelegt. 170 In der Frühen Neuzeit beginnen Werke üblicherweise nicht direkt mit dem Text, sondern mit sogenannten Paratexten. 171 Dazu gehören Titel, Widmungen und Vorreden an den Leser. Schoonhoven widmete sein Emblembuch dem Stadtrat in Gouda. Die Poemata eignete er Aemilius Rosendalius (Amelis van Rosendael, 1557-1620) zu, einem Verwandten aus Gouda, der ebenfalls in Leiden Jura studiert hatte und seit 1591 mehrfach Schöffe in Gouda gewesen war. 172 Die einzelnen Bücher der Poemata erhielten zusätzlich jeweils gesonderte Widmungen 173 und Vorreden. Ein wichtiger Bestandteil der Paratexte sind die sogenannten Ehrengedichte, „Gelegenheitsgedichte, die am Buchanfang nach Widmung oder Vorrede (seltener: am Buchende) zum Lobe des Verfassers und seines Werkes stehen.“ 174 Oft wurden solche Lobgedichte von Freunden des Autors verfasst. Besonders prestigeträchtig waren natürlich Ehrengedichte berühmter Zeitgenossen. Schoonhovens Poemata können immerhin kurze Epigramme von Dominicus Baudius und Daniel Heinsius aufweisen. 175 Beide loben das Erstlingswerk (primitiae) des jungen Dichters. Zwei weitere Ehrengedichte der Poemata stammen tatsächlich aus der Feder von Freunden: ein Lobgedicht des Gerard Traudenius in elegischen Distichen und 166 Zum Emblembuch vgl. bes. Enenkel 1999a, passim. 167 S. dazu Kap. 1.1.1. 168 Nach Tschizewskij (Vorbemerkung zum Nachdruck der Emblemata, 1975) stammen die Kupferstiche von Crispyn van de Passe dem Jüngeren. 169 Schoonhoven selbst spricht in seiner Vorrede an den Leser von sententias, quas hîc in morem centonis conteximus; vgl. Embl., S. VIII. 170 Vgl. Enenkel 2003, bes. 134-137. 171 Vgl. Genette 1989. S. dazu ausführlich die Einleitung zu den „Paratexten“ des Lalage- Zyklus im Kommentar. 172 Vgl. van Kuyk 1914, 1095-1096. 173 Vgl. Paquot 1770, 259. Zur Widmung der Amores Pastorales s. den Kommentar. 174 Schramm 2000, 53; insgesamt zu den Ehrengedichten vgl. ebd. 52-64. 175 Bestehend aus drei bzw. fünf elegischen Distichen. S. dazu auch die Einleitung. <?page no="36"?> 1 Einleitung 36 eine mehrseitige Ode in alkäischen Strophen von Simon Langius. Mit Gerard Traudenius, Sohn des Goudschen Lateinschullehrers Willem Traudenius, 176 war Schoonhoven schon seit Jugendzeiten befreundet. 177 Simon Langius war ein Studienkollege aus Leiden. 178 Beiden widmete Schoonhoven jeweils ein Buch seiner bukolischen Dichtung, Gerard Traudenius die Bucolica und Simon Langius (zusammen mit Nicolaus Goutswaert) das Buch Lalage sive Amores Pastorales. Gerard Traudenius verfasste auch ein Ehrengedicht für die Emblemata. Dort preist er Floris van Schoonhoven als Philologen, Rechtsgelehrten und Dichter, der gemäß dem horazischen Ideal in vorbildlicher Weise Nützliches und Angenehmes zu verbinden wisse. 179 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales Schoonhoven kennzeichnet das Buch Lalage sive Amores Pastorales ebenso wie die Bucolica als spielerische Dichtung, nach der man nicht seinen Charakter beurteilen möge. 180 Liebesdichtung bedurfte der Rechtfertigung, 181 so auch die frivol-erotischen Gedichte an Lalage. 182 Indem Schoonhoven seine Liebespoesie in bukolischer Umgebung ansiedelt, knüpft er jedoch auch an das Konzept der vita contemplativa an, das in seiner philosophischen Dichtung eine wichtige Rolle spielt. 183 In den Varia Carmina dient die Abgeschiedenheit des Landes vor allem der Meditation und der geistigen Schau des Himmels. 184 Die Ruhe dort bietet jedoch auch die besten Voraussetzungen für das Dichten. So kann das Singen von selbstverfassten Liedern, während man im Grase liegt, geradezu zum Inbegriff glücklicher, mußevoller Stunden werden. Bemerkenswerterweise nennt Schoonhoven dabei keine philosophischen Gedichte, sondern Hirtenlieder, für die er den Namen Lalage als Chiffre verwendet. In einem der 176 S. die Biographie. 177 Vgl. Schoonh. Buc., S. 151. 178 Zu Simon Langius s. den Kommentar zur Ded. 179 Vgl. Embl., S. IX: … legisse iuvabit, / utile nam dulci miscuit omne simul. / Philologus, vates Themidis, Phoebique sacerdos / omne tulit punctum et commoda multa feret. Vgl. Hor. ars 343: omne tulit punctum qui miscuit utile dulci. 180 S. Kap. 1.2.2.2; vgl. auch die Widmung der Bucolica an Gerardus Traudenius: … In his enim ludicris meis, ut et in praecedenti libello, opus erat mihi patrono tali, qualis tu es, hoc est homine aliquo defaecatioris notae, qui sciat librum non esse indicium animi. 181 S. Kap. 1.2.2.2. 182 Derbe Obszönitäten sind allerdings vermieden. So bereits Paquot (1770, 259) über die Amores Pastorales: „Ces pièces ne sont pas tout-à-fait chastes: mais on ne peut pas les traiter absolument d’obscènes.“ 183 Vgl. auch Enenkel 1999b, 199. 184 S. Kap. 1.1.2. In der Einleitung zu Eleg. 2 sind die Stellen gesammelt, an denen dieses Motiv in den Varia Carmina vorkommt. <?page no="37"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 37 letzten Gedichte der Varia Carmina nimmt Schoonhoven Abschied von den Musen und erinnert sich wehmütig an die nun vergangenen Zeiten: caespes quietum saepe lectum praebuit, / (…) dum me canentem floridis in vallibus / Lalagen decoram perfidum crepusculum / iunctas avenas cogeret deponere. 185 Ein andermal stellt er sich während eines allzu langen Winters vor, endlich wieder im Freien sein zu können: [iam mihi videbar] montis gelidis cubans in antris / arguto Lalagen sonare cantu. 186 In den folgenden Versen gibt er eine Inhaltsangabe des vierten Gedichtes an Lalage 187 und verweist damit eindeutig auf den Lalage-Zyklus. Lalage heißt auch eine verstorbene Geliebte in der ersten Ekloge der Bucolica, so dass in einem weiteren Sinne insgesamt an Schoonhovens bukolische Dichtung zu denken ist. In den Oden der philosophisch geprägten Varia Carmina kommen also auch bukolische Motive vor. Der in der Antike vorhandene Unterschied zwischen einer „lieblichen“ bukolischen Einfachheit, die einen Idealzustand des einfachen, schlichten Lebens im Gegensatz zur großstädtischen Zivilisation bedeutete, und einer philosophischen Einfachheit, für die der Gedanke des πόνος , der Härte und Entbehrung, maßgeblich war, 188 findet sich bei Schoonhoven so nicht. In den philosophisch geprägten Gedichten der Varia Carmina bedeutet der Rückzug auf das Land zwar einen Verzicht auf Luxus und Ruhm, jedoch gleichzeitig eine Befreiung von allen Mühen und Sorgen, 189 nicht aber Härte und Entbehrungen. So gilt das Ideal der „bukolischen“ Einfachheit für Schoonhovens philosophische Oden und seine bukolische Dichtung gleichermaßen. Die philosophische Einbindung des Muße-Motivs erlaubt es Schoonhoven, in den Varia Carmina auch das Dichten seines Lalage-Zyklus als positive, die eigene Zufriedenheit fördernde Beschäftigung hervorzuheben. Das zentrale Thema des Lalage-Zyklus, die Entwicklung einer erotischen Liebesbeziehung, ist dabei in den Varia Carmina jedoch nur angedeutet. 190 Erotische Liebe ist nirgends das Hauptthema einer Ode der Varia Carmina. Dies bleibt der dezidiert „spielerischen“ bukolischen Dichtung vorbehalten. 191 185 Var. Carm., S. 110. 186 Var. Carm., S. 48. 187 S. dazu die Einleitung zu Lal. 4. 188 Vgl. Vischer 1965, 126-127 und 170. 189 Vgl. z.B. Var. Carm., S. 31 (Ad amicum quempiam): [Während du dich in der Stadt aufreibst …] ego solutus omnibus molestiis / horti beatos terminos laetus colo. 190 Vgl. die „Inhaltsangabe“ auf S. 48 (s.o. und die Einleitung zu Lal. 4). 191 Vgl. auch Enenkel 1999b, 202-203. <?page no="38"?> 1 Einleitung 38 1.2.1 Gesamtkomposition Die Kompositionsprinzipien des Buches Lalage sive Amores Pastorales sollen auf drei Ebenen untersucht werden. Zuerst betrachte ich das Buch als Ganzes, dann den Lalage-Zyklus als in sich geschlossene Geschichte und schließlich Strukturen auf Gedichtebene. 1.2.1.1 Anlage des Buches Das Buch Lalage sive Amores Pastorales umfasst mehrere Paratexte (Widmung, Vorwort an den Leser, Praefatio und Motto), vierzig Gedichte an Lalage sowie zwei Elegien. Das Verhältnis dieser drei Gruppen zueinander wird im Kommentar ausführlich beschrieben, und zwar in den Einleitungen zu den „Paratexten“ und zu den Elegiae. Die wichtigsten Beobachtungen seien hier kurz zusammengefasst. In den Prosavorreden (Dedicatio und Ad benevolum Lectorem) spricht Schoonhoven als Autor über sein Gedichtbuch und distanziert sich dabei von seinen Figuren: Die Gedichte seien spielerisch und frivol, doch seinen eigenen Charakter dürfe man danach nicht beurteilen. In der Praefatio, die wie die Gedichte an Lalage in Versen verfasst ist, schlüpft der Dichter bereits in die persona eines singenden Hirten und Musenpriesters, der jedoch noch nicht mit Daphnis, dem Liebhaber Lalages, identisch ist. 192 Das Motto kann nicht eindeutig einer Sprecherrolle zugeordnet werden. Danach beginnt der eigentliche Lalage-Zyklus, dessen vierzig Gedichte bzw. Lieder alle vom Hirten Daphnis gesungen werden, der die Hirtin Lalage umwirbt, nach langem Zögern endlich zu ihr eingelassen wird und am Schluss ihren Tod betrauern muss. Es folgen zwei Elegien, die sich einerseits sinnvoll in das Buch der Amores Pastorales eingliedern, andererseits aber die Gedichte an Lalage nicht einfach fortführen. Es findet ein Gattungswechsel von der neulateinischen Form der Lusus Pastorales hin zur klassischen römischen Liebeselegie statt, 193 und der Sprecher ist wahrscheinlich nicht mehr der Hirte Daphnis, sondern ein Bauer. 194 Durch den Rollenwechsel am Ende des Buches erinnert Schoonhoven daran, dass er nicht mit der Figur des Daphnis zu identifizieren ist. Da der Sprecher in den Elegien nicht namentlich genannt wird, wäre es jedoch prinzipiell auch möglich, dass immer noch Daphnis redet. Dann würde eine Distanzierung des Autors von seiner Figur dadurch erreicht, dass Daphnis, der eben noch Lalage in den Tod folgen wollte, weil ein Leben 192 Auch Vergil gibt sich in den Eklogen als bukolischer Dichter, der teilweise in die Rolle eines Hirten schlüpft (vgl. bes. ecl. 6,1-5), an anderer Stelle aber deutlich sagt, dass er als Dichter über seine Figuren schreibt (vgl. bes. georg. 4,565: carmina qui lusi pastorum audaxque iuventa, / Tityre, te patulae cecini sub tegmine fagi; weiter ecl. 4,3: canimus silvas). 193 S. auch Kap. 1.2.2.1. 194 S. die Einleitung zu den Elegiae. <?page no="39"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 39 ohne sie nicht lebenswert sei, sich unmittelbar danach mit einer neuen Geliebten tröstete. Das Pathos der Totenklage würde damit nachträglich ironisiert. Es kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass Schoonhoven zwei Liebeselegien, die in ländlicher Umgebung angesiedelt sind, einfach an das Ende des Buches stellte, in das sie thematisch und formal am ehesten passten. 195 Auch dann wäre jedoch festzuhalten, dass Schoonhoven damit nicht eine ausdrücklich erwünschte Identifikation des Lesers mit der Hauptperson Daphnis versehentlich zunichte macht. Da der Autor sich in den Prosavorreden klar von seinen Figuren distanziert, ist ein Bruch in der Handlung am Ende des Buches wenn nicht geplant, so doch zumindest auch nicht störend. 196 1.2.1.2 Der Lalage-Zyklus Die vierzig Gedichte des Lalage-Zyklus bilden eine geschlossene Einheit. Mit einer Ausnahme 197 werden sie alle von derselben Person gesprochen bzw. gesungen, dem Hirten Daphnis. In den meisten Gedichten redet er seine Geliebte Lalage direkt an, in anderen spricht er über sie und seine Liebe zu ihr. 198 Im Folgenden sollen drei Bereiche genauer betrachtet werden, die für die Gesamtkomposition des Lalage-Zyklus von Bedeutung sind: erstens der „Aufbau“ mit besonderer Berücksichtigung thematisch zusammengehöriger Gedichte, zweitens das „Personal“ der Geschichte und drittens das „Setting.“ a) Aufbau Im Lalage-Zyklus wird keine fortlaufende Handlung erzählt, aber anhand von Daphnis’ werbenden Liebesliedern lässt sich die Entwicklung der Beziehung zwischen Daphnis und Lalage verfolgen. Diese Entwicklung verläuft nicht strikt linear, was in der Persönlichkeit der Geliebten begründet liegt. Lalage ist keck wie die Ziegen, die sie hütet, und selbst wenn sie Daphnis in einem Gedicht geküsst hat, versteckt sie sich im nächsten viel- 195 Thematisch stehen die Elegien dem Buch Bucolica genauso nahe, doch sind dort gemäß der Gattungsangabe im Titel ausschließlich hexametrische Eklogen enthalten, so dass die Elegien dort aus formalen Gründen nicht eingegliedert werden konnten. 196 Für eine bewusste Komposition des ganzen Buches einschließlich der Elegien spricht meines Erachtens ein kleines Spiel, das Schoonhoven am Anfang der ersten Elegie mit dem Leser treibt. S. dazu die Einleitung zu den Elegiae. 197 Lal. 28 ist ein „Gespräch“ eines Hirten mit Echo, die immer nur die letzten Silben wiederholen kann. Der pastor könnte Daphnis sein, der schon in Lal. 5 Echo als Leidensgefährtin anrief, doch ist dies nicht zwingend. 198 Zu den Gedichten, die nicht an Lalage gerichtet sind, s. die Einleitung zu Lal. 5. <?page no="40"?> 1 Einleitung 40 leicht schon wieder vor ihm. 199 Die Gedichte sind jedoch offensichtlich chronologisch angeordnet, und trotz wiederholter Rückschläge findet eine zunehmende Annäherung statt. Anderson nennt als wichtige Ordnungsprinzipien von Gedichtbüchern in augusteischer Zeit varietas und „dramatic progression.“ 200 Auch in Schoonhovens Lalage-Zyklus kann man ein Bemühen um Abwechslung ebenso erkennen wie Handlungsfortschritte zwischen einzelnen Gedichten. Im Folgenden gebe ich eine Übersicht 201 über inhaltlich eng verbundene Gedichtgruppen. 202 Teilweise handelt es sich dabei um direkt aufeinanderfolgende Gedichtpaare, teilweise gehören weit auseinanderstehende Gedichte thematisch zusammen. Gelegentlich ist ein Gedicht in verschiedene größere thematische Zusammenhänge eingebunden. Die verstreute Anordnung inhaltlich ähnlicher Stücke trägt dazu bei, den Lalage-Zyklus insgesamt abwechslungsreich und vielfältig erscheinen zu lassen. Gedichtpaare, die eine Handlung unmittelbar fortführen, kennt man bereits aus Ovids Amores. 203 Im Lalage-Zyklus kommen drei solcher Paare vor. In Lal. 20 versucht Daphnis, die flüchtende Lalage von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen, was in Lal. 21, das dem vorigen Gedicht formal in Metrum und Strophenzahl entspricht, gelungen zu sein scheint, denn dort sitzt Lalage auf seinem Schoß. In Lal. 34 verspricht Lalage, Daphnis zu küssen, hält sich aber zunächst nicht daran. Die Einlösung des Versprechens folgt am Beginn von Lal. 35. Am Schluss des Zyklus fürchtet Daphnis in Lal. 39 um das Leben der erkrankten Geliebten, deren Tod in Lal. 40 dann tatsächlich eingetreten ist. Drei weitere Paare weisen jeweils ähnliche Grundmotive auf, ohne dass dabei eine Entwicklung der Handlung zu beobachten wäre. In Lal. 6 wird an zentraler Stelle das Gleichnis der Vogelmutter aus Vergils Georgica 204 parodistisch imitiert. In Lal. 7 wird das Motiv der Vogeljungen aufgenommen, doch ist die Perspektive verschoben, so dass aus dem bösen Vogelräuber ein freundlicher Beschützer wird. Lal. 14 und 15 handeln beide von den Auswirkungen von Lalages An- und Abwesenheit. In Lal. 12 und 13 schläft jeweils eine Person, die von einer anderen geküsst wird, ohne es zu merken. Im weiteren Sinne ist auch Daphnis’ erotischer Traum in Lal. 24 Teil dieses Themenbereiches. 199 Z.B. Lal. 3 und 4. 200 Vgl. Anderson 1986, 45-49; 62-63. 201 Detaillierte Beobachtungen finden sich jeweils im Kommentar, insbesondere in den Einleitungen zu den einzelnen Gedichten. 202 Die Wiederaufnahme einzelner Motive, ohne dass die Gedichte dabei insgesamt thematisch verbunden wären, wird hier nicht berücksichtigt. 203 Anderson (1986, 62) nennt Ov. am. 2,7 und 2,8 (Untreue des Liebhabers) sowie 2,13 und 2,14 (Abtreibung). 204 Verg. georg. 4,511-515; s. Lal. 6,25-31 mit Komm. <?page no="41"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 41 Bei den zusammengehörigen Gedichten, die nicht unmittelbar aufeinanderfolgen, kann man in einigen Fällen einen Handlungsfortschritt über größere Zeiträume beobachten. Dies trifft vor allem für die Geschichte des Rivalen Thyrsis zu: In Lal. 6 muss Daphnis machtlos den Tändeleien von Lalage und Thyrsis zusehen, in Lal. 27 hält er sie im Arm, muss sie aber mit Gewalt daran hindern, zu Thyrsis zu laufen, und erst in Lal. 35 entscheidet sie sich freiwillig für ihn, während Thyrsis das Nachsehen hat. Ein komplementäres Stück ist Lal. 12 über die Annäherungsversuche der potentiellen Rivalin Lyce, die von Daphnis noch innerhalb des Gedichtes zurückgewiesen wird. Eine Entwicklung findet weiter zwischen Lal. 22 und 37 statt. Im ersten Gedicht ist Daphnis krank vor Liebeskummer und wünscht sich Lalages Nähe als Heilmittel. In Lal. 37 beschreibt er, wie er aus gleichem Grunde krank darniederlag und Lalage ihn tatsächlich mit Küssen heilte. Etwas weniger deutlich ist der Zusammenhang von Lal. 3 und 17. In Lal. 3 bittet Daphnis die bukolische Umgebung, genauer Riedgras, Berggipfel und Lüfte, die Küsse des Liebespaares zu verbergen. Schließlich küsst Lalage ihn tatsächlich. Lal. 17 stellt eine Dankesrede an die Wälder dar, in denen Daphnis Lalage küsste. Dies ist nicht genau der gleiche Ort wie in Lal. 3, und somit ist auch nicht dieselbe Situation gemeint. Die Themen - Bitte um Schutz bzw. Dank für gewährten Schutz - sind jedoch komplementär. In mehreren anderen Fällen ist zwar kein Handlungsfortschritt gegeben, aber doch eine Steigerung bei der Wiederaufnahme eines Themas oder Motivs. So werden im Gedicht an Echo (Lal. 5) bereits Echoeffekte eingesetzt; Lal. 28 ist ein echtes Echoreimgedicht. In fünf Gedichten ist das Todesmotiv zentral: In Lal. 8 verweist Daphnis lediglich allgemein auf die Sterblichkeit alles Lebendigen, in Lal. 19 ist ein Ziegenbock gestorben, in Lal. 25 Lalages Schwester, und in Lal. 39 und 40 erkrankt die Geliebte selbst und stirbt. Schließlich behandeln einige Gedichte dasselbe Thema, ohne dass ein Fortschritt oder eine Steigerung zu beobachten wäre. In Lal. 10 und 20 wird jeweils Lalages Fluchtverhalten durch das Fluchtmotiv einer mythischen Geschichte illustriert. In Lal. 16 und 33 werden friedlich gemeinsam verlebte Tage geschildert. Lal. 26 und 30 sind Hymnen an zwei verschiedene Gottheiten, die formal große Ähnlichkeit aufweisen. In Lal. 32 über Lalages Keckheit wird ein einzelnes Motiv aus Lal. 4 (28-32) zu einem ganzen Gedicht erweitert. 205 Schoonhoven wendet im Lalage-Zyklus noch ein weiteres strukturgebendes Prinzip an, das der Ringkomposition. In den beiden letzten Gedichten (Lal. 39 und 40) nimmt er auf die poetologische Ebene von Lal. 1 Bezug, greift aber auch programmatische Aussagen aus der Vorrede an den Leser 205 S. auch Kap. 1.2.2.3. <?page no="42"?> 1 Einleitung 42 und der Praefatio auf. Der „Gedichtkranz“ erhält somit einen doppelten metapoetischen Rahmen. 206 Auch für die Rahmung eines Werkes konnte Schoonhoven auf antike Vorbilder zurückgreifen. Hier sei besonders auf Horaz’ erste drei Odenbücher 207 sowie die Bucolica und Georgica Vergils 208 verwiesen. b) Personal: Hirten, Waldgötter und mythische Figuren Die menschlichen Personen des Lalage-Zyklus sind Hirten oder gehören zumindest in irgendeiner Weise der bukolischen Sphäre an. Mit Ausnahme der Hauptperson Lalage und der Rivalin Lyce tragen alle typische Hirtennamen. 209 Lyce ist ein sprechender Name, und zudem kommen ähnliche Namensformen auch bei Theokrit und Longos vor. 210 Der Name Lalage, der Geliebten in zwei Horazoden, 211 zeigt das Gedichtbuch der horazischen Lyrik verpflichtet. 212 Der Name des Sprechers wird nicht zweifelsfrei genannt, doch scheint Daphnida in Lal. 2,11-12 eine Selbstanrede zu sein. Die Gründe dafür sind in der Einleitung zu Lal. 2 und im Kommentar zu 2,11-12 genauer dargelegt. Ein weiteres, wenngleich nicht zwingendes Argument für die Identifikation des „Daphnis“ mit dem Sprecher ist die Nennung des Namens in Gedicht zwei, also am Beginn der Gedichtsammlung. Man kann also annehmen, dass der Sprecher sich hier gleichsam vorstellt. Mir ist bewusst, dass sich trotz allem nicht hundertprozentig sicher sagen lässt, dass der liebende Hirte Daphnis heißt. Inhaltlich spricht meines Erachtens jedoch alles für diese Annahme. Ich habe mich daher entschlossen, dem Hirten den Namen Daphnis zuzusprechen und ihn im Kommentar auch so zu nennen; dies auch aus der praktischen Erwägung heraus, dass es einfacher ist, beide Hauptpersonen bei einem Namen nennen zu können. Darauf, „Daphnis“ regelmäßig in Anführungszeichen zu setzen, um die Unsicherheit der Benennung zu kennzeichnen, verzichte ich aus Gründen der Lesbarkeit. 206 S. die Einleitungen zu Lal. 1, 39 und 40 sowie die Kommentare zu Lal. 39,11-12 und Lal. 40,58-64. 207 Hor. carm. 1,1 und 3,30, beide im gleichen Metrum verfasst, stellen jeweils selbstbewusste Äußerungen des lyrischen Ichs dar. Das Motiv der Bekränzung des Dichers erscheint in beiden Oden; vgl. 1,1,29-30: me doctarum hederae praemia frontium / dis miscent superis; 3,30,15-16: mihi Delphica / lauro cinge volens, Melpomene, comam. 208 In der Sphragis der Georgica nimmt Vergil bekanntlich auf den ersten Eklogenvers Bezug. Vgl. Verg. ecl. 1,1: Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi; georg. 4,565-566: carmina qui lusi pastorum audaxque iuventa, / Tityre, te patulae cecini sub tegmine fagi. 209 Der Name „Bion“ stellt einen Sonderfall dar. S. den Komm. zu Lal. 33,15-16: Bionis. 210 Lykos bzw. Lykainion; s. den Komm. zu Lal. 12,5: Lyce. 211 Hor. carm. 1,22 und 2,5. 212 Zur Gattungszugehörigkeit s. Kap. 1.2.2.1. <?page no="43"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 43 Den bukolischen Namen Daphnis trägt nicht nur ein mythischer Hirte, der an einer unglücklichen Liebe zugrunde geht, 213 sondern auch die männliche Hauptperson in Longos’ Hirtenroman Daphnis und Chloe, der für den Lalage-Zyklus insgesamt als Prätext von Bedeutung ist. 214 Longos selbst bezeichnet den Namen als ὄνοµα ποιµενικόν . 215 Dabei ist auch an den Lorbeer zu denken, so wie bei Daphnis’ Ziehmutter Myrtale an die Myrte und bei Chloes Ziehvater Dryas an die Eiche. Die Namen der beiden Protagonisten Daphnis und Lalage verweisen demnach auf metapoetischer Ebene auf zwei der wichtigsten Gattungen, die dem Lalage-Zyklus zugrundeliegen, die Bukolik und die Lyrik. 216 In der antiken Bukolik bezeichnet derselbe Name in verschiedenen Eklogen oftmals nicht dieselbe Person. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, Menalcas in Vergils dritter Ekloge ein Streithahn, in der neunten Ekloge dagegen ein Hirtendichter, zu dem die anderen voll Bewunderung aufblicken. Im Lalage-Zyklus wird jedoch eine zusammenhängende Geschichte erzählt, was erwarten lässt, dass ähnlich wie in Longos’ bukolischem Roman mehrfach vorkommende Hirtennamen in der Regel dieselbe Person meinen. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass dies - abgesehen von den Hauptpersonen Daphnis und Lalage - nur in wenigen Fällen zwingend ist, an den meisten Stellen jedoch auch nichts gegen eine Identität der Personen spricht. Lediglich im Falle von Menalcas wird der gleiche Name definitiv für verschiedene Personen gebraucht. Einige Figuren treten nur in einem Gedicht auf, ohne dass derselbe Name noch an anderer Stelle verwendet würde. Im Folgenden gebe ich eine Übersicht über alle Nebenpersonen. Als drittwichtigste Person nach Daphnis und Lalage ist der Rivale Thyrsis zu nennen. Drei Gedichte - Lal. 6, 27 und 35 - handeln von Lalages Verhältnis zu ihm, das sie im Verlauf der Gedichte nach und nach zugunsten des Daphnis lockert. 217 Ein Thyrsis kommt zudem zusammen mit einem nur dort genannten Meliboeus in Lal. 18,20 vor. Daphnis bezeichnet beide in Lal. 18,24 als aemuli, was die Annahme unterstützt, dass es sich auch hier um den Rivalen Thyrsis handelt. In Lal. 33,14-16 arbeitet ein Thyrsis als Laubscherer in einem Weinberg. Hier ist das Rivalitätsmotiv ausgespart, aber es spricht auch nichts gegen eine Identität mit dem Thyrsis der anderen Gedichte. Parallel zum Rivalen Thyrsis erscheint in Lal. 12 eine potentielle Rivalin Lyce, die um Daphnis’ Gunst wirbt, aber abgewiesen wird. Thyrsis und Lyce sind beide Nachbarn. 218 Nisa, Thestylis, Cory- 213 Vgl. bes. Theoc. 1; s. auch den Komm. zu Lal. 2,11-12: Daphnida. 214 S. Kap. 1.2.2.1. 215 Longos 1,3,2. 216 S. hierzu bes. die Kapitel 1.2.2.1 und 1.2.2.2. 217 S. auch oben. 218 S. Lal. 35,5-6: Thyrsis oves gramine proximo / pascens; 12,5: vicina … Lyce. <?page no="44"?> 1 Einleitung 44 don und Aegon treten ebenfalls als benachbarte Hirten auf. Alle vier Namen sind in mehreren Gedichten genannt; eine Identität der Personen ist nirgendwo zwingend, aber jeweils möglich und teilweise sogar wahrscheinlich. Nisa wird in Lal. 6,39 als greges agens beschrieben. In Lal. 29 tanzt sie wie Lalage zu Corydons Flötenspiel. Corydon ist außerdem in Lal. 33 zusammen mit Thestylis als Nachbar genannt. 219 In Lal. 7 versucht Thestylis, Daphnis ein paar Vogeljunge abzuschwatzen, die er Lalage als Geschenk zugedacht hat. In Lal. 39,31-32 stellt Daphnis sich vor, dass Thestylis nach Lalages und seinem Tod ihre Asche mit Salböl besprengen wird. Wenn man annimmt, dass Thestylis es in Lal. 7 nicht wie Lyce eigentlich auf Daphnis abgesehen hatte, sondern in erster Linie tatsächlich auf die Tauben, kann sie als befreundete Hirtin gelten, die sich durchaus einmal eine kleine Dreistigkeit erlaubt, aber um Daphnis trauerte, wenn er stürbe. In Lal. 39 ist neben Thestylis Aegon genannt, der in Daphnis’ Vorstellung nach dem Tod des Paares ihre Liebe besingt. In Lal. 33,18-20 brachte er Daphnis und Lalage Wein, was ihn als Freund der beiden ausweist. Hier ist eine Identität der Person besonders wahrscheinlich. Für alle vier Nachbarn gilt jedenfalls, dass sich aufgrund der räumlichen Nähe zu Daphnis und Lalage gelegentlich Begegnungen ergeben. Bion und Dorylas hingegen sind Landbesitzer, die mehrmals erwähnt werden, aber nie persönlich in Erscheinung treten. 220 In Lal. 6,50-51 wird zudem ein Dorylas als Beispiel eines besonders schlechten Sängers genannt, der mit dem Land- und Viehbesitzer identisch sein kann, aber nicht muss. In Lal. 25,33-44 beschreibt Daphnis ein bukolisches Elysium, in dem sich auch die folglich bereits gestorbenen Hirten Palaemon, Tityrus und Amaryllis befinden. Amaryllis kommt nur hier vor; Palaemon wird in Lal. 33,20 als Landbesitzer genannt, doch könnte der „Berg des Palaemon“ theoretisch auch nach dem Tod des Besitzers noch so heißen. 221 Tityrus ist ein Sonderfall, da der Name anknüpfend an bereits antike Vergilinterpretationen als Chiffre für Vergil steht. Dies gilt in Lal. 25,37 ebenso wie in 18,19 und 23,25. 222 In Lal. 23,25-28 ist eine goldene Frühzeit geschildert, was dazu passt, dass Tityrus bereits gestorben ist. Neben Tityrus ist hier noch eine Phyllis erwähnt. In Lal. 18,19 werden die iugera Tityri genannt. Auch hier geht aus dem Wortlaut nicht klar hervor, ob Tityrus noch lebt oder nur die Felder noch seinen Namen tragen. Metapoetisch ist jedoch das „Feld“ der bukolischen Dichtung Vergils gemeint, so dass zumindest auf der Ebene 219 S. Lal. 33,5: vicinus Corydon fuscaque Thestylis. 220 S. zu Bion Lal. 33,15: vineta Bionis; 34,1: Bionis rupibus; 40,22: ad Bionis flumen et montes sacros; zu Dorylas 33,13: Dorylae … greges; 35,1: Dorylae montibus. Dass die Herden in Lal. 33,13 Dorylas gehören, heißt gerade nicht, dass er sie selbst weidet. Vgl. Verg. ecl. 3,1-2: dic mihi, Damoeta, cuium pecus? an Meliboei? - non, verum Aegonis; nuper mihi tradidit Aegon. 221 S. auch den Komm. zu Lal. 33,20: Palaemonis. 222 S. jeweils auch die Kommentare dort. <?page no="45"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 45 der Entsprechung von Tityrus und Vergil die Identität der Person gewahrt ist. Nur der Name Menalcas bezeichnet definitiv mehrere verschiedene Personen. In Lal. 6,44 erfahren wir, dass ein Menalcas einst (quondam) sterbend Thyrsis seine Flöte und seinen Hirtenranzen vermachte. Im nächsten Gedicht (Lal. 7,10) läuft Daphnis fröhlich zu einem sehr lebendigen Menalcas, um ihm die eben entdeckten Vogeljungen zu zeigen. Dies kann folglich keinesfalls dieselbe Person sein. In Lal. 28,9-10 berichtet ein pastor, Menalcas habe ihm einst (quondam) von Echo und Narcissus erzählt. Hier ist nicht gesagt, ob Menalcas noch lebt. Er könnte jedoch gut mit dem Verstorbenen aus Lal. 6 identisch sein, da es sich in beiden Fällen um eine angesehene Autorität handelt und quondam auch in Lal. 28 darauf hindeutet, dass das Gespräch schon lange zurückliegt. Ohne Namen bleiben im Lalage-Zyklus die Familienangehörigen der Geliebten, die Mutter (Lal. 2 und 6,6), der Vater (Lal. 6,6) und das Schwesterchen, das in Lal. 25 gerade gestorben ist. Neben den Menschen bewegen sich in den Wäldern und Fluren auch Waldgottheiten, vor allem Pan bzw. Faun 223 sowie diverse Nymphen. Die erotischen Ambitionen des Pan/ Faun und die Flucht der Nymphen können das Verhältnis von Lalage und Daphnis spiegeln. 224 Ähnliches gilt für mythische Beispiele, die im Lalage-Zyklus sehr oft als Folie für die Beziehung von Daphnis und Lalage dienen. 225 In anderen Fällen wird nur das Verhalten einer der beiden Hauptpersonen mit dem einer Gestalt des Mythos verglichen 226 oder anderweitig in Beziehung gesetzt. 227 Die mythischen Figuren treten jedoch nicht leibhaftig in Erscheinung und gehören folglich nicht zum „Personal“ des Lalage-Zyklus. Ausnahmen sind Echo, Narcissus und Philomela bzw. Prokne, 228 die alle nach ihrer Verwandlung einen Platz in der bukolischen Welt gefunden haben. Philomela singt als Nachtigall und beklagt ihren getöteten Sohn Itys. Dabei verweist Schoonhoven beständig auf den Mythos, besonders deutlich in Lal. 39,33-34, wo Daulias, / aeternum opprobrium Cecropiae domus als Antonomasie für die Nachtigall steht. 229 Noch wichtiger sind Narcissus und Echo, insofern sie - allerdings unter vertauschten Vorzeichen - ebenfalls die Beziehung der stolzen Lalage und 223 Zur Gleichsetzung von beiden s. den Komm. zu Lal. 30,12-13. 224 Z.B. Lal. 2,5-6: tunc me, Naiades velut / Faunum capripedem, corde tremens fugis; Lal. 30. 225 Z.B. Apoll und Daphne in Lal. 10 und öfter; Nisus und Scylla in Lal. 20. 226 Z.B. Lal. 39,7-8: ut quondam Phrygius Marsya, tristibus / totus liqueo lacrimis. 227 Z.B. Lal. 25,1-2.5: non semper rapido Cynthia belluas / cursu persequitur … / tu semper …. 228 Zu den unterschiedlichen Versionen s. den Komm. zu Lal. 25,2-4. 229 S. auch die Kommentare dort. <?page no="46"?> 1 Einleitung 46 des unglücklich liebenden Daphnis abbilden. Daphnis redet dabei in Lal. 5 Echo als liebende Nymphe an, die jedoch bereits in „das Echo“ verwandelt ist. 230 In dem Echoreimgedicht Lal. 28 wird dies noch deutlicher. Narcissus ist als Blume im Lalage-Zyklus körperlich anwesend, die erst noch ihren Hochmut bewahrt (Lal. 8,9-12), sich mit der Zeit aber in Lalage verliebt (Lal. 16,17-20). c) Setting Der Ort des Lalage-Zyklus ist eine idealisierte bukolische Landschaft mit Bergen, Tälern, Wald und Bäumen, Flüssen und Weideland, auf dem Gras und Blumen wachsen. Das Klima scheint mediterran zu sein, denn es wird im Sommer tagsüber sehr heiß, 231 und es gedeihen Bäume wie die Steineiche 232 und die Pinie. 233 An drei Stellen werden real existierende Ort erwähnt: die Isula (Lal. 5,3), Arkadien (Lal. 17,11-12) und der Galesus (Lal. 18,18). Alle drei haben nichts mit der tatsächlich geschilderten Umgebung zu tun. Mit der Isula ist die Hollandse IJssel bei Gouda gemeint, 234 wo es zwar reichlich Flüsse und Weiden 235 gibt, aber selbstverständlich weder Berge und Täler noch mediterrane Bäume. Der Galesus ist ein kleiner Fluss in Süditalien (Apulien) bei Tarent, einer Küstengegend, die zwar mediterran, aber ebenfalls nicht besonders gebirgig ist. Arkadien, eine tatsächlich gebirgige Landschaft der Peloponnes, wird hier als Ort genannt, der anderswo liegt und an dem Daphnis und Lalage sich gerade nicht aufhalten. Der Grund für die Erwähnung kann also in allen drei Fällen nicht sein, dass Schoonhoven die Geschichte von Daphnis und Lalage an einem bestimmten, geographisch eindeutig zu verortenden Platz spielen ließe. 236 Es handelt sich vielmehr um eine Phantasielandschaft, die nicht gemäß sachlicher Kriterien, sondern gemäß einer bukolischen Dichtungstradition kreiert wird. 237 In der antiken bukolischen Dichtung können scheinbar reale Orte zum Symbol werden, insbesondere die Landschaft Arkadien auf der Peloponnes. Schmidt stellt heraus, dass Arkadien die Heimat des Pan ist, der als 230 S. bes. Lal. 5,6: o diva aereis nata recessibus. 231 S. z.B. Lal. 16,26-27: hâc valle Caniculae / vitemus aestus; 33,11-12: hoc sole futurus / aestus non tolerabilis. 232 Lal. 22,5-6: in gramine somnulus / sub dulci … ilice. 233 Lal. 40,27: pinu. 234 S. den Komm. zu Lal. 5,3: Isula. 235 Wie in Lal. 5 weiden auch heute noch Schafe an der IJssel. 236 Anders als z.B. Longos’ Hirtenroman, der auf Lesbos spielt. 237 Dies zeigt sich auch daran, dass Schoonhoven gelegentlich sachliche Ungenauigkeiten in Kauf nimmt. S. z.B. den Komm. zu Lal. 3,5-7. <?page no="47"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 47 Erfinder der Syrinx und als Gott der Hirten galt. 238 Für Schmidt ergibt sich daraus, dass Vergils Arkadien die Dichtung sei. 239 Ein Arkadier ist demzufolge ein Sänger in der Nachfolge Pans. 240 Dies geht so weit, dass auch Hirten, die in Italien leben, „Arkadier“ sein können, wie Schmidt mit Verweis auf Vergils siebte Ekloge feststellt. 241 Dort werden zu Beginn zwei sangeskundige junge Hirten beide als „Arkadier“ bezeichnet - Arcades ambo -, während wenige Verse später die Ufer des Mincius, eines oberitalienischen Flusses, als Schauplatz erwähnt werden. Auf einer metapoetischen Ebene sind die genannten Orte im Lalage- Zyklus sehr passend gewählt. Besonders klar wird dies in Lal. 18,17-24. Die Verse sind poetologisch zu deuten, und die Nennung des Galesus dient dazu, eine ebenfalls metapoetische Passage bei Properz aufzurufen, die von Vergils Eklogen handelt. 242 So stellt sich Schoonhoven hier in die Tradition der bukolischen Dichtung Vergils. Die griechische Landschaft Arkadien kommt in Vergils Eklogen ebenfalls vor, und zwar als Heimat des Syrinx-Erfinders Pan und als Ort des Hirtengesanges. 243 Auch Schoonhoven nennt Arkadien als typischen Aufenthaltsort des Faun, den er im Lalage-Zyklus generell mit Pan gleichsetzt. 244 Wir befinden uns jedoch nicht in Arkadien, sondern Daphnis spricht in Lal. 17 die Wälder an, in denen er Lalage küsste, und wünscht ihnen (17,11-12): sic Faunus ipse praeferet vos Arcadum / locis amoenis. Es ginge sicherlich zu weit, hier eine poetologische Aussage in dem Sinne zu vermuten, dass Schoonhoven die antike Bukolik, symbolisiert durch den Gesang arkadischer Hirten, zu übertreffen meint, denn im Gegensatz zu den metapoetischen Passagen des Lalage-Zyklus fehlt in diesen Versen jeder direkte Bezug zum Hirtensänger Daphnis. Dennoch knüpft Schoon- 238 Vgl. Schmidt 1987, 252: „Arkadien ist das Land Pans, der der Erfinder der Syrinx und der Gott der Hirten ist: Bukolik ist die Dichtung von syrinxspielenden Hirten.“ 239 Vgl. Schmidt 1987, 253: „Es bleibt die Aufgabe, Vergils Arkadien als die vergilische Bukolik zu charakterisieren. Mir scheint Vergils Arkadien die Dichtung zu sein, nicht ein erträumtes, nicht ein ersehntes, nicht ein verlorenes Reich, keine Utopie, kein Ideal, kein Nirgendwo, kein Anderswo, sondern Dichtung hier und jetzt, Dichter und Dichtung im geschichtlichen Augenblick der Vorbereitung zu großen Aufgaben ….“ 240 Vgl. Schmidt 1987, 213: „Arkadersein bedeutet also, in Nachfolge Pans Sänger, insbesondere von Liebesliedern, bzw. als Liebender Sänger zu sein. Vergil hat auf dem kurzen Weg von ecl. 8 über 10 zu 7 diese Vorstellung immer deutlicher gemacht, so daß er mit der knappsten Formel „Arcades ambo“ enden kann.“ 241 Schmidt 1987, 212: „… schließlich ist ein Sänger selbst Ziegenhirt, doch nicht nur er, sondern auch sein Gegner sind Arkader, letzteres nun schon mit solcher Prägnanz und Bedeutung, daß Arkadien als Lokal fortfallen und Oberitalien mit dem Mincius dafür eintreten konnte.“ 251: „Aber auch Italiker können ja Arkader sein, wie Corydon und Thyrsis am Mincius in ecl. 7.“ 242 S. ausführlich den Komm. zu Lal. 18,17-24. 243 Vgl. Schmidt 1987, 252-253; Bernsdorff 2001, 94-96. 244 S. den Komm. zu Lal. 30,12-13. <?page no="48"?> 1 Einleitung 48 hoven durch die Erwähnung der bukolischen Sängerheimat Arkadien auch hier an die antike Tradition der Hirtendichtung an. Die Hollandse IJssel (Lal. 5,3: Isula), die an Schoonhovens Geburtsstadt Gouda vorbeifließt, fügt sich als realer Ort besonders schlecht in die beschriebene Gebirgslandschaft. In Lal. 5 ruft Daphnis zudem Echo als Leidensgenossin an, die ihm als „das Echo“ seufzend antwortet - ein Effekt, der in Bergschluchten seinen Platz hat, nicht aber am Flussufer in einer völlig flachen Gegend. Auch hier geht es also nicht um geographische Korrektheit. Bemerkenswert ist, dass Schoonhoven direkt vor der Nennung der Isula den ersten Vers von Vergils Eklogen zitiert. 245 So profiliert er sich hier als niederländischer Dichter in der Nachfolge Vergils, der sowohl der antiken Tradition als auch seiner holländischen Heimat verbunden ist. 1.2.1.3 Gedichtstrukturen Die einzelnen Gedichte des Buches Amores Pastorales sind sorgfältig strukturiert. Schoonhoven variiert dabei mehrere Kompositionsprinzipien. Manche Gedichte weisen eine Ringkomposition auf, in anderen nimmt ein besonders wichtiger Gedanke die Gedichtmitte ein. Zusätzlich können auch die übrigen Verse zyklisch um das Zentrum herum angeordnet sein. Wieder andere Gedichte sind in mehrere gleichgewichtige Abschnitte gegliedert. Allzu großer Schematismus ist dabei in der Regel vermieden. Ringkompositionen können einzelne Worte betreffen, 246 aber auch Motive. 247 Besonders gelungen ist die Rahmung von Lal. 19 durch die Pronomina ille und tuam: Die scheinbare Klage um einen gestorbenen Ziegenbock erweist sich im Laufe des Gedichtes als tatsächliche Klage über die Hartherzigkeit der Geliebten. In Lal. 23 fällt der zentrale Begriff des tempus aureum ungefähr in der Gedichtmitte, nämlich zu Beginn der fünften von acht Strophen. In Lal. 12 nimmt das Liebesgeständnis der Rivalin Lyce den zentralen Raum ein. Wenn man den einleitenden Vers 12,21 dazuzählt, steht die wörtliche Rede genau in der Mitte des Gedichtes. Die erste Elegie ist besonders raffiniert konzipiert. Ein sorgfältig gearbeiteter Mittelteil über den Neid eines Rivalen hat als inneres Zentrum ein von diesem gesprochenes Distichon, in dem wiederum (fast genau) in der Mitte der Ausdruck cardine verso steht, so dass die Äußerung gleichsam zum „Dreh- und Angelpunkt“ des ganzen Gedichtes wird. Die zyklische 245 S. Lal. 5,2: fusus sub patulae tegmine populi; vgl. Verg. ecl. 1,1: Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi. 246 Z.B. Lal. 26,1 und 17: siderum. 247 Z.B. in der ersten und letzten Strophe von Lal. 1. In Lal. 35 findet eine Umkehrung statt: In der ersten Strophe küsst Lalage Daphnis (35,3-4: basia fixisti), in der letzten Strophe wünscht Daphnis sich, Lalage küssen zu dürfen (35,14: liceat figere basia). <?page no="49"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 49 Struktur geht zahlenmäßig exakt auf, wenn man das letzte Distichon (Eleg. 1,35-36), das durch die Antithese Vita - mori gerahmt ist, als separate Einheit vom übrigen Gedicht loslöst. 248 Neben unterschiedlichen Ringstrukturen findet sich als anderes Ordnungsprinzip das ausgewogene Verhältnis von Gedichtteilen zueinander. Auch hier wird eine starre Regelmäßigkeit vermieden. 249 Etwas komplexer ist die Struktur der Praefatio. Sie besteht aus zweimal zwei Teilen, wobei jeweils einer negativen Aussage ein knapp doppelt so langer positiver Gegenpart folgt (4 + 7 und 3 + 5 Verse). Lediglich Lal. 31 und Lal. 34 lassen sich in zwei exakt gleich lange Hälften unterteilen, wobei in Lal. 34 jede Hälfte wiederum in 4 + 4 + 2 Verse zerfällt. In zwei Gedichten spiegelt die Struktur in besonderer Weise den Inhalt wieder. In Lal. 16 beschreibt Daphnis einen gemeinsamen Tag, der morgens beginnt und in den letzten Strophen mit einem Abendbild endet. In der mittleren Strophe ist die Hitze am größten, d.h. die Sonne steht sozusagen in der Mitte des Gedichtes am höchsten. In Lal. 18 wartet Daphnis auf Lalage, die verspätet auf der Weide eintrifft. Bei ihrer Ankunft ist sowohl die Tagesmitte als auch die Gedichtmitte überschritten. Dass sehr viele Gedichte nachvollziehbare Ordnungen aufweisen, macht es wahrscheinlich, dass auch dem weitgehenden Fehlen strukturierender Elemente in Lal. 40 eine bewusste Gestaltungsabsicht zugrundeliegt. Abgesehen von einer groben Zweiteilung können in diesem sehr langen Gedicht keine ordnenden Prinzipien ausgemacht werden. Daphnis trauert hier über den Tod der Geliebten Lalage. Es entsteht der Eindruck einer endlosen, ungegliederten, gleichsam in einem Atemzug hervorgestoßenen Klage. 1.2.2 Intertextualität In den vergangenen Jahrzehnten wurden zahlreiche Versuche unternommen, das Verhältnis von Texten zueinander in literaturtheoretischen Konzepten zu beschreiben. 250 Besonders breite Rezeption hat das Modell erfahren, das Genette auf den ersten Seiten des Buches „Palimpseste“ entwirft. 251 Seine Kategorien sind auch auf die Amores Pastorales anwendbar. So lassen 248 S. ausführlicher die Einleitung zu Eleg. 1. Weiter weisen auch Lal. 30, 32 und 39 zyklische Strukturen auf. 249 So besteht Lal. 3 aus 19 + 19 + 18 Versen; Lal. 14 aus zwei einleitenden Versen und dann vier Einheiten zu je sechs Versen, Lal. 15 aus 6 + 6 + 7 Versen, Lal. 22 aus drei größeren Abschnitten zu 4 + 6, 4 + 6 und 4 + 4 + 4 + 5 Versen und Lal. 27 aus 5 + 7 + 5 Versen. 250 Einen fundierten Überblick bietet Hubbard 1998, 7-17. 251 Genette 1993, vgl. bes. 9-18. <?page no="50"?> 1 Einleitung 50 sich die verschiedenen Formen intertextuellen Schreibens, derer Schoonhoven sich bedient, in einem einheitlichen System erfassen. Für eine detaillierte Betrachtung der Imitationstechnik ist neben Genettes übergeordneten Kategorisierungen jedoch ein feiner ausdifferenziertes begriffliches Instrumentarium vonnöten. In dem entsprechenden Unterkapitel (1.2.2.3) werde ich daher andere Konzepte hinzuziehen. 252 Das allgemeine Phänomen der Bezogenheit von Texten nenne ich weiterhin Intertextualität. Genette wählt stattdessen als Oberbegriff „Transtextualität“, doch hat sich dies, soweit ich sehe, nicht durchgesetzt. Genette unterscheidet fünf große Kategorien, die ich im Folgenden kurz skizziere. 253 Der Bereich der „Intertextualität“ umfasst bei ihm das wörtliche Zitat (oder Plagiat) und die etwas weniger wörtliche Anspielung. Als „Paratextualität“ ist die Beziehung der Paratexte (Titel, Vorwort usw.) zum Haupttext beschrieben. Unter „Metatextualität“ versteht Genette eine kommentierende Auseinandersetzung. Liegt ein konkreter Text einem anderen als strukturelle Folie zugrunde, spricht Genette von „Hypertextualität“, wobei die Vorlage „Hypotext“ heißt. Die Zuordnung zu einer Gattung wird als „Architextualität“ bezeichnet. In den folgenden Unterkapiteln sollen diese Kategorien auf die Amores Pastorales angewandt werden. Ich beginne mit dem grundlegenden Aspekt der Architextualität bzw. „Gattungszugehörigkeit“ (1.2.2.1). In Kapitel 1.2.2.2 wird die Paratextualität untersucht. Gegenstand der Betrachtung sind dort vor allem Schoonhovens Selbstaussagen in den Paratexten und das Verhältnis dieser Aussagen zum Haupttext. Die Intertextualität (in der Definition Genettes) und die Hypertextualität werden in Kapitel 1.2.2.3 gemeinsam behandelt, da sich dort Überschneidungen ergeben. Die Metatextualität ist hier nicht relevant, da Schoonhoven seine Gedichte selbst nicht kommentiert. Natürlich stellt mein Kommentar einen Metatext zum Buch Lalage sive Amores Pastorales dar. Ein gesonderter Abschnitt (Kap. 1.2.2.4) ist der Verwendung von Sentenzen im Lalage-Zyklus gewidmet. Vorab seien die wichtigsten antiken und frühneuzeitlichen Prätexte der Amores Pastorales zusammengestellt. Prinzipiell fällt die fast ausschließliche Konzentration auf poetische Vorlagen auf. Prosaisches wie etwa die eine 252 Seidel, der es unternommen hat, Genettes Modell systematisch auf Opitzens Hipponax ad Asterien anzuwenden, bemerkt dazu: „Ein heuristisch brauchbares Verfahren scheint mir in der Kombination aus konventioneller philologischer Textarbeit und dem Versuch zu bestehen, anhand der Kategorien Gérard Genettes die im Text aufzufindenden ‚transtextuellen‘ Schreibstrategien systematisch aufzufächern.“ (Seidel 2006, 173.) 253 In dem Buch „Palimpseste“ (Genette 1993) untersucht er die Hypertextualität in ihren einzelnen Aspekten (z.B. Parodie, Travestie). Die „Paratexte“ erhalten ein eigenes Werk (Genette 1989); s. dazu die Einleitung zu den „Paratexten.“ <?page no="51"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 51 oder andere ciceronianische Formulierung bleibt auf ein Minimum beschränkt. Die einzige größere Ausnahme ist Longos. (S. dazu unten.) Das Gros der antiken Autoren war Schoonhoven sicherlich aufgrund des Curriculums 254 der Lateinschule vertraut. 255 Zentrale Vorbilder des Lalage-Zyklus sind Plautus und Terenz, Lukrez, Catull, Vergil, Horaz, die Liebeselegiker, Ovids andere Werke, Seneca tragicus, Martial, Statius, Apuleius und Claudian. Bei anderen nachklassischen Autoren wie Silius Italicus, Lucan und Valerius Flaccus sind kaum direkte Imitationen nachzuweisen, sondern die meisten sprachlichen und motivischen Anklänge bebetreffen gängige Junkturen oder Topoi des Epos. Insgesamt muss man davon ausgehen, dass möglicherweise nicht alle imitierten Autoren vollständig gelesen wurden, sondern dass insbesondere einprägsame Wendungen und Sentenzen aus Florilegien bekannt waren. 256 Im Bereich der griechischen Poesie erfreuten sich um 1600 insbesondere Anakreon bzw. die Anakreonteen 257 sowie die Epigramme der Anthologia Graeca 258 großer Beliebtheit. Der Einfluss dieser Texte lässt sich im Lalage- Zyklus ebenfalls nachweisen, beginnend mit dem Motto Ex Anacreonte. 259 Wichtige Prätexte des bukolischen Lalage-Zyklus 260 sind Vergils Eklogen sowie griechische bukolische Texte. Insbesondere übernimmt Schoonhoven Motive aus Theokrit und Longos, aber auch aus Bions Epitaphios Adonidos. Wie Eigler am Beispiel des Johannes Secundus gezeigt hat, greifen Dichter des 16. Jahrhunderts nicht nur auf antike Texte, sondern auch auf die lateinische Literatur des Quattrocento zurück, wobei antike und neuzeitliche Vorbilder gleichberechtigt nebeneinanderstehen. 261 Für Schoonhovens Lalage-Zyklus ist hier vor allem die literarische Form der Lusus Pastorales von Bedeutung, wie sie von Navagero und Flaminio vertreten 254 Vgl. Barner 1970, 62-67; 254-258; 270-274. Demnach wurden seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts neben den „klassischen“ Texten vor allem des 1. Jahrhunderts v. Chr. verstärkt auch Autoren der silbernen Latinität rezipiert. 255 Diese Annahme liegt auch deshalb nahe, weil es sich um Jugenddichtung handelt, die zum Teil vielleicht noch während der Schulzeit und maximal bis zu zwei Jahren nach Studienbeginn entstand. Angaben speziell zum Curriculum der Latijnse School in Gouda habe ich leider nicht gefunden. Der Lektürekanon dort wird sich jedoch kaum von der allgemein üblichen Auswahl unterschieden haben. 256 Vgl. Barner 1970, 285-286. S. auch Kap. 1.2.2.4. 257 Zur fälschlichen Zuschreibung der Anakreonteen an Anakreon s. die Einleitung zu Ex Anacr. 258 Vgl. Hutton 1946, 13-33. 259 Dass Schoonhoven über Kenntnisse des Griechischen verfügte, zeigt sich auch daran, dass er im Emblembuch häufig griechische Autoren im Original zitiert. 260 Zur Gattungszugehörigkeit s. Kap. 1.2.2.1. 261 Vgl. Eigler 2004, bes. 121-124. <?page no="52"?> 1 Einleitung 52 wird. 262 Allerdings dient Schoonhoven, der etwa achtzig Jahre später schreibt als Johannes Secundus, auch die Literatur des 16. und sogar des beginnenden 17. Jahrhunderts bereits wieder als Vorbild. Hier zeigt der Niederländer sich durchaus heimatverbunden. Die Basia des Johannes Secundus gehören zu den wichtigen Prätexten des Lalage-Zyklus, ebenso wie das Ἐρωτοπαίγνιον des jüngeren Janus Dousa und die lateinische Liebesdichtung des Daniel Heinsius. Dousa der Jüngere hatte zudem fünf niederländische Sonette verfasst (Epigrammata quaedam Belgico idiomate). Einen Teil des dritten Epigramms überträgt Schoonhoven ins Lateinische und gliedert es seinem Lalage-Zyklus als Carmen XI, Ex Dousa Fil. versum ein. 263 1.2.2.1 Gattungszugehörigkeit In Bezug auf Schoonhovens Lalage sive Amores Pastorales muss zwischen den Paratexten, den vierzig Gedichten an Lalage und den beiden Elegien unterschieden werden. Die Elegiae am Schluss des Buches sind Liebeselegien im Sinne der antiken Gattungstradition. 264 Ihre Stellung und Funktion innerhalb des Gedichtbuches wird an anderer Stelle diskutiert. 265 In den folgenden Überlegungen zur Gattungszugehörigkeit des Lalage-Zyklus werde ich diese beiden Gedichte nicht weiter berücksichtigen. Paratexte, von Genette als „Beiwerk“ beschrieben, 266 haben generell eine Sonderstellung inne. Die Widmung und die Vorrede an den Leser unterscheiden sich schon dadurch vom folgenden Gedichtzyklus, dass sie in Prosa verfasst sind. Die Praefatio und das Motto gehören jedoch eng zu den Gedichten an Lalage 267 und werden daher hier gemeinsam mit dem Lalage- Zyklus betrachtet. Die Gedichte an Lalage präsentieren sich dem Rezipienten als Lieder des Hirten Daphnis, der seine Herden weidet, auf seiner Hirtenflöte spielt und die Hirtin Lalage umwirbt. Thematisch steht das Buch Lalage sive Amores Pastorales folglich in der Tradition antiker Bukolik. Formal knüpft Schoonhoven jedoch an eine neulateinische Literaturform an, die Lusus Pastorales, die ebenfalls dem Bereich der Hirtendichtung zuzurechnen sind, aber keine hexametrischen Eklogen bilden. Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt darlegen, welchen antiken Gattungen der Lalage-Zyklus verpflichtet ist. Dabei kommt der Buko- 262 S. dazu Kap. 1.2.2.1. 263 S. die Einleitung zu Lal. 11. 264 Zu den Gattungsmerkmalen vgl. Holzberg 2001, 1-4. Die Ansiedelung im ländlichen Milieu ließe sich hier mit dem Einfluss Tibulls hinreichend erklären. 265 S. die Einleitung zu den Elegiae sowie Kap. 1.2.1.1. 266 Vgl. Genette 1989, 9-10. 267 S. die Einleitung zu den „Paratexten.“ <?page no="53"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 53 lik eine besondere strukturelle Bedeutung zu, weshalb ich eine ausführliche Erläuterung des Begriffes „Bukolik“ voranstellen werde. In einem zweiten Schritt sollen die Lusus Pastorales genauer betrachtet werden. Dabei wird zu zeigen sein, dass auch diese Form der Gattungsmischung ihre Wurzeln bereits in der Antike hat. Die Begriffe „Bukolik“ und „bukolisch“ werden in der modernen Forschung zum Teil in sehr unterschiedlicher Weise gebraucht. Erstens kann ein Textcorpus bestimmter Autoren als „bukolisch“ bezeichnet werden, zum Beispiel für den Hellenismus die Werke des Theokrit, des Moschos und des Bion sowie Gedichte, die ihnen zugeschrieben wurden. 268 Zweitens kann die Gattung „Bukolik“ anhand inhaltlicher und formaler Kriterien definiert werden. Auch hier existiert jedoch kein einheitliches, allgemein anerkanntes Konzept. Die Schwierigkeit besteht vor allem darin, dass - im Gegensatz etwa zu den homerischen Epen - am Anfang der bukolischen Tradition kein homogenes Werk steht, in dem alle Gattungsmerkmale bereits ausgeprägt sind. 269 Theokrit gilt zwar als Archeget der Gattung, doch entsteht das Genre der Bukolik erst allmählich in selektierender Auseinandersetzung mit Theokrit, ein Entwicklungsprozess, der sich bis zu den Eklogen Vergils fortsetzt. 270 Schmidt versucht daher eine Definition des Bukolischen anhand der Elemente, die Vergil von Theokrit übernimmt. 271 Als „grundlegende Gattungsmerkmale der Bukolik“ benennt er das Auftreten von Hirten als Sängern, ein kallimacheisches Stilideal, Kürze, das Verwenden des Hexameters als Metrum sowie das Stattfinden von Rollenwechseln. 272 Abseits einer Gattungsdefinition kann drittens auch allgemein von „bukolischen“ Elementen oder Motiven die Rede sein, ohne dass ein Text insgesamt bestimmte Gattungsmerkmale aufwiese. 273 268 So z.B. Bernsdorff (2001, 10-11) unter Berufung auf den antiken Sprachgebrauch. 269 Auch Effe (2001, 12) macht darauf aufmerksam, dass „die Rede von der bukolischen Gattung alles andere als eine unproblematische Selbstverständlichkeit darstellt.“ 270 Vgl. z.B. Schmidt 1972, 16: „Die … These, daß grundlegend für die Bukolik die Merkmale seien, die Vergil mit Theokrit teilt, besagt, Vergil sei in der Weise für die Nachfolger verbindlich gewesen, daß die grundlegenden Gattungsmerkmale bei ihnen erhalten blieben.“ Effe (2001, 33-34) nennt Vergil den „ersten, gleichsam mustergültigen Repräsentanten“ der Bukolik. Effes Bewertung von Vergils Eklogen als eskapistische und sentimentale Dichtung ist jedoch zurecht kritisiert worden; als Beispiel nenne ich nur Schmidt 1987, 106: „Die Deutung antiker nachtheokritischer Bukolik generell als Städtersehnsucht, Gefühls- und Gegenwelt ist ein Mißverständnis im Rezeptionsbann neuzeitlicher Pastorale.“ 271 Vgl. Schmidt 1972, 14; vgl. auch Bernsdorff 2001, 12 mit Anm. 10. 272 Vgl. Schmidt 1972, 9-57. 273 So kann, um nur ein Beispiel zu nennen, Rhode (1937, 26-27) von Longos als „Bukoliker“ sprechen. <?page no="54"?> 1 Einleitung 54 Ich halte es für sinnvoll, einerseits die Begriffe „bukolisch“ und „Bukolik“ in der dritten, allgemeinen Weise zu verwenden, andererseits jedoch von einer Zugehörigkeit zur „Gattung Bukolik“ nur dann zu sprechen, wenn bestimmte inhaltliche und formale Kriterien erfüllt sind. Grundsätzlich übernehme ich dabei die von Schmidt erarbeiteten Gattungsmerkmale. 274 Ich bin mir bewusst, dass diese strikte Definition etliche Texte ausschließt, die gemeinhin zur Bukolik gezählt werden. Dies gilt einerseits für die hellenistische Literatur zwischen Theokrit und Vergil, andererseits auch für späte Texte wie das Gedicht De mortibus boum des Endelechius. Im ersten Fall bewegen wir uns im Bereich der allmählichen Herausbildung der bukolischen Gattung, deren Entstehungsprozess jedoch noch nicht abgeschlossen ist. So sind zum Beispiel in Bions Epitaphios Adonidos bereits viele bukolische Elemente vorhanden, doch gibt sich das Gedicht nicht als Hirtengesang, sondern als Kultlied. Man wird hier vielleicht von einer Vorstufe der bukolischen Gattung im engeren Sinne sprechen. In der Spätantike ist dagegen das umgekehrte Phänomen zu beobachten, dass die inzwischen deutlich ausgeprägte Gattung der Bukolik in einzelnen Punkten modifiziert wird. 275 Versuchen wir nun, den Lalage-Zyklus mithilfe der von Schmidt definierten Merkmale einzuordnen. Der Hirte Daphnis ist Sänger von Hirtenliedern und thematisiert sein Dichter- und Sängertum sogar immer wieder selbst. 276 In der Praefatio spricht ein bukolischer Dichter und Sänger, der jedoch nicht mit Daphnis identisch ist. Man sieht hier, wie der Dichter der Amores Pastorales in die Rolle des dichtenden Hirten Daphnis schlüpft. 277 Innerhalb des Lalage-Zyklus findet kein weiterer Rollenwechsel statt, sondern alle Gedichte werden von Daphnis gesungen. 278 Für Schoonhovens Zeit problematisch ist die Kategorie des kallimacheischen Stilideals, da der programmatische Aitienprolog erst 1927 entdeckt wurde. 279 Man kann dennoch sagen, dass Schoonhoven sich an diesem Stilideal orientiert, insoweit es ihm durch die römischen Dichter vermittelt wurde. Kürze ist gegeben, doch wird dabei die übliche Länge eines durchschnittlichen theokriteischen Idylls 280 oder einer vergilischen Ekloge sehr oft signifikant 274 Zu ergänzen wäre vielleicht noch eine bestimmte Topik (etwa locus amoenus, „pathetic fallacy“). 275 Am Beispiel des Endelechius ist dies unten genauer ausgeführt. 276 S. z.B. Lal. 1,15-16; 6,51-52; 7,1-4; 12,1-3; 21,3-4; 34,1-4. 277 S. die Einleitung zu den „Paratexten.“ 278 Die einzige Ausnahme bildet das Echoreimgedicht Lal. 28, das jedoch für die antike Bukolik ganz untypisch ist. (Zu dieser literarischen Form s. die Einleitung zu Lal. 28.) Gelegentlich referiert Daphnis Äußerungen anderer Personen in wörtlicher Rede (z.B. Lal. 12,22-26), doch findet dabei kein aktueller Dialog statt, sondern auch diese Verse sind Teil von Daphnis’ Lied. 279 Vgl. Cameron 1995, 104 und 476; s. auch den Komm. zu Praef. 1-2. 280 [Theoc.] 19 mit acht Versen bildet eine einzelne Ausnahme. <?page no="55"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 55 unterschritten. 281 Auffällig ist die Verwendung lyrischer Versmaße statt des Hexameters, 282 worauf ich gleich noch ausführlicher eingehen werde. Der Lalage-Zyklus ist demnach „bukolisch“, kann aber nicht eindeutig der „Gattung Bukolik“ zugerechnet werden. 283 Insbesondere die äußere Form - die Metrik und die Kürze vieler Gedichte - spricht gegen eine solche Zuordnung. In der antiken Bukolik singen oftmals Hirten von ihrer unglücklichen Liebe, 284 doch ist dort nie eine längere Sequenz aufeinanderfolgender Gedichte einer einzigen Liebesgeschichte gewidmet. Gleiches gilt für die Lyrik des Horaz. 285 Im Lalage-Zyklus wird aus der Perspektive des Liebhabers eine sich allmählich entwickelnde Liebesbeziehung vom ersten Werben des Daphnis über eine lange Zeit häufigen Liebeskummers und seltener glücklicher Momente bis zum Höhepunkt und anschließenden tragischen Ende geschildert. Grundsituation, Aufbau und Kompositionsprinzipien weisen dabei vor allem Ähnlichkeiten mit der römischen Liebeselegie und dem griechischen idealisierenden Liebesroman auf. Schoonhoven übernimmt zudem viele Topoi und Motive der Liebeselegie, beispielsweise die militia amoris, 286 die Sprödigkeit der Geliebten, 287 die topische Blässe und Magerkeit des Liebenden 288 oder auch das Singen eines Paraklausithyrons. 289 Schon in Catulls Lesbia-Gedichten finden wir die Situation, dass ein Liebender etliche Gedichte an dieselbe Geliebte richtet. In der Liebeselegie wird dies zum alleinigen Thema ganzer Gedichtbücher. 290 Bei den drei Liebeselegikern Tibull, Properz und Ovid hat man immer wieder thematische Zyklen zu identifizieren versucht, bei denen bei linearer Lektüre eine 281 Die kürzesten Gedichte sind Lal. 11 mit neun Versen und Lal. 19 mit acht Versen. 282 In daktylischen Hexametern ist nur ein einziges der 40 Gedichte an Lalage verfasst, Lal. 24. 283 Schoonhovens Buch Bucolica, das in den Poemata antehac non edita auf die Amores Pastorales folgt, gehört dagegen der Gattung Bukolik an, da die wesentlichen Merkmale erfüllt sind: Die sechs Gedichte der Bucolica sind jeweils als Ecloga betitelt. Sie sind in Hexametern verfasst, ihre Länge übersteigt die eines theokriteischen Idylls oder einer vergilischen Ekloge nicht. Es treten Hirten auf, die singen, wobei oft unglückliche Liebe das Thema ihres Gesanges ist. Die ersten fünf Eclogae sind dialogisch; die letzte besteht aus einer kurzen extradiegetischen Einleitung und einem den Rest des Gedichtes umfassenden Monolog, so wie es auch in Vergils zweiter Ekloge der Fall ist. 284 Z.B. Theoc. 11; Verg. ecl. 2. 285 Z.B. Hor. carm. 1,13. 286 S. z.B. Lal. 27,19-20. 287 S. z.B. Lal. 5,1. 288 S. z.B. Lal. 4,34-35. 289 Lal. 31. 290 Bei Tibull kommen allerdings mehrere Geliebte vor: Delia, Nemesis und der Junge Marathus. <?page no="56"?> 1 Einleitung 56 Entwicklung der Handlung festzustellen ist. 291 Holzberg spricht hier sogar - wenn auch in Anführungszeichen - von „Liebesromanen“, so etwa dem „Delia-Roman“, dem „Marathus-Roman“ und dem „Nemesis-Roman“ bei Tibull. 292 Bekanntlich werden dabei keine partnerschaftlichen Beziehungen beschrieben, sondern erotische Liebesverhältnisse mit Frauen von sozial niedrigerem Stand. Letzteres gilt für den Lalage-Zyklus nicht, denn Daphnis und Lalage sind beide Hirten. So wie in der Liebeselegie wird jedoch auch hier das Geschehen stets aus männlicher Perspektive erzählt, und es findet eine sehr weitgehende Konzentration auf den körperlich-erotischen Bereich statt. Das Werben um Lalage ist letztlich eine Eroberung, die in Gedicht 38 gipfelt, das die passende Überschrift Lalage potitus triumphat trägt. 293 Daphnis und Lalage sind keine städtischen Liebenden, sondern Hirten, die in den Bergen ihre Schafe und Ziegen weiden. Hier ist das wichtigste Vorbild Longos’ Hirtenroman Daphnis und Chloe, 294 der eine Gattungsmischung aus Bukolik und idealisierendem Liebesroman darstellt. 295 Wenngleich der Lalage-Zyklus keine Prosaerzählung ist, lassen sich dennoch romanhafte Elemente feststellen. Insbesondere wirkt der Handlungsverlauf kohärenter als in der Liebeselegie. Die Entwicklung steuert trotz des zeitweise wechselnden Liebesglücks des Daphnis insgesamt deutlich auf eine sexuelle Vereinigung zu, die dann gegen Ende (Lal. 38) tatsächlich stattfindet. 296 Während Longos’ Geschichte ein romantypisches „Happy Ending“ aufweist, folgen bei Schoonhoven jedoch unmittelbar Krankheit und Tod der Geliebten (Lal. 39 und 40); eine Hochzeit bleibt bloßes Wunschdenken. 297 Eine Besonderheit von Longos’ Daphnis und Chloe im Vergleich zu anderen griechischen Liebesromanen ist, dass das Zusammenkommen der Liebenden nicht in erster Linie durch äußere Einflüsse wie Verschleppung durch Piraten und sonstige Abenteuer verhindert wird, 298 sondern durch die geradezu unglaubliche Naivität der beiden Hirtenkinder, die erst einer Anleitung in erotischen Dingen bedürfen. Diese Naivität teilen Schoonhovens Daphnis und Lalage nicht, sondern die Vereinigung wird dadurch 291 Vgl. z.B. Manuwald 2006, 230-231 zu Properz; Neumeister 1986, 89-106 zu Tibull; Holzberg 2001 passim. 292 Vgl. Holzberg 2001, 40 und 87-93. 293 Zu Ovidreminiszenzen s. den Komm. dort. 294 Schoonhoven übernimmt von Longos auch zahlreiche einzelne Motive. S. dazu die Einzelkommentare. 295 Vgl. Effe/ Binder 2001, 42. 296 Ein solcher Aufschub des erotischen Höhepunktes ist der römischen Liebeselegie fremd. Vgl. z.B. Ov. am. 1,5. 297 S. Lal. 14,21-26. 298 Diese Motive kommen zwar noch vor, jedoch nur als kurze Episoden und nicht als maßgebliche Handlungsträger. <?page no="57"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 57 verzögert, dass Lalage sich gleich einer elegischen Geliebten spröde gibt 299 und mühsam umworben werden muss. Romanhaft ist wiederum, das neben dem Liebhaber und der Geliebten weitere Personen auftreten, die nicht nur nach ihrer Rolle zum Beispiel als rivalis bezeichnet werden, sondern Namen erhalten. 300 In der humanistischen Literatur ist ein Einfluss des Longos erst ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in nennenswertem Umfang nachzuweisen. Etwas früher finden wir eine Szene aus dem Roman - Chloe schläft, während Daphnis sie verliebt betrachtet - in der bildenden Kunst auf einem wohl vor 1516 entstandenen Gemälde. 301 Die literarische Longos-Rezeption findet zuerst in der Dichtung statt. Im Jahre 1555 veröffentlichte Henricus Stephanus (Henri Estienne) zwei lateinische Gedichte, die Motive aus Longos’ erstem Buch aufgreifen, Chloris und Rivales. Im ersten Gedicht verliebt sich die Hirtin Chloris, als sie Daphnis beim Bade sieht. Die Szene bei Longos ist bekannt, und auch die Namensähnlichkeit von Chloris und Chloe ist sicherlich kein Zufall. Im zweiten Gedicht wetteifern zwei Rivalen um den Kuss einer Hirtin, was natürlich auf den Wettstreit von Daphnis und Dorkon um einen Kuss Chloes anspielt. 302 In den folgenden Jahrzehnten wurde Longos’ Roman vor allem in der volkssprachlichen Literatur rezipiert, in poetischen Schäferspielen und schließlich auch in Prosa-Romanen wie zum Beispiel dem Schäferroman Astrée des Honoré d’Urfé. Dessen erster Band erschien 1607, also kurz vor Schoonhovens Gedichten. Eine Besonderheit der Longos-Rezeption liegt darin, dass der Text zunächst nur in Übersetzungen verbreitet war, während die Editio princeps des griechischen Originals erst in das Jahr 1598 fällt. 303 Große Berühmtheit erlangte die französische Übertragung des Amyot, die zuerst 1559 anonym in Paris erschien und in den folgenden Jahrzehnten mehrere Auflagen erhielt. 304 Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch Schoonhoven den Roman in dieser Version kennen lernte. 299 Zur Hartherzigkeit der Geliebten als Topos der Liebeselegie s. den Komm. zu Lal. 5,1: duritiem. Schoonhoven übernimmt auch weitere Motive der Liebeselegie, z.B. die militia amoris (Lal. 27,19-20) oder die topische Blässe und Magerkeit des Liebenden (Lal. 4,34-35). S. auch Kap. 1.2.2.1. 300 S. auch Kap. 1.2.1.2 b. In den beiden Elegiae ist dagegen von einem namenlosen rivalis die Rede. 301 Giovanni Battista Bertucci; vgl. Hardin 2000, 28. 302 Vgl. Hardin 2000, 29. 303 In Florenz; vgl. Schönberger 1960, 33. 1601 erschien in Heidelberg eine griechische Ausgabe mit lateinischer Prosaübersetzung (vgl. H. Hofmann 1999, 9). Die lateinische Versübersetzung des Lorenzo Gambara (Neapel 1574) war wohl unvollständig; erotische Szenen wie die Initiation des Daphnis durch Lykainion fehlten, außerdem die Mythen. 304 Vgl. H. Hofmann 1999, 9 (noch 1578, 1595, 1596); Hardin 2000, 32; Schönberger 1960, 34. <?page no="58"?> 1 Einleitung 58 Schoonhoven vereint in den Amores Pastorales Elemente verschiedener antiker Gattungen. Grant bezeichnet die Gedichte an Lalage als „forty pastoral vignettes in lyric form (lusus pastorales).“ 305 Die Lusus pastorales wurden von Pietro Bembo (1470-1547) und Andrea Navagero (1483-1529) eingeführt und von Marcantonio Flaminio (1498-1550) vervollkommnet. 306 Navageros Lusus und die Carmina des Flaminio sind nachweislich wichtige Prätexte des Lalage-Zyklus. 307 Neben zahlreichen wörtlichen Anspielungen und motivischen Übernahmen finden sich in einigen Fällen auch strukturelle Parallelen. 308 Schon in Navageros Lusus nimmt die Liebesthematik breiten Raum ein, doch kommen hier auch Gedichte ohne erotische Komponente vor. 309 Flaminio verfasste zwei Bücher Lusus Pastorales, 310 beide erotischen Inhalts. Im ersten Buch werden zahlreiche Geliebte angesprochen. Nicht selten richten sich mehrere aufeinanderfolgende Gedichte an dieselbe Frau, doch wird insgesamt keine fortlaufende Geschichte erzählt. Größere innere Geschlossenheit herrscht im zweiten Buch. Es handelt von der schönen Schäferin Hyella, die bereits zu Beginn aus Liebeskummer stirbt und von ihrem Geliebten, der gezwungen worden war, ein anderes Mädchen zu heiraten, unter Selbstvorwürfen betrauert wird. 311 Die Lusus pastorales lassen sich im Wesentlichen als Kreuzung 312 aus Lyrik bzw. Epigrammatik und Bukolik 313 beschreiben. Diese Gattungsmischung ist in mehrfacher Hinsicht bereits in der Antike angelegt: 314 Zum einen gibt es Epigramme und lyrische Gedichte bukolischen Inhalts, und zum anderen eignet der Bukolik, auch wenn sie traditionell im katalekti- 305 Grant 1965, 182. 306 Vgl. z.B. Grant 1965, 141 und 336; Ellinger 1933, 201-202 und 208-215. Das Verfassen solcher „Hirtenspiele“ erfreute sich bis ins 18. Jahrhundert einiger Beliebtheit. Grant führt etliche weitere Beispiele an; vgl. 1965, 151; 152; 160; 163; 178; 194. 307 Schoonhoven könnte beispielsweise eine Ausgabe der Carmina quinque illustrium poetarum (Venedig 1548) vorgelegen haben, die unter anderem die Gedichte Bembos, Navageros und Flaminios enthält. 308 S. auch Kap. 1.2.2.3. Z.B. diente Navag. Lus. 19 für Lal. 5 als Vorbild; Flam. Lus. Past. 4 für Lal. 3; Flam. Lus. Past. 20 für Lal. 17. 309 Z.B. Navag. Lus. 1. 310 Ein Großteil von Buch 3 sowie das ganze Buch 4 der Carmina. 311 Grant (1957, 94) nennt den Tod eines Liebenden und die Trauer des oder der Zurückbleibenden als typisches Element italienischer Lusus Pastorales. 312 Ich bin mir der Problematik dieses Begriffes bewusst (vgl. dazu Thomas 1996, 227-246), möchte „Kreuzung“ hier jedoch nicht im quasi biologischen Sinne als bewusstes Kreuzen zweier Gattungen verstehen mit dem Ziel, eine Hybridgattung zu schaffen. „Kreuzung“, ebenso wie „Gattungsmischung“, soll lediglich das Ergebnis beschreiben, nämlich eine Literaturform, in der sich Merkmale unterschiedlicher Gattungen nachweisen lassen, unabhängig davon, auf welche Weise diese Mischform zustande gekommen ist. 313 Der Begriff ist hier im oben definierten Sinne der Gattung Bukolik zu verstehen. 314 Dazu grundsätzlich immer noch W. Kroll 1964, 202-224. <?page no="59"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 59 schen daktylischen Hexameter verfasst ist, durchaus etwas Lyrisches. Insgesamt können Elemente anderer Gattungen in die Bukolik integriert werden. Harrison hat dies für Vergils Bucolica, besonders die vierte, sechste und zehnte Ekloge, ausführlich dargelegt. 315 Bukolische Themen finden sich bereits in hellenistischen Epigrammen. Dazu gehören mehrere Theokrit zugeschriebene Epigramme 316 sowie einige in der Anthologia Palatina überlieferte Stücke. 317 Für Schoonhovens Lalage-Zyklus ist die Lyrik bedeutsamer als die Epigrammatik, 318 speziell sein großes Vorbild Horaz. 319 Neben ganzen Horazoden bukolischen Inhalts finden sich manchmal auch einzelne bukolisch anmutende Strophen. Es überrascht nicht, dass Schoonhoven diese Gedichte und Passagen im Lalage-Zyklus besonders häufig imitiert. 320 Die Verwendung des Hexameters gehört zu den „grundlegenden Gattungsmerkmalen“ der Bukolik. 321 Schmidt 322 nennt als einzige Ausnahme das pseudo-theokriteische 8. Idyll, das innerhalb eines hexametrischen Rahmens einen Wechselgesang zwischen zwei Hirten in elegischen Distichen bietet. Für die weitere Entwicklung bukolischer Dichtung ist jedoch ebenfalls nicht ohne Bedeutung, dass drei Gedichte Theokrits in lyrischen Versmaßen verfasst sind: die Idyllen 28 und 30 in großen Asklepiadeen und Idyll 29 in Sapphischen Vierzehnsilblern. Keines dieser drei Gedichte ist bukolisch zu nennen, doch da Theokrit in späterer Zeit vor allem als Bukoliker rezipiert wurde, konnte die Tatsache, dass er auch in lyrischen Versmaßen gedichtet hat, die Verbindung von Lyrik und Bukolik erleichtern. Bukolische Dichtung in lyrischen Versen entsteht erst in der Spätanti- 315 Vgl. Harrison 2007, 34-74. 316 Theoc. Ep. 1-6. 317 Vgl. z.B. Vischer 1965, 129-130; W. Kroll 1964, 207-208. 318 Die Lusus des Navagero enthalten in der ersten Hälfte hauptsächlich Epigramme. Flaminios Lusus Pastorales (= ein Großteil des Buches 3 der Carmina) bestehen ausschließlich aus kurzen Epigrammen, während erst Carm. 4, das Buch über den Tod der Hyella, größere Vielfalt aufweist. In Schoonhovens Lalage-Zyklus findet sich dagegen nur ein echtes Epigramm (Lal. 19). 319 S. dazu auch Kap. 1.2.2.2 und 1.2.2.3. 320 Hor. carm. 1,17; 2,3,9-12; 2,19,1-4; 3,13; 3,18; 3,29,21-24; 4,12. In einigen Fällen dient eine solche Horazode auch als strukturelle Folie für ein Gedicht an Lalage: Hor. carm. 3,18 für Lal. 30; Hor. carm. 4,12 für Lal. 33. Drei weitere Horazoden weisen zumindest eine gewisse Nähe zur bukolischen Sphäre auf: Hor. carm. 1,9 (Folie für Lal. 8; auch sonst im Lalage-Zyklus oft imitiert) durch die Naturbeschreibungen, Hor. carm. 1,23 (Folie für Lal. 20) durch die Umgebung (Wald, Berge) und Hor. carm. 2,17 (Folie für Lal. 39) aufgrund der Nennung des Faun als hilfreicher Gottheit in den Versen 27-32. S. jeweils auch die Kommentare zu den einzelnen Gedichten. Schoonhovens Horazadaptation ist jedoch auch in den Amores Pastorales keineswegs auf bukolische Passagen beschränkt. 321 Da in der Antike die Gattungen nach metrischen Kategorien eingeteilt wurden, gehört die Bukolik nach antikem Verständnis zum Epos. Vgl. z.B. Schmidt 1972, 38-39 und 282. 322 Schmidt 1972, 38. <?page no="60"?> 1 Einleitung 60 ke. 323 Erhalten ist das in asklepiadeischen Strophen 324 verfasste Gedicht De mortibus boum des Endelechius (um 400 n. Chr.). Nach Schmidts Definition sind hier die Gattungsgrenzen bereits überschritten, 325 doch in der Regel wird Endelechius’ christliches Hirtengedicht noch zur Gattung der Bukolik gerechnet. 326 Abgesehen vom Metrum knüpft Endelechius formal an die bukolische Tradition an, indem er das Gedicht als Dialog von Hirten gestaltet. 327 Hierin unterscheidet er sich von Paulinus von Nola, dessen christlich-bukolische Gedichte formal der Heiligenpoesie angehören. 328 In einem allgemeineren Sinne „lyrisch“ ist auch die hexametrische antike Bukolik. Die Einteilung in Strophen, ein genuin lyrisches Element, ist in der Bukolik sehr häufig anzutreffen, sei es beim Wechselgesang von Hirten oder in längeren durch Refrainverse gegliederten Liedern. 329 Kroll stellt fest, es gebe in der Bukolik „ganz Lyrisches, wie die Adonisklage des Bion in der Form eines Kultgedichtes zum Adonisfeste.“ 330 Vergleichbares lässt sich z.B. auch in der hexametrischen Epithalamiendichtung beobachten, so in Catulls Carmen 62, einem strophischen Hochzeitslied mit Refrainver- 323 Ich mache einen Unterschied zwischen bukolischer Dichtung, die sich lyrischer Versmaße bedient, und lyrischer Dichtung (etwa des Horaz), die sich bukolischer Motive bedient. Dies entspricht Harrisons Unterscheidung von „host genre“ und „guest genre.“ (Zur Definition vgl. Harrison 2007, 16.) 324 Hans Bernsdorff wies mich mündlich darauf hin, dass der Beginn eines Asklepiadeus dem eines daktylischen Hexameters gleiche. So werde jeweils am Versanfang die durch die Gattungstradition vorhandene Erwartung, hexametrische Dichtung vorzufinden, scheinbar bestätigt. Erst in der zweiten Vershälfte zeige sich der Bruch mit der Tradition. 325 Nicht nur wird ein anderes Metrum verwendet, sondern auch das Sängertum der Hirten steht nicht mehr im Mittelpunkt. 326 Schmid (1976, 70-71) verweist darauf, dass bereits Septimius Serenus (2. Jahrhundert n. Chr.) in seinen allerdings nur fragmentarisch erhaltenen Opuscula ruralia lyrische Metren verwendet habe, so dass Endelechius „jedenfalls nicht zu befürchten [brauchte], durch seine im Einklang mit Paulinus stehende Horaznachfolge im Metrischen, die Bahn bukolisch-idyllischer Dichtung zu verlassen.“ Binder (2001, 49) konstatiert, die römische Bukolik reiche von Vergil „bis zu Nemesianus (spätes 3. Jahrhundert) und, wenn man weit gehen will, bis zu einem bereits christianisierten ‚Hirtengedicht‘ eines Severus Sanctus Endelechius über das Rindersterben (um 400). Sehr viel weiter reicht die Hirtendichtung in lateinischer Sprache (…).“ Das Metrum von De mortibus boum beschreibt Binder zwar (141), reflektiert die ungewöhnliche Verwendung lyrischer Strophen in einem bukolischen Gedicht jedoch nicht. 327 So auch Schmid 1976, 66. Die Hirten tragen zudem dezidiert bukolische Namen: Aegon, Bucolus und Tityrus. 328 Vgl. Schmid 1976, 66; Effe/ Binder 2001, 146. 329 Wechselgesang z.B. Theoc. 5; Verg. ecl. 3; 7; Calp. ecl. 2; Refrainverse z.B. Theoc. 1; 2; Bion, Epitaphios Adonidos; Verg. ecl. 8; Nemes. 4. 330 W. Kroll 1964, 205. Zur Problematik der Gattungszugehörigkeit dieses Gedichtes s. oben. <?page no="61"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 61 sen. 331 Auch die Form eines bukolischen Hexameters unterscheidet sich von der eines epischen, etwa in der Häufigkeit, mit der die sogenannte „bukolische Dihärese“ auftritt. 332 Auch die Verbindung von Bukolik und Liebeselegie ist bereits in der antiken Dichtung angelegt. 333 So ist die Liebesdichtung Tibulls im ländlichen Milieu angesiedelt, wenngleich dort im Unterschied zur Bukolik nicht das Leben von Hirten geschildert wird. 334 Unglückliche Liebe ist auch ein häufiges Thema der Hirtenlieder in der Bukolik. Vergil geht noch einen Schritt weiter, indem er in der zehnten Ekloge den Liebeselegiker Gallus auftreten lässt und von seiner Liebe zu Lycoris erzählt, wobei er Elemente der Liebeselegie in die bukolische Dichtung integriert. 335 Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, stellen die neulateinischen Lusus Pastorales eine harmonische Weiterentwicklung antiker Formen dar. Pastorale Inhalte erscheinen in teils lyrischen, teils epigrammatischen Versmaßen; gelegentlich kommen auch längere Gedichte in Hexametern vor. 336 Wichtige antike Vorbilder sind Vergil und Theokrit, Catull und Horaz. Dass der Lalage-Zyklus vor allem eine Mischung aus Bukolik, Lyrik, Liebeselegie und Liebesroman sei, scheint Schoonhoven selbst durch die Wahl des Titels nahezulegen. 337 Dies gehört jedoch bereits in den Bereich der Paratextualität, die im folgenden Kapitel untersucht werden soll. 1.2.2.2 valles, quas tenuit meus Catullus Im Titel des Buches Lalage sive Amores Pastorales spielt Schoonhoven bereits auf mehrere antike Literaturgattungen an, die dem Lalage-Zyklus zugrundeliegen: Lalage heißt eine Geliebte in Horaz’ Lyrik, 338 Amores deutet auf die 331 Bereits von Sappho sind hexametrische Fragmente erhalten; vgl. fr. 104a; 105a+b; 106; 142; 143 V. 332 Schmidt (1972, 39-45) beschreibt ausführlich die Besonderheiten eines bukolischen Hexameters. 333 Vgl. z.B. W. Kroll 1964, 205-206. 334 Zum Einfluss Tibulls s. bes. noch die Einleitung zu den Elegiae und zu Eleg. 1. 335 Dazu ausführlich Harrison 2007, 59-74. Reed wendet in seiner Rezension dazu ein, dass es für Vergils Zeit verfrüht sei, von der Liebeselegie als Gattung zu sprechen. (Vgl. Classical Philology 105,1, 2010, 117.) In der späteren Rezeption wurde Gallus jedoch als Liebeselegiker gesehen, so dass der Einwand für die weitere Entwicklung in der Frühen Neuzeit unerheblich ist. Zur Bedeutung von Vergils zehnter Ekloge für die bukolische Literatur der Renaissance vgl. auch Schmidt 1987, 246-247. 336 Z.B. Navag. Lus. 20; 27; 44. Im Lalage-Zyklus ist nur ein Gedicht (Lal. 24) in Hexametern verfasst. Schoonhoven übernimmt dort Strukturelemente einer antiken Ekloge, während sich gleichzeitig epische Reminiszenzen nachweisen lassen; s. die Einleitung zu Lal. 24. 337 S. auch die Einleitung zu den „Paratexten“: „Autor und Titel.“ 338 Hor. carm. 1,22 und 2,5. <?page no="62"?> 1 Einleitung 62 Liebeselegie und Pastorales auf die Bukolik. 339 Gleichzeitig könnte Amores Pastorales auf den Titel der französischen Longos-Übersetzung des Amyot verweisen, die zu Schoonhovens Zeit sehr verbreitet war, Les Amours Pastorales. 340 Broich führt solche impliziten, für den gebildeten Leser jedoch aussagekräftigen Titelangaben unter den „Formen der Markierung von Intertextualität“ auf. 341 Die Paratexte enthalten jedoch noch weitere programmatische Aussagen. Vor allem stellt Schoonhoven sich in der Praefatio dezidiert in die Nachfolge Catulls. Nach einer recusatio in der Manier der augusteischen Dichter 342 fährt er fort: nobis sufficiet vel in virentis / prati gramine vallibusve curvis, / quas quondam tenuit meus Catullus, / agresti Lalagen sonare Musâ. 343 Die Praefatio ist im typisch catullischen Metrum des Phalaeceus verfasst und weist insgesamt viele Catullreminiszenzen auf. 344 Gerade die soeben zitierten Verse evozieren jedoch darüber hinaus zwei weitere wichtige Prätexte, Horaz und Vergil. Der Ausdruck Lalagen sonare lässt sich zu Hor. carm. 1,22,10 (meam canto Lalagen) zurückverfolgen; agresti … Musâ erinnert an Verg. ecl. 6,8 (agrestem tenui meditabor harundine Musam). Außerdem versetzt Schoonhoven „seinen“ Catull in eine bukolische Umgebung der grünen Wiesen und Täler und damit in ein bukolisches „Feld“ der Dichtung. 345 Schoonhoven kombiniert also geschickt mehrere metapoetische Aussagen. Sein explizites Bekenntnis zur Catullimitation wird dadurch, dass ausgerechnet diese Verse abgesehen vom Metrum viel eher horazisch und vergilisch als catullisch erscheinen, relativiert. Obwohl Schoonhoven nur Catull namentlich nennt, macht er implizit deutlich, dass er anderen antiken Autoren mindestens ebensoviel verdankt. Die Gedichte Catulls waren während des Mittelalters bekanntlich verschollen. Nachdem um 1300 eine Handschrift gefunden worden war, begann ein mühsamer Prozess der Textrekonstruktion und Interpretation. 346 Giovanni Pontano (1429-1503) gilt als der erste, der den Stil Catulls in umfassender Weise nachahmte. 347 Er gab die Richtung der folgenden Catull- 339 S. dazu ausführlicher die Einleitung zu den „Paratexten.“ 340 Vgl. H. Hofmann 1999, 9 (erschienen zuerst 1559 in Paris, weiter 1578, 1595, 1596); Hardin 2000, 32; Schönberger 1960, 34. Zur Longos-Rezeption s. auch Kap. 1.2.2.1. 341 Vgl. Broich 1985, 36-37. Harrison (2007, 22-23) zählt die Titelangaben zu den „metageneric signals“ für die Zugehörigkeit zu einer Gattung. 342 S. die Einleitung zur Praef. 343 Praef. 5-8. Zu den folgenden Ausführungen s. auch den Komm. dort. 344 S. die Einzelkommentare zur Praef. 345 S. den Komm. zu Praef. 5-8. 346 Gaisser (1993) hat diesen Prozess in ihrem Buch „Catullus and his Renaissance Readers“ minutiös nachgezeichnet. 347 Vgl. Gaisser 1993, 220-228; ebenso bereits Ludwig 1989a, 172-180. Frühere Imitationen Catulls waren auf einzelne Anklänge beschränkt geblieben. <?page no="63"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 63 imitation vor. Als besonders typisch für Catull wurde das Metrum des Phalaeceus empfunden. Man bewunderte die anmutigen, eleganten und zugleich heiter-frivolen Verse. 348 Catull stand somit für eine bestimmte Art der Poesie. Dies führte dazu, dass Renaissancedichter sich auch dann ausdrücklich als Anhänger Catulls bezeichnen konnten, wenn ihre Dichtung auch andere, nicht-catullische Elemente aufwies. 349 Dies trifft auch auf den Lalage-Zyklus zu. Auf der anderen Seite gilt die Aussage, Schoonhoven wolle Gedichte in der Art Catulls schreiben, nur in Bezug auf den Liebesdichter Catull. Anderes, wie etwa Gedichte an Freunde, Spottepigramme, aber auch die Carmina maiora, hat für die Amores Pastorales strukturell keine Bedeutung. Schoonhoven verwendet den Phalaeceus in der Praefatio, im Motto Ex Anacreonte sowie mehrfach innerhalb der Gedichte an Lalage. Er beschränkt sich jedoch nicht auf catullische Versmaße, sondern dichtet ebenso auch in lyrischen Strophen, von denen etliche nicht bei Catull, wohl aber bei Horaz vorkommen. 350 Worin Schoonhoven inhaltlich das Catullische seiner Amores Pastorales sieht, wird in den Versen 9-19 der Praefatio deutlich: Küsse und Tändeleien werden Thema des folgenden Gedichtbuches sein, das von kecken Jünglingen gelesen werden soll, nicht aber von sittenstrengen Greisen. Auch hier gilt jedoch wieder, dass neben Catull andere Prätexte evoziert werden, insbesondere Ovid und Martial. 351 Schoonhoven zitiert Martial in der Vorrede an den geneigten Leser fast wörtlich: lasciva enim (ut ait ille) pagina est, vita proba. 352 Durch ut ait ille ist die Stelle eindeutig als Zitat markiert. Den Namen Martials brauchte Schoonhoven nicht zu nennen, da er voraussetzen konnte, dass dieser Vers allgemein bekannt war. Der Gedanke geht auf Catull. 16,5-8 zurück, doch weist Martial eine größere Nähe zu Ovid auf (trist. 2,353-354): crede mihi, distant mores a carmine nostro / (vita verecunda est, Musa iocosa mea). 353 Gaisser 354 hat gezeigt, dass Martial gleichsam als Vermittler zwischen Catull und den Dichtern der Renaissance wirkte, denen die Lebenswelt Catulls ferner und unzugänglicher war als die des kaiserzeitlichen Autors. Schoonhoven stellt seine frivole Liebesdichtung in die Tradition Catulls, 348 Vgl. Gaisser 1993, 195. 349 Vgl. Gaisser 1993, 197: „In its style, diction, subject matter, and affect, the Catullan hendecasyllable provided the language for a certain type of Renaissance lyric; and even as the tradition acquired new and non-Catullan (or even anti-Catullan) elements, it identified itself - often explicitly - as Catullan, and the poets - even at their farthest from the Catullan sensibility - saw themselves as devotees of Catullan poetry.“ 350 Zur Metrik s. ausführlich Kap. 1.2.4. Auch einige geringfügige Abweichungen von Horaz und Catull werden dort behandelt. 351 S. die Einzelkommentare zu Praef. 12-19. 352 Ad Lect.; vgl. Mart. 1,4,8: lasciva est nobis pagina, vita proba. 353 S. dazu ausführlich den Komm. zu Ad Lect.: lasciva … proba. 354 Gaisser 1993, 199-211. S. auch den Komm. zu Ad Lect.: lasciva … proba. <?page no="64"?> 1 Einleitung 64 verteidigt das Schreiben solcher Gedichte jedoch mit einem Vers des Martial, der den Gedankengang der „lex Catulli“ 355 vereinfacht, so dass klarer und eindeutiger als bei Catull die Rechtschaffenheit des eigenen Lebenswandels betont wird. 356 Catull wird dagegen erst in der Praefatio genannt, in der Schoonhoven nicht mehr als Autor spricht, der sich vom erotischen Inhalt seiner Gedichte persönlich distanziert, sondern als Musenpriester und bukolischer Dichter. 357 Hier hat das ludicrum carmen 358 bereits begonnen. Generell bedurfte das Schreiben von Liebesdichtung in der Frühen Neuzeit der Rechtfertigung, da eine freizügige Behandlung erotischer Themen als moralisch bedenklich galt. 359 Um dem Vorwurf des Unsittlichen zu entgehen, wurde gerne auf die Tradition der Liebespoesie verwiesen, die man als literarisches Spiel fortführe, doch nicht als ernst zu nehmendes Bekenntnis verstanden wissen wolle. 360 Schoonhoven greift in den Paratexten einige der üblichen Verteidigungsstrategien auf. Neben der Betonung der eigenen Keuschheit 361 gehört dazu beispielsweise die Forderung, dass der Jugend größere Freiheiten zuzugestehen seien. 362 Es handele sich ja nur um ein harmloses Vergnügen. 363 Auch der Hinweis auf die literarische Tradition, für die große Dichter der Vergangenheit als nachzuahmende Beispiele angeführt werden, dient der Rechtfertigung der eigenen Dichtung. Schoonhoven wendet dieses Verfahren indirekt an, indem er sich erstens in der Praefatio namentlich in die Nachfolge Catulls stellt und zweitens ein Motto aus den Anakreonteen wählt, das er ebenso explizit mit Ex Anacreonte überschreibt. 364 So stehen je ein römischer und ein griechischer Liebesdichter der Antike für den Lalage-Zyklus gleichsam Pate. 355 Vgl. Schwindt 2002, passim. 356 Vgl. Gaisser 1993, 210. 357 S. die Einleitung zu den „Paratexten“. 358 S. Ad Lect. 359 Vgl. Eigler 2004, 130-131: „Gerade Liebesdichtung scheint nicht unproblematisch gewesen zu sein. (…) Nun wurde gerade dieser unchristliche Charakter zum Ziel von Kritik nördlich der Alpen, was die Rezeption der Liebesdichtung des Quattrocento in diesem Ambiente erschwerte und die Dichter, die in diesen Spuren wandelten, unter erheblichen Rechtfertigungsdruck gesetzt haben dürfte. Dies gilt in hohem Maße für Johannes Secundus.“ 360 Zu den Topoi solcher Verteidigungen s. die Einleitung zu Ad Lect. 361 Vgl. das oben angeführte Martialzitat; s. weiter Ad. Lect.: Lector, quisquis es, te oratum volo, ne vitam meam ex hoc ludicro carmine spectes. (…) non amantes amores scripsimus. 362 S. Ded.: iuvenilia; Ad. Lect.: Teneris et iuvenilibus annis haec animi causa lusimus …. Et certe aut hac aetate aliquid licet aut numquam. 363 S. Ded.: ioculariter et animi causa; Ad. Lect.: ludicro carmine; animi causa. 364 Zur fälschlichen Zuschreibung bis ins 19. Jahrhundert s. die Einleitung zu Ex Anacr. <?page no="65"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 65 Ellinger 365 ordnet Schoonhovens Dichtung unter „Anakreontik und Verwandtes“ ein. Obwohl Schoonhoven auch innerhalb des Lalage-Zyklus gelegentlich anakreontische Motive aufgreift, 366 sind die Gedichte jedoch nicht in erster Linie anakreontisch zu nennen. Einflüsse diverser Gattungen wurden bereits im vorigen Kapitel behandelt. Im Folgenden wird nun die konkrete Imitation antiker und neuzeitlicher Prätexte genauer untersucht. 1.2.2.3 Imitationstechnik In Schoonhovens Amores Pastorales finden wir generell eine Imitationspraxis vor, wie sie für die neulateinische Literatur üblich ist. Zitate und Anspielungen zeugen von der Belesenheit des Autors, der sich nach Art der antiken Dichter als poeta doctus beweist. Diese Texte sind weit mehr als „greuliche Centonen.“ 367 In den Amores Pastorales ist eine Vielzahl unterschiedlicher intertextueller Schreibstrategien zu beobachten. Sie reichen von simplen, nicht weiter interpretierbaren Übernahmen einer Formulierung bis zu hochkomplexen Mehrfachanspielungen, die von einem ebenso souveränen wie kreativen Umgang mit den Vorlagen zeugen. Es soll nun der Versuch unternommen werden, Schoonhovens Imitationstechniken unter Zuhilfenahme vorhandener literaturtheoretischer Konzepte systematisch zu beschreiben. Da ich kein Modell gefunden habe, das alle Bereiche abdeckt, werde ich im Wesentlichen zwei unterschiedliche Ansätze kombinieren und diese zudem im Einzelnen modifizieren und ergänzen. Besonders ergiebig ist Thomas’ Aufsatz „Virgils Georgics and the Art of Reference“, in dem er eine Typologie intertextueller Beziehungen am Beispiel von Vergils Georgica entwickelt. Es lassen sich jedoch nicht alle Typen, die Thomas unterscheidet, vollständig auf Schoonhovens Amores Pastorales übertragen, und andererseits können nicht alle intertextuellen Schreibstrategien Schoonhovens mit diesem Modell differenziert erfasst werden. Einen ganz anderen Ansatz bietet Pfisters „Skalierung der Intertextualität.“ 368 Anhand von sechs Kriterien beschreibt Pfister unterschiedliche Intensitätsgrade von intertextuellen Bezügen. Im Folgenden seien diese beiden Modelle zunächst kurz vorgestellt. 365 Ellinger 1933, 285-288. Vgl. auch ebd. 277: „Es gilt noch zu zeigen, wie sich um die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts, abseits der großen Persönlichkeiten Heinsius und Grotius, die Lyrik gestaltete. Überwiegend kommt, wie bei Heinsius, die Erotik in Betracht. Man sucht über das bereits Erreichte hinauszukommen. Das geschieht einerseits durch Häufung barocker Stileigentümlichkeiten, andererseits durch Bevorzugung anakreontischer, insbesondere pastoraler Motive, wobei auch das Pastorale nach dem Vorbilde des Naugerius und Flaminius anakreontisch neugeformt wird.“ 366 S. z.B. Lal. 3,56; 33,23-24 mit Kommentaren. 367 So Ellinger (1933, 286) über Schoonhovens Varia Carmina. 368 M. Pfister 1985, 25-30. <?page no="66"?> 1 Einleitung 66 Thomas unterscheidet grundsätzlich zwischen „parallels“ und „references.“ Als „Parallelen“ bezeichnet er zufällige Übereinstimmungen, die sich aufgrund der Sache ergeben. Für Thomas’ Untersuchung sind nur die „references“ relevant, die er anhand der beiden Kriterien der Interpretierbarkeit und der nachweisbaren Vertrautheit des Autors mit dem angenommenen Prätext definiert. 369 Thomas entwickelt nun mehrere Typen von „references.“ Eine „casual reference“ liegt demnach dann vor, wenn ein Autor den Sprachgebrauch eines anderen Autors imitiert, ohne dass ein konkreter Bezug zu einer bestimmten Vorbildstelle intendiert wäre. Eine „single reference“ ist eine bewusste Anspielung auf einen Prätext, wobei zugleich der Kontext der zugrundeliegenden Vorlage evoziert wird und deren Kenntnis zur Interpretation beiträgt. Die „self-reference“ stellt gewissermaßen eine Sonderform der „single reference“ dar, doch gehört der Prätext in diesem Falle zum Werk desselben Autors, bei der „internal selfreference“ sogar zum selben Gedicht. Eine differenziertere Form der Bezugnahme als die „single reference“ ist die „correction“, eine sachliche Richtigstellung des Prätextes bei enger Parallele des Ausdrucks. Besonders komplex ist eine Variante, die Thomas als „window reference“ bezeichnet: Quasi durch einen hauptsächlich imitierten Prätext hindurch wird auf eine zweite Vorlage angespielt, die diesem bereits als Quelle diente. Der unmittelbare Prätext wird dabei durch die zweite Vorlage korrigiert. Von einer „apparent reference“ spricht Thomas bei einem nur scheinbaren Bezug auf einen Prätext, während tatsächlich ein anderes, auf den ersten Blick weniger offensichtliches Vorbild imitiert wird. Als letzten Typ nennt Thomas die „conflation“ oder „multiple reference.“ Hier werden entweder Halbverse mehrerer Prätexte kombiniert, oder aber ein Text dient allgemein als strukturelle Folie, während daneben einzelne intertextuelle Bezüge zu anderen Vorlagen zu beobachten sind. Pfister geht von der Beschreibung zweier verschiedener Konzepte der Intertextualität aus. In einem Fall erscheint „jeder Text als Teil eines universalen Intertexts,“ 370 im anderen Fall werden nur bewusste und markierte Anspielungen berücksichtigt. Pfister versucht, zwischen beiden Modellen zu vermitteln, indem er einerseits den Begriff der Intertextualität weit fasst, andererseits aber mehr oder weniger intensive intertextuelle Bezüge unterscheidet. Dabei wendet er folgende qualitative Kriterien an: Eine hohe Referentialität (1) besitzt eine intertextuelle Beziehung, wenn der Prätext thematisiert und dadurch auf den ursprünglichen Kontext eines Zitates verwiesen wird. Eine niedrige Referentialität liegt folglich bei einer bloßen wörtlichen Übernahme vor. Das Kriterium der Kommunikativität (2) zielt auf den „Grad der Bewußtheit des intertextuellen Bezugs beim 369 Thomas 1986, 174. 370 M. Pfister 1985, 25. <?page no="67"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 67 Autor wie beim Rezipienten.“ Eine niedrige Stufe wäre hier das Plagiat, bei dem der Autor den Prätext vor dem Leser zu verbergen sucht. Ein reflektierendes Thematisieren der Intertextualität vonseiten des Autors erfüllt das Kriterium einer hohen Autoreflexivität (3). Des weiteren ist der intertextuelle Bezug intensiver, wenn ein Prätext als strukturelle Folie dient, statt nur punktuell zitiert zu werden. Dieses Kriterium der Strukturalität (4) trifft das, was Genette als „Hypertextualität“ bezeichnet. 371 Die Selektivität (5) gibt an, wie prägnant ein intertextueller Bezug ist. Dabei ist zum einen ein Zitat höher zu werten als eine Anspielung, zum anderen der Verweis auf einen konkreten Prätext höher als der auf eine Gattung, einen Topos, einen Mythos und ähnliches. Das Kriterium der Dialogizität (6) schließlich gibt den Grad der differenzierten Auseinandersetzung mit dem Prätext an. Wird der Originalsinn der Vorlage beibehalten, ist die Intensität niedrig, eine einfache Negation oder Antithese bewegt sich auf mittlerer Stufe, und der höchste Grad kommt einer „differenzierte[n] Dialektik von Anknüpfen und Distanznahme“ zu. Ausgangspunkt für den folgenden Versuch, Schoonhovens Imitationstechniken in den Amores Pastorales systematisch zu erfassen, sind die Beobachtungen am Text. Soweit möglich und sinnvoll, werden dabei die oben erläuterten Begriffe Thomas’ und Pfisters angewandt. Ich beginne mit den schlichteren intertextuellen Beziehungen und schreite dann zu den anspruchsvolleren Formen der Imitation fort. Einige dem Kommentar entnommene Beispiele dienen jeweils zur Illustration. Komplexe Sachverhalte, die im Kommentar detailliert beschrieben werden, gebe ich hier zum Teil in komprimierter Form wieder. 372 Eine erste Gruppe bilden wörtliche Anspielungen oder Zitate, die den Kontext der Vorlage unberücksichtigt lassen und nicht weiter interpretierbar sind. In Thomas’ Modell sind diese für Vergil irrelevanten Fälle nicht behandelt. 373 Nach Pfisters Kategorien liegt eine niedrige Referentialität vor. Bei wörtlichen Zitaten ist das Kriterium der Selektivität hingegen erfüllt. Beispiele dafür sind Lal. 23,3 (= Hor. carm. 3,7,19): et peccare docentes; Lal. 24,6 (= Verg. Aen. 4,270): mandata per auras; mit geänderter Wortstellung, aber ebenso deutlich z.B. Lal. 3,32: omnis arbiter est procul (~ Ov. met. 2,458: ‚procul est’ ait ‚arbiter omnis’). Eine niedrigere Selektivität weisen Übernahmen häufiger Junkturen auf; 374 so beispielsweise Lal. 10,15-16 (= z.B. Verg. Aen. 3,215; 11,233; Ov. met. 10,399; Val. Fl. 1,683; Sil. 14,617): ira Deûm; Lal. 24,18-19 (= z.B. Ov. Pont. 2,8,21; trist. 1,7,1; Mart. 6,27,3; 9,24,1; 371 S. Kap. 1.2.2. 372 Man möge in diesen Fällen die ausführlichen Kommentareinträge vergleichen. 373 Eine „parallel“ ist insofern etwas anderes, als die Ähnlichkeit des Ausdrucks dabei sachbedingt ist und der Wortlaut nicht auf eine konkrete Vorlage zurückgeführt wird. 374 Immerhin sind auch dies noch wörtliche Zitate. <?page no="68"?> 1 Einleitung 68 jeweils als Hexameterschluss): imagine vultus; Eleg. 1,3 (= z.B. Verg. Aen. 6, 258; Ov. ars 2,151; Ov. am. 2,1,3): este procul. Ein Problem stellt bei diesen bloßen Wortübernahmen die Frage nach der Kommunikativität dar. Bei Vorbildern wie Vergil, Horaz oder Ovid konnte Schoonhoven natürlich eine Bekanntheit der Prätexte voraussetzen. Dennoch mag der „Grad der Bewußtheit“ zum Teil unterschiedlich hoch gewesen sein, und zwar sowohl beim Leser als auch beim Autor selbst. Aufgrund seiner reichen Lektüreerfahrung kommen dem Dichter gelegentlich passende Formulierungen und Versatzstücke in den Sinn, ohne dass er in jedem einzelnen Fall die Herkunft des Zitats noch aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren wüsste. Auch dem Leser mag manches vage bekannt vorkommen, ohne dass er den Prätext exakt angeben könnte. 375 Wie bewusst ein Zitat oder eine Anspielung gesetzt ist und wie bewusst sie rezipiert wurde, lässt sich hier im Einzelnen oft nicht nachweisen. Bei Anspielungen auf bestimmte Topoi oder Sprichworte oder auf Mythen ist die Selektivität nach Pfister noch geringer. Ich habe diesen Bereich trotzdem an die zweite Stelle gesetzt, da im Gegensatz zur bloßen wörtlichen Übernahme der Inhalt von Bedeutung ist. Zudem orientiert sich auch die Formulierung oft an einem oder mehreren konkreten Prätexten. Bei sprichwörtlichen Wendungen lässt sich der Wortlaut teilweise zu einer Originalstelle zurückverfolgen, die sprichwörtlich wurde; vgl. etwa Pers. 5,115: cum fueris nostrae paulo ante farinae (dazu Ded.: eiusdem farinae); Hor. sat. 2,3,321: oleum adde camino (dazu Lal. 4,11: oleum caminis addere). Manchmal scheinen mehrere Prätexte eingewirkt zu haben. So geht beispielsweise Lal. 24,29: (procul in rapidos abierunt gaudia ventos) hauptsächlich auf Verg. Aen. 10,652 (nec ferre videt sua gaudia ventos) und Ov. trist. 1,8,35 (cunctane in aequoreos abierunt irrita ventos? ) zurück. 376 In wieder anderen Fällen drückt Schoonhoven einen allgemeinen Gedanken in eigenen Worten aus, wobei die Formulierung höchstens vage Anklänge an die eine oder andere Vorbildstelle aufweist. Dies ist in Lal. 38,11-12 (iuvatque mentem in tam cupitis / deliciis meminisse luctus) gegeben. Ähnliches gilt für Topoi und Motive. So ist der verbreitete Wunsch, ein gefürchtetes Unglück möge statt des Sprechers seine Feinde treffen, in der Formulierung besonders an Horaz orientiert (Lal. 39,15-16: istud potius 375 Teilweise machen Dichter selbst auf dieses Phänomen aufmerksam, das auch in der Forschung zur neulateinischen Literatur längst bekannt ist. Vgl. z.B. Murgatroyd 2000, 9: „When it comes to identifying actual instances of imitation one has to be properly critical and very cautious. Such caution is especially necessary in view of (inter alia) Petrarch’s famous letter to Boccaccio, in which he says that authors like Cicero and Vergil whom he has read again and again are so lodged in his mind that he uses phrases from them without realizing whose they are or even that they are not his own.“ Zum Problem der unbewussten Imitation vgl. z.B. auch Ritter 2010, 72. 376 Zur „conflation“ s.u. <?page no="69"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 69 omen in hostium / caput, Numina, vertite; Hor. epod. 5,54-55: [Nox, et Diana] nunc in hostilis domos / iram atque numen vertite! ). Die typischen Elemente zur Beschreibung eines kühlen klaren Baches in Lal. 1,9-10 kommen dagegen in etlichen antiken Texten vor, so dass sich vielfältige wörtliche Überschneidungen ergeben. Den Topos, dass der verliebte Hirte seine Herde vernachlässigt, formuliert Schoonhoven ganz in eigenen Worten (Lal. 4,20: non cura tunc gregis manet). Eine Besonderheit stellt Lal. 26,15-17 dar, eine aemulatio mit den antiken Vorbildern. Schoonhoven verleiht dort dem bekannten Vergleich einer unermesslichen Menge mit der Zahl der Sterne eine neue Pointe, indem er dabei die Mondgöttin als Königin der Sterne anredet. Auf einen Mythos kann ganz allgemein Bezug genommen werden, ohne dass sich dabei wörtliche Parallelen zu einem konkreten Vorbild ergäben (z.B. Lal. 10,9-13: Apoll und Daphne). In den Fällen, in denen Schoonhoven bei der Anspielung auf einen Mythos zugleich einen Prätext wörtlich zitiert, handelt es sich anders betrachtet bereits um Zitate der nächsten Kategorie. 377 Zwei unterschiedliche Techniken seien dennoch bereits hier genannt. Eine Möglichkeit ist die Übernahme einer prägnanten Formulierung aus einer relevanten mythischen Vorlage, so zum Beispiel die Bezeichnung von Daphnes Füßen als veloces … pedes (Lal. 25,19-20) nach dem Vorbild der Metamorphosen Ovids (met. 1,551: pes modo tam velox). Hier wird durch das einzelne Zitat die Geschichte von Apoll und Daphne aufgerufen, die Ovid in diesem Abschnitt der Metamorphosen (1,452-567) erzählt. Eine andere Form ist die wörtliche Übernahme einer Anspielung auf einen Mythos, der auch im Prätext nicht weiter ausgeführt wird; so beispielsweise Lal. 39,33-34: maestaque Daulias, / aeternum opprobrium Cecropiae domus (nach Hor. carm. 4,12,6-7: infelix avis, heu, Cecropiae domus / aeternum opprobrium). Bei den Zitaten und Anspielungen, bei deren Übernahme auch der Kontext der Vorlage eine Rolle spielt, lassen sich ebenfalls verschiedene Abstufungen unterscheiden. Eine niedrige Selektivität ist bei der Imitation eines Sprachgebrauchs gegeben, die Thomas „casual reference“ nennt. Beispiele hierfür sind das sechste und das zwölfte Gedicht an Lalage. Lal. 6 ist im catullischen Phalaeceus verfasst. An einigen Stellen tragen catullische Wörter 378 sowie typisch catullischer Sprachgebrauch 379 dazu bei, die catullische „Atmosphäre“ 380 des Gedichtes zu verstärken. In Lal. 12 dienen Anklänge an die 377 S.u.: Zitate oder Anspielungen, bei denen der Kontext der Vorlage relevant ist. 378 Lal. 6,8: basiationes; 6,13: caprimulgus. 379 Lal. 6,56: doctior … peritiorve und besonders die Häufung von Diminutiven im Mittelteil: 6,25: vetulâ; 6,27: tenellos; 6,31: misella; 6,41 parvulus. Zur Sprache s. auch Kap. 1.2.3. 380 Vgl. Thomas 1986, 175. <?page no="70"?> 1 Einleitung 70 epische Sprache 381 dazu, das Pathos von Lyces Rede ins Lächerliche zu ziehen. In beiden Fällen ist nicht der unmittelbare Kontext der Prätexte von Bedeutung, wohl aber die Tatsache, dass es sich um catullische Wendungen bzw. um epische Sprache handelt. Die nächste Stufe ist Thomas’ „single reference.“ 382 Das Kriterium der Referentialität ist hier in höchstem Maße erfüllt, wenn die Einbeziehung des Kontextes der Vorlage zur Interpretation von Schoonhovens Gedicht beträgt. Weniger intensiv sind die Fälle, in denen der Kontext der imitierten Stelle allgemein zum Thema passt. Zunächst seien Beispiele für den niedrigeren Intensitätsgrad angeführt: In Lal. 1,5 und 16,25 zitiert Schoonhoven jeweils wörtlich die horazische Junktur cum grege languido. Der unmittelbare Kontext ist ebenfalls bukolisch; vgl. Hor. carm. 3,29,21-22: iam pastor umbras cum grege languido / rivumque fessus quaerit. Lal. 3,34 (agnae dulciter errant) geht auf einen Vers aus Vergils Eklogen zurück; 383 auch hier ist der Kontext allgemein bukolisch. Lal. 39,18-19 ist eine fast wörtliche Imitation von Hor. carm. 3,13,3-5: cras donaberis haedo, / cui frons turgida cornibus / primis et Venerem et proelia destinat. In beiden Gedichten geht es um ein Opfer eines Ziegenbocks, doch zu unterschiedlichem Zweck. Statt eines wörtlichen Zitates kann auch eine Anspielung den Kontext in allgemeiner Weise evozieren. So ist beispielsweise Lal. 1,19-20 eine Abwandlung von Theoc. 1,15-18. 384 In beiden Gedichten ist es Mittag, und der Sprecher befindet sich an einem locus amoenus. Besonders intensiv ist der intertextuelle Bezug, wenn ohne Kenntnis des Prätextes eine wichtige Bedeutungsnuance fehlt oder aber eine Stelle für sich genommen nicht recht verständlich wäre. In Lal. 7,5 spricht Daphnis von geminae palumbes. Aufgrund von Verg. Aen. 6,190 (geminae … columbae), wo ein Gebet des Aeneas ein Taubenpaar herbeiruft, kann man annehmen, dass im Gedicht an Lalage die Tauben von Daphnis’ Lied (Lal. 7,1-4) herbeigelockt wurden. In Lal. 23,1 wird der Ausdruck flumina consulis (Lalage gebraucht den Fluss als Spiegel) vor dem Hintergrund von Ov. ars 3,136 (speculum consulat) klar. Einen Sonderfall stellt die Imitation von Hor. carm. 4,12,28 dar (dulce est desipere in loco). Im Lalage-Zyklus steht dulce est dreimal als Einleitung einer Sentenz. 385 Schoonhoven übernimmt also eine Formulierung 386 einer 381 Lal. 12,21: sic orsa fuit loqui; 12,27: his dictis tacuit statim. 382 Nach Pfisters Modell ist hier eine hohe Referentialität, Selektivität und Kommunikativität gegeben. 383 Vgl. Verg. ecl. 2,21: mille meae Siculis errant in montibus agnae. 384 Hier kommt natürlich hinzu, dass das Original griechisch ist. 385 Lal. 1,31-32; 5,18-19; 27,17-18. 386 In Lal. 1 und 27 dazu auch die grammatische Struktur mit abhängigem Infinitiv. <?page no="71"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 71 horazischen Sentenz und benutzt diese als Signal bzw. Markierung für Sentenzen unterschiedlichen Inhalts. 387 Auch bei der „single reference“ existiert neben der einfachen Übernahme die Form der aemulatio. In Praef. 10-11 (dulcem segetem osculationis / molli carminis arte ruminare) imitiert Schoonhoven Catull. 48,4-6 (nec numquam videar satur futurus, / non si densior aridis aristis / sit nostrae seges osculationis). Durch die Wahl des Verbs ruminare entsteht jedoch zusätzlich eine bei Catull nicht vorgeprägte callida iunctura. Ebenfalls catullisch ist die abwertende Bezeichnung caprimulgus. 388 Hier liegt bei Schonhoven eine besondere Pointe darin, dass der „Ziegenmelker“ Thyrsis nun Lalages Brüste streichelt. Auch die Spezialfälle der „single reference“, die „self-reference“ und die „internal self-reference“, 389 kommen bei Schoonhoven vor. Ich führe jeweils ein besonders markantes Beispiel an: In den Varia Carmina stellt Schoonhoven sich während langer Wintertage vor, wieder im Garten zu sitzen und „Lalage zu besingen“, also Liebeslieder zu dichten. Dabei referiert er den Inhalt von Lal. 4, was durch einige wörtliche Parallelen deutlich markiert ist. 390 Innerhalb des Lalage-Zyklus greift Schoonhoven in Lal. 32 einen Abschnitt aus Lal. 4 (dort 28-32) auf und erweitert das Thema des Reizes von Lalages Brüsten zu einem ganzen Gedicht. Auch hier markiert eine wörtliche Parallele den Zusammenhang. 391 Eine Steigerung des Intensitätsgrades von intertextuellen Beziehungen liegt dort vor, wo der Inhalt der Vorlage nicht einfach übernommen wird, sondern eine differenzierte Auseinandersetzung stattfindet (Pfisters Dialogizität). 392 Ein einfacher Fall ist Praef. 15-16: accedant Iuvenes proterviores, / qui valent agiles movere lumbos. Hier wird die Vorbildstelle bei Catull, 393 die sich auf Greise bezog, leicht modifiziert, so dass sie nun im Gegenteil auf junge Männer passt. In der Dedicatio behauptet Schoonhoven: Non diu mihi dubitandum aut quaerendum fuit, quibus potissimùm hunc meum libellum omni patrocinio destitutum dedicarem. Dies ist eine antithetische Anspielung auf Stat. silv. 1, praef.: diu multumque dubitavi, Stella iuvenis optime … an hos 387 S. auch Kap. 1.2.2.4. 388 Lal. 6,13; Catull. 22,10. 389 Als „internal self-reference“ sehe ich alle Bezüge innerhalb des Gedichtbuches Lalage sive Amores Pastorales an (Grenzfälle sind allerdings die Paratexte und die Elegiae), als „self-reference“ alle Beziehungen zu anderen Werken Schoonhovens wie zum Beispiel den Varia Carmina. 390 S. dazu genauer die Einleitung zu Lal. 4. 391 Lal. 4,29 = 32,9: sub reducta fascia. 392 Den Typ der „correction“ oder spezieller der „window reference“ (Thomas) habe ich bei Schoonhoven nicht gefunden, da keine sachliche Richtigstellung von Prätexten vorkommt, sondern lediglich eine Änderung der Aussage bei gleichem oder ähnlichem Wortmaterial. 393 16,10-11: … his pilosis / qui duros nequeunt movere lumbos. <?page no="72"?> 1 Einleitung 72 libellos … ipse dimitterem. Komplexer ist der Bezug in Lal. 2,24-28 (über Lalages Mutter): genetrix proxima funeri / figat invidiae modum, / nec sese insinuet rebus amantium. / is ieiunia comprobat, / cui venae nimio turgidulae mero. Die ersten beiden Verse imitieren Hor. carm. 3,15,2-5, wo es sich um eine lüsterne Alte handelt: tandem nequitiae fige modum tuae / famosisque laboribus; / maturo propior desine funeri / inter ludere virgines. Die Verse 27-28 belehren uns jedoch, dass Lalages Mutter keinesfalls eine lüsterne Greisin ist, sondern im Gegenteil bereits „gesättigt“ 394 und deshalb ohne Verständnis für die Liebenden. Ein weiterer Bereich intertextueller Beziehungen umfasst Thomas’ „multiple reference“ oder „conflation.“ Hier muss für die Amores Pastorales jedoch genauer differenziert werden. Die einfachste Form ist typisch für die neulateinische, nicht aber für die antike Literatur. Es handelt sich dabei um eine Kombination von Versatzstücken aus mehreren Prätexten, die nicht weiter interpretierbar ist. Ritter 395 bezeichnet dies treffend als „Montagetechnik.“ Beispiele hierfür sind Lal. 1,17: non est, quod metuas Pana protervulum (aus Mart. 5,6,12: non est, quod metuas und Hor. carm. 1,17,24: nec metues protervum); Lal. 16,46: iam summa fumant culmina montium (aus Lucr. 6,459-460: fit quoque uti montis vicina cacumina … fument und Verg. ecl. 1,82: et iam summa procul villarum culmina fumant); Lal. 24,13: colle sub umbroso pedibus per mutua nexis (aus Ov. ars 2,420: colle sub umbroso und Verg. Aen. 7,66: pedibus per mutua nexis). Wenn Schoonhoven mehrere Vorlagen kombiniert, wählt er oftmals thematisch passende Texte. Dies ist bereits keine reine „Montage“ mehr, sondern der jeweilige Kontext der Vorbildstellen spielt ebenfalls eine Rolle. So evoziert Schoonhoven in einer Aufforderung zu lieben, solange man noch jung und gesund und der Tod noch fern ist, mehrere Texte des gleichen Themas. 396 Weiter ist Lal. 26,1-3 (o siderum micantium / Regina, quae silentium / noctu regis) eine „conflation“ von Catull. 61,200 (siderumque micantium), Hor. carm. saec. 35-36 (siderum regina bicornis, audi, / Luna, puellas) und Hor. epod. 5,51 ([o] Nox, et Diana, quae silentium regis). Noch anspruchsvoller ist die Technik, eine Verbindung zweier Vorlagen zu zitieren. Dies kommt der „window reference“ nahe, doch ist im Gegensatz zu Thomas’ Definition bei Schoonhoven damit keine sachliche Korrektur eines der beiden Texte verbunden. So stellt Schoonhoven sich in der Praefatio in die Nachfolge Catulls, indem er ein von Plinius referiertes Gedicht des Sentius Augurinus zitiert (epist. 4,27,4 v. 1-2: canto carmina 394 Vgl. dazu das sprichwörtliche plenus venter facile de ieiuniis disputat (Hier. epist. 58,2,3). 395 Ritter 2010, 73. 396 Lal. 2,31-34: donec canities abest, / quae morbos miseris adferet et necem, / vivamus lepidè, simul / tentantes veneris proelia liberae; vgl. dazu vor allem Catull. 5,1: vivamus, mea Lesbia atque amemus; Hor. carm. 1,9,17-18: donec virenti canities abest / morosa; Joh. Sec. Bas. 16,43- 44: aegra senectus / et morbos trahet et necem. <?page no="73"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 73 versibus minutis, / his olim quibus et meus Catullus; Praef. 7: … meus Catullus). In Lal. 23,25-26 imitiert er die Vergilimitation des Properz. 397 Die komplexeste „multiple reference“ findet sich in Lal. 20. Strukturelle Vorlage ist Hor. carm. 1,23, wo die Geliebte mit einem fliehenden Hirschkalb verglichen wird. Schoonhoven wählt für den Vergleich jedoch den Mythos von Scylla und Nisus, wie er von Ovid (met. 8,1-151) erzählt wird. Den „missing link“ bildet die Geschichte von Apoll und Daphne (Ov. met. 1,452-567): Ovid imitiert dort einerseits an einer Stelle die Horazode, 398 und andererseits wird die Flucht der Daphne vor Apoll unter anderem durch einen Vergleich mit einem vor einem Raubvogel fliehenden kleineren Vogel beschrieben. 399 Schoonhovens Gedicht weist intertextuelle Beziehungen zu allen drei genannten Prätexten auf, 400 was zeigt, dass er sich der Verbindungen bewusst gewesen ist. Da Hor. carm. 1,23 als strukturelle Folie für Lal. 20 dient, ist dort zugleich das Kriterium der Strukturalität erfüllt, das Genettes Hypertextualität entspricht. Thomas ordnet diese Kategorie ebenfalls der „multiple reference“ zu. Der bereits beschriebene Fall ist besonders deutlich, da Hypotext und Hypertext in Metrum und Strophenzahl übereinstimmen. Eine derart exakte formale Übereinstimmung ist jedoch im Lalage-Zyklus die Ausnahme. Bei anderen Gedichten gibt neben dem generellen Thema in der Regel die Übernahme bestimmter Elemente die Struktur vor, gestützt durch einige markante wörtliche Zitate. So liegt, um einige weitere Beispiele zu nennen, Navag. Lus. 19 dem Gedicht an Echo (Lal. 5) zugrunde, Flam. Lus. Past. 20 der Apostrophe eines bukolischen Ortes, der die Küsse der Liebenden verbarg (Lal. 17), und Tib. 1,1 der zweiten Elegia, die neben einem Liebesverhältnis auch die Vorzüge des einfachen Landlebens und eine Verachtung der städtischen Reichtümer thematisiert. Grundsätzlich imitiert Schoonhoven neben dem strukturell bedeutsamen Prätext im Einzelnen weitere Vorlagen. Dies gilt auch für einen Sonderfall der Hypertextualität, die Übersetzung. In den Amores Pastorales finden sich zwei Übersetzungen, die jeweils in der Überschrift als solche markiert sind: das Motto Ex Anacreonte und Ad Lalagen. Carmen XI, Ex Dousa Fil. versum. Die beiden Übersetzungen unterscheiden sich in mehreren Punkten. Das Original des Mottos 401 ist griechisch, und der Text gehört zu einem Corpus, das zu Schoonhovens Zeit sehr bekannt war. Dass „Anakreon“ 402 397 Zu dem sehr komplexen Sachverhalt s. den Komm. dort. 398 Vgl. Hor. carm. 1,23,9-10: non … persequor; Ov. met. 1,504: non insequor hostis. 399 Vgl. Ov. met. 1,506: sic aquilam penna fugiunt trepidante columbae. 400 S. den Stellenkommentar zu Lal. 20. 401 Anacreont. 29 W. 402 Zur falschen Zuschreibung s. die Einleitung zu Ex Anacr. <?page no="74"?> 1 Einleitung 74 namentlich genannt wird, hat vor allem die Funktion, den Gedichtzyklus in die Tradition eines berühmten griechischen Liebesdichters zu stellen. 403 Schoonhoven wählt ein anderes Versmaß, und da es sich um eine Nachdichtung handelt, ist die Übersetzung naturgemäß nicht wortgetreu, doch sind Inhalt und Struktur sehr eng am Original orientiert. Lal. 11 liegt ein niederländisches Gedicht des jüngeren Janus Dousa zugrunde. Hier konnte Schoonhoven nicht davon ausgehen, dass der Prätext allgemein bekannt war, zumal dessen Rezeption auf den niederländischen Sprachraum beschränkt bleiben musste. Die Markierung in der Überschrift ist folglich für einen Großteil der Leser notwendig, um die Vorlage identifizieren zu können bzw. überhaupt erst darauf aufmerksam zu werden, dass es sich um eine Übersetzung handelt. 404 Zudem ist Schoonhovens Version, auch hier in einem anderen Metrum verfasst, insgesamt noch freier gestaltet als bei dem anakreontischen Motto. Schoonhoven integriert in beide Übersetzungen auch einzelne Anspielungen auf lateinische Prätexte. In Ex Anacreonte verweist die im Griechischen nicht mögliche Paronomasie amare - amarius auf das Konzept der „bittersüßen“ Liebe. In Lal. 11 erinnert Schoonhoven durch die Bezeichnung humani generis parens nicht nur daran, dass Prometheus als Schöpfer und Kulturstifter galt, sondern spielt auch auf die Verbindung von Prometheus und Adam an, wie sie seit dem 16. Jahrhundert hergestellt wurde. 405 Eine Systematisierung wie die oben versuchte kann selbstverständlich nicht alle Facetten erfassen. Ich habe mich jedoch bemüht, einen möglichst vollständigen Überblick über Schoonhovens Strategien intertextuellen Schreibens zu geben. Bislang habe ich mich dabei auf die gelungene - wenngleich hinsichtlich ihres Grades an Komplexität und Intensität höchst unterschiedliche - Imitation von Prätexten beschränkt. In der Regel geht Schoonhoven souverän mit seinen Vorlagen um, doch sollen auch einige Ausnahmen nicht verschwiegen werden. So sei abschließend auf einige Fälle verwiesen, in denen eine recht wörtliche Imitation, die jedoch die Syntax des Prätextes unberücksichtigt lässt, zu schwer nachvollziehbaren Konstruktionen führt. In Lal. 13,3 wird Lalage als discincta papillis beschrieben. Man erwartete eher einen Accusativus respectus; der Ablativ mag auf Stellen wie Ov. epist. 6,89 (per tumulos errat passis discincta capillis) und Sann. Part. Virg. 3,287 (nudis discincta veste papillis) zurückgehen. In Lal. 24,13-14 zitiert Schoonhoven den vergilischen Hexameterschluss pedibus per mutua nexis (Aen. 7,66). Bei Vergil steht per mutua absolut, Schoonhoven fährt jedoch fort: pedibus per mutua nexis / 403 S. dazu auch Kap. 1.2.2.2. 404 Dies gilt in diesem Falle auch für die Kommentatorin …. 405 S. dazu ausführlicher den Komm. zu Lal. 11,1: humani generis parens. <?page no="75"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 75 corpora secure tecum, mea Vita, iacebam. Das Bild ist klar, der Ausdruck per mutua … corpora jedoch recht eigenwillig. Besonders schwierig ist die Formulierung cumque meâ aeternâ differar invidiâ in Eleg. 2,32. Schoonhoven übernimmt den an sich schon nicht leicht zu fassenden Ausdruck des Properz: aeterna differor invidia. Durch die Hinzufügung des cum kann die Stelle auch syntaktisch nicht mehr befriedigend erklärt werden. 406 1.2.2.4 Sentenzen In Sentenzen bzw. Gnomen werden menschliche Erfahrungen in so allgemeiner Weise formuliert, dass zumindest der Eindruck universeller Gültigkeit entsteht. 407 Gnomische Wendungen waren bereits in der frühen griechischen Dichtung beliebt. 408 In der römischen Kaiserzeit galt der Gebrauch möglichst pointierter Sentenzen als Zeichen von Eloquenz, wobei über die Grenze zwischen gewagt-genialer Pointe und übertriebenem Manierismus durchaus diskutiert wurde. 409 Bereits in der Spätantike existierten Sammlungen von Sentenzen. 410 In der Frühen Neuzeit wurden Florilegien im Rhetorikunterricht benutzt, damit die Schüler neben dem lateinischen Wortschatz auch einen Vorrat an Redewendungen und illustriores sententiae verinnerlichten. 411 Das Arbeiten mit Florilegien schon zu Schulzeiten mag auch später einen sentenziösen Stil begünstigt haben. In Schoonhovens Lalage-Zyklus schließt ein Viertel der Gedichte mit einer Sentenz. 412 Etwa ebenso oft kommen in den Amores Pastorales gnomische Wendungen innerhalb eines Gedichtes vor. Teilweise greift Schoonhoven dabei auf Sprichwörter zurück, so zum Beispiel bei der Aussage, Unglück sei leichter zu ertragen, wenn man einen Leidensgefährten habe (Lal. 5,18-20). 413 In anderen Fällen imitiert er eine konkrete Vorbildstelle, so besonders deutlich Hor. carm. 1,13,17-20 in Lal. 14,23-26, 414 oder er setzt zwei thematisch passende Sentenzen desselben Prätextes hintereinander 406 S. ausführlicher den Komm. zu Eleg. 2,32. 407 Vgl. Esser 1976, 44. 408 Vgl. Esser 1976, 44-45 mit einigen Literaturhinweisen. 409 Vgl. Norden 1958, 280-285: Sentenzen- und Pointenstil. 410 Vgl. z.B. von Albrecht (1994, 84) zu Publilius Syrus: „Man kennt aus seinen Werken eine Fülle von Sentenzen, die z.B. von den Senecae zitiert werden, später gesammelt als Schulbuch dienen (Hier. epist. ad Laetam 107, 8) und auch in der Neuzeit seit Erasmus Hochschätzung genießen.“ 411 Vgl. Barner 1970, 285-286. S. auch Kap. 1.2.2. 412 Lal. 1; 5; 8; 9; 10; 12; 14; 23; 27; 38. 413 S. auch den Komm. dort. S. weiter Lal. 2,27-28; 8,27-28; 25,23-24; Eleg. 2,27-28 mit Kommentaren. 414 S. weiter Lal. 2,21-23; 9,18-22; 23,30-32; Eleg. 1,34 mit Kommentaren. <?page no="76"?> 1 Einleitung 76 (Ov. am. 3,4,31 und 3,4,17 in Lal. 2,15-16). Anderes scheint in dieser Form eigene Prägung zu sein. 415 Formal sind die Sentenzen oft an verallgemeinernden Wörtern oder unpersönlichen Ausdrücken zu erkennen. 416 An drei Stellen 417 gebraucht Schoonhoven dulce est, die horazische Einleitung einer Sentenz in der Ode 4,12,28, gleichsam als Signal dafür, dass eine sentenziöse Wendung folgt. 418 In anderen Fällen dient nam als einleitende Markierung 419 oder seltener als verbindender Übergang zwischen mehreren Sentenzen. In Lal. 27,17-20 werden dabei die beiden Sätze, süß sei der Besitz dessen, was der Rivale liebe, und gut schmecke der Kuss, der ihm entrissen werde, durch die noch allgemeinere Behauptung, Widerstand gegen einen Feind bereite Vergnügen, nicht so sehr erklärt als vielmehr sanktioniert: Während die ersten beiden Aussagen schlichtweg schadenfroh klingen, wirkt das Verlangen, sich gegen einen Feind zur Wehr zu setzen, eher berechtigt. In Lal. 38,13-16 bietet der mit nam beginnende zweite Satz tatsächlich eine Erklärung des ersten: Die überstandenen labores haben einen Sinn, denn (nam) sie lassen die Ruhe danach noch angenehmer erscheinen. Dies wird anschließend noch durch das Bild der Sonne nach einem Unwetter auf See illustriert. Eine solche bildliche Ausgestaltung vorangegangener Sentenzen findet sich in einem sehr ähnlichen Zusammenhang auch in Lal. 9,18-26. Auch hier geht es darum, dass Schwierigkeiten beim Erreichen eines Zieles den Genuss des Erfolges erhöhen. Dass Rangeleien den Liebesgenuss steigern, wird dabei dreimal gesagt, ohne dass sich inhaltlich wesentlich andere Schwerpunkte ergäben. Ähnliche Dopplungen oder dreifach ausgedrückte Gedanken finden sich an mehreren Stellen. 420 Teilweise wirkt diese Häufung manieristisch, so in Lal. 9,18-22 oder auch 2,15-16. Dagegen ist in Lal. 5,18-20 der zweite Satz auch inhaltlich etwas anders ausgerichtet als der erste. In Lal. 8,27-28 bewirken die kurzen, denselben Gedanken gleichsam einhämmernden Sätze eine besondere Eindringlichkeit, die dem Thema der Vergänglichkeit allen Lebens angemessen ist. So dient die Wiederholung hier als bewusst eingesetztes Stilmittel. Die letzte Strophe von Lal. 8 ist zugleich ein Beispiel dafür, dass ein Gedicht mit dem Todesgedanken endet. Gleiches gilt für Lal. 14,23-26 und die dort zugrundeliegende Horazode 1,13 (s.o.). Esser 421 spricht hier von 415 Z.B. Lal. 1,31-32; 10,15-16; 12,45-46. 416 Z.B. Lal. 2,16: semper; 2,21: durum [est]; 8,27: omnibus; 10,15: numquam; 38,13: tulisse prodest; Eleg. 1,29: quisquis; 1,34: solet; 2,27: est aliquid. 417 Lal. 1,31-32; 5,18-19; 27,17-18. 418 S. dazu auch Kap. 1.2.2.3. 419 Lal. 5,18; 12,45; 16,39; 34,13. 420 Noch Lal. 2,15-16; 5,18-20; 8,27-28; 23,30-32; 25,23-24 und 27-28. 421 Esser 1976, 74. <?page no="77"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 77 einem „Ende am Ende.“ In nicht sentenziöser Form kommt dies auch am Schluss von Schoonhovens erster Elegie vor. Einen typisch neuzeitlicher Spezialfall der Sentenz ist das Motto. Die vier Verse Ex Anacreonte sind unpersönlich sentenzhaft formuliert und geben in allgemeiner Form das Thema des folgenden Gedichtzyklus an. Esser bezeichnet die gedichtschließenden Gnomen des Horaz als „Schlußsatz, der mit dem Anspruch normativer Geltung auftritt.“ 422 Funktion der Sentenzen sei, Einzelschicksale „unter ein höheres Gesetz“ zu stellen. Eine horazische Gnome könne auch die Form einer indirekten Ermahnung annehmen. 423 Für Schoonhovens Amores Pastorales treffen diese Deutungen vor allem dort zu, wo Daphnis sich direkt an andere Personen wendet, insbesondere an die Geliebte Lalage. Ich nenne einige Beispiele: Dulce est posse laborem / cum grato pare fallere (Lal. 1,31-32) heißt in deutlichen Worten: „Komm, Lalage, und genieße gemeinsam mit mir die Muße.“ Lal. 14,23-26 ist eine Aufforderung an die Geliebte, Daphnis zu heiraten. Die Aussage, dass Tränen einen Verstorbenen nicht wieder lebendig machen (Lal. 25,21-22), soll Lalage dazu bringen, nicht mehr um ihre Schwester zu weinen. Anders verhält es sich jedoch im Falle der Sentenzen, die auf den Liebhaber selbst bezogen sind. Hier dient die Verallgemeinerung regelmäßig zur Entschuldigung des eigenen Verhaltens: Er ist schadenfroh, 424 er kann seine Leidenschaft nicht unterdrücken, 425 Verbotenes reizt ihn am meisten 426 - aber so sind Menschen nun einmal. Das, was für alle gilt und somit gleichsam eine condicio humana darstellt, kann man dem Einzelnen kaum zur Last legen. Dieselbe Funktion scheinen auch zwei Sentenzen in Vergils Eklogen zu haben, die ebenfalls jeweils von einem Liebenden gesprochen werden. In Verg. ecl. 2,62-64 steht die Gnome dabei als Abschluss eines Satzes: torva leaena lupum sequitur, lupus ipse capellam, / florentem cytisum sequitur lasciva capella, / te Corydon, o Alexi: trahit sua quemque voluptas. In ecl. 10,69 ist die Reihenfolge umgekehrt: omnia vincit Amor: et nos cedamus Amori. 1.2.3 Sprache In Kap. 1.2.2 wurden die wichtigsten Prätexte aufgeführt, die den Amores Pastorales zugrundeliegen. Diese Vorbilder haben auch allgemein die Sprache der Gedichte beeinflusst. Schoonhoven orientiert sich im Wesentlichen 422 Esser 1976, 72. 423 Vgl. Esser 1976, 74. 424 Lal. 27,17-20; Eleg. 2,27-30. 425 Lal. 2,21-23; Eleg. 1,29-30. 426 Lal. 2,15-16. <?page no="78"?> 1 Einleitung 78 am klassischen Latein, doch kommen auch Archaismen sowie spät- oder mittellateinische Wendungen vor. Im Folgenden werde ich auffällige Abweichungen vom klassischen Sprachgebrauch umfassend benennen und jeweils Beispiele aus den Gedichten anführen. Belegstellen aus der antiken Literatur werden hier in der Regel nicht angegeben, sondern können den entsprechenden Einträgen im Kommentar entnommen werden. Betrachtet werden Archaismen, unklassische Komposita, ungewöhnliche Wortformen sowie semantische und syntaktische Besonderheiten. Ein separater Abschnitt ist dem Gebrauch von Diminutiven gewidmet. Die A r c h a i s m e n sind vor allem auf die Lektüre von Plautus und Terenz zurückzuführen, die üblicherweise in der Schule gelesen wurden. Zudem hat Schoonhoven offensichtlich Apuleius gekannt, dessen Sprache archaistische Züge trägt. Gelegentlich kommen in den Amores Pastorales Wörter vor, die typisch für die lateinische Komödie sind und teilweise auch von Apuleius verwendet werden, in der Zeit dazwischen jedoch nicht oder selten. Beispiele hierfür sind deamare (Ex Anacr. 4), osor (Lal. 16,17) und volupe 427 (Lal. 27,19; 29,17). Zweitens gebraucht Schoonhoven zum Teil altlateinische Formen. Häufig findet sich queis 428 (alte Form für das Kontraktum quīs aus quibus), ebenfalls recht häufig perpetim 429 (Adverb zu perpes), zweimal primulum 430 (diminutives Adverb). Auch die Endung -ier des Infinitiv Präsens Passiv 431 ist besonders im Altlatein geläufig, kommt aber auch später besonders in daktylischer Dichtung vor. Schoonhoven hat eine Vorliebe für zusammengesetzte Adjektive. Manche dieser K o m p o s i t a sind erst im Spätlatein belegt, andere kommen in der Antike gar nicht vor. Wie zahlreiche Neuprägungen von zusammengesetzten Adjektiven bei Catull zeigen, ist das Verfahren an sich neoterisch. 432 Beispiele für spätlateinische 433 Komposita in den Amores Pastorales sind bellicrepus (Praef. 2); flammivomus (Lal. 1,18) und septiforis (Lal. 29,6). Für dulciloquus (Lal. 25,6) findet sich der erste Beleg bei Apuleius. Blandisonus (Lal. 3,24) und dulcicrepus (Lal. 12,10; 39,30) sind nicht antik; luctisonus (Lal. 25,5) ist nur einmal bei Ovid überliefert (met. 1,732), jedoch nicht einhellig. 427 Zur Form volupe statt volup s. den Komm. zu Lal. 27,19. 428 Praef. 13; Lal. 2,29; 3,6; 4,26; 15,11; 29,1; Eleg. 2,5. 429 Lal. 4,3.15; 17,13; 26,13; 40,33. Die Form ist einmal bei Plautus belegt, dann erst wieder im Spätlatein. Möglicherweise handelt es sich hier also eher um einen Einfluss des späten Lateins als um einen Archaismus. 430 Lal. 30,3; 32,6. 431 Lal. 4,6: viderier; 5,10: iungier; 24,34: moderarier; 27,17: potirier; 36,18: fungier; 40,56: iungier. 432 Vgl. Ross 1969, 17-22. 433 Belegt ab dem 4. Jahrhundert oder später. <?page no="79"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 79 Einige W o r t f o r m e n sind ebenfalls nicht klassisch. So existiert das Intensivum recursitare (Lal. 22,8) zu recursare erst seit der Spätantike. Andererseits sind zu den klassischen Incohativa extimescere und convalescere die einfachen Formen extimere (Lal. 30,9) und convalere (Lal. 39,17) frühestens 434 in der Spätantike belegt. Das Verb sagittare (Lal. 11,7) kommt im klassischen Latein gar nicht vor, ist aber für das Mittellatein bezeugt. Das Perfekt punxit (Lal. 10,10) scheint eine falsche Analogiebildung zu sein. Bei griechischen Namen fallen einige ungewöhnliche Bildungen des Akkusativs auf. So hat Schoonhoven Adonim (Lal. 7,4) statt der griechischen Form Adonin, ebenso Menalcam (Lal. 7,9) statt des von Vergil gebrauchten griechischen Menalcan. Der griechisch wirkende Akkusativ Daphnida (Lal. 2,12) statt der antiken Form Daphnin ist sicherlich eine Analogiebildung zum Genetiv Daphnidis. Die s e m a n t i s c h e n A b w e i c h u n g e n vom klassischen Sprachgebrauch in den Amores Pastorales sind nicht gravierend. Einige Wörter verwendet Schoonhoven in einer klassisch so nicht belegbaren metaphorischen Bedeutung, so etwa peragrare (Lal. 23,22), ambages (Lal. 24,4) und seminare (Lal. 37,10). 435 Das Wort ubera, das im klassischen Latein die Brust als Milchquelle bezeichnet, überträgt Schoonhoven in den erotischen Bereich (Lal. 1,14; 22,27.31; 24,24). Das Adjektiv dulciculus (Lal. 22,16), klassisch nur in Bezug auf Speisen gebraucht, bezeichnet im Lalage-Zyklus die Lippen der Geliebten. 436 Die Bedeutung „anhänglich“ für pendulus (z.B. Lal. 3,40) ist ebenfalls nicht klassisch. Conferre (Lal. 16,13 und 18,16) heißt erst im Mittellatein „schenken“; condere (Lal. 31,1) in christlicher Literatur „schöpfen“, „erschaffen.“ Der passivische Gebrauch von perosus (Lal. 40,52) ist spätantik. Im Bereich der S y n t a x fällt vor allem auf, dass Schoonhoven an einigen Stellen den Konjunktiv verwendet, an denen klassisch der Indikativ stünde. Dies gilt für Nebensätze, die mit temporalem, kausalem oder adversativem quando eingeleitet werden (Lal. 5,9; 22,23-24; 25,11-12; 29,5-7), Sätze mit der Konjunktion dum in der Bedeutung „während“ (Lal. 13,3-4) oder „solange (als)“ (Lal. 13,11-12) und für kausales quod (Lal. 27,9). In allen Fällen ist der Konjunktiv im Spätlatein durchaus üblich, in klassischer Zeit jedoch nicht. 437 Ebenfalls spätlateinisch ist die Verwendung von quod als Konjunktion eines Konsekutivsatzes (Lal. 18,2). Dum tantum (Lal. 35,14) 434 Für extimere ist auch der einzige spätantike Beleg unsicher, so dass die Form möglicherweise erst im Mittellatein entstand. 435 Für peragrare und ambages existiert jedoch bereits in der Antike eine übertragene Bedeutung; allerdings ist die Metaphorik jeweils eine andere als bei Schoonhoven. 436 Dies ist jedoch mit Bezug auf Lal. 3,51-56 zu erklären; s. den Komm. zu Lal. 22,16-17. 437 Ausnahmen gibt es hier jedoch teilweise schon in der Dichtung. S. die Einzelkommentare. <?page no="80"?> 1 Einleitung 80 setzt Schoonhoven einmal fälschlich statt dum modo als Einleitung eines bedingt einschränkenden Wunschsatzes. Der häufige, aber nicht aufdringliche Gebrauch von D i m i n u t i v e n erinnert an die Dichtung Catulls. In einigen Gedichten kann man eine gewisse Massierung beobachten, 438 in anderen kommen gar keine Diminutivformen vor. 439 Schmidt nennt das Diminutivum ein „Stilmittel der Zärtlichkeit“ und macht auf die affektische Komponente, aber auch allgemein auf die Verwendung im erotischen Kontext aufmerksam. 440 Es sei auch darauf hingewiesen, dass im Niederländischen der Gebrauch von Diminutiven sehr viel verbreiteter ist als beispielsweise im Deutschen. Auch Adjektive, Adverbien, Pronomina, Verben und Zahlwörter können dort eine Verkleinerungsform erhalten. 441 Für einen niederländischen Muttersprachler gehören Diminutive folglich zum gewohnten Sprachbild. Einige der Diminutive, die Schoonhoven in den Amores Pastorales verwendet, finden sich in klassischer lateinischer Literatur nicht oder kaum. Selten sind blandula (Lal. 13,13), basiolum (Lal. 20,6), pallidulus (Lal. 23,13), sororcula (Lal. 25,6.29) und tenellulus (Lal. 30,14). Nicht antik sind die Formen protervulus (z.B. Lal. 1,17), somnulus (z.B. Lal. 12,4) und capillulus (Lal. 23,2). Auch Doppeldiminutive kommen im Lalage-Zyklus vor. Bereits in der Antike belegt ist die Form puellula (z.B. Lal. 23,20). Hofmann 442 erklärt die Entstehung von Doppeldiminutiven damit, dass die affektive Färbung der Diminutive im Laufe der Zeit verloren gehen könne, so dass ein Doppeldiminutivum als Ersatz eintreten müsse. Weitere Doppeldiminutivbildungen sind für die Antike nicht belegt, so corollula (z.B. Lal. 1,13), papillulae (z.B. Lal. 4,28) und labellula (Lal. 22,17). Spätantik ist lapillulus (Lal. 1,10). Schoonhovens Stil ist im Allgemeinen flüssig und klar. 443 Wie gezeigt wurde, weisen die Amores Pastorales im Einzelnen einige sprachliche Besonderheiten auf, doch sind die Abweichungen vom klassischen Sprachgebrauch insgesamt weder extrem noch dominierend. 438 Bes. Lal. 23 (2: capillulos; 4: papillulas; 13: pallidulis; 15: ocellis; 20: puellulis; 22: humidulis; 29: basiolum). 439 Z.B. Lal. 5; Lal. 10. 440 Vgl. Schmidt 1985, 51. Besonders oft kommen Diminutive in Catulls polymetrischer Poesie vor. 441 Z.B. „kleintje“ - „Kleines.“ 442 J. B. Hofmann 1951, 141. 443 Zu diesem Urteil kommt beispielsweise auch Grant 1965, 182: „He shows himself a lively, fluent, and frequently elegant poet.“ <?page no="81"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 81 1.2.4 Metrik Schoonhovens Lalage-Zyklus gehört der literarischen Form der Lusus Pastorales an, die sich im 16. Jahrhundert entwickelte. 444 Metrische Vielfalt ist, wenngleich unterschiedlich stark ausgeprägt, ein Kennzeichen dieser Dichtung. Wie im Kapitel zur Gattungszugehörigkeit gezeigt wurde, sind die Lusus Pastorales bukolische Gedichte in lyrischer und epigrammatischer Form. Die metrische Gestaltung scheint sich zunächst maßgeblich aus der Epigrammdichtung 445 und insbesondere aus der Nachfolge Catulls 446 entwickelt zu haben, doch wurden auch horazische Strophen verwendet. Bei der Beschreibung der Metren gehe ich daher von Catull und Horaz aus, auch wenn die Versmaße selbstverständlich auch bei anderen antiken Dichtern und zum Teil in anderen Gattungen zu finden sind. Bei Navagero und Flaminio, beide wichtige neulateinische Vorbilder des Lalage-Zyklus, 447 überwiegen catullische Versmaße. Navageros Lusus beginnen mit 19 Epigrammen in elegischen Distichen. 448 Es folgen zum Teil weitere Gedichte in diesem Metrum, aber auch daktylische Hexameter, 449 Jamben, 450 Phalaeceen 451 und lyrische Strophen 452 sind vertreten. Lediglich die Alkäischen Strophen von Lus. 35 kommen bei Catull gar nicht vor, 453 dafür natürlich bei Horaz. Ebenfalls horazisch ist der Wechsel von jambischen Trimetern und Dimetern in Lus. 29. 454 Flaminio ist noch restriktiver. Das erste Buch seiner Lusus Pastorales besteht ausschließlich aus Epigrammen in elegischen Distichen. Im zweiten 444 S. Kap. 1.2.2.1. 445 Vor allem der Anthologia Palatina; s. auch Kap. 1.2.2. 446 An Catulls Dichtung ist die Verwendung teils lyrischer, teils epigrammatischer Versmaße orientiert. Zudem sind jeweils einige Gedichte im typisch catullischen Metrum des Phalaeceus verfasst. Zur Bedeutung Catulls in der neulateinischen Dichtung s. auch Kap. 1.2.2.2. 447 S. Kap. 1.2.2.1. 448 Lus. 19 hat mit einer Länge von 54 Versen eher den Umfang einer Elegie, doch wurde zwischen Epigramm und Elegie oft nicht klar unterschieden. Vgl. Bradner 1969, 198. 449 Lus. 20; 27; 44; 47. 450 Lus. 29; 45; 46. 451 Lus. 30-32; 43. 452 Lus. 34-37; 41: jeweils einmal glykoneische und Alkäische Strophen, dreimal Sapphische Strophen. 453 Ansonsten sind einmal vierzeilige glykoneische Strophen vertreten (Lus. 34) und dreimal Sapphische Strophen (Lus. 36; 37; 41). 454 Vgl. Hor. epod. 1-10. <?page no="82"?> 1 Einleitung 82 Buch über den Tod der Hyella wechseln elegische Distichen, Jamben 455 und Phalaeceen ab. 456 Der Lalage-Zyklus 457 ist im Vergleich zu Flaminio und auch Navagero deutlich lyrischer. Insgesamt 25 Gedichte sind in verschiedenen lyrischen Strophen verfasst, neun in Jamben, sechs in Phalaeceen und nur zwei in daktylischen Versmaßen (einmal Hexameter, einmal elegisches Distichon). Dazu kommen die beiden Elegiae, die ebenfalls aus elegischen Distichen bestehen. Das Verhältnis von catullischen und horazischen Metren ist ausgewogen. Im Folgenden werde ich zunächst alle Versmaße der Amores Pastorales aufführen, dazu die Gedichte angeben, in denen sie verwendet werden, und jeweils anmerken, ob das Metrum bei Catull, bei Horaz oder bei beiden vorkommt. Dabei werden auch Abweichungen im Einzelnen thematisiert. Prinzipiell enthält der Lalage-Zyklus keine Versart, die nicht horazisch und/ oder catullisch wäre, doch ist in einigen Fällen die Zusammensetzung der Strophen anders. Für die Metren des Catull und des Horaz zitiere ich jeweils nur Beispiele, da vollständige Übersichten in Textausgaben oder Kommentaren vorhanden sind. 458 In einem zweiten Abschnitt wird zu zeigen sein, dass Schoonhoven die Versmaße nicht beliebig verwendet, sondern einerseits auf Gattungstraditionen, andererseits auf bestimmte Prätexte Bezug nimmt. Bei dieser Betrachtung der Funktion der Metrik werden selbstverständlich nicht nur Horaz und Catull berücksichtigt, sondern alle relevanten Texte. Zuletzt soll auf metrische Besonderheiten und einige Fehler hingewiesen werden. Den größten Anteil machen Gedichte in lyrischen Strophen aus. Fünf Gedichte 459 bestehen aus g l y k o n e i s c h e n S t r o p h e n , wie sie zweimal bei Catull (34 und 61), jedoch nicht bei Horaz vorkommen. Allerdings bildet Catull regelmäßige Strophen (jeweils 4 bzw. jeweils 5 Verse), während bei Schoonhoven der Pherekrateus als Klauselvers in unregelmäßigen Abständen gesetzt ist. 460 455 Carm. 4,1 und 4,10 wie Navag. Lus. 29 (Wechsel von Trimetern und Dimetern), sonst Trimeter, einmal als Choliamben (Carm. 4,22). 456 Die Auswahl erinnert an Martials Epigramme, deren weitaus größter Teil in diesen drei Versmaßen verfasst ist. 457 Die Praefatio und das Motto Ex Anacreonte beziehe ich hier ein. 458 Für Horaz z.B. der conspectus metrorum in Shackleton Baileys Ausgabe (München/ Leipzig 2001), 333-337; Für Catull z.B. die Einleitung in W. Krolls Kommentar (1960), XI- XII. 459 Lal. 3; 9; 15; 22; 36. 460 Zu möglichen Einflüssen Anakreons sowie der Chorlieder in Senecas Tragödien s. die Einleitung zu Lal. 3. Zur Gliederung der genannten Gedichte s. jeweils die Einleitungen der Kommentare. <?page no="83"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 83 Sowohl bei Catull als auch bei Horaz finden sich Gedichte in S a p p h i s c h e n S t r o p h e n . 461 Diese Strophenform verwendet Schoonhoven in Lal. 7. Die übrigen lyrischen Strophen des Lalage-Zyklus kommen bei Horaz, nicht aber bei Catull vor. Besonders häufig sind A s k l e p i a d e i s c h e S t r o p h e n . Vier Gedichte an Lalage 462 sind in der zweiten Asklepiadeischen Strophe verfasst (z.B. Hor. carm. 1,6), acht 463 in der dritten (z.B. Hor. carm. 1,5) und zwei 464 in der vierten (z.B. Hor. carm. 1,3). Die vierte Asklepiadeische Strophe gebraucht Schoonhoven als distichisches Metrum. Bei Horaz werden Gedichte in diesem Metrum in modernen Editionen in der Regel als vierzeilige Strophen gedruckt, doch rechnet Crusius die vierte Asklepiadeische Strophe zu den zweizeiligen Strophen des Horaz. 465 Drei Gedichte des Lalage-Zyklus 466 bestehen aus A l k ä i s c h e n S t r o p h e n (z.B. Hor. carm. 1,9), zwei weitere aus s t i c h i s c h e n A l k ä i s c h e n E l f s i l b l e r n , wobei Lal. 8 im Gegensatz zu Lal. 31 dennoch vierzeilige Strophen bildet. 467 Bei Horaz wie überhaupt in klassischer lateinischer Dichtung findet sich keine stichische Verwendung Alkäischer Elfsilbler, doch ist diese in der Spätantike belegt, z.B. bei Prudentius. 468 Von den neun j a m b i s c h e n Gedichten an Lalage sind vier 469 im jambischen Dimeter, drei 470 im jambischen Trimeter und zwei 471 im epodisch wechselnden Metrum verfasst, bei dem je ein Dimeter auf einen Trimeter folgt (Hor. epod. 1-10). Jambische Trimeter hat Horaz einmal (epod. 17), Catull mehrfach, doch nur einmal in Normalform (Catull. 52), dagegen zweimal als Trimeter purus (4 und 29) und häufiger als Choliambus (z.B. Catull. 8). Jambische Dimeter kommen bei Catull nicht und bei Horaz nicht stichisch vor. Schoonhoven löst oft die erste Silbe eines Jambus in zwei Kürzen auf. 472 Auflösungen an dieser Stelle hat Catull nicht, Horaz gelegentlich (z.B. epod. 2,65). 461 Catull. 11; 51; Horaz: z.B. carm. 1,2. 462 Lal. 5; 27; 35; 39. 463 Lal. 1; 13; 20; 21; 23; 25; 29; 33. 464 Lal. 2; 12. 465 Vgl. Crusius 1967, 119. S. auch die Einleitung zu Lal. 2. 466 Lal. 10; 16; 38. 467 S. auch die Einleitungen zu Lal. 8 und 31. 468 S. auch die Einleitung zu Lal. 8. 469 Lal. 4; 26; 30; 32. 470 Lal. 17; 37; 40. 471 Lal. 14; 34. 472 Lal. 4,3.11.24.31; 14,13.14.20; 17,3; 26,8.12.17; 30,7.15.18; 32,13; 34,12.18; 37,4.7.10; 40,18.19.22.24.25.30.34.45.47.49.61. Auflösungen an anderer Stelle im Vers kommen im Lalage-Zyklus nicht vor. <?page no="84"?> 1 Einleitung 84 P h a l a e c e e n sind ein typisches Metrum Catulls (z.B. 1), das Horaz nicht verwendet. Neben vier Gedichten an Lalage 473 sind die Praefatio und das Motto Ex Anacreonte in Phalaeceen verfasst. Daktylische Versmaße verwendet Schoonhoven im Lalage-Zyklus nur jeweils einmal, den H e x a m e t e r in Lal. 24 und das e l e g i s c h e D i s t i c h o n in Lal. 19. Catull dichtet in beiden Versmaßen, Horaz hat beide nicht in Reinform. 474 Die beiden Elegiae am Ende der Amores Pastorales gehören zur Gattung der Liebeselegie und sind ebenfalls in elegischen Distichen verfasst. Hier sind jedoch eindeutig die römischen Liebeselegiker Vorbild für die Wahl des Metrums und nicht Catull. Schoonhoven zeigt in diesem polymetrischen Gedichtbuch ein waches Bewusstsein für die Funktion der jeweiligen Versmaße. So stellt er in etlichen Gedichten durch das Metrum einen intertextuellen Bezug her, und zwar teils zur Gattung, teils zu einem bestimmten Prätext oder Hypotext. 475 Zudem sind gelegentlich zwei Gedichte, die inhaltlich miteinander verbunden sind, im selben Metrum verfasst. Im Folgenden biete ich eine Übersicht über die Gedichte, bei denen dem Versmaß eine besondere Bedeutung zukommt. Detailliertere Ausführungen finden sich in den Kommentaren zu den jeweiligen Gedichten. 476 Zunächst seien die Fälle benannt, in denen das Metrum auf eine Gattung verweist, was in den Bereich der Architextualität im Sinne Genettes fällt. 477 Die Elegiae, Liebeselegien im gattungstypischen elegischen Distichon, gehören nicht zum Lalage-Zyklus im engeren Sinne. Auch ein Gedicht an Lalage (Lal. 19) ist im elegischen Distichon verfasst. Hierbei handelt es sich um ein Epigramm. Schoonhoven unterscheidet klar zwischen den längeren Elegien (36 bzw. 34 Verse) und dem kurzen Epigramm von acht Versen. Die Form passt jeweils zum Inhalt: Die Liebeselegien stehen thematisch sowie in der Wahl der Topoi der subjektiven römischen Liebeselegie besonders nahe, Lal. 19 dagegen ist ein Tierepikedion nach dem Beispiel vor allem der Anthologia Palatina. Die Klage über den Tod eines haedus wird jedoch zum Schluss wieder zur Klage über die Hartherzigkeit der Geliebten. So spielt Schoonhoven indirekt auch auf die Verwandtschaft von Epigramm und Elegie an. 473 Lal. 6; 11; 18; 28. 474 Der Hexameter ist bei Horaz manchmal Teil einer Strophe, ebenso das Hemiepes, jedoch keine Pentameter. 475 Zum „Hypotext“ als strukturelle Folie s. Kap. 1.2.2.3. 476 S. bes. die Einleitungen; weiter Praef. 7: meus Catullus; Lal. 7,4; 40,20. 477 S. Kap. 1.2.2. <?page no="85"?> 1.2 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales 85 Lal. 24 ist das einzige Gedicht in Hexametern. Hier lassen sich zum einen strukturelle Merkmale einer vergilischen Ekloge feststellen, zum anderen zahlreiche epische Elemente. Jambische Dimeter kommen in plautinischen Cantica vor, aber auch in mehreren Hymnen des Prudentius. So scheint es kein Zufall zu sein, dass Schoonhoven den Hymnus an die Mondgöttin Luna (Lal. 26) in diesem Versmaß dichtet, ebenso wie Lal. 30 (an den Faun), das eine Hymnenparodie darstellt. Die beiden Gedichte weisen deutliche Parallelen zueinander auf. Eine Besonderheit stellen die jambischen Trimeter in Lal. 40 dar. Daphnis behauptet in diesem Gedicht, aufgrund von Lalages Tod keine Lieder mehr singen zu wollen. Natürlich ist Lal. 40 selbst ein Gedicht in Versen, doch verwendet Schoonhoven hier keine lyrischen Strophen, sondern stichische Jamben, wie sie im Drama als Sprechverse vorkommen. Das deutlichste Beispiel für Hypertextualität, die sich auch auf das Metrum erstreckt, ist Lal. 20. Hier dient Hor. carm. 1,23 als strukturelle Folie, und die Gedichte stimmen im Metrum (3. Asklepiadeische Strophe) und in der Strophenzahl überein. Ein wichtiger Prätext für Lal. 8 ist Hor. carm. 1,9. Hier ist das Metrum allerdings nicht exakt dasselbe, denn statt der Alkäischen Strophen der Horazode verwendet Schoonhoven stichische Alkäische Elfsilbler. In der Praefatio stellt Schoonhoven sein Gedichtbuch dezidiert in die Nachfolge Catulls, und dies im typisch catullischen Metrum des Phalaeceus. Gleichzeitig verweist besonders der Versschluss meus Catullus auf ein von Plinius referiertes Gedicht des Sentius Augurinus, in dem dieser sich im selben Metrum ebenfalls auf Catull als Vorbild seiner Dichtung beruft. 478 Auch für das Motto Ex Anacreonte wählt Schoonhoven Phalaeceen. Er übersetzt das griechische Original, das in Anakreonteen verfasst ist, in catullische Verse und bestätigt somit noch einmal seine in der Praefatio behauptete Catullnachfolge. Von den vier phalaeceischen Gedichten an Lalage sei an dieser Stelle vor allem noch auf Lal. 6 verwiesen. Schoonhoven imitiert dort in einigen Passagen Vergils Georgica. Dass er dafür nicht den Hexameter, also das Versmaß der Lehrdichtung, wählt, sondern den Phalaeceus, scheint die parodistischen Züge des Gedichtes zu unterstützen. Einen metaliterarischen Kommentar stellt Lal. 7,4 dar. Das Gedicht ist in Sapphischen Strophen verfasst, die einen Adoneus als Klauselvers haben. Der erste Adoneus in Lal. 7 lautet flesset Adonim und erinnert somit an die bereits antike Benennung des Metrums nach dem sapphischen Vers ὦ τὸν Ἄδωνιν (Sappho fr. 168 V.). 478 Praef. 7; vgl. Plin. epist. 4,27,4 v. 1-2. <?page no="86"?> 1 Einleitung 86 Oben wurde bereits auf die Verbindung von Lal. 26 und 30 verwiesen. Auch in weiteren Fällen lässt sich eine thematische Verwandtschaft von Gedichten im selben Metrum beobachten. 479 Lal. 4 und Lal. 32 (jambische Dimeter) handeln beide von Lalages protervitas: Die Geliebte quält Daphnis durch ihr aufreizendes Verhalten. Die Erwähnung von Lalages Brüsten (Lal. 4,28-32) wird in Lal. 32 zu einem ganzen Gedicht ausgestaltet. Auf die metrische Form von Lal. 20 wurde bereits eingegangen. Das folgende Gedicht 21 ist im selben Metrum verfasst und weist zudem auch dieselbe Strophenzahl auf. Inhaltlich ist eine Verbindung dadurch gegeben, dass Daphnis in Lal. 20 die flüchtende Lalage zu beruhigen versuchte, was in Lal. 21, gleichsam als Reaktion darauf, gelungen zu sein scheint. Lal. 27 und 35 (jeweils 2. Asklepiadeische Strophe) handeln beide von dem Rivalen Thyrsis. Die Gedichte setzen damit eine bereits in Lal. 6 begonnene Geschichte fort. Wenn man den Bau der Verse betrachtet, fällt auf, dass Schoonhoven auch mit einigen prosodischen Besonderheiten vertraut war. Insbesondere die Endsilbenkürzung bei Wörtern, die mit dem Vokal „o“ enden, ist sehr häufig vertreten. Sie kommt bei der ersten Person Singular von Verben vor (Lal. 14,11: aresco; 19,8: plango; 21,10: nescio; 24,30: quaeso; 32,11: dico; 40,39: pererro; Eleg. 2,2: flagito; 2,25: ridebo), beim Imperativ Futur (Lal. 8,16: tendito; 31,22: mittito), beim Nominativ Singular der dritten Deklination (Lal. 4,19: libido), beim Ablativ des Gerundiums (Lal. 6,50: canendo) und bei Wörtern wie quando (Lal. 14,3.9.17) und ergo (Lal. 40,51; Eleg. 1,7). 480 Ein weiterer Sonderfall ist die metrische Dehnung, bei der kurze Silben durch eine unmittelbar folgende Zäsur gelängt werden. In der antiken Dichtung ist dies vor allem an einigen Zäsuren des daktylischen Hexameters üblich. 481 In den Amores Pastorales habe ich vier Beispiele gefunden, die jedoch nicht den Hexameter, sondern dreimal lyrische Verse und einmal den Pentameter betreffen. Zweimal steht eine kurze Silbe statt der geforderten Länge vor der Zäsur 482 im Alkäischen Elfsilbler (Lal. 8,27: vultus decorus: | omnibus incubat; 10,6: salax, proterva | per iuga montium), einmal vor der obligatorischen Zäsur des Asklepiadeus minor (Lal. 29,17: quàm 479 S. auch Kap. 1.2.1.2 a. 480 Vgl. Crusius 1967, 27 mit Beispielen aus der antiken Dichtung. Crusius bemerkt dazu: „Diese Endsilbenkürzung ist von der Iambenkürzung zu unterscheiden, obwohl sie von der Iambenkürzung ihren Ausgang nimmt.“ 481 Vgl. Crusius 1967, 28. 482 Diese Zäsur wird von Horaz jedoch nicht immer eingehalten; vgl. z.B. carm. 1,37,14; dazu Shackleton Baileys Conspectus metrorum, 335. <?page no="87"?> 1.3 Hinweise zur Edition 87 nostris volupè | luminibus fuit 483 ) und einmal vor der Mitteldihärese eines Pentameters (Eleg. 1,4: quos mihi rivalis | intulit usque meus). Auch in der antiken Dichtung gibt es Beispiele für kurze Silben vor Zäsuren, doch werden diese Fälle in der Regel damit erklärt, dass die entsprechende Silbe im archaischen Latein auch lang gemessen werden konnte. 484 An einigen wenigen Stellen sind die Quantitäten nicht korrekt beachtet. In Lal. 15,10 ist bei der letzten Silbe von sicuti metrisch eine Kürze gefordert, doch ist die Silbe des Wortes in der Regel lang. 485 In Lal. 16,3 steht die kurze erste Silbe von meis an einer Position, die gemäß dem Metrum lang gemessen werden müsste. Gleiches gilt für die kurze erste Silbe von liqueo in Lal. 39,8. Umgekehrt muss die zweite Silbe von quottidie in Lal. 21,12 metrisch kurz gemessen werden, doch hat das Wort an dieser Stelle eine Naturlänge. 1.3 Hinweise zur Edition Floris van Schoonhovens Gedichtzyklus Lalage sive Amores Pastorales wurde zuerst 1613 in Leiden als Teil der Poemata antehac non edita veröffentlicht (Sigle L). Mit diesem Band liegt ein autorisierter Erstdruck vor, dem Schoonhoven selbst eine Fehlerliste beifügte (Sigle L C ). 486 Bereits ein Jahr später fand der Lalage-Zyklus Aufnahme in die vierbändige Sammlung Delitiae Poetarum Belgicorum, die Janus Gruter in Frankfurt herausgab (Sigle F). 487 483 Die letzte Silbe von volupe als ursprünglichem Adjektiv im Neutrum (vgl. Kühner/ Holzweissig 1912, 1, 548, § 122,5) muss kurz sein. 484 Vgl. für den Alkäischen Elfsilbler Hor. carm. 3,5,17: si non periret | immiserabilis (mit Nisbet/ Rudd 2004; die Stelle ist auch textkritisch umstritten), für den Asklepiadeus minor Hor. carm. 1,13,6: certa sede manet, | umor et in genas und 3,16,26: quam si quidquid arat | impiger Apulus (mit Nisbet/ Rudd 2004 zu Hor. carm. 3,16,26 und Nisbet/ Hubbard 1978 zu Hor. carm. 2,13,16) und für den Pentameter Ov. am. 1,4,32: et, qua tu biberis, | hac ego parte bibam (mit McKeown 1989 zu Ov. am. 1,4,31-32). 485 Ausnahmen finden sich in den Fragmenten des Lucilius; vgl. OLD s.v. sicuti. 486 Schoonhoven erhebt dabei nicht den Anspruch, alle Fehler gefunden und emendiert zu haben. Insbesondere weist er darauf hin, dass die Setzer mit Satzzeichen und Akzenten recht großzügig umgegangen seien. S. die Fehlerliste am Schluss der Poemata (ohne Seitenzahl): Benevole Lector, Dum semper prelo adesse non vacat, operarum incuriâ haec menda irrepserunt, quae sic emendabis [Auflistung der Fehler]. Haec tumultuariè in quibusdam admonuisse sufficiet, cetera quae properante oculo praeterivi, ut sunt commata quaedam et accentus nimis liberaliter aliquando ab operis additi, per te corriges, benevole Lector, et pro candore tuo condonabis. 487 Daneben wurden ebenfalls in Frankfurt die jeweils mehrbändigen Delitiae Italorum (1608), Gallorum (1609) und Germanorum (1612) herausgegeben. Vgl. Wiegand 1989, 397- 398. <?page no="88"?> 1 Einleitung 88 Das Buch Lalage sive Amores Pastorales beginnt im Leidener Originaldruck mit zwei Prosavorreden (Widmung an zwei Studiengenossen und Vorrede an den Leser), die in den Delitiae nicht übernommen wurden. 488 Alle Gedichte sind auch in der Frankfurter Ausgabe vollständig enthalten. Dazu zählen eine Praefatio in Versen, ein vierzeiliges Motto, vierzig Gedichte, die den Lalage-Zyklus im engeren Sinne bilden, und zwei Elegien. 489 An zwei Stellen bieten die Delitiae eine Verbesserung des Textes durch Eliminieren offensichtlicher Fehler (Lal. 35,6: richtig ambitiosior [F] statt ambitioßior [L]; Lal. 39,25: richtig Cerbereus [F] statt Serbereus [L]). Alle übrigen Varianten des Frankfurter Druckes innerhalb des Textes der Gedichte sind Setzerversehen. 490 Bei den Gedichtüberschriften ist im Nachdruck einige Male die Reihenfolge von Text (z.B. Ad Echo) und Nummerierung (z.B. Carmen V) vertauscht (Lal. 5; 17; 28; 36; 39; 40); zudem fehlen oft Teile der Überschriften (so bei den Gedichten Lal. 17; 24; 26; 30; 36; 38; Ad Lalagen immer außer in Lal. 1). Dagegen wurde die im Leidener Originaldruck fehlende oder falsche Nummerierung dreier Gedichte in den Delitiae korrigiert (Lal. 35, 36 und 38). Trotz der eindeutigen Priorität des Erstdruckes habe ich mich entschieden, alle Überlieferungsvarianten 491 des Frankfurter Druckes im Apparat aufzuführen. Da die Delitiae eine deutlich weitere Verbreitung erfuhren als Schoonhovens Poemata, haben sicherlich die meisten Rezipienten des Lalage-Zyklus den Text dieser Ausgabe benutzt. Die Angabe der Abweichungen 492 im Apparat soll es möglich machen, die Textgestalt des Nachdruckes unmittelbar nachvollziehen zu können. Da die Zahl der frühneuzeitlichen Drucke sich im Falle des Lalage-Zyklus auf die zwei genannten beschränkt, ist nicht zu befürchten, dass bei dieser Vorgehensweise „enorme […] Materialhalden“ 493 entstünden. Bei der Edition eines neulateinischen Textes stellt sich die Frage, ob man die Orthographie, Interpunktion und Akzentsetzung der frühneuzeitlichen Drucke übernimmt oder ob normalisierende Eingriffe sinnvoll erscheinen. 488 S. dazu auch die Einleitung zu den „Paratexten.“ 489 Zum Aufbau des Buches s. auch Kap. 1.2.1.1. 490 Aufgrund einer gewissen Eile bei der Zusammenstellung weisen die Delitiae insgesamt häufig Fehler auf. Vgl. Wiegand 1989, 398. 491 Roloff (1992, 2, Anm. 1) plädiert dafür, einheitlich den Begriff „Variante“ zu verwenden und dabei zwischen autorisierten Varianten (Veränderungen einer Textfassung durch den Autor) und Überlieferungsvarianten (Veränderungen, die nicht auf den Autor zurückzuführen sind) zu unterscheiden. 492 Da ich die Orthographie normalisiere (s.u.), werden nur semantische Varianten angegeben. 493 Roloff 1992, 3. <?page no="89"?> 1.3 Hinweise zur Edition 89 Der Vorteil einer historisch-diplomatischen Ausgabe liegt unzweifelhaft darin, dass dem heutigen Leser der Text in seinem für die Entstehungszeit typischen Erscheinungsbild geboten wird. Dies bedeutet jedoch zugleich oft eine Hemmung des Leseflusses, so dass zum Teil auch Befürworter des diplomatischen Editionsverfahrens für leichte Anpassungen an heutige Gewohnheiten plädieren. 494 Die Kriterien, nach denen manches geändert wird, anderes dagegen belassen, sind dabei jedoch nicht immer einleuchtend. 495 Für einen Forscher, der sich öfter mit frühneuzeitlichen lateinischen Texten beschäftigt und mit deren Orthographie bereits vertraut ist, böte eine diplomatische Edition sicherlich den Vorteil eines zusätzlichen Informationsgehaltes, ohne dass sich Nachteile hinsichtlich der Lesbarkeit ergäben. Schon für Studierende der Klassischen Philologie, die das Erscheinungsbild der Ausgaben des Oxford- oder Teubner-Verlages gewohnt sind, dürfte eine diplomatische Edition jedoch das Textverständnis zumindest erschweren. Zudem soll es auch Wissenschaftlern anderer Fachrichtungen oder interessierten Laien möglich gemacht werden, anhand der deutschen Übersetzung den lateinischen Originaltext nachvollziehen zu können. 496 Ich habe mich daher bei der Orthographie und der Interpunktion für eine fast vollständige Modernisierung entschieden, um einen möglichst leichten Zugang zum lateinischen Text zu gewährleisten. 497 Eigenheiten des Originaldruckes wurden nur dort übernommen, wo sie die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen oder sogar befördern. 498 Natürlich ist auch der Anspruch berechtigt, den Text in seinem originalen Erscheinungsbild rezipieren zu können, da eine modernisierende Edition starke Eingriffe in den Text impliziert und insbesondere eine Normali- 494 Vgl. z.B. Mundt 1992, 186-187; anders z.B. Kristeller 1959, 367: „Es scheint mir doch falsch, wenn man … den Text mittelalterlicher oder humanistischer Autoren normalisiert, d.h. den Regeln klassischer lateinischer Orthographie, Grammatik, Stilistik und Metrik anpaßt, denn diese Autoren waren durchaus imstande, absichtlich oder aus Unkenntnis von diesen Regeln abzuweichen.“ 495 So spricht sich Mundt (1992, 187) für folgende Anpassungen der Orthographie aus: „u/ v-Wechsel: Ausgleich nach dem Lautwert; j > i; ę > ae/ oe; ß > ss ; ʃ > s.“ Ich kann jedoch nicht sehen, dass z.B. die historische Schreibweise juvenes (statt normalisiertem iuvenes) die Lesbarkeit stärker beeinträchtigt als etwa charus (statt carus) oder solatium (statt solacium). 496 Simmler (1992, hier bes. 36-41) kritisiert Modernisierungen in wissenschaftlichen Ausgaben scharf, da jede Normalisierung einen Informationsverlust bedeute. Man muss dabei jedoch beachten, dass Simmler als Sprachwissenschaftler Ansprüche an eine Edition stellt, die bei einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung eines Textes nicht in gleichem Maße relevant sind. 497 Sehr pragmatisch z.B. Murgatroyd (2000, 14): „For clarity and ease of flow I have changed spelling and punctuation to make them conform consistently with modern editorial practice.“ 498 S. dazu die Ausführungen weiter unten. <?page no="90"?> 1 Einleitung 90 sierung der Interpunktion nicht selten auch eine Interpretation des Herausgebers bedeutet. Noch vor kurzer Zeit wäre dies ein durchaus gewichtiges Argument für eine diplomatische Edition gewesen, da die frühneuzeitlichen Originaldrucke oft nur noch in wenigen Exemplaren existieren und längst nicht in jeder Bibliothek vorhanden sind. 499 So war es noch vor wenigen Jahren mit einigen Umständen verbunden, den Text der Poemata antehac non edita in der Ausgabe von 1613 zu beschaffen. Im Zeitalter von Google Books werden solche Schwierigkeiten jedoch zunehmend geringer. So habe ich schon bei flüchtiger Suche zwei Internetadressen gefunden, unter denen der Volltext von Schoonhovens Poemata kostenlos bereitgestellt wird: 500 — http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ bsb00005541/ images — http: / / books.google.com/ books? id=w7ETAAAAQAAJ&dq=poemata+ antehac+non+edita+1613&ie=ISO-8859-1 Wer also den Text in seiner ursprünglichen Gestalt betrachten möchte, sei es aus Gründen philologischer Genauigkeit oder aus historischem Interesse, bekommt mit diesem elektronischen Faksimile des Originaldruckes ein exakteres Bild geboten, als es selbst eine buchstaben- und kommagetreue Abschrift leisten könnte. Um dennoch einen Einblick in die graphischen Eigenheiten des Originaldruckes zu gewährleisten und um die vorgenommenen Änderungen nachvollziehbar zu machen, gebe ich im Folgenden einen Überblick über die Besonderheiten von Orthographie, Interpunktion und Akzentsetzung. 501 Die Eingriffe in den Text werden, soweit sie Orthographie und Interpunktion betreffen, nicht einzeln im Apparat aufgeführt und nur dann im Kommentar diskutiert, wenn sich etwa durch unterschiedliche Interpunktion der Sinn einer Textstelle ändert. a) Orthographie Ungewöhnliche Schreibweisen wurden normalisiert: — V → U, wenn es sich um einen Vokal handelt. Die Kleinbuchstaben u und v sind bereits im Originaldruck nach Lautwert gesetzt; dabei wird 499 So merkt Simmler (1992, 51) noch zu Recht an, von einem interessierten Leser könne nicht verlangt werden, dass er für die Beschaffung der Originaltexte ebensoviel Zeit und Geld aufwenden müsse wie der Editor. 500 Der Karlsruher Virtuelle Katalog bietet inzwischen die Möglichkeit, auch nach in Datenbanken erfassten Büchern zu suchen. 501 Ich beziehe mich auf den Erstdruck Leiden 1613. Orthographische Abweichungen von F werden nur dann im Apparat vermerkt, wenn sie Auswirkungen auf die Interpretation haben (etwa bei einer Personifizierung durch Großschreibung). <?page no="91"?> 1.3 Hinweise zur Edition 91 zweisilbig gemessenes silva (z.B. Lal. 6,59) und dreisilbig gemessenes silua (z.B. Lal. 2,4) unterschieden. Versehen habe ich stillschweigend korrigiert (Lal. 24,1: involuerat → involverat). — ʃ → s — æ → ae — œ → oe — ae (æ) → oe (z.B. Lal. 19,3: prælia → proelia) — oe (œ) → ae (z.B. Lal. 16,15: mœrore → maerore; 25,10: cœruleis → caeruleis) — ae (æ) → e (z.B. Lal. 24,10: lætheaque → letheaque; 25,44: Læthe → Lethe) — oe (œ) → e (z.B. Lal. 12,45: fœmina → femina; 16,31: fœtus → fetus) — i → e (z.B. Lal. 3,53: negligam → neglegam; 24,23: nivioque → niveoque) — i → y (z.B. Lal. 29,2: Coridon → Corydon; 39,7: Marsia → Marsya) — y → i (z.B. Lal. 6,59: sylva → silva; 24,10: Cymmerias → Cimmerias) — y → ii (z.B. Lal. 1,25: brachys → brachiis; 25,34: Elysy → Elysii) — ij → ii: (z.B. Lal. 11,3: radijs → radiis; 27,13 alij → alii) — j → i (z.B. Ded.: joculariter → ioculariter; Ad. Lect.: juvenilibus → iuvenilibus); in den meisten Fällen ist jedoch im Originaldruck auch konsonantisches i als i geschrieben. — n → m (z.B. Lal. 6,48: nunquam → numquam; 1,20: quemcunque → quemcumque) — ß → ss (z.B. Lal. 5,6: receßibus → recessibus; 12,45 saevißima → saevissima) — qu → c (z.B. Lal. 6,2: quum → cum) — ch → c (z.B. Lal. 7,3: charum → carum) — th → t (z.B. Lal. 40,54: lethum → letum) — ti → ci (z.B. Lal. 1,3: convitia → convicia; 40,12: solatium → solacium) — Doppelkonsonanten habe ich belassen, wenn das OLD die entsprechende Form zumindest als mögliche Nebenform angibt (z.B. Eleg. 2,27: littore). Geändert habe ich dagegen strennuus zu strenuus (Lal. 20,10). — Die Interjektionen ah und proh habe ich in der vorgefundenen Form belassen, da sie auf diese Weise von den gleichlautenden Präpositionen a und pro graphisch unterschieden sind. Die Schreibweise ah führt das OLD bei der Interjektion a als Alternative auf. Zu proh vgl. Ramminger: ThLL 10,2 (1998),1438,20-22. Die raren Belege sind allerdings sehr spät. Ligaturen wurden grundsätzlich aufgelöst. Die Groß- und Kleinschreibung habe ich nicht normalisiert, da hier die Abweichungen von der modernen Praxis die Verständlichkeit und den Lesefluss in keiner Weise beeinträchtigen. So werden Sakralwörter wie Deus (z.B. Lal. 1,21) und Numen (z.B. Lal. 10,14) groß geschrieben. Auch Volucrem (Lal. 1,24; Vogel des Jupiter und damit göttliches Wesen) und Caeli (Lal. 25,27) zählen hier offensichtlich zu <?page no="92"?> 1 Einleitung 92 den Sakralwörtern. Die Großschreibung von Vokativen wie Ornatissimi Iuvenes (Ded.) oder Lux (z.B. Lal. 2,17) und Vita (z.B. Lal. 1,13) als Anrede der Geliebten gehört zur üblichen frühneuzeitlichen Praxis. Darüber hinaus sind folgende Besonderheiten zu verzeichnen: — Praef. 15: Iuvenes; — Bezeichnung der Geliebten als Domina (Lal. 3,35; Eleg. 1,24) oder als Levamen (Lal. 10,3); — Lal. 9,13: Tigride; 31,3: Leonis (Raubtiere); — Lal. 24,17: Hyacinthos (vielleicht weil an die mythische Person Hyacinthus gedacht ist); — Lal. 40,63: Popule (die Pappel wird an dieser Stelle personifiziert). Stillschweigend korrigiert wurden nur zwei offensichtliche Versehen (Lal. 3,36: Basia; 22,6: Ilice). b) Interpunktion Wie Burkard gezeigt hat, ist die Interpunktion frühneuzeitlicher Drucke keineswegs zufällig oder willkürlich. 502 Sie folgt jedoch Regeln, die dem heutigen Gebrauch der Satzzeichen nicht vergleichbar sind. Interpungiert wurde nach semantischen und syntaktischen Sinneinheiten (Komma, Kolon und Periode). Als Satzzeichen standen das Komma als schwächstes Trennungszeichen, dann das stärkere Semikolon, der Doppelpunkt und schließlich der Punkt zur Verfügung. Die Grenzen zwischen den einzelnen Satzzeichen waren jedoch unscharf. 503 Überdies wurde vor dem 18./ 19. Jahrhundert noch nicht zwischen Haupt- und Gliedsätzen unterschieden, so dass vor einem Nebensatz stark interpungiert werden konnte. 504 Burkard plädiert für eine Beibehaltung der ursprünglichen Zeichensetzung, da „die Interpunktionszeichen zum Text gehören und für Verständnis und Interpretation von Bedeutung sind.“ 505 Hilfreich ist dies jedoch wiederum nur für den versierten Frühneuzeitforscher, der mit den andersartigen Regeln vertraut ist. Ansonsten bedeutet die frühneuzeitliche Interpunktion in aller Regel gerade keine Verständnishilfe, sondern wirkt irritierend oder führt zu Missverständnissen. Dies gilt nicht nur für den interessierten Laien, sondern zum Beispiel auch für Klassische Philologen, die den Umgang mit modernen Editionen antiker lateinischer Texte gewohnt sind. So habe ich mich auch hier für eine weitgehende Normalisierung entschieden. Ausnahmen von dieser Vorgehensweise habe ich mir dort erlaubt, wo die Interpunktion des Originaldruckes tatsächlich das 502 Vgl. Burkard 2003, 5-24. 503 Vgl. Burkard 2003, 19. 504 Vgl. Burkard 2003, 10-11. 505 Burkard 2003, 5. <?page no="93"?> 1.3 Hinweise zur Edition 93 Textverständnis erleichtert, indem sie Ambiguitäten bei der Zusammengehörigkeit von Wortgruppen vermeidet. Dies ist vor allem bei der Abtrennung von Partizipialkonstruktionen der Fall, wenn ohne die gesetzten Kommata nicht deutlich würde, welche Teile des Satzes zur Partizipialkonstruktion gehören und welche nicht. 506 Indem ich die Interpunktion modernisiere, aber zugleich die ursprüngliche Zeichensetzung dort belasse, wo sie eine sonst nicht gegebene Eindeutigkeit herstellt, sehe ich mich durchaus im Einklang mit der frühneuzeitlichen Auffassung vom Sinn der Interpunktion. So kommt Burkard 507 zu dem Schluss: „Als den Hauptzweck der Interpunktion betrachtete man im 16. Jahrhundert die Vermeidung von Missverständnissen.“ c) Akzentsetzung Die Akzente des Originaldruckes wurden belassen, 508 da sie die Lesbarkeit nicht behindern, sondern im Gegenteil oft die rasche Erfassung des Textes erleichtern, indem sie die Unterscheidung von Homographen und Homonymen ermöglichen. 509 Systematische Vollständigkeit ist dabei in der Regel nicht zu erwarten. Steenbakkers beschreibt den Sinn der Akzentsetzung folgendermaßen: „I would suggest that it serves to offer the reader clues to grasp the overall structure of a Latin period on sight. In order to achieve this, the system need neither be comprehensive nor consistent.“ 510 [Hervorhebung vom Autor.] Die Regeln der frühneuzeitlichen Akzentsetzung seien hier kurz zusammengestellt: 511 506 S. z.B. Lal. 4,1-2. 507 Burkard 2003, 24; vgl. auch ebd. 17: „Der Sinn einer korrekten Interpunktion ist laut Manutius, dunkle Sätze zu disambiguieren.“ Burkard bezieht sich dort auf Manutius’ Orthographiae ratio aus dem 16. Jahrhundert. 508 Hier folge ich den Kriterien von Mundt 1992, 187: „Akzente sollten unbedingt übernommen werden, da sie zum einen für das Erscheinungsbild neulateinischer Drucke charakteristisch sind, zum anderen aber auch gute Hilfen bei der schnellen Erfassung des Textes leisten können. … Wo Akzente falsch gesetzt sind, sind sie (unter Angabe im Apparat) zu eliminieren. Von der Ergänzung fehlender Akzente ist jedoch abzusehen.“ 509 Zu den Begriffen „Homograph“ und „Homonym“ vgl. Steenbakkers 1994, 925, Anm. 2. Homonyme sind gleich geschriebene und gleich ausgesprochene Wörter oder Wortformen mit jeweils anderer Funktion oder Bedeutung (etwa quod als Pronomen und als Konjunktion), Homographe gleich geschriebene, aber unterschiedlich gesprochene Wörter oder Wortformen mit jeweils anderer Funktion oder Bedeutung (etwa hĭc als Pronomen und hīc als Adverb; causă als Nominativ und causā als Ablativ). 510 Steenbakkers 1994, 928. 511 Vgl. Steenbakkers 1994, 925-928; Burkard 2003, 34. Zur Entstehung und Entwicklung des Akzentsystems vgl. Steenbakkers 1994, 929-934; zur Frage der Betonung vgl. Burkard 2003, 24-35. <?page no="94"?> 1 Einleitung 94 — Der Gravis ist das Zeichen einer nicht deklinierbaren Form. Adverbien und Konjunktionen werden durch den Gravis von Pronomina, Adjektiven usw. geschieden (z.B. quàm, quòd, multò, verùm). Zudem können die Präpositionen a und e (jedoch nicht ab und ex) einen Gravis erhalten. — Der Akut findet sich bei den Enklitika -que, -ve, -ne, um anzuzeigen, dass die Betonung des Wortes, an das sich das Enklitikon anlehnt, auf die letzte Silbe dieses Wortes verschoben wird. Der Akut kann auf der letzten Silbe des Proklitikons oder auf dem Enklitikon stehen. Bei -que und der Kurzform -q; erscheint der Akzent oft über dem Buchstaben q. In diesem Falle habe ich bei der Auflösung der Ligatur -q; den Akzent auf das Enklitikon gesetzt (-qué). — Der Zirkumflex wird in mehreren Funktionen verwendet. Er dient als Kennzeichen langer Kasusendungen (z.B. beim Ablativ curâ), zur Unterscheidung von Homographen (z.B. Adverb hîc und Pronomen hic; pendêre und pendere; Adverb quoque und Ablativ eines Pronomens quôque) und zur Markierung von Kontraktionen (z.B. Genetiv Plural deûm im Unterschied zum Akkusativ Singular deum). Auch bei der Interjektion ô kann der Zirkumflex gesetzt werden. — Die Diaeresis bzw. das Trema hat dieselbe Funktion wie in modernen Ausgaben lateinischer Texte: Es wird angezeigt, dass zwei Vokale einzeln und nicht als Diphthong zu sprechen sind (z.B. aër). <?page no="95"?> 1.3 Hinweise zur Edition 95 Drucke: Flor[entii] Schoonhovii Goudani Poemata antehac non edita. Lugduni Batavorum: Ex Officina Godefridi Basson, 1613, 97-148. Delitiae C[entum] Poetarum Belgicorum, Huius Superiorisque Aevi Illustrium, Quarta Pars. Collectore Ranutio Ghero [= Iano Grutero]. Francofurti, Typis Nicolai Hoffmanni, Sumptibus Iacobi Fischeri. Anno 1614, 88-124. Siglen: L = Leiden 1613 L C = Leiden 1613: Korrektur des Autors F = Frankfurt 1614 <?page no="96"?> 2 Text und Übersetzung Flor[entii] Schoonhovii Lalage sive Amores Pastorales Doctissimis et ingenuis adolescentibus, Simoni Langio et Nicolao Goutswaert, s. Non diu mihi dubitandum aut quaerendum fuit, quibus potissimùm hunc meum libellum omni patrocinio destitutum dedicarem: Quid enim convenientius est quàm iuvenilia offerre iuvenibus, amores amantibus? Ad vos itaque, Ornatissimi Iuvenes, S IMON L ANGI et N ICOLAE G OUTSWAERT , hic meus fetus se recipit; vos lectores itidemque patronos (ut pote homines eiusdem farinae, cuius auctor) sibi flagitat. Sed quid inspecto titulo varium quiddam et mutabile in vobis animadverto? quid miramini? quid ridetis? Novumne et insuetum amatorem? sic est. Desinite quaeso mirari, desinite ridere: Amo certè, amo, addam etiam quod magis miremini: Amo, inquam, nec unam tantum, duas, aut tres, sed omnes illas lepidas novem sorores et perinde ac illae in casto corpore virgineam mentem servo. Scitis quid velim, plura non addam, tantum precor, ut meo exemplo excitati eâdem mente quâ ego, hoc est ioculariter et animi causa, simile quid tentetis. Valete et me amate. Ad benevolum Lectorem. Lector, quisquis es, te oratum volo, ne vitam meam ex hoc ludicro carmine spectes: Lasciva enim (ut ait ille) pagina est, vita proba. Teneris et iuvenilibus annis haec animi causa lusimus et non amantes amores scripsimus. Et certè aut hâc aetate aliquid licet aut numquam. Te itaque rogo, ut haec lecturus ignoscendi animum tecum feras aut omninò his abstineas. Vale et fave. Tit. Florentii Schoonhovii Goudani F Ded., Ad Lect. Doctissimis … Vale et fave om. F Ad. Lect. benevolum L C : benevolem L <?page no="97"?> Ad benevolum Lectorem 97 Floris van Schoonhoven: Lalage oder Bukolische Liebesgedichte Die hochgelehrten und edlen jungen Männer, Simon Langius und Nicolaus Goutswaert, grüße ich. Nicht lange musste ich überlegen oder fragen, wem ich am ehesten mein Büchlein hier, das ohne allen Schutz war, widmen könnte: Was nämlich ist passender, als Jugendgedichte jungen Männern zu überreichen, Liebesgedichte Liebenden? Bei euch, ihr hochgeehrten jungen Männer, Simon Langius und Nicolaus Goutswaert, sucht mein Kind daher Zuflucht; euch (da ihr ja Menschen vom gleichen Schrot und Korn seid wie der Autor) fordert es für sich als Leser und zugleich als Schutzherren. Aber warum nehme ich, nachdem ihr den Titel betrachtet habt, etwas Unbeständiges und Launisches bei euch wahr? Was wundert ihr euch? Worüber lacht ihr? Etwa über den unerfahrenen und ungewohnten Liebhaber? So ist es. Hört bitte auf, euch zu wundern, hört auf zu lachen: Ich liebe sicherlich, ich liebe, und ich will etwas hinzufügen, worüber ihr euch noch mehr wundern dürftet: Ich liebe, sage ich, und nicht nur eine, zwei oder drei, sondern all jene allerliebsten neun Schwestern, und ebenso wie sie wahre ich in einem keuschen Körper einen jungfräulichen Sinn. Ihr wisst, was ich meine, mehr will ich nicht hinzufügen; ich bitte nur darum, dass ihr von meinem Beispiel ermuntert mit der gleichen Gesinnung wie ich - nämlich scherzhaft und zum Vergnügen - etwas Ähnliches versuchen möget. Lebt wohl und seid mir verbunden. An den geneigten Leser. Leser, wer immer du bist, ich möchte dich bitten, dass du mein Leben nicht nach diesem scherzhaften Gedicht beurteilst: Übermütig ist nämlich (wie jener sagt) die Seite, mein Leben rechtschaffen. In zartem und jugendlichem Alter habe ich dies zum Vergnügen spielerisch gedichtet und ohne zu lieben Liebesgedichte geschrieben. Und sicherlich ist entweder in diesem Lebensabschnitt etwas erlaubt oder niemals. Ich bitte dich daher, dass du eine nachsichtige Gemütshaltung mitbringst, wenn du dies lesen willst, oder dass du dich gänzlich davon fernhältst. Lebe wohl und sei mir gewogen. <?page no="98"?> 2 Text und Übersetzung 98 Praefatio. Dum tonant alii favente Phoebo Versus bellicrepos ducesque fortes Et sese pariter per universum Famae curribus evehunt Olympum, 5 Nobis sufficiet vel in virentis Prati gramine vallibusve curvis, Quas quondam tenuit meus Catullus, Agresti Lalagen sonare Musâ Et ungues agiles levesqué morsus 10 Et dulcem segetem osculationis Molli carminis arte ruminare. Ergò diffugiant graves Catones, Queis supercilium tumet, senesqué, Nobis (heu) nimium severa turba. 15 Accedant Iuvenes proterviores, Qui valent agiles movere lumbos: Sacris convenit illa turba nostris; Illis Aonidum cano sacerdos; Illis si placeam, satis placebo. Ex Anacreonte. Durum terricolis amare nullam, Sed durum magis est amare quandam, At nil durius est amariusque Quàm quandam deamare, nec potiri. Ad Lalagen. Carmen I. Dum stratae pecudes gramina ruminant Et grillis nemus hoc undique personat, Qui convicia Soli Fundunt atque caloribus, 5 Huc huc, ô Lalage, cum grege languido Nil cunctata veni, populus hîc comas Diffundens dabit umbras, Umbras frigus amabile. Praef. 4 Fama F <?page no="99"?> Ad Lalagen. Carmen I 99 Vorrede. Während andere mit der Gunst Apolls kriegstönende Verse und tapfere Führer donnernd besingen und sich in gleicher Weise auf dem Wagen des Ruhmes am ganzen Himmel emporschwingen, 5 wird es mir genügen, im Gras der grünenden Wiese oder in den Talsenken, die einst mein Catull bewohnte, mit ländlicher Muse Lalage zu besingen und die regsamen Fingernägel, die leichten Bisse 10 und die süße Saat des Küssens durch die zärtliche Kunst des Liedes ins Gedächtnis zu rufen. Daher mögen die ernsten Catonen, denen die Augenbraue schwillt, und die Greise sich hinwegbegeben, ein Volk, das uns - ach! - viel zu streng gesonnen ist. 15 Möglichst kecke Jünglinge mögen herankommen, die imstande sind, die regsamen Lenden zu bewegen; dieses Volk passt zu meinen Riten, ihnen singe ich als Priester der Musen; wenn ich ihnen gefalle, werde ich genug gefallen. Aus Anakreon. Hart ist es für die Erdbewohner, keine Frau zu lieben, doch härter ist es, eine Frau zu lieben; aber nichts ist härter und bitterer, als eine Frau leidenschaftlich zu lieben und sie nicht zu bekommen. An Lalage. Gedicht 1. Während das Vieh ausgestreckt daliegend Gras wiederkäut und dieser Wald überall vom Zirpen der Grillen widerhallt, die die Sonne und die Hitze mit Vorwürfen überschütten, 5 komm ohne zu zögern hierher, hierher, Lalage, mit der trägen Herde; die Pappel wird hier ihre Blätter ausbreiten und Schatten spenden, Schatten, eine sehr angenehme Kühle. <?page no="100"?> 2 Text und Übersetzung 100 Hîc torrens strepero murmure labitur, 10 Dum volvit nitidos lympha lapillulos, Huius proximus humor Florum dulce genus rigat. Contexam capiti, Vita, corollulas, Aspergam nitidis ubera floribus, 15 Atque attrita sonabit Carmen nobile fistula. Non est, quod metuas Pana protervulum, Quàmvis flammivomus prata perambulet Et venatibus asper 20 In quemcumque etiam furat. Non te praeripiet Pan mihi, non Deus, Cuius missa manu fulmina bombiunt, Quamvis, ut Ganymeden Rapturus, Volucrem suam 25 Mittat; nexilibus te te ego brachiis Stringam vel pedibus, ambitiosius Quàm truncosve domosve Errantes hederae premunt. Ergò, Vita, veni, praeripe te morae, 30 En monstrat petulans grex tibi semitam; Dulce est posse laborem Cum grato pare fallere. Ad Lalagen. Carmen II. Cur te perpetuò tua Observat genetrix invida, cum gregem Ortâ lampade Cynthii Ad pastum virides in siluas agis? 5 Tunc me, Naiades velut Faunum capripedem, corde tremens fugis, Nec vertens oculos tuos, Qui sensum misero surripiunt mihi, Saltus cedis in abditos 10 Et desiderium pectoris incutis, II. Ad Lalagen om. F 9 caedis F <?page no="101"?> Ad Lalagen. Carmen II 101 Hier gleitet der Wildbach mit rauschendem Murmeln dahin, 10 während das klare Wasser glänzende Kieselchen wälzt, dessen Nass ganz in der Nähe liebliche Blumenarten netzt. Ich will, mein Leben, Kränzchen für deinen Kopf flechten, ich will deine Brüste mit glänzenden Blumen bestreuen, 15 und die abgenutzte Panflöte wird ein treffliches Lied erklingen lassen. Du brauchst den dreisten Pan nicht zu fürchten, mag er auch Flammen speiend durch die Wiesen wandern und, durch die Jagd in gereizter Stimmung, 20 sogar gegen alle und jeden wüten. Nicht wird Pan dich mir entreißen, nicht der Gott, dessen mit der Hand geschleuderte Blitze dumpf tönen - mag er auch, als wollte er Ganymedes rauben, seinen Vogel 25 schicken. Dich, dich werde ich mit umschlingenden Armen oder Füßen an mich ziehen, eifriger, als rankender Efeu sich an Baumstämme oder Häuser presst. Also, mein Leben, komm, entreiße dich allem Hindernden; 30 sieh, die ausgelassene Herde zeigt dir einen Pfad; süß ist es, sich der Mühsal zusammen mit einem lieben Gefährten entziehen zu können. An Lalage. Gedicht 2. Warum beobachtet dich ständig deine missgünstige Mutter, wenn du die Herde nach dem Aufgang von Cynthius’ Licht zur Weide in die grünen Wälder treibst? 5 Dann fliehst du mich wie die Nymphen den ziegenfüßigen Faun mit zitterndem Herzen und gehst, ohne den Blick zu wenden, der mir Unglücklichem die Besinnung raubt, in abgelegene Schluchten 10 und weckst in meinem Herzen Sehnsucht, <?page no="102"?> 2 Text und Übersetzung 102 Quamvis non tamen oderis Dilectum ex animo Daphnida candido. Tunc mens aufugit et color Incendorque magis, quò magè diffugis. 15 Inconcessa nimis iuvant Et semper vetitis dulcius utimur. Non te, Lux, malè continens Lascivis manibus excipiam, licet In te fortè natatiles 20 Et fractos oculos eiaculer vagus. Durum incendia pectoris Occultare sui; lumine proprio Produntur magis ac magis. At tantum genetrix proxima funeri 25 Figat invidiae modum, Nec sese insinuet rebus amantium. Is ieiunia comprobat, Cui venae nimio turgidulae mero. At nos, queis puer aliger 30 Ignitis iaculis pectora contudit, Donec canities abest, Quae morbos miseris adferet et necem, Vivamus lepidè, simul Tentantes veneris proelia liberae. Ad Lalagen. Carmen III. O carecta, protervulo Quae Fauno latebras datis, Cum pruriginis impotens Nymphis insidiatur, 5 Et vos, culmina montium, Queis numquam manus invida Frondis praeripuit decus, Iam praebete latebras, Dum mecum Lalage cubans 10 Dulci gramine vallium Nostrae carmina fistulae Gratâ voce recenset. Vos aurae, facili gradu 34 Veneris F III. Ad Lalagen om. F <?page no="103"?> Ad Lalagen. Carmen III 103 obwohl du doch den aus reiner Seele geliebten Daphnis nicht hasst. Dann entfliehen mir Verstand und Farbe, und ich entbrenne um so mehr, je mehr du fliehst. 15 Das Unerlaubte gefällt uns besonders, und stets bietet uns das Verbotene einen besonders süßen Genuss. Ich werde dich, mein Licht, nicht unbeherrscht mit mutwilligen Händen ergreifen, mag ich unstet auch vielleicht schwimmende 20 und gebrochene Blicke auf dich werfen. Es ist hart, die Feuersbrände der eigenen Brust zu verbergen; durch das ihnen eigene Licht verraten sie sich mehr und mehr. Aber deine Mutter, die dem Tod schon so nahe ist, 25 soll nur der Missgunst ein Ende setzen und sich nicht in die Angelegenheiten von Liebenden einmischen. Der lobt die Nüchternheit, dem die Adern von zu viel unvermischtem Wein geschwollen sind. Aber wir, denen der flügeltragende Knabe 30 die Brust mit glühenden Pfeilen durchbohrt hat, wollen, solange das graue Alter fern ist, das den Unglücklichen Krankheiten bringt und den Tod, vergnüglich leben und uns zugleich in den Kämpfen der freien Liebe versuchen. An Lalage. Gedicht 3. Du Riedgrasdickicht, das du dem dreisten Faun ein Versteck bietest, wenn er, nicht Herr über seine Begierde, den Nymphen auflauert, 5 und ihr Berggipfel, denen niemals eine missgünstige Hand den Laubschmuck vorzeitig entrissen hat: gewährt mir nun ein Versteck, während Lalage mit mir 10 im lieblichen Gras der Täler liegt und dabei die Lieder meiner Panflöte mit holder Stimme nachsingt. Ihr Winde, die ihr mit leichtem Schritt <?page no="104"?> 2 Text und Übersetzung 104 Quae percurritis aera: 15 Si quondam Iovis oscula Celastis, Lalages meae Occultate suavia, Quae mi saevitiâ levi Nolens vincere figit. 20 En, Lux, culmina montium Et carecta latentia Iam perenne silentium Dulci murmure spondent. Aurae blandisonae favent 25 Promittuntque suam fidem Numquam semet arundines Velle inflare potentiùs, Ne sic nostra suavia Ut quondam auriculas Midae 30 Suo murmure prodant. In nostro recubes sinu, Omnis arbiter est procul, Tantùm gramine vallium Agnae dulciter errant. 35 Non illae Dominae suae Prodent basia perfidae: Nam crebrò quoque coniugi Se submittere gaudent. Fige basia (nil time), 40 Haere pendula pectori Et linguam tremulam move Per collumqué genasque, Sicut rostra columbulae Iungunt et facili petunt 45 Morsu mutua pectora Et nunc subsiliunt leves Et nunc desiliunt leves, Cum prurigine flagrant. O quàm dulce suavium 50 Fixisti, mea Suavitas, Vel fallor, vel apes tibi Implent mellibus ora. Hebes pocula neglegam, Semper si liceat mihi 55 Tali vivere nectare Tamquam rore cicadae. <?page no="105"?> Ad Lalagen. Carmen I 105 die Luft durcheilt: 15 wenn ihr irgendwann einmal Jupiters Küsse versteckt habt, dann verbergt die Küsse meiner Lalage, die sie mir mit sanfter Grausamkeit, ohne siegen zu wollen, gibt. 20 Sieh, mein Licht: die Berggipfel und das verborgene Riedgrasdickicht verheißen mit einem lieblichen Wispern schon ewiges Stillschweigen. Die sanfttönenden Winde sind uns gewogen 25 und versprechen ihre Treue: dass sie niemals allzu kräftig in die Schilfrohre blasen wollen, um nicht so unsere Küsse - wie einst die Öhrchen des Midas - 30 mit ihrem Wispern zu verraten. Lehne dich in meinem Schoß zurück; kein Beobachter ist in der Nähe, nur Lämmer schweifen im Gras der Täler lieblich umher. 35 Sie werden die Küsse ihrer Herrin nicht treulos verraten, denn auch sie freuen sich darüber, sich oft ihrem Gatten zu unterwerfen. Küsse mich (fürchte nichts), 40 ruhe anhänglich an meiner Brust und bewege die zitternde Zunge über Hals und Wangen hin, so wie Täubchen ihre Schnäbel aneinander reiben und mit leichtem Biss 45 gegenseitig nach ihrer Brust picken und bald leichtfüßig emporspringen und bald leichtfüßig hinabspringen, wenn sie vor Leidenschaft brennen. O welch süßen Kuss 50 gabst du mir, meine Süße; wenn ich nicht irre, füllen dir die Bienen den Mund mit Honig. Die Becher der Hebe will ich geringachten, wenn es mir immer erlaubt ist, 55 von solchem Nektar zu leben wie von Tau die Zikaden. II <?page no="106"?> 2 Text und Übersetzung 106 Ad Lalagen. Carmen IV. Cur, in virenti gramine Me fistulantem, ab angulo, Lalage proterva, perpetim Petis nucum putamine? 5 Et nunc ad ulmos confugis Volens tamen viderier, Et nunc recurrens protinus Te prodis altis risibus? Quid hoc, nisi libidinis 10 Aestum movere fervidum et Oleum caminis addere? Non sic Prometheum Caucasi Altis ligatum rupibus Ales severa distrahit, 15 Cum devorandum, perpetim Iecur renascens, exhibet, Ut tunc amoris spicula Pectus misellum perforant. Libido cantat classicum, 20 Non cura tunc gregis manet, Quamvis per alta montium Palans vagetur culmina. Tantum valet protervitas Lalages nimisque lubricus 25 Vultus tueri et lumina, E queis faces sacerrimas Accendit Infans aliger. Tantum valent papillulae, Quae sub reductâ fasciâ 30 Sororiantes lusitant Oculosque nostros fascinant Luxu nitentis pectoris. At tu, proterva, nil morans Pallore tincta corpora 35 Vultumque macrum, quò magis Accendor, hòc magis struis Ignem salisqué sicuti Latis in arvis hinnulus. Mihiqué vivum sanguinem IV. Ad Lalagen om. F 24 lubricus correxi : libricus LF <?page no="107"?> Ad Lalagen. Carmen IV 107 An Lalage. Gedicht 4. Warum bewirfst du mich, kecke Lalage, während ich im grünenden Gras die Panflöte spiele, aus dem Winkel immerfort mit Nussschalen? 5 Und fliehst bald zu den Ulmen, obwohl du doch gesehen werden willst, und verrätst dich bald, während du sogleich zurückkehrst, mit herzhaftem Lachen? Was ist das, wenn nicht die 10 glühende Hitze der Begierde schüren und Öl aufs Feuer gießen? Nicht zerreißt so der grausame Vogel den an die hohen Felsen des Kaukasus geketteten Prometheus, 15 wenn der die immer wieder nachwachsende Leber zum Fraß hinhält, wie dann die Pfeile der Liebe meine unglückliche Brust durchbohren. Die Begierde bläst zum Angriff; 20 dann kümmere ich mich nicht mehr um die Herde, obwohl sie umherirrend die hohen Berggipfel durchstreift. Soviel vermag die Keckheit Lalages und ihr Gesicht, das so verführerisch 25 anzuschauen ist, und die Augen, an denen das flügeltragende Kind seine hochheiligen Fackeln anzündet. Soviel vermögen die Brüste, die unter dem knappen Busenband 30 wie Zwillingsschwestern sich wölbend tanzen und meine Augen durch die Üppigkeit der glänzenden Brust verhexen. Aber du, Kecke, kümmerst dich nicht um den bleich verfärbten Körper 35 und das magere Gesicht, und je mehr ich entbrenne, desto mehr schürst du das Feuer und springst wie ein Hirschkalb in den weiten Gefilden. Und du saugst mir das lebendige Blut aus <?page no="108"?> 2 Text und Übersetzung 108 40 Exsugis et me deseris In valle semimortuum. Ad Echo. Carmen V. Cum solus Lalages duritiem queror Fusus sub patulae tegmine populi, Quà fluxu rapido labitur Isula Lambens pinguia pascua, 5 Mecum sola manes solaque congemis, O diva aëreis nata recessibus, Quae tantum sequeris nec potes alloqui, Verba exosa loquacia Tum, quandò cuperes (heu malè continens) 10 Narcisso puero corpore iungier Et te Caucaseâ frigidior nive Contempsisset atrociùs. Sors est nostra eadem: tu, Dea, sperneris Et nosmet Lalage turgida neglegit, 15 Tu valles adamas, has adamo miser, Hîc ut tu pereo dolens. Idcircò miseram diligo te miser, Nam dulce est misero, si socium sui Luctus inveniat, Fataque lenius, 20 Quae plures tolerant, premunt. Ad Lalagen. Carmen VI. Quid caprarius ille, quid volebat, Cum tecum tremulâ cubans in umbrâ Sic nutuqué notisqué non ferendis Garriret nimium libidinosus? 5 Cum tu, ne malus arbiter videret Aut mater nimium ferox paterve, Moro tempora pingeres rubenti? Quàm tunc libera basiationes Figebas capiti genisque duris? V. Carmen V. ad Echo F VI. Ad Lalagen om. F <?page no="109"?> Ad Lalagen. Carmen VI 109 40 und lässt mich zurück im Tal der Halbtoten. An Echo. Gedicht 5. Während ich einsam Lalages Hartherzigkeit beklage, ausgestreckt unter dem Dach der weitausladenden Pappel, wo mit reißendem Fluss die IJssel dahingleitet und dabei die fetten Weiden beleckt, 5 bleibst du als einzige bei mir und seufzest als einzige mit mir, o du in luftigen Höhen geborene Göttin, die du nur antwortest und niemanden ansprechen kannst, die du deine geschwätzigen Worte hasstest damals, als du dir gewünscht hättest (ach! so unbeherrscht), 10 dich dem Jüngling Narziss körperlich zu vereinen, und er, kälter als der Schnee des Kaukasus, dich so grimmig verachtete. Wir haben dasselbe Los: Du, Göttin, wirst geringgeachtet, und mich beachtet die hochnäsige Lalage nicht; 15 du liebst die Täler, dieselben liebe ich Unglücklicher; hier gehe ich, wie du, schmerzerfüllt zugrunde. Daher schätze ich Unglücklicher dich Unglückliche, denn es ist für einen Unglücklichen angenehm, wenn er einen Leidensgefährten findet, und die Schicksalsschläge, 20 die viele ertragen, sind weniger bedrückend. An Lalage. Gedicht 6. Was wollte jener Ziegenhirte, was, als er mit dir im schwankenden Schatten lag und so unter unerträglichem Winken und Zeichengeben reichlich lüstern schwatzte, 5 während du, damit es kein übelwollender Augenzeuge sähe oder die furchtbar grimmige Mutter oder der Vater, die Schläfen mit roter Maulbeere anmaltest? Wie freimütig hast du da seinem Kopf und den derben Wangen Küsse gegeben? <?page no="110"?> 2 Text und Übersetzung 110 10 Quâ prurigine luminum videbas Illos perfida vestium meatus, Per quos tenditur ad locum cupitum? Quàm rursus caprimulgus ille sensit Lascivus tremulas tuas papillas, 15 Cum flores varios necaret ungui Atque illos sociaret in papillis, Ut sic naribus hispidis amoenum Ulnis duceret incubans odorem? Te vidi, Lalage, sed hoc tacebo, 20 Ah pudet, pudet eloqui pudenda. Heu quam tunc faciem fuisse nobis Credis, quas lacrimas rigasse corpus, Cum messes alium meas viderem Invisâ mihi dissecare falce? 25 Ut ales vetulâ sedens in ulmo, Cum serpens tumidus malusve arator Pullos arbore detrahit tenellos, Plorat stridula, congemit doletqué Nec tamen potis est iuvare pullos, 30 Sed monstri rapidos timens hiatus Sese luctibus enecat misella, Sic sic perpetuò gemensque flensque Vestras delicias meos dolores Per luci latebras miser videbam, 35 Quod tamen tolerare sum coactus, Nam quis praesidiis carens et armis Armatum queat aggredi ferumque? Is manu rigidum pedum tenebat, Nostrum, Nisa greges agens, habebat, 40 Illi dexter erat ferox Lycisca, Nobis nil nisi parvulus Melampus. Sed tamen potui nocere; namque Suspensos calamos levemque peram, Quam quondam moriens dedit Menalcas, 45 In partes secui et per arva sparsi. At tibi, Lalage, licet fuisses Nobis perfida, peius haud volebam, Sed numquam potui satis stupere Tuam stultitiam; quid ille Thyrsis 50 Habet prae reliquis? canendo cessit Indocto Dorylae, meas avenas Agrestes Satyri stupent coluntque. <?page no="111"?> Ad Lalagen. Carmen VI 111 10 Mit welcher Begierde der Augen hast du Treulose jene Öffnungen der Kleider gesehen, durch die man dem ersehnten Ort zustrebt? Wie fühlte wiederum dieser wollüstige Ziegenmelker deine wiegenden Brüste, 15 als er bunte Blumen mit dem Fingernagel tötete und sie auf deinen Brüsten scharte, um so mit borstigen Nüstern auf die Ellenbogen gestützt den lieblichen Duft einzuziehen? Ich habe dich gesehen, Lalage, aber ich will davon schweigen; 20 ach, ich schäme mich, ich schäme mich, Schändliches auszusprechen. O was glaubst du, welch ein Gesicht ich da machte, welche Tränen meinen Körper netzten, als ich einen anderen mir meine Ernte mit verhasster Sichel schneiden sah? 25 Wie ein Vogelweibchen, das in einer alten Ulme sitzt, dann, wenn eine giftgeschwollene Schlange oder ein böser Landmann ihre zarten Jungen vom Baum entwendet, pfeifend weint, seufzt und trauert und doch ihren Jungen nicht helfen kann, 30 sondern voll Furcht vor dem reißenden Rachen des Ungeheuers sich selbst vor Kummer umbringt, die Unglückliche, so, so sah ich Unglücklicher beständig seufzend und weinend eure Wonne, Grund meiner Schmerzen, durch die Verstecke des Waldes hindurch, 35 was ich dennoch zu ertragen gezwungen war, denn wer kann, wenn er ohne Schutz und Waffen ist, einen bewaffneten Wilden angreifen? Der hielt in der Hand einen festen Stab - meinen, Nisa, die du die Herde treibst, hatte er; 40 ihm stand die wilde Lycisca zur Seite, mir nur der winzige Melampus. Aber dennoch vermochte ich zu schaden, denn ich schnitt die aufgehängte Rohrflöte und den leichten Ranzen, den ihm sterbend einst Menalcas gab, 45 in Stücke und verstreute sie über die Felder. Aber dir, Lalage, wollte ich, obwohl du mir untreu gewesen warst, nichts Böses, aber ich konnte mich nie genug über deine Dummheit wundern. Was hat dieser Thyrsis 50 den Übrigen voraus? Beim Singen stand er dem ungelehrten Dorylas nach; meine Flöte bewundern und verehren die ländlich derben Satyrn. <?page no="112"?> 2 Text und Übersetzung 112 Nil caesto valet aut gravi palaestrâ, At nos o quoties corona vidit 55 De quovis facilem tulisse palmam? Quis me doctior est peritiorve Astrorum tacitos notare motus? Hinc, quo tempore submovenda tellus, Et quo sidere dissecanda silva, 60 Praedico, nequé me fefellit umquam Haec ars tempore roborata longo. Ad Lalagen. Carmen VII. Cum sub umbroso recubans salicto Nuper in pratis canerem otiosus, Quo Venus luctu lacrimisque carum Flesset Adonim, 5 Ecce concurrunt geminae palumbes Ore labruscam sterilem ferentes, Quâ suos pullos aluêre in ulmi Stirpe iacentes. Hunc locum signans baculo recurvo 10 Laetus ad nostrum propero Menalcam Et locum monstro tenerosqué pullos Cernere feci. Ille pullorum cupidus subinde Visit et furtô mihi sustulisset, 15 Ni vel implumes prius abstulissem Providus illos. Hactenus fovi exposuiqué alendos Et patri et matri. Quoties mihi illos Thestylis votis precibusque et arte ab- 20 ducere nixa est? Sed nihil quicquam potuêre fraudes, Nil preces oris placidi; tibi illos, Vita, servavi: monumenta nostri Sume caloris. 53 caesto L C : cesto LF VII. Ad Lalagen om. F 19 Thestylis correxi : Testhylis LF 24 Summe F <?page no="113"?> Ad Lalagen. Carmen VII 113 Nichts vermag er mit dem Schlagriemen oder im schweren Ringkampf; aber mich, o wie oft sah mich der Ring der Zuschauer 55 von jedem beliebigen leicht den Siegespreis erringen? Wer ist gelehrter als ich oder erfahrener darin, die lautlosen Bewegungen der Sterne zu beobachten? Daher verkünde ich, zu welcher Zeit die Erde gewendet werden muss und unter welchem Stern die Bäume geschnitten werden müssen, 60 und niemals führte mich diese Kunst irre, die in langer Zeit gefestigt wurde. An Lalage. Gedicht 7. Als ich, zurückgelehnt unter einem schattigen Weidengebüsch, neulich auf der Wiese in aller Ruhe davon sang, mit welcher Trauer und welchen Tränen Venus ihren lieben Adonis beweinte, 5 sieh, da eilten zwei Tauben herbei, die im Schnabel eine unfruchtbare wilde Rebe trugen, mit der sie ihre Jungen fütterten, die im Stamm einer Ulme lagen. Diesen Ort markierte ich mit meinem gebogenen Stab, 10 eilte fröhlich zu unserem Menalcas, zeigte ihm den Ort und ließ ihn die zarten Jungen sehen. Da ihn nach den Jungen gelüstete, sah er bald darauf nach ihnen und hätte sie mir diebisch entwendet, 15 wenn ich die sogar noch Ungefiederten nicht vorsorglich vorher weggebracht hätte. Bis jetzt habe ich sie gehegt und sie dem Vater und der Mutter zum Füttern herausgesetzt. Wie oft hat Thestylis sich bemüht, sie mir durch Bitten und Betteln und List weg- 20 zunehmen? Aber gar nichts vermochten die Täuschungen, nichts die Bitten des sanften Mundes; dir, mein Leben, habe ich sie bewahrt: Nimm sie als Zeichen meiner Liebesglut. <?page no="114"?> 2 Text und Übersetzung 114 Ad Lalagen. Carmen VIII. Vides, ut omnes undiqué semitae Sparsae virenti gramine rideant Tellusqué magnae cornua copiae Sinu beato prodiga praebeat. 5 En vitis ulmo iuncta repullulat Suasque gemmas luxurians parit, Et signa lactis lilia Sospitae Sui ministrant hoc breve gaudium. Narcissus agri culmina perforat 10 Nondum superbi pectoris immemor, Namqué, ut superstes, sic et adhuc gerit Cervice flexâ turgidulum caput. Quidnam moraris diu, Lalage, domum Fumo nigrantem desere, desere, 15 Et per virentum culmina montium Mecum citatis tendito gressibus. Illîc decentes texe corollulas Nymphis decoris et capiti tuo Et te caducis consimilem putans 20 Rosis tumentem pone superbiam. Te leniorem da, precor: effluunt Momenta vitae nec redeunt, licet Terris resurgant et violae et rosae, Cum se remittit Bruma teporibus. 25 Cui te reservas? anne nigro nimis Seni Charonti? Te minimè eximet Vultus decorus: Omnibus incubat Nox una. Nil Sol perpetuum videt. Ad Lalagen. Carmen IX. Cur me nexilibus premens Ulnis pendula pectore Tantâ saevitiâ negas Gratum figere basium? VIII. Ad Lalagen om. F IX. Ad Lalagen om. F <?page no="115"?> Ad Lalagen. Carmen IX 115 An Lalage. Gedicht 8. Du siehst, wie überall sämtliche Pfade mit grünendem Gras gesprenkelt strahlen und die Erde verschwenderisch große Füllhörner aus fruchtbarem Schoß darbietet. 5 Schau, die Weinrebe, die der Ulme vermählt ist, treibt wieder aus und bringt üppig ihre Knospen hervor, und die Lilien, Spuren von Junos Milch, verschaffen uns diese kurze Freude an ihnen. Narziss durchbricht die Kuppen des Ackers, 10 seines Hochmutes noch immer völlig eingedenk, denn so, wie er überdauerte, trägt er noch immer mit gebeugtem Nacken das geschwollene Haupt. Was verweilst du lange, Lalage? Verlasse, verlasse das vom Rauch geschwärzte Haus, 15 und eile mit raschen Schritten zusammen mit mir über die Gipfel der grünenden Berge. Dort flechte hübsche Kränzchen für die anmutigen Nymphen und für deinen Kopf; und bedenke, dass du den vergänglichen Rosen ganz ähnlich bist, 20 und lege den aufgeblasenen Hochmut ab. Zeige dich sanfter, ich bitte dich: Die Augenblicke des Lebens entfließen und kommen nicht zurück, wenn auch Veilchen und Rosen sich auf der Erde wieder erheben, wenn der Winter der Wärme weicht. 25 Wem hebst du dich auf? Etwa dem furchtbar düsteren Greise Charon? Dich wird dein schönes Antlitz keineswegs zur Ausnahme machen: Allen droht eine einzige Nacht. Die Sonne sieht nichts Ewiges. An Lalage. Gedicht 9. Warum weigerst du dich, obwohl du mich mit umschlingenden Armen drückst und an meiner Brust hängst, mit solcher Grausamkeit, mir einen lieben Kuss zu geben, <?page no="116"?> 2 Text und Übersetzung 116 5 Cum spontè eriperes mihi, Quod si non pudor obstet? Quid hoc? dic, Lalage, precor, Quàm propter stipulas leves Flammas iungere fervidas 10 Incendiqué vetare? Sed nos unguibus horridis Et vultu tetrico petas Et saevum magè Tigride Clames; non tamen opprimes 15 Ignem, qui latet ossibus, Non nostrum tamen osculum A malis removebis. Furtivum iuvat osculum; Pugnando magis ac magis 20 Ignis conditus emicat, Crescunt gaudia iurgio, et Pugnans grata libido est. Flos, quem protulit aspera Tellus, gratior est eo, 25 Quem terrae dedit area Nullis obsita spinis. Ad Lalagen. Carmen X. Ut herba siccis usta caloribus Requirit imbrem, sic animus gravi Amore coctus te Levamen Expetit, ô Lalage, caloris; 5 Sed tu, petulcae consimilis caprae, Salax, proterva per iuga montium Vagaris et nos irretortis Praeteriens oculis abhorres. Aut fallor, aut nos dissimili Deus 10 Punxit sagittâ, qualiter Actio Apollini Daphneque quondam Intulerat varium calorem; At ille Divum laeserat arrogans, Nos Numen eius semper honoribus X. Ad Lalagen om. F <?page no="117"?> Ad Lalagen. Carmen X 117 5 da du mir doch freiwillig welche zu entreißen pflegtest - wenn also wohl nicht Schamgefühl dich hindert? Was soll das? Sage mir bitte, Lalage: Wie nahe an leichten Halmen <kann man> glühende Flammen entfachen 10 und <ihnen> verbieten, in Brand zu geraten? Aber du magst mit kratzigen Fingernägeln und mit finsterer Miene auf mich losgehen und wilder schreien als ein Tiger; dennoch wirst du das Feuer nicht ersticken, 15 das im Inneren verborgen ist, dennoch wirst du meinen Kuss nicht von deinen Wangen entfernen. Der gestohlene Kuss gefällt mir; beim Kämpfen leuchtet das versteckte Feuer 20 mehr und mehr hervor, es wachsen die Freuden im Streite, und die kämpferische Begierde ist mir lieb. Eine Blume, die eine raue Erde hervorgebracht hat, ist mir lieber als eine, 25 die ein Fleckchen Erde erzeugte, das frei von Dornen ist. An Lalage. Gedicht 10. Wie eine Pflanze, die von trockener Hitze verbrannt ist, nach Regen verlangt, so trachtet mein Herz, von heftiger Liebe ausgedörrt, nach dir, o Lalage, als Linderung meiner Liebesglut; 5 aber du schweifst, ganz ähnlich einer stößigen Ziege, geil und keck über die Bergkämme und willst von mir nichts wissen, wenn du ohne zurückzusehen an mir vorbeigehst. Wenn ich mich nicht täusche, hat uns der Gott mit ungleichem 10 Pfeil durchbohrt, so wie er Apoll von Actium und Daphne einst unterschiedliche Liebesglut einflößte; aber der hatte den Gott hochmütig verletzt; ich habe zu seiner göttlichen Macht immer voller Verehrung <?page no="118"?> 2 Text und Übersetzung 118 15 Suspeximus: Numquam innocentes Ira Deûm furiosa plectit. Ad Lalagen. Carmen XI, Ex Dousa Fil. versum. Humani generis parens Prometheus, Cum quondam ferulâ suo periclo E Phoebi radiis tulisset ignem, Statim Caucaseis ligatus antris 5 Iecur praebuit aliti vorandum: Sic postquam iubar ex tuis ocellis, E quibus puer aliger sagittat, Hausi, continuo dolore pectus Et curis iecur omne devoratur. Ad Lalagen. Carmen XII. Nuper carmina murmurans Dulces inter oves et querulos sonos Orbi compare turturis Laxavi placido corpora somnulo. 5 Hoc vicina videns Lyce, Quae pascebat oves gramine proximo, Accurrit celeri gradu Incumbensqué meo languida corpori Furtim basia plurima 10 Carpsit dulcicrepo non sine murmure, Et nunc fervida livido Indebat memorem dente labris notam, Nunc linguam tremulam movens Per corpus recubans collaque turgida 15 Sugebat mihi sanguinem. Dum tandem culices esse putans vagos Somnos excutio mihi, Tum malas croceis tincta ruboribus Textam è flore corollulam 20 Effundens lacrimas exhibuit mihi Et sic orsa fuit loqui: ‚O pastor nitido sidere pulchrior, XI. Ad Lalagen om. F XII. Ad Lalagen om. F <?page no="119"?> Ad Lalagen. Carmen XII 119 15 aufgeblickt: Der rasende Zorn der Götter straft niemals Unschuldige. An Lalage. Gedicht 11, eine Übersetzung aus Dousa dem Sohn. Als Prometheus, der Vater des Menschengeschlechtes, einst in einem Narthex-Stengel auf eigene Gefahr hin aus den Strahlen des Phoebus das Feuer davongetragen hatte, wurde er sofort an die Grotten des Kaukasus gekettet 5 und bot einem Vogel seine Leber zum Fraße dar: So wird auch mir, nachdem ich das strahlende Licht aus deinen Äuglein, aus denen der geflügelte Knabe Pfeile schießt, eingesogen habe, die Brust von unaufhörlichem Schmerz und die ganze Leber von Kummer zerfressen. An Lalage. Gedicht 12. Neulich sang ich zwischen den lieblichen Schafen und den klagenden Tönen einer ihres Gefährten beraubten Turteltaube Lieder vor mich hin und entspannte meinen Körper in einem sanften Schläfchen. 5 Das sah die Nachbarin Lyce, die ihre Schafe im nächstliegenden Grase weidete, und eilte mit schnellem Schritt herbei; und indem sie sich träge auf meinen Körper legte, raubte sie heimlich ziemlich viele Küsse, 10 nicht ohne süßtönendes Murmeln; und bald versetzte sie hitzig mit blau färbendem Zahn den Lippen ein Erinnerungsmal, bald saugte sie mir, indem sie die bebende Zunge über den zurückgelehnten Körper und über den geschwollenen Hals 15 bewegte, das Blut aus. Als ich mir endlich im Glauben, es seien umherfliegende Mücken, den Schlaf abschüttelte, da gab sie, der Schamesröte die Wangen rot gefärbt hatte, mir ein aus Blumen geflochtenes Kränzchen, 20 wobei sie Tränen vergoss, und hub an, so zu sprechen: „O Hirte, der du schöner bist als ein glänzender Stern, <?page no="120"?> 2 Text und Übersetzung 120 Prae quo spernat Adonidem Cypris, candidulum Cynthia Virbium, 25 Istam sume corollulam, Quam me iussit amor texere fervidus.’ His dictis tacuit statim Responsum cupido pectore flagitans. Ego diu tacitus steti 30 Alternans varias sollicitudines: Hinc ignis, Lalage, tuus, Hinc certabat amor virginis aureae, Tandem vicit amor tuus, Et vicit Lalages grata protervitas. 35 Virgo flebilis et furens A nobis subitò cessit in avia, Tamquam bucula coniuge Tauro orbata fugit et nemus undique Complet murmure lugubri: 40 Non illam salices, non latices movent, Non ros floribus insidens, Sed tauri meminit perpetuò sui. At tibi, Lalage, cave, Ne quas insidias horrida construat: 45 Nam saevissima femina est, Cum morsus odiis accumulat pudor. Ad Lalagen. Carmen XIII. O quantis, Lalage, pectora gaudiis Implevêre tui munera somnuli, Dum discincta papillis Dulci valle recumberes 5 Exspirans lepido non sine murmure Illud dulce malum, quod malè sauciat Mentem, quodque vicissim Illam dulciter afficit. Quot furtiva labris basia contuli? 10 Quàm cinxi manibus corpora liberis, Dum numquam furiosi Oris fulmine pellerer? 23 Aonidem F XIII. Ad Lalagen om. F <?page no="121"?> Ad Lalagen. Carmen XIII 121 dessentwegen Cypris den Adonis verachtet, Cynthia den hellhäutigen Virbius, 25 nimm dieses Kränzchen, das mich die glühende Liebe flechten hieß.“ Nach diesen Worten schwieg sie sogleich und drang begehrlich auf Antwort. Ich stand lange schweigend 30 und schwankte zwischen zwei verschiedenen Bedenklichkeiten: Hier wetteiferte die heiße Liebe zu dir, Lalage, hier die Liebe der goldenen Jungfrau; doch siegte die Liebe zu dir, und es siegte Lalages anmutige Neckerei. 35 Die Jungfrau ging sogleich weinend und rasend von mir fort in einsame Gefilde, so wie eine von ihrem Gatten, dem Stier, verlassene Färse flieht und den Wald überall mit ihrem traurig dumpfen Muhen erfüllt; 40 nicht Weiden reizen sie, nicht Wasser, nicht der Tau, der in den Blüten sitzt, sondern sie denkt unablässig an ihren Stier. Aber du, Lalage, gib’ auf dich acht, dass dir die Grimmige keine Falle stelle; 45 denn sehr grausam ist eine Frau, wenn Schmach die Bitterkeit durch Hass steigert. An Lalage. Gedicht 13. O mit wie großer Freude, Lalage, hat das Geschenk deines Schläfchens mein Herz erfüllt, während du, das Gewand am Busen gelöst, im lieblichen Tal ruhtest 5 und nicht ohne ein allerliebstes Murmeln jenes süße Übel atmetest, das mir den Verstand übel verwundet und das ihn wiederum mit Wonne erfüllt. Mit wie vielen heimlichen Küssen habe ich deine Lippen bedeckt? 10 Wie habe ich mit ungehinderten Händen deinen Körper umfasst, solange ich nicht vom Blitz deines wütenden Mundes vertrieben wurde? <?page no="122"?> 2 Text und Übersetzung 122 Sic semper, Lalage, blandula dormias, Ut semper repleas pectora gaudiis, 15 Nec sis, comprecor, umquam Votum durior ad meum. Ad Lalagen. Carmen XIV. Quid esse dicam, Vita: nec tecum queo Nec absque temet vivere? Nam quandò tecum pascuis in aviis Balantium pasco gregem 5 Stratusqué gratis vallium cubilibus Iucunda figo basia, Plus quàm Vesevus aut caverna fervida Aetnae furentis ardeo. At quandò rursus nos amantes separant 10 Avara noctis tempora, Aresco tamquam flos recisus unguibus Inter papillas virginum Strophiumque clausus, cui pater non amplius Zephyrus ministrat frigora. 15 Haec, Vita, causa est, quod voluptatis meae Maeror perennis sit comes: Nam, quandò tecum sum, futura conspicor Nostri recessus tempora. At, cum carere sum coactus, credulè 20 Alios potiri suspicor. Finire quod si vis dolores maximos, Memet maritum suscipe. O ter beatos, quos amoris candidi Irrupta iunxit copula, 25 Quam nulla vis nisi Supremi Numinis Umquam valet dirumpere. Ad Lalagen. Carmen XV. Dum montes, Lalage, subis Et rubentia pascua, Flores vel medio die, Cum Sol omnia concoquit, XIV. Ad Lalagen om. F 2 timet F XV. Ad Lalagen om. F <?page no="123"?> Ad Lalagen. Carmen XV 123 So mögest du, Lalage, immer liebreizend schlafen, auf dass du immer wieder mein Herz mit Freude erfüllest, 15 und niemals mögest du, ich bitte dich, ablehnender meinem Verlangen gegenüber sein. An Lalage. Gedicht 14. Wie soll ich das deuten, mein Leben? Weder mit dir kann ich leben noch ohne dich! Denn wenn ich mit dir auf abgelegenen Weiden die Herde der Schafe weide 5 und dir, während ich mich auf den lieblichen Lagern der Täler ausstrecke, herrliche Küsse gebe, brenne ich mehr als der Vesuv oder der glühende Krater des rasenden Ätna. Aber wenn uns Liebende wiederum 10 die geizige Nachtzeit trennt, vertrockne ich wie eine Blume, die Vater Zephyr nicht mehr erfrischt, wenn sie von Fingernägeln abgerissen wurde und zwischen den Brüsten von Jungfrauen und ihrem Busenband eingeschlossen ist. 15 Das, mein Leben, ist der Grund, warum Betrübnis der ständige Begleiter meiner Lust ist: Denn wenn ich bei dir bin, gewahre ich die zukünftige Zeit unserer Rückkehr. Aber wenn ich gezwungen bin, dich zu entbehren, argwöhne ich 20 leichtgläubig, dass andere dich besitzen. Wenn du also meine übergroßen Schmerzen beenden willst, nimm mich zum Ehemann. O dreifach Gepriesene, die ein unzerreißbares Band glücklicher Liebe verbunden hat, 25 das keine Gewalt außer der der äußersten Macht jemals zerreißen kann. An Lalage. Gedicht 15. Während du die Berge besteigst, Lalage, und die rot gefärbten Wiesen, sprießen die Blumen sogar mitten am Tag, wenn die Sonne alles ausdörrt, <?page no="124"?> 2 Text und Übersetzung 124 5 Tamquam roribus ebrii Vernant, cunctaque rident. Rursus, cum tua subtrahis Illis lumina, qui modò Ridebant velut ebrii, 10 Languent sicuti marcidi, Tamquam queis Zephyrus pater Vitales negat auras. Cur ergò, Lalage, novum est Me virescere, cum venis, 15 Et marcescere, cum fugis, Cum flores tua lumina - Vel praesentia gaudiis Vel absentia luctibus - Testari videantur? Ad Lalagen. Carmen XVI. Hîc inter agnos carmina murmurans Diu resedi te, Lalage, morans, Te, Vita, quam meis ocellis Plusqué animâ veneror calenti. 5 Tandem venusti cernere contigit Vultus decorem, tandem oculos eos, Qui fluctuanti per dolores Sunt Helice et Cynosura menti. Non sic protervi progenies gregis 10 Gaudet recenti vere, nec imbribus Horti flagrantes, ut regressu Corda tuo mihi recreantur. Tu contulisti gaudia pectori, Mecum dolentes exhilaras greges, 15 Tu squallidis maerore longo Restituis siluis decorem. Narcissus osor virginis aureae Cervice flexâ te placidè excipit Ponitque fastus, nam calere 20 Igne tuo, Lalage, videtur. XVI. Ad Lalagen om. F 14 Mecum correxi : Me cum LF <?page no="125"?> Ad Lalagen. Carmen XVI 125 5 als ob sie trunken von Tau wären, und alles strahlt. Doch immer wenn du ihnen dein leuchtendes Antlitz entziehst, dann siechen sie, die eben noch strahlten, als ob sie trunken wären, 10 dahin, als wären sie verwelkt, gleich als ob ihnen Vater Zephyr die lebensspendenden Lüfte verweigerte. Warum also, Lalage, ist es überraschend, dass ich grüne, immer wenn du kommst, 15 und welke, immer wenn du fliehst, da ja die Blumen dein leuchtendes Antlitz - mit Freuden, wenn es zugegen ist, mit Trauer, wenn es fern ist - zu bezeugen scheinen? An Lalage. Gedicht 16. Hier zwischen den Lämmern habe ich, während ich Lieder vor mich hin sang, lange gesessen, Lalage, und auf dich gewartet, auf dich, mein Leben, die ich mehr verehre als meine Augen und als meine glühende Seele. 5 Endlich durfte ich dein anmutig liebreizendes Antlitz sehen, endlich jene Augen, die für den Geist, der aufgrund seiner Schmerzen wogend umhertreibt, wie Helike und Kynosura sind. So sehr freuen sich nicht die Nachkommen der kecken Herde 10 über den jungen Frühling noch die glühenden Gärten über den Regen, wie mein Herz mir durch deine Rückkehr erquickt wird. Du hast meinem Herzen Freude geschenkt, du heiterst mich und die betrübten Herden auf, 15 du gibst den Wäldern, die aufgrund langer Trauer kahl sind, ihren Schmuck wieder. Narziss, der die goldene Jungfrau hasste, empfängt dich sanft mit gebeugtem Nacken und legt seinen Hochmut ab, denn er scheint in heißer Liebe 20 zu dir, Lalage, entbrannt zu sein. <?page no="126"?> 2 Text und Übersetzung 126 Piae volucres te reducem suo Cantu salutant, rivulus adstrepens Blanditur undis, arboresqué Te facili recreant susurro. 25 Sed quid moramur? cum grege languido Quaeramus umbram, hâc valle Caniculae Vitemus aestus, hîc corymbi Atqué hederae faciunt sedile. Ego vagantem (da, Lalage, pedum) 30 Cogam capellam, ne malè deserat Fetus tenellos, sed propinquo, Cum reliquo grege, colle pascat. Succede valli, te sequor, at prius Humi iacentes arripe fistulas, 35 Ut incitem capros canendo Cornibus oppositis ad iram. Tu carpe flores, texe corollulam, Quâ muneretur victor, ut acrius Deinde pugnet, namqué fortes 40 Laus animos alit excitatqué. En haedus ille, gramina qui gerit Cornu recurvo, provocat alterum Sparsisque proludens arenis Bella minax meditatur ictu. 45 Sed ecce rursus Vesperus advolat, Iam summa fumant culmina montium, Phoeboque discedente Olympo Noctiferae duplicantur umbrae. Heu, Vita, rursus cedere cogimur, 50 Avara noctis tempora sic iubent, Parere oportet, sed sequente Sole iterum redeas precamur. Ad silvas, in quibus osculatus erat Lalagen. Carmen XVII. Ocelle ruris, silva, vosqué populi, Quae dulce frigus floridumqué umbraculum 48 umbra F XVII. Carmen XVII. Ad silvas F <?page no="127"?> Ad silvas, in quibus osculatus erat Lalagen. Carmen XVII 127 Die treuen Vögel grüßen dich bei deiner Rückkehr mit ihrem Gesang, das dazu rauschende Flüsschen schmeichelt mit seinen Wellen, und die Bäume erquicken dich mit ihrem leichterregbaren Rascheln. 25 Aber was zögern wir? Zusammen mit der trägen Herde lass uns den Schatten suchen; in diesem Tal wollen wir die Hitze des Hundssternes meiden; hier bereitet der Efeu mit seinen Blütentrauben einen Sitz. Ich will (gib mir, Lalage, den Hirtenstab) 30 eine umherschweifende Ziege hertreiben, damit sie ihre zarten Jungen nicht arg im Stich lässt, sondern zusammen mit der übrigen Herde auf dem nahen Hügel weidet. Geh’ hinunter in das Tal, ich folge dir; aber zuerst ergreife rasch die am Boden liegende Panflöte, 35 damit ich singend die Ziegenböcke mit ihren gegeneinander gerichteten Hörnern zum Zorn antreibe. Du pflücke Blumen und flechte ein Kränzchen, mit dem der Sieger beschenkt werden soll, damit er daraufhin heftiger kämpfe, denn Lob nährt 40 und ermuntert tapfere Herzen. Schau, dieser Bock, der auf dem gebogenen Horn Gras trägt, fordert einen anderen heraus, und indem er als Vorspiel Sand aufwirft, bereitet er sich mit einem Fußscharren drohend auf den Krieg vor. 45 Aber sieh, wieder fliegt der Abend herbei, schon rauchen die höchsten Berggipfel, und während Phoebus vom Himmel herabsteigt, verdoppeln sich die nachtbringenden Schatten. Ach, mein Leben, wieder sind wir gezwungen fortzugehen, 50 die geizige Nachtzeit befiehlt es so; wir müssen gehorchen, aber ich bitte dich, dass du im Licht des kommenden Tages erneut zurückkehrst. An die Wälder, in denen er Lalage geküsst hatte. Gedicht 17. Augapfel der Landschaft, du Wald, und ihr Pappeln, die ihr Lalage eine liebliche Frische und eine blühende Laube <?page no="128"?> 2 Text und Übersetzung 128 Lalage dedistis, cum sonore fistulae Allecta nostrae corpori circumdaret 5 Manus protervas grata figens basia: Virete dudum; nulla vos incendia Falcesve privent frondium decoribus, Hiemsque quandò saeviente frigore Occludet almis venulas humoribus, 10 Statim recludat Cynthius caloribus. Sic Faunus ipse praeferet vos Arcadum Locis amoenis, Naiadesque dulcibus Vosmet choreis perpetim colent suis. Ad Lalagen. Carmen XVIII. Quis te detinuit, puella, lusus, Quod tam sera tuos greges revisas? Iam ferè miserâ siti peremptae Balatum ingeminant tuamque cannam 5 Ducturam ad fluvios oves requirunt. Ego bisque pedo quaterque nostro Uxores olidi nimis mariti Per cacumina summa divagantes Coegi ad reliquos greges reverti 10 Et cum, rupibus arduis capellae Pendentes, leviter breves myricas Moverent pedibus favoniusve Leni murmura suscitaret aurâ, Adventum mihi rebar indicari. 15 Iam venis, modò quae mihi gregiqué Praesens gaudia multa contulisti. Eamus subitò gregesque potum Deducamus ad aggeres Galesi. Deinde iugera Tityri petemus: 20 Illîc et Meliboeus atque Thyrsis Iunxerunt lepidas modò corollas, Quas relinquere vesperus iubebat: Has mecum rapiam tibique tradam Invidentibus aemulis gerendas. XVIII. Ad Lalagen om. F <?page no="129"?> Ad Lalagen. Carmen XVIII 129 dargeboten habt, als sie, vom Klang meiner Panflöte angelockt, ihre kecken Hände um meinen Körper 5 legte und mir liebliche Küsse gab: grünt lange; keine Brände oder Sicheln sollen euch des Laubschmuckes berauben, und wenn der Winter mit grimmiger Kälte die Äderchen mit der nährenden Feuchtigkeit darin verschließen wird, 10 soll Cynthius sie sofort mit seiner Wärme wieder öffnen. So wird euch sogar der Faun den reizenden Orten der Arkadier vorziehen, und die Flussnymphen werden euch beständig mit ihren lieblichen Reigentänzen huldigen. An Lalage. Gedicht 18. Welch ein Spiel hat dich, Mädchen, aufgehalten, dass du so spät nach deinen Herden siehst? Schon blöken die Schafe, die halbtot sind vor quälendem Durst, doppelt so viel und fordern deine Rohrflöte, 5 die sie zum Wasser führen wird. Ich habe wieder und wieder mit meinem Hirtenstab die Frauen des heftig stinkenden Gatten, die verstreut über die höchsten Gipfel streiften, gezwungen, zu den übrigen Herden zurückzukehren; 10 und immer wenn die Ziegen, die an den steilen Felsen hingen, mit ihren Füßen die kurzen Tamarisken ein wenig in Bewegung versetzen oder der Westwind mit linder Brise ein Raunen sich erheben ließ, glaubte ich, dass mir deine Ankunft angezeigt werde. 15 Jetzt kommst du, die du mir und der Herde neulich durch deine Anwesenheit so viel Freude geschenkt hast. Lass uns sogleich gehen und die Herden zur Tränke hinabführen zu den Uferdämmen des Galesus. Von da wollen wir zu den Feldern des Tityrus eilen: 20 Dort haben Meliboeus und Thyrsis neulich zierliche Kränzchen gebunden, die der Abend zurückzulassen befahl: Die werde ich an mich reißen und dir übergeben, damit du sie unter dem Neid der Rivalen trägst. <?page no="130"?> 2 Text und Übersetzung 130 Ad Lalagen. Carmen XIX. Ille mei quondam pecoris lascivior haedus Occidit; exequias, Vita, decenter ago: Illum sub platanis, ubi proelia cornibus uncis Saepè minax movit, contumulare iuvat. 5 Hinc (si defunctis aliquis post funera sensus) Aspiciet socios cominus ire greges, Quosque solet cantus audire, hos audiet idem, Duritiem quandò plango, puella, tuam. Ad Lalagen. Carmen XX. Vitas me, Lalage, non secus ac patrem Cernens Scylla suum, qui venit eminus Et per nubila gyros Ducit mille vafer modis. 5 Atqui non ego te noxius insequor: Tantum basiolum est causa viae meae, Hoc me de grege pellit Per cacumina montium. At Scyllae genitor persequitur suam 10 Natam vindicias strenuus expetens, Quod furata capillum est, Regni praesidium sui. Ad Lalagen. Carmen XXI. Tecum, Vita, greges montibus aviis Pasco, regredior tecum iterum domum, Tecum in vallibus imis Pani carmina cantito. 5 Nobis blandiloquis luminibus faves, Arrides, gremio saepè cubas meo Cervicemqué retorques Ad dulcissima basia. Sed mentem tamen haec non satis ut decet 10 Explent, nescio quid dulcius expetat, XIX. Ad Lalagen om. F XX. Ad Lalagen om. F XXI. Ad Lalagen om. F <?page no="131"?> Ad Lalagen. Carmen XXI 131 An Lalage. Gedicht 19. Der einst so kecke Ziegenbock aus meiner Herde ist gestorben; ich trage ihn, mein Leben, in geziemender Weise zu Grabe. Ich möchte ihn gern unter den Platanen, wo er oft mit seinen gekrümmten Hörnern drohend Kämpfe begann, beerdigen. 5 Von dort wird er (wenn den Gestorbenen nach dem Tod noch irgendeine Sinneswahrnehmung bleibt) die Herden seiner Gefährten kämpfen sehen, und die Gesänge, die er zu hören pflegt, wird er genauso weiterhin hören, wenn ich deine Hartherzigkeit, Mädchen, beklage. An Lalage. Gedicht 20. Du meidest mich, Lalage, nicht anders als Scylla ihren Vater, wenn sie ihn erblickt, wie er von fern kommt und durch die Wolken schlau auf tausend Arten Kreise zieht. 5 Aber ich folge dir doch nicht, um dir zu schaden: Nur ein Küsschen ist der Grund meines Weges; das treibt mich von der Herde fort über die Gipfel der Berge. Aber Scyllas Vater verfolgt seine eigene 10 Tochter und fordert entschlossen seinen Besitz ein, weil sie ihm ein Haar gestohlen hat, den Schutz seiner Herrschaft. An Lalage. Gedicht 21. Mit dir, mein Leben, weide ich die Herden in den abgelegenen Bergen, ich kehre mit dir wieder nach Hause zurück, mit dir singe ich oft unten in den Tälern dem Pan Lieder. 5 Du zeigst mir deine Gunst mit schmeichelnd sprechenden Blicken, du lächelst mir zu, du ruhst oft in meinem Schoß, und du biegst den Nacken zurück zu den süßesten Küssen. Aber diese Dinge erfüllen dennoch den Geist nicht zur Genüge, 10 wie es sich gehörte; ihn verlangt nach etwas Süßerem, <?page no="132"?> 2 Text und Übersetzung 132 Quod natura magistra Illam quottidie docet. Ad Lalagen. Carmen XXII. Ah quantum miser undique Flammis tristibus aestuo? Quàm pestis soror exedit Febris pallida membra? 5 Nil me in gramine somnulus Sub dulci iuvat ilice, Nil torrens strepero pede Per saxosa recursitans Convallis penetralia 10 Pectus recreat aegrum. Te solam, Lalage, mea Mens anhelat, ut aestuans Tellus lampade Cynthii Gratos expetit imbres. 15 Eheu si liceat mihi Illis dulciculis tuis Inhaerere labellulis Et mordentia basia, Denegata ferociâ 20 Leni, carpere furtim: Qui prius fuerat color Et membris inerat vigor, Quandò pristina sanitas Esset, iam renoventur. 25 Caro corpore pendulus Colla et labra corallina Mulgerem velut ubera Matris debilis agnus. Vallis, quae duplici viâ 30 In turgentia pectoris Ducit ubera, lectulus Esset corporis aegri. Hîc nidum struerem mihi, In quo laetus et innocens 35 Sicut palmite pendulus XXII. Ad Lalagen om. F <?page no="133"?> Ad Lalagen. Carmen XXII 133 das die Natur als Lehrmeisterin ihn täglich lehrt. An Lalage. Gedicht 22. Ach, wie sehr glühe ich Armer am ganzen Körper, <gequält> von grausamen Flammen! Wie zerfrisst das Fieber, die Schwester der Krankheit, meine bleichen Glieder! 5 Nicht erfreut mich ein Schläfchen im Grase unter einer lieblichen Steineiche, nicht erquickt der Wildbach, der rauschenden Fußes beständig durch den steinigen Grund des Tales läuft, 10 das kranke Herz. Nach dir allein, Lalage, verlangt mein Sinn, so wie die Erde, die im Licht des Cynthius glüht, nach wohltuenden Regengüssen lechzt. 15 Ach, wenn es mir doch erlaubt wäre, an deinen zuckersüßen Lippen zu hängen und beißende Küsse, die mir mit sanfter Wildheit verweigert werden, 20 diebisch zu genießen: Die vormalige Farbe und die Kraft, die meinen Gliedern innewohnte, als ich noch meine frühere Gesundheit hatte, würden sogleich wiederhergestellt. 25 An deinem lieben Körper hängend melkte ich deinen Hals und die korallenroten Lippen wie ein schwaches Lamm die Zitzen seiner Mutter. Das Tal, das auf zweifachem Weg 30 zu den schwellenden Brustwarzen führt, wäre das Bettchen meines kranken Körpers. Hier baute ich mir ein Nest, in dem ich fröhlich und harmlos 35 wie eine Grille, <?page no="134"?> 2 Text und Übersetzung 134 Grillus roribus ebrius Vitae fata viderem. Ad Lalagen. Carmen XXIII. Quid tam sollicitè flumina consulis Disponens nitidos lege capillulos Et peccare docentes Comens, Vita, papillulas? 5 Quid mutas toties tegmina corporis? Sat compta es, Lalage, iam, precor, advola; Certè non ego vestem, Sed vestis dominam volo. Adsint blanditiae et grata protervitas 10 Et vultus nimium lubricus aspici; Prae te, Vita, Dianam Ornatam benè respuam. Ah quàm pallidulis durus amantibus Infestusque fuit, qui malè providus 15 Vestem invenit ocellis Prurientibus invidam? Felices nimium temporis aurei Mortales vacuo montis in angulo Nudi concubuêre 20 Nudis quisqué puellulis. Tunc iuncti pariter corpore mutuum Linguis humidulis os peragrantibus Amplexuque iocisqué Fallebant solidos dies. 25 Malis quisqué decem Tityrus aut capro Iratam poterat flectere Phyllida, Ut succederet antro Praebens mutua gaudia. Nunc vix basiolum plurima munera 30 Extorquent. Adeò singula deterit Tempus deteriora Reddens pro melioribus. XXIII. Ad Lalagen om. F 1 flamma F 4 Comes F <?page no="135"?> Ad Lalagen. Carmen XXIII 135 die trunken von Tau an einem Zweig hängt, die Geschicke des Lebens betrachtete. An Lalage. Gedicht 23. Warum ziehst du so besorgt Flüsse zu Rate, wenn du deine glänzenden Haare adrett ordnest und deine Brüste, die zu sündigen lehren, schmückst, mein Leben? 5 Warum wechselst du so oft die Bedeckung deines Körpers? Genug bist du geschmückt, Lalage, jetzt eile, ich bitte dich, herbei; ich will doch nicht das Kleid, sondern die Herrin des Kleides. Liebkosungen hätte ich gerne und deine anmutige Keckheit 10 und dein Gesicht, das so verführerisch anzusehen ist; im Vergleich mit dir, mein Leben, kann mir die geschmückte Diana wirklich gestohlen bleiben. Ach, wie hart und feindlich gegen die bleichen Liebenden war derjenige, der nicht sehr vorausschauend 15 das Kleid erfand, das den lüsternen Äuglein verhasst ist. Die überglücklichen Sterblichen des Goldenen Zeitalters lagen in einem freien Winkel des Berges jeder nackt mit 20 nackten Mädchen zusammen. Damals waren sie Körper an Körper miteinander vereinigt, während ihre feuchten Zungen gegenseitig den Mund durchstreiften, und vertrieben sich ganze Tage mit Umarmung und Scherzen. 25 Jeder Tityrus konnte mit zehn Äpfeln oder einem Ziegenbock eine hochmütige Phyllis umstimmen, so dass sie unter die Grotte trat und gegenseitige Freuden gewährte. Nun kann man mit ziemlich vielen Geschenken kaum ein Küsschen 30 erpressen. So sehr schmälert die Zeit alles Stück für Stück, indem sie anstelle der besseren Dinge schlechtere bereithält. <?page no="136"?> 2 Text und Übersetzung 136 Ad Lalagen narrans ei somnium suum. Carmen XXIV. Nigra soporiferis nox terram involverat alis, Cum procul humentes gregibus comitatus agellos Destituens nostrae repeto sordentia villae Culmina, nec longas ducens ambagibus horas 5 Languida sperato depono corpora lecto; Nuntius ecce Deûm portans mandata per auras Advolat obscurus nebulâ, virgâque potenti Leniter hos artus ultròque citròqué perunxit. Tum Sopor, ille Deûm placidissimus evolat ales 10 Cimmerias linquens tenebras letheaqué pocla Adducens; nobis cunctarum oblivia rerum Intulit et portis haec somnia misit eburnis: Colle sub umbroso pedibus per mutua nexis Corpora secure tecum, mea Vita, iacebam 15 Blanditias nectens varias lususque protervos; Nam modò splendentes variabam lege capillos Intexens illis violas pulchrosque Hyacinthos Et modò formosi demens in imagine vultus Multa columbatim figebam basia labris. 20 Nunc leviter tremulâ percurrens mellea linguâ Ora mei altrices sugebam pectoris auras, Donec vix animo capiens mea gaudia tandem Ulterius serpo niveoque tumentia rore Ubera contingo, molli quae membra sedili 25 Excipiunt oculosqué suâ dulcedine pascunt. Hîc erro veluti pendens è fronde cicada, Quae leviter Zephyro sustollitur huc atque illuc, Dum tandem nostros dissolvit clamor ocellos, Et procul in rapidos abierunt gaudia ventos. 30 Sed quid, quaeso, moves lascivos, Vita, cachinnos? Anne ideò, quod sim deceptus imagine somni? Sum lusus, fateor, sed si mihi talia saepè Somnia contingant semper durantia, nolim Expulsis nitidam Divis moderarier aethram. XXIV. Ad Lalagen narrans ei somnium suum om. F 10 linguens F 15 Blauditias F <?page no="137"?> Ad Lalagen. Carmen XX V 137 An Lalage: Er erzählt ihr seinen Traum. Gedicht 24. Die schwarze Nacht hatte die Erde in ihre schlafbringenden Flügel gehüllt, als ich begleitet von meinen Herden die feuchten Äcker weit zurückließ, zum niedrigen Dach meines Hauses zurückkehrte und, ohne mich mit langem Hin und Her aufzuhalten, 5 meinen matten Körper auf dem ersehnten Bett niederlegte. Sieh, der Götterbote, der durch die Lüfte Weisungen bringt, flog im Nebel verborgen herbei, und mit mächtigem Stab bestrich er über und über gelinde meine Glieder. Dann flog der Schlaf empor, jener sanfteste Göttervogel, 10 verließ das kimmerische Dunkel und brachte Becher mit Lethewasser herbei; er flößte mir Vergessen aller Dinge ein und schickte aus den elfenbeinernen Toren folgenden Traum: Am Fuße eines schattigen Hügels lag ich sorglos mit dir zusammen, mein Leben, während wir die Beine um den Körper des anderen geschlungen hatten, 15 und ich ließ vielfältige Liebkosungen und kecke Spielereien folgen; denn bald ordnete ich adrett deine glänzenden Haare, indem ich Veilchen und schöne Hyazinthen hineinflocht, und bald drückte ich ganz von Sinnen dem Traumbild deines schönen Gesichtes nach Art der Tauben mit den Lippen viele Küsse auf. 20 Nun eilte ich flink mit bebender Zunge über deinen honigsüßen Mund hin und sog deinen Atem ein, der mein Herz nährte, bis ich, im Herzen meine Freuden kaum fassend, endlich weiter krieche und die von schneeweißem Tropfen schwellenden Brüste berühre, die meine Glieder in weichem Sitz 25 aufnehmen und meine Augen mit ihrem süßen Anblick weiden. Hier schweife ich umher wie eine im Laub hängende Zikade, die vom Zephyr rasch dahin und dorthin gehoben wird, bis schließlich Geschrei meine Augen öffnete und meine Freuden sich weit fort in den stürmischen Winden verloren. 30 Aber warum, bitte, beginnst du übermütig laut zu lachen, mein Leben? Etwa deswegen, weil ich von einem Traumbild betört worden bin? Ich bin getäuscht worden, ich gestehe es, aber wenn mir oft solche Träume zuteil würden, die immer andauerten, wollte ich nicht, wenn die Götter vertrieben wären, über den strahlenden Himmel herrschen. I <?page no="138"?> 2 Text und Übersetzung 138 Ad Lalagen. Carmen XXV. Non semper rapido Cynthia belluas Cursu persequitur, nec miserabiles Docti Daulias oris Fletus perpetuò integrat: 5 Tu semper, Lalage, luctisonis modis Urges dulciloquae fata sororculae, Nec serò neque mane Decedunt lacrimae tibi. At non perpetuò flevit Adonidem 10 Cypris caeruleis edita fluctibus, Quandò vertice rupis Cyclops comprimeret caput. Tandem parce, precor, parce oculos tuos Vincentes radios longè Hyperionis 15 Multo dedecorare, O Lux, flumine fletuum. Cantemus potius, quâ prece Cynthius Crudelis pueri tactus arundine Veloces cohibere 20 Daphnes instituit pedes. Nil prosunt lacrimae, cum Lachesis colum Vitalem rigido pollice neverit, Et quodcumque creatum est Naturae imperio cadit. 25 Cernis quàm subitò concidat aridus Flos, quem protulerat Lucifer aureum: Nil de culmine Caeli Phoebus perpetuum videt. Felicem ingemina voce sororculam, 30 Quam solvêre suis fata laboribus Atque ex aequore mundi In sedes tulerunt Deûm. Iam coniuncta suo dulcè Palaemoni Umbras Elysii pervolitat soli XXV. Ad Lalagen om. F <?page no="139"?> Ad Lalagen. Carmen XXV 139 An Lalage. Gedicht 25. Nicht immer verfolgt Cynthia in schnellem Lauf wilde Tiere, noch beginnt die Nachtigall das klagende Weinen ihres gelehrten Mundes ununterbrochen von neuem; 5 du, Lalage, beklagst immerfort mit traurig tönenden Weisen den Tod deines Schwesterchens mit der süßen Stimme, und weder spät noch früh lassen deine Tränen nach. Aber Cypris, aus meerblauen Fluten geboren, 10 beweinte nicht ununterbrochen den Adonis, als der Zyklop mit einer Felsspitze den Kopf niederschlug. Hör endlich auf, ich bitte dich, hör auf, deine Augen, die bei weitem die Strahlen der Sonne übertreffen, 15 durch den reichlichen Fluss, o mein Licht, deiner Tränen zu verschandeln. Wir wollen lieber davon singen, durch welches Flehen Cynthius, der vom Pfeil des grausamen Knaben berührt war, Daphnes schnelle Füße 20 hemmen wollte. Nichts nützen Tränen, wenn Lachesis den Lebensfaden mit unerbittlichem Daumen zu Ende gesponnen hat, und alles, was geschaffen ist, stirbt auf Geheiß der Natur. 25 Du siehst, wie rasch die welke Blume niedersinkt, die der Morgenstern golden hervorbrachte: Phoebus sieht vom höchsten Himmel aus nichts Ewiges. Glücklich nenne dein Schwesterchen, 30 das der Tod von seinen Mühen erlöst und von der Weltebene zum Sitz der Götter gebracht hat. Schon eilt sie, ihrem Palaemon zärtlich verbunden, durch die Schatten des elysischen Gefildes <?page no="140"?> 2 Text und Übersetzung 140 35 Et, quae viva solebat, Audit murmura fistulae. Pastorum columen Tityrus obstupens Extollit faciem vallibus herbidis, Nutus voce sororem 40 Demonstrans Amaryllidi. Haec ornata caput vimine myrteo Compellat sociam dulciter et sua Ad convivia ducens Lethe tempora perluit. Ad Lunam. Carmen XXVI. O siderum micantium Regina, quae silentium Noctu regis, quae gemmulis Argenteis rorum rigas 5 Flores et alma pascua: Dum noctis ala amplectitur Terras, et omnes undique Animantium greges sopor Solvit rigatqué leniter, 10 Tutas mihi monstra vias Gradusque nostros ad meam Lalagen vagantes dirige. Sic sic fruare perpetim Heroe, Luna, Latmio, 15 Sic basiorum tanta sit Seges tuorum, quantus est Numerus tuorum siderum. Ad Lalagen. Carmen XXVII. Mirabar, Lalage, cur toties mihi Obliquis oculis ‚aufuge’ diceres, Cum tecum pecudes montis in angulo Solis sub face pascerem: XXVI. Ad Lunam om. F 10 monstrae F XXVII. Ad Lalagen om. F <?page no="141"?> Ad Lalagen. Carmen XXVII 141 35 und hört das Raunen der Panflöte, das sie als Lebende gewohnt war zu hören. Tityrus, das Oberhaupt der Hirten, erhebt erstaunt das Gesicht aus den grasbedeckten Tälern und empfiehlt deine Schwester 40 mit einem Kopfnicken der Amaryllis. Das Haupt mit einem Myrtenreis geschmückt, redet diese sie liebevoll als Gefährtin an, nimmt sie mit zu ihrem Festmahl und netzt ihre Schläfen mit dem Lethefluss. An den Mond. Gedicht 26. O Königin der funkelnden Sterne, die du bei Nacht über die Stille waltest, die du mit silbernen Perlen von Tau die Blumen 5 und die fruchtbaren Weiden netzest: Während der Flügel der Nacht die Erde umfängt und der Schlaf allen Herden der Tiere ringsum sanft Entspannung gewährt und sie erfrischt, 10 zeige mir sichere Wege und lenke meine umherschweifenden Schritte hin zu meiner Lalage. Dann, dann mögest du dich immerfort, Mondgöttin, des latmischen Heros erfreuen, 15 dann möge die Saat deiner Küsse so groß sein, wie die Zahl deiner Sterne ist. An Lalage. Gedicht 27. Ich wunderte mich, Lalage, warum du so oft mit scheelem Blick zu mir sagtest: ‚geh’ weg! ’, als ich mit dir in einem Winkel des Berges unter der Glut der Sonne die Schafe weidete: <?page no="142"?> 2 Text und Übersetzung 142 5 A longè nitidum Thyrsida videras Occultis latebris cum grege conditum; Hic nutu tacito signa dabat sui Adventus, Lalage, tibi. Sed grates Superis, quod malè credulus 10 A vestro minimè corpore cesserim Invitaeque meis blanditiis tibi Gressum ad Thyrsida clauserim, Quod malas alii dulcia basia Spondentes adeò nostra protervitas 15 Vexarit, manibus nexilibus meis Collum cum premerem tuum. Dulce est (crede mihi) posse potirier Quod rivalis amat, plus sapit osculum Huic quod praeripitur, nam volupe est suo 20 Hosti posse resistere. Pastor et Echo. Carmen XXVIII. Pastor: Diva, quae resonos colis recessus, Quam crebrò calami mei susurrus In voces animavit et loquelas: Cur semper tacitis lates in antris? 5 An propter vitium pudoris? Echo: Oris. Pastor: Quid os commeruit? Echo: Ruit. Pastor: Ruendo An tantum potuit nocere vobis? Echo: Nobis. Pastor: An pueri decore captam (Quod quondam retulit mihi Menalcas 10 Annis doctus et usibus) repulsam Pudor cedere te coegit? Echo: Egit. Pastor: Ergò, docta malo, mones puellas, Ne prius iuvenum petant amores, Sed fideliter anteà petitae 15 Tunc illos redament? Echo: Ament. Pastor: Vale Echo. Echo: O. XXVIII. Carmen XXVIII. Pastor et Echo F 6 os om. F 9 quodam F <?page no="143"?> Ad Lalagen. Carmen XX VII I 143 5 Von weitem hattest du den schmucken Thyrsis gesehen, der sich mit seiner Herde in einem geheimen Versteck verbarg; der zeigte dir, Lalage, mit lautlosem Kopfnicken seine Ankunft an. Aber den Göttern sei Dank, dass ich misstrauisch 10 keineswegs von deinem Körper gewichen bin und dir gegen deinen Willen mit meinen Liebkosungen den Gang zu Thyrsis versperrt habe, und dass meine Keckheit deine Wangen, die einem anderen süße Küsse verhießen, ausgiebig 15 malträtiert hat, während ich mit meinen umschlingenden Händen deinen Hals drückte. Süß ist es, glaube mir, besitzen zu können, was der Rivale liebt, und besser schmeckt der Kuss, der ihm entrissen wird, denn es ist angenehm, seinem 20 Feind widerstehen zu können. Hirte und Echo. Gedicht 28. Hirte: Göttin, die du in widerhallenden Winkeln wohnst, die das Säuseln meiner Hirtenflöte oft zu Lauten und Worten animiert hat: warum verbirgst du dich immer in verschwiegenen Höhlen? Etwa 5 wegen eines Verstoßes gegen das Sittlichkeitsversprechen? Echo: Sprechen. Hirte: Was wird dem Sprechen angelastet? Echo: Hastet. Hirte: Konnte es durch das Hasten etwa so sehr schaden dir? Echo: Mir. Hirte: Oder hat dich, die du vom Charme des Knaben betört warst (was mir einst Menalcas berichtete, der durch 10 die Erfahrung seiner Jahre gelehrt ist) und zurückgewiesen wurdest, die Scham zu weichen gedrängt? Echo: Gedrängt. Hirte: Deshalb, durch Schaden Kluge, ermahnst du die Mädchen, dass sie nicht zuerst um die Liebe der Jünglinge werben sollen, sondern dass sie, wenn sie zuvor treuherzig umworben wurden, dann wiederum 15 auch jene sollen lieben? E.: Jene sollen lieben. H.: Lebe wohl, Echo. E.: O. <?page no="144"?> 2 Text und Übersetzung 144 Ad Lalagen. Carmen XXIX. Queis te blanditiis, quâ, Lalage, prece Pertraxit Corydon, ut pede candido In morem Saliorum Ter pigram quateres humum, 5 Quandò ipse ut Satyrus arboreo sedens Trunco dulce melos septifori daret Cannâ, tuque salires Formans ad modulos pedes? At cur Nisa genas fusca caloribus 10 Iungebat sociam se tibi, cum tuos Saltus dispare cursu Deformaret, ut improbus Oggannit nitidis anser oloribus? Quàm crebrò, cupiens pervolitare humum 15 Intactam trepidante Plantâ, concidit in solum? Quàm nostris volupè luminibus fuit, Cum leni Zephyro fortè papillulae et Surae detegerentur 20 Et quae sunt loca proxima? Ad Faunum. Carmen XXX. O Faune, terror Naiadum Errantium per pascua, Hunc haedulum iam primulùm A lacte depulsum tibi 5 Pastor misellus offero, Ut sic meae carissimae Lalage nocere desinas: Tuas, ut ipsae Naiades, Manus feroces extimet. 10 Nam crebriùs me viseret Latura dulce basium, Sed te vomentem fulmina Fessum tuis venatibus XXIX. Ad Lalagen om. F 1 blanditis F XXX. Ad Faunum om. F <?page no="145"?> Ad Faunum. Carmen XXX 145 An Lalage. Gedicht 29. Mit welchen Schmeicheleien, Lalage, und mit welchem Flehen hat dich Corydon dazu genötigt, mit weißem Fuß nach Art der Salier dreimal auf die träge Erde zu stampfen, 5 da er ja selbst wie ein Satyr auf einem Baumstamm saß und auf der Rohrflöte mit den sieben Öffnungen ein süßes Lied darbrachte und du tanztest, indem du die Füße im Takt bewegtest? Doch warum wollte sich Nisa mit den sonnengebräunten Wangen 10 dir als Gefährtin anschließen, obwohl sie doch deine Sprünge mit ihrem ungleichmäßigen Lauf verunstaltete, so wie eine vermessene Gans unter den weißen Schwänen zischelt? Wie oft fiel sie, während sie wünschte, mit eilender Sohle 15 über die Erde dahinzufliegen, ohne sie zu berührern, zu Boden? Wie angenehm war es meinen Augen, wenn vom sanften Zephyr einmal deine Brüste und Waden enthüllt wurden 20 und die Stellen, die ihnen am nächsten sind? An den Faun. Gedicht 30. O Faun, du Schrecken der Najaden, die durch die Weiden umherschweifen, dieses Böcklein, das eben erst von der Milch entwöhnt ist, 5 opfere ich armer Hirte dir, damit du dann aufhörst, meiner liebsten Lalage zu schaden: Wie die Najaden selbst fürchtet sie deine ungezähmten Hände sehr. 10 Sie würde mich nämlich häufiger besuchen, um mir einen süßen Kuss zu geben, aber sie schaudert vor dir, der du erschöpft von deiner Jagd Blitze spuckst, <?page no="146"?> 2 Text und Übersetzung 146 Exhorret ut tenellulae, 15 Timidum genus, puellulae. Hunc tolle terrorem, precor, Sic sic subinde Naiades Faciles tibi se praebeant. Ad Lalagen. Carmen XXXI. Cum te Prometheus conderet ignifer, Immane quantam particulam tuis Duri Leonis cordibus addidit? Nil te dolores, nil lacrimae movent, 5 Nil fusa surdae carmina ianuae, Nil pallor artus undiqué obambulans: Stas non rigenti mollior esculo. Sed dura quamvis sis, Lalage, tamen Cogor misellus saepè recurrere. 10 En, Vita, rursus sollicitus fores Tuas reviso, respice respice Fletumque tristis percipe tibiae. Iam cuncta nostris montibus obticent, Tectae virenti tegmine frondium 15 Aves quiescunt, undique grex tacet, Carpuntque somnos curva cacumina. Ego per agros solus obambulo Insomnis, aeger, sollicitus, pavens, Fususqué ruris gramine frigido 20 Tuam misellus duritiem queror. Audi querentem, commiserescito Blandumque somnum mittito paululum, Aut, si recuses haec, Lalage, sinu Saltem migrantem suscipe spiritum. Ad Lalagen. Carmen XXXII. Ah quae tibi protervitas Innata, virgo pessima? Quid te iuvat dolor meus Vultusque pallor luteus? XXXI. Ad Lalagen om. F 7 osculo F 13 nostras F 14 Tecte F XXXII. Ad Lalagen om. F 4 Vultusque correxi : Veltusque LF <?page no="147"?> Ad Lalagen. Carmen XXXII 147 zurück, so wie zartbesaitete 15 Mädchen es tun - ein furchtsames Geschlecht. Beende diesen Schrecken, ich bitte dich; dann, dann mögen sich dir die Najaden von da an willfährig zeigen. An Lalage. Gedicht 31. Als dich der Feuerbringer Prometheus erschuf, welch einen ungeheuer großen Anteil eines grausamen Löwen fügte er da deinem Herzen bei? Nicht rühren dich Schmerzen, nicht Tränen, 5 nicht die Lieder, die ich der tauben Tür singe, nicht die Blässe, die überall meine Glieder überzieht; du stehst unbeweglich, nicht nachgiebiger als eine starre Wintereiche. Aber obwohl du hartherzig bist, Lalage, bin ich Armer dennoch gezwungen, immer wieder zurückzukehren. 10 Sieh, mein Leben, erneut besuche ich unruhig deine Pforten; schau nach mir, schau nach mir und vernimm das Weinen der traurigen Flöte. Schon schweigt alles in unseren Bergen, die Vögel, die vom grünenden Laubdach verdeckt sind, 15 verstummen, überall schweigt die Herde, und die gebogenen Wipfel freuen sich des Schlafs. Ich allein spaziere durch die Felder, schlaflos, krank, unruhig, ängstlich, und hingestreckt in das kalte Gras des Feldes 20 klage ich Armer über deine Hartherzigkeit. Erhöre den Klagenden, habe Mitleid, und verzichte für ein Weilchen auf den sanften Schlaf, oder, wenn du das verweigerst, Lalage, nimm wenigstens in deinem Schoß meine wandernde Seele auf. An Lalage. Gedicht 32. Ach, welche Keckheit ist dir angeboren, du furchtbares Mädchen? Warum erheitert dich mein Schmerz und die gelbliche Blässe meines Gesichtes? <?page no="148"?> 2 Text und Übersetzung 148 5 Promis papillas candidas Sororiantes primulùm, Illas papillas, quae sui Lactis tumore pullulant, Quae sub reductâ fasciâ 10 Ducunt choreas mobiles. Has, dico (ni tabescere Atque interire me velis), Lalage, recondas protinus Aut sentiendas praebeas. Ad Lalagen. Carmen XXXIII. Iam vultus, Lalage, Phosphorus exerit, Dimotisqué polo sideribus diem Dulci voce salutant Tectae frondibus alites; 5 Vicinus Corydon fuscaque Thestylis Balantes pecudes montibus abdidit, Et nos, Vita, capellas Hoc pascamus in angulo, Quem cingunt hederae et populus imminens, 10 Quem torrens placido murmure praeterit; Namque hoc sole futurus Aestus non tolerabilis. Huc potum Dorylae convenient greges, Hinc Thyrsis nitidum concinet ad polum, 15 Dum vineta Bionis Tondet falcibus aeneis. Sunt et poma mihi prunaqué roscida, Est et plenus onyx nectare, quod mihi Misit candidus Aegon 20 Pressum in monte Palaemonis. Hoc nobis, Lalage, montis in angulo Fusis laetitiam conferet, est enim Spes donare potentes Curasque eluere efficax. XXXIII. Ad Lalagen om. F 13 non venient F <?page no="149"?> Ad Lalagen. Carmen XXXI II 149 5 Du lässt deine weißen Brüste sehen, die zum ersten Mal wie Zwillingsschwestern sich wölben, jene Brüste, die durch ihre Milch anschwellen und sprießen, die unter dem knappen Busenband 10 muntere Reigentänze aufführen. Ich sage dir: Wenn du nicht willst, dass ich dahinschmelze und zugrunde gehe, verbirg sie, Lalage, sofort wieder, oder lass sie mich fühlen. An Lalage. Gedicht 33. Schon zeigt, Lalage, der Morgenstern sein Antlitz, und nachdem die Sterne vom Himmel verschwunden sind, begrüßen die vom Laub verdeckten Vögel mit süßer Stimme den Tag; 5 der Nachbar Corydon und die dunkelhäutige Thestylis haben die blökenden Schafe in den Bergen verborgen, und wir, mein Leben, wollen unsere Ziegen in diesem Winkel weiden, den Efeuranken umringen und eine Pappel, die sich herüberneigt, 10 und an dem ein Wildbach mit sanftem Murmeln vorüberläuft; denn bei diesem Sonnenschein wird die Hitze unerträglich werden. Hier werden die Herden des Dorylas zum Trinken zusammenkommen, von hier wird Thyrsis zum strahlenden Himmel singen, 15 während er Bions Weingärten mit ehernen Sicheln beschneidet. Ich habe Äpfel und taufeuchte Pflaumen und auch ein Onyxgefäß voll ambrosischen Weines, den mir der hellhäutige Aegon schickte, 20 gekeltert auf dem Berg des Palaemon. Der wird uns, Lalage, wenn wir in einem Winkel des Berges ausgestreckt daliegen, Fröhlichkeit bringen: Er ist nämlich imstande, mächtige Hoffnungen zu wecken und Sorgen fortzuspülen. <?page no="150"?> 2 Text und Übersetzung 150 Ad Lalagen. Carmen XXXIV. Nuper Bionis rupibus propendulus Tondentibus gramen capris Ignes Cyclopis lacrimasqué fistulae Dulci retractabam sono; 5 Tu capta grato sibilo velocibus Ad me volasti gressibus Spondens daturam, si redintegrem modos, Te quinque nobis basia. Redintegravi; restat, ut solvas mihi 10 Haec quinque, Vita, basia. Si rennuas, periurium severiùs Nemesis severa puniet. Nam claudicante poena gressu rariùs Crimen quietum conspicit. 15 Periurii testis relicta est populus, Sub quâ cubabas molliter, Haec haec susurris frondium trementium Tua proloquetur crimina. Proinde posthàc provide quid spondeas, 20 Nam sunt et aures montibus. Ad Lalagen. Carmen XXXV. Cum nuper Dorylae montibus abditus Captarem querulos Dauliadûm sonos, Excurrens properè ter tria basia Fixisti, Lalage, mihi. 5 Quod cum Thyrsis oves gramine proximo Pascens aspiceret, quos, Superi, statim Vultus explicuit? quisve color fuit Atque irae tremor additus? Sed nil vultus ei profuit aut tremor; 10 Nam laeto invidiam pectore neglegens Lascivis hederis ambitiosior Te cinxi manibus meis. XXXIV. Ad Lalagen om. F 13 gressus F 14 quieta aut quiete dubitanter proposui XXXV. Ad Lalagen om. F | Carmen XXXV F : Carmen L 11 ambitiosior F : ambitioßior L <?page no="151"?> Ad Lalagen. Carmen XXXV 151 An Lalage. Gedicht 34. Neulich hing ich an Bions Felsen, während die Ziegen Gras abweideten, und rief mit dem süßen Klang der Panflöte die Liebesglut des Zyklopen und seine Tränen ins Gedächtnis; 5 du flogst, von dem lieblichen Pfeifen verlockt, mit schnellen Schritten zu mir hin und versprachst, dass du mir, wenn ich das Lied noch einmal sänge, fünf Küsse geben werdest. Ich habe es noch einmal gesungen: Es steht noch aus, dass du mir, 10 mein Leben, diese fünf Küsse zum Lohn gibst. Wenn du dich weigerst, wird die strenge Nemesis den Meineid sehr streng bestrafen; denn die Strafe mit hinkendem Schritt sieht ziemlich selten ein ruhendes Verbrechen <nur> an. 15 Als Zeugin des Meineides bleibt die Pappel, unter der du weich zu ruhen pflegtest; sie, sie wird mit dem Säuseln ihrer zitternden Blätter deine Verbrechen verkünden. Bedenke daher von nun an im voraus, was du versprichst, 20 denn die Berge haben auch Ohren. An Lalage. Gedicht 35. Als ich neulich verborgen in den Bergen des Dorylas den klagenden Lauten der Nachtigallen lauschte, liefst du eilig hervor, Lalage, und gabst mir dreimal drei Küsse. 5 Als Thyrsis, der im benachbarten Gras seine Schafe weidete, das sah, welch eine Miene, ihr Götter, zeigte er da sogleich? Und welche Farbe, welches Zornesbeben kam hinzu? Aber nichts nützte ihm seine Miene oder sein Beben; 10 denn heiteren Gemüts beachtete ich den Neid nicht und umfasste dich eifriger als zügellos schweifender Efeu mit meinen Händen. <?page no="152"?> 2 Text und Übersetzung 152 O Lux, invidear simque odio omnibus, Dum tantum liceat figere basia 15 Decumbensqué tuo dulciter in sinu Supremum videam diem. Ad campos, in quibus Lalage cubuerat. Carmen XXXVI. O felicia iugera, Quae pressit Lalages latus; O felicia germina, Quae oris spiritus illius 5 Aspiravit odore. At vos, quae levioribus Pennis atria Caelitum Et mundi rapidum globum, Aurae, pervolitatis: 10 O quot dulcia gaudia Cepistis, Lalages sinus Et candentia pectora Quandò flamine leniter Percurristis, et undiqué 15 Vestes cunctaqué tegmina Dimovistis ab illâ? Eheu, si liceat mihi Vestro munere fungier, Qui iam sicut amaracus 20 Tacta fulmine marceo, Florerem velut ebrii Flores rore perenni. Ad Lalagen. Carmen XXXVII. Cum me iacentem morbido corpusculo Nec umbra dulcis fistulaeve sibilus Nec recrearet aura flores educans Fluviusve gratis murmurans decursibus 5 Apesve lenem suscitantes somnulum, Tu, Vita, questus, lacrimas, suspiria Miserata tandem, basiationibus XXXVI. Ad campos i. qu. L. cubuerat. Carmen VI. L : Carmen XXXVI. Ad campos F XXXVII. Ad Lalagen om. F <?page no="153"?> Ad Lalagen. Carmen XXXVII 153 O mein Licht, möge ich beneidet werden und allen verhasst sein, wenn ich dich nur küssen darf 15 und den letzten Tag sehe, indem ich süß in deinem Schoß mich bette. An die Felder, in denen Lalage geruht hatte. Gedicht 36. O ihr glücklich gedeihenden Felder, an die sich die Seite von Lalages Körper gedrückt hat; o ihr glücklich gedeihenden Knospen, die der Hauch ihres Mundes 5 mit seinem Duft behaucht hat! Und ihr, die ihr auf leichten Schwingen die Behausung der Himmelsbewohner und die Weltkugel, die sich schnell bewegt, durchfliegt, ihr Lüfte - 10 o wie viel süße Freuden habt ihr empfangen, als ihr mit eurem Wehen sanft über Lalages Schoß und ihre weißen Brüste hineiltet und überall 15 die Kleider und alle Bedeckungen von ihr fort bewegt habt? Ach, wenn es mir erlaubt wäre, eure Aufgabe zu übernehmen, dann würde ich, der ich schon welk bin 20 wie ein vom Blitze getroffener Majoran, blühen wie Blumen, die trunken sind von immerwährendem Tau. An Lalage. Gedicht 37. Als mich, während ich mit krankem Körper darniederlag, weder lieblicher Schatten oder das Pfeifen der Panflöte erquickte noch der Lufthauch, der die Blumen wachsen lässt, oder der Fluss, der angenehm murmelnd herabströmt, 5 oder die Bienen, die sanften Schlaf erwecken, da hast du, mein Leben, die du endlich Mitleid mit meinen Klagen, meinen Tränen, meinen Seufzern hattest, <?page no="154"?> 2 Text und Übersetzung 154 Tribus dolores mitigasti maximos. Nam cum medullis intimis haec basia 10 Tacitos calores seminassent, protinus, Ut qui recenter conditum mel devorant, Dulci furore mens remota est de statu, Tandemqué menti redditus sanae, mei Sum vim priorem consecutus corporis. Lalage potitus triumphat. Carmen XXXVIII. Iam iam furentes, Aeole, spiritus Emitte, tristi murmure mugiant Silvae, procellososque mittat Cum tonitru Pater altus imbres: 5 Post tot dolores totque preces meas Commota tandem Lux mea ianuae Seram recludit meque dulci Frigidulum gremio receptat. Illîc quiesco dulciter et vagor 10 Per et papillas perque nitens latus, Iuvatque mentem in tam cupitis Deliciis meminisse luctus. Tulisse prodest tristia casuum, Nam post labores gratior est quies, 15 Nautaequé post nubes Apollo Gratior auricomus refulget. Ad Lalagen aegrotantem. Carmen XXXIX. Quid me perpetuis luctibus enecas Decumbens, Lalage, corpore morbido? Nec gratum Superis nec mihi te prius Vitae excedere limine. 5 Ah, te si rapiat, partem animae meae, Fati praeproperi dura necessitas, Ut quondam Phrygius Marsya, tristibus Totus liqueo lacrimis. XXXVIII. Lalage potitus triumphat om. F | Carmen XXXVIII F : Carmen XXVVIII L XXXIX. Carmen XXXIX. ad Lalagen aegrotantem F <?page no="155"?> Ad Lalagen aegrotantem. Carmen XXXIX 155 mit drei Küssen meine übergroßen Schmerzen gelindert. Denn als diese Küsse im tiefsten Innern 10 stille Glut gesät hatten, ist sofort, so wie wenn jemand frisch abgefüllten Honig schluckt, mein Geist in süßer Raserei von seinem Zustand befreit worden, und als ich endlich wieder bei gesundem Verstande war, habe ich die frühere Kraft meines Körpers wiedererlangt. Er frohlockt, da er Lalage erobert hat. Gedicht 38. Jetzt, jetzt lass, Aeolus, die rasenden Winde frei; mit finsterem Rauschen mögen die Wälder brausen, und der hohe Vater möge stürmischen Regen und Donner schicken: 5 Nach meinen so zahlreichen Schmerzen und so zahlreichen Bitten hat mein Licht sich endlich bewegen lassen, öffnet den Riegel der Tür und nimmt mich Frierenden in ihrem süßen Schoße auf. Dort ruhe ich süß und streiche 10 über die Brüste hin und über die glänzende Seite des Körpers, und es erfreut meinen Sinn, während der so sehr ersehnten Wonne der Trauer zu gedenken. Es tut wohl, die Widrigkeiten des Schicksals ertragen zu haben: Denn nach den Mühen ist die Ruhe noch willkommener, 15 und dem Seemann glänzt nach den Wolken noch willkommener der goldhaarige Apoll. An die kranke Lalage. Gedicht 39. Was bringst du mich durch ständige Trauer um, Lalage, weil du mit krankem Körper darniederliegst? Weder den Göttern noch mir ist es lieb, dass du zu früh von der Schwelle des Lebens scheidest. 5 Ach, wenn dich, einen Teil meiner Seele, der harte Zwang eines vorzeitigen Todes raubt, löse ich mich, wie einst der phrygische Marsyas, ganz in bittere Tränen auf. <?page no="156"?> 2 Text und Übersetzung 156 Nam prorsus pereo, cum bene mutuis 10 Fidum perspicio pectus amoribus, Cum lusus varios blandaque basia In pratis data rumino. Haec tecum pariter mors rapiet mihi? Nec nobis miseris parcet amantibus? 15 Ah, istud potius omen in hostium Caput, Numina, vertite. Hic, ut convaleas, Capripedi Deo Haedus, cui teneris turgida cornibus Frons primam et venerem et proelia destinat, 20 Immolabitur oppidò. At si mors rigidum propositum premit Neve ullis precibus aspera flectitur, Quò te cumqué trahet, consequar et comes Sum futurus in omnibus. 25 Non me Cerbereus spiritus à tuo Amplexu retrahet, non nigra cymbula; Tecum magnanimo pectore Tartari Perrumpam piceos lacus. Nostras intereà perpetuò canet 30 Aegon dulcicrepo carmine flammulas, Et mutos cineres torrida Thestylis Molli sparget amaraco. Lugebunt pecudes, maestaque Daulias, Aeternum opprobrium Cecropiae domus, 35 Ramis aëreae pendula populi Odis nos recinet suis. Lalagen mortuam deplorat. Carmen XL. Nunc per recessus deviorum montium, Quà nulla sunt mortalium vestigia, Iuvat vagari, sicut orba bucula Tauro marito maesta, solitaria 5 Pererrat alta vallium cubilia. 19 Venerem F 25 Nam F | Cerbereus F : Serbereus L XL. Carmen XL. Lalagen mortuam deplorat F <?page no="157"?> Lalagen mortuam deplorat. Carmen XL 157 Denn ich vergehe ganz und gar, wenn ich die in wechselseitiger 10 Liebe gar treue Brust wahrnehme, wenn ich mir die vielfältigen Spielereien und die kosenden Küsse, die du mir auf der Wiese gabst, ins Gedächtnis rufe. Wird der Tod mir dies zugleich mit dir rauben? Und wird er uns unglückliche Liebende nicht schonen? 15 Ach, wendet, ihr Gottheiten, dieses schlechte Vorzeichen lieber gegen das Haupt der Feinde. Dem ziegenfüßigen Gott wird, damit du wieder gesund werdest, dieser Bock, dem die Stirn, von zarten Hörnern schwellend, die erste Liebe und Kämpfe verheißt, 20 gänzlich geopfert werden. Aber wenn der Tod auf dem unbeugsamen Vorsatz beharrt und unbarmherzig sich durch kein Flehen erweichen lässt, will ich folgen, wohin auch immer er dich zieht, und in allen Dingen dein Gefährte sein. 25 Nicht wird der Atem des Zerberus mich aus deiner Umarmung fortziehen, nicht der schwarze Nachen; mit dir zusammen will ich mir mutigen Herzens einen Weg durch die pechschwarzen Wasser des Tartarus bahnen. Derweil wird Aegon unsere Flammen beständig 30 in einem süßtönenden Lied besingen, und die sonnenverbrannte Thestylis wird die stumme Asche mit lind duftendem Majoranöl besprengen. Die Schafe werden trauern, und die schwermütige Nachtigall, der immerwährende Schandfleck von Cecrops’ Haus, 35 wird uns, während sie in den Zweigen einer hochgewachsenen Pappel hängt, in ihren Liedern besingen. Er beweint die verstorbene Lalage. Gedicht 40. Nun will ich durch die entlegenen Winkel der unwegsamen Berge streifen, wo es keine Spuren von Sterblichen gibt, so wie eine ihres Gatten, des Stieres, beraubte Färse niedergeschlagen und einsam 5 durch die tiefen Lagerstätten der Täler irrt. <?page no="158"?> 2 Text und Übersetzung 158 Piget videre lucidum Solis iubar, Placent tenebrae, et solitudo tristium Altrix dolorum maximê me recreat. Hîc hîc querelas strangulantes pectora 10 Et, qui malignè differunt praecordia, Promam dolores; occidit, proh occidit Sol ille noster, unicum solacium, Medela curis atque fulcrum pectoris. Mecum volucres, quae secatis aëra, 15 Plorate, turtur orbe caro compare Adsis et haerens albicante populo Gemens amaras integrato lacrimas. Ego derelictis constitutus in locis Superare vestros voce contendam sonos; 20 Nullos sonabo carminum tristis modos, Vivente quales concinebam te, mea Lalage, ad Bionis flumen et montes sacros, Cum pulchra Nais cursitans ab angulo Properaret ad nos et, nisi pudor gravis 25 Vetuisset istud, tradidisset osculum. Haec te peremptâ concidêre funditus. Suspensa pinu nescio quid fistula Lugubre semper sibilet, greges dolent Maestasque caudas sub suos ventres agunt. 30 Caper ille, quo vix alter est petulcior, Qui bella semper cornibus curvis minax Solet parare, flebilis, solus suos Montes pererrat perpetim desiderans Lalages ocellos et manus dantes cibum. 35 At, ô Deorum quisquis in caelo regis, Quid fiet? eheu, cuncta sunt solacia Exstincta nobis; quò gradus fero meos, Ubique luctus et dolor circumsonant. Pererro saepè prata, quae pulchro pede 40 Calcata servant gressuum vestigia, Sed plus doloris quam ferunt solacii; Crebrò reviso vallium cubilia, Quae tot cachinnos totque nostra basia Vidêre quondam, cum greges nostros simul 45 Graviter calente pasceremus Cynthio, 21 mea correxi : meâ LF <?page no="159"?> Lalagen mortuam deplorat. Carmen XL 159 Es verdrießt mich, den hellen Glanz der Sonne zu sehen, mir gefällt die Dunkelheit, und die Einsamkeit, Nährerin der bitteren Schmerzen, erquickt mich am meisten. Hier, hier will ich die Klagen, die mir die Brust zuschnüren, 10 und die Schmerzen, die mein Herz übel zerreißen, äußern: Sie ist tot, weh! sie ist tot, diese meine Sonne, mein einziger Trost, Heilung für die Sorgen und Stütze meines Herzens. Weint mit mir, ihr Vögel, die ihr die Luft durchfliegt; 15 Turteltaube, die du deines lieben Gefährten beraubt bist, komm her und beginne in einer Silberpappel hangend wieder, seufzend bittere Tränen zu vergießen. Ich werde mich, an verlassenen Orten weilend, bemühen, eure Klänge mit meiner Stimme zu übertreffen; 20 traurig werde ich keine Melodien von Liedern mehr spielen, wie ich sie sang, als du noch lebtest, meine Lalage, am Fluss des Bion und bei den heiligen Bergen, als eine schöne Nymphe aus einem Winkel herbeilief und zu mir eilte und mir, hätte es ihre ernste Schamhaftigkeit 25 nicht verboten, einen Kuss gegeben hätte. Dies hat nach deinem Tod ganz und gar ein Ende. Die Panflöte, die in einer Pinie hängt, pfeift beständig etwas Trauriges; die Herden sind betrübt und ziehen niedergeschlagen die Schwänze unter ihre Bäuche. 30 Jener Bock, der stößig ist wie kaum ein anderer, der immer mit gebogenen Hörnern drohend Kriege anzuzetteln pflegt, durchirrt kläglich und allein seine Berge, während er beständig Lalages Äuglein vermisst und ihre Hände, die ihm Futter reichen. 35 Aber du, o welcher Gott auch immer du im Himmel regierst, was soll nun werden? Wehe, jeder Trost ist mir erloschen; wohin ich meine Schritte lenke, es tönen rings überall Trauer und Schmerz. Ich durchirre oft die Wiesen, die, von ihrem schönen Fuß 40 betreten, die Spuren ihrer Schritte bewahren, aber sie bringen mehr Schmerz als Trost; häufig besuche ich wieder die Lagerstätten der Täler, die einst so viel Gelächter und unsere so zahlreichen Küsse sahen, als wir unter der drückenden Hitze des Cynthius 45 zugleich unsere Herden weideten, <?page no="160"?> 2 Text und Übersetzung 160 Cum tu cicadis, Lux mea, obviantibus Strueres dolosa delitescens retia, Egoqué magnis ebrius prae gaudiis Hederâ revinctus dulce cantarem melos. 50 Sed, quam requirit nostra mens, non invenit: Quid ergò Solem hunc atque scintillans iubar Diu perosum longius miser fero? Exstincta sunt, exstincta sunt solacia. Abrumpe lucem, dextra; quid letum times? 55 Letum dolores hosce cunctos finiet; Et cui nequisti iungier vivens, ei Iungêre vitae inanis atqué spiritus. Ergò valeto grex mihi dulcissime, Valete fontes, arva, valles inque iis 60 Umbrae trementes, canna silvestris vale Dominique fata saepius collacrima; Valete silvae, quaeque nostros cortice Servas amores, iam valeto, Popule, Diuque vive; dedo me doloribus. Elegia. ‹I.› Quid mihi vobiscum est, genus ô miserabile, curae? Quid mea vincîtis pectora compedibus? Este procul: post tot casus tantosqué labores, Quos mihi rivalis intulit usque meus, 5 Sylvia nostra suis lepidè subrisit ocellis, Praebuit et taciti signa caloris amor. Profuit ergò mihi tortam penetrasse Charybdin, Profuit et Scyllae perdomuisse canes, Quò mea votivis puppis redimita coronis 10 Laetior in tuto rideat amne fretum. Iam duri meminisse libet, dum nostra relicto Sylvia rivali serviet una mihi. Illius è labris furabor basia mille, Illius in gremium nostra iuventa cadet. 15 Invidus haec spectet perfususque ora rubore Proferat invito talia verba sono: ‚Iste quod est, ego saepe fui, sed cardine verso Praebuit alternas sors malefida vices.’ Eleg. I. 1 curae scripsi : littera æ haud bene dinoscitur <?page no="161"?> Elegia. ‹I.› 161 als du, mein Licht, für die überall anzutreffenden Zikaden im Verborgenen trügerische Fallen fertigtest und ich trunken von großer Freude efeuumkränzt ein liebliches Lied sang. 50 Aber die, die mein Geist sucht, findet er nicht: Warum also ertrage ich Armer diese Sonne und den längst verhassten funkelnden Glanz noch länger? Erloschen ist, erloschen ist der Trost. Brich das Leben ab, meine Rechte; was fürchtest du den Tod? 55 Der Tod wird alle diese Schmerzen beenden, und du wirst mit ihr, mit der du im Leben nicht vereint werden konntest, ohne Leben und Atem vereint werden. Lebe also wohl, meine mir so liebe Herde, lebt wohl, ihr Quellen, Fluren und Täler und in ihnen 60 ihr zitternden Schatten; leb wohl, du ländliche Rohrflöte, und beweine recht oft das Schicksal deines Herren; lebt wohl, ihr Wälder, und du, die du unsere Liebe in deiner Rinde bewahrst, lebe nun wohl, Pappel, und lebe lange; ich ergebe mich meinem Schmerz. Elegie ‹1›. Was habe ich mit euch zu schaffen, ihr elenden Sorgen? Warum umschnürt ihr meine Brust mit Fesseln? Bleibt fern: nach so vielen Schicksalsschlägen und so großen Mühen, die mir mein Rivale ununterbrochen auferlegte, 5 hat meine Sylvia mir mit ihren Äuglein allerliebst zugelächelt, und ihre Liebe gab mir Zeichen geheimer Leidenschaft. Es nützte mir also, zur strudelnden Charybdis vorgedrungen zu sein, es nützte auch, die Hunde der Scylla völlig gezähmt zu haben, damit mein mit Votivkränzen umwundenes Schiff 10 umso fröhlicher im sicheren Fluss dem Meer ins Gesicht lache. Schon gefällt es mir, der Härten zu gedenken, solange meine Sylvia sich, nachdem sie den Rivalen verlassen hat, einzig mir hingeben wird. Von ihren Lippen werde ich tausend Küsse rauben; ihr in den Schoß wird meine Jugend fallen. 15 Der Neidische soll das sehen und, das Gesicht mit Röte übergossen, mit widerwilliger Stimme folgende Worte vorbringen: „Was der da ist, war ich oft, aber nachdem sich die Achse gedreht hat, wies mir das treulose Schicksal ein wechselndes Los zu.“ <?page no="162"?> 2 Text und Übersetzung 162 Haec animum mihi verba dabunt messesque iuvabit 20 In mediâ invidia carpere posse meas. Intereà reliqui, dum florida sustinet aetas, Praemia militiae pulverulenta petant Et venentur opes; ego sic diffusus in ulnis Inque sinu Dominae segnis inersque vocer. 25 Dii superi, quàm sunt lepidissima turba puellae? Turba virûm ponens insidias animis. Hinc oculis, illinc gressu volucrisque salaxque Attrahit in vires pectora nostra suas. Ferreus est, eheu, quisquis spectare puellam 30 Integer et nullo captus amore potest. Non ego sic; nam me genuit natura puellis Et facilem et promptum subdere colla iugo. Fabula sim cunctis: nil curo murmura vulgi; Verus amor surdis auribus esse solet. 35 Vita, fave, mecumqué tibi sit dulce, precamur, More columbarum posse in amore mori. Elegia. ‹II.› Non ego divitias, non nomen inutile patrum Flagito, non summum posse tenere locum: Quid nisi sunt curae haec, quae nos rapiuntque trahuntque, Nec vacui quicquam temporis esse sinunt? 5 Ista petant alii, queis circum pectora serpit Gloriolae et laudis non satianda sitis: Me iuvet insano procul à clamore popelli In placido positum consenuisse loco. Rura colam, valeant urbes, nam finibus istis 10 Mens renuens claudi sidera celsa petit. Rure mihi sit parva seges, sit parvulus illîc, Qui pecus et dominum pascere possit, ager. Despiciam reges modico contentus acervo, Despiciam in parvis atria celsa casis. 15 Sylvia nostra comes curas solabitur aegras, Atque erit in solis haec mihi turba locis. Hâc potiar, rivalis abi, nihil hîc tua prosunt Munera, nil nutus insidiaequé iuvant. Hîc pecus innocuum tantum spectare licebit, 20 Nullaque nequitiae semina silva dabit. <?page no="163"?> Elegia. ‹II.› 163 Diese Worte werden mir Mut machen, und es wird mich erfreuen, 20 mitten im Neid meine Ernte genießen zu können. Derweil mögen die Übrigen, solange es das blühende Alter aushält, nach dem staubigen Lohn des Kriegsdienstes streben und nach Reichtümern jagen; ich mag ruhig, wenn ich so ganz entspannt in den Armen und im Schoß meiner Herrin liege, träge und faul genannt werden. 25 Götter im Himmel, welch eine allerliebste Schar sind doch die Mädchen - eine Schar, die den Herzen der Männer Fallen stellt. Beschwingt und geil zieht sie hier mit den Augen, dort mit ihrem Gang unsere Herzen in ihren Bann. Hartherzig ist, ach, wer ein Mädchen ungerührt anschauen kann 30 und ohne von Liebe ergriffen zu sein. Ich bin nicht so; denn mich hat die Natur den Mädchen gefällig geschaffen und bereit, den Hals unter das Joch zu beugen. Mag ich ruhig bei allen ins Gerede kommen: Ich kümmere mich nicht um das Geschwätz der Menge. Wahre Liebe pflegt taube Ohren zu haben. 35 Mein Leben, sei mir gewogen, und es möge dir, bitte ich, süß sein, nach Art der Tauben mit mir zusammen mitten in der Liebe sterben zu können. Elegie ‹2›. Nicht fordere ich Reichtümer, nicht den nutzlosen Namen der Väter, nicht, die höchste Stelle einnehmen zu können: Was ist das, wenn nicht Sorgen, die uns mit sich reißen und ziehen und kein bisschen Zeit frei sein lassen? 5 Danach sollen andere streben, denen der unersättliche Durst nach Ruhm und Lob das Herz umschleicht. Mir gefiele es, weit entfernt vom wahnsinnigen Geschrei des Pöbels an einem ruhigen Orte alt zu werden. Auf dem Land will ich wohnen - lebt wohl, ihr Städte -, denn der Geist, der es nicht zulässt, in diesen 10 Grenzen eingeschlossen zu werden, strebt nach den hohen Sternen. Auf dem Land will ich ein kleines Saatfeld haben und einen kleinen Acker dortselbst, der das Vieh und den Herrn ernähren kann. Ich werde die Könige verachten, zufrieden mit einem bescheidenen Haufen Getreide, und ich werde in kleinen Hütten die hohen Paläste verachten. 15 Meine Sylvia wird mir als Gefährtin die verdrießlichen Sorgen lindern, und sie wird mir an den einsamen Orten eine Gesellschaft sein. Sie will ich gewinnen, Rivale, geh’ fort, nichts helfen hier deine Geschenke, nichts nützen deine Winke und Fallen. Hier wird es nur erlaubt sein, das unschuldige Vieh zu beobachten, 20 und der Wald wird keine Keime der Lasterhaftigkeit hervorbringen. <?page no="164"?> 2 Text und Übersetzung 164 Mutua cum tremulae iungent sua rostra columbae Et lepidum veneris perficietur opus, Tunc ego commonear, tunc oscula blanda labellis Furer et huc illuc labra proterva feram. 25 Fusus in amplexu citharae ridebo querelas, Rivalis surdas quas dabit ante fores. Est aliquid spectare rates è littore ponti Errare et tristi ludibrium esse Noto, Est aliquid miseros miseri ridere screatus 30 Rivalis blando virginis in gremio. Sic ego sim, dirasque mihi voveatis, amantes, Cumque meâ aeternâ differar invidiâ; Intereà tamen usque, sinet dum fortior aetas, Delectet varias nectere blanditias. Eleg. II. 22 Veneris F 34 nectare F <?page no="165"?> Elegia. ‹II.› 165 Wenn die bebenden Tauben gegenseitig ihre Schnäbel aneinander reiben werden und das allerliebste Werk der Venus vollendet wird, dann wird mich dies ermuntern, dann will ich schmeichelnde Küsse von ihren Lippen rauben und meine kecken Lippen dahin und dorthin bewegen. 25 Hingegossen in ihre Umarmung werde ich die klagenden Töne der Lyra verlachen, die der Rivale vor den tauben Toren darbieten wird. Es ist etwas wert, von der Meeresküste aus zu beobachten, wie die Schiffe umherirren und dem grimmigen Südwind zum Spielball dienen; es ist etwas wert, die unglücklichen Krächzer des unglücklichen 30 Rivalen im kosenden Schoße einer jungen Frau zu verlachen. So will ich sein, und ihr Liebenden mögt Verwünschungen gegen mich ausstoßen, und ich mag wegen des ewigen Neides auf mich verleumdet werden; derweil wird es mich dennoch, solange es das noch kräftige Alter erlaubt, erfreuen, vielfältige Liebkosungen folgen zu lassen. <?page no="167"?> 3 Kommentar 3.1 Paratexte Wenn man frühneuzeitliche Drucke aufschlägt, beginnt der Text in der Regel nicht unmittelbar, sondern wird durch Widmungen und Vorreden eingeleitet. Für alle Textstücke, die nicht zum Haupttext gehören, hat Genette den Begriff „Paratext“ geprägt, den er folgendermaßen definiert (Genette 1989, 10): „Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.“ Darunter fallen nicht nur Vorreden, sondern z.B. auch Titel und Autorenname. In der Antike waren einleitende Passagen zunächst nicht klar vom Text getrennt. Dies gilt z.B. für die Proömien der homerischen Epen, aber auch für antike Dramenprologe, die zwar deutlicher abgesetzt, aber wie der Haupttext in Versen verfasst waren. In der Prosaliteratur sind hier vor allem die Proömien von Geschichtswerken und Reden zu nennen. Prosavorreden zu einem poetischen Werk gibt es dagegen erst seit Martial und Statius. (Vgl. Johannsen 2006, 26-35.) Die Paratexte bilden eine „Schwelle“ (Genette 1989, 10), die der Leser auf dem Weg zum Text überschreitet, bzw. eine Art „Vorzimmer“ oder „Eingangsbereich.“ Der Leser erfährt hier, was ihn bei der Lektüre erwartet, und kann sich daraufhin zum „Eintreten“ oder „Umkehren“ entschließen. Der Titel bietet dabei schon erste grundlegende Informationen zum Thema, das in den Vorreden genauer dargelegt wird. (S.u. die Einleitungen zu den einzelnen Texten.) Schoonhoven führt den Leser in den Amores Pastorales stufenweise an den Text heran. In den beiden Prosavorreden - einer Widmung an zwei Altersgenossen und einer Vorrede an den Leser - spricht der Autor selbst und grenzt sich dabei deutlich vom fiktiven Sprecher der Gedichte an Lalage ab. Besonders deutlich wird dies in der pointierten Behauptung, Schoonhoven schreibe zwar Liebesgedichte, sei aber selbst nicht verliebt. (S. den Komm. zu Ad Lect.: non amantes amores scripsimus.) Es wird sorgsam zwischen dem Inhalt der spielerischen, frivolen Gedichte und dem sittsamen Leben des Verfassers unterschieden. Die Praefatio, eine recusatio in Versen nach antikem Vorbild (s. die Einleitung zur Praef.), bewegt sich dagegen schon in der bukolischen Sphäre. Der Autor beginnt, in die persona des Hirten zu schlüpfen. Die Wiesen und Täler stehen hier zwar noch metaphorisch für die bukolische Dichtung (s. den Komm. zu Praef. 5-6: in virentis prati gramine), doch ist die poetische Reflexion nicht mehr distanziert, und im Gegensatz zu den Prosavorreden <?page no="168"?> 3 Kommentar 168 fehlt eine deutliche Abgrenzung des Sprechers von den fiktiven Personen der folgenden Gedichte. Andererseits ist der Sprecher der Praefatio noch nicht mit dem Hirten Daphnis identisch. Er singt von Lalage (Praef. 8: [nobis sufficiet] Lalagen sonare), aber er wirbt nicht als Liebender um Lalage. Die Aussage „ich sitze im Gras und besinge Lalage“ heißt folglich „ich dichte über einen Hirten, der im Gras sitzt und Lalage besingt“; oder, um mit Macleod zu sprechen (1984, 205): „the poet is described as doing what he describes being done.“ Das Motiv des Poeta Creator hat Lieberg in zwei Monographien ausführlich untersucht (Lieberg 1982 und 1985; eine allgemeine Einführung bietet er 1982, 1-3). Lieberg zitiert dort (1982, 1) einen Leidener Professor, Johann Friedrich Gronov, der 1637 schrieb: quae enim scribebant facta esse Poetae, ea ipsi facere vel gerere dicebantur. Ein „Ich, der dich liebende Hirte“, der Lalage in der zweiten Person anspricht, tritt erst in den Gedichten an Lalage auf (zuerst Lal. 1, besonders deutlich 1,21: non te praeripiet Pan mihi; 1,25-26: nexilibus te te ego brachiis / stringam). Der Schritt vom bukolischen Dichter der Praefatio zum dichtenden und singenden Hirten in den Gedichten an Lalage ist nicht groß. Schmidt (1972, 52) sieht den bukolischen Dichter immer auch als Sänger, ob er in der Rolle des Dichters oder in der Rolle einer anderen Person spricht. „So hat denn Vergil auch seine bukolischen Gedichte nicht gedichtet, sondern gesungen“ (Schmidt 1972,45-46). Andererseits sind die Hirten in der antiken Tradition stets Sänger und Dichter (vgl. z.B. Verg. ecl. 1,2: silvestrem tenui Musam meditaris avena; in den Amores Pastorales z.B. Lal. 21,4: carmina cantito; 40,49: dulce cantarem melos). Um den unterschiedlichen Charakter der Prosavorreden einerseits und der Praefatio andererseits zu verdeutlichen, kann man mit Felgentreu (1999, 13-18) zwischen „selbständiger Vorrede“ und „integrierter Vorrede“ unterscheiden. Schoonhovens Praefatio gehört als „integrierte Vorrede“ demnach bereits enger zum Text des eigentlichen Gedichtzyklus. Der Dichter spricht dort nicht mehr als Floris van Schoonhoven, sondern als Priester der Musen (s. Praef. 18: Aonidum cano sacerdos). Formal zeigt sich die größere Nähe zum Haupttext daran, dass die Praefatio im Unterschied zur Widmung und zur Vorrede an den Leser in Versen verfasst ist, und zwar in einem Metrum, das auch innerhalb der Gedichte an Lalage vorkommt (Phalaeceen; z.B. auch Lal. 6). Eine gewisse Sonderstellung hat das Motto Ex Anacreonte inne, das als Zitat gekennzeichnet ist (s. dazu die Einleitung zu Ex Anacr.) und somit nicht zu den von Daphnis gesungenen Liebesliedern gehört. Andererseits ist das Motto auch nicht mehr Teil der (selbständigen und integrierten) Vorreden, in denen über die folgende Dichtung reflektiert wird. Als Kommentar zum Thema „Liebe“ steht es bereits auf der Ebene der fiktiven Lie- <?page no="169"?> Autor und Titel 169 besgeschichte. Inhaltlich könnte man sich die Verse durchaus bereits von Daphnis gesprochen denken. Dass mit Ex Anacreonte die Liebesgeschichte beginnt, legt auch die graphische Gestaltung des Leidener Druckes nahe: Die Widmung als erster Text des Buches beginnt mit einem Schmuckbuchstaben; darauf folgen die Vorrede an den Leser und die Praefatio jeweils ohne Schmuckbuchstaben (Ded. und Praef. kursiv und in gleicher Schriftgröße, Ad Lect. recte). Das Motto erhält dann wieder einen Schmuckbuchstaben, wodurch ein neuer Einsatz markiert ist. Zudem ist Ex Anacreonte in gleicher Schriftgröße gedruckt wie die Gedichte an Lalage (etwas kleiner als die Vorreden), und Ad Lalagen Carmen I folgt ohne Seitenumbruch auf das Motto. Dass mit Ex Anacreonte eine neue Seite beginnt, ist Platzgründen geschuldet und daher nicht aussagekräftig. In die Sammlung der Delitiae Poetarum Belgicorum wurden die Praefatio und das Motto aufgenommen, nicht aber die Prosavorreden. Offenbar betrachtete man die beiden in Versform verfassten Paratexte als Teil des Gedichtzyklus. Dies passt zu der obigen Beobachtung, dass der Sprecher in den Amores Pastorales schrittweise vom Autor (Ded.; Ad Lect.) über einen bukolischen Musenpriester (Praef.) zum fiktiven Hirten Daphnis (Gedichte an Lalage) wird. In der Praefatio beginnt Schoonhoven bereits, die Maske des Hirten anzulegen, und das Motto ist inhaltlich wie graphisch eng mit dem Haupttext verbunden. Folglich durften diese beiden Texte auch im Nachdruck nicht fehlen, während man auf Schoonhovens Rechtfertigung seiner spielerischen Dichtung augenscheinlich verzichten konnte. Dass die Widmung, durch die Schoonhoven eine persönliche Verbundenheit zu den Widmungsadressaten ausdrückt, in einer Sammlung zahlreicher verschiedener Autoren ausgelassen wird, überrascht ebenfalls nicht. Autor und Titel Im Erstdruck (Leiden 1613) stehen Autor und Titel auf einer separaten Seite zu Beginn des Buches, und zwar in der Form F LOR . S CHOONHOVII / L ALA- GE . / SIVE A MORES / P ASTORALES . Die Herkunft Schoonhovens entnimmt man bereits dem Titel des gesamten Gedichtbandes: Flor. Schoonhovii Goudani Poemata antehac non edita; die Angabe Goudanus wird bei keinem der einzelnen Bücher wiederholt. Die Sammlung Delitiae Poetarum Belgicorum (Frankfurt 1614) reiht die Texte verschiedener Autoren ohne Seitenumbruch aneinander, getrennt jeweils durch einen langen Strich. Die Überschrift zu Schoonhovens Gedichten lautet hier F LORENTII S CHOONHOVII G OVDANI . / Lalage, sive Amores Pastorales. Schoonhoven wählt nur für dieses Gedichtbuch einen doppelten Titel, dessen zwei Angaben durch sive verbunden sind. Eine strenge Unterscheidung zwischen „Thema“ und „Gattungsangabe“, wie sie Genette vor- <?page no="170"?> 3 Kommentar 170 nimmt, liegt hier jedoch nicht vor (vgl. Genette 1989, 82-89 und 94-102; zum Titel insgesamt 58-102), sondern alle drei Begriffe sagen sowohl über das Thema - eine Liebesgeschichte von Hirten - als auch über die Gattungszugehörigkeit - Lyrik, Liebeselegie, Bukolik und Roman - etwas aus. (Zur Gattungsmischung s. Kap. 1.2.2.1; zum Titel 1.2.2.2.) Dedicatio In der Leidener Erstausgabe folgt auf die Titelseite des Buches ein Widmungsbrief (Widmungsepistel) 512 mit den traditionellen Grußformeln des lateinischen Briefes. (S.u. die Kommentare zu s[alutem] und valete et me amate; zur Widmung als Brief vgl. Schramm 2000, 111-120.) Die Zueignung war in der Frühen Neuzeit ein weit verbreiteter Bestandteil publizierter Werke. (Vgl. Genette 1989, 115-140; Schramm 2000 passim, hier bes. 1-31; 146-162.) Oft richtete sie sich an hochstehende Persönlichkeiten und Gönner, von denen der Autor als Gegenleistung eine finanzielle Unterstützung erwarten konnte. Zudem wurde der Widmungsadressat häufig als „Patron“ angesprochen, dessen Name Schutz vor Angriffen möglicher Kritiker verbürge. Als ästhetisches Vorbild für Widmungsgedichte der Frühen Neuzeit war Catull sehr beliebt. (Vgl. Schramm 2000, 6; s.u. zu non diu … dedicarem.) Wohl um möglichst viele Bekannte ansprechen zu können, hat Schoonhoven jedem einzelnen Buch des Sammelbandes Poemata antehac non edita erneut eine Widmung an jeweils unterschiedliche Personen vorangestellt. Besonders repräsentativ ist die Zueignung des gesamten Werkes an Aemilius Rosendalius. (S. Kap. 1.1.2.) Schoonhovens Widmung der Amores Pastorales an zwei adolescentes dient ganz offensichlich nicht dem Zweck, sich einflussreiche Mäzene gewogen zu machen. Hier handelt es sich um den selteneren Fall einer Freundschaftswidmung, durch die Freunde gleichen Ranges geehrt werden sollen. (Vgl. Schramm 2000, 5; Genette 1989, 116 und 128.) Simon Langius aus Schoonhoven und Nicolaus Goutswaert aus Zeeland waren um etwa vier Jahre ältere Studienkollegen Floris van Schoonhovens. Im Mai 1607 hatten sie sich, beide siebzehnjährig, in Leiden als Litterarum Studiosi immatrikuliert. (Vgl. Album studiosorum Academiae Lugduno Batavae, 1875, 87.) Die Spur des Nicolaus Goutswaert verliert sich daraufhin, doch von Simon Langius wissen wir, dass er schließlich Jura studierte. Anlässlich seiner erfolgreich gehaltenen disputatio schrieb Schoonhoven ihm ein carmen gratulatorium, in dem er den scharfen Verstand und die Geisteskraft 512 Genette (1989, 115) unterscheidet zwischen dem „Widmen“ eines einzelnen Exemplars und dem „Zueignen“ eines Werkes. Ich verwende die Begriffe „Widmung“ und „Zueignung“ hier synonym für die öffentliche Widmung eines Werkes. <?page no="171"?> Dedicatio 171 des aufstrebenden jungen Juristen lobte. (Var. Carm., S. 85-86: Honori doctissimi iuvenis Simonis Langii cum Leydae theses iuridicas defenderet. Ode.) Ahsmann (1990, 518) datiert Langius’ disputatio wohl deshalb auf einen Zeitraum zwischen 1611 (Schoonhovens Ankunft in Leiden) und 1613 (Erscheinen der Varia Carmina). Simon Langius revanchierte sich für das Gratulationsgedicht mit einem sogenannten Ehrengedicht in Form einer Ode in alkäischen Strophen, das wir zu Beginn der Poemata antehac non edita finden. (Zu Ehrengedichten vgl. Schramm 2000, 52-64; s. auch Kap. 1.1.2.) Simon Langius immatrikulierte sich im Mai 1614 in Orléans. Am 28. September 1614 trug er sich in das „Album van de Nederlandse Natie te Angers“ ein (fol. 10r). Im Juni 1616 wurde er als Advocat am Hof van Holland zugelassen. (Vgl. Ahsmann 1990, 518; dieselben Stufen durchlief auch Schoonhoven; s. Kap. 1.1.1.) Schoonhoven formuliert in seiner Freundschaftswidmung explizit den Anspruch, dass Widmungsadressaten und Werk zueinander passen müssen. (Vgl. dazu auch Schramm 2000, 133-135.) So wählt er als „Schutzherren“ seiner spielerischen Liebesdichtung junge Männer, deren Alter der Liebe und damit dem Thema der folgenden Gedichte angemessen sei. (S. auch den Komm. zu Ad Lect.: et certe … numquam.) Auch der Stil, in dem die Zueignung verfasst ist, passt zum Thema und zu den Adressaten: Der Ton ist kolloquial, und die Percontatio (sed quid bis sic est) suggeriert eine Gesprächssituation. Die Rechtfertigung des gewählten Themas erfolgt in scherzhafter Form mit Pointe. (S.u. den Komm. zu amo certe … sorores; zur Verteidigung der Liebesdichtung ausführlicher die Einleitung zu Ad Lect.) doctissimis … adolescentibus Den Anreden in Widmungen sind in der Regel mehrere ehrenvolle Bezeichnungen beigegeben. Superlative wie doctissimus dienten schon in der Antike der lobenden Hervorhebung; vgl. z.B. Stat. silv. 2, praef.: iuvenem candidissimum et … doctissimum; Plin. 3,13,5: sed quid ego haec doctissimo viro? (S. auch den Komm. unten zu ornatissimi.) • s[alutem] Die übliche Form einer lateinischen Briefanrede besteht aus dem Namen des Absenders im Nominativ, dem Namen des Empfängers im Dativ sowie salutem (plurimam) dicit (oft abgekürzt). Schoonhoven lässt seinen Namen, der bereits auf dem Titelblatt genannt ist, hier weg, so dass s<alutem dico> ergänzt werden muss. Die Anrede an einen Adressaten ist schon in den praefationes des Martial und des Statius fast durchgängig vorhanden (Ausnahme: Mart. 1, praef.); dort in der konventionellen Form bis auf das freundschaftliche have, mi Torani in Mart. 9, praef. • non diu … dedicarem Vgl. dagegen Stat. silv. 1, praef.: diu multumque dubitavi, Stella iuvenis optime … an hos libellos … ipse dimitterem. Statius widmet das erste Buch der Silven ebenfalls einem jungen Mann und verweist auf den Abstand dieser schnell entstandenen Kleindichtung zu seiner Thebais. Die Formulierung libellum … dedicarem geht auf Catull. 1,1 zurück: cui dono <?page no="172"?> 3 Kommentar 172 lepidum novum libellum. • omni patrocinio destitutum Das Buch wird personifiziert; s. auch unten: se recipit und flagitat. Die personificatio eines Buches findet sich z.B. auch in Ov. trist. 1,1. Dort ist das Verhältnis jedoch umgekehrt, denn der verbannte Ovid ist derjenige, der Schutz und Fürsprache brauchte. Allerdings fürchtet er, dass das patrocinium des Buches mehr Schaden als Nutzen bedeuten könnte; vgl. Ov. trist. 1,1,25-26: tu cave defendas, quamvis mordebere dictis: / causa patrocinio non bona maior erit. S. auch unten den Komm. zu patronos. • quid enim … amantibus Die Auswahl der Adressaten muss sorgfältig getroffen werden, so dass deren Stand und Persönlichkeit zum jeweiligen Werk passt. (S. auch die Einleitung.) • ornatissimi Schon in der Antike als besonderes Lob gebraucht; vgl. z.B. Cic. Mur. 54: Postumo, familiari meo, ornatissimo viro … respondebo; Planc. 29; Stat. silv. 4, praef.: iuvenem … inter ornatissimos secundi ordinis. (S. auch oben den Komm. zu doctissimis … adolescentibus.) • fetus Hier ein literarisches Erzeugnis wie z.B. Catull. 65,3: Musarum … fetus. (Vgl. OLD s.v. fetus 2 4c: „a product of the mind or imagination“.) Die Metapher aus dem Bereich der Geburt steht in einem Spannungsverhältnis zur jungfräulichen Keuschheit der Musen, auf die auch Schoonhoven abhebt (s.u.: illas lepidas novem sorores … virgineam mentem). Vgl. Godwin 1995 zu Catull 65,3. • se recipit In reflexiver Bedeutung „sich zurückziehen“, wobei der Aspekt der Sicherheit mitschwingt. (Vgl. OLD s.v. recipio 11 und 12.) • patronos Catull ruft in seinem Widmungsgedicht der Überlieferung zufolge eine Muse als Schutzherrin an; vgl. Catull. 1,9: <o> patrona virgo. Durch eine Konjektur, die Schoonhoven allerdings noch nicht vorlag (Bergk: … patroni ut ergo, von Fordyce 1978 z. St. unterstützt), würde schon bei Catull der Widmungsadressat Cornelius zum Patron des Buches. In der Neuzeit ist die Patronage eine wichtige Voraussetzung für die Publikation: Der Dichter erbittet vom Patron Schutz für sein Buch, d.h. sowohl Verteidigung des Werkes gegen Kritiker als auch finanzielle Unterstützung, und bietet ihm dafür die Nennung und damit die Verewigung seines Namens. (Vgl. Schramm 2000, 151-157.) Da die Zueignung an Langius und Goutswaert eine Freundschaftswidmung ist, geht es hier jedoch nicht um finanzielle Zuwendungen. (S. auch die Einleitung.) • eiusdem farinae Der Ausdruck ist sprichwörtlich (vgl. Otto 1962, 132); vgl. Pers. 5,115: cum fueris nostrae paulo ante farinae. • sed quid … sic est Die Percontatio mit kurzen, lebhaften Fragen bereitet den folgenden Scherz vor. Der lockere Ton passt zum Inhalt des angekündigten Werkes. • inspecto titulo Der Titel bietet in diesem Falle sehr konkrete Hinweise auf das Thema des Gedichtzyklus. (S. den Komm. zu „Autor und Titel.“) Martial verweist in seiner Praefatio zum ersten Buch auf den Titel (vermutlich M. Valerii Martialis Epigrammaton liber I; vgl. Johannsen 2006, 69), der ebenfalls bereits die Dichtung charakterisiert: Wem die Sprache der Epigramme zu direkt sei, potest epistula vel potius titulo contentus esse (Mart. 1, praef.; s. auch den Komm. zu Ad. Lect.: te <?page no="173"?> Dedicatio 173 itaque … abstineas). • varium quiddam et mutabile in vobis animadverto Es wird unterstellt, dass Simon Langius und Nicolaus Goutswaert das Büchlein zunächst mit ernsthafter Miene zur Hand nehmen, die Betrachtung des Titels bei ihnen jedoch Gelächter auslöst (s. auch die folgenden Sätze). Zur Formulierung vgl. Verg. Aen. 4,569-570: varium et mutabile semper / femina. • novum… et insuetum Nach eigener Aussage (s. Ad Lect.: non amantes) war Schoonhoven bisher nie verliebt. Die Rolle, die er in seiner bukolischen Dichtung nun übernimmt, ist neu und ungewohnt für ihn und auch für diejenigen, die ihn kennen. Dabei klingt neben dem Überraschenden auch der Aspekt der Unerfahrenheit an. (Vgl. OLD s.v. novus 16a.) • amo certè … sorores Das betont vorangestellte und insgesamt dreimal anaphorisch wiederholte amo suggeriert zunächst echte Verliebtheit. Es folgt eine Steigerung (hat der Dichter etwa mehrere Geliebte gleichzeitig? ), ehe Schoonhoven die Auflösung bringt: Gemeint ist natürlich seine keusche Liebe zu den Musen, d.h. zur Poesie. • lepidas Das Attribut deutet auf das hellenistische Stilideal hin, wie es z.B. Kallimachos vertritt. (Vgl. bes. Aet. 1,24: Μοῦσαν … λεπταλέην ; jedoch lag dieses Fragment Schoonhoven nicht vor, s. den Komm. zu Praef. 1-2.) Das Zarte und Feine ist insbesondere auch Kennzeichen bukolischer Dichtung; vgl. Verg. ecl. 1,2: silvestrem tenui Musam meditaris avena; 6,4-5: pastorem, Tityre, pinguis / pascere oportet ovis, deductum dicere carmen. S. auch den Komm. zu Praef. 8. Das lateinische Adjektiv lepidus ist als direktes Epitheton für die Musen erst in der Neuzeit gebräuchlich; vgl. z.B. Reusner, Philotesia 3, p. 314 (1593): lepidas amo camenas, / et carmen lepidum; Opitz Silv. 3, p. 86 (1631): hoc Phoebi lepidae rogant sorores. Die Verbindung wird jedoch dadurch nahegelegt, dass lepidus in der Antike sowohl in Bezug auf Frauen (z.B. Plaut. Rud. 419: mea lepida, hilara; Catull. 78,1: lepidissima coniunx) als auch in Bezug auf Dichtung (z.B. Catull. 1,1: lepidum novum libellum (s.o.); 6,17: lepido … versu) gebraucht werden kann. Im Folgenden verwendet Schoonhoven lepidus bzw. lepide in der Regel in erotischem Kontext; s. Lal. 2,33; 13,5; Eleg. 1,5; 1,25; 2,22 (s. aber noch Lal. 18,21 mit Komm.). So ist die Liebe zu den Musen zwar keusch, doch wird durch das Adjektiv dennoch das Heitere und Frivole der Dichtung betont. • novem sorores Zur Bezeichnung der Musen als „neun Schwestern“ vgl. z.B. Mart. 5,6,18: si novi dominum novem sororum. • virgineam mentem Dies geht auf Ov. met. 5,273-274 zurück, wo eine Muse von sich und ihren Schwestern sagt: omnia terrent / virgineas mentes. Eobanus Hessus versetzt die keuschen Musen in einen christlichen Kontext, indem er sie zu Beginn eines Lobpreises der Jungfrau Maria anruft; vgl. Buc. 11,16.18-20: ludite, Pierides … quae divinam spiratis ab aethere mentem, / caelestes animae, sanctorum numina vatum. / ludite, virgineae mentes, deducite carmen. S. auch oben den Komm. zu fetus. • animi causa „For pleasure or amusement“ (OLD s.v. causa 18d). In diesem Sinne oft bei Plautus (vgl. Meister: ThLL 3 [1907],682,17-18), z.B. Cur. 340; Epid. 45. Schoon- <?page no="174"?> 3 Kommentar 174 hoven wiederholt dieselbe Formulierung in der Vorrede Ad Lectorem, was zeigt, wie wichtig es ihm ist, den Lalage-Zyklus als vergnüglichen Zeitvertreib zu charakterisieren, aufgrund dessen man nicht seine Lebensführung beurteilen möge. (S. die Einleitung zu Ad Lect.) • Valete et me amate Schoonhoven gebraucht solche Wendungen, in denen er Abschiedsgruß und Bitte um Wohlwollen verbindet, formelhaft; s. z.B. Ad. Lect.: Vale et fave; vgl. Var. Carm., S. 34 (ebenfalls in einer dedicatio): Vale et me ama; Var. Carm., S. 75 (dedicatio): Vale et mihi, ut soles, fave. In den Prosavorreden von Martial und Statius ist ein schließendes vale nicht die Regel (nur Mart. 9, praef.; Stat. 3, praef.; 4, praef.). Vgl. weiter Mart. 9, praef. vers. 5-6: ille ego sum … / quem non miraris, sed, puto, lector, amas. • amate Trotz der Formelhaftigkeit des Abschiedsgrußes (s.o.) wird durch die Wahl gerade dieses Verbs in einem solchen Kontext (s.o.: amores amantibus; novumne et insuetum amatorem; amo certe, amo usw.) zumindest ein Anklang an die Liebesthematik erreicht. Ad benevolum Lectorem Nach der Widmung folgt in der Regel eine Vorrede an den Leser, deren wichtigste Aufgabe in der captatio benevolentiae besteht. (Vgl. im Folgenden Schramm 2000, 93-110.) Dazu beginnt man oft mit einer Anrede an den „geneigten Leser“ (benevolus lector), dem so bereits das erhoffte Wohlwollen unterstellt wird. Auch kann der Autor deutlich machen, an welchen Leserkreis er sich in erster Linie wendet. (S.u. den Komm. zu te itaque … abstineas.) Apostrophen an einen anonymen Leser gibt es schon seit Ovid; vgl. z.B. trist. 1,11,35: … quo magis his debes ignoscere, candide lector. (Vgl. Johannsen 2006, 210 mit Belegen in Anm. 377.) Die Vorrede bietet die Möglichkeit, zum Thema des Buches hinzuführen und dieses ggf. zu rechtfertigen. Durch Erklärungen, in welcher Absicht das Werk geschrieben sei, soll Missverständnissen vorgebeugt und damit ein günstiges Urteil erleichtert werden. Im vorliegenden Fall verweist Schoonhoven insbesondere darauf, dass seine Liebesdichtung der Unterhaltung dienen solle (s. ludicro carmine; animi causa lusimus), nicht aber als Indiz seiner Lebensführung gewertet werden dürfe. Wer nun das Buch liest, weiß, was ihn erwartet: nicht ernsthafte Belehrung, sondern vergnügliche Entspannung. So wird er für die Beurteilung Maßstäbe anlegen, die dieser heiteren Dichtung angemessen sind. Die Vorrede an den Leser wirkt ernster als die Widmung, die in größtenteils scherzhaftem Ton verfasst ist. Die Feststellung, Schoonhoven selbst sei nicht verliebt, ist in der Widmung als Witz mit Pointe formuliert (s. den Komm. zur Ded.: amo certe … sorores), während sie hier dazu dient, den Unterschied zwischen (fiktionaler) Literatur und Leben (pagina / vita) zu <?page no="175"?> Ad benevolum Lectorem 175 verdeutlichen und eine Distanz des Autors zu seinem eigenen Gedichtbuch zu markieren. In der christlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit bedurfte die heitere und frivole Liebesdichtung einer besonderen Rechtfertigung. Dazu wurden regelmäßig bestimmte Topoi bemüht, die auch Schoonhoven hier aufgreift: Betonung der eigenen keuschen Lebensweise (s. dazu den Komm. unten zu lasciva … proba), Verweis auf die Tradition der Gattung und Charakterisierung der Liebesdichtung als Jugendwerke, in denen eine größere Freizügigkeit erlaubt sei. Diese Argumente finden sich z.B. schon bei Eobanus Hessus; vgl. Buc. Id. ded. 63-68: multa meo, fateor, venus est in carmine, verum / quam ferat aut aetas, aut rude carmen amet. / quis non aetati iuvenili indulgeat istis / lusibus et casto forsan amore frui? / quis non Bucolico ferat has in carmine nugas, / quo nullum vena simpliciore fluit? Die Amores Pastorales sind nicht Ausdruck persönlichen Empfindens, sondern Schoonhoven dichtet sie zum Vergnügen (animi causa; so schon in der Ded.). Ähnliches sagt Daniel Heinsius in der Vorrede zu seinen Hinkjamben, die 1613 erstmals erschienen, also im gleichen Jahr wie Schoonhovens Poemata (vgl. Seidel 2006, 178, Anm. 25): scis nonnumquam ludos meos ac amores …, cum ad focum tecum sedeo, aut in mensa animum remittimus, non illibenter cantillare. (…) etiam qui vim amoris nunquam sunt experti, eius tamen, styli causa aut subjecti, saepe induunt affectus. (Zitiert nach Seidel 2006, 185.) Die Bukolik wurde als besonders geeignete Gattung für spielerische Dichtung empfunden. Dies geht auf Servius und Donat zurück, die Vergils Werke drei verschiedenen Stufen bzw. Stilformen zuordneten, wobei die Eklogen die unterste Stufe einnahmen und einen niederen (humilis, tenuis) Stil zugeschrieben bekamen. (Vgl. Krauss 1976, 140-142.) So konnte die Bukolik zu einer Gattung werden, in der sich vor allem Anfänger versuchten und in der statt gehobener Themen auch nugae (s.o. das Eobanus-Zitat) erlaubt waren. Eine weitere Verteidigungsstrategie besteht darin, auf große Dichter der Vergangenheit zu verweisen, in deren Nachfolge man sich sieht. Ovid wendet dieses Verfahren für die Liebesdichtung ausführlich an, indem er die griechischen und römischen Vorgänger von Anakreon bis Properz chronologisch aufzählt (trist. 2,363-466). Bei Schoonhoven findet sich diese Art der Rechtfertigung indirekt in der Praefatio (s. den Komm. zu Praef. 7: meus Catullus) und durch die Wahl des Mottos Ex Anacreonte (s. die Einleitung dort). S. auch Kap. 1.2.2.2. te oratum volo Die Bitte um wohlwollende Aufnahme des Werkes kennt man aus den antiken Komödienprologen; vgl. hier bes. Plaut. Cas. 21-22: vos omnis … esse oratos volo, benigne ut operam detis ad nostrum gregem. • ne … spectes Schoonhoven verbindet die captatio benevolentiae mit einer Kautel (zum Topos s.u. den Komm. zu lasciva … proba). Spectare heißt hier „beur- <?page no="176"?> 3 Kommentar 176 teilen“; vgl. z.B. Rhet. Her. 2,5: vita hominis ex ante factis spectabitur. (Vgl. OLD s.v. specto 6c.) • ludicro carmine Die Bezeichnung des Gedichtzyklus als ludicrum carmen ist programmatisch. Ludere und verwandte Wörter haben oft eine erotische Konnotation (s. den Komm. zu Lal. 18,1; weiter Lal. 24,15). Ludicer wird schon in der Antike in Bezug auf spielerische Dichtung, insbesondere Liebesdichtung, gebraucht; vgl. bes. Apul. apol. 9: fecit vorsus Apuleius. … ludicros et amatorios fecit; 10: Mantuanus poeta [= Vergil] … puerum amici sui Pollionis bucolico ludicro laudans; ferner z.B. Hor. epist. 1,1,10: et versus et cetera ludicra. (Vgl. Clavadetscher: ThLL 7,2 [1956-1979], 1762,57-64 s.v. ludicer: de carminibus; s. auch unten den Komm. zu lusimus.) Zudem ist an zwei wichtige Prätexte der Amores Pastorales zu denken, an Navageros Lusus und vor allem an Flaminios Lusus Pastorales. (S. dazu Kap. 1.2.2.1.) In Lal. 39,11-12 nimmt Schoonhoven gegen Ende des Zyklus noch einmal indirekt auf die programmatische Äußerung Bezug (s. den Komm. dort). Zur Formulierung vgl. noch Cruquius zu Hor. carm. 1,23 (Ed. 1597, S. 54): hoc carmen plane est ludicrum. • lasciva … proba Durch ut ait ille macht Schoonhoven deutlich, dass ein echtes Zitat vorliegt, nämlich Mart. 1,4,8: lasciva est nobis pagina, vita proba. Dass auf Martial ohne Nennung des Namens einfach durch ille Bezug genommen wird, kommt auch sonst vor; vgl. z.B. Dousa d. Ä. Epigr. 2,31,16: velut ille vult. Der Gedanke geht auf Catull. 16,5-8 zurück: nam castum esse decet pium poetam / ipsum, versiculos nihil necesse est, / qui tum denique habent salem ac leporem, / si sunt molliculi ac parum pudici. (Zur „lex Catulli“ vgl. Schwindt 2002, passim.) Catull nutzt im selben Gedicht diese dichterische Freiheit in extremer Weise zu einem „kunstvolle[n] Spiel mit den selbsterhobenen poetischen Lizenzen“ (Schwindt 2002, 79; vgl. bes. Catull. 16,1-2 und 16,14). Gaisser (1993, 210) weist darauf hin, dass Martial sich enger an Ovid anlehne, wobei deren Version eine Vereinfachung gegenüber Catull darstelle. Sie begründet dies damit, dass Ovid und Martial sich jeweils ernsthaft gegenüber einem sittenstrengen Herrscher verantworten mussten. Vgl. bes. Ov. trist. 2,353-354: crede mihi, distant mores a carmine nostro / (vita verecunda est, Musa iocosa mea) und 2,357: nec liber indicium est animi sowie ferner 2,313: at cur in nostra nimia est lascivia Musa? ; 2,345: haec tibi me invisum lascivia fecit. Zum Topos, dass Dichtung frivol sein müsse, vgl. weiter Mart. 11,15,3-4.13: hic totus volo rideat libellus / et sit nequior omnibus libellis, / (…) mores non habet hic meos libellus; 1,35,3-5.10-14: hi libelli … non possunt sine mentula placere. (…) lex haec carminibus data est iocosis, / ne possint, nisi pruriant, iuvare. / quare deposita severitate / parcas lusibus et iocis rogamus, / nec castrare velis meos libellos. • lasciva Schoonhoven bezeichnet seine Dichtung programmatisch mit einem Adjektiv, das im Lalage-Zyklus meist im Zusammenhang mit Liebenden gebraucht wird (s. Lal. 2,18; 6,14; 24,30; 35,11). Zu den verschiedenen erotischen Konnotationen von lascivia/ lascivus vgl. Pichon 1966, 184. • teneris et iuvenilibus annis S.u. den Komm. zu et certe … numquam. <?page no="177"?> Ad benevolum Lectorem 177 • animi causa S. den Komm. zu Ded.: animi causa. • lusimus S.o. den Komm. zu ludicro carmine. Das Verfassen z.B. von Liebesdichtung, Epigrammen oder Eklogen kann ludere (griechisch: παίζειν ) genannt werden. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,32,1-2: si quid vacui sub umbra / lusimus.) All diese Gattungen haben Schoonhovens Lalage-Zyklus beeinflusst. (S. Kap. 1.2.2.1.) Für die Liebesdichtung vgl. z.B. Hor. carm. 4,9,9: si quid olim lusit Anacreon; für das Epigramm Catull. 50,2: multum lusimus in meis tabellis; Mart. 9,84,3: haec ego Pieria ludebam tutus in umbra; für die Bukolik Verg. ecl. 1,10: ludere quae vellem calamo permisit agresti; Verg. georg. 4,565 (über seine Eklogen): carmina qui lusi pastorum; Ov. trist. 2,537-538 (über Vergil): Phyllidis hic idem teneraeque Amaryllidis ignes / bucolicis iuvenis luserat ante modis. • non amantes amores scripsimus Wo Ovid seine persönliche Integrität unter Beweis stellen will (s.o. zu lasciva … proba), hebt auch er das Fiktionale seiner Liebesdichtung hervor; vgl. Ov. trist. 2,339- 340: ad leve rursus opus, iuvenalia carmina, veni, / et falso movi pectus amore meum; 355: magnaque pars mendax operum est et ficta meorum. Vgl. auch Heinsius’ Vorwort zu seinen Hinkjamben (zitiert oben in der Einleitung). • amores Im Plural kann amor metonymisch für Liebesgedichte gebraucht werden. So trugen die Liebeselegien Ovids und auch die (fast vollständig verlorenen) des Gallus den Titel Amores. Vgl. z.B. Ov. trist. 2,362: composui teneros non solus amores; Ov. ars. 3,343: [libri,] titulus quos signat amorum. • et certè … numquam Schoonhoven verbindet die beiden Topoi, dass es einem jungen Mann eher erlaubt sei, auch einmal in scherzhafter Weise zu dichten, und dass die Jugend das passende Alter für die Liebe sei. Zum zweiten vgl. z.B. Hor. carm. 1,9,15-18: nec dulcis amores / sperne, puer, neque tu choreas, / donec virenti canities abest / morosa; 1,30,7: parum comis sine te [sc. Venere] Iuventas; Ov. am. 1,9,3-4: quae bello est habilis, Veneri quoque convenit aetas: / turpe senex miles, turpe senilis amor; in der Neuzeit z.B. Eob. Buc. Id. 7,40-42: nisi me fallunt vitae spatia acta prioris, / et tua conveniens ludis iuvenilibus aetas, / morbus, quo langues, amor est. (S. auch die Einleitung.) Statius weist darauf hin, dass selbst berühmte Poeten in ihrer Jugendzeit scherzhafte Dichtung verfassten, und nennt als Beispiele den (pseudo-)vergilischen Culex und die (pseudo-)homerische Batrachomyomachie (vgl. silv. 1, praef.: … nec quisquam est illustrium poetarum qui non aliquid operibus suis stilo remissiore praeluserit). • te itaque … abstineas Der Leser wird aufgefordert, sich der Lektüre entweder ganz zu enthalten, oder aber sich in angemessener Weise darauf einzulassen; vgl. dazu auch Mart. 1, praef.: non intret Cato theatrum meum, aut si intraverit, spectet. (S. auch den Komm. zu Ded.: inspecto titulo.) Zur Bitte, spielerische Dichtung nicht zu ernst zu lesen, vgl. z.B. auch Mart. 10,64,1-2: contigeris, regina, meos si, Polla, libellos, / non tetrica nostros excipe fronte iocos. Welches Publikum Schoonhoven sich wünscht, führt er in der Praefatio (12-19) in scherzhafter Weise weiter aus. <?page no="178"?> 3 Kommentar 178 (S. auch den Komm. dort.) • vale et fave. S. den Komm. zu Ded.: valete et me amate. Praefatio Im Gegensatz zur Widmung und der Vorrede an den „geneigten Leser“ ist die Praefatio in Versen verfasst. Zusammen mit dem folgenden Ex Anacreonte bildet sie eine Schnittstelle zwischen den Prosavorreden und den Gedichten an Lalage. (S. die Einleitung zu den „Paratexten.“) Nachdem es Schoonhoven in der Vorrede an den Leser und (trotz des scherzhaften Tones) bereits in der Widmung ein wirkliches Anliegen war, seine Themenwahl zu rechtfertigen, folgt nun eine recusatio, die nicht mehr der Verteidigung dient, sondern bereits Teil des ludicrum carmen (Ad Lect.) ist. Wie zahlreiche Imitationen zeigen, stellt Schoonhoven seine Praefatio dabei bewusst in die Nachfolge der antiken recusatio. (Vgl. hier bes. Verg. ecl. 6,1-12; Verg. georg. 2,475-494; Hor. carm. 1,6; Prop. 3,1; 3,3; Ov. am. 2,1; Ov. trist. 2,307-350; vgl. dazu die Einzelstellen im Kommentar; zur recusatio der augusteischen Dichter und ihrem Verhältnis zu Kallimachos vgl. Wimmel 1960, passim; Cameron 1995, bes. 454-483.) Die spielerische Verwendung der Form erinnert insbesondere an die einleitenden Gedichte zu Ovids ersten beiden Büchern der Amores. Zu am. 2,1 bestehen zudem enge inhaltliche Parallelen: Die recusatio wird mit der Zurückweisung einer allzu strengen Leserschaft und Angaben zum erwünschten Publikum verbunden. (S. auch den Komm. zu 15.) Das Motiv des Schreibens über die Liebe aus innerer Notwendigkeit heraus (vgl. z.B. Ov. am. 1,1; Prop. 2,1,4: ingenium nobis ipsa puella facit) fehlt hier jedoch passend zu Schoonhovens Behauptung, er schreibe nicht als Verliebter. (S. Ad. Lect.: non amantes amores scripsimus.) Die Kriegsdichtung anderer wird der eigenen Liebesdichtung ohne ausdrückliche Wertung gegenübergestellt; favente Phoebo (1) deutet sogar eine prinzipielle Billigung an. Auch darin steht Schoonhoven in der Tradition der römischen recusationes, in denen im Gegensatz zu Kallimachos’ Aitienprolog apologetische Tendenzen überwiegen, nicht aber Polemik gegen epische Dichtung. (Vgl. Cameron 1995, bes. 454-460.) Eine indirekte Kritik derer, die nach Ruhm streben und sich selbst zum Himmel erheben, kann man vor dem Hintergrund des Gesamtwerkes annehmen (s. Kap. 1.1.2), doch wird dies hier nicht weiter ausgeführt. Der Text weist eine Struktur von zweimal zwei Teilen auf: Art der Dichtung anderer (1-4); Art der eigenen Dichtung (5-11); zurückgewiesenes Publikum (12-14); erwünschtes Publikum (15-19). Der positive Gegenpart umfasst jeweils knapp doppelt so viele Verse wie die Ablehnung (4/ 7; 3/ 5). Metrum: Phalaeceen. <?page no="179"?> Praefatio 179 1-2 Sonst ist es gerade Phoebus Apollon, der den Dichter am Singen von Kriegsepen hindert und ihn zu anderem mahnt; vgl. hier bes. Verg. ecl. 6,3- 5: cum canerem reges et proelia, Cynthius aurem / vellit et admonuit: ‚pastorem, Tityre, pinguis / pascere oportet ovis, deductum dicere carmen‘; weiter z.B. Hor. carm. 4,15,1-2: Phoebus volentem proelia me loqui / victas et urbis increpuit lyra; Prop. 3,3. Das Motiv lässt sich bis zu Kallimachos’ Aitienprolog zurückverfolgen (bes. 1,19-28). Da dieser nur auf Papyrus überliefert ist und erst 1927 wiederentdeckt wurde, kannte Schoonhoven ihn jedoch nicht. Vgl. Cameron 1995, 104 und 476; die Edition Schneiders von 1873 zeigt, dass die Sekundärüberlieferung nur winzige Bruchstücke bietet, darunter keines der hier zitierten Fragmente. tonant … versus bellicrepos ducesque fortes Zeugma. tonant Vgl. OLD s.v. 3b: „to utter thunderously“; hier bes. Mart. 8,3,14: bella tonare (dort für: „ein Epos dichten“; s. auch den Komm. zu 12- 14 und die Einleitung). Auch das „Donnern“ der epischen Verse findet sich schon bei Kallimachos; vgl. Aet. 1,19-20 (nur auf Papyrus überliefert): µηδ ’ ἀπ ’ ἐµεῦ διφᾶτε µέγα ψοφέουσαν ἀοιδήν / τίκτεσθαι· βροντᾶν οὐκ ἐµόν , ἀλλὰ ∆ιός . alii Vgl. z.B. Ov. trist. 2,529: bella sonant alii. bellicrepos Das Wort ist erst im 8. Jahrhundert n. Chr. belegt, dort vom Waffentanz: bellicrepam saltationem dicebant quando cum armis saltabant. (Paul. Fest. p. 35; vgl. B. A. Müller: ThLL 2 [1900-1906],1810,69-72.) duces Der locus classicus für die Metonymie duces für den Krieg als Thema von Gesang ist das „Grabepigramm“ Vergils (Don. vita Verg. 136-137): Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc / Parthenope; cecini pascua, rura, duces. • 3-4 Es vermischen sich zwei Bilder, das Aufschwingen (evehunt) zum Himmel und das Entlangfahren am ganzen (universum) Himmel. pariter All diejenigen, die Epen dichten, erstreben in gleicher Weise Ruhm. Pariter ist hier als „in the same manner, alike“ (OLD s.v. 3a) zu verstehen, nicht als „gemeinsam“ oder „gleichzeitig.“ famae curribus Die Junktur hat Schoonhoven von Statius übernommen, wo sie in einem Gedicht gleichen Metrums ebenfalls am Versanfang steht (silv. 2,7,107-108): at tu [Seele des Lucan nach dem Tod], seu rapidum poli per axem / famae curribus arduis levatus …. Der Ruhmeswagen hat keine weitere antike Parallele, doch ist es eine gängige Vorstellung, dass der Dichter durch seinen Ruhm erhoben wird. (Vgl. van Dam 1984 zu Stat. silv. 2,7,108.) Schoonhoven ersetzt das passive levatus (vgl. auch Prop. 3,1,9: me Fama levat) durch eine aktive Handlung der Dichter, die sich im Ruhmeswagen selbst emporschwingen. Olympum Synekdochisch für den Himmel. (Vgl. OLD s.v. 1c; ebenso per axem bei Statius, s.o.) • 5-8 Kallimachos vergleicht die homerische Dichtung mit der Weite des Meeres, seine eigene dagegen mit dem Wasser der reinen Quelle (Apollhymnus 105-112). Neben der Metapher „Meer“ für „Epos“ (vgl. in der römischen Literatur z.B. Prop. 3,9,3: quid me scribendi tam vastum mittis in aequor? Ov. trist. 2,329-330: non ideo debet pelago se credere, siqua / audet in exiguo ludere cumba lacu) kann Dichtung allgemein als Feld oder Ebene <?page no="180"?> 3 Kommentar 180 bezeichnet werden. Vgl. z.B. Ov. trist. 2,327: tenuis mihi campus aratur; am. 3,15,16.18-19 [Schluss der Amores]: aurea de campo vellite signa meo / (…) pulsanda est magnis area maior equis. / imbelles elegi, genialis Musa, valete; fast. 4,9-10; Stat. silv. 4,7,1; dazu OLD s.v. campus 5b: „the subject-matter or sphere of an orator or writer.“ Das „Feld“, das Schoonhoven nun bearbeiten will, sind die grünen Wiesen und Täler der bukolischen Dichtung. • 5 nobis sufficiet So leitet Schoonhoven auch die Schlussverse des Gedichtes Leydam tendens hortulo suo valedicit ein (Var. Carm., S. 81-83): nobis sufficiet sonorus amnis / aut solamen agri, volucris alto / ramo pendula concinens Tonantem. Dort wie auch in anderen Gedichten der Varia Carmina stellt Schoonhoven dem Leben eines Städters, der von Sorgen aufgerieben wird, das sorgenfreie Landleben gegenüber. (S. dazu ausführlich die Einleitung zu Eleg. 2.) • 5-6 in virentis prati gramine Das grünende Gras kann Teil eines bukolischen locus amoenus sein (s. den Komm. zu Lal. 1,6-12), oft in Verbindung mit einer schattigen Quelle. Vgl. z.B. Theoc. 5,31-34: ἅδιον ᾀσῇ / τεῖδ ’ ὑπὸ τὰν κότινον καὶ τἄλσεα ταῦτα καθίξας . / ψυχρὸν ὕδωρ τουτεὶ καταλείβε ται· ὧδε πεφύκει / ποία ; Lucr. 2,29-30 (= 5,1392-1393): prostrati in gramine molli / propter aquae rivum sub ramis arboris altae; Verg. ecl. 3,55: molli consedimus herba; 10,42: hic gelidi fontes, hic mollia prata. (Man beachte hier auch die Erwähnung des Krieges in 10,44-45 als Gegensatz zu dieser Ruhe; s. dazu den Beginn der Praefatio.) Properz (3,3,18) wählt das weiche Gras als Metapher für seine Liebesdichtung: mollia sunt parvis prata terenda rotis. (Vgl. dazu Cameron 1995, 474: „All elegists were automatically molles.“) Die Ermahnung ist Apoll in den Mund gelegt (s. den Komm. zu 1-2). Zur Verwendung von mollis s. auch V. 11 mit Komm. vallibusve curvis Das Tal, in dem die Quelle Aganippe entspringt, ist ein Ort der Musen; vgl. Iuv. 7,6-7: … cum desertis Aganippes / vallibus esuriens migraret in atria Clio. Zur Formulierung vgl. Ov. am. 2,16,52: et faciles curvis vallibus este, viae. • 7 meus Catullus Schoonhoven imitiert ein von Plinius zitiertes Gedicht eines Sentius Augurinus, der sich ebenfalls im catullischen Versmaß des Phalaeceus in die Nachfolge Catulls gestellt hatte; vgl. Plin. epist. 4,27,4 v. 1-2: canto carmina versibus minutis, / his olim quibus et meus Catullus. Ovid nennt Catull als ersten Verfasser von Liebesgedichten in einer Reihe, die mit den Liebeselegikern Gallus, Tibull und Properz schließt und als deren Nachfolger Ovid sich selbst sieht (vgl. trist. 2,427-470). Dass Schoonhoven Catull hier in eine bukolische Umgebung versetzen kann, indem er ihn die „Wiesen und Täler“ der Hirtendichtung bewohnen lässt, wird durch die bereits in der Antike gegebene Verbindung von Bukolik und Erotik erleichtert: So spielen Tibulls Elegien oft in ländlicher Umgebung, Hirten singen von ihrer Liebe, und Vergil (ecl. 10) versetzt den Liebeselegiker Gallus in ein Hirtengedicht. (S. auch Kap. 1.2.2.1.) Catull bietet sich als Vorbild einer dezidiert spielerischen und oft frivolen Dichtung an, wenngleich Schoonhoven sich derberer Obszönitäten, wie sie bei Catull zu finden sind, <?page no="181"?> Praefatio 181 enthält. Gerade in der Praefatio bemüht Schoonhoven sich um besonders deutliche Catullimitationen (s. V. 7; 10; 13-14; 16). • 8 Nachdem Schoonhoven sich im vorigen Vers ausdrücklich in die Nachfolge Catulls gestellt hat, evoziert er durch seine Wortwahl nun indirekt zwei weitere wichtige Prätexte der Amores Pastorales, Vergils Eklogen und die Oden des Horaz. agresti … Musâ Vgl. Verg. ecl. 6,8: agrestem tenui meditabor harundine Musam. Schoonhoven übernimmt auch die Rahmung des Verses. Vergil wiederum imitiert Lukrez (5,1398: agrestis enim tum musa vigebat), ruft durch tenui aber auch den Ausdruck Μοῦσαν … λεπταλέην (Aet. 1,24) des Kallimachos auf und zeigt sich damit dessen Stilideal verpflichtet. (Vgl. Clausen 1994 z. St.; s. auch den Komm. zu Ded.: lepidas.) Sehr ähnlich ist auch der Vers silvestrem tenui Musam meditaris avena (Verg. ecl. 1,2), der programmatisch am Beginn der Eklogen steht. Lalagen Bei Horaz heißt so die Geliebte in zwei Oden (carm. 1,22 und 2,5). Der Name Lalage ist nur selten belegt. Er wird mit λαλαγεῖν in Verbindung gebracht, einer Nebenform zu λαλεῖν („schwätzen“). Derivate von λαλεῖν kommen oft in der Liebespoesie vor; vgl. z.B. Meleager AP 5,148,1 [= HE 4242]: εὔλαλον Ἡλιοδώραν ; 5,149,1 [= HE 4162]: Ζηνοφίλαν λαλιάν ; 5,171,1-2 [= HE 4182-4183]: τᾶς φιλέρωτος / Ζηνοφίλας ψαύει τοῦ λαλιοῦ στόµατος . Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975/ 1978 zu Hor. carm. 1,22,10 und 2,5,16. Lalagen sonare Der erste, der von sich sagt, er besinge Lalage, ist Horaz; vgl. carm. 1,22,10: meam canto Lalagen. Navagero stellt sich in einer recusatio in die Nachfolge antiker lyrischer Dichter. Dabei nennt er Horaz nicht namentlich, sondern verweist durch die Periphrase „der Lalage besingt“ auf ihn. Vgl. Navag. Lus. 36,9-10: sua laus sequetur / candidae vultus Lalages canentem; das Gedicht ist wie Hor. carm. 1,22 in Sapphischen Strophen verfasst. Vor dem Hintergrund der Horazode sowie Navageros Imitation muss Lalagen sonare als „lyrische Gedichte in der Art des Horaz verfassen“ verstanden werden. Schoonhoven zeigt dabei ein größeres dichterisches Selbstbewusstsein als Navagero, indem er sich selbst als jemanden charakterisiert, der - wie einst Horaz - von Lalage singt. Auch in den Varia Carmina stellt er sich zweimal in solcher Weise als horazischer Dichter vor; vgl. Var. Carm., S. 48: [mihi videbar] montis gelidis cubans in antris / arguto Lalagen sonare cantu (s. auch die Einleitung zu Lal. 4); S. 110: … dum me canentem floridis in vallibus / Lalagen decoram perfidum crepusculum / iuctas avenas cogeret deponere. S. auch die Einleitung zu den „Paratexten.“ sonare Zu diesem Gebrauch des Verbs vgl. z.B. Verg. ecl. 1,5: resonare doces Amaryllida silvas; 6,44: ut litus ‚Hyla, Hyla’ omne sonaret. • 9 Das Epos als Thema der Dichtung wurde abgelehnt (s.o. V. 1-4), und so werden auch die Waffen des Krieges, die ernsthafte Verletzungen zufügen könnten, gemieden. Finger und Zähne sind die Waffen der eigentlich Waffenlosen: nach Lukrez in der Frühzeit (5,1283: arma antiqua manus ungues dentesque fuerunt), bei den Elegikern dann als Waffen der Frauen, die im Zorn gegen den Liebhaber eingesetzt werden; vgl. z.B. Prop. 4,8,57: Phylli- <?page no="182"?> 3 Kommentar 182 dos iratos in vultum conicit unguis; Ov. am. 2,7,7: si quam laudavi, miseros petis ungue capillos; Ov. ars 2,452: ille ego sim, teneras cui petat ungue genas. Liebeskämpfe als Thema des Gesanges nennt Horaz in einer recusatio, vgl. carm. 1,6,17-19: nos convivia, nos proelia virginum / sectis in iuvenes unguibus acrium / cantamus. Schoonhoven denkt sicherlich nicht an ernsthaften Streit - dagegen spricht schon das Adjektiv leves -, sondern an Tändeleien wie etwa Ov. am. 1,5,15: cumque ita pugnaret tamquam quae vincere nollet / victa est non aegre proditione sua. agiles S. V. 16. levesqué morsus Zum Motiv der Bisse als Liebesmale vgl. z.B. Lucr. 4,1080: dentis inlidunt saepe labellis; Prop. 4,5,39: semper habe morsus circa tua colla recentis; in der Neuzeit Joh. Sec. Bas. 5,5-6: componensque meis labella labris / et morsu petis et gemis remorsa; 16,20: [adde blanditias] gratis non sine morsibus. S. auch Lal. 12,12: indebat memorem dente labris notam. • 10 segetem osculationis Ausführlicher bei Catull (48,4-6): nec numquam videar satur futurus, / non si densior aridis aristis / sit nostrae seges osculationis. Auch in bukolischer Umgebung können sich Getreidefelder befinden; vgl. z.B. Verg. ecl. 1,69: aristas; 1,71: segetes; zudem nimmt Vergil viele bukolische Elemente in seine Georgica auf, weshalb diese wiederum schon seit Calpurnius auf die Hirtendichtung gewirkt haben. (Vgl. Kettemann 1977, passim.) Das Bild knüpft an die Wiesen und Täler aus V. 5-6 an. Zur callida iunctura s. den Komm. zu 11: ruminare. • 11 molli carminis arte Enallage adiectivi. Die römischen Elegiker gebrauchen mollis in Bezug auf ihre Liebesdichtung; vgl. z.B. Ov. trist. 2,349: mollia carmina feci; trist. 2,307: versus … mollis; Prop. 1,7,19: mollem … versum; 2,1,2: mollis … liber; 3,1,19-20: mollia, Pegasides [= Musen], date vestro serta poetae: / non faciet capiti dura corona meo; 3,3,18 (zitiert zu 5-6). Ruminare wird in klassischer Zeit fast nur in der eigentlichen Bedeutung „wiederkäuen“ gebraucht; vgl. z.B. Verg. ecl. 6,54: pallentis ruminat herbas. In übertragenem Sinne bei Livius Andronicus (trag. 8) und Varro (Men. 60; 505), dann wieder bei Gellius (19,7,2) und später, z.B. Symm. epist. 3,13,2: dum carmina tua ruminas. Die Wortwahl (statt z.B. meditari) trägt dazu bei, den Lalage- Zyklus schon durch die Praefatio der bukolischen Sphäre zuzuordnen. Gleichzeitig ergibt segetem (osculationis) ruminare eine callida iunctura. Schoonhoven verwendet das Wort im Folgenden noch zweimal: Lal. 1,1 in wörtlicher (stratae pecudes gramina ruminant), Lal. 39,11-12 in übertragener Bedeutung (basia / … rumino). • 12-19 Schoonhoven gibt hier die „Zielgruppe“ seiner Dichtung an, die sich bereits in der Vorrede abzeichnete. (Ad Lect.: te itaque … abstineas; s. auch den Komm. dort.) Schon Ovid benennt genau die erwünschte Leserschaft in Verbindung mit einer Zurückweisung der Gestrengen, die sich als Publikum seiner Liebesdichtung nicht eignen; vgl. am. 2,1,3-8: procul hinc, procul este, severi: / non estis teneris apta theatra modis. / me legat in sponsi facie non frigida virgo / et rudis ignoto tactus amore puer. / atque aliquis iuvenum, quo nunc ego, saucius arcu / agnoscat flammae conscia signa suae. Johannes Secundus variiert das Motiv, indem er <?page no="183"?> Praefatio 183 behauptet, sein Buch Basia sei keusch, aber die sich keusch gebenden Mädchen und Matronen wollten in Wahrheit frivole Dichtung lesen (Bas. 12,1- 15). Wie scherzhaft dieser scheinbare Vorwurf gemeint ist, zeigt die Schlusspointe, in der die lex Catulli (s. den Komm. zu Ad. Lect.: lasciva … proba) auf höchst frivole Weise umgekehrt wird (Bas. 12,16-18): quanto castior est Neaera nostra, / quae certe sine mentula libellum / mavult quam sine mentula poetam! • 12-14 Vgl. Mart. 8,3,17: scribant ista graves nimium nimiumque severi. (S. auch den Komm. zu 1-2: tonant alii … versus bellicrepos und die Einleitung.) • 12 In der Praefatio zum ersten Buch warnt Martial, Cato solle sich von seiner Dichtung fernhalten. (S. auch den Komm. zu Ad. Lect. Te itaque … abstineas.) Vgl. auch Mart. 11,16,1: qui gravis es nimium, potes hinc iam, lector, abire. Catones Besonders der ältere Cato (Zensor 184 v. Chr.) galt als Inbegriff eines moralisch strengen Mannes, doch wurde auch der jüngere Cato, der im Bürgerkrieg auf Seiten des Pompeius gestanden hatte und lieber Selbstmord beging, als die Gnade Caesars in Anspruch zu nehmen, als sittliches Vorbild betrachtet. Der Name kann sowohl im Singular als auch im Plural als Synonym für sittenstrenge Menschen gebraucht werden. (Vgl. OLD s.v. Cato 2.) In scherzhaft-abwertender Form z.B. Mart. 10,20,21: tunc me vel rigidi legant Catones; Petron. 132,15 vers. 1: quid me constricta spectatis fronte Catones. • 13-14 Anders Ov. trist. 2,307-310: nec tamen est facinus versus evolvere mollis, / multa licet castae non facienda legant. / saepe supercilii nudas matrona severi / et Veneris stantis ad genus omne videt. queis Quīs (altlat. queis) ist eine vor allem in der Dichtung häufige Nebenform zu quibus. Vgl. Kühner/ Holzweissig 1912, 1, 613, § 140,9. supercilium Die Augenbraue steht für einen strengen Blick oder überhaupt für Strenge (vgl. OLD s.v. 2); vgl. z.B. Mart. 11,2,1-2: triste supercilium durique severa Catonis / frons. senesqué / … severa turba Vgl. Catull. 5,2: rumoresque senum severiorum …; Mart. 8,3,17 (Zitat s.o.). • 15 iuvenes proterviores Vgl. Hor. carm. 1,25,2: iuvenes protervi. Das Adjektiv beschreibt programmatisch nicht nur den Kreis der Rezipienten, sondern auch die Art der nun folgenden spielerisch-übermütigen Liebesdichtung. Wörter gleichen Stammes (protervus, protervulus, protervitas) kommen im Lalage-Zyklus insgesamt weitere 14 Mal vor: Lal. 1,17; 3,1; 4,3; 4,23; 4,33; 10,6; 12,34; 16,9; 17,5; 23,9; 24,15; 27,14; 32,1; Eleg. 2,24. • 16 Die Jünglinge sind ein positives Gegenbild zu den bärtigen, also nicht mehr jungen Männern aus Catull. 16,10-11 (im selben Metrum): … his pilosis / qui duros nequeunt movere lumbos. Zur lex Catulli s. den Komm. zu Ad Lect.: lasciva … proba. agiles Kein typisch erotisches Wort, sondern öfter allgemein von körperlicher Beweglichkeit gebraucht, z.B. beim Lauf oder im Krieg. (Vgl. Hey: ThLL 1 [1900],1324,59-79.) Von einem Liebhaber sagt Ovid (am. 1,9,45): inde vides agilem nocturnaque bella gerentem, doch wird gerade in diesem Gedicht die Liebe mit dem Krieg verglichen und dabei kriegerisches Vokabular auf den Liebenden übertragen. (Vgl. McKeown 1989 z. St.) In obszönem Sinne Petron. 23,3 vers. 3: <?page no="184"?> 3 Kommentar 184 clune agili. S. auch V. 9. lumbos Das Wort kommt im Lalage-Zyklus nur hier vor, was wohl dem Bemühen zuzurechnen ist, Catull in der Praefatio in besonderem Maße zu imitieren. (S. den Komm. zu 7: meus Catullus.) • 17- 18 sacris Eine religiöse Zeremonie. Im Zusammenhang mit Poesie kann sacrum geradezu die Bedeutung „Dichtung“ annehmen. (Vgl. OLD s.v. 3e; dazu auch Fedeli 1985 zu Prop. 3,1,1.) illa turba im Gegensatz zu 14: severa turba. Aonidum cano sacerdos Aonides heißen die Musen nach Aonia, dem Teil der Landschaft Böotien, in dem der Musenberg Helikon liegt. Der Dichter kann als Priester der Musen bezeichnet werden; vgl. Hor. carm. 3,1,3: Musarum sacerdos; Ov. am. 3,8,23: ille ego Musarum purus Phoebique sacerdos; Verg. georg. 2,475-77: me vero primum dulces ante omnia Musae, / quarum sacra fero ingenti percussus amore, / accipiant. Zum Ausdruck vgl. bes. Joh. Sec. Bas. 12,8-9 (s. auch den Komm. zu 15): inermes cano basiationes, / castus Aonii chori sacerdos. Im rituellen Kontext kann bei den Jünglingen (illa turba) auch an den tanzenden Chor gedacht sein. Damit könnte die Bewegung in 16 als sexuelle Aktivität, aber auch als Tanz gedeutet werden. Ex Anacreonte Dem Lalage-Zyklus im engsten Sinne (zum Aufbau s. die Einleitung zu den „Paratexten“) stellt Schoonhoven ein Motto voran, von Genette definiert als „ein Zitat, das im allgemeinen an den Beginn eines Werkes oder eines Werkabschnittes gesetzt wird“ (Genette 1989, 141; zum Motto insgesamt vgl. 141-156). Solche Zitate können unterschiedlich genau sein, sowohl was den Wortlaut angeht (exakt wiedergegeben oder ungefähr aus dem Gedächtnis) als auch hinsichtlich der Zuschreibung. Genette unterscheidet mehrere Funktionen des Mottos (1989, 152-156): Das Zitat kann einen Kommentar zum Titel oder zum Text darstellen, eine berühmte Persönlichkeit kann zitiert werden, um das Werk gleichsam mit ihrem Namen zu schmücken, und das Vorhandensein eines Mottos kann an sich schon von einem gewissen intellektuellen Anspruch zeugen. In dem Motto Ex Anacreonte wird das Thema der Gedichte an Lalage, „Liebe“ und „Liebeskummer“, in sentenzartiger Form präsentiert. Zudem nennt Schoonhoven einen zu seiner Zeit sehr berühmten und geschätzten Autor namentlich. (Zur damit möglicherweise verbundenen Rechtfertigungsabsicht s. die Einleitung zu Ad Lect.) Die Anakreonteen, die in der Antike unter dem Namen Anakreons gesammelt worden waren, entdeckte Henri Estienne (Henricus Stephanus) im Jahre 1551 wieder. In seiner editio princeps (1554) folgte er der handschriftlichen Zuweisung an Anakreon, die erst im 19. Jahrhundert in Frage gestellt wurde. (Vgl. Rosenmeyer 1992, 3-6; 116.) Schoonhovens Zuschreibung des Zitates ist folglich zwar nicht korrekt, entspricht aber dem damaligen Stand der Forschung und geschah <?page no="185"?> Ex Anacreonte 185 somit nach bestem Wissen. Nach Stephanus’ Edition entfalteten die Anakreonteen große Wirkung. (Vgl. Rosenmeyer 1992, 231.) Eine Besonderheit ist, dass Schoonhoven ursprünglich griechische Verse nicht wörtlich anführt, sondern ins Lateinische überträgt, so dass die Markierung 513 als Zitat hier das Wiedererkennen erleichtert. Einem versierten Leser wäre die Herkunft der Verse jedoch auch ohne diese Angabe nicht verborgen geblieben: Χαλεπὸν τὸ µὴ φιλῆσαι , / χαλεπὸν δὲ καὶ φιλῆσαι· / χαλεπώτερον δὲ πάντων / ἀποτυγχάνειν φιλοῦντα (Anacreont. 29 W.). In Stephanus’ Text (hier in der Ausgabe Paris 1556, S. 44-45) stehen die vier Verse am Beginn eines insgesamt 14 Verse umfassenden Gedichtes ΕΙΣ ΕΡΩΤΑ . Stephanus selbst hat das Gedicht ins Lateinische übersetzt; vgl. S. 119: et non amare durum est, / et est amare durum: / durissima omnium res / amare, nec potiri. Gleichzeitig erschien auch eine Übersetzung des Helias Andreas: grave non amare prorsus, / grave rursus est amare. / grave ter quaterve amare, / nec amoribus potiri (S. 41). Schoonhoven hat offensichtlich die Übersetzung des Stephanus gekannt, bietet jedoch eine eigene lateinische Version. Indem er statt der anakreontischen Verse des Originals das Metrum des Phalaeceus wählt, erreicht er darüber hinaus eine doppelte Anspielung: Inhaltlich beruft er sich auf Anakreon, doch gleichzeitig stellt er sich - wie schon in der Praefatio - in die Nachfolge Catulls. Beide antiken Dichter sind passende Vorbilder für erotische Dichtung. Komplexe Mehrfachanspielungen und ein souveräner Umgang mit Prätexten sind insgesamt Kennzeichen von Schoonhovens Dichtung. (S. auch Kap. 1.2.2.3.) Durch die drei zusätzlichen Silben pro Vers erhalten die Verse in der Formulierung mehr Variation und Fülle, wo das Original größere Prägnanz aufweist. Schoonhoven übernimmt die Form einer Priamel (vgl. Race 1982, 13-16), deren dreigliedrige Aufzählung mit Klimax auf die Aussage hinausläuft, dass es nichts Schlimmeres gebe als unerwiderte Liebe. An die Stelle einer zweifachen (zweimal χαλεπόν , dann χαλεπώτερον … πάντων ) tritt eine dreifache Steigerung (durum … durum magis … nil durius), wobei in beiden Fällen das letzte Glied einem Superlativ entspricht. Eine weitere Übertragung eines Gedichtes aus den Anakreonteen findet sich in Schoonhovens Emblembuch, S. 57: πίωµεν οὖν τὸν οἶνον / τὸν τοῦ καλοῦ Λυαίου· / σὺν τῶι δὲ πίνειν ἡµᾶς / εὕδουσιν αἱ µέριµναι . (Anacreont. 45,7- 10 W.; Ed. Stephanus 1556, S. 24.) Dort übernimmt Schoonhoven die lateinische Übersetzung des Helias Andreas (Stephanus übersetzt dieses Gedicht nicht ins Lateinische): ergo merum bibamus / pulchrum merum Lyaei; / bibendo namque vinum / aerumna dormit omnis (Embl., S. 57; Helias Andreas, S. 23-24, hat allerdings pulchri statt pulchrum.) Es ist sicherlich kein Zufall, dass Schoonhoven im Emblembuch, wo es sich um ein Zitat unter sehr vielen handelt, eine vorhandene Übersetzung zitiert, hier an dieser expo- 513 Zur Markierung vgl. Broich 1985, hier 35-37. <?page no="186"?> 3 Kommentar 186 nierten Stelle als Motto der Amores Pastorales jedoch eine eigene Version bietet, wodurch er neben seiner Gelehrsamkeit auch sein dichterisches Können unter Beweis stellt. Metrum: Phalaeceen. 1 terricolis Im Gegensatz zur verbreiteten Bezeichnung caelicolae für die Götter ist terricolae in der Antike kaum belegt (im OLD s.v. nur Apul. Socr. 6: inter terricolas caelicolasque). • 2-3 amare … amariusque Die Paronomasie amare - amarus wird durch die gleiche Stellung in den Versen 1-3 hervorgehoben. Vgl. Verg. ecl. 3,109-110 (betont an den Versenden): et vitula tu dignus et hic, et quisquis amores / aut metuet dulcis aut experietur amaros. Clausen (1994, z. St.) verweist auf die Tradition: Plaut. Cist. 68: eho an amare occipere amarum est, opsecro? ; Plaut. Trin. 260: Amor amara dat tamen; Rhet. Her. 4,21: nam amari iucundum sit, si curetur ne quid insit amari. (Den hier allzu gesucht wirkenden Witz tadelt Quintilian, inst. 9,3,69-70.) Das Wortspiel ist nur im Lateinischen möglich, während sich im griechischen Original nichts Vergleichbares findet. Das Konzept der „bittersüßen“ Liebe geht jedoch auf das griechische γλυκύπικρος zurück. (Vgl. Sappho fr. 130,2 V.) • 4 deamare Deamare aliquid/ aliquem wird fast nur im archaischen oder archaistischen Latein gebraucht (vgl. Lommatzsch: ThLL 5,1 [1909-1934],82, 43-49), und zwar vor allem bei Plautus, aber auch bei Apuleius (Plat. 2,14). 3.2 Die Gedichte an Lalage Ad Lalagen. Carmen I Das Werben des Hirten Daphnis um Lalage beginnt mit der Einladung, sich in der Mittagshitze an einem schattigen Plätzchen zu treffen. Die Beschreibung eines solchen locus amoenus (6-12) gehört zu den typischen Elementen der Bukolik, ebenso wie die Hirten mit ihren Herden (5-6; 30), Waldgottheiten wie Pan (17-21) sowie Hirtengesang und Flötenspiel (13-16; zur Bedeutung der Grillen bzw. Zikaden s. den Komm. zu 2). Schon bei Theokrit finden sich die genannten Motive im ersten Gedicht der Sammlung. (S. jeweils die Einzelkommentare.) Typisch für die bukolische Dichtung ist auch die enge Verbundenheit von Mensch und Natur. Die Natur bietet den Hirten, was sie brauchen (bes. 6-12), und der Hirte macht sich die Natur zunutze, indem er für seine Geliebte Blumen pflückt und auf einer Flöte aus Schilfrohr spielt (13-16). Teilweise nimmt die Natur menschliche Züge an (s. bes. die Metapher coma für das Laub der Pappel, V. 6), und andererseits erscheint menschliches Handeln als Imitation der Natur - so im Vergleich der Umarmung mit rankendem Efeu (25-28) und indirekt im Vergleich des Dichters mit Grillen bzw. Zikaden. (S. den Komm. zu 2.) Vgl. z.B. auch Theoc. 1,1-3 sowie 1,148 (zitiert zu 2). <?page no="187"?> Ad Lalagen. Carmen I 187 Daphnis betont im Eröffnungsgedicht sein Sängertum. Die Grillen/ Zikaden werden an prominenter Stelle zu Beginn des ersten Gedichtes des Zyklus genannt, und ihr Gesang weist auf das Flötenspiel des Hirten voraus (15-16; s. auch den Komm. zu 2: personat). Auffällig sind auch die sehr zahlreichen klangvollen Stilmittel, vor allem mehrmalige Geminatio und außergewöhnlich häufige Alliterationen; s. V. 5: huc, huc; 7-8: umbras, umbras; 25: te, te; 7: diffundens dabit; 9-10: labitur … lympha lapillulos; 11: huius … humor; 13.16: contexam capiti … corollulas (…) carmen; 14-15: aspergam … atque attrita; 17-18: Pana protervulum … prata perambulet; 21: praeripiet Pan; 22: missa manu; 29: Vita veni. In diesem Kontext liegt die Vermutung nahe, dass die Kränzchen, die Daphnis seiner Geliebten flicht, metaphorisch auch für die Gedichte stehen, die er ihr singt. (S. V. 13 mit Komm.) Gerade ein Gedichtzyklus, wie ihn die vierzig Gedichte an Lalage darstellen, kann besonders gut mit dem Bild eines Kranzes beschrieben werden, der aus einzelnen „Blumen“ besteht und eine geschlossene Einheit bildet. Der „Ring“ zum letzten Gedicht (Lal. 40) schließt sich, indem etliche Motive des ersten Gedichtes dort wieder aufgenommen werden: der Gesang der Zikaden (2; Lal. 40,46: cicadis); die Mittagshitze (3-4; Lal. 40,44-45: … cum greges nostros simul / graviter calente pasceremus Cynthio); die Pappel (s. den Komm. zu 6: populus); Gesang und Flötenspiel, die hier hoffnungsvoll beginnen (15-16) und im letzten Gedicht traurig enden werden (Lal. 40,20: nullos sonabo carminum tristis modos; 40,27- 28: suspensa pinu nescio quid fistula / lugubre semper sibilet); die Hoffnung auf einen lieben Gefährten (32: cum grato pare) und der Verlust eines lieben Gefährten (Lal. 40,15: turtur orbe caro compare). Das zentrale Thema des Gedichtzyklus ist die Liebe des Hirten Daphnis zu Lalage. In der vierten Strophe (13-14) finden wir die ersten eindeutigen Hinweise darauf, dass es sich um Liebesdichtung handelt: Die Anrede der Geliebten als Vita ist topisch (s. den Komm. dort), und in dem Versprechen, ihre Brüste mit Blumen zu bestreuen, scheint zum ersten Mal eine erotische Komponente auf. Es folgt die Erwähnung einer potentiellen Bedrohung durch Pan oder Jupiter, wobei die Gottheiten als mögliche Rivalen des Liebenden auftreten. Daphnis’ leidenschaftliche Umarmung soll Lalage Schutz bieten; zugleich ist der Vergleich mit dem Efeu ein häufiges Motiv der Liebesdichtung (25-28; s. auch den Komm. dort). Daphnis beschreibt in den ersten vier Strophen eine erhoffte bukolische Idylle (im modernen Sinne des Wortes), in der fünften und sechsten Strophe einen befürchteten Einbruch von Gewalt in diesen Frieden (s. auch den Komm. zu 23-25: suam / mittat) und in der siebten Strophe die Abwehr dieser Gewalt. In der letzten Strophe wiederholt der Hirte ausdrücklich die Einladung an Lalage mit mehreren wörtlichen Anklängen an 5-6. (S. den Komm. zu 29-30.) Die abschließende Sentenz nimmt noch einmal auf das <?page no="188"?> 3 Kommentar 188 Ruhen in der Mittagshitze Bezug (s. den Komm. zu 31-32: laborem), so dass sich der Ring zum Anfang des Gedichtes schließt. Die Einladung der Geliebten an einen Ort, dessen Schönheit man gemeinsam genießen kann, kommt schon bei Theokrit (11,42-48) und - diese Stelle imitierend - bei Vergil vor (ecl. 9,39-43; s. auch die Kommentare zu 5- 6 und 6-12). Im Bereich der neulateinischen Literatur seien vor allem zwei Gedichte des Flaminio genannt. In Lus. Past. 19 (s. auch den Komm. zu 5-6) wird die Geliebte gebeten, in der Mittagshitze an einen schattigen Ort zu kommen; vgl. 19,1-2 und 5-6: huc ades, o mea Lygda, parum decede calori, / dum medio caeli Sol gravis orbe furit. (…) hic patulae ramis sociant umbracula fagi, quas circum irriguis Mesulus errat aquis. In Flam. Lus. Past. 10 sind bereits viele der Motive angelegt, die Schoonhoven aufgreift, weshalb ich das Gedicht vollständig wiedergebe: iam rapidus torret mediis Sol aestibus agros; / ad vallem niveum duc, Ligurina, gregem. / hic avium cantus, hic fons nitidissimus antro / prosilit, hic densis quercubus umbra cadit: / et circum flores examina laeta susurrant, / et Zephyri blando murmurat aura sono. / hic laudes, formosa, tuas mea fistula dicet: / tu Dryadum calamo dulcia furta canes. Metrum: 3. Asklepiadeische Strophe. 1 Der erste Vers führt den Leser durch die Schlüsselbegriffe pecudes und gramina sogleich in die bukolische Sphäre. ruminant S. den Komm. zu Praef. 11. • 2 Das Motiv des Zikadengesangs in der Mittagshitze war in der antiken Literatur verbreitet. Vgl. bes. Verg. ecl. 2,12-13: at mecum raucis … / sole sub ardenti resonant arbusta cicadis. Die Zikade galt als Liebling Apolls und der Musen (vgl. z.B. Anacreont. 34 W.), weshalb herausragende Sänger mit ihr verglichen wurden. (Vgl. Theoc. 1,148: τέττιγος ἐπεὶ τύγα φέρτερον ᾄδεις .) Schmidt (1987, 147) sieht in den zitierten Vergilversen daher einen Beweis für das „dichterische Selbstbewußtsein Corydons.“ Schoonhovens Daphnis vergleicht sich in drei Gedichten direkt mit einer Grille bzw. Zikade, wobei er generell nicht zwischen grillus und cicada differenziert (s. dazu den Komm. unten); s. Lal. 3,54-56: … si liceat mihi / tali vivere nectare / tamquam rore cicadae; 22,35-36: sicut palmite pendulus / grillus roribus ebrius; 24,26: hîc erro veluti pendens è fronde cicada. Der Zikadengesang am Anfang des Gedichtes verweist somit bereits auf die vierte Strophe, in der Daphnis sich als Dichter und Sänger bzw. Musiker stilisiert. Zur poetologischen Implikation s. den Komm. zu 13; s. auch die Einleitung. grillis Über die Grillen, die mit den Heuschrecken eng verwandt sind, war in der Antike wenig bekannt; vgl. die vorsichtige Beschreibung bei Plinius (nat. 30,49): esse animal locustae simile sine pennis, quod trixallis Graece vocetur, Latinum nomen non habeat, aliqui arbitrantur, nec pauci auctores, hoc esse quod grylli vocentur. (Vgl. Keller 1913, 401-406 [Zikade]; 455-460 [Heuschrecke/ Grille].) Nach heutiger Systematik gehören die beiden Tierarten verschiedenen Ordnungen an: die Grillen den Ensifera, die Zikaden den Homopte- <?page no="189"?> Ad Lalagen. Carmen I 189 ra. (Vgl. Schaefer: Brohmer 1994, 235-237 und 285-287.) Sie unterscheiden sich z.B. in der Länge der Fühler, der Form der Flügel und der Art der Eiablage. personat Der Gesang der Zikaden verweist bereits auf das Flötenspiel des Hirten; s. V. 15: sonabit. • 3-4 qui convicia soli / fundunt Vgl. bes. Laus Pis. 79-80: sic et aedonia superantur voce cicadae, / stridula cum rapido faciunt convicia soli. Seel (1969) übersetzt: „So werden von der Stimme der Nachtigall die Zikaden übertroffen, wenn diese in der Sonnenglut ihr zänkisches Geschwirr ertönen lassen.“ Der Dativ soli muss jedoch als Objekt verstanden werden, nicht als adverbiale Bestimmung, d.h. die Zikaden richten ihr Gezänk gegen die Sonne. Vgl. auch dieselbe Konstruktion bei Phaedrus (3,16,3-4): cicada acerbum noctuae convicium / faciebat. Zum Ausdruck convicia fundere vgl. Ov. met. 13,306; Sen. Med. 113. • 5-6 huc huc, ô Lalage … veni Die Form ist typisch für die Anrufung einer Gottheit. Oft erhöht eine Geminatio die Intensität. (Vgl. Syndikus 2001, 18, Anm. 95 [zu Catull. 61,8-9].) Vgl. z.B. Catull. 61,8-9 (an Hymenaeus): huc / huc veni; 64,195 (an die Eumeniden): huc huc adventate; Verg. georg. 2,4.7 (an Bacchus): huc, pater o Lenaee … / huc, pater o Lenaee, veni. Dass eine mit huc eingeleitete Anrede dazu dient, die oder den Geliebte(n) herbeizurufen, scheint in der antiken Liebespoesie eher eine Ausnahme zu sein; vgl. aber Verg. ecl. 2,45: huc ades, o formose puer; 9,39.43: huc ades, o Galatea … / huc ades, imitiert von Flaminio (Lus. Past. 19,1.9): huc ades, o mea Lygda … / huc ades. (S. auch die Einleitung.) cum grege languido = Lal. 16,25. Vgl. Hor. carm. 3,29,21-22: iam pastor umbras cum grege languido / rivumque fessus quaerit. In der Mittagshitze werden Mensch und Tier träge und suchen einen kühlen Ruheplatz auf; vgl. z.B. auch Verg. ecl. 2,8: nunc etiam pecudes umbras et frigora captant. S. auch den Komm. zu 6-12. nil cunctata veni Vgl. Stat. Theb. 9,125: nihil cunctata. S. auch V. 29: veni, praeripe te morae. • 6-12 Die Umgebung ist ein typischer locus amoenus mit Baumschatten, Bach und Blumen. Der Ort bietet Schutz vor der sengenden Mittagssonne und Erfrischung für Hirten und Herden und lädt damit zum Ausruhen und zum Musizieren ein. Vgl. bes. Theoc. 1,1-23 (s. auch die Einleitung); Theoc. 5,31- 34. Ähnliche Naturbeschreibungen gibt es schon seit Homer; vgl. z.B. Od. 9,135-141. Einige Elemente sind topisch: der schattenspendende Baum, ein kühler Bach oder eine Quelle und ein weicher Ruheplatz im Grase. Des weiteren können Blumen, der Gesang von Vögeln oder Zikaden (s. V. 2) und ein kühler Windhauch hinzukommen. (Vgl. Curtius 1993, 189-207, bes. 191 und 200; Hunter 1999, 12-17; Vischer 1965, 129-130.) Schönbeck (1962, bes. 15-17) betont die Wirkung auf die Sinne, die von den verschiedenen Elementen des locus amoenus ausgeht: von den Farben der Blumen, des Grüns und des glitzernden Wassers, von der beruhigenden Geräuschkulisse aus Vogelgesang und Wasserrauschen, vom Blumenduft, vom Geschmack des frischen Wassers und von der angenehmen Kühle auf der Haut sowie der Weichheit des Grases. Vgl. z.B. Verg. ecl. 7,10.12-13: re- <?page no="190"?> 3 Kommentar 190 quiesce sub umbra. / … hic viridis tenera praetexit harundine ripas / Mincius, eque sacra resonant examina quercu; 9,40-42: hic ver purpureum, varios hic flumina circum / fundit humus flores, hic candida populus antro / imminet et lentae texunt umbracula vites; Hor. carm. 2,3,9-12: quo pinus ingens albaque populus / umbram hospitalem consociare amant / ramis, quid obliquo laborat / lympha fugax trepidare rivo. S. auch Lal. 16,25-28; 33,9-12. • 6 populus Das Motiv der Pappel zieht sich durch den ganzen Gedichtzyklus (Lal. 5,2; 17,1; 33,9; 34,15; 39,35; 40,16; 40,63). Aufgrund ihres bevorzugten Standortes an fließenden Gewässern (s. hier V. 9-12) war die Pappel schon in der griechischen Mythologie ein Baum der wasserliebenden Nymphen. Darüber hinaus gelten sowohl die Schwarzpappel als auch die Silberpappel als Bäume der Unterwelt, des Todes und der Trauer. (Vgl. Murr 1969, 17-23.) Damit deutet schon der Beginn des Zyklus auf das Ende voraus, denn Lalage wird schließlich schwer erkranken und sterben. In den letzten beiden Gedichten stimmen Vögel in den Zweigen der Pappel eine Totenklage an (Lal. 39,33-36; 40,14-17), und der letzte Abschiedsgruß des trauernden Daphnis gilt der Pappel (Lal. 40,62-64). Der Schluss erinnert gleichzeitig rückblickend an die Liebesbeziehung, da in der Rinde der Pappel die Namen des Hirten und seines Mädchens eingeritzt sind (s. dazu den Komm. zu Lal. 40,62-63). Außer in Lal. 17,1 wird stets nur von einer Pappel gesprochen, so dass man sich wohl einen bestimmten Baum vorzustellen hat, an dem sich die Liebenden treffen, der ihre Schwüre hört (Lal. 34,15) und die Zeichen ihrer Liebe bewahren wird (Lal. 40,62-63). comas Die Metapher der Haare für das Laub geht auf Homer zurück (Od. 23,195; vgl. Godwin 1999 zu Catull. 4,11) und wird auch von den römischen Dichtern verwendet. Vgl. z.B. Catull 4,10-12: ubi iste post phaselus antea fuit / comata silva; nam Cytorio in iugo / loquente saepe sibilum edidit coma; Hor. carm. 4,7,1-2: redeunt iam gramina campis / arboribusque comae. • 8 frigus amabile = Hor. carm. 3,13, 10. Bei Horaz wird die Quelle als willkommene Erfrischung bezeichnet, bei Schoonhoven der Schatten eines Baumes, doch kommen jeweils beide Elemente in der Schilderung des Ortes vor. (S. V. 9-12; vgl. Hor. carm. 3,13,14: ilicem.) • 9-10 Die verwendeten Elemente - das murmelnde Rauschen, das sanfte Dahingleiten und die Flusskiesel - sind üblich zur Beschreibung eines kühlen klaren Baches. Vgl. z.B. Theoc. 5,33: ὕδωρ … καταλείβεται ; Hor. epod. 2,25: labuntur altis interim ripis aquae; Ov. met. 11,603-604: rivus aquae Lethes, per quem cum murmure labens / invitat somnos crepitantibus unda lapillis; Sil. 4,641: sequiturque novus cum murmure torrens Claud. 3,214: hic avium cantus, labentis murmura rivi. Vgl. auch Var. Carm., S. 50 (Laus Horti): torrens dulciter obstrepit, / dum volvit trepidans lympha lapillulos. torrens strepero murmure S. Lal. 22,7: torrens strepero pede; 33,10: torrens placido murmure. Das Adjektiv streperus ist nicht klassisch (vgl. Du Cange 1954 s.v.), doch kann das Verb strepere, von dem es abgeleitet ist, in Bezug auf Flüsse gebraucht werden. Vgl. Hor. carm. 4,12,3: fluvii strepunt (dort allerdings vom <?page no="191"?> Ad Lalagen. Carmen I 191 tosenden Rauschen, nicht vom sanften Murmeln eines Flusses). labitur „Mit einem Wasserlauf kommt das für eine Ideallandschaft so wesentliche Moment der Bewegung und der Lebendigkeit in die Darstellung hinein.“ (Schönbeck 1962, 19; Beispiele 23-24; s. den Komm. oben.) nitidos S. auch V. 14. lapillulos Das doppelte Diminutivum ist nicht klassisch; die frühsten Belege stammen aus dem 3./ 4. Jahrhundert. (Vgl. Lumpe: ThLL 7,2 [1970- 1979],946,54-56.) In der Mitte des Gedichtes kommen recht viele Diminutive auf engem Raum vor. (S. noch V. 13; 17.) • 11 Huius steht hier offenbar statt cuius. proximus humor Vgl. die Beschreibung der Quelle des Narcissus bei Ovid (met. 3,411): gramen erat circa, quod proximus umor alebat. Die Nähe eines Baches oder einer Quelle lässt Gras und Blumen gedeihen, die aufgrund ihrer flachen Wurzeln in heißen Gegenden sonst nicht wachsen könnten. • 13 Der Kranz für die oder den Geliebte(n) ist ein typisches Motiv der Bukolik. Vgl. z.B. Theoc. 3,21-23: τὸν στέφανον τῖλαί µε κατ ’ αὐτίκα λεπτὰ ποησεῖς , / τόν τοι ἐγών , Ἀµαρυλλὶ φίλα , κισσοῖο φυλάσσω , / ἀµπλέξας καλύκεσσι καὶ εὐόδµοισι σελίνοις ; Longos 3,20,2-3 (Chloe flicht ein Kränzchen aus Veilchen und setzt es Daphnis auf); in der neulateinischen Literatur Flam. Lus. Past. 15,1-2: hos tibi purpureos in serta nitentia flores, / dum sol exoritur, Thestyli cara, lego. Auch der beim Gastmahl getragene Kranz (vgl. z.B. Anacreont. 43,1-3; 50,13-16 W.; Hor. carm. 3,14,17: i, pete unguentum, puer, et coronas) kann eine erotische Konnotation bekommen, wenn ein Teilnehmer des Symposions anschließend bekränzt zu seiner Geliebten geht; vgl. z.B. Prop. 1,3,21-22: et modo solvebam nostra de fronte corollas / ponebamque tuis, Cynthia, temporibus. (Zur Verwendung von Kränzen in der Antike vgl. insgesamt Blech 1982.) Die zweite Hälfte der Strophe (15-16), in der Daphnis auf seine Flötenkunst und damit auf sein Dichtertum hinweist, lässt zudem an die Bedeutung des Kranzes in der Dichterweihe denken (vgl. z.B. Anacreont. 1 W.); auch werden Dichter allgemein durch Kränze geehrt (vgl. z.B. Verg. ecl. 7,25: pastores, hedera crescentem ornate poetam). Daphnis trägt den Kranz hier jedoch nicht selbst, sondern er flicht ihn für Lalage. Der Kontext (s. außer V. 15-16 auch 2 mit Komm.) legt nahe, dass der Kranz auch für die Gedichte steht, die Daphnis nun für Lalage zu singen beginnt. Diese Deutung wird dadurch gestützt, dass erstens das Flechten oder Weben eine gängige Metapher für das Verfassen von Texten ist (vgl. z.B. OLD s.v. contexo 2) und zweitens Gedichtzyklen als „Kranz“ bezeichnet werden können (so z.B. der „Kranz“, στέφανος , des Meleager in der Anthologia Graeca). Zur poetologischen Ebene des Gedichtes s. auch die Einleitung. contexam capiti … corollulas Alliteration. Vita Mea vita oder vita ist eine häufige Anrede an die Geliebte in der Elegie; vgl. z.B. Prop. 1,2,1; Ov. am. 3,8,11-12. (Weitere Belege bei Pichon 1966, 298; vgl. auch Tränkle 1960, 160-161.) corollulas Das doppelte Diminutivum ist in der antiken Literatur nicht belegt. • 14 Blumen werden vor allem beim Symposion gestreut; vgl. z.B. Hor. carm. 3,19,22: sparge rosas; epist. 1,5,14-15: <?page no="192"?> 3 Kommentar 192 potare et spargere flores / incipiam. Für das „Bestreuen“ der Geliebten mit Blumen finde ich keine weiteren Belege. nitidis … floribus Vgl. Manil. 5,256: ille colet nitidis gemmantem floribus hortum. Die Flusskiesel (10) erhielten dasselbe Attribut; eine besondere Absicht scheint mit dieser Wiederholung jedoch nicht verfolgt zu sein. ubera S. den Komm. zu Lal. 22,27. • 15- 16 Das Flötenspiel gehört zu den Grundmotiven der antiken Bukolik, denn Hirten sind immer auch Musiker, Sänger und Dichter. (Vgl. Schmidt 1987, 29.) Die Hirtendichtung des Theokrit und des Vergil beginnt jeweils mit dem Verweis auf die Flötenkunst eines Hirten; vgl. Theoc. 1,2-3: ἁδὺ δὲ καὶ τύ / συρίσδες ; Verg. ecl. 1,2: silvestrem tenui Musam meditaris avena. Auch Schoonhoven greift das Motiv im ersten Gedicht seines Zyklus auf. Zur poetologischen Implikation s. die Einleitung. attrita Nicht das abgenutzte Äußere der Flöte soll betont werden, sondern die intensive Nutzung: Der Hirte ist im Flötenspiel geübt. carmen nobile Das Adjektiv nobilis scheint nicht recht in die Hirtenwelt zu passen und kommt in dieser Form tatsächlich in der antiken Bukolik nicht vor. Schoonhoven imitiert wohl Verg. ecl. 9,38, wo Moeris über ein Lied des Menalcas, das er zitieren wird, sagt: neque est ignobile carmen. Zur Junktur vgl. Stat. silv. 2,7,114: nobile carmen. fistula Es gibt verschiedene Arten von Hirtenflöten. (Vgl. Schmidt 1987, 32- 33.) Besonders häufig genannt werden die tibia (griech. αὐλός , etwa einer heutigen Oboe oder Klarinette vergleichbar) und die fistula bzw. calami (griech. σῦριγξ ; die heutige Panflöte). Vorstufe der tibia, einer Flöte mit Fingerlöchern, ist die avena, ein einfaches Rohr mit vibrierendem Mundstück. Die fistula besteht aus Schilfrohren unterschiedlicher Länge (daher auch der Plural calami) ohne vibrierendes Mundstück, die mit Wachs zusammengefügt werden. Als ihr Erfinder galt Pan, der aus den Schilfrohren, in die sich die von ihm verfolgte Nymphe Syrinx verwandelte, eine Flöte baute. Vgl. z.B. Verg. ecl. 2,32-33: Pan primum calamos cera coniungere pluris / instituit; zum Mythos Ov. met. 1,689-712. Eine Beschreibung des Baus der Panflöte gibt Tibull (2,5,31-32). • 17 non est, quod metuas = Mart. 5,6,12. Pana Der Übergang zu der Bedrohung des bukolischen Friedens durch Gottheiten ist fließend: Nach der von Pan ersonnenen fistula (16; s. den Komm. dort) wird nun der Gott selbst genannt. Auch in Lal. 21,4 betont Schoonhoven die Verbindung des Pan mit der Musik: Pani carmina cantito. protervulum Das Diminutivum ist nicht klassisch, die Bezeichnung von Waldgottheiten als protervi jedoch geläufig; vgl. z.B. Stat. silv. 2,3,31 (über Pan): hostemque protervum; Hor. ars 233: Satyris … protervis. Zur Formulierung vgl. ferner Hor. carm. 1,17,24: nec metues protervum. • 18 quàmvis S. auch V. 23. Obwohl beide Götter prinzipiell gefährlich sind, wird Lalage nichts geschehen. Daphnis betont die Gefahr, weil vor diesem Hintergrund seine schützende Umarmung (25-28) besonders bedeutsam wird. flammivomus Das Wort ist erst ab dem 4. Jahrhundert belegt, zuerst bei Iuvencus (praef. 23) von einer Wolke, dann bei Martianus Capella (1,70) von einem <?page no="193"?> Ad Lalagen. Carmen I 193 lebendigen Wesen, dort einem Drachen. Vgl. Bacherler: ThLL 6,1 (1912- 1926),873,59-65. Die Wortbildung wurde durch Stellen wie Ov. met. 2,119 (ignem… vomentes) und bes. Verg. Aen. 8,620 (flammas… vomentem) begünstigt. Soweit ich sehe, ist der antike Hirtengott Pan (oder Faun; s. Lal. 30,12 mit Komm.) weder in der Literatur noch in der Kunst feuerspeiend dargestellt. Möglicherweise hat hier eine wechselseitige Beeinflussung mit der Gestalt des Teufels stattgefunden: Der Darstellungstyp des Teufels mit Hörnern, Hufen, Ziegenohren, Tierschwanz und behaartem Unterleib geht auf die Figur des Pan zurück. (Vgl. Link 1995, 44-45; Böcher 2002, 143.) Der Teufel wiederum wird allgemein mit dem Feuer der Hölle in Verbindung gebracht. Aufgrund seiner Identifikation mit dem Leviathan (vgl. van Imschoot/ Hornung 2008, 1249-1251) kann er auch als feuerspeiendes Wesen erscheinen. Im Buch Hiob wird der Leviathan als feuerspeiendes, jedoch krokodilartiges Tier beschrieben; vgl. bes. Iob 41,10.12: de ore eius lampades procedunt sicut taedae ignis accensae. (…) halitus eius prunas ardere facit, et flamma de ore eius egreditur. Belege für feuerspeiende Teufel in Pangestalt sind jedoch rar. Ich habe nur eine derartige Darstellung finden können, und zwar das Bild der Hölle aus Les Très Riches Heures du Duc de Berri von Paul, Jean und Herman Limbourg (1415); abgebildet z.B. in Link 1995, 142. In einem Ausstellungskatalog des Stedelijk Museum Amsterdam (van der Grinten [u.a.] 1952, 12) findet sich neben einem Abdruck des Bildes eine detaillierte Beschreibung: „De helse vorst ligt op een rooster waaronder een fiks vuur wordt onderhouden met behulp van drie grote blaasbalgen. De verdoemden vallen door de kolom van zijn verzengende adem in zijn lugubere mond. De aldus binnengestroomde zielen worden verder behandeld door de duivels met bokshoorns en insectachtig gepantserde buiken. Als geheel maken deze duivels de indruk van saters.“ („Der höllische Fürst liegt auf einem Gitter, unter dem mit Hilfe dreier großer Blasebälge ein kräftiges Feuer unterhalten wird. Die Verdammten fallen durch die Säule seines versengenden Atems in seinen grausigen Mund. Die so hineingeströmten Seelen werden durch die Teufel mit Bockshörnern und insektenartig gepanzerten Bäuchen weiter traktiert. Alles in allem machen diese Teufel den Eindruck von Satyrn.“) Möglicherweise wurde Schoonhovens Idee eines feuerspeienden Pan auch durch Heinsius’ Übersetzung von Theoc. 1,16-18 begünstigt; vgl. Heins. e Graec. (Poemata 3 1610, S. 209): Faunum metuo, qui fessus in herba / venandi studio requiescit, et asper habetur: / et gravis illius sub naribus aestuat ira. (S. auch den Komm. zu 19-20.) • 19-20 Die Verse sind eine Abwandlung von Theoc. 1,15-18 (ebenfalls im ersten Gedicht der Sammlung): οὐ θέµις , ὦ ποιµήν , τὸ µεσαµβρινὸν οὐ θέµις ἄµµιν / συρίσδεν . τὸν Πᾶνα δεδοίκαµες· ἦ γὰρ ἀπ ’ ἄγρας / τανίκα κεκµακὼς ἀµπαύεται· ἔστι δὲ πικρός , / καί οἱ ἀεὶ δριµεῖα χολὰ ποτὶ ῥινὶ κάθηται . Pan ruht sich in der Mittagsstunde aus und wird wütend, wenn man seinen Schlaf z.B. durch Flötenspiel stört. Andererseits gilt die Mittagsstunde auch als Zeit, in der <?page no="194"?> 3 Kommentar 194 Pan wie andere Dämonen umhergeht und Angst und „panischen Schrecken“ verbreitet oder den Menschen in Albträumen erscheint. Die drückende Hitze am Mittag begünstigte das Entstehen solcher Vorstellungen. (Vgl. Roscher 1965, 2,2,2832; 3,1,1389-1400.) Schoonhovens Pan ist in der Mittagszeit unterwegs und stellt somit eine Bedrohung für Lalage dar. Zur Gleichsetzung von Pan und Faun s. den Komm. zu Lal. 30,12-13. venatibus asper Pan gilt, ebenso wie Faun, als Schützer der Hirten und der Herden; vgl. z.B. h.Pan. 5: Πᾶν ’ ἀνακεκλόµεναι νόµιον θεόν ; Verg. ecl. 2,33: Pan curat ovis oviumque magistros; Hor. carm. 1,17,2-3: Faunus … / defendit aestatem capellis. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 z. St.) Da Hirten oft zugleich Jäger waren, wird Pan/ Faun auch mit der Jagd in Verbindung gebracht, d.h. er ist Jäger und Schutzgott der Jagenden. (Vgl. Roscher 1965, 3,1,1382-1388.) S. auch Lal. 30,13: [te, Faune,] fessum tuis venatibus. • 21 Dem geliebten Mädchen könnte Pan gefährlich werden, weil er bekannt ist für seine Verfolgung von Nymphen. (Vgl. z.B. Ov. met. 1,689-712; Stat. 2,3,8-61.) Zur Formulierung vgl. Ov. met. 5,10-12: en adsum praereptae coniugis ultor, / nec mihi te pennae nec falsum versus in aurum / Iuppiter eripiet. • 21-22 Deus … bombiunt Jupiter ist der Gott des Gewitters, der seine Blitze als Waffen einsetzen kann, sei es als Strafe oder zur Verteidigung und zum Schutz. Berühmte Beispiele sind der Kampf gegen die Giganten (vgl. z.B. Ov. am. 2,1,15-16: in manibus nimbos et cum Iove fulmen habebam, / quod bene pro caelo mitteret ille suo) oder die Tötung des Phaethon durch einen Blitz, weil dieser bei dem Versuch, den Sonnenwagen zu lenken, beinahe die ganze Erde in Brand gesetzt hätte (vgl. Ov. met. 2,304-313). Die Junktur fulmina missa ist häufig; vgl. z.B. Tib. 1,2,8: Iovis imperio fulmina missa; Ov. fast. 4,50; epist. 7,72. bombiunt Das Verb bombire ist im antiken Latein nur selten belegt, häufiger das zugehörige Substantiv bombus. Vom Gewitter nur Mart. Cap. 5,427: velut fulgoreae nubis fragore colliso bombis dissultantibus fracta dicere crepitare tonitrua. (Vgl. Ihm: ThLL 2 [1900-1906],2069,1-4 und 28-61.) Was bei einem Gewitter dumpf tönt, ist eigentlich der Donner und nicht der Blitz; vgl. jedoch z.B. auch Prop. 2,34,54: … fulmina missa tonent. • 23-25 Jupiter verliebte sich in Ganymedes, den Sohn des Königs Tros, ließ ihn durch einen Adler rauben und machte ihn zu seinem Mundschenk. (Nach anderen Quellen verwandelte Jupiter selbst sich in einen Adler, so z.B. Ov. met. 10,155-161; vgl. Hunger 1959, 118.) Der Vergleich ist passend gewählt: Als Ganymedes geraubt wurde, hütete er gerade die Herden seines Vaters. So liegt es nahe, dass der Göttervater auch am Hirtenmädchen Lalage Gefallen finden könnte. Bei Longos bringt Gnathon seinem Herrn Astylos gegenüber das gleiche Beispiel, um seine Liebe zum Hirten Daphnis zu rechtfertigen (Longos 4,17,6): ποιµὴν ἦν Γανυµήδης , καὶ αὐτὸν ὁ τῶν ὅλων βασιλεὺς ἥρπασε . Dort passt die mythologische Anspielung noch besser, weil es sich um ein homoerotisches Verhältnis handelt. suam / mittat Ein Enjambement, bei dem ein einzelnes Wort in die nächste Strophe gezogen wird, <?page no="195"?> Ad Lalagen. Carmen I 195 kommt im Lalage-Zyklus nur hier vor. Sonst endet mit dem Strophenende fast immer auch der Satz. (Die einzige weitere Ausnahme ist Lal. 29,12-13, wo sich der Satz jedoch noch über die ganze erste Zeile der nächsten Strophe erstreckt.) Es entsteht eine abbildende Wortstellung: Die Gewalt, die von den beiden Göttern ausgeht, ist so stark, dass der Text sozusagen noch in die nächste Strophe einbricht. Dort wird die Bedrohung jedoch sogleich durch Daphnis’ Umarmung aufgehalten und abgewehrt. • 25-26 nexilibus te te ego brachiis / stringam Vgl. Joh. Sec. Bas. 16,29: stringam nexilibus te te ego brachiis. Nexilis ist hier aktivisch gebraucht („umschlingend“, nicht „gewunden“), also in gleicher Bedeutung wie Ov. met. 11,240: innectens ambobus colla lacertis. Die Wortstellung von nexilibus te te … brachiis bildet die Umarmung ab. Der Wunsch nach einer gänzlichen Umfassung zeigt den Eifer des Liebenden, doch will Daphnis der Geliebten auch Schutz und Geborgenheit bieten. (S. auch die Einleitung.) nexilibus Vgl. bes. Ov. met. 6,127-128: ultima pars telae … / nexilibus flores hederis habet intertextos. stringam In der Bedeutung „to bind fast“ oder „to draw tight“ klassisch nicht von Menschen (vgl. OLD s.v. stringo 1a und 2). Hier ist eine besonders feste Umarmung gemeint, wie auch durch den Vergleich mit dem Efeu und das dort verwendete Verb premere deutlich wird. S. auch Lal. 9,1-2; 27,15-16. • 26-28 Der baumumrankende Efeu steht oft als Symbol für eine Umarmung oder Umklammerung; vgl. bes. Hor. carm. 1,36,18-20: nec Damalis novo / divelletur adultero / lascivis hederis ambitiosior. (S. auch Lal. 35,11.) Da der Efeu im Lateinischen feminin ist, wird in der antiken lateinischen Literatur in der Regel eine Umarmung von Frauen so beschrieben. (Vgl. die weiteren Belege bei Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,36,20; nicht eindeutig ist Claud. 14,18-19.) Zur Formulierung vgl. besonders noch Ov. met. 4,365: utve solent hederae longos intexere truncos; Catull. 61,33-34 (dort von der Liebe, nicht vom Liebenden): mentem amore revinciens, / ut tenax hedera huc et huc / arborem implicat errans; ferner Verg. ecl. 4,19: errantis hederas. Zum verwandten Motiv der Weinrebe und der Ulme s. den Komm. zu Lal. 8,5. • 29-30 In den beiden Versen werden Elemente aus 5-6 wiederholt: die direkte Anrede an die Geliebte, die Aufforderung veni und die Erwähnung der Herden Lalages. Vita S. V. 13. praeripe te morae Vgl. Hor. carm. 3,29,5: eripe te morae. Mora meint hier „etwas Hinderliches“, durch das sich ein schnelles Eintreffen verzögern könnte; vgl. Cruquius zu Hor. carm. 3,29,5 (Ed. 1597, S. 209): eripe te morae, hoc est, iis rebus quae tibi sunt in mora, quae te remorantur et detinent, quo minus ad nos venias. (Vgl. auch Nisbet/ Rudd 2004 z. St.: „business that causes delay“; OLD s.v. mora 8a; 9.) Ebenfalls in einer Einladung gebraucht Horaz die semantisch gleichbedeutende Formulierung pone moras (4,12,25). Schoonhoven ersetzt das horazische eripe durch praeripe, was als se praeripere in der antiken Literatur nicht gebräuchlich ist. (OLD s.v. praeripio 1d wird als einziger Beleg Ulp. dig. 21,1,17: qui praeripuisset se ad amicum aufgeführt.) Der Gegensatz zu 21 wird durch das Set- <?page no="196"?> 3 Kommentar 196 zen desselben Wortes hervorgehoben: Lalage wird nicht von dem Liebenden fortgerissen werden, sondern soll schnell kommen, sich also zu ihm hingerissen fühlen (non te praeripiet - praeripe te). petulans Der Begriff wird oft in Bezug auf Herdentiere verwendet; vgl. z.B. Sen. Herc. f. 145: petulans haedus; Phaedr. 303: petulans iuvencus. Bei Statius werden in einer Erzählung, in der Pan die Nymphe Pholoe jagt, Pan und andere Waldgottheiten hoc petulans foedumque pecus genannt (silv. 2,3,25; s. auch zu V. 17; 21). • 31-32 Zu gedichtschließenden Sentenzen im Lalage-Zyklus s. Kap. 1.2.2.4. dulce est Vgl. z.B. Hor. carm. 4,12,28: dulce est desipere in loco (ebenfalls in einer Sentenz am Gedichtschluss). S. auch Lal. 5,18; 27,17. laborem Hier ist sicherlich nicht „Arbeit“ gemeint, sondern die Mühe oder Anstrengung, die den Menschen durch die Hitze am Mittag entsteht (vgl. OLD s.v. laboro 3a; z.B. Sen. benef. 6,7,3: quam multos aestu laborantes ramorum opacitas texit! ) und der Lalage zusammen mit Daphnis entfliehen kann, wenn sie zu seinem schattigen locus amoenus kommt. So greift die abschließende Sentenz, ebenso wie die Wiederholung der Einladung in 29-30, noch einmal den Anfang des Gedichtes auf. cum grato pare Mit par wird oft der Gefährte eines Tieres oder ein Pärchen von Tieren gleicher Art bezeichnet; vgl. z.B. Ov. ars 2,483: cerva parem sequitur; Ov. fast. 3,193: cum pare quaeque suo coeunt volucresque feraeque; Petron. 85,5: par columbarum. So wird auch hier die Verschmelzung der Sphären von Mensch und Natur fortgeführt. (S. dazu die Einleitung.) Bei einer menschlichen Beziehung soll durch par in der Regel die Gleichrangigkeit betont werden; vgl. z.B. Ov. epist. 9,32: siqua voles apte nubere, nube pari; Ov. fast. 3,525-526: plebs venit ac virides passim disiecta per herbas / potat, et accumbit cum pare quisque sua. (Vgl. OLD s.v. par 2 .) fallere Hier im Sinne von „vermeiden“, „entgehen.“ (Vgl. OLD s.v. fallo 7a; z.B. Hor. sat. 2,7,114: iam vino quaerens, iam somno fallere curam; Ov. epist. 19,45: non omnia retia falles.) Ad Lalagen. Carmen II Bei der Werbung um Lalage ergibt sich rasch eine Komplikation: Das Mädchen wird von seiner Mutter bewacht und meidet Daphnis daher. Das Gedicht wird durch drei Sentenzen (s. dazu Kap. 1.2.2.4) gegliedert. In 1-14 beklagt Daphnis, sich Lalage nicht nähern zu können, weil ihre Mutter sie im Auge behält (1-4) und weil Lalage vor ihm davonläuft (5-12), was ihn jedoch um so mehr entflammt (13-14). Die erste Sentenz (15-16: Verbotenes reizt besonders) beschreibt noch einmal Daphnis’ Reaktion auf Lalages Zurückhaltung. Nach diesem Eingeständnis seiner Leidenschaft versucht der Hirte jedoch sogleich, Mutter und Tochter zu beruhigen: Er will sich damit zufriedengeben, Lalage anzuschauen (17-20). Die folgende Sentenz (21-23) ersucht um Verständnis dafür, dass die Liebesglut sich nicht verbergen lässt; auch dies lässt sich als Bitte interpretieren, trotz seiner offen- <?page no="197"?> Ad Lalagen. Carmen II 197 sichtlichen Leidenschaft nichts von Daphnis zu fürchten. Zum Schluss wird er wieder mutiger: Die Mutter soll sich heraushalten; sie hat ja leicht reden, da ihr „Durst“ bereits gestillt ist (s. den Komm. zur Sentenz in 27-28). In den letzten sechs Versen äußert Daphnis den Wunsch und zugleich die Mahnung, Lalage und er mögen sich lieben, solange sie beide jung sind. Hier wird der Gegensatz zwischen den jungen Liebenden und der alten Mutter (24: genetrix proxima funeri) besonders deutlich. Der locus classicus für den Topos, dass die Alten tadelnd auf die Freuden der Jugend blicken, ist Catull. 5,2-3: rumores… senum severiorum / omnes unius aestimemus assis; vgl. weiter z.B. Prop. 2,30,13-14: ista senes licet accusent convivia duri: / nos modo propositum, vita, teramus iter. Daphnis bemüht sich, die Mutter als missgünstige Alte zu schildern. Lalages Furcht vor ihm deutet jedoch implizit noch eine andere Rolle der Mutter an, die der Beschützerin ihres Kindes. Besonders deutlich wird dies in der Horazimitation corde tremens fugis (6; s. den Komm. dort). In der zugrundeliegenden Ode 1,23 des Horaz beschwert sich der Dichter, dass Chloe ihn fliehe wie ein ängstliches Hirschkalb auf der Suche nach seiner Mutter. Die Ode schließt mit der Mahnung, Chloe möge sich von der Mutter lösen und ihrem Liebhaber zuwenden; vgl. Hor. carm. 1,23,11-12: desine matrem / tempestiva sequi viro. Lalages Furcht und mädchenhafter Zurückhaltung steht die Leidenschaft des Hirten entgegen, deren Heftigkeit durch Feuermetaphern betont wird (14: incendor; 17: lux; 21: incendia; 22: lumine; 30: ignitis iaculis). Daphnis geht jedoch davon aus, dass Lalage zwar schüchtern, aber ihm prinzipiell nicht abgeneigt sei. Dies zeigt sich zum einen in dem mit Selbstverständlichkeit geäußerten „wir“ des letzten Abschnittes (29: nos; 33: vivamus; s. auch 26: amantibus), zum anderen in der Behauptung, dass Lalage Daphnis „nicht hasse“ (11-12). Der Sprecher der Gedichte an Lalage nennt nur hier (12) seinen Namen. (S. auch Kap. 2.1.2.1 b.) Da er dabei von sich in der dritten Person redet, könnte auch ein Rivale gemeint sein, doch wäre die Erwähnung eines Nebenbuhlers an dieser Stelle unmotiviert, denn das Thema des Gedichtes ist die Verhinderung eines Liebesverhältnisses durch Lalages Mutter, und die entscheidenden Akteure, auf die sich das Gedicht ansonsten ausschließlich konzentriert, sind Lalage, die genetrix und der Sprecher. Zudem ist der Ton viel zurückhaltender, als es bei der Nennung eines Rivalen zu erwarten wäre. So wird beim ersten Auftreten des Rivalen Thyrsis in Gedicht 6 dessen Beziehung zu Lalage in drastischen Worten geschildert, während hier der werbende Liebende fast zaghaft andeutet, dass Lalage ihn nicht prinzipiell ablehne, sondern offenbar auch möge. Durch diesen ersten Hinweis darauf, dass die Liebe des Hirten nicht nur einseitig ist, wird das hoffnungsvolle „wir“ im letzten Teil des Gedichtes vorbereitet. (S. den Komm. zu 26: amantium.) <?page no="198"?> 3 Kommentar 198 Die Vermutung, dass es sich um den Sprecher handelt, wird dadurch gestützt, dass es in dem gesamten Satz (ab 5) um das lyrische Ich und Lalage geht. Die Handelnde ist Lalage, der Leidende ist der Sprecher. Nach me (5), mihi (8) und pectoris (sc. mei, 10) müsste das Objekt in 12 ebenfalls me sein, an dessen Stelle Daphnida steht. (S. bes. auch 5-6: me … fugis und 9: cedis, worauf 11: quamvis non tamen oderis Bezug nimmt.) Zum Metrum: Horaz hat insgesamt zwölf Oden in der vierten Asklepiadeischen Strophe. (Vgl. Shackleton Baileys conspectus metrorum; Ed. 4 2001, 334.) Die Anzahl der Verse ist dort immer durch vier teilbar, und in modernen Editionen werden die Gedichte in der Regel in Strophen zu vier Versen gedruckt. In seiner Horazausgabe von 1834 hatte Meineke postuliert, dass sämtliche Oden des Horaz - auch die monostichisch und distichisch gebauten - in vierzeilige Strophen zu gliedern seien. Diese lex Meinekiana wurde im Folgenden in der Forschung kontrovers diskutiert. (Vgl. Bohnenkamp 1972, 4-21.) Bohnenkamp (54-59) kommt anhand detaillierter Kriterien für die vierte Asklepiadeische Strophe zu dem Ergebnis, dass es sich hier um Einheiten aus jeweils zwei Distichen, also tatsächlich um vierzeilige Strophen handele. Crusius (1967, 119) rechnet die vierte Asklepiadeische Strophe dagegen zu den zweizeiligen Strophen des Horaz. In Horazausgaben, die Schoonhoven vorlagen, ist bei den distichischen Metren jeweils der zweite Vers eingerückt, doch sind keine vierzeiligen Strophen optisch abgesetzt. (Vgl. z.B. Cruquius, Ed. 1597.) Schoonhoven gebraucht die abwechselnden Glykoneen und Asklepiadeen eindeutig als distichisches Metrum. Das Gedicht lässt sich schon aufgrund der Zahl von insgesamt 34 Versen nicht in regelmäßige Strophen zu je vier Versen gliedern. Im ersten Teil enden alle Sätze nach vier oder spätestens acht Versen (1-4; 5-12; 13-16; 17-20); die folgenden acht Verse 21-28 sind in ungleichmäßig lange Sätze geteilt, und die letzten sechs Verse (29-34) fallen endgültig aus einem Viererschema heraus. Das einzige andere Gedicht im selben Metrum, Lal. 12, lässt sich ebenfalls nicht in Strophen zu vier Versen aufteilen. (S. auch die Einleitung dort.) Metrum: 4. Asklepiadeische Strophe, distichisch. 1-2 Das Motiv der Mutter, die durch ihre Nähe eine weitere Annäherung verhindert, kommt beiläufig schon bei Navagero vor; vgl. Lus. 6,3-4: tria basia sumpsi: / nil ultra potui: nam prope mater erat. • 3 ortâ lampade Cynthii Nach Sonnenaufgang. lampade Die Sonne kann als lampas bezeichnet werden; vgl. z.B. Verg. Aen. 7,148-149: postera cum prima lustrabat lampade terras / orta dies; Verg. Aen. 3,637: Phoebeae lampadis instar. Cynthii Den Namen Cynthius trägt Apoll nach seinem Geburtsort, dem Berg Cynthus auf Delos. Von den Dichtern wird er oft als Gott der poetischen Inspiration angerufen (s. auch den Komm. zu Praef. 1-2), doch hier ist er lediglich in seiner Eigenschaft als Sonnengott erwähnt. S. dazu den Komm. zu Lal. 38,15-16: <?page no="199"?> Ad Lalagen. Carmen II 199 Apollo. • 4 siluas Das Wort muss an dieser Stelle dreisilbig gemessen werden wie z.B. in Hor. carm. 1,23,4. Im Originaldruck steht daher vokalisches u statt des konsonantischen v, was ich beibehalten habe, da es die Aussprache korrekt wiedergibt. • 5-6 Zum Faun und den Najaden s. die Einleitung zu Lal. 30. Faunum capripedem Waldgottheiten wie Pan/ Panes, die Satyrn oder Faun/ Fauni, die sich seit dem Hellenismus zunehmend in Aussehen und Eigenschaften gleichen (s. den Komm. zu Lal. 30,12-13), gelten als ziegenfüßig. Vgl. z.B. Lucr. 4,580; Hor. carm. 2,19,3 [Satyrn]; Prop. 3,17,34 [Panes]; Celtis Od. 3,5,57: Faunos capripedes. S. auch Lal. 39,17: capripedi deo. corde tremens fugis Vgl. Hor. carm. 1,23,8: et corde et genibus tremit. (S. auch die Einleitung.) Von dem Zeugma übernimmt Schoonhoven nur die erste Hälfte. • 7 S. auch Lal. 10,7-8: irretortis / praeteriens oculis. oculos S. den Komm. zu 19-20. • 8 Vgl. Catull. 51,5-6: misero quod omnis / eripit sensus mihi. Die Selbstbezeichnung eines Liebenden als miser ist topisch; weitere Belege bei Pichon 1966, 202-203. • 10 desiderium pectoris incutis Vgl. Hor. epist. 1,14,21-22: tibi … / incutiunt urbis desiderium. Fedeli 1997 (z. St.) weist darauf hin, dass incutere viel stärker sei als das übliche inicere. An Stelle des genetivus obiectivus bei Horaz setzt Schoonhoven einen genetivus subiectivus. („Du flößt mir Sehnsucht meines Herzens ein.“) Ein Dativ oder ein präpositionaler Ausdruck wäre eher zu erwarten gewesen; so z.B. Lucr. 1,19: omnibus incutiens blandum per pectora amorem; 1,924-925: incussit suavem mi in pectus amorem / musarum. • 11-12 Daphnis geht davon aus, dass Lalage ihm zugetan ist, doch beschreibt er ihr Gefühl in sehr vorsichtigen Worten. (S. auch die Einleitung.) Quamvis knüpft gedanklich an cedis an. ex animo … candido Lalages Herz ist „strahlend weiß“, d.h. ihre ersten Liebesregungen sind rein und keusch (in dieser Bedeutung Apul. met. 8,30: pudore illo candido). Von der glühenden Leidenschaft des Hirten ist sie offensichtlich weit entfernt. Daphnida Eine solche Selbstanrede in der dritten Person (s. dazu die Einleitung) kommt schon bei Theokrit vor, und auch dort ist es ein Hirte Daphnis, der spricht: ∆άφνις κἠν Ἀίδα κακὸν ἔσσεται ἄλγος Ἔρωτι (Theoc. 1,103). Der Name Daphnis für den liebenden Hirten ist mit Bedacht gewählt. Besonders sei hier auf die männliche Hauptfigur in Longos’ Hirtenroman verwiesen sowie auf den mythischen Hirten Daphnis, der für eine unglückliche Liebe steht, an der er letztlich zugrunde geht. (Vgl. z.B. Theoc. 1; Verg. ecl. 5; zum Mythos in seinen verschiedenen Variationen vgl. Wojaczek 1969. S. auch Kap. 1.2.1.2 b.) Schoonhoven bildet den Akkusativ Daphnida analog zum Genetiv Daphnidis. Die ursprüngliche Form ist Daphnin; vgl. z.B. Theoc. 1,113; Longos 1,3,2; Verg. ecl. 8,68. • 13 tunc mens aufugit et color Im Gegensatz zu 6 greift Schoonhoven hier ein horazisches Zeugma vollständig auf: tum nec mens mihi nec color / certa sede manet (Hor. carm. 1,13,5-6 [im gleichen Versmaß]; vgl. weiter Ov. met. 3,99-100: pariter cum mente colorem / perdiderat). In der Horazode werden ebenfalls Feuermetaphern verwendet (carm. 1,13,8: ignibus; 9: uror), <?page no="200"?> 3 Kommentar 200 jedoch nicht für die Liebe, sondern für die brennende Eifersucht auf einen Rivalen. • 14 Der Vers bereitet die beiden folgenden vor: Unerreichbarkeit steigert die Begierde. incendor Der Liebende ist „entflammt“ oder „entbrannt“ (Pichon 1966, 150: „Flammam in corpore sentire dicuntur qui amore permoventur“); vgl. z.B. Catull. 64,19: Thetidis Peleus incensus … amore u.v.m. Die Metapher wird im Verlauf des Gedichtes weiter fortgeführt. (S. die Einleitung.) diffugis Hier als Intensivum zu fugis (6) zu verstehen. Weil Lalage den Liebenden flieht, verlässt ihn der Verstand, und die Farbe weicht aus seinem Gesicht (13: aufugit). • 15-16 Das Mädchen gibt sich spröde und wird zudem von der Mutter überwacht: Schwierigkeiten, die den Liebenden erst recht entflammen. Die Verse sind eng an Ov. am. 3,4,31 (iuvat inconcessa voluptas) und 3,4,17 (nitimur in vetitum semper cupimusque negata) angelehnt. Ovid denkt dort und in am. 2,19 die Aussage, dass Verbote den Reiz erhöhen, mit ironischer Konsequenz zuende: Zuerst bittet der Liebende den Ehemann, es ihm schwerer zu machen, damit seine Leidenschaft nicht aufhöre, dann rät er ihm, gerade nicht wachsam zu sein, da leicht Erreichbares keine Aufmerksamkeit mehr errege. Daphnis bedient sich dagegen hier der konventionellen Form des Topos. S. auch Lal. 9,18-22; anders Lal. 27,17-20. • 17-18 Dem Geständnis seiner Leidenschaft lässt Daphnis sogleich eine Beruhigung folgen, sei es, um Lalage nicht zu verschrecken, sei es, um ihre Mutter zu überzeugen, dass sie ihre Tochter nicht von ihm fernhalten müsse. Lux (Mea) lux ist ein gebräuchliches Kosewort für die Geliebte; vgl. z.B. Prop. 2,14,29; Ov. am. 1,4,25. (Weitere Belege bei Pichon 1966, 193; vgl. auch Tränkle 1960, 160-161.) Dass Schoonhoven es hier im Kontext der Feuermetaphorik zum ersten Mal verwendet (Lal. 1,13 und 1,29 dagegen Vita), scheint kein Zufall zu sein. lascivis S. den Komm. zu Ad Lect.: lasciva. • 19-20 natatiles … oculos Vgl. z.B. Verg. georg. 4,496: condit… natantia lumina somnus; Aen. 5,856; Ov. met. 5,71: oculis … natantibus. (Vgl. OLD s.v. nato 4b: „[of the eyes] to be incapable of a steady gaze, swim.“) Das Adjektiv natatilis ist in der antiken Literatur nicht in übertragener Bedeutung belegt (vgl. OLD s.v.). Schoonhoven imitiert hier offensichtlich Joh. Sec. Bas. 16,26: huc, illuc oculos volve natatiles. Lalage blickt schamhaft zur Seite (7: nec vertens oculos tuos), Daphnis dagegen hat „ein Auge auf sie geworfen.“ Während Schoonhoven im übrigen Gedicht ständig Licht- und Feuermetaphern verwendet, verzichtet er hier auf die gängige dichterische Bezeichnung der Augen als lumina, obwohl er sie an anderen Stellen gebraucht. (S. bes. Lal. 4,25-27.) • 20 eiaculer Dies ist ein sehr starker Ausdruck, der nur dreimal bei Ovid vorkommt (von herausspritzendem Wasser oder Blut; vgl. met. 4,124; 6,259; fast. 1,270) und dann erst wieder bei Plinius dem Älteren und Gellius. (Vgl. Bömer 1976 zu Ov. met. 4,124.) • 21-23 incendia S. V. 14: incendor: Dieselbe Metapher wird in Form eines Polyptotons weitergeführt. lumine Das Bild der „Liebesflamme“, die sich durch ihr Licht selbst verrät, stammt aus Ovids Brief des <?page no="201"?> Ad Lalagen. Carmen II 201 Paris an Helena (epist. 16,7-8): quis enim celaverit ignem, / lumine qui semper proditur ipse suo? Dort hatte die wiederholte Verwendung der Feuermetapher eine besondere Bedeutung, da Paris das Omen, er werde zur Fackel werden, die Troja anzünde, dahingehend umzudeuten versucht, dass mit dem Brand seine Liebesglut gemeint sei. (Vgl. bes. Ov. epist. 16,43-50; 123- 126.) • 24-25 Zum Ausdruck vgl. Hor. carm. 3,15,2-5: tandem nequitiae fige modum tuae / famosisque laboribus; / maturo propior desine funeri / inter ludere virgines. At (wiederholt in 29) leitet von der bisherigen Beschreibung der Situation und der Verfassung des Daphnis zu Aufforderungen über, die Zukunft schöner zu gestalten. Tantum ziehe ich zu proxima funeri. Ähnlich Hor. sat. 2,3,317: num tantum … magna fuisset. • 26 insinuet Die Mutter mischt sich in Dinge ein, die sie nichts angehen, und drängt sich somit zwischen die Liebenden. amantium Der Plural suggeriert, dass Daphnis’ Liebe erwidert wird. (S. auch V. 11-12 mit Komm.; 29: nos; 33: vivamus.) • 27-28 Vgl. hierzu das sprichwörtliche plenus venter facile de ieiuniis disputat (Hier. epist. 58,2,3; vgl. Otto 1962, 364). Die Mutter ist bereits „gesättigt“ und kann somit ihrer Tochter Enthaltsamkeit predigen. Wir haben hier keine „lüsterne Alte“ vor uns wie z.B. Hor. carm. 3,15 (s. den Komm. zu 24- 25), sondern eine Frau, die ihr (Liebes)leben weitgehend hinter sich hat und das, wonach sie selbst nicht mehr verlangt, der nächsten Generation missgönnt. venae Nach einer Theorie des Lukrez gelangt Nahrung zunächst in die Adern und verbreitet sich von dort aus in den ganzen Körper. Dasselbe gilt auch für Flüssigkeiten und damit für den Wein; vgl. Lucr. 3,476-477: hominem cum vini penetravit / acris et in venas discessit diditus ardor. (Vgl. Brown 1997 z. St.; zur Nahrungsaufnahme durch die Venen ferner Lucr. 2,1125.1136; 4,955.) Zum Bild der vom Wein geschwollenen Adern vgl. auch Verg. ecl. 6,15: inflatum hesterno venas, ut semper, Iaccho. • 29 queis S. den Komm. zu Praef. 13-14: queis. puer aliger Dieselbe gelehrte Umschreibung für den flügeltragenden Liebesgott Amor findet sich bei Seneca (Herc. O. 543: aliger … puer). Vgl. weiter Verg. Aen. 1,663: aligerum … Amorem. S. auch Lal. 4,27; 11,7. • 30 ignitis Fortsetzung der Feuermetapher; s. V. 14; 21-23. Amors Pfeile, die das Herz des Getroffenen entflammen, brennen folgerichtig auch selbst. In der römischen Liebeselegie kommt das Motiv der „Brandpfeile“ Amors nicht vor, doch werden die Pfeile oft zusammen mit der Fackel, einem anderen Attribut des Liebesgottes, genannt. Vgl. z.B. Tib. 2,1,81-82: pone sagittas / et procul ardentes hinc precor abde faces; Prop. 2,29,5; Ov. am. 1,2,45-46. iaculis Ursprünglich ist iaculum der Wurfspeer, doch wird das Wort auch in der Bedeutung „Pfeil“ gebraucht. (Vgl. Wiese: ThLL 7,1,1 [1934],76,82-77,23.) • 31-34 Schoonhoven spielt in dieser Aufforderung zu lieben, solange man noch jung und gesund und der Tod noch fern ist, auf mehrere antike und neuzeitliche Gedichte gleichen Themas an; vgl. bes. Catull. 5,1: vivamus, mea Lesbia atque amemus; Hor. carm. 1,9,17-18: donec virenti canities abest / morosa; weiter z.B. <?page no="202"?> 3 Kommentar 202 Tib. 1,1,69-70: interea, dum fata sinunt, iungamus amores: / iam veniet tenebris Mors adoperta caput; Prop. 2,15,23-24: dum nos fata sinunt, oculos satiemus amore: / nox tibi longa venit, nec reditura dies; Joh. Sec. Bas. 16,43-44: aegra senectus / et morbos trahet et necem. S. auch Lal. 8,21-28 und die Einleitung dort. lepidè S. den Komm. zu Ded.: lepidas. veneris Im Frankfurter Nachdruck ist der Anfangsbuchstabe groß geschrieben, wodurch dort eine im Originaldruck nicht vorhandene Metonymie gebildet wird. S. auch Lal. 39,19; Eleg. 2,22. proelia Zu Liebeskämpfen s. den Kommentar zu Praef. 9. Vgl. hier bes. noch Plaut. Persa 24-25: saucius factus sum in Veneris proelio: / sagitta Cupido cor meum transfixit; Tib. 1,10,53: veneris tunc bella calent. liberae Hier nicht „zügellos, ausschweifend“ wie Hor. epod. 17,57: sacrum liberi Cupidinis (vgl. Mankin 1995 z. St.), sondern „frei“ im Sinne von „uns freistehend.“ Daphnis versucht in diesem Gedicht, die Anwesenheit der Mutter und die dadurch bestehenden Einschränkungen abzuschütteln, und er will Lalage überreden, ihre scheue Zurückhaltung aufzugeben. Ziel ist also erst einmal, überhaupt ungehindert zusammenzukommen, nicht aber, sich einer Leidenschaft ohne jegliche Grenze hinzugeben. Ad Lalagen. Carmen III Da die Mutter über Lalage wacht (s. Lal. 2), versucht Daphnis nun, einen sicheren Ort zu finden, an dem das Paar ungestört zusammenkommen kann. Ein Versteck im hohen Gras oder unter dem dichten Blätterdach der Bäume soll den ersten Kuss vor unliebsamen Blicken verbergen. Das Gedicht lässt sich in drei etwa gleich große Abschnitte gliedern: In 1-19 (= 19 Verse) spricht Daphnis die bukolische Umgebung an (Riedgras, Berge, grasbewachsene Täler, Winde) und bittet um Schutz. Von Lalage redet er in der dritten Person. Die Verse 20-38 (= 19 Verse) sind eine Anrede an Lalage mit der Information, dass die bukolische Umgebung (Berge, Riedgras, Winde, Schafe in den grasbewachsenen Tälern) den erbetenen Schutz gewähren wird. Von der Landschaft wird in der dritten Person gesprochen. Die ersten beiden Teile (Bitte und Gewähren) sind sowohl inhaltlich als auch durch zahlreiche Wortwiederholungen eng miteinander verknüpft (1/ 21: carecta; 5/ 20: culmina montium; 10/ 33: gramine vallium; 13/ 24: aurae). In 39-56 (= 18 Verse) fordert Daphnis Lalage auf, die erreichte Sicherheit zu nutzen und ihn zu küssen. Es folgt eine schwärmerische Schilderung des ersten Kusses. Die Umgebung, die den Rahmen des Geschehens bildet, gerät nun in den Hintergrund, und die Perspektive verengt sich auf die beiden Liebenden. Der süße Kuss wird in mehreren Vergleichen beschrieben, von denen einige zudem eine poetologische Implikation aufweisen (Taubenkuss, Honig, Nektar, Tau als Nahrung der Zikaden; s. die Einzelkommentare). <?page no="203"?> Ad Lalagen. Carmen III 203 Besonders ausführlich fällt der Vergleich mit den Tauben aus (43-48). Die gegenseitige Liebe der Tauben (s. bes. V. 45: mutua) ist ein Abbild der Beziehung zu Lalage, die Daphnis sich wünscht und zu der er sie zu überreden versucht. Eine negative Folie ist dagegen Faun, der den Nymphen auflauert (2-4; Fauno latebras datis wird in 8 durch praebete latebras wieder aufgenommen). Während die Tauben beide prurigine flagrant (48), ist Faun pruriginis impotens (3). Es scheint, als sei Lalage Daphnis tatsächlich in gleicher Weise zugetan wie er ihr (49-56). Schon im nächsten Gedicht wird sich jedoch zeigen, dass sie ihn auch immer wieder hinhält. So trägt zumindest Lalage auch Züge einer Nymphe, die sich den Avancen eines Liebhabers zu entziehen versucht, auch wenn Daphnis sich selbst sicherlich nicht einem lüsternen und unbeherrschten Waldgott gleichsetzt. (S. z.B. Lal. 2,17- 18: non te, lux, malè continens / lascivis manibus excipiam.) Bei der Schilderung des ersten Kusses läge es nahe, auch Catulls Kussgedichte (5 und 7) als wichtige Prätexte zu vermuten, doch gibt es weder inhaltliche noch wörtliche Parallelen. Der Gebrauch des Wortes basia (36 und 39; vgl. Catull. 5,7.13; 7,9) reicht für die Annahme eines intertextuellen Bezuges nicht aus, zumal Schoonhoven für „Küsse“ hier auch oscula und suavia verwendet und zudem die Kussgedichte des Johannes Secundus, die im 3. Abschnitt mehrfach zitiert werden (s. die Einzelkommentare), den Titel Basia tragen. Die bukolische Welt ist den Liebenden gewogen: Berge, Gras und Winde versprechen zu schweigen, und auch die Lämmer werden Lalage nicht verraten. Dies ist eine Erweiterung des Motivs der „pathetic fallacy“, die normalerweise darin besteht, dass Tiere, Bäume und Berge Mitleid mit einem unglücklich Liebenden zeigen oder Trauer über den Tod eines Hirten; vgl. z.B. Theoc. 1,71-5; 7,74 (weitere Stellen bei Gow 1952 zu Theoc. 7,74); Verg. ecl. 5,25-28; 10,13-15. Als strukturelle Vorlage der Verse 1-19 diente Flam. Lus. Past. 4: intonsi colles, et densae in collibus umbrae, / et qui vos placida fons rigat ortus aqua, / si teneros umquam Fauni celastis amores, / si vos Nympharum dulcia furta iuvant, / este boni, tutasque mihi praebete latebras, / dum sedet in gremio cara Nigella meo. Der locus amoenus als geeigneter Ort für die Zusammenkunft von Liebenden ist ein häufiges Motiv (vgl. z.B. Verg. ecl. 9,39-43), doch eine direkte Anrede der Natur mit einer Bitte um Schutz finde ich in der antiken Literatur in dieser Form nicht belegt. (Am nächsten kommt dem ein Epigramm des Thallos, in dem eine Platane angesprochen wird; s. die Einleitung zu Lal. 17.) Ein Gegenstück zu Gedicht 3 bildet Lal. 17: Ad silvas, in quibus osculatus erat Lalagen. Dort dankt Daphnis den Wäldern, die den Liebenden einen schattigen Platz für ihre Zusammenkunft boten. Die Länge der Strophen scheint zunächst willkürlich, wobei ein Pherekrateus als Klauselvers jeweils am Ende eines Satzes oder zumindest eines größeren Sinneinschnittes steht. Wenn Schoonhoven Glykoneen und Phe- <?page no="204"?> 3 Kommentar 204 rekrateen mischt, setzt er den Pherekrateus stets am Ende einer Sinneinheit, ohne regelmäßige Strophen zu bilden (s. auch Lal. 9; 15; 22; 36). Möglicherweise hatte er Gedichte Anakreons vor Augen, in denen gerade bei diesem Metrum der Wechsel ebenfalls nicht ganz regelmäßig ist. (Vgl. PMG 348: 3 + 5 Verse; 357: 3 + 5 + 3 Verse.) Auch wenn bei Anakreon die Verszahlen nicht willkürlich sind, sondern eine Einheit dort stets aus drei oder fünf Versen besteht, mag doch auf ersten Blick der Eindruck des Zufälligen entstehen. Zudem könnte man einen Einfluss von Senecas Tragödien annehmen, wo in Chorliedern aus anapästischen Dimetern in unregelmäßigen Abständen Klauselverse gesetzt werden. (Vgl. z.B. Sen. Herc. 125-203.) Tatsächlich ist im vorliegenden Gedicht das Schema vierzeiliger Strophen in jedem Teil nur genau einmal durch eine längere Strophe durchbrochen (zweimal 7, einmal 6 Verse: 13-19; 24-30; 43-48). Regelmäßige glykoneische Strophen finden sich z.B. in Catulls Gedichten 34 und 61. Metrum: Glykoneen / Pherekrateen. 1-2 carecta … quae … latebras datis Vgl. Verg. ecl. 3,20: tu post carecta latebas. Das Wort carecta kommt in klassischer Poesie nur an dieser Stelle vor. (Vgl. Clausen 1994 z. St.) Dort verbirgt sich ein frecher Dieb, hier der dreiste Faun. protervulo … Fauno S. die Kommentare zu 3-4 und zu Lal. 1,17: protervulum. latebras S. auch V. 8. • 3-4 Schoonhovens Faun ist ein dreister und hinterhältiger Waldgott, der den Nymphen auflauert. (S. auch Lal. 30.) Die teneri amores des Faun bei Flaminio (Lus. Past. 4,3; s. die Einleitung) lassen dagegen eher an von beiden Seiten gewollte Liebesabenteuer denken. pruriginis Das Substantiv prurigo „Juckreiz“ ist erst ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. belegt, speziell als „sexual excitement“ in den Carmina Priapea sowie bei Martial und Juvenal. (Vgl. OLD s.v. 2; z.B. Priap. 27,3; Mart. 11,73,3; Iuv. 6,327.) Das Verb prurire kommt schon bei Plautus vor und wird zuerst von Catull in der Bedeutung „to have a sexual craving, be sexually excited“ verwendet. (Vgl. OLD s.v. 2a; z.B. Catull. 16,9; 88,2; später z.B. Mart. 5,78,27; Iuv. 11,163.) S. auch V. 48. impotens Hier: „ohne Kontrolle über“ (vgl. OLD s.v. 2a); vgl. z.B. Sen. Ag. 126: consilii impotens. • 5-7 Auf den abgelegenen und eher kargen Berggipfeln werden keine Kulturpflanzen angebaut. Die mit wildwachsenden Bäumen bestandenen Höhen gehören zur bukolischen Landschaft; vgl. z.B. Verg. ecl. 5,63: intonsi montes; Flam. Lus. Past. 4,1: intonsi colles. Das Blätterdach, das nicht künstlich gelichtet wird, bietet schon bei Flaminio ein gutes Versteck für Liebende. (S. die Einleitung.) Schoonhoven übernimmt nicht einfach das Adjektiv intonsus, sondern evoziert durch die anschauliche Beschreibung dessen, was hier gerade nicht stattfindet, zumindest indirekt den Vorgang des Stutzens von Bäumen; vgl. z.B. Verg. georg. 2,366: carpendae manibus frondes. In der Antike wurden insbesondere Weinpflanzen und die Ulmen, an denen diese emporrankten, beschnitten, um Licht hereinzulassen. (Vgl. Clausen 1994 zu <?page no="205"?> Ad Lalagen. Carmen III 205 Verg. ecl. 1,56; Verg. georg. 1,156-157; 2,362-370.) Dass landwirtschaftliche Arbeit, darunter auch das Beschneiden der Pflanzen, nicht notwendig ist, gehört zu den Topoi des goldenen Zeitalters. Vgl. z.B. Lucr. 5,935-936: … neque altis / arboribus veteres decidere falcibu’ ramos; Verg. ecl. 4,40: non rastros patietur humus, non vinea falcem. Wenn auch sachlich die Abgeschiedenheit der Berge für die Unberührtheit der dort gedeihenden Pflanzen verantwortlich ist, mag durch die gewählte Formulierung dennoch die Vorstellung vom goldenen Zeitalter anklingen. Die Zusammenstellung der Orte passt nicht, da Riedgras (1) in feuchten Niederungen wächst und nicht auf Berggipfeln. Zudem wird in 9-10 gesagt, dass die Liebenden im Gras der Täler liegen. Die Höhen der Berge sind von dort aus wohl gut zu sehen, können aber nicht (oder zumindest nicht gleichzeitig) dem Hirten und seinem Mädchen ein Versteck bieten. In Lal. 17 sorgen Pappeln für einen schattigen Ort, an dem Daphnis und Lalage zusammenkommen können. • 6 queis Brachylogie für quorum arboribus. Zur Form s. den Komm. zu Praef. 13-14: queis. • 7 frondis Explikativer Genetiv zu decus; s. auch Lal. 17,7. Zur Umschreibung des Laubes als „Zierde der Wälder“ vgl. Sen. Med. 715- 716: aut rigida cum iam bruma discussit decus / nemorum. praeripuit Die Bäume werden nicht beschnitten, d.h. niemand entreißt ihnen das Laub, bevor es von selbst zu Boden fällt. • 8 praebete latebras = Flam. Lus. Past. 4,5. (S. auch die Einleitung und den Komm. zu 3-4.) Während das Versteck des Waldgottes in V. 2 ein Hinterhalt ist, sucht der werbende Hirte für Lalage ein Versteck, in dem sie sich vor unerwünschten Beobachtern sicher fühlen kann (s. V. 32). Dabei denkt man vor allem an Lalages Mutter (s. Lal. 2). • 9 Der Sinn des Versteckspiels, durch den Verweis auf den Faun und die Nymphen schon angedeutet (1-4), wird nun ausgesprochen. Cubans hat eine erotische Konnotation. Vgl. Adams 2002, 177; OLD s.v. cubo 2b (z.B. Plaut. Amph. 112; Ter. Ad. 851; Catull. 78,4). S. auch V. 31: in nostro recubes sinu. • 10 Das Lager aus weichem Gras ist ein Topos der Bukolik, der allgemein zur Beschreibung eines locus amoenus gehören kann. (Vgl. z.B. Theoc. 5,33-4 ὧδε πεφύκει ποία , / χἀ στιβὰς ἅδε ; s. auch die Kommentare zu Praef. 5-6; Lal. 1,6-12.) Hier ist speziell das Liebeslager gemeint; vgl. dazu z.B. Verg. ecl. 10,42: hic mollia prata, Lycori; Prop. 3,13,36 altaque nativo creverat herba toro; Ov. epist. 5,13-14: saepe greges inter requievimus arbore tecti, / mixtaque cum foliis praebuit herba torum. • 11 Zum Versschluss vgl. Hor. carm. 4,12,10: carmina fistula. fistula S. den Komm. zu Lal. 1,15-16: fistula. • 12 gratâ voce = Ov. am. 3,6,98. recenset Die verbreiteten Bedeutungen von recensere wie „aufzählen“, „durchgehen“ oder „prüfen“ passen hier nicht. Lalage summt oder singt wohl die Melodien nach, die Daphnis gespielt hat. • 13-16 Die Lüfte, die einst Midas’ Geheimnis preisgaben (s. V. 24-30 mit Komm.), sollen die Küsse der Liebenden nicht verraten. Sowohl celare als auch occultare kann allgemein „geheimhalten“ bedeuten. (Vgl. OLD s.v. celo 1 4; occulto 2 3.) Damit stehen diese Verben analog zu ne … prodant (28- <?page no="206"?> 3 Kommentar 206 30). Unklar bleibt, welche Küsse Jupiters die Lüfte angeblich verschwiegen haben; eine entsprechende Erwähnung im Mythos ist mir nicht bekannt. • 13-14 Vgl. Navag. Lus. 2,1: aurae, quae levibus percurritis aëra pennis. Das Verb percurrere kommt in Bezug auf den Wind schon bei Lukrez vor; vgl. 1,273: [venti vis] rapido percurrens turbine campos. gradu Für die Bewegung von Luft, Wind oder Wolken wäre ein Ausdruck des Gleitens treffender, da Luft sich nicht schritt- oder stufenweise fortbewegt. • 15 Iovis oscula = Stat. Theb. 10,63. • 16 celastis = Flam. Lus. Past. 4,3. S. auch die Einleitung. • 17 suavia S. den Komm. zu 49. • 18 saevitia levi Ein sehr ähnliches Oxymoron findet sich schon bei Horaz; vgl. carm. 2,12,26: facili saevitia negat. Im Gegensatz dazu wehrt sich Lalage in Gedicht 9,3-4 ernsthaft: tanta saevitia negas / gratum figere basium. • 19 nolens vincere Das Mädchen führt einen Scheinkampf und lässt sich nur allzu gern „besiegen.“ Zum Motiv vgl. z.B. Hor. carm. 1,9,24: digito male pertinaci; Ov. am. 1,5,15: cumque ita pugnaret tamquam quae vincere nollet; Ov. ars 1,663-666; ferner Tib. 1,4,53- 54. S. auch Lal. 4,5-6. figit Die Junktur suavia figere (ebenso basia figere, s. V. 39) scheint nicht klassisch zu sein. Der Ausdruck oscula figere kommt im antiken Epos vor, nicht aber in der Liebespoesie, und meist sind keine Liebesküsse gemeint. (Vgl. OLD s.v. figo 6c; Lackenbacher: ThLL 6,1 [1912- 1926],711,15-17; z.B. Lucr. 4,1179: foribus miser oscula figit; Verg. Aen. 1,687: oscula dulcia figit; Ov. met. 3,24-25: oscula terrae / figit; Stat. Theb. 12,27-28: oscula figunt / vulneribus magnis.) • 20 Lux S. den Komm. zu Lal. 2,17-18: lux. culmina montium = V. 5. Zu den Wortwiederholungen s. die Einleitung. • 21 carecta = V. 1. Zu den Wortwiederholungen s. die Einleitung. latentia Das Partizip nimmt das verwandte Wort latebrae aus 2 und 8 wieder auf. Das hohe Riedgras bietet ein Versteck, doch auch der Ort an sich liegt verborgen in den Bergen. • 22 silentium Hier: „Stillschweigen“, „Geheimhaltung.“ (Vgl. OLD s.v. 2b.) • 23 dulci murmure Mit dem Wort murmur wird häufiger das Geräusch fließenden Wassers beschrieben (s. den Komm. zu Lal. 1,9; vgl. hier noch bes. Navag. Lus. 25,46: [rivulus] leni murmure dulce sonat). Das Attribut dulci zeigt, dass kein verräterisches Wispern wie in 30 gemeint ist. Das leise Flüstern der sich bewegenden Grashalme und Blätter deutet im Gegenteil schon auf das versprochene völlige Stillschweigen voraus. • 24-30 Als Midas bereits wieder davon erlöst war, dass sich alles, was er anrührte, in Gold verwandelte, beging er die nächste Unvorsichtigkeit: Nach einem musikalischen Wettstreit zwischen Pan und Apoll sprach Midas sich gegen das Urteil des Berggottes Tmolus aus, der Apoll den Sieg zugesprochen hatte. Apoll verwandelte daraufhin Midas’ Ohren in Eselsohren, die dieser unter einer Mütze zu verbergen suchte. Ein Sklave, der ihm die Haare schnitt, bemerkte es jedoch und flüsterte das Geheimnis, das er niemandem mitzuteilen wagte, in ein Loch im Erdboden. Aus dieser Erde wuchs Schilf, das, wenn der Wind darin rauschte, Midas’ Geheimnis verriet. Vgl. Ov. met. 11,146-193. • 24 blandisonae Das <?page no="207"?> Ad Lalagen. Carmen III 207 Wort ist in der antiken Literatur nicht belegt (kein Eintrag im ThLL). • 25 Der AcI (26-27) hängt grammatisch von promittunt ab, muss also gleichsam als Apposition zu suam fidem verstanden werden. („Sie versprechen ihre Treue, nämlich dass sie ….“) • 26 arundines Vgl. Ov. met. 11,190-191 (Midas): creber harundinibus tremulis ibi surgere lucus / coepit. • 28 suavia S. den Komm. zu 49. • 29 auriculas Das Diminutivum kann in Bezug auf die langen Eselsohren nur ironisch gemeint sein. • 30 murmure S. auch V. 23. In Bezug auf den Wind wird das Wort selten gebraucht; vgl. aber Verg. ecl. 9,58: ventosi … murmuris aurae. prodant Vgl. Ov. met. 11,192 (Midas): prodidit agricolam. • 31 Vgl. Ov. am. 2,12,2: in nostro est ecce Corinna sinu. Dass Corinna im Schoß des Liebhabers liegt, wird auch durch die Wortstellung abgebildet. Bei Schoonhoven steht zwar nicht der Name des Mädchens zwischen nostro … sinu, aber das in recubes enthaltene „du.“ Vgl. auch Flam. Lus. Past. 4,6: sedet in gremio cara Nigella meo. (S. auch die Einleitung.) • 32 Vgl. Ov. met. 2,458: ‚procul est’ ait ‚arbiter omnis’. • 33 Die Lämmer laufen durch die Täler, in denen Daphnis und Lalage liegen (s. V. 9-10), und können die Liebenden somit beobachten. gramine vallium Zu den Wortwiederholungen s. die Einleitung. • 34 agnae … errant Vgl. Verg. ecl. 2,21: mille meae Siculis errant in montibus agnae. • 35-36 non … prodent S. V. 28.30: ne … prodant. • 37-38 crebrò Der Akzent zeigt, dass es sich um ein Adverb handelt. (Zu den neulateinischen Akzentregeln s. Kap. 1.3 c.) quoque Trotz der Stellung gehört quoque inhaltlich enger zum gedachten Subjekt als zu crebro: Die Lämmer haben Verständnis für die Liebenden, weil auch sie selbst sich gerne ihren „Gatten“ hingeben. coniugi se submittere Das Alter der Tiere ist hier nicht berücksichtigt: Eigentlich sind agnae oder agni die jungen, noch nicht geschlechtsreifen Lämmer. Vgl. Plin. Nat. 8,188: arieti naturale agnas fastidire; Colum. 7,4,3: singuli agni binis nutricibus submittuntur. Das Wort submittere wird im klassischen Latein nicht in der Bedeutung „bestiegen werden“ verwendet. (Vgl. OLD s.v.) Zur Sexualität der Tiere als bukolischem Motiv vgl. bes. Theoc. 1,151-152. Hunter (1999, z. St.) verweist auf die Doppeldeutigkeit von ἀναστῇ . • 39 fige basia S. den Komm. zu 19: figit. nil time Vgl. Plaut. Mil. 1346: ne time, voluptas mea. Die Ermutigung ist gut vorbereitet: Da die ganze Umgebung ein sicheres Versteck für ihre Küsse bieten wird, braucht Lalage nichts zu fürchten. • 40- 48 Vgl. Joh. Sec. Bas. 5,4-8: dependes umeris, Neaera, nostris / componensque meis labella labris / et morsu petis et gemis remorsa / et linguam tremulam hinc et inde vibras / et linguam querulam hinc et inde sugis. Am Ende dieses Kussgedichtes steht ein Vergleich, der das Mädchen über die Götter stellt. (Bas. 5,18-21; s. hier V. 53-55.) • 40 haere pendula Vgl. Joh. Sec. Bas. 9,26: haerensque totis pendula brachiis. Der Ausdruck ist pleonastisch. Im klassischen Latein stünde das Verb pendere, während pendulus ein Hängen in der Schwebe bezeichnet, jedoch nicht in der Bedeutung „anhänglich“ vorkommt. Vgl. OLD s.v. pendulus; zu pendere z.B. [Tib.] 3,6,45; Prop. 3,12,22: <?page no="208"?> 3 Kommentar 208 pendebit collo Galla pudica tuo. • 41 S. auch Lal. 12,13 und 24,20. tremulam Meist ein Zittern vor Schwäche, Angst oder Kälte; in erotischem Sinne bei Apuleius (met. 3,14): oculos … udos ac tremulos et prona cupidine marcidos. • 43-56 Schoonhoven gebraucht mehrere Metaphern und Vergleiche aus dem Tierreich. Die Tauben haben eine erotische, die Bienen und Zikaden eine poetologische Implikation. Daphnis stilisiert sich zugleich als Liebhaber und als Dichter, Lalage als Geliebte und als Muse. S. auch die Einzelkommentare. • 43-45 Der „Kuss“ bzw. das Schnäbeln der Tauben ist ein verbreitetes Motiv. Vgl. Wulff: ThLL 3 (1907),1732,6-15; z.B. Ov. ars 2,465: quae modo pugnarunt, iungunt sua rostra columbae; Mart. 11,104,9: basia me capiunt blandas imitata columbas. Vgl. weiter Joh. Sec. Bas. 16,20-22: … morsibus, / quales Chaoniae garrula motibus / alternant tremulis rostra columbulae; s. auch Lal. 24,19; Eleg. 1,36; 2,21. facili … morsu Zu den spielerischen Bissen s. den Komm. zu Praef. 9: levesque morsus. mutua Vgl. OLD s.v. 4a: „of … each other.“ Die Liebe der Tauben ist wechselseitig. Da sie hier ausdrücklich den beiden Hirten verglichen werden, unterstellt Daphnis wie schon im vorigen Gedicht, dass seine Liebe von Lalage erwidert werde. (S. die Kommentare zu Lal. 2,11-12 und 26: amantium.) • 46-47 Die parallel gebauten Verse bilden die gleichförmige Bewegung ab. • 48 prurigine S. den Komm. zu 3-4: pruriginis. Die Taube galt als Vogel der Venus und als Symbol der Fruchtbarkeit; gelegentlich wurde ihr sogar unersättliche Begierde unterstellt. (Zu letzterem vgl. z.B. Catull. 29,6-8; vgl. Keller 1913, 122-123 und 128.) Zur Treue der Tauben s. den Komm. zu Eleg. 1,35-36: more columbarum. • 49 dulce suavium Der Kuss wird nicht nur durch das Attribut dulcis als besonders süß geschildert, sondern auch durch die Wahl des Wortes suavium. Die nachklassische Form suavium für savium entstand durch Anlehnung an suavis. (Vgl. Keller 1974, 77; Walde/ Hofmann 1982, 2, 483.) Apuleius, der noch die ältere Form verwendet, spielt bereits mit der Ähnlichkeit; vgl. met. 6,8: accepturus … ab ipsa Venere septem savia suavia et unum blandientis adpulsu linguae longe mellitum. Auch Schoonhoven setzt die Paronomasie bewusst ein. (S. auch Suavitas im folgenden Vers.) Vorher wurden von Lalage erhoffte Küsse bereits zweimal (17 und 28) suavia genannt, und die Lieblichkeit der bukolischen Umgebung wurde durch dulcis bzw. dulciter mehrfach hervorgehoben (Gras in 10; Flüstern der Bergwälder und des Riedgrases in 23; Umherschweifen der Lämmer in 34). All das bereitete den Kuss vor, den Lalage dem Liebenden nun tatsächlich gibt. Dieser Kuss bildet den Höhepunkt des Gedichtes und ist gleichsam der Inbegriff der Süße und Lieblichkeit. (S. auch die folgenden Verse.) Dulcis bzw. ἡδύς ist ein Schlüsselwort der Bukolik, das vor allem die Dichtung der Hirten charakterisiert. (Vgl. Bernsdorff 2006, 201-202; Hunter 1999 zu Theoc. 1,1: ἁδύ ; weiter z.B. Theoc. 1,65.145.148; [Theoc.] 8,82; 9,7-8.) • 50 fixisti S. V. 19 und 39. mea Suavitas Dies ist kein klassisches Kosewort für die Geliebte (keine Belege bei Pichon 1966). Suavitas bildet mit suavium (49) <?page no="209"?> Ad Lalagen. Carmen III 209 ein scheinbares Polyptoton, das dadurch hervorgehoben wird, dass die Wörter jeweils am Versende stehen. Während bei suavium die Vokale u und a getrennt gesprochen werden, müssen sie bei Suavitas zu einer Silbe zusammengezogen werden (etwa „Swavitas“). • 51-52 Das Bild des Honigs unterstreicht noch einmal die Süße des Kusses; vgl. Apul. met. 2,10: mellitissimum illud savium; 6,8 (zitiert zu 49). Zugleich kann Honig in unterschiedlicher Weise mit Dichtung in Verbindung gebracht werden. Am berühmtesten ist wohl Lukrez’ Vergleich der poetischen Form seiner Lehrdichtung mit Honig, der bittere Medizin versüßen soll; vgl. Lucr. 1,945-947: volui tibi suaviloquenti / carmine Pierio rationem exponere nostram / et quasi musaeo dulci contingere melle. Zu Beginn des dritten Buches sagt Lukrez, er sammle Weisheiten Epikurs, floriferis ut apes in saltibus omnia libant (3,11). Horaz vergleicht sein Dichten mit dem Honigsammeln der Biene; vgl. carm. 4,2,27-32: ego apis Matinae / more modoque / (…) carmina fingo. Bienen sollen Hesiod und Pindar bei deren Geburt umschwärmt haben; auf Platons Lippen ließen sie sich angeblich nieder. (Vgl. Schuster 1931, 382-383; Waszink 1974, passim.) Theokrit lässt einen Ziegenhirten nach dem Lied des Thyrsis sagen (1,146-148): πλῆρές τοι µέλιτος τὸ καλὸν στόµα , Θύρσι , γένοιτο , / πλῆρες δὲ σχαδόνων , καὶ ἀπ ' Αἰγίλω ἰσχάδα τρώγοις / ἁδεῖαν , τέττιγος ἐπεὶ τύγα φέρτερον ᾄδεις . Vgl. weiter auch [Theoc.] 8,82-83: ἁδύ τι τὸ στόµα τοι καὶ ἐφίµερος , ὦ ∆άφνι , φωνά· / κρέσσον µελποµένω τευ ἀκουέµεν ἢ µέλι λείχειν . Daphnis empfängt den Honig aus dem Mund seiner Lalage. Dies erinnert an Properz’ Behauptung, seine Geliebte sei seine Muse; vgl. 2,1,4: ingenium nobis ipsa puella facit. Die poetologische Deutung wird durch 55-56 gestützt: Dort sagt Daphnis, er wolle von „solchem Nektar“ (dem Honig) leben, so wie Zikaden von Tau. Mit den schön singenden Zikaden werden gute Dichter verglichen. (S. den Komm. zu Lal. 1,2.) Der Dichter Daphnis erhält also seine Inspiration durch Lalages Honigküsse. • 53 Hebe schenkt den Göttern Nektar aus; vgl. z.B. Hom. Il. 4,2-3: µετὰ δέ σφισι πότνια Ἥβη / νέκταρ ἐῳνοχόει . Der Vergleich von Lalages Küssen mit süßem Honig wird noch gesteigert: Nicht einmal der Göttertrank kann mit ihnen mithalten. Im Gegensatz zu Schoonhovens feinsinniger Anspielung wirkt der Anfang des 4. Basium des Johannes Secundus eher platt; vgl. 4,1: non dat basia, dat Neaera nectar. In Lal. 24,32-34 kommt noch einmal ein ähnlicher Gedanke vor: Daphnis zieht selbst eine geträumte Umarmung der Geliebten einem Götterleben vor. • 54 liceat Mit dem Konjunktiv Präsens wählt der Liebende Lalage gegenüber einen zuversichtlichen Ton, um seiner Hoffnung auf zukünftige Küsse Ausdruck zu geben. • 55 tali … nectare Der Honig aus Lalages Mund, also ihr Kuss; s. den Komm. zu 51-52. • 56 Zum Glauben, die Zikade nähre sich von Tau, vgl. Gow 1952 zu Theoc. 4,16 ( µὴ πρῶκας σιτίζεται ὥσπερ ὁ τέττιξ; ) mit weiteren Belegen. Zur Formulierung vgl. bes. Verg. ecl. 5,77: dumque thymo pascentur apes, dum rore cicadae. Nach dem kurzen Ausflug in die Welt der Götter endet das Gedicht wieder in der <?page no="210"?> 3 Kommentar 210 bukolischen Sphäre. Der Abstand zwischen den Göttern und den kleinen Tieren, die sich vom Tau nähren, scheint auf den ersten Blick gewaltig, doch kann die Zikade als ein beinahe göttliches Wesen gepriesen werden; vgl. Anacreont. 34,18 W.: σχεδὸν εἶ θεοῖς ὅµοιος . Zudem verweist Daphnis, indem er sich mit Zikaden vergleicht, zum Schluss noch einmal auf sein Dichtertum. (S. den Komm. zu 51-52.) Ad Lalagen. Carmen IV Das Thema des Gedichtes ist Lalages protervitas (3, 23 und 33; s. auch den Komm. zu Praef. 15). Durch ihr aufreizendes Verhalten schürt Lalage die Liebesglut des Hirten, nur um sich ihm dann doch zu entziehen. Die Verwendung von Feuermetaphern für die wachsende Begierde des Liebenden (bes. 10-11; 36-37) kennen wir bereits aus Lal. 2. Dort erklärte Daphnis Lalages Flucht jedoch mit der Bewachung durch die Mutter des Mädchens und hoffte auf baldige Vereinigung. Nun merkt er, dass Lalage ihr Spiel mit ihm treibt, ohne sich um sein Liebesleiden zu kümmern (33: nil morans). Zentrale Motive werden in zwei weiteren Gedichten aufgegriffen: In Lal. 32 beklagt Daphnis im gleichen Metrum und mit teilweise wörtlichen Entsprechungen erneut Lalages protervitas, doch erhält das Gedicht am Schluss eine andere Wendung. (S. Lal. 32,11-14.) In Lal. 11 wird der Prometheus-Vergleich aus 12-16 aufgenommen und zudem der Liebesgott Amor wiederum mit den Augen des Mädchens in Verbindung gebracht (26-27; Lal. 11,6-7). Die Konstellation erinnert an Polyphem und Galatea in Theokrits Idyllen 6 und 11. (S. die Einzelkommentare zu 1-2; 4; 5-6; 20; 35-37; s. auch Lal. 34,1-6 mit Komm.) Galatea ziert sich und treibt ihr Spiel mit Polyphem; so bewirft sie zum Beispiel seine Herde mit Äpfeln oder läuft fort und nähert sich dann wieder. Polyphem ist in Liebe entbrannt und vernachlässigt seine Herde. Während Lalages Verhalten dem der Galatea insgesamt gleicht, reagiert Daphnis jedoch anders als Theokrits Polyphem. Dessen Taktiken (Theoc. 6,25-34: Eifersucht wecken; 11,73-75: Ablenkung; 11,75-79: Hinwendung zu anderen Mädchen) entwickelt Daphnis nicht, sondern er erduldet seine Liebesqualen passiv. (S. bes. den düsteren Schluss; 39-41.) In den Varia Carmina stellt Schoonhoven sich während langer Wintertage vor, wieder im Garten zu sitzen und „Lalage zu besingen“, also Liebeslieder zu dichten. (S. auch den Komm. zu Praef. 8: Lalagen sonare.) Dabei referiert er den Inhalt von Lal. 4; vgl. Var. Carm., S. 48: [iam mihi videbar] montis gelidis cubans in antris / arguto Lalagen sonare cantu, / illam, quae lepide proterviusque / malis et nucibus petens amantem / nunc dulces repetat suas latebras, / nec tamen latitans latere quaerens, / nunc se prodat ab angulo cachinnans, / nunc foras reliquas premat puellas / ab illis iterum volens repelli. Zum Metrum s. die Einleitung zu Lal. 26. <?page no="211"?> Ad Lalagen. Carmen IV 211 Metrum: Iambische Dimeter. 1-2 Flötenspiel oder Gesang dienen in einigen Gedichten des Lalage-Zyklus als einleitendes Motiv; s. bes. noch Lal. 7; 12; 16; 34; ferner 17; 21. Vgl. auch Theoc. 6,9: ἁδέα συρίσδων . (S. auch die Einleitung.) Für die Identifikation des Daphnis mit Polyphem ist dies natürlich nur ein kumulatives Argument, da das Flötenspiel der Hirten ein gängiges Motiv der bukolischen Dichtung darstellt. cur Durch das pointiert an den Anfang gestellte cur erhält das Gedicht insgesamt den Charakter einer Frage: „Warum spielst du mit meinen Gefühlen? “ fistulantem Im Gegensatz zum Griechischen, das zum Substantiv σῦριγξ regelmäßig auch das Verb συρίζω bildet, ist die Form fistulari für fistula canere im klassischen Latein ungebräuchlich. (Vgl. Bacherler: ThLL 6,1 [1912-1926],831,17-19: einziger Beleg dort ist der spätantike Grammatiker Dositheus, der fistulor mit συρίζω übersetzt.) ab angulo = Hor. carm. 1,9,22. S. auch den Komm. zu 7-8. • 3 proterva S. die Einleitung. perpetim Unklassisches Adverb zu perpes, das nur einmal bei Plautus belegt ist (Truc. 278), dann erst wieder sehr spät. (Georges, s.v. perpetim, führt als Belege Isid. orig. 13,13 und Greg. Tur. stell. § 63 an.) • 4 Das Werfen von Nüssen gehört zum Hochzeitsritual und wird vom Bräutigam oder auch von anderen ausgeführt. Es könnte dabei an einen symbolischen Abschied von der Kindheit gedacht sein (Nüsse wurden für Kinderspiele verwendet; vgl. z.B. Hor. sat. 2,3,171), doch vielleicht steht auch ein Fruchtbarkeitsritual dahinter. (Vgl. Fordyce 1978 zu Catull 61,121; Coleman 1977 zu Verg. ecl. 8,30: sparge, marite, nuces.) Hier geht es jedoch nicht um eine Hochzeit, sondern um erotische Provokation, für die eigentlich das Bewerfen mit Äpfeln topisch ist; vgl. z.B. Theoc. 5,88: βάλλει καὶ µάλοισι τὸν αἰπόλον ἁ Κλεαρίστα (vgl. Gow 1952 z. St.); 6,6-7: βάλλει τοι , Πολύφαµε , τὸ ποίµνιον ἁ Γαλάτεια / µάλοισιν (s. auch die Einleitung); Verg. ecl. 3,64: malo me Galatea petit (vgl. Clausen 1994 z. St.; die Fortsetzung der Vergilstelle wird in den zwei folgenden Versen imitiert). Schoonhoven vermischt die beiden Motive und ersetzt zudem die Nüsse durch bloße Schalen. Damit wird schon zu Beginn des Gedichtes angedeutet, dass Lalage den Hirten zwar reizt, es aber (noch) nicht ernst meint. Es bleibt zunächst bei „leeren“ Versprechungen. putamine Das Wort kommt hauptsächlich in prosaischen Texten vor. (Vgl. Krebs: ThLL 10,2,17 [2009], 2744,4-59.) Eine der wenigen Ausnahmen ist Plaut. Capt. 655, wo es jedoch im übertragenen Sinne gebraucht ist. • 5-6 Vgl. Verg. ecl. 3,65: et fugit ad salices et se cupit ante videri. (S. auch den Komm. zu 4.) Das Motiv der abwechselnden Flucht und Annäherung findet sich schon bei Sappho (1,21 V.: καὶ γὰρ αἰ φεύγει , ταχέως διώξει ) und Theokrit (6,17: καὶ φεύγει φιλέοντα καὶ οὐ φιλέοντα διώκει ; 11,22- 24; s. auch die Einleitung). Zu Scheinkämpfen s. die Kommentare zu Praef. 9 und Lal. 3,19. viderier Die Nebenform des Infinitiv Präsens Passiv war im Altlatein geläufig und kommt später insbesondere noch in Gesetzestexten <?page no="212"?> 3 Kommentar 212 sowie in der Poesie vor, vor allem in daktylischer Dichtung. (Vgl. Leumann 1977, 581-582, § 430,2.) • 7-8 Um die Anwesenheit Lalages zu verraten, genügte es, wenn sie entweder wieder sichtbar würde oder sich durch Geräusche bemerkbar machte. Offenbar verbindet Schoonhoven hier zwei Formen des aufreizenden Verhaltens, einmal den Wechsel von Flucht und (scheinbarer) Annäherung und zum anderen das Versteckspiel, bei dem das Mädchen verborgen bleibt, aber zugleich durch Gelächter sein Versteck kundtut. Zu letzterem vgl. Hor. carm. 1,9,21-22: latentis proditor intimo / gratus puellae risus ab angulo. (S. auch V. 1-2.) altis Vgl. OLD s.v. altus 9a: „(of sounds) deep, loud“; z.B. Catull. 42,18: conclamate iterum altiore voce. Lalages Gelächter ist laut genug, um sie zu verraten; dass es ein „tiefes“ Lachen ist, könnte entweder auf die Tonlage anspielen oder darauf, dass es von tief innen kommt. Vgl. Verg. Aen. 11,95: gemitu … alto. • 9 quid hoc Ergänze est. Es folgen substantivierte Infinitive. • 10 aestum movere fervidum Zur Formulierung, wenn auch mit anderer syntaktischer Verwendung, vgl. Hor. sat. 1,1,38-39: cum te neque fervidus aestus / demoveat lucro. • 11 Der Ausdruck ist sprichwörtlich und wird unter anderem auch in erotischem Kontext verwendet; vgl. Non. p. 22,21: M. Tullius in Hortensio (74): ‚ad iuvenilem lubidinem copia voluptatum, gliscit illa, ut ignis oleo.‘ (Vgl. Otto 1962, 253.) Zur Formulierung vgl. bes. Hor. sat. 2,3,321: oleum adde camino. • 12 Zum Prometheus-Mythos s. bes. Lal. 11 mit Komm.; weiter Lal. 31,1-3. • 13-14 Vgl. Sen. Herc. f. 1206-1207: rupes ligatum Caspiae corpus trahant / atque ales avida. Vgl. auch [Sen.] Herc. O. 1377-1378. • 15-16 Die Interpunktion legt nahe, perpetim nur auf renascens zu beziehen, nicht ἀπὸ κοινοῦ auch auf exhibet. perpetim S. auch V. 3 mit Komm. iecur renascens Vgl. Ov. Pont. 1,2,39-40: sic inconsumptum Tityi semperque renascens / non perit, ut possit saepe perire, iecur. Zur Verbindung des Prometheus- und des Tityos- Mythos s. die Einleitung zu Lal. 11 und den Komm zu 11,9. exhibet Das Subjekt muss nun Prometheus sein, auch wenn der Wechsel nicht markiert ist. • 17 amoris spicula Vgl. z.B. Prop. 2,13,2: spicula quot nostro pectore fixit Amor; Ov. am. 1,1,22; ars 2,520; 3,516. (Vgl. dazu Pichon 1966, 267: „Spicula Amoris, id est sagittae, non raro a nostris poetis nominantur.“) In beiden Drucken ist amoris klein geschrieben. Dennoch wird schon hier vor allem durch die Metapher der Pfeile bereits das Bild des Liebesgottes Amor evoziert, wenn auch die Personifikation erst in 26-27 konsequent durchgeführt ist. • 18 misellum Diminutive können Mitleid oder Zärtlichkeit ausdrücken und dienen im erotischen Kontext besonders der „kosenden Anrede“ des oder der Geliebten. (Vgl. J. B. Hofmann 1951, 139-140.) Da Daphnis hier von seiner eigenen Brust spricht, entsteht der Eindruck von Selbstmitleid. Zum affektischen Gebrauch des Diminutivs vgl. z.B. Catull, 3,16: o miselle passer! ; zur Selbstbezeichnung des Liebenden als miser s. den Komm. zu Lal. 2,8. • 19 cantat classicum Das Ertönen vom Signal der Kriegstrompete kann auch metaphorisch gebraucht werden. In der antiken Literatur gibt <?page no="213"?> Ad Lalagen. Carmen IV 213 es keinen Beleg für eine Verwendung dieses Ausdrucks in erotischem Sinne (vgl. Maurenbrecher: ThLL 3 [1907],1279,6-11), doch ist der Vergleich der Liebe mit dem Kriegsdienst topisch. Vgl. bes. Ov. am. 1,9; s. auch den Komm. zu Lal. 27,20: hosti. • 20 Der verliebte Hirte vernachlässigt seine Herde. Zum Topos vgl. z.B. Theoc. 11,11-13: [ ἤρατο ] ὀρθαῖς µανίαις , ἁγεῖτο δὲ πάντα πάρεργα . / πολλάκι ταὶ ὄιες ποτὶ τωὔλιον αὐταὶ ἀπῆνθον / χλωρᾶς ἐκ βοτάνας (s. auch die Einleitung); Longos 1,13,6: τῆς ἀγέλης κατεφρόνει ; Ov. met. 13, 762-763: [Polyphemus] cupidine captus / uritur oblitus pecorum; Navag. Lus. 19,43: nulla ovium tangit me cura mearum. (Weitere Beispiele bei Vredeveld zu Eob. Buc. 3,122.) S. auch Lal. 20,7. • 22 palans vagetur Der Pleonasmus betont das weite Umherschweifen der Herde, die einen fürsorglichen Hirten brauchte, der seine Tiere wieder zusammentreibt. Auch hier ist der Subjektwechsel nicht markiert (s. V. 15-16), doch bezieht sich der Nebensatz auf das letztgenannte Substantiv des Hauptsatzes. • 23 tantum valet S. auch V. 28. mit Komm. protervitas S. die Einleitung. • 24- 25 lubricus vultus tueri Das überlieferte libricus ist offensichtlich ein Setzerversehen. Zur Junktur vgl. Hor. carm. 1,19,7-8: urit grata protervitas / et vultus nimium lubricus aspici. Tueri ist wie Horaz’ aspici ein finaler Infinitiv (vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 686, § 125), der jeweils von lubricus abhängt. Den zweiten der zitierten Horazverse übernimmt Schoonhoven in Lal. 23,10 wörtlich. • 26-27 Vgl. [Tib.] 3,8,5-6: illius [sc. Sulpiciae] ex oculis, cum vult exurere divos, / accendit geminas lampadas acer Amor. In Lal. 11,6-7 wandelt Schoonhoven das Motiv ab. queis S. den Komm. zu Praef. 13-14: queis. Infans aliger Der flügeltragende Liebesgott Amor; s. Lal. 2,29 mit Komm. und 11,7: puer aliger. • 28 tantum valent S. auch V. 23. Die Anapher unterstreicht die inhaltliche Parallelität der Sätze, in denen es jeweils um Lalages Wirkung auf Daphnis geht. papillulae Das Doppeldiminutivum ist in der antiken Literatur nicht belegt (kein Eintrag im ThLL). Zum Gebrauch von Diminutiven s. auch Kap. 1.2.3. • 29-31 An den Versenden ergeben sich mit der Paronomasie von fascia und fascinant sowie dem Reim von lusitant und fascinant verschiedene Gleichklänge. sub reductâ fasciâ = Lal. 32,9. S. den Komm. dort. sororiantes Vgl. Plaut. fr. 82-84: tunc papillae primulum / fraterculabant - illud volui dicere, / ‚sororiabant.’ Die Ableitung von soror erweckt implizit die Vorstellung, dass die Brüste wie zwei sich gleichende Schwestern seien. Vgl. auch Cant. 4,5 [= 7,3]: duo ubera tua sicut duo hinuli capreae gemelli. (S. auch den Komm. zu 37-38.) S. auch Lal. 32,5-6. lusitant Frequentativum zu ludere, das im Sinne einer tanzenden Bewegung oder einer erotischen Neckerei gebraucht werden kann. (Vgl. OLD s.v. ludere 1c und 4.) fascinant Verzauberung oder Behexung geschieht sonst durch Zaubersprüche (vgl. Catull. 7,12) oder „bösen Blick“ (vgl. Verg. ecl. 3,103: nescio quis teneros oculus mihi fascinat agnos). Hier werden umgekehrt die Augen verhext. • 32 Vgl. Ad Lydiam 22-23: papillas, quae me sauciant / candore et luxu nivei pectoris. (S. auch die Kommentare zu 39-41: vivum <?page no="214"?> 3 Kommentar 214 sanguinem exsugis und in valle semimortuum.) • 33 proterva S. die Einleitung. nil morans Zur Bedeutung „sich um etwas nicht kümmern“ vgl. OLD s.v. moror 4b. • 34-35 pallore tincta Nach unserer Vorstellung ist Blässe das Fehlen von Farbe. Das Verb tingere erklärt sich jedoch daraus, dass die dunklere Haut der Südländer sich gelblich verfärbte; vgl. z.B. Tib. 1,8,52: nimius luto corpora tingit amor. (Vgl. dazu Nisbet/ Rudd 2004 zu Hor. carm. 3,10,14: tinctus viola pallor amantium mit weiteren Belegen; Lee/ Barr 1987 zu Pers. 3,95: lutea pellis; s. auch Lal. 32,4: pallor luteus.) Die Blässe des Daphnis zeigt ihn als „Liebeskranken“, beweist aber auch die Stärke seines Gefühls; vgl. z.B. Ov. ars 1,729: palleat omnis amans: hic est color aptus amanti (dazu Pichon 1966, 224-225 mit weiteren Belegen). macrum Auch das ausgezehrte Äußere ist für den unglücklich Verliebten topisch. Vgl. z.B. Ov. am. 1,6,5: longus amor … corpus tenuavit. • 35-37 quò … ignem Zur Feuermetaphorik vgl. hier bes. Theoc. 11,51-52 (s. auch die Einleitung). S. auch Lal. 2,14: incendorque magis, quo mage diffugis. ignem struis Die Metapher wird durch eine etwas eigenwillige Form der Metonymie ergänzt: Tatsächlich wird das Holz für das Feuer geschichtet (vom Scheiterhaufen z.B. Verg. Aen. 11,204: innumeras struxere pyras; Stat. Theb. 12,62: struxerunt de more rogum), das Feuer dagegen geschürt. Für die Übersetzung habe ich die übliche Form der deutschen Metapher gewählt, wenngleich dadurch das lateinische Verb nicht exakt wiedergegeben ist. • 37-38 salisqué … hinnulus Hier ist ein Hirschkalb gemeint. (Hinnulus kann wie hinnuleus verwendet werden; vgl. OLD s.v. hinnulus 2.) Zur Formulierung vgl. Val. Fl. 6,508: latis … arvis und die Übersetzung des Eobanus Hessus zu [Theoc.] 8,88-89: Daphnis ad haec velut in viridi tener hinnulus herba / ad matrem salit. Im erotischen Kontext ist das Hirschkalb vor allem aus Hor. carm. 1,23,1 geläufig, dort jedoch mit Betonung des Fluchtmotivs. (S. dazu Lal. 20.) Der Vergleich des oder der Geliebten mit einem Hirschkalb findet sich schon im Hohenlied (2,8-9): ecce, iste venit saliens in montibus, transiliens colles; similis est dilectus meus capreae hinuloque cervorum. (Ähnlich Cant. 2,17; vgl. ferner Cant. 4,5, zitiert zu 29-31: sororiantes.) • 39-41 vivum - semimortuum Die Antithese wird durch die rahmende Stellung betont. S. auch Eleg. 1,35-36: Vita … mori. vivum sanguinem exsugis Das „lebendige Blut“ bezeichnet metaphorisch die Lebenskraft, die Lalage ihm raubt. In Lal. 12,15 steht sugebat mihi sanguinem dagegen im Kontext erotischer Handlungen. (Lyce küsst Daphnis, während er schläft.) Zur Formulierung vgl. Plaut. Epid. 188: eorum exsugebo sanguinem; Poen. 614: illic egredienti sanguinem exsugam und im erotischen Kontext Ad Lydiam 17: quid mihi sugis vivum sanguinem? (S. auch den Komm. zu 32.) in valle semimortuum Daphnis fühlt sich dem Tode nahe. (Zu solchen hyperbolischen Ausdrücken für das Leiden an Liebeskummer s. auch den Komm. zu Lal. 5,16: pereo; 32,12: interire.) In dieser düsteren Stimmung endet das Gedicht. Das Motiv eines „Tals des Todes“ ist biblisch; vgl. Ps. iuxta Hebr. 22,4: et si ambulavero in valle mortis, non time- <?page no="215"?> Ad Echo. Carmen V 215 bo malum. Es liegt wohl die Vorstellung einer dunklen, engen Schlucht zugrunde, die zu durchwandern für Hirten und Herden gefährlich war. (Vgl. Hossfeld/ Zenger 1993, 154-155; ebd.: „Ob der Psalm … den Tod als letzte Bedrohung des Lebens mitdenkt, ist schwer zu entscheiden.“) In den Basia des Johannes Secundus spricht wie bei Schoonhoven ein Liebender vom „Todestal“, doch verlässt das Mädchen ihn nicht, sondern holt ihn im Gegenteil zurück; vgl. Bas. 13,9: suaviolum, Stygia quod me de valle reduxit. Vgl. weiter Ad Lydiam 25: sic me destituis iam semimortuum? (S. auch den Komm. zu 32.) Die Parallele legt zunächst nahe, auch in Schoonhovens Gedicht semimortuum als Akkusativ zu verstehen und auf me zu beziehen. Damit bliebe die Angabe in valle jedoch unverständlich. Ad Echo. Carmen V Etwa ein Fünftel der Gedichte des Lalage-Zyklus ist nicht direkt an die Geliebte gerichtet. Teils wird ein anderer Adressat gewählt, und zwar entweder Gottheiten (5: Ad Echo; 26: Ad Lunam; 30: Ad Faunum) oder Orte, die mit Lalage in Verbindung stehen (17: Ad silvas, in quibus osculatus erat Lalagen; 36: Ad campos, in quibus Lalage cubuerat), teils erhalten die Gedichte einen Titel in der dritten Person (28: Pastor et Echo; 38: Lalage potitus triumphat; 40: Lalagen mortuam deplorat). Immer ist ein direkter thematischer Bezug gegeben, und außer in Lal. 28 fällt in jedem Gedicht der Name Lalage. Das fünfte Gedicht an Lalage beginnt in der ersten Strophe mit der Beschreibung eines locus amoenus und der Klage über Lalages Hartherzigkeit. Im Folgenden setzt Daphnis seinen eigenen Liebeskummer zu dem der angesprochenen Nymphe Echo in Parallele, die damit zur Leidensgefährtin des Hirten stilisiert wird. Das Gedicht endet mit zwei Sentenzen. Auffällig ist, dass ein Mann sich mit einer Nymphe, also einem weiblichen Wesen, identifiziert. Ein solches Phänomen gibt es jedoch schon bei Horaz (carm. 1,17,18-28): Im Vergleich der Dreiecksbeziehung zwischen dem Sprecher, seiner Geliebten und einem zudringlichen Nebenbuhler mit der mythologischen Konstellation Penelope - Odysseus - Circe sind die männlichen und weiblichen Rollen vertauscht, und der Sprecher identifiziert sich mit Penelope. Ovid war wahrscheinlich der erste, der die Geschichte der Echo mit dem Narcissus-Mythos verband (met. 3,339-510); in der erhaltenen griechischen Literatur gibt es dafür kein Vorbild. Während im Folgenden meist das Schicksal des Narcissus im Vordergrund stand, wuchs im 16. Jahrhundert wieder das Interesse an Echo, der Nymphe ohne eigene Sprachfähigkeit (s. den Komm. zu 8), was sich vor allem in zahlreichen Gedichten mit Echoreimen niederschlug. (S. die Einleitung zu Lal. 28.) Auch sonst konnte besonders in der Hirtenpoesie Echo als Hauptperson auftreten, während Narcissus nur als Objekt ihrer Liebe erwähnt wurde. Die unerwiderte Liebe <?page no="216"?> 3 Kommentar 216 gehört zu den traditionellen Themen der bukolischen Dichtung, und zudem bietet sich die bukolische Landschaft mit ihren widerhallenden Tälern und Schluchten als Ort für Begegnungen mit Echo an. (Vgl. Vinge 1967, 196 und 248.) Direktes Vorbild dafür, dass ein unglücklich liebender Hirte Echo als Leidensgenossin anspricht, die ihn aufgrund gleicher Erfahrungen verstehen wird, ist Gedicht 19 aus Navageros Lusus. (Vgl. auch Vinge 1967, 163- 164; s. die Einzelkommentare zu 5; 12; 13; 18-20 sowie zu Lal. 28,2-3 und 28,15.) Ansätze gibt es jedoch schon in der antiken Literatur; vgl. im bukolischen Kontext bes. Bion, Epitaphios Adonidos 37-38: ‚ αἰαῖ τὰν Κυθέρειαν· ἀπώλετο καλὸς Ἄδωνις ‘. / Ἀχὼ δ ' ἀντεβόασεν ‚ ἀπώλετο καλὸς Ἄδωνις ‘ ; Longos 2,7,6: ἐπῄνουν τὴν Ἠχὼ τὸ Ἀµαρυλλίδος ὄνοµα µετ ' ἐµὲ καλοῦσαν . Obwohl nur Daphnis spricht, entsteht durch die häufigen Wortwiederholungen (5; 15; 17-18) der Eindruck eines Echos. In den letzten beiden Strophen wird ein zusätzlicher Echoeffekt dadurch erzielt, dass kurz hintereinander dieselben Buchstabenverbindungen oder Vokalfolgen auftreten, die jedoch teilweise spiegelbildlich verkehrt sind; s. V. 13: sors nostra; eadem dea; sperneris; 13-14: nostra nos; 15: adamas has; 16: ut tu; pereo dolens; 18: misero si socium sui: 18-19: sui lenius. (Zu einem „spiegelbildlichen“ Echo in der antiken griechischen Literatur vgl. Call. fr. 28,5-6 Pf.; s. die Einleitung zu Lal. 28.) Während Schoonhoven das Echo hier nur indirekt einsetzt, bildet Lal. 28 ein Echogedicht im engeren Sinne. Anspielungen auf den Narcissus- Mythos finden sich darüber hinaus in Lal. 8,9-12 und 16,17-20, wo jeweils die Person des Narcissus im Vordergrund steht. Metrum: 2. Asklepiadeische Strophe. ad Echo Innerhalb des Gedichtes wird Echo zwar eindeutig charakterisiert (Bereich der Luft; Unfähigkeit, von sich aus zu sprechen; Liebe zu Narcissus), jedoch nicht mehr namentlich genannt. • 1 duritiem Durities ist eine seltenere defektive Variante zu duritia. Vgl. Bannier: ThLL 5,1 (1909-1934), 2292,61-63; z.B. Lucr. 4,268; Catull. 66,50; Ov. met. 1,401. Das abweisende Verhalten des Mädchens gehört zu den Topoi der Liebeselegie; vgl. z.B. Tib. 2,6,28: dura puella; Prop. 1,7,10: aliquid duram quaerimus in dominam; Ov. am. 1,9,19: durae limen amicae (weitere zahlreiche Belege bei Pichon 1966, 136). S. auch Lal. 19,8: duritiem quando plango, puella, tuam; 31,20: tuam misellus duritiem queror. • 2 In der Beschreibung des locus amoenus in 2-4 imitiert Schoonhoven den berühmten Eingangsvers der Bucolica, den schon Vergil selbst am Schluss der Georgica wieder aufnahm (vgl. Verg. ecl. 1,1: Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi; georg. 4,565-566: carmina qui lusi pastorum audaxque iuventa, / Tityre, te patulae cecini sub tegmine fagi), und stellt seine bukolische Dichtung damit in die Nachfolge Vergils. Andererseits nennt er in V. 3 einen niederländischen Fluss (s. den Komm. zu 3: <?page no="217"?> Ad Echo. Carmen V 217 Isula) und zeigt sich so seiner Heimat verbunden. tegmine Ursprünglich bezeichnet das Wort tegmen, das Vergil für das Blätterdach verwendet, ein Material zur Bedeckung (Decke, Gewand u.ä.), seit Cicero und Lukrez metaphorisch auch das Himmelsgewölbe (Cic. Arat. 47 u.ö.: sub tegmine caeli; ähnlich Lucr. 1,98 u.ö.). Vgl. Clausen 1994 zu Verg. ecl. 1,1. populi Statt Vergils Buche wählt Schoonhoven die Pappel. Zur Bedeutung dieses Baums s. den Komm. zu Lal. 1,6: populus. • 3 In einem Gedicht an Echo könnte Wasser an die Quelle des Narcissus denken lassen. Dagegen spricht an dieser Stelle vor allem rapido, denn in einem schnellfließenden Fluss sind Spiegelungen nicht möglich. Zudem identifiziert Daphnis sich ausschließlich mit Echo, nicht aber mit Narcissus, der nur eine untergeordnete Rolle spielt. (S. die Einleitung und den Komm. zu 10.) fluxu Der Begriff wird erst seit dem älteren Plinius verwendet. Fluxus im engeren Sinne (als Flüssigkeit) wird im antiken Latein zumeist von Körpersäften gebraucht, jedoch nicht als poetisches Wort für das Fließen eines Flusses. (Vgl. Bacherler: ThLL 6,1 [1912-1926],985,8.12-53.) labitur S. den Komm. zu Lal. 1,9-10. Das „sanfte Dahingleiten“ steht im Widerspruch zu dem Attribut rapido. Isula Walvis (1714, 8) unterscheidet zwischen der Boven-IJssel (latinisiert: Ysala) und der Neder-IJssel (Ysela). Die Boven-IJssel ist der bekannte Fluss im Osten der Niederlande, der ins IJsselmeer mündet. Die Neder-IJssel, heute Hollandse IJssel genannt, fließt südlich an Gouda vorbei. Sie ist ein Gezeitenfluss, an dessen Ufern sich durch den Tidenhub Schlamm absetzt. (S. V. 4: pinguia pascua.) Schon im 15. Jahrhundert musste das Flussbett regelmäßig ausgebaggert werden. (Vgl. Walvis 1714, 12-13.) Schoonhoven meint hier mit Sicherheit den Fluss seiner Heimatstadt. Seine Familie besaß einen Garten, der sehr wahrscheinlich an einem der Flüsse Goudas lag. (S. dazu auch Kap. 1.1.1.) In den Varia Carmina wird der Garten mehrfach besungen. (Vgl. z.B. Var. Carm., S. 25-26; 31-32; 81-83 und besonders S. 50 [Laus Horti].) Im Lalage-Zyklus erwähnt Schoonhoven nur hier einen real existierenden Ort seiner Heimat. Die Gegend um Gouda passt nicht zu der idealisierten bukolischen Landschaft des Lalage-Zyklus, in der es z.B. auch Berge und Täler gibt. (S. dazu Kap. 1.2.1.2 c.) Die Erwähnung von Flüssen der eigenen Heimat findet sich bereits in der Antike. Vgl. bes. Verg. ecl. 7,12-13 und georg. 3,14-15 (Mincius); Hor. carm. 3,30,10-12 (Aufidus und Daunus). • 4 lambens Das Verb lambere verwendet zuerst Horaz in Bezug auf einen Fluss; vgl. carm. 1,22,7-8: quae loca fabulosus / lambit Hydaspes. Im Griechischen scheint es kein Vorbild für diesen Wortgebrauch zu geben. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 z. St. mit weiteren späteren Belegen.) pinguia pascua Die Weiden sind fett durch den Schlamm, der sich aufgrund der Gezeiten absetzt; s. den Komm. zu 3: Isula. Zur Junktur vgl. z.B. Sen. Tro. 224-225: pascuo / fecunda pingui; Bocc. Buc. 15,17: hic gelidi fontes, hic pascua pinguia. • 5 Vgl. Navag. Lus. 19,11-12: tu quoties querimur, duros miserata dolores / nescio quid tristi flebile voce gemis. (S. auch die Einleitung.) sola … <?page no="218"?> 3 Kommentar 218 solaque Zum Echoeffekt s. die Einleitung. Hier wirkt nicht nur das doppelte sola als Widerhall, sondern auch solus aus V. 1 hallt noch nach. congemis Das Kompositum wird sonst wie das Simplex gebraucht (vgl. OLD s.v. congemo 1: „to utter a cry of grief or pain, groan; also, to make a moaning noise“; 2: „to bewail, lament for“), doch hier wird unterstrichen, dass Daphnis und Echo gemeinsam klagen (s. auch mecum). • 6-7 Vgl. Heins. Man. Dous. (Poemata 3 1610, S. 302): Ad Echo Dousicam: Proles aëris, … / quae tantum loqueris tacesque iussa, / et sequi potes, et nequis praeire … aëreis nata recessibus Vgl. Lucan. 6,445: una per aetherios exit vox illa recessus. Der Klang einer Stimme wird durch die Luft übertragen, und da Echo nur noch als Stimme existiert, ist sie in besonderer Weise mit der Luft verbunden. (Vgl. auch Ov. met. 3,397-398: in aëra sucus / corporis omnis abit.) Nata bezieht sich nicht auf die Geburt der Nymphe Echo, sondern auf ihre Geburt als „das Echo.“ Vgl. auch Auson. epigr. 32,3 (p. 299 ed. Prete): aëris et linguae sum filia. Das Wort recessus weist auf Gedicht 28 voraus (s. besonders Lal. 28,1: diva, quae resonos colis recessus), wo stärker betont wird, dass Echo sich nach ihrer Zurückweisung an abgelegenen Orten aufhält. sequeris Echo lief Narcissus tatsächlich hinterher (vgl. Ov. met. 3,371-372: sequitur vestigia furtim, / quoque magis sequitur, flamma propiore calescit), doch kann sequi bezogen auf die Stimme auch „antworten“ heißen. (Vgl. Verg. Aen. 7,212: dixerat, et dicta Ilioneus sic voce secutus.) Diese geradezu ovidische Pointe, die in den Metamorphosen nicht zu finden ist, übernimmt Schoonhoven von Heinsius (Zitat s.o.). Die begrenzten Kommunikationsmöglichkeiten der Echo beschreibt Ovid ausführlich; vgl. met. 3,375-378: o quotiens voluit blandis accedere dictis / et molles adhibere preces! natura repugnat / nec sinit, incipiat; sed, quod sinit, illa parata est / exspectare sonos, ad quos sua verba remittat. alloqui Ergänze aliquem. • 8 Echos verba loquacia hatten zum Verlust ihrer Redegabe geführt: Juno hätte einmal die Gelegenheit gehabt, Jupiter mit einigen Nymphen zu ertappen, doch Echo hielt sie so lange im Gespräch fest, bis alle Nymphen geflohen waren. Daraufhin schränkte Juno Echos Sprachfähigkeit ein, so dass sie nur noch Gesagtes wiederholen konnte. (Vgl. Ov. met. 3,359-369; s. auch den Komm. zu Lal. 28,5.) Als Echo sich in Narcissus verliebte, fehlte ihr die Möglichkeit, ihn von sich aus anzusprechen. Den Schluss, dass sie deshalb ihre frühere Geschwätzigkeit gehasst haben muss (exosa), zieht Ovid nicht explizit, schildert aber ihren sehnlichen Wunsch nach einer ersten verbalen Annäherung. (Vgl. Ov. met. 3,375-376; zitiert zu 7.) Zur Stellung von exosus zwischen dem gehassten Objekt und einem dieses qualifizierenden Adjektiv vgl. z.B. Ov. met. 1,483: taedas exosa iugales; fast. 5,153: oculos exosa viriles. • 9 tum, quandò Durch den Zusatz von tum wird der Zeitpunkt betont. Vgl. Plaut. Men. 1045: ne tum, quando sanus factus sit, a me argentum petat; ähnlich das dichterische tum/ tunc cum statt einfachem cum. (Vgl. z.B. Lucr. 1,130; Ov. met. 6,334; rem. 71; Pont. 1,5,85; dazu Hofmann/ Szantyr 1965, 619, § 332.) cuperes Im <?page no="219"?> Ad Echo. Carmen V 219 klassischen Latein steht temporales quando stets mit dem Indikativ, im Spätlatein jedoch in Analogie zu cum-Sätzen gelegentlich auch mit dem Konjunktiv. Auch kausales quando kann nachklassisch mit dem Konjunktiv stehen; zudem kann diese Konjunktion im Spätlatein adversative Bedeutung erhalten. Vgl. Hofmann/ Szantyr 1965, 607-608, § 328; s. auch Lal. 22,23-24; 25,11-12; 29,5-7; Indikativ Perfekt nur 36,13-14. malè continens = Lal. 2,17. (Dort verspricht Daphnis Lalage, er werde nicht unbeherrscht sein.) • 10 Narcisso Das Thema des Gedichtes ist die Klage von zurückgewiesenen Liebenden. Folglich wird der Mythos aus der Perspektive der Echo erzählt, während an Narcissus nur sein Hochmut hervorgehoben wird. Motive wie die Spiegelung in der Quelle und die Selbstverliebtheit, die im Narcissus-Mythos handlungstragend sind, spielen hier keine Rolle. puero Bei Ovid erscheint Narcissus als Knabe an der Grenze zum Jünglingsalter (met. 3,352: poterat… puer iuvenisque videri), kann aber auch einfach puer genannt werden (met. 3,495). Zu puer in attributiver Stellung vgl. OLD s.v. 1b. corpore iungier Ein gängiger Euphemismus für die sexuelle Vereinigung (vgl. OLD s.v. iungo 3b), doch ist die Konstruktion ungewöhnlich. Häufiger belegt ist aktives iungere mit corpus/ corpora als Akkusativobjekt; vgl. bes. Lucr. 4,1193: [mulier] complexa viri corpus cum corpore iungit; Lucr. 5,962: Venus … iungebat corpora amantum; Ov. met. 9,470: visa est quoque iungere fratri / corpus. Zur Form des Infinitiv Präsens Passiv s. den Komm. zu Lal. 4,5-6: viderier. • 11 Caucasea Nach Ovid (met. 8,797-798) liegt der Kaukasus im eisigen Skythien. (Zur Kälte dieser Gegend vgl. z.B. Ov. Pont. 1,3,37: Scythico quid frigore peius? ) Beim von Phaethon verursachten Weltenbrand wird hervorgehoben, dass selbst die höchsten und damit kältesten Berge brennen; in dieser Reihe ist auch der Kaukasus genannt. (Ov. met. 2,224: nec prosunt Scythiae sua frigora: Caucasus ardet.) S. auch den Komm. zu Lal. 11,4-5: Caucaseis … antris. frigidior nive Johannes Secundus sagt, die Geliebte sei Alpinis animum frigidior nivibus (Eleg. 2,5,8.38). Murgatroyd (2000, z. St.) nennt als Prätexte Verg. ecl. 10,47 (Alpinas … nives et frigora Rheni) und Ov. Pont. 3,4,33-34 (pectora sint nobis nivibus glacieque licebit / … frigidiora). • 12 contempsisset Das Plusquamperfekt kann schon im klassischen Latein anstelle des Perfekts stehen, teils aus metrischen Gründen, teils auch, um die Vergangenheit deutlicher zum Ausdruck zu bringen. (Vgl. Hofmann/ Szantyr 1965, 320-322, § 179; Platnauer 1971, 112- 115 mit Beispielen aus der römischen Liebeselegie.) Zum Modus s. den Komm. zu 9: cuperes. Als Objekt der Verachtung wird nur Echo genannt (9: te), nicht aber die zahlreichen weiteren Mädchen und Jungen, die Narcissus nach dem Mythos liebten. (Vgl. Ov. met. 3,354-355.) Die Konzentration auf die Figur der Echo ist bei Navagero trotz der gleichen Grundsituation weniger ausgeprägt; vgl. Lus. 19,17: ipse omnes odit amores. (S. auch die Einleitung.) • 13 sors est nostra eadem Vgl. Plaut. Bacch. 1108 (s. auch den Komm. zu 18-20): igitur pari fortuna … utimur. Das parallele Schicksal hebt <?page no="220"?> 3 Kommentar 220 auch Navagero hervor; vgl. Lus. 19,13-14: nec mirum, quod tu lacrimis movearis amantum: / perdidit infelix te quoque durus amor. (S. auch die Einleitung.) Dea Im Druck sind Vokative generell nicht durch Kommata abgetrennt, so dass Dea auch als Prädikativum gelesen werden könnte („obwohl du Göttin bist“). In dieser Strophe soll jedoch die Gleichartigkeit des Leidens betont werden und nicht die Tatsache, dass Echo als Nymphe zu den Gottheiten gehört. sperneris Vgl. Navag. Lus. 19,41: meos quid spernis amores. (S. auch die Einleitung.) • 14 turgida Lalage ist hochmütig, wie es einst Narcissus war. In Lal. 8,12 heißt es von der Narzisse, die noch Züge des Narcissus trägt, sie habe ein turgidulum caput. neglegit Vgl. Navag. Lus. 19,20: omnes neglegit ille preces. (S. auch die Einleitung.) • 15 valles Die Täler sind Teil der bukolischen Landschaft und werden in anderen Gedichten als Ort der Begegnung mit der Geliebten genannt. (S. z.B. Lal. 3,10; 13,4; 14,5; 15,26.) Nun aber irrt Daphnis einsam umher, und seine Klage hallt von den Berghängen wider. adamas … adamo Zum Echoeffekt s. die Einleitung. Im klassischen Latein hat adamare ein anderes Bedeutungsspektrum (vgl. OLD s.v.) - vor allem „liebgewinnen“ und „begehren“ (als erotisches Begehren oder allgemein als Trachten nach etwas) -, wohingegen Schoonhoven „lieben“ im Sinne von „sich gerne dort aufhalten“ meint. Ein Grund für die Wahl des Kompositums könnte darin liegen, dass auf diese Weise der Vokal „a“ noch öfter hintereinander erklingt, was den Echoeffekt zusätzlich verstärkt. • 16 pereo „The conventional metaphor of the lover’s condition“ (Coleman 1977 zu Verg. ecl. 10,10) zeugt von der Stärke des Gefühls, und zwar sowohl der Liebe als auch des Leidens an Liebeskummer. Vgl. z.B. Verg. ecl. 8,41: ut vidi, ut perii; 10,10: indigno cum Gallus amore peribat; dazu Pichon 1966, 230 mit zahlreichen Belegen: „perire, sicut perditus, modo refertur ad eos qui ab amantibus decepti sunt, … modo ad eos qui nimia cupidine uruntur“; OLD s.v. pereo 4. In mehrfacher Wiederholung finden sich Ausdrücke des Dahinscheidens in Caspar Barths Amphitheater Gratiarum, vgl. 16,104: febre interibit; 16,105: amore … perire; 16,113: perit febri Rosillus (Humanistische Lyrik 1997, 884). Dort endet das Gedicht mit einer performativen Vergegenwärtigung des dahinsiechenden Liebenden, der den Namen seiner Geliebten Neaera sowie seinen eigenen, Rosillus, schließlich nur noch schluchzen und zuletzt stammeln kann. • 17-18 miseram … miser … misero Zum Echoeffekt s. die Einleitung. Auch miser aus V. 15 hallt noch nach. • 18-20 Im Unglück ist es ein Trost zu sehen, dass auch andere leiden. Der Gedanke lässt sich zu einem fabula docet bei Äsop zurückverfolgen: οὕτω καὶ τοῖς ἀνθρώποις αἱ τῶν ἄλλων συµφοραὶ τῶν ἰδίων δυσχηµάτων παραµυθίαι γίνονται (Aesop. fab. 143, I Hausrath, mit leichter Abwandlung in 143, III). Seit dem Mittelalter entstanden verschiedene lateinische Versionen in Form von Hexametern, zunächst gaudium est miseris socios habuisse poenarum (14. Jahrhundert), dann solamen miseris socios habuisse doloris (Marlowe: Faustus, 1588) und schließlich das von Spinoza <?page no="221"?> Ad Lalagen. Carmen VI 221 zitierte und dort als Sprichwort bezeichnete solamen miseris socios habuisse malorum (Ethica 4,57, 1677). Vgl. Büchmann 1981, 251. Vgl. weiter Plaut. Bacch. 1105 (s. auch den Komm. zu 13): eugae, socium aerumnae et mei mali video; Navag. Lus. 19,39: tu mecum socias, Echo, coniunge querelas (s. auch die Einleitung). Ähnlich unser „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ (niederländisch: „Gedeelde smart is halve smart“; vgl. Cox 1988, 149). dulce est Vgl. z.B. Hor. carm. 4,12,28: dulce est desipere in loco (ebenfalls in einer Sentenz am Gedichtschluss; s. dazu Kap. 1.2.2.4). S. auch Lal. 1,31; 27,17. Fata … premunt Zur Formulierung vgl. Lucan. 8,544: sic fata premunt civilia mundum; ferner Lucan. 5,758: si fata prement victorque cruentus. Ad Lalagen. Carmen VI Dem Werben um Lalage stellt sich ein neues Hindernis entgegen: der Rivale Thyrsis. Daphnis beobachtete die beiden aus einem Versteck heraus (34). Im ersten Teil des Gedichtes (1-24) erzählt er in Form fassungsloser Fragen, was er sah und wie er sich dabei fühlte. Es folgt ein Gleichnis, das aus Vergils Georgica entlehnt ist und in dem Daphnis sich selbst als hilflos klagende Nachtigall, den Rivalen als bösen Bauern oder gar wilde Bestie darstellt (25-31: illustrans; 32-34: illustrandum). Das Gleichnis steht im Zentrum des Gedichtes (wenn auch nicht exakt in der Mitte) und weist eine ringförmige Struktur auf. Von den sieben Versen (25-31) handeln der mittlere und die beiden äußeren von der klagenden Nachtigall, die beiden Verse vor und nach dem mittleren von den Vogeljungen (gerahmt von pullos in 27 und 29) und der zweite sowie der vorletzte Vers vom bösen Räuber. Der Gegensatz zwischen dem aggressiven Thyrsis und dem schwachen Sprecher wird in 35-45 fortgeführt, doch setzt der nach eigener Aussage Unterlegene sich nun mit kleinen Boshaftigkeiten zur Wehr. Dann ändert er die Taktik und versucht Lalage in einer Synkrisis der beiden Kontrahenten davon zu überzeugen, dass Thyrsis gar nichts könne, er selbst aber in allen möglichen Künsten geschickt sei (46-61). Auch dies geschieht vor allem in Form von Fragen (49-57), die hier dazu dienen, die eigene Überlegenheit nicht einfach zu behaupten, sondern Zustimmung der Angesprochenen zu heischen. Tatsächlich gelingt es Daphnis in diesem Gedicht jedoch nicht, Sympathie oder Mitleid zu wecken. Zu deutlich zeigt er seine Missgunst und eine kindisch anmutende Rachsucht, und zudem versucht er am Schluss, die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht mit Aufschneiderei zu kompensieren. Der Ton des Gedichtes erinnert an das Streitgespräch zwischen Menalcas und Damoetas in Vergils dritter Ekloge. (Zu direkten Anklängen s. die Einzelbelege.) In der siebten Ekloge Vergils trägt ein Rivale im Sängerwettstreit den Namen Thyrsis. Dort ist Thyrsis als „neiderfüllter und hämischer Konkurrent“ charakterisiert (Pöschl 1964, 107; vgl. dazu insgesamt <?page no="222"?> 3 Kommentar 222 100-142), der offensiv seine Fähigkeiten überschätzt und folgerichtig im Wettstreit unterliegt. Bei Schoonhoven erhält jedoch eigentlich nicht Thyrsis diese negativen Eigenschaften. Daphnis versucht zwar, Thyrsis schlecht zu machen, doch wirft dies insgesamt vor allem ein ungünstiges Licht auf ihn selbst, der dadurch dem vergilischen Thyrsis viel ähnlicher erscheint als der Rivale. Im Aufbau orientiert Schoonhoven sich an Flam. Lus. Past. 18,1-18, wo der Rivale ebenfalls Thyrsis heißt. (S. auch hier die Einzelbelege.) Im Gegensatz zu Flaminios Text weist das Gedicht an Lalage deutliche parodistische Züge auf. Besonders greifbar wird dies bei zwei längeren Passagen, in denen Elemente des Lehrgedichtes aufgenommen sind. Die eine ist das Gleichnis der Nachtigall, das ursprünglich aus dem homerischen Epos stammt (s. den Komm. zu 25-31) und von Vergil im Orpheus-Epyllion am Schluss der Georgica eingesetzt wird, um die Trauer des Orpheus um Eurydike zu illustrieren. Schoonhoven verwendet es dagegen, um das Rivalitätsverhältnis zweier Hirten zu beschreiben, von denen der eine als ungepflegter, roher Geselle charakterisiert wird, während der andere der Situation mit kindischen Trotzreaktionen begegnet. Die prahlerische Rede weist wieder deutliche Anklänge an die Lehrdichtung auf. (S. bes. V. 56-61 mit Komm.) Gerade an den Stellen, die eng an Vergils Georgica orientiert sind, fällt der Wechsel des Metrums besonders ins Auge. Es scheint kein Zufall zu sein, dass Schoonhoven trotz der ausführlichen Imitationen des Lehrgedichtes nicht zugleich das Metrum des Hexameters übernimmt, sondern stattdessen den catullischen Phalaeceus wählt. Die parodistische Tendenz lässt sich noch an weiteren Stellen zeigen; s. bes. die Kommentare zu 7; 17-18; 43-45; 52. Das Auftreten eines Rivalen ist ein häufiges Motiv der römischen Liebeselegie (vgl. z.B. Tib. 1,5; 1,6; Prop. 2,9; 2,24B; Ov. am. 1,4; 2,5; 3,11), doch bleibt der Rivale dort in der Regel namenlos und stellt eher einen Typ als eine bestimmte Person dar. In der bukolischen Literatur werden öfter Namen genannt und teilweise ausführlichere Geschichten erzählt (z.B. Lykos in Theoc. 14; Dorkon in Longos 1,15-30; Iollas in Verg. ecl. 2). Die „Geschichte“ des Rivalen Thyrsis wird in Lal. 27 und 35 weiter verfolgt. Dort befindet sich Daphnis jeweils in der besseren Position, die er in Gedicht 27 noch gewaltsam behaupten muss, während ihn Lalage in Gedicht 35 endlich selbst dem Rivalen vorzieht. Darüber hinaus wird Thyrsis in Lal. 18,20 und 33,14 genannt. Da der Personenkreis bei Schoonhoven konstant bleibt, kann man auch dort eine Identität der Person annehmen, die jedoch ansonsten nicht zwingend ist. (S. auch Kap. 1.2.1.2 b.) In den beiden Elegien am Schluss der Amores Pastorales wird das Thema des Rivalen noch einmal aufgegriffen. Zu Berührungspunkten der Elegien mit den Rivalengedichten des Lalage-Zyklus s. die Einleitung zu den Elegiae. <?page no="223"?> Ad Lalagen. Carmen VI 223 Metrum: Phalaeceen. 1 Vgl. Flam. Lus. Past. 18,1: dic age, quid tecum faciebat, perfida, Thyrsis? (S. auch die Einleitung.) caprarius Das Wort kommt in der antiken Poesie nicht vor, sondern stammt aus der landwirtschaftlichen Fachprosa; vgl. Varro rust. 2,3,10; Colum. 3,10,17. Dass Daphnis den Rivalen zunächst nur als caprarius ille und caprimulgus ille (s. V. 13 mit Komm.) bezeichnet und erst in 49 zugibt, auch seinen Namen zu kennen, wirkt besonders abwertend. Eine „Hirtenhierarchie“ lässt sich dagegen nicht ausmachen, ebenso wenig wie bei Theokrit oder Vergil (vgl. Schmidt 1987, 37-55), denn auch Daphnis und Lalage weiden Ziegen. (S. z.B. Lal. 33,7-8: nos, Vita, capellas / hoc pascamus in angulo.) • 2 tremulâ in umbrâ Vgl. z.B. Calp. ecl. 5,101: tremulas … umbras; Sil. 7,145; Stat. Theb. 5,749. Wenn das Laub sich bewegt, bewegt sich der Schatten mit. Das Adjektiv tremulus steht in den Amores Pastorales ansonsten immer in erotischem Kontext. S. V. 14: papillas; sonst beim Kuss von der Zunge (Lal. 3,41; 12,13; 24,20) bzw. von den Schnäbeln der Tauben (Eleg. 2,21). cubans Das Liegen im Baumschatten erinnert natürlich an Vergils ersten Eklogenvers: recubans sub tegmine fagi. Vgl. auch Var. Carm., S. 99 (gemeinsames Dichten mit Willem Traudenius im Garten): hîc pronus tremula cubans in umbra. Zur erotischen Bedeutung von cubare s. den Komm. zu Lal. 3,9. • 3-4 sic Das ist „im Schatten liegend.“ Vgl. sehr ähnlich Hor. carm. 2,11,13-17: cur non sub alta vel platano vel hac / pinu iacentes sic temere (…) potamus? nutuqué notisqué Die nonverbale Kommunikation durch Kopfnicken, Mienenspiel und verabredete Zeichen mit den Händen dient einer geheimen Verständigung mit der Geliebten, wenn z.B. beim Gastmahl der Rivale ebenfalls anwesend ist. Vgl. z.B. Ov. am. 1,4,17-18: me specta nutusque meos vultumque loquacem: / excipe furtivas et refer ipsa notas; s. auch Lal. 27,7 mit Komm. Zwischen Lalage und Thyrsis ist eine „Geheimsprache“ im Grunde unnötig, da sie ohnehin sichtbar zusammen sind. Thyrsis beschränkt sich auch nicht auf stille Zeichen, sondern schwätzt dazu. (S. den folgenden Vers: garriret.) non ferendis Vgl. Ov. am. 3,11,27: his [sc. nutibus, notis u.a.] … ferendis. • 5 Im dritten Gedicht versprach Daphnis Lalage, dass niemand sie beobachten würde. (S. Lal. 3,32: omnis arbiter est procul mit Komm.) Vgl. zur Formulierung auch Plaut. Mil. 1137: circumspicite ne quis adsit arbiter und zum möglichen Neid eines fremden Zuschauers Catull. 5,12: ne quis malus invidere possit. • 6 mater Die Mutter, die ihre Tochter überwacht, kennen wir aus Lal. 2. Vgl. auch Flam. Lus. Past. 18,2 (s. die Einleitung): sub corylo matrem dum sopor altus habet. Ferox steht ἀπὸ κοινοῦ zu mater und pater. • 7 Vgl. Verg. ecl. 6,21-22: Aegle … iamque videnti / sanguineis frontem moris et tempora pingit. Coleman (1977, z. St.) erklärt, dass Fruchtbarkeitsgötter rot angemalt wurden (z.B. Priap: Tib. 1,1,17-18; Ov. fast. 1,415), ebenso Götterstatuen an Festen. Der Ursprung war wohl ein apotropäisches Ritual. Aegle unterwirft dadurch <?page no="224"?> 3 Kommentar 224 den Silen dem Willen der Sterblichen und besänftigt seinen Zorn. Bei Schoonhoven ist nicht gesagt, wem Lalage die Schläfen rot anmalt. Wenn man auch hier eine apotropäische Wirkung annehmen will, müssten es die Eltern sein, die gerade schlafen (so wie zunächst der Silen in Vergils Ekloge und wie auch die Mutter in Flaminios Gedicht; s. den Komm. zu 6). Eine andere Möglichkeit wäre, dass Lalage sich selbst oder Thyrsis das Gesicht färbt, um irgend etwas zu verdecken - vielleicht Liebesmale (s. Praef. 9; Lal. 12,12) oder die für Liebende typische (und damit verräterische) Blässe (s. Lal. 4,34-35). Jedenfalls wird die eigentlich sakrale Handlung an Menschen ausgeführt, so dass hier ein parodistisches Element vorliegt. (S. die Einleitung.) rubenti Maulbeeren haben die schwärzlich-rote Farbe geronnenen Bluts; vgl. Ov. met. 4,125-128 („Färbung“ der Maulbeere durch das Blut des Pyramus): arborei fetus adspergine caedis in atram / vertuntur faciem, madefactaque sanguine radix / purpureo tingit pendentia mora colore. • 8 basiationes = Catull. 7,1 (an gleicher Versposition). • 9 figebas S. den Komm. zu Lal. 3,19. genisque duris Die „harten“ Wangen sind wahrscheinlich bärtig oder mit Bartstoppeln bedeckt und dadurch rau. Der Rivale wird als ungepflegter, wilder Geselle stilisiert. (S. auch V. 15-17 und 37-40.) Daneben deutet durus auf emotionale Gefühllosigkeit und weist auf das Gleichnis in 25-31 voraus: Der malus arator (26) heißt im vergilischen Vorbild durus arator; vgl. georg. 4,512. • 10-12 Offenbar fällt Thyrsis’ Gewand so locker, dass man, wenn es sich bewegt, seine intimen Körperteile sehen kann. Die Drastik passt zum Ton des gesamten Gedichtes. (S. auch die Einleitung.) prurigine S. den Komm. zu Lal. 3,3-4: pruriginis; weiter Lal. 3,48; 23,15-16. perfida Vokativ, oder prädikativ zum „du“ in videbas (10). Vgl. Flam. Lus. Past. 18,1 (zitiert zu 1); s. auch V. 47. vestium meatus Der Wortgebrauch ist ungewöhnlich; im klassischen Latein kann meatus zwar neben „Weg“, oder „Bahn“ auch „Öffnung“ bedeuten, doch sind dann Körperöffnungen gemeint. (Vgl. Brandt: ThLL 8,1 [1936],511,63-515,50.) locum cupitum Zur Bedeutung von locus als „Schambereich“ vgl. OLD s.v. 2; z.B. Lucr. 4,1034: loca turgida semine multo; Ov. ars 2,719: loca … quae tangi femina gaudet. • 13 caprimulgus Die Bezeichnung ist abwertend; vgl. Catull. 22,10. Hier liegt eine besondere Pointe darin, dass der „Ziegenmelker“ nun Lalages Brüste streichelt. • 14 lascivus S. den Komm. zu Ad Lect.: lasciva. tremulas Hier ist kein Zittern gemeint, sondern eine sanftere Bewegung. Zu tremulus als „wiegend“ oder „schaukelnd“ vgl. Catull. 17,12-13: pueri instar / bimuli tremula patris dormientis in ulna. (Vgl. OLD s.v. 2.) S. auch V. 2 mit Komm. • 15 flores varios Vgl. Verg. ecl. 9,40-41: varios hic flumina circum / fundit humus flores. necaret Um den Rivalen in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken, wählt Daphnis ein übertrieben hartes Wort für das Pflücken der Blumen. (Vgl. OLD s.v. neco 2a: „to kill [plants]“; was dann jedoch „vernichten“ bedeutet.) Als Daphnis selbst Lalages Brüste mit Blumen bestreuen wollte, wirkte die Szene dagegen ganz liebreizend; <?page no="225"?> Ad Lalagen. Carmen VI 225 s. Lal. 1,14: aspergam nitidis ubera floribus. ungui Vgl. Catull. 62,43: [flos] tenui carptus defloruit ungui; Prop. 1,20,39: [lilia] decerpens tenero pueriliter ungui. Bei Catull wird der gepflückten Blume die „gepflückte“ Jungfrau verglichen; vgl. 62,45-46: virgo … cum castum amisit polluto corpore florem …. Das Blumenpflücken des Thyrsis deutet also auf 23-24 voraus. (Zur erotischen Konnotation s. den Komm. dort.) Dass Daphnis als pars pro toto gerade den Nagel, also den härtesten und spitzesten Teil der Hand, nennt, ohne dabei wie Catull und Properz das Attribut tenuis bzw. tener hinzuzufügen, trägt zur negativen Charakterisierung des Thyrsis bei. • 16 sociaret Mit corpus oder cubile als Objekt wird das Verb auch in der Bedeutung „to have sexual intercourse“ verwendet. (Vgl. OLD s.v. socio 2b und 3; z.B. Ov. am. 2,8,5: quis fuit inter nos sociati corporis index? ) Zu erotischen Konnotationen s. auch die Kommentare zu 15: ungui; 23-24. • 17-18 Die zarten, lieblich duftenden Blumen bilden einen scharfen Kontrast zur Derbheit und Ungepflegtheit des Ziegenhirten. naribus … duceret … odorem Vgl. z.B. Hor. carm. 4,1,21- 22 (an Venus): illic plurima naribus / duces tura; Min. Fel. 38,2: auram bonam floris naribus ducere … solemus. Auch hier ist die parodistische Absicht offensichtlich. (S. die Einleitung.) incubans S. V. 2: cubans mit Komm. • 19- 24 Daphnis spricht in Andeutungen, doch wird implizit klar, dass er Lalage und Thyrsis beim Beischlaf beobachtet. (S. die Einzelkommentare im Folgenden.) Der locus classicus eines Abbruchs der Erzählung im entscheidenden Moment des Liebesaktes ist Ov. am. 1,5,25: cetera quis nescit? (Vgl. dazu den Aufsatz von Schmitz 1998, 317-349.) In Vergils dritter Ekloge deutet Damoetas ebenfalls nur an, was er Menalcas unterstellt; vgl. ecl. 3,8-9: novimus et qui te transversa tuentibus hircis / et quo (sed faciles Nymphae risere) sacello. • 19-20 Die Formulierung ist von mehreren Prätexten beeinflusst; vgl. Ov. ars. 3,768-770: per somnos fieri multa pudenda solent. / ulteriora pudet docuisse, sed alma Dione / ‚praecipue nostrum est, quod pudet,’ inquit ‚opus’; Sen. Oed. 19: eloqui fatum pudet; Sen. Thy. 93: hoc tacebo; Flam. Lus. Past. 18,4: A ego te vidi: sed pudet illa loqui. pudet, pudet … pudenda Die Scham wird durch Geminatio und Polyptoton sehr stark betont. Gleichzeitig ist pudenda ein Euphemismus für den Koitus; vgl. z.B. Ov. ars. 3,768 (Zitat oben). • 22 quas lacrimas rigasse corpus Die gewöhnliche Konstruktion ist, dass jemand sein Gesicht mit Tränen (Ablativ) benetzt; vgl. z.B. Verg. Aen. 9,251: vultum lacrimis atque ora rigabat; Ov. met. 11,419: fletibus ora rigavit. Die netzende Flüssigkeit kann jedoch auch Subjekt sein, entweder zusätzlich (vgl. Sen. Oed. 953: profusus imber … rigat fletu genas) oder ausschließlich (vgl. Stat. Theb. 4,245: effossas niveus rigat imber harenas; hier allerdings nicht von Tränen). corpus Hyperbel. • 23-24 Das Bild ist sprichwörtlich für den Erfolg eines Rivalen; vgl. Ov. epist. 20,143: quis tibi permisit nostras praecerpere messes? (Otto 1962, 221); s. auch den Komm. unten zu invisa falce. Auch Flaminio äußert, dass der Rivale sich nehme, was ihm nicht gehöre; vgl. Lus. Past. 18,6: amplexus alii tene dedisse meos? Eine Umkehrung der Ver- <?page no="226"?> 3 Kommentar 226 hältnisse findet in Eleg. 1,19-20 statt. Zu landwirtschaftlichen Bildern in erotischer Dichtung vgl. auch Leach 1964, 142-154. mihi Nach meas und viderem (23) ist mihi inhaltlich überflüssig. Grammatisch kann es zu invisa („mir verhasst“), zu dissecare (als Dativus incommodi) oder ἀπὸ κοινοῦ zu beidem gezogen werden. dissecare Klassisch in der Bedeutung „to cut apart or in pieces.“ (OLD s.v.) Hier hätte das Simplex sachlich besser gepasst (vgl. OLD s.v. seco 3b: „to mow“; z.B. Sen. Tro. 76: secuit messor aristas), doch kommt in dem negativen Wort dissecare der Unmut des Daphnis über den Rivalen stärker zum Ausdruck. In 45 steht in partes secui als Umschreibung für dissecui. (S. auch den Komm. dort.) invisâ … falce Die Sichel steht hier metaphorisch für das männliche Glied. Vgl. Adams 2002, 24, der aus der mittelalterlichen Satire De Monacho quodam hierzu misisti falcem in messem alienam zitiert. In den Priapeen werden falx und penis direkt nebeneinander genannt, wenn auch nicht gleichgesetzt: vgl. 6,1-2: quod sum ligneus, ut vides, Priapus / et falx lignea ligneusque penis …. Vgl. weiter Verg. ecl. 3,11 (Schädigung fremden Eigentums): mala … falce. • 25-31 Das Gleichnis ist an Verg. georg. 4,511-515 angelehnt: qualis populea maerens philomela sub umbra / amissos queritur fetus, quos durus arator / observans nido implumis detraxit; at illa / flet noctem, ramoque sedens miserabile carmen / integrat, et maestis late loca questibus implet. Vergil verbindet zwei homerische Gleichnisse (Hom. Od. 16,216-218 und 19,518-523; vgl. Thomas 1988 zu Verg. georg. 4,511-515), um die Trauer des Orpheus um Eurydike zu illustrieren. Daniel Heinsius zitiert die vergilischen Verse in einem Brief, der als Paratext den posthum herausgegebenen Poemata des jüngeren Dousa vorangestellt ist (Leiden 1607). Dort wird der trauernde Vater mit der Nachtigall gleichgesetzt. Die klagende Nachtigall kommt im Lalage-Zyklus noch zweimal als Trauervogel vor. Dort steht jedoch nicht das vergilische Gleichnis im Hintergrund, sondern der Mythos von Philomela und Prokne. (S. Lal. 25,2-4 mit Komm.: Tod der Schwester Lalages; 39,33-36: befürchteter Tod Lalages.) Im vorliegenden Gedicht wird das Gleichnis in parodistischer Weise auf das Rivalitätsverhältnis zwischen Daphnis und Thyrsis angewandt und dabei auch sprachlich und in inhaltlichen Einzelheiten modifiziert, so dass es insgesamt derber wirkt. (S. dazu die einzelnen Kommentare im Folgenden.) Zur Umkehrung der Perspektive im nächsten Gedicht s. die Einleitung zu Lal. 7. • 25 ales Die enge Anlehnung an Vergil legt nahe, in dem Vogel eine Nachtigall zu sehen, zumal diese typischerweise klagend dargestellt wird. Die Vogeleltern in Lal. 7 sind allerdings Wildtauben. (S. den Komm. oben.) ulmo Die Ulme gilt als ein beliebter Nistplatz der Tauben, so dass hier eine Parallele zu Lal. 7,7 gegeben ist. (S. den Komm. dort.) • 26 serpens Dieser zweite mögliche Vogelräuber neben dem Landmann kommt in Vergils Version nicht vor. Das Bild wird dadurch bei Schoonhoven noch drastischer, indem der Räuber (und damit indirekt Thyrsis) potentiell nicht einmal menschliche Züge trägt, <?page no="227"?> Ad Lalagen. Carmen VI 227 sondern ein wildes Tier ist. S. auch V. 30: monstri rapidos … hiatus. tumidus Vgl. Ov. met. 1,460: tumidum Pythona; trist. 5,2,14: tumido … angue. Gleichzeitig kann man auch hier einen obszönen Doppelsinn annehmen, wodurch Schoonhoven an die Metaphorik in 24 anschließt. Vgl. Adams 2002, 59 zu tumor = mentula. arator Zum Pflügen als sexueller Metapher vgl. Adams 2002, 24 und 154. • 28 S. auch V. 32. stridula Das Adjektiv, das auch onomatopoetisch einen schrillen Missklang erzeugt (vgl. Verg. ecl. 3,27: stridenti), passt genau genommen weder zum lieblichen Gesang der Nachtigall noch zum Gurren der Taube. Bei Homer wird in einem ähnlichen Vergleich vom Weinen des Odysseus und des Telemach gesagt: κλαῖον δὲ λιγέως (Hom. Od. 16,216; s. den Komm. zu 25-31). Allerdings werden daraufhin die Klagerufe von Seeadlern und Geiern zum Vergleich angeführt, denen dieses Attribut sehr viel eher zukommt. Seneca (Herc. 146-149) bezeichnet jedoch ebenfalls die Thracia paelex, d.h. die in einen Vogel verwandelte Philomela, als stridula. Ritter (2010, zu Boyd, Epistulae Heroides 9,29-30: amarae / testis erit culpae stridula lingua meae) weist darauf hin, dass das Adjektiv an die Verstümmelung von Philomelas Zunge erinnere. • 30 monstri Ein monstrum ist zunächst eine unnatürliche Erscheinung, die als schlechtes Vorzeichen galt, kann aber auch als Bezeichnung eines wilden Tieres und als Schimpfwort für Menschen gebraucht werden. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,37,21.) Auf der Gleichnisebene ist hier die Schlange gemeint (26), indirekt jedoch Thyrsis. • 31 enecat Im Gegensatz zu necare (15) wird enecare gelegentlich hyperbolisch verwendet (vgl. OLD s.v. eneco c); vgl. z.B. Plaut. Merc. 893: enicas me miserum tua reticentia. Vgl. im Deutschen Ausdrücke wie „ich bin fast gestorben vor Angst.“ misella Die Diminutive unterstreichen, dass die Nachtigall und ihre Jungen (27: tenellos) schwache, hilflose Opfer sind. • 32 sic sic Geminatio. • 33 In der ungefähren Mitte des Gedichtes wird die Grundaussage als sehr knappe Antithese formuliert, hervorgehoben durch den Parallelismus und die Gegenüberstellung von vestras und meos sowie (alliterierend) delicias und dolores: Ihr vergnügt euch, während ich schmerzerfüllt zusehen muss. Die deliciae der Lalage und des Thyrsis sind der Grund für den Kummer des Daphnis. (Vgl. OLD s.v. dolor 2c.) • 34 miser Daphnis ist miser, wie das Vogelweibchen misella ist (31). • 35-41 Daphnis ist genauso hilflos wie der Vogel (29), der Rivale dagegen gefährlich wie die Schlange mit ihren Giftzähnen (26 und 30). In 38-41 stehen am Versanfang jeweils Pronomina, die sich abwechselnd auf Thyrsis und Daphnis beziehen. • 36-37 Das Verhältnis der beiden Rivalen wird als kriegerische Feindschaft stilisiert. S. auch den Komm. zu Lal. 27,20: hosti. praesidiis … et armis Eine ciceronische Junktur; vgl. Mil. 61: praesidiis et armis; Phil. 3,30. carens armis armatum Das Polyptoton unterstreicht den Gegensatz zwischen dem Waffenlosen und dem Bewaffneten. armatum Die „Bewaffnung“ besteht aus Hirtenstab und Hütehund. Die Gewaltsamkeit des Rivalen ist schon vorbe- <?page no="228"?> 3 Kommentar 228 reitet durch die metaphorische falx (24) und durch das Gleichnis in 25-31, in dem Thyrsis einer Giftschlange gleichgesetzt wird. • 38 rigidum Das Attribut legt auch hier einen obszönen Doppelsinn nahe. (S. die Kommentare zu 24 und 26.) Vgl. z.B. Petron. 134,11; Priap. 4,1: rigido deo; vgl. dazu Adams 2002, 46 und 103. pedum Das Wort kommt in antiker Literatur nur einmal bei Vergil vor (ecl. 5,88; vgl. Clausen 1994 z. St.). Festus (p. 292 L.) erklärt: pedum est quidem baculum incurvum, quo pastores utuntur ad comprehendendas oves, aut capras, a pedibus. Im nächsten Gedicht (Lal. 7,9) bezeichnet Schoonhoven den Hirtenstab als baculus recurvus. Dort wird er friedlich eingesetzt, hier dagegen als potentielle Waffe gesehen, wozu auch das Attribut rigidum passt. • 39 Nisa greges agens Diese drei Worte sind auch im Originaldruck durch Kommata abgetrennt, so dass greges agens definitiv Nisa qualifiziert und nicht Thyrsis als gedachtes Subjekt zu habebat. Nisa ist wohl eine benachbarte Hirtin; s. auch Lal. 29,9. Der Name kommt in der Form Nysa bereits in Vergils achter Ekloge vor (8,18 u. ö.). Auch in Flaminios Rivalengedicht wird eine Nisa genannt; vgl. Lus. Past. 18,7-8: at neque me Phyllis, nec formosissima Gorgo, / nec movit roseis candida Nisa genis. (S. auch die Einleitung.) • 40 dexter Trotz des femininen Namens des Hundes steht hier die maskuline Form. ferox Der Hund hat ähnliche Eigenschaften wie sein Herrchen (37: ferum). Lycisca Einer der Hunde Actaeons heißt Lycisce (Ov. met. 3,220). Daneben ist vor allem an Vergils dritte Ekloge zu denken; vgl. ecl. 3,18: multum latrante Lycisca. Der Name leitet sich vom griechischen λυκίσκος („Wölfchen“) ab, dem Diminutivum zu λύκος . Servius (zu Verg. ecl. 3,18) bemerkt: lycisci sunt, ut etiam Plinius dicit, canes nati ex lupis et canibus, cum inter se forte misceantur. Es handelt sich also um einen Wolfshund. Zudem ähnelt der Name des Hundes, der dem Rivalen Thyrsis gehört, dem Namen der Rivalin aus Lal. 12. (S. dort den Komm. zu 5: Lyce.) • 41 Parvulus bildet einen Kontrast zu ferox; außerdem erinnert das Diminutivum an tenellos und misella (27 und 31), wodurch im Gleichnis die schwachen Opfer charakterisiert wurden. Melampus So heißt der Hund des Actaeon, den Ovid zuerst nennt (met. 3,206.208). Der Name Μελάµπους („Schwarzfuß“) impliziert im Gegensatz zu Lycisca keine besondere Gefährlichkeit. • 42-45 Es folgt die Rache des Benachteiligten: Da Daphnis an der Situation nichts ändern kann, macht er Dinge kaputt, die Thyrsis gehören. Eine ähnlich kindische Reaktion unterstellt Damoetas in Vergils dritter Ekloge (12-15) dem Menalcas: Er habe Bogen und Pfeile des Daphnis zerbrochen, weil er sie nicht selbst bekommen habe. Vgl. bes. Verg. ecl. 3,13: fregisti … calamos (wenngleich bei Vergil Pfeile gemeint sind, bei Schoonhoven dagegen die Hirtenflöte); 3,15: et si non aliqua nocuisses, mortuus esses. Bemerkenswert ist, dass Schoonhovens Daphnis hier nicht etwa dem Rivalen eine gemeine Handlungsweise vorwirft, sondern freiwillig zugibt, sich selbst so verhalten zu haben. • 43 Gegenstände, die ihren Zweck erfüllt haben, werden normalerweise als Weihgeschenke aufge- <?page no="229"?> Ad Lalagen. Carmen VI 229 hängt. Dies gilt für Waffen nach dem Krieg, aber auch für die Habseligkeiten eines Hirten, zu denen Flöte und Ranzen gehören. Vgl. Theoc. Ep. 2 Gow: ∆άφνις … ἄνθετο Πανὶ τάδε , / τοὺς τρητοὺς δόνακας , τὸ λαγωβόλον , ὀξὺν ἄκοντα , / νεβρίδα , τὰν πήραν ᾇ ποκ ’ ἐµαλοφόρει ; Longos 4,26,2: ἐνταῦθα ὁ ∆άφνις συναθροίσας πάντα τὰ ποιµενικὰ κτήµατα διένειµεν ἀναθήµατα τοῖς θεοίς· τῷ ∆ιονύσῳ µὲν ἀνέθηκε τὴν πήραν καὶ τὸ δέρµα , τῷ Πανὶ τὴν σύριγγα καὶ τὸν πλάγιον αὐλόν , τὴν καλαύροπα ταῖς Νύµφαις καὶ τοὺς γαυλοὺς οὓς αὐτὸς ἐτεκτήνατο . Vgl. Rossi 2001, 131-137; Clausen 1994 zu Verg. ecl. 7,24: hic arguta sacra pendebit fistula pinu; in der lateinischen Literatur weiter Tib. 2,5,29-30: pendebat… vagi pastoris in arbore votum, / garrula silvestri fistula sacra deo. Thyrsis jedoch hat Rohrflöte und Ranzen keineswegs geweiht, sondern kurzzeitig beiseite gehängt, solange er mit Lalage beschäftigt ist. Wieder ist ein Motiv aus dem sakralen Bereich profanisiert. (S. auch den Komm. zu 7; anders Lal. 40,27-28.) peram In der griechischen bukolischen Literatur gehört die πήρα zur typischen Habe eines Hirten. (S. die Zitate oben.) In der antiken lateinischen Bukolik dagegen kommt das Wort nicht vor. (Vgl. Parker: ThLL 10,1 [1982-1994],1169,72-1170,75.) Bei Petron und Martial ist es pejorativ gebraucht, z.B. als Kennzeichen eines Kynikers. (Vgl. Petron. 14,2 vers. 3; Mart. 4,53,2-3; 14,81.) Die Bibel kennt jedoch den „Hirtenranzen“; vgl. z.B. Vulg. 1 Sm. 17,40: misit eos [sc. lapides] in peram pastoralem, quam habebat secum. • 44 Vgl. Verg. ecl. 2,37-38: fistula, Damoetas dono mihi quam dedit olim, / et dixit moriens …. Bei Vergil zeigt die Weitergabe der Flöte, dass Corydon ein würdiger Nachfolger des Damoetas im Flötenspiel ist. (Vgl. Coleman 1977 zu Verg. ecl. 2,38 secundum: „the implication is tu nunc eris alter ab illo [cf. 5,49].“) Menalcas vererbt Thyrsis neben der Hirtenflöte (s.u. zu quam) seinen Ranzen, in dem das Essen aufbewahrt wird. Auch hier liegt eine Banalisierung vor, die zur parodistischen Tendenz des Gedichtes passt. (S. die Einleitung.) Zum Motiv des Weitergebens von Besitztümern der Hirten vgl. auch Flam. Lus. Past. 18,13-14: ego mille capellas / pasco, quas moriens tradidit ipse pater. quam Ein Relativpronomen kann sich formal auf das letztgenannte, inhaltlich jedoch auf mehrere Subjekte beziehen; vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 58-59, § 16,3b. Menalcas hat Thyrsis nicht nur den Ranzen, sondern auch die Flöte vererbt. dedit Das Perfekt ist wohl der Vergilimitation zuzuschreiben, denn das Zeitverhältnis erforderte eigentlich Plusquamperfekt. Menalcas ist einer der Streithähne in Vergils 3. Ekloge, dessen „Erbe“ im übertragenen Sinne aus Zänkereien besteht. Anders Lal. 28,9-10. (S. den Komm. dort.) • 45 in partes secui Dies ist die Rache für das dis-secare in 24. (S. auch den Komm. dort.) per arva sparsi Vgl. Verg. georg. 4,522 (kurz nach dem oben zitierten Gleichnis): discerptum latos iuvenem [sc. den Orpheus] sparsere per agros. Wenn die Formulierung bewusst gewählt ist, treibt Schoonhoven hier die Parodie in recht makabrer Weise auf die Spitze. • 46-47 licet fuisses Im Altlatein war der verbale Charakter von licet („mag auch“) noch spürbar, <?page no="230"?> 3 Kommentar 230 so dass es gemäß der Consecutio temporum nur mit dem Konjunktiv Präsens oder Perfekt stehen konnte. Später entwickelte sich licet zur konzessiven Konjunktion, die auch einen Nebensatz im Imperfekt oder Plusquamperfekt einleiten konnte. (Vgl. Hofmann/ Szantyr 1965, 605, § 326 Zus. ε.) Nobis ist zu perfida zu ziehen, nicht zu licet. peius haud volebam Geläufiger ist male velle; vgl. jedoch Plaut Merc. 898: neque est quoi magi’ me melius velle aequom siet. • 48-50 Vgl. Flam. Lus. Past. 18,11-12: at tibi cur placuit tantum puer iste? quid, oro, / quid tantum egregii possidet iste puer? (S. auch die Einleitung.) Thyrsis Der Name wird erst hier genannt (s. den Komm. zu 1) und erhält ebenso wie caprarius und caprimulgus den abfälligen Zusatz ille. • 50-52 Vgl. Flam. Lus. Past. 18,15-16: hic Dorylae indocto cessit cantando: peritus / et voce et calamis cessit Agyrta mihi. (S. auch die Einleitung.) Den ersten Teil kehrt Schoonhoven Wort für Wort um, fährt dann aber anders fort. Zur Abwertung der musikalischen Künste eines anderen vgl. Verg. ecl. 3,25-27: cantando tu illum? aut umquam tibi fistula cera / iuncta fuit? non tu in triviis, indocte, solebas / stridenti miserum stipula disperdere carmen? ; zum Selbstlob eines Hirten vgl. Theoc. 6,34-38; 11,34-41 (bes. 38-40: Gesang und Flötenspiel); [Theoc.] 20,19-31 (bes. 26-29). • 50 prae reliquis Vgl. OLD s.v. prae 4: „in comparison with, faced with.“ • 51 Dorylae S. Lal. 35,1 mit Komm.; 33,13. avenas Zur Hirtenflöte vgl. den Komm. zu Lal. 1,15-16: fistula. Hier steht die Flöte metonymisch für die Musik. • 52 agrestes Satyri Vgl. Hor. ars 221: agrestis Satyros. Wenngleich die Satyrn im Gefolge des Bacchus oder zusammen mit Nymphen durchaus musizierend oder zumindest der Musik lauschend dargestellt werden (vgl. Lucr. 4,580-585; Hor. carm. 2,19,3-4; ferner Verg. ecl. 5,72-73; s. auch Lal. 29,5: Satyrus mit Komm.), sind sie doch in erster Linie für ihre Ausschweifungen bekannt. (Vgl. Coleman 1977 zu Verg. ecl. 5,73: „they seem almost a bestial parody of the voluptates of the pastoral myth.“) Dass Schoonhoven hier nicht z.B. Pan, Apoll oder die Musen nennt, ist wiederum Teil der parodistischen Tendenz des Gedichtes. (S. die Einleitung.) Vgl. dagegen z.B. Verg. ecl. 9,32-34: et me fecere poetam / Pierides, sunt et mihi carmina, me quoque dicunt / vatem pastores. stupent S. V. 48. • 53-55 Flam. Lus. Past. 18,17-18: nec pede, nec iaculo valet hic, nec viribus: ipse / audeo vel magnas sollicitare feras. (S. auch die Einleitung.) Flaminio bleibt deutlicher innerhalb der bukolischen Sphäre. Zur Erwähnung von Sportwettkämpfen in bukolischer Literatur vgl. Theoc. 4,6-9. caesto In der Fehlerliste am Schluss der Gedichtsammlung (Sigle L C ) ist cesto zu caesto korrigiert, jedoch die falsche Seite angegeben (101 statt richtig 111). palaestrâ Das Ringen kann erotische Metapher sein; vgl. Adams 2002, 158; z.B. Theoc. 7,125 (vgl. dazu Gow 1952 mit weiteren Belegen); Mart. 10,55,4-5: post opus et suas palaestras / loro … similis iacet remisso [penis]. Allerdings wäre im Falle eines solchen Nebensinnes die Erwähnung eines Publikums in den beiden folgenden Versen merkwürdig. corona Hier in der Bedeutung „Zuschauer“ wie z.B. Catull. 53,1; Ov. met. <?page no="231"?> Ad Lalagen. Carmen VII 231 13,1. facilem … palmam Der Palmzweig, der dem Sieger in Wettkämpfen überreicht wurde, steht metonymisch für den Sieg. Vgl. z.B. Catull. 62,11: non facilis nobis … palma parata est; Iuv. 8,58. • 56-61 Die Beobachtung der Sterne, durch die der richtige Zeitpunkt für bestimmte landwirtschaftliche Tätigkeiten ermittelt wurde, kommt in Vergils Bucolica indirekt bei der Beschreibung eines Bechers vor. Vgl. Verg. ecl. 3,40-42: in medio duo signa, Conon et - quis fuit alter, / descripsit radio totum qui gentibus orbem, / tempora quae messor, quae curvus arator haberet? (Conon war ein bekannter Astrologe des 3. Jahrhunderts v. Chr.; vgl. auch Catull. 66,1-7.) Eigentlich ist dies jedoch ein Thema der Georgica; vgl. Verg. georg. 1,1-5: quo sidere terram / vertere, Maecenas, ulmisque adiungere vitis / conveniat … hinc canere incipiam. Wie schon beim Gleichnis (25-31) wird ein Element einer höheren Gattung übernommen. (S. auch die Lukrez-Imitation in V. 57.) • 56 doctior S. Lal. 25,3: docti daulias oris. Möglicherweise soll auch die Musikalität und die Gelehrsamkeit noch an das Gleichnis der Nachtigall anknüpfen. • 57 Zur Formulierung vgl. Lucr. 5,509: motibus astrorum nunc quae sit causa canamus; Verg. Aen. 3,515: sidera … tacito labentia caelo. Der erhabene Stil dieses Verses fällt aus dem Rahmen, wodurch die Prahlerei besonders übertrieben wirkt. • 58 Es muss das Pflügen gemeint sein (vgl. Verg. georg. 1,1-2: quo sidere terram / vertere), wenngleich submovere klassisch nur „entfernen“ und Verwandtes bedeutet. (Vgl. OLD s.v.) Die rechte Zeit, um zu pflügen, ist laut Vergil der Frühlingsbeginn; vgl. georg. 1,43-46. Auch das Pflügen kann erotische Metapher sein (vgl. Adams 2002, 154; z.B. Plaut. Asin. 874; Mart. 9,21,4), doch wird dann in der Regel das Verb arare verwendet. Weder der Ausdruck submovenda tellus noch der direkte Kontext (Sternbeobachtung) legen hier einen Doppelsinn nahe, wie er in 23-24 klar intendiert ist. • 59 quo sidere = Verg. georg. 1,1 (Zitat s.o.). dissecanda silva Zur Wortbedeutung von dissecare s. den Komm. zu 23-24. Es könnte das Abholzen des Waldes gemeint sein, um fruchtbares Land zu gewinnen. (Vgl. Verg. georg. 2,207-211; s. auch den Komm. zu 25-31.) Da es hier jedoch um den richtigen Zeitpunkt geht, liegt es näher, dass die Bäume beschnitten werden sollen. (Vgl. Verg. georg. 2,362-370; s. auch den Komm. zu Lal. 3,5-7.) • 60 praedico Sowohl praedĭco als auch praedīco wäre metrisch und inhaltlich möglich. Im ersten Falle liegt der Akzent auf der Bekanntgabe der Information, im zweiten Falle darauf, dass der Sternkundige den Zeitpunkt für bestimmte Tätigkeiten bereits vorab berechnen kann. • 61 tempore roborata longo Zur Formulierung vgl. Baudius, Monita, S. 66: morbique longo roborati saeculo. Ad Lalagen. Carmen VII Ein Lied, das Daphnis über die Trauer der Venus um Adonis singt, ruft die Vögel der Liebesgöttin herbei: ein Taubenpärchen, das seine Jungen füttert <?page no="232"?> 3 Kommentar 232 (1-8). In den folgenden drei Strophen beschreibt Daphnis, wie andere Hirten versuchten, ihm die entdeckten Vogeljungen streitig zu machen. Erst in der letzten Strophe (bes. 22-24) wird klar, zu welchem Zwecke Daphnis Lalage all dies erzählt: Er will ihr die jungen Tauben als Liebesgabe überreichen. So wird das ganze Gedicht rückblickend zum Dedikationsgedicht. Das letzte Wort, calor in der Bedeutung „Liebesglut“, schließt den Kreis zur Erwähnung der Liebesgöttin am Anfang. Zudem ist das Thema „Liebe“ im gesamten Gedicht durch die Tauben präsent, die als Vögel der Venus und als Liebesgabe eine doppelte symbolische Funktion erhalten. Um Lalage die Taubenjungen schenken zu können, muss Daphnis sie letztlich ihren Vogeleltern entwenden. Dies erinnert an das Gleichnis der Nachtigall, das im vorigen Gedicht in enger Anlehnung an Verg. georg. 4,511-515 ausgeführt ist. (S. Lal. 6,25-31.) Dort identifiziert Daphnis sich in seiner hilflosen Eifersucht auf den Rivalen Thyrsis mit der Vogelmutter, die um ihre vom grausamen Bauern geraubten Jungen klagt. Nun sehen wir Daphnis selbst in der Rolle des Nesträubers. Durch einen Perspektivwechsel findet jedoch eine positive Umdeutung der Rolle des Menschen statt: Das Geschehen wird nicht mehr aus Sicht der Vogelmutter dargestellt, sondern aus dem menschlichen Blickwinkel. Daphnis schildert sich dabei selbst als besonders fürsorglich, denn er verteidigt die Vogeljungen nicht nur gegen Aneignungsversuche anderer, sondern kümmert sich auch um ihre weitere Ernährung, indem er sie zur Fütterung immer wieder den Vogeleltern überlässt (17-18). An die Stelle des hartherzigen Landmannes im vergilischen Gleichnis ist ein zärtlich Liebender getreten. Metrum: Sapphische Strophen. 1-5 Daphnis singt von Venus’ Trauer um Adonis und ruft dadurch Tauben herbei, die Vögel der Liebesgöttin. (S.u. den Komm. zu 5.) Die Struktur des Gedichtanfangs ist ähnlich wie in Lal. 34: Dort besingt Daphnis die Liebe des Polyphem zu Galatea, woraufhin Lalage selbst kommt und ihm Küsse verspricht. • 1 Vgl. den berühmten Eingangsvers aus Vergils Eklogen: Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi; weiter Ov. ars 2,420: colle sub umbroso quam [sc. Venerem] tenet altus Eryx. • 2 nuper in pratis = Hor. carm. 3,27,29 (gleiche Versstelle im Sapphischen Elfsilbler); vgl. weiter Hor. carm. 3,18,11-12: festus in pratis vacat otioso / cum bove pagus. otiosus Das mußevolle Ruhen von singenden oder musizierenden Hirten an einem locus amoenus ist ein typisches pastorales Motiv. Die dadurch evozierte „idyllische“ Stimmung kann in einem Gedicht uneingeschränkt bestehen bleiben oder aber gebrochen werden, wie es z.B. in Theoc. 1 und 6 der Fall ist, wo die Harmonie der Rahmenpassagen jeweils einen Kontrast zu den gesungenen Liedern bildet. (Vgl. Bernsdorff 2001, 139-154.) Hier wird der Frieden der Anfangsszene durch die Versuche des Menalcas und der Thestylis gestört, Daphnis die Tauben fortzunehmen (13-20). Der Schluss ist <?page no="233"?> Ad Lalagen. Carmen VII 233 wieder positiv (21-24): Daphnis kann die Liebesgaben für Lalage bewahren. • 3-4 In antiker bukolischer Dichtung singen Hirten oft von ihrer eigenen Liebe, doch können auch Mythen Thema ihres Gesanges sein. (Vgl. z.B. Theoc. 1: Lied des Thyrsis über die Liebe und den Tod des Daphnis; Theoc. 6: zwei Hirten singen von der Liebe des Polyphem zu Galatea; Verg. ecl. 5: zwei Hirten besingen Begräbnis und Apotheose des Daphnis; Verg. ecl. 6: Lied des Silen.) Zum Mythos des Adonis in bukolischer Dichtung vgl. z.B. Theoc. 15 (Frauen beim Adonisfest; bes. 15,100-144). Das eindringlichste bukolische Lied über die Trauer der Aphrodite um ihren sterblichen Geliebten ist Bions Epitaphios Adonidos, der auch in neuzeitlicher lateinischer Dichtung adaptiert wurde. (Vgl. z.B. Boyd, Epistulae Heroides 15: Venus Adoni.) S. auch Lal. 12,23-24 und zum Mythos 25,9-12 mit Komm. luctu lacrimisque Alliteration. Die Junktur ist sehr häufig; vgl. z.B. Lucr. 6,1248: lacrimis lassi luctuque; Ov. met. 13,282; Sen. Tro. 1011. • 4 Das Gedicht ist als einziges des Lalage-Zyklus in sapphischen Strophen verfasst. In der ersten Strophe lautet der Adoneus flesset Adonim, erinnert also an die bereits antike Benennung des Metrums nach dem sapphischen Vers ὦ τὸν Ἄδωνιν (Sappho fr. 168 V.; zur Bezeichnung als adonium vgl. Serv. gramm. 4,460,14-15; 468,23). Schoonhoven nimmt hier also auch durch die Wahl des Metrums bewusst auf einen Prätext Bezug. (S. auch Kap. 1.2.4.) Adonim Der griechische Akkusativ lautet Adonin. (Vgl. z.B. das obige Sappho-Zitat.) Schoonhoven latinisiert die Endung; s. auch V. 10: Menalcam. • 5 Tauben sind die Vögel der Venus. Vgl. Wulff: ThLL 3 (1907),1732,44-59; z.B. Serv. Aen. 6,193: Veneri consecratas propter fetum frequentem et coitum; Prop. 3,3,31: Veneris dominae volucres, mea turba, columbae. Zudem galten Tauben als Symbol der ehelichen Treue. (Vgl. Keller 1913, 128; s. auch den Komm. zu Eleg. 1,35-36.) So kann das Taubenpärchen auch als Symbol der Beziehung verstanden werden, die Daphnis sich wünscht. (S. bes. Lal. 14,21-26.) concurrunt Hier und in 9-11 fällt Daphnis in das verlebendigende Präsens, um dann jeweils wieder im Erzähltempus der Vergangenheit fortzufahren. geminae palumbes Vgl. Verg. Aen. 6,190: geminae … columbae. Ein Gebet des Aeneas ruft die Tauben herbei, die er als Vögel seiner Mutter Venus erkennt (Aen. 6,193: maternas agnovit avis laetusque precatur). Bei Schoonhoven ist der kausale Zusammenhang zwischen dem Lied des Daphnis und dem Erscheinen der Tauben nicht deutlich markiert. Sachlich könnte man argumentieren, dass die Tauben vielleicht nur deshalb herbeifliegen, weil der Hirte sich zufällig in der Nähe ihres Nestes befindet. Auf der metaliterarischen Ebene ist das Zusammentreffen von Gesang und Ankunft der Vögel jedoch sicher kein Zufall. palumbes Im Zusammenhang mit Venus kommen palumbes in Vergils Eklogen vor (3,68-69): parta meae Veneri sunt munera: namque notavi / ipse locum aëriae quo congessere palumbes. S. auch den Komm. zu 7: ulmi. • 6 ore Synekdoche: Jede Taube trägt einen Zweig im Schnabel. labruscam sterilem Die labrusca ist eine wilde Weinrebe. (Vgl. <?page no="234"?> 3 Kommentar 234 Plin. nat. 14,98: fit e labrusca, hoc est vite silvestri.) In Vergils fünfter Ekloge umrankt sie die Grotte, in der Menalcas und Mopsus Zuflucht vor der Mittagshitze suchen. Es ist meines Wissens nicht belegt, dass die wilde Rebe unfruchtbar sei, doch erwähnt Vergil, dass sie nur spärliche Trauben hervorbringe; vgl. ecl. 5,6-7: antrum / silvestris raris sparsit labrusca racemis. Insgesamt bleibt das Bild der bukolischen, nicht kultivierten Welt verhaftet, indem als Pflanze zur Fütterung wilder Wein und als Vögel wilde Tauben genannt werden. • 7 ulmi Die von Weinreben umrankte Ulme symbolisiert in der Liebesdichtung oft Umarmungen oder allgemein eine Liebesbeziehung oder Ehe. Vgl. z.B. Catull. 62,54: [vitis] ulmo coniuncta marito; Ov. am. 2,16,41-42: ulmus amat vitem, vitis non deserit ulmum: / separor a domina cur ego saepe mea? Somit kann die Ulme, die sonst eher düstere Konnotationen hat (vgl. Murr 1969, 26-27), auch als Baum der Venus gelten. Vgl. Ritter 2010 zu Boyd, Epistulae Heroides 9,59: ut Venus Idalia quoties discedit ab ulmo (mit weiteren Belegen); s. auch den Komm. zu Lal. 8,5. Wildtauben nisten oft in den Wipfeln von Ulmen, da sie offenbar aufgrund ihrer Scheu hohe Plätze bevorzugen. Vgl. z.B. Verg. ecl. 1,57-58: nec tamen … palumbes, / nec gemere aëria cessabit turtur ab ulmo (vgl. Clausen 1994 z. St.); Hor. carm. 1,2,9-10: summa … ulmo, / nota quae sedes fuerat columbis [var. lect.: palumbis]. Zur Horazstelle bemerken Kiessling/ Heinze (1958), die Dichter hätten nicht zwischen columba und palumbes unterschieden, doch wies schon Bentley auf die Variante palumbis hin, womit die Wildtaube bezeichnet wird, die im Gegensatz zur columba tatsächlich auf Bäumen nistet. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 z. St.) Schoonhoven scheint sich des Unterschiedes bewusst gewesen zu sein, denn er wählt bei Vergleichen, die sich auf die Zärtlichkeit oder die Treue der Tauben beziehen, stets das Wort columba (s. Lal. 3,43; 24,19; Eleg. 1,36; 2,21) und nur hier palumbes, wo es sich um reale Wildtauben handelt, obwohl columbae metrisch gleichwertig ist und aufgrund des engen Bezuges zu Verg. Aen. 6,190 (zitiert zu 5) nahegelegen hätte. • 8 stirpe Als stirps wird häufig der untere Teil des Stammes bezeichnet. (Vgl. OLD s.v. 1a.) Da Wildtauben in der Höhe nisten (s. den Komm. zu 7: ulmi), ist hier jedoch eher das obere Ende gemeint, wo sich die Äste zu gabeln beginnen, oder doch zumindest eine Höhlung in beträchtlicher Höhe des Stammes. • 9 baculo recurvo Der Hirtenstab ist oben gebogen. S. den Komm. zu Lal. 6,38: pedum. Zur Junktur vgl. Petrarca Africa 3,197: et pastorali baculum fert more recurvum. • 10-11 propero … monstro Präsens in lebhafter Erzählung. (S. auch V. 5: concurrunt mit Komm.) Menalcam Auch hier bildet Schoonhoven eine lateinische Endung statt der griechischen Form Menalcan, wie sie Vergil verwendet (z.B. ecl. 2,15; 9,10). S. auch V. 4: Adonim. Bei Vergil heißen ganz unterschiedliche bukolische Charaktere Menalcas, vom streitsüchtigen Hirten (ecl. 3) bis zum unerreichbaren Vorbild des Hirtengesanges (ecl. 9). Zum Namen in der bukolischen Dichtung vgl. bereits [Theoc.] 8 und 9. S. auch Kap. 1.2.1.2 b. <?page no="235"?> Ad Lalagen. Carmen VII 235 • 12 cernere feci Zur Konstruktion vgl. z.B. Verg. Aen. 2,538-539: qui nati coram me cernere letum / fecisti. (Vgl. auch Austin 1964 z. St.: Der Infinitiv nach facere kommt bei Lukrez häufig vor, wird jedoch in klassischer Prosa gemieden.) • 13-14 Für das Motiv des Diebstahls in der Hirtendichtung vgl. z.B. Theoc. 5,1-4; Verg. ecl. 3,16-20; Calp. ecl. 3,73-74. Bei Vergil ist es ein Hirte namens Menalcas, der einem anderen Hirten Diebstahl vorwirft. (S. auch den Komm. zu 10-11: Menalcam.) subinde visit Ergänze: „erneut.“ • 15 implumes Vgl. Verg. georg. 4,512-513: fetus, quos durus arator / … implumis detraxit (s. auch die Einleitung). • 18-20 Vgl. Theoc. 3,34-36: ἦ µάν τοι λευκὰν διδυµατόκον αἶγα φυλάσσω , / τάν µε καὶ ἁ Μέρµνωνος ἐριθακὶς ἁ µελανόχρως / αἰτεῖ und bes. Verg. ecl. 2,42-44 (Corydon an den geliebten Alexis): [capreoli], quos tibi servo. / iam pridem a me illos abducere Thestylis orat; / et faciet, quoniam sordent tibi munera nostra. Im Gegensatz zu Corydon, der zumindest zum Schein auf Thestylis’ Wunsch eingeht, da Alexis seine Gaben ja ohnehin nicht wolle, lehnt Schoonhovens Daphnis das Ansinnen der Thestylis ab. Folgerichtig erwähnt Daphnis zuerst die Bitte der Thestylis und versichert hinterher, dass er die Tauben trotzdem für Lalage bewahre (22-23: tibi illos, Vita, servavi), so dass dies als endgültige Bestätigung am Schluss des Gedichtes stehen bleibt. Auch in Flam. Lus. Past. 16 lehnt ein Liebender es ab, Geschenke für die Geliebte einer anderen Frau zu geben. Dort heißt die Geliebte Thestylis. Zur Standhaftigkeit des Daphnis s. auch Lal. 12. Thestylis Die in beiden Ausgaben überlieferte Schreibweise Testhylis beruht wohl auf einem Setzerversehen, da ansonsten die auch bei Theokrit und Vergil vorkommende Form Thestylis verwendet ist. (So Lal. 33,5 und 39,31; vgl. z.B. Theoc. 2,1; Verg. ecl. 2,10.) votis precibusque Die Junktur vota precesque ist häufig. Vgl. z.B. Verg. Aen. 3,261; 6,51; Mart. 10,28,2; Stat. silv. 1,2,68. arte Als „Kunstgriff“ kann ars in die Nähe der Bedeutung „List“ oder „Täuschung“ gelangen. Vgl. z.B. Tib. 1,4,82: deficiunt artes, deficiuntque doli; Prop. 3,25,5-6: nil moveor lacrimis: ista sum captus ab arte; / semper ab insidiis, Cynthia, flere soles. S. auch den Komm. zu 21-22. ab-/ ducere Synaphie: Bei lyrischen Strophen wird das Versende nicht als Einschnitt gesehen, der ein Wortende fordert. An gleicher Stelle (in Sapphischen Strophen beim Übergang vom letzten Sapphischen Elfsilbler zum Adoneus) vgl. hierfür z.B. Catull. 11,11-12: ulti-/ mosque Britannos; Hor. carm. 1,2,19-20: u-/ xorius amnis. • 21-22 fraudes … preces Die preces sind eindeutig die Versuche der Thestylis, die Tauben durch Bitten zu bekommen; in V. 19 wird sogar dasselbe Wort gewählt. Mit den fraudes könnte entweder der versuchte Diebstahl des Menalcas gemeint sein, oder aber es wird zwischen zwei verschiedenen Taktiken der Thestylis unterschieden (s. den Komm. zu 18-20: arte), wobei sich ein Chiasmus ergäbe (19: precibus … arte; 21-22: fraudes … preces). Letzteres scheint plausibler, da das einleitende sed (21) direkt an den vorigen Satz anschließt, wohingegen der Versuch des Menalcas schon in 15-16 abgewehrt wurde. • 22-24 Erst zum Schluss wird <?page no="236"?> 3 Kommentar 236 der Sinn der Erzählung deutlich: Die Tauben sollen als Liebesgaben für Lalage dienen. Bei Aristophanes (Av. 704-707) beschreiben die Vögel selbst ihre Rolle als Geschenke, die Liebhabern ( ἄνδρες ἐπασταί ) die Gunst von Knaben ( παῖδες ) gewinnen sollen, doch werden keine Tauben genannt, sondern Wachteln, Wasserhühner, Gänse und Hähne. Vögel als Liebesgaben waren auch ein häufiges Motiv attischer Vasenmalerei. (Vgl. Dunbar 1995 zu Ar. Av. 704-707.) In der Literatur vgl. z.B. Theoc. 5,96: κἠγὼ µὲν δωσῶ τᾷ παρθένῳ αὐτίκα φάσσαν ; Ov. met. 10,259-261 (Pygmalion): modo grata puellis / munera fert illi … / et parvas volucres et flores mille colorum; 13,832-833 (Polyphem und Galatea): … dammae leporesque caperque, / parque columbarum demptusque cacumine nidus; Petron. 85,5 (in homoerotischem Kontext): Venus, si ego hunc puerum basiavero ita ut ille non sentiat, cras illi par columbarum donabo. In einem Epigramm des Navagero findet ein Hirte Ziegenjunge, die er seinem Mädchen schenkt; vgl. Lus. 5,5-6: mox etiam catulos sola sub rupe iacentes / invenit: hos Crocali donat habere suae. tibi illos … servavi S. den Komm. zu 18-20. Zur Formulierung vgl. auch Ov. met. 13,837: dominae servabimus istos. Vita S. den Komm. zu Lal. 1,13: Vita. monumenta … caloris Monumenta sind in der Regel bleibende Denkmäler, und zwar sowohl Bauwerke als auch - im übertragenen Sinne - Dichtung, die dem Autor oder den Besungenen ewigen Nachruhm bescheren soll. Vgl. z.B. Hor. carm. 3,30,1: exegi monumentum aere perennius; Prop. 3,2,18: carmina erunt formae tot monumenta tuae; dazu Pichon 1966, 207: „monumentum est quod puellae laudem facit perpetuam.“ Der Ausdruck ist hyperbolisch, da Tauben keineswegs eine Liebesgabe sind, die für die Ewigkeit Bestand hat. sume Vgl. Verg. ecl. 5,88: at tu sume pedum, quod … / non tulit Antigenes (ebenfalls am Ende des Gedichtes). Auch hier wurde der überreichte Gegenstand einer anderen Person verweigert. Dies zeigt den Wert der Gabe, die nicht jedem Beliebigen zuteil wird, und bedeutet somit eine besondere Würdigung des bzw. der nun Beschenkten. caloris Zur metaphorischen Bedeutung „Liebesglut“ vgl. Pichon 1966, 97; z.B. Prop. 3,8,9: signa caloris. S. auch Lal. 10 (bes. 10,1-4.12). Der Schluss des Gedichtes verweist auf die erste Strophe, in der Daphnis ein Lied über die Trauer der Venus um Adonis und damit indirekt ihrer Liebe zu ihm singt. Ad Lalagen. Carmen VIII Das Frühlingsgedicht erinnert an Horaz’ Oden 1,4 und 4,7: Der Anblick der grünenden und blühenden Natur mahnt zugleich an die Vergänglichkeit dieser Pracht und führt zu Betrachtungen über die Kürze auch des menschlichen Lebens. Die ersten beiden Strophen beschreiben die bunte, überquellende Fülle der Natur. Es wird die Üppigkeit und Fruchtbarkeit betont, wobei Wortwahl und Motive teils eine erotische Symbolik evozieren (bes. 5: Wein und <?page no="237"?> Ad Lalagen. Carmen VIII 237 Ulme), teils auf Geburt und Mutterschaft verweisen (bes. 4: sinu; 6: parit; 7: signa lactis). Einen ersten, noch sehr dezenten Hinweis auf die Kurzlebigkeit der Blütenpracht gibt breve in 8. In der dritten Strophe beginnt sich der Akzent bereits zu verschieben: Mit der Narzisse wird eine weitere Frühlingsblume genannt, doch geht es vor allem um ihre Aitiologie und damit um den hochmütigen Narcissus. Erst in der vierten und damit mittleren Strophe wendet Daphnis sich direkt an Lalage und fordert sie auf, aus dem düsteren Hause zu ihm in die grünende Umgebung zu kommen. In der zweiten Hälfte des Gedichtes wird sodann die Folgerung aus dem vorigen gezogen: Lalage soll nicht hochmütig sein, wie Narcissus es war, sondern in Anbetracht der Kürze des Lebens nun gleichsam den Frühling ihrer Jugend nutzen und sich dem Werben des Liebenden geneigter zeigen. Die Aufforderung zu lieben, solange die Jugend andauert, ist ein häufiger Topos in der antiken Literatur. Dabei wird der Jugend oft das Alter gegenübergestellt, das zur Liebe nicht mehr geeignet sei und den jetzt noch schönen Menschen hässlich machen werde. Die Form der Gedichte reicht von Werbungsversuchen bis zu Invektiven. Vgl. z.B. Catull. 5; Hor. carm. 1,9; 1,25; 4,10; Tib. 1,1,69-74; 1,4,27-30; 1,8,47-48; Prop. 2,15,49-54; Ov. ars. 3,61-80; Sen. Phaedr. 446-448; vgl. auch Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,9,16: puer und Maltby 2002 zu Tib. 1,1,69 mit weiteren Belegen. Hier in Gedicht 8 spielt der Gedanke an das Alter keine Rolle, doch kam der Gedanke bereits in Lal. 2,31-34 vor. (S. auch den Komm. dort.) In der frühneuzeitlichen Literatur vgl. noch bes. Joh. Sec. Bas. 16,41-44: sic aevi, mea lux, tempora floridi / carpamus simul; en iam miserabiles / curas aegra senectus / et morbos trahet et necem. (S. auch den Komm. zu 21-24: se remittit bruma.) Durch den Gedichtanfang vides, ut ruft Schoonhoven insbesondere Hor. carm. 1,9 als wichtigen Prätext auf. Auch diese Horazode beginnt zunächst mit der Beschreibung einer Jahreszeit (dort allerdings dem Winter), worauf eine Aufforderung zum Lebensgenuss und zur Liebe folgt. Das Metrum ist ähnlich (bei Horaz Alkäische Strophen, hier Alkäische Elfsilbler, s. dazu unten). Zudem übernimmt Schoonhoven die Technik, durch Hervorheben einer in der Umgebung sichtbaren Farbe ein späteres Gedichtmotiv vorzubereiten. (S. den Komm. zu 13-14: domum fumo nigrantem.) Insgesamt arbeitet Schoonhoven sehr stark mit Farbkontrasten. Die verschiedenen Pflanzen- und Blumenarten malen ein farbenfrohes Bild: Grün sind Gras, Weinlaub und Ulmen, weiß die Lilien, gelb die Narzisse, rot die Rosen und bläulich oder violett die Veilchen. Der Buntheit der Natur und damit des Frühlings und des Lebens ist vor allem in der letzten Strophe die Düsternis des Todes entgegengesetzt. Auch ist genau in der Mitte des Gedichtes dem düsteren Haus die grünende Natur gegenübergestellt. (S. den Komm. zu 15: virentum.) Alkäische Elfsilbler wurden in klassischer lateinischer Dichtung nicht in stichischer Form verwendet, sondern immer als Teil der alkäischen Stro- <?page no="238"?> 3 Kommentar 238 phe. Ein spätantikes Beispiel für stichische alkäische Elfsilbler ist der 14. Hymnus von Prudentius’ liber peristephanon. Prudentius, der unterschiedliche lyrische Versmaße gebrauchte, wurde sowohl im Mittelalter (vgl. Leonhardt 1989, 122) als auch in der Renaissance rezipiert. Ein Beispiel dafür ist die ausdrücklich gekennzeichnete Übernahme von Metren des Prudentius durch Georg Fabricius. (Vgl. Ludwig 2001, 293.) Schoonhoven bildet hier trotz des stichischen Metrums regelmäßige Strophen von vier Versen, die bereits im Leidener Druck deutlich abgesetzt sind (anders Lal. 31; s. die Einleitung dort). Metrum: Alkäische Elfsilbler. 1 vides, ut So beginnt Hor. carm. 1,9. (S. auch die Einleitung.) omnes undiqué = Lal. 26,7. • 2 sparsae Es grünen zwar alle Pfade (1: omnes und undique), doch wächst das Gras dort nicht flächendeckend. Das Bild ist stimmig, denn auf Wegen, auf denen man läuft und vielleicht das Vieh treibt, sieht man zwischen den Grasbüscheln sicherlich auch bloße Erde. rideant Zum „Lachen“ der Natur im Frühling vgl. bes. Verg. ecl. 7,55: omnia nunc rident; ferner Verg. ecl. 4,20: mixta… ridenti colocasia fundet acantho; Hor. carm. 2,6, 13-14: ille terrarum mihi praeter omnis / angulus ridet. Das griechische γελάω wird in gleicher Weise verwendet. Vgl. z.B. h.Cer. 14: γαῖά τε πᾶσ ’ ἐγέλασσε . (Vgl. LSJ s.v. γελάω I,2.) S. auch Lal. 15,6. • 3-4 Auf Reliefs wird die personifizierte Tellus oft mit einem Füllhorn im Arm dargestellt. (Vgl. Roscher 1965, 5,342; LIMC 7,2, 607-610). Zur Formulierung vgl. Ov. met. 15,81-82: prodiga divitias alimentaque mitia tellus / suggerit atque epulas sine caede et sanguine praebet; Stat. silv. 2,6,67-68: et qua tibi cumque beato / larga redit Fortuna sinu. cornua copiae Es gibt zwei verschiedene mythische Geschichten, in denen die Entstehung des Füllhorns erklärt wird: In einer Version ist es das Horn des Flussgottes Achelous, der mit Herkules um Deianira kämpfte und dabei die Gestalt eines Stieres annahm. Herkules brach ihm ein Horn ab, von dem Ovid (met. 9,87-88) Achelous sagen lässt: naides hoc pomis et odoro flore repletum / sacrarunt, divesque meo Bona Copia cornu est. Berichtet wird auch von einem Horn der Amalthea (z.B. Ov. fast. 5,111-128): Die Ziege, die Jupiter als Kind nährte, brach sich ein Horn an einem Baum, das die Nymphen daraufhin für ihn mit Früchten füllten. Später erhob Jupiter die Ziege als Sternbild in den Himmel und machte ihr Horn fruchtbar, dem er den Namen seiner Herrin gab. (Entweder hieß die Ziege Amalthea oder die Nymphe, die sie besaß.) Cornua ist poetischer Plural. • 5 Der Wein, der am Stamm der Ulme emporwächst, ist ein Symbol für die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau oder die Ehe. Vgl. Catull. 62,54: [vitis] ulmo coniuncta marito; Ov. met. 14,665-668 (Vertumnus zu Pomona): haec quoque, quae iuncta vitis requiescit in ulmo, / si non iuncta foret, terrae adclinata iaceret; / tu tamen exemplo non tangeris arboris huius, / concubitusque fugis nec te coniungere curas. S. auch den Komm. zu Lal. 7,7: ulmi. Ein verwandtes Motiv ist <?page no="239"?> Ad Lalagen. Carmen VIII 239 der Efeu, der den Stamm von Bäumen umschlingt; s. den Komm. zu Lal. 1,26-28. • 7 signa lactis lilia Sospitae Der zugrundeliegende Mythos war im 16. Jahrhundert sehr bekannt, was nicht nur Darstellungen in mythologischen Handbüchern, sondern auch Anspielungen in der Dichtung belegen. Vgl. z.B. Conti Mythol., S. 68: nam fabulatur Iovem aliquando dormientis Iunonis uberibus Herculem infantem admovisse, quo ab excitata reiecto pars lactis, quae in caelum cecidit, viam inde vocatam lacteam fecit, at quod cecidit in terram, fecit candida lilia, cum prius essent crocea; Melissus Epigr. 3, S. 82 (Ad Annam Pallantiam 2): lilia Iunonis lacte creata Deae; Dousa fil. Od., S. 123: divini monimenta lactis / lilia. Vgl. auch Var. Carm., S. 51: sancti monumenta lactis / lilia. In der Antike gab es verschiedene Versionen eines Mythos über die Entstehung der Milchstraße (zusammengefasst bei Hyginus, astr. 2,43): Juno stillte unwissentlich Herkules (oder Merkur), stieß ihn jedoch von sich, als sie merkte, wessen Kind sie im Arm hielt. (Oder Herkules trank zu gierig und konnte nicht die ganze Milch im Mund behalten.) Die dabei verspritzte Milch erschien als Milchstraße am Himmel. Der Zusatz, dass ein Teil auf die Erde fiel und die Lilien hervorbrachte bzw. weiß färbte, ist nicht antik. Sospitae Kultname der Juno. (Vgl. OLD s.v.) • 8 hoc breve gaudium Hier klingt zum ersten Mal im Gedicht das Motiv der Kürze allen Lebens an. (S. auch die Einleitung.) Zur Vergänglichkeit der Lilien vgl. z.B. Hor. carm. 1,36,16: breve lilium; Val. Fl. 6,492-493: lilia per vernos lucent velut alba colores / praecipue, quis vita brevis. • 9-12 Der hochmütige Narcissus dient als Folie für Lalages Verhalten (s. V. 20: tumentem pone superbiam) und somit zugleich als warnendes Beispiel. Die erneute Anspielung auf den Narcissus- Mythos passt zur Identifikation des Daphnis mit Echo in Lal. 5 (s. bes. 5,14: Lalage turgida). Die Eigenliebe ( φιλαυτία ) im allgemeineren Sinne verurteilt Schoonhoven in seinem Emblembuch (S. 132-133). Auch dort wählt er Narcissus als Beispiel und verweist dabei auf eine sprichwörtliche Wendung, die im Suidae Lexicon (4, S. 162, Nr. 1934) aufgeführt ist: Πολλοί σε µισήσουσιν , ἐὰν σαυτὸν φιλῇς : τοῦτό φασι τὰς Νύµφας πρὸς τὸν Νάρκισσον εἰπεῖν , ἀποβλέποντα εἰς τὰς πηγὰς διὰ τὴν οἰκείαν µορφήν . Die Strophe wird in Lal. 16,17-20 variiert: Dort legt Narcissus seinen Hochmut ab, weil er sich in Lalage verliebt. • 9 Im Frühling durchstoßen zunächst die jungen Triebe den Boden. In den folgenden Versen sehen wir die Narzisse bereits als voll erblühte Blume, deren Wachstum somit gleichsam im Zeitraffer nachvollzogen wird. • 10 Vgl. auch Var. Carm., S. 51: Narcissus retinens tumorem / pristinum. nondum … immemor Litotes. • 11-12 Im antiken Mythos bespiegelt sich Narcissus nach seinem Tod in den Wassern der Unterwelt. (Vgl. z.B. Ov. met. 3,504-505.) Schoonhoven wandelt das Motiv, dass ein Toter Verhaltensweisen fortsetzt, die er als Lebender zeigte, hier ab: Sein Narcissus bewahrt als Narzisse die Haltung des sich selbst Betrachtenden, der mit gebeugtem Nacken (bzw. Stiel) nach unten blickt. ut superstes Narcissus lebt nach seinem Tod in Gestalt der Narzisse fort. turgidulum <?page no="240"?> 3 Kommentar 240 caput Bei einem hochmütigen Menschen würde man eher die Brust als „geschwollen“ bezeichnen, doch in der gewählten Formulierung kann das Adjektiv sowohl den Hochmut des Narcissus als auch die Form der Blüte einer Narzisse beschreiben. • 13-14 Die Dunkelheit des Hauses bildet einen Kontrast zur Buntheit der umgebenden Natur. Zudem ist die Behausung ein begrenzter und beengter Ort, wohingegen man sich draußen in den Bergen frei und weitläufig bewegen kann (15-16). quidnam moraris diu S. Lal. 1,29: veni, praeripe te morae. Diu muss hier einsilbig gemessen werden. domum fumo nigrantem In Vergils erster Ekloge sind die rauchenden Herdfeuer Teil einer friedlichen Abendstimmung; vgl. 1,82: iam summa procul villarum culmina fumant. Hier jedoch weist das rauchgeschwärzte Haus auf das Todesmotiv in der letzten Strophe voraus, in der Charon niger genannt wird (25-26). Zudem evoziert der Ausdruck domum fumo nigrantem zwei antike Prätexte, in denen einmal die Unterwelt und einmal der Rauch eines Scheiterhaufens beschrieben werden; vgl. Prop. 3,12,33: nigrantisque domos animarum … silentum; Sil. 2,658-659: erigit atro / nigrantem fumo rogus alta ad sidera nubem. Die Technik, durch Hervorheben einer bestimmten Farbe ein späteres Motiv anklingen zu lassen, findet sich bereits in Hor. carm. 1,9 (s. auch die Einleitung): Der schneebedeckte Berg (1,9,1: candidum) hat die gleiche Farbe wie das weiße Haar, das für das Alter steht (1,9,17: canities). Pöschl (1970, 45-46) hebt diesen Zusammenhang hervor, betont aber auch, dass der Berg kein Symbol für das Alter sei. (Vgl. ebd. 46: „Der Winter bereitet die canities vor, ist aber nicht mit ihr identisch.“) desere, desere Die Geminatio unterstreicht die Dringlichkeit der Aufforderung. • 15 virentum Farbkontrast zu nigrantem im vorigen Vers an gleicher Position. (S. auch die Einleitung.) culmina montium = Lal. 3,5.20. • 16 tendito Der Imperativ Futur wurde ursprünglich für einen Befehl gebraucht, der sich nicht auf die unmittelbare Gegenwart bezog. Noch Cicero und die Augusteer kannten den Unterschied, der jedoch in der Umgangssprache schon frühzeitig und später auch in der Schriftsprache zunehmend verwischte. (Vgl. Hofmann/ Szantyr 1965, 340-341, § 188.) Die Verwendung von tendere ist merkwürdig. Ein geläufiger Ausdruck wäre gressum/ gressus tendere („die Schritte irgendwohin lenken“, „gehen“). Vgl. z.B. Verg. Aen. 1,410: gressum… ad moenia tendit; Sil. 17,231: ad moenia tendere gressus. Vgl. jedoch z.B. auch Prud. cath. 5,63-64: Moses porro suos in mare praecipit / constans intrepidis tendere gressibus und im Griechischen Anacreont. 37,5 W.: δρόµον ὠκὺν ἐτανύειν . • 17-18 Zur erotischen Konnotation des Kranzes s. den Komm. zu Lal. 1,13. Nymphis Die Nymphen gehörten zu den ländlichen Gottheiten, denen Kränze dargebracht wurden. Vgl. z.B. Ov. met. 9,337: Nymphis latura coronas und im bukolischen Kontext Longos 1,9,2: στεφανίσκους πλέκοντες ταῖς Νύµφαις ἐπέφερον . Zum Kranzopfer vgl. Baus 1965, 17-28; Blech 1982, 269-302. et capiti tuo Leichtes Zeugma. • 19-20 caducis rosis Rosen können schon in der Antike als Sinnbild <?page no="241"?> Ad Lalagen. Carmen VIII 241 der Vergänglichkeit stehen, wenn die kurze „Blüte“ der Jugend mit Alter und Tod kontrastiert wird. Vgl. [Theoc.] 27,10: ὃ νῦν ῥόδον , αὖον ὀλεῖται (die Stelle ist jedoch umstritten; vgl. Gow 1952 z. St.); Hor. carm. 2,3,13-14: nimium brevis / flores amoenae ferre iube rosae; Prop. 4,5,61-62: vidi ego odorati victura rosaria Paesti / sub matutino cocta iacere Noto. Das Motiv wird auch in der Renaissance oft verwendet. Das wohl bekannteste Beispiel stammt aus Herricks Hersperides: „Gather ye rosebuds while ye may, / Old time is still a-flying: / And this same flower that smiles to-day / To-morrow will be dying.“ (Zu weiteren Belegen vgl. Nisbet/ Hubbard 1978 zu Hor. carm. 2,3,13.) Zur Formulierung vgl. Ov. trist. 5,8,19: nos quoque floruimus, sed flos erat ille caducus. tumentem pone superbiam Vgl. Hor. carm. 3,10,9: ingratam Veneri pone superbiam. S. auch V. 10: superbi; 12: turgidulum sowie den Komm. zu 9-12. • 21-24 Dem menschlichen Leben, das auf ein Ende zuläuft, wird der Kreislauf der Natur gegenübergestellt. Vgl. z.B. Catull. 5,4- 6: soles occidere et redire possunt: / nobis cum semel occidit brevis lux, / nox est perpetua una dormienda (s. auch den Komm. zu 27-28); Hor. carm. 4,7,13-16: damna tamen celeres reparant caelestia lunae: / nos ubi decidimus / … pulvis et umbra sumus. (S. auch die Einleitung; zuvor mahnt Horaz, der Wechsel der Jahreszeiten möge daran erinnern, dass nichts ewig ist.) se remittit Bruma Vgl. [Tib.] 3,5,4: cum se purpureo vere remittit humus [var. lect.: hiems 514 ]; Joh. Sec. Bas. 16,23-24: cum se dura remittit / primis bruma Favoniis. (S. auch die Einleitung.) • 25-28 In der letzten Strophe werden kurze Sätze asyndetisch aneinandergereiht. Der harte, abrupte Ton, der dadurch entsteht, unterstreicht die Härte und Unausweichlichkeit des Todes. Der Gedanke, dass vor dem Tod alle gleich sind, beruht auf einer allgemeinen menschlichen Erfahrung und ist daher in der Literatur weit verbreitet. Im Folgenden führe ich nur Prätexte im engeren Sinne auf. • 25-26 cui te reservas? Hier wird der Ton spöttisch. Nimis könnte sich inhaltlich sowohl auf nigro als auch auf seni beziehen. Seni ist hier jedoch Substantiv (andernfalls stünden zwei adjektivische Attribute seltsam unverbunden nebeneinander), so dass nimis grammatisch zu nigro gehören muss. Charonti Charon, der Fährmann, der die Toten über den Fluss Styx am Eingang der Unterwelt bringt, ist ebenso wie nox in 28 auch eine euphemistische Umschreibung des Todes. Die Darstellung des Todes als Liebhaber erinnert an das Motiv „Der Tod und das Mädchen“, das in Literatur, Musik und bildender Kunst vertreten ist. Besonders berühmt sind ein Gedicht des Matthias Claudius und ein Streichquartett Franz Schuberts gleichen Namens (jeweils um 1800). Das Thema ist jedoch bereits im 16. Jahrhundert bekannt, wie Gemälde von Hans Baldung Grien zeigen. („Tod und Mädchen“, 1517; „Tod 514 Schoonhoven kannte diese Variante; vgl. z.B. Ed. Dousa 1592, S. 119; Ed. Scaliger 1577, S. 125; Commentarii in Tibulli lib. III. (1604), S. 524 (Text), dazu Kommentar des Achilles Statius (S. 526): Cum se purpureo vere remittit humus.] In Vaticano non Umus, sed Hiems. <?page no="242"?> 3 Kommentar 242 und Frau“ [Datierung unsicher]; vgl. Gert von der Osten 1983, Nr. 44 und 48.) • 26-27 te minimè eximet / vultus decorus Vgl. Prop. 3,18,27-28: Nirea non facies, non vis exemit Achillem / Croesum aut, Pactoli quas parit umor, opes. Während Properz mythische Beispiele wählt, die sprichwörtlichen Charakter haben, wird bei Schoonhoven die Geliebte direkt angesprochen. (Achill und Krösus sind bekannt; zur sprichwörtlichen Schönheit des Nireus vgl. Otto 1962, 243-244 mit Verweis auf Hom. Il. 2,673: Νιρεύς , ὃς κάλλιστος ἀνὴρ ὑπὸ Ἴλιον ἦλθε .) Vgl. auch Var. Carm., S. 81 (In fragilitatem vitae humanae. Ode): non larga rerum copia, non decus / non stemma pulchri nominis eximet / illum sagittis mortis atrocibus. decorus In V. 18 ist dies ein Attribut der Nymphen, denen Lalage somit indirekt hinsichtlich ihrer Schönheit gleichgestellt wird. • 27-28 In denselben Kontext gehören Catull. 5,5-6 (zitiert zu 21-24), Hor. carm. 1,28,15: sed omnis una manet nox, Prop. 2,15,24: nox tibi longa venit und Sen. dial. 11,1,1: nihil perpetuum, pauca diuturna sunt. Zur Formulierung vgl. ferner Verg. Aen. 1,89: ponto nox incubat atra. S. auch Lal. 25,27-28: nil de culmine caeli / Phoebus perpetuum videt. videt Das Gedicht wird durch vides und videt gerahmt. Lalage sieht die blühende Natur; dies ist die beschränkte menschliche Perspektive. Die Sonne, die lange Zeiträume überdauert, „sieht“, dass alles vergänglich ist. Die Betonung des Optischen an dieser hervorgehobenen Stelle passt zu den auffälligen Farbkontrasten, die das Gedicht durchziehen. Ad Lalagen. Carmen IX Lalage umarmt Daphnis, weigert sich aber, ihn zu küssen. Ihre zunächst verbale Gegenwehr (3: negas) wird im zweiten Teil des Gedichtes (ab 11) deutlich handgreiflicher. Dass sie ihn früher von sich aus küsste, und dies sogar leidenschaftlich (s. den Komm. zu 5-6: eriperes), lässt dabei vermuten, dass sie die Zurückweisung nicht allzu ernst meint. Wie in Lal. 4 provoziert sie den Hirten und schürt damit noch seine Liebesglut. Dass Gegenwehr das Entzücken eines Liebenden noch steigere, ist in 18-22 mehrfach ausgedrückt und wird durch einen parataktischen Vergleich, der den sentenziösen Schluss des Gedichtes bildet, noch einmal illustriert. Die Häufung von Worten des Kämpfens sowie Worten der Freude, die teils pointiert nebeneinandergesetzt sind (s. V. 21-22 mit Komm.), unterstreicht das Oxymoron (18: iuvat - 21: gaudia - 22: grata; daneben 19: pugnando - 21: iurgio - 22: pugnans). Neben der saevitia der Geliebten hat natürlich auch die Leidenschaft des Liebenden eine aggressive Komponente, was durch die wiederholte Metapher des Feuers (9-10; 15; 20), dem etwas Zerstörerisches innewohnt, hervorgehoben wird. Sprachlich bietet das Gedicht einige Schwierigkeiten. Schon die Verse 5- 6 sind nicht ganz eindeutig, und noch mühsamer lässt sich die Konstruktion von 7-10 nachvollziehen. (Zu Lösungsversuchen s. jeweils die Kom- <?page no="243"?> Ad Lalagen. Carmen IX 243 mentare.) Je nach Deutung des grammatischen Zusammenhanges ergeben sich auch verschiedene Interpretationen des Inhalts, so dass sich die Problematik der Verse nicht auf den formalen Bereich beschränkt. Zur Metrik s. die Einleitung zu Lal. 3. Metrum: Glykoneen / Pherekrateen. 1-2 nexilibus … ulnis S. Lal. 1,25: nexilibus … brachiis (mit Komm.); 27,15: manibus nexilibus meis. In den beiden anderen Gedichten ist Daphnis derjenige, der Lalage eifrig umschlingt oder umschlingen möchte, während hier die Initiative von ihr ausgeht. pendula S. den Komm. zu Lal. 3,40: haere pendula. pendula pectore Alliteration. • 3-6 Vgl. Hor. carm. 2,12,25-28: … cum flagrantia detorquet ad oscula / cervicem, aut facili saevitia negat / quae poscente magis gaudeat eripi, / interdum rapere occupet. (S. auch den Komm. zu Lal. 3,18 saevitiâ levi; weiter Lal. 22,18-20: [si liceat mihi] mordentia basia / denegata ferociâ / leni carpere furtim.) • 3 saevitiâ Die Kämpfe ab V. 11 werden hier schon angedeutet. S. auch 13: saevum. • 4 gratum In 22 und 24 wird als gratum bezeichnet, was erst erkämpft werden muss. figere S. den Komm. zu Lal. 3,19: figit. • 5-6 Trotz des im Originaldruck gesetzten Fragezeichens am Ende von 4 sind die Verse 5 und 6 jeweils als Nebensätze erster Ordnung von dem Hauptsatz in 1-4 abhängig zu machen. Für die Annahme, dass der Satz in 4 noch nicht endet, spricht auch die Metrik: Im Gedicht steht auch sonst an jedem Satzende ein Pherekrateus als Klausel. cum Hier in der Bedeutung „da ja.“ (Ebenso z.B. Ov. Pont. 2,1,48, auch dort nach einer mit cur eingeleiteten Frage.) eriperes Sc. basium bzw. basia. (Vgl. z.B. Tib. 2,5,91-92: parenti / oscula … eripiet; Navag. Lus. 29,10: [Neaera] mille obtulit sponte oscula.) Zum iterativen Konjunktiv Imperfekt in Nebensätzen vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 206-207, § 182,8. Der starke Ausdruck „Küsse entreißen“ betont, dass die Initiative einst von Lalage ausging, und legt eine gewisse Leidenschaftlichkeit auch von ihrer Seite nahe. In der Tat hat sie Daphnis bereits früher geküsst; s. Lal. 3,49-50: o quàm dulce suavium / fixisti, mea Suavitas. quod si non Zu quod si in der Bedeutung „wenn nun“, „wenn also“ (so auch Lal. 14,21) vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 321-322, § 197,3, die zudem auf zwei Stellen bei Cicero verweisen (Pis. 40; Arch. 16), an denen quod si non zu finden ist (dort jeweils als relativischer Anschluss). non pudor obstet Vgl. Ov. ars. 2,719-720: cum loca reppereris, quae tangi femina gaudet, / non obstet, tangas quo minus illa, pudor; rem. 351-352: tum quoque, compositis cum collinet ora venenis, / ad dominae vultus, nec pudor obstet, eas. S. auch Lal. 40,24-25: nisi pudor gravis / vetuisset istud, tradidisset osculum. obstet Potentialis. Da Lalage Daphnis früher schon geküsst hat, ist es nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass nicht Schamgefühl der Grund <?page no="244"?> 3 Kommentar 244 ihrer Weigerung ist. • 7-10 Die Konstruktion des Satzes ist nicht klar. 515 Unter verschiedenen möglichen Ansätzen scheint mir am meisten für die folgende Lösung zu sprechen: Nach dic in 7 folgt ein mit quàm eingeleiteter indirekter Fragesatz. (Der Akzent schließt aus, dass es sich bei quam etwa um ein Relativpronomen handeln könnte.) Problematisch sind die Infinitive iungere und vetare, statt derer man finite Verben im Konjunktiv erwarten würde. Möglicherweise kann dies damit erklärt werden, dass der indirekte Fragesatz zugleich den Charakter eines tadelnden Ausrufes trägt: „Sag, Lalage, ich bitte dich: Wie nahe an leichten Halmen <kann man denn> Feuer entfachen! “ usw. (Zur Bedeutung von flammas iungere s. den Komm. zu 9.) Das Bild von Feuer und Stroh illustriert damit die Situation der Verse 1-4: Lalage umarmt Daphnis, will ihn aber nicht küssen (rechnet also nicht mit seiner leidenschaftlichen Reaktion), d.h. sie legt trockene Halme neben glühende Flammen, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Um das Fehlen eines finiten Verbs im Nebensatz zu vermeiden, könnte auch versucht werden, vetare als Nebenform von vetaris („man verbietet dir“) zu lesen. Dann müsste man Schoonhoven jedoch etliche grammatische Fehler unterstellen: Da quam als „wie“ in diesem Falle keinen Sinn ergäbe, müsste man annehmen, dass quam propter hier fälschlich für quapropter stehe. Damit fiele jedoch propter als Präposition aus; folglich müsste man für iungere hier die Bedeutung „verbinden“ annehmen (sc. Flammen mit Halmen), doch müssten dann entweder die Halme oder die Flammen im Dativ stehen. Zudem stünde das Verb vetaris im falschen Modus. Die Übersetzung „sag, Lalage, ich bitte dich, weshalb man dir verbietet, glühende Flammen mit leichten Halmen zu verbinden, und dabei in Brand zu geraten“ führt auch zu inhaltlichen Problemen. Das Bild von Feuer und Stroh passt gut zu Lalages Verhalten, mit dem sie Daphnis einerseits reizt und andererseits wieder hinhält oder von sich stößt - sie spielt mit dem Feuer, will die Folge (nämlich dass Daphnis entbrennt) jedoch nicht wahrhaben und kämpft nun gegen seine Leidenschaft, die sie selbst geschürt hat, an. (S. V. 11-14.) Incendi vetaris („man verbietet dir, in Brand zu geraten“) hieße dagegen, dass Lalage in Gefahr ist, zu entbrennen, und von jemandem (der Mutter aus Lal. 2? ) daran gehindert wird. Dies ist zwar möglich, im Kontext des gesamten Gedichtes jedoch nicht wahrscheinlich. (S. bes. auch den Komm. zu 23-26.) Zudem ergäbe sich ein unschöner Wechsel von der reinen Bildebene (Halme und Feuer kommen zusammen) zu einer zwar noch bildhaften Sprache, in der aber ein Mensch gemeint ist („du entbrennst“). • 8-10 Das „Strohfeuer“ ist sprichwörtlich; vgl. z.B. Verg. georg. 3,99-100: … ut quondam in stipulis magnus sine viribus ignis, / incassum furit; Ov. trist. 5,8,20: 515 In die folgenden Überlegungen sind fruchtbare Diskussionen in zwei Kolloquien eingeflossen. Ich danke dem Neulateinerzirkel in Leiden unter der Leitung von Prof. Dr. Karl Enenkel und den Frankfurter Doktoranden. <?page no="245"?> Ad Lalagen. Carmen IX 245 flamma… de stipula nostra brevisque fuit (vgl. Otto 1962, 332). Da der verliebte Daphnis sich jedoch selbst nicht als untreu charakterisieren würde, liegt der Akzent hier nicht auf der geringen Brenndauer, sondern auf der schnellen Entzündbarkeit. Vgl. z.B. Lucr. 5,608-609: interdum segetem stipulamque videmus / accidere ex una scintilla incendia passim. Dazu passt ein niederländisches Sprichwort, dass in Cox’ Spreekwoordenboek (1988, 31) unter dem Kapitel „liefde - huwelijk“ („Liebe - Hochzeit/ Ehe“) geführt ist: „Waar ’t werk bij ’t vuur ligt, is brand te vrezen.“ („Wo das Werg beim Feuer liegt, ist ein Brand zu befürchten.“) Zur Erläuterung schreibt Cox: „Ouders moeten een vrijer niet de gelegenheid geven te ver te gaan.“ („Eltern sollten einem Verehrer nicht die Gelegenheit geben, zu weit zu gehen.“) Das mittelniederländische Wort werc kann sowohl „Werg“ als auch „Stoppel“ heißen; die lateinischen Begriffe stipula/ stupula („Halm“) und stuppa („Werg“) klingen zumindest ähnlich. • 8 stipulas leves Die „leichten Halme“ sind Strohhalme ohne Körner, die leicht Feuer fangen. Im Kontext des Entfachens von Liebesglut kommt dieses Bild auch bei Ovid vor; vgl. met. 1,492.495-496 (Apoll und Daphne): utque leves stipulae demptis adolentur aristis, / … sic deus in flammas abiit, sic pectore toto / uritur. • 9 flammas iungere Iungere steht hier in der Bedeutung copulando efficere. (Vgl. Kamptz: ThLL 7,2 [1956-1979],660,52-661,38.) Eine exakte Parallele für flammas iungere als „Feuer entfachen“ finde ich nicht, doch mag die Formulierung durch Stellen wie Cic. Tusc. 1,43 (iunctis ex anima tenui et ex ardore solis temperato ignibus) nahegelegt worden sein. flammas … fervidas Vgl. Ov. am. 1,2,46: fervida vicino flamma vapore nocet. Die flamma ist dort Amors Fackel, die seine Opfer verbrennt, wenn er ihnen damit nahe kommt. (Vgl. McKeown 1989 z. St.) Die Feuermetaphorik wird in 15 und 20 aufgegriffen. (S. auch den Komm. zu 15: ignem.) • 11-12 Dass junge Mädchen in Kämpfen mit dem Liebhaber ihre Fingernägel einsetzen, ist ein häufiges Motiv; vgl. die zahlreichen Belege bei Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,6,17- 18: proelia virginum / sectis in iuvenes unguibus acrium. Oft ist es ein Zeichen von Eifersucht und großer emotionaler Beteiligung; vgl. z.B. Prop. 3,8,6: mea formosis unguibus ora nota; Ov. ars 2,452: ille ego sim, teneras cui petat ungue genas. Inhaltlich enger ist die Parallele zu Claudian (14,3.5-6), wo die Braut den Bräutigam zunächst verschämt zurückweist: iam nuptae trepidat sollicitus pudor, … / ne cessa, iuvenis, comminus adgredi, / inpacata licet saeviat unguibus. (S. auch den Komm. zu 18-26.) Zwar weist Lalage Daphnis gerade nicht aus Schamhaftigkeit zurück (s. V. 6), doch handelt es sich auch hier um eine Abwehr des Liebenden und nicht um eine Eifersuchtsszene. horridis Das Adjektiv ist wenig schmeichelhaft, da es bezogen auf Teile des Körpers nicht so sehr eine furchterregende Erscheinung als vielmehr ein ungepflegtes Äußeres zu bezeichnen pflegt. (Vgl. OLD s.v. 3.) tetrico Die finstere, strenge Miene ist ein Zeichen ehrlicher Entrüstung. Pichon 1966 (279: „tetricus est quasi austerus“) zitiert zwei Belege in der römischen <?page no="246"?> 3 Kommentar 246 Liebesdichtung; Ov. am. 3,8,61: … exaequet tetricas licet illa Sabinas; ars 1,720-722: intret amicitiae nomine tectus amor. / hoc aditu vidi tetricae data verba puellae; / qui fuerat cultor, factus amator erat. Dies passt nicht recht zu dem Bild Lalages, das sonst gezeichnet wird. In anderen Gedichten (z.B. Lal. 4; 10) spielt sie mit Daphnis, reizt ihn und hält ihn dann wieder hin. Dieser Übermut und eine mädchenhafte Koketterie sind jedoch nicht mit moralischer Strenge zu vergleichen. • 13-14 saevum … clames Akkusativ des Inhalts. (Vgl. Hofmann/ Szantyr 1965, 38-40, § 45.) Vgl. z.B. Verg. Aen. 12,398: acerba fremens; Hor. carm. 1,22,23-24: dulce ridentem … / dulce loquentem. S. auch V. 3: saevitiâ. magè Tigride Magis kann mit quam oder gelegentlich mit Ablativ stehen (vgl. OLD s.v. magis 1 1b); vgl. z.B. Hor. sat. 2,8,17: magis appositis. • 15 ignem Das Feuer steht in der Liebesdichtung oft metaphorisch für die Liebesglut; vgl. z.B. Ov. ars 1,573: oculis … fatentibus ignem. (Vgl. Pichon 1966, 166 mit zahlreichen weiteren Belegen.) ignem, qui latet S. auch V. 20: ignis conditus. ossibus Die „Knochen“ können als innerster Teil des Körpers auch den Sitz der Gefühle bezeichnen. Vgl. z.B. Verg. Aen. 1,660: [Cupido] incendat reginam atque ossibus implicet ignem; Ov. met. 2,410: accepti caluere sub ossibus ignes. (Vgl. OLD s.v. os 2 1e.) Zur Feuermetaphorik s. z.B. Lal. 2 und 4 sowie insbesondere Lal. 11. • 16 osculum = V. 18. • 17 removebis Inhaltlich würde man an dieser Stelle wohl eher „fernhalten“ erwarten als „entfernen.“ Offenbar gelingt es Daphnis jedoch, Lalage trotz ihres Widerstandes zu küssen (s. auch den Indikativ iuvat in 18), und diesen Kuss kann sie nun nicht mehr ungeschehen machen. • 18-22 Vgl. Claud. 14,10-13: armat spina rosas, mella tegunt apes. / crescunt difficili gaudia iurgio / accenditque magis, quae refugit, Venus. / quod flenti tuleris, plus sapit osculum. Zum Motiv, dass Hindernisse die Liebesglut schüren, s. auch Lal. 2,15-16 und 27,17-20 (mit Kommentaren), zum Scheinkampf Lal. 3,19 (mit Komm.). Vgl. weiter Tib. 1,4,53-56: tunc tibi mitis erit, rapias tum cara licebit / oscula: pugnabit, sed tibi rapta dabit. / rapta dabit primo, post adferet ipse roganti, / post etiam collo se implicuisse velit; Ov. am. 1,8,96: non bene, si tollas proelia, durat amor. • 18 furtivum Bei Küssen oft in der Bedeutung „verstohlen“, „heimlich“ (vgl. z.B. Prop. 3,13,33-34: furtiva … / oscula; Ov. ars 1,275: utque viro furtiva Venus, sic grata puellae; Claud. 14,24: furtiva carpent oscula Naides; so auch Lal. 13,9: quot furtiva labris basia contuli? ); hier „gestohlen“, „geraubt“ (vgl. Rubenbauer: ThLL 6,1 [1912-1926],1643,80-84). osculum = V. 16. • 19-20 magis ac magis Vgl. Ov. met. 4,64 (Pyramus und Thisbe): quoque magis tegitur, tectus magis aestuat ignis; s. auch Lal. 2,21-23: durum incendia pectoris / occultare sui; lumine proprio / produntur magis ac magis; 4,35-37: quò magis / accendor, hòc magis struis / ignem. ignis conditus S. auch V. 15: ignem, qui latet. • 21-22 crescunt Das folgende Pflanzengleichnis wird durch diese Wortwahl indirekt vorbereitet. Bei Claudian (zitiert zu 18-22) gehen Pflanzenbilder voran. gaudia iurgio … pugnans grata Das Oxymoron, dass aggressives Verhalten positive Gefühle auslöse, kommt in diesen <?page no="247"?> Ad Lalagen. Carmen X 247 beiden Versen besonders gedrängt zum Ausdruck. Wenn man den Inhalt betrachtet, ist die Wortstellung chiastisch. Pugnans nimmt in Form eines Polyptoton pugnando (19) wieder auf. • 23-26 In dem parataktischen Vergleich (s. den Komm. zu Lal. 11,6: sic) wird der Kuss der Geliebten und die Freude des Liebenden mit einer Blume gleichgesetzt und die Geliebte selbst mit der rauen Erde. (S. auch die bedeutungsverwandten Wörter aspera [23] und horridis [11].) Derjenige, dessen Feuer mehr und mehr entfacht wird (14-20), ist also eindeutig Daphnis und nicht Lalage, was dafür spricht, dass sich auch incendi (10) auf den Hirten bezieht, somit vetare Infinitiv und nicht Nebenform zu vetaris ist. (S. den Komm. zu 7-10.) Dass Seltenheit den Wert steigere, ist sprichwörtlich. (Vgl. Otto 1962, 294.) Martial verbindet mehrere Beispiele aus dem Bereich der Pflanzen und der Liebe, so dass dort ein ähnlicher Zusammenhang gegeben ist; vgl. Mart. 4,29,3-6: rara iuvant: primis sic maior gratia pomis, / hibernae pretium sic meruere rosae; / sic spoliatricem commendat fastus amicam, / ianua nec iuvenem semper aperta tenet. Eine ganz andere Vorstellung liegt den Schilderungen des Goldenen Zeitalters zugrunde, in denen gerade der Überfluss Kennzeichen des Glücks ist. Vgl. hier bes. Verg. ecl. 4,23: ipsa tibi blandos fundent cunabula flores. protulit … tellus Zur Formulierung vgl. Sen. Oed. 725b: protulit tellus. terrae … area Hier konkret ein Blumenbeet. (Vgl. OLD s.v. area 3.) nullis … spinis Das Motiv der Dornen hat auch Claudian in ähnlichem Zusammenhang, allerdings speziell bei Rosen (Claud. 14,10; zitiert zu 18-22). Zur Formulierung vgl. Ov. met. 14,166: spinis … nullis. Ad Lalagen. Carmen X Anhand von Metaphern und Vergleichen beschreibt Daphnis seine Beziehung zu Lalage so, wie sie sich darstellt, und so, wie er sie sich wünscht. Er verbrennt vor Liebesglut und sehnt sich nach Lalage als linderndem Regen (1-4); stattdessen verhält sie sich wie eine mutwillige Ziege (5-8). In seinem Verlangen und ihrem Ausweichen ähneln sie beide zusammen Apoll und Daphne (9-12). Jeder Vergleich ist durch ein Signalwort kenntlich gemacht: ut in 1, consimilis in 5 und qualiter in 10. Die ersten beiden Beispiele entstammen der bukolischen Sphäre, das dritte der Mythologie. In der letzten Strophe weist Daphnis auf einen wichtigen Unterschied zum Mythos hin: Während Apoll zu Recht gestraft worden war, hat Daphnis den Zorn des Liebesgottes nicht verdient. Wenn es mit rechten Dingen zugeht, müsste sich seine Liebe also erfüllen. So drückt Daphnis am Schluss implizit die Hoffnung aus, dass Lalage sich ihm irgendwann zuwenden werde. (S. auch den Komm. zu 15-16.) Metrum: Alkäische Strophen. <?page no="248"?> 3 Kommentar 248 1-4 Den Liebenden dürstet nach der Geliebten wie eine Pflanze nach dem Regen. Das Motiv, dass die Geliebte selbst mit einem erfrischenden Regen verglichen wird, kann ich sonst nicht finden, doch gibt es mehrere verwandte Vorstellungen. Dazu gehört der „Liebesdurst“ bzw. sitis ἐρωτικῶς (Bömer 1969 zu Ov. met. 3,415 [über Narcissus]: dumque sitim sedare cupit, sitis altera crevit; vgl. weiter rem. 533-534: explenda est sitis ista tibi, qua perditus ardes: / cedimus; e medio iam licet amne bibas), aber auch der Vergleich einer empfangenen Wohltat mit der wohltuenden Wirkung kühlen Wassers. (Vgl. bes. Catull. 68,57-66: qualis … rivus muscoso prosilit e lapide, (…) dulce viatori lasso in sudore levamen, / cum gravis exustos aestus hiulcat agros, (…) tale fuit nobis Allius auxilium; weiter z.B. Verg. ecl. 5,45-47: tale tuum carmen nobis, divine poeta, / … quale per aestum / dulcis aquae saliente sitim restinguere rivo.) Die metaphorische Bedeutung des Besprengens mit Wasser als innere Erquickung kommt schon bei Plautus vor; vgl. Truc. 366-367: ah! aspersisti aquam. / iam rediit animus; Bacch. 247; Epid. 554-555. (Nach Otto [1962, 31] ist dort „der Ausdruck … von der Behandlung Ohnmächtiger abgeleitet.“) Der Regen an sich kann eine erotische Komponente haben, insofern er als Vermählung des Himmels mit der Erde beschrieben wird; vgl. z.B. Verg. georg. 2,325-327: tum pater omnipotens fecundis imbribus Aether / coniugis in gremium laetae descendit, et omnis / magnus alit magno commixtus corpore fetus. (Die Geschlechterverhältnisse sind dabei jedoch umgekehrt.) S. auch Lal. 22,11-14. • 1 usta caloribus Sowohl urere als auch calor werden metaphorisch für die Liebesglut gebraucht. Vgl. z.B. Verg. ecl. 2,68: me tamen urit amor; Hor. carm. 4,9,10-11: spirat adhuc amor / vivuntque … calores. (Vgl. dazu Pichon 1966, 97 und 301 mit weiteren Belegen.) Bereits innerhalb des illustrans verwendet Schoonhoven also ein Wort, dass auch auf der Ebene des illustrandum sinnvoll einzusetzen ist. Calor wird in 4 und 12 wieder aufgenommen, dort jeweils in übertragener Bedeutung und betont am Ende der Strophe. Die Feuermetaphorik ist bereits aus anderen Gedichten geläufig; s. z.B. Lal. 4,35-37; 9,19-20. • 2-3 gravi amore Vgl. Hor. epod. 11,1-4: Petti, nihil me, sicut antea, iuvat / scribere versiculos amore percussum gravi, / amore, qui me praeter omnis expetit / mollibus in pueris aut in puellis urere. Schoonhoven übernimmt in den ersten vier Versen neben der Junktur amore gravi auch das auffällige Wort expetit (in anderer syntaktischer Verwendung); urere für „lieben“ ist dagegen zu geläufig, um signifikant zu sein. Weitere Parallelen zu dieser Epode - abgesehen vom allgemeinen Thema der unerwiderten Liebe - sind nicht erkennbar. gravi Amor erhält ein Attribut, das auch in Bezug auf reale Hitze gebraucht werden kann; vgl. z.B. Verg. georg. 2,377: gravis … aestas; Ov. met. 6,339: … cum sol gravis ureret arva. So überlagern sich auch hier die Ebenen des illustrans und des illustrandum. (S. auch den Komm. zu 1: usta caloribus.) coctus Pichon (1966, 114) zitiert als einzigen Beleg für eine Verwendung von coqui in erotischem Zusammenhang Catull. 83,6: uritur et coquitur. Einhellig überliefert ist uri- <?page no="249"?> Ad Lalagen. Carmen X 249 tur et loquitur, doch lag Schoonhoven auch die konjizierte Fassung vor, die nach Angabe des jüngeren Dousa von Lipsius vorgeschlagen worden war; vgl. Commentarii in Catullum (1604), S. 348: Doctissimus doctor noster I. Lipsius, anima Critices, et elegantioris literaturae lumen ac columen, legebat coquitur, ex illo Enii: Quae nunc te coquit et versat sub pectore cura. Quod absit ut non probem atque adeo necessario reponendum putem hoc loco. (Vgl. auch Herescu 1950, 31.) Levamen Das Abstraktum kann von Personen gebraucht werden; vgl. z.B. Verg. Aen. 3,709-710: heu, genitorem, omnis curae casusque levamen, / amitto Anchisen; Ov. epist. 3,62: quis mihi desertae mite levamen erit? (Vgl. OLD s.v.) Zum Motiv s. auch Lal. 37,1-8. • 4 caloris S. den Komm. zu 1: usta caloribus. • 5 petulcae Wie bei urere und calor in 1 spielt Schoonhoven auch hier auf der Ebene des illustrans mit einer doppelten Wortbedeutung: Tiere stoßen mit Kopf oder Hörnern (vgl. z.B. Lucr. 2,368: agni… petulci; OLD s.v. petulcus 1), doch kann das Adjektiv auch im übertragenen Sinne verwendet werden. (Vgl. OLD s.v. 2: „[fig.] wanton, skittish.“) Servius erklärt zu Verg. georg. 4,10: haedique petulci: petulci dicti ab appetendo, unde et meretrices petulcas vocamus. Dass Lalage im engeren Sinne als meretrix charakterisiert werden soll, halte ich jedoch für unwahrscheinlich. Es geht wohl eher darum, ihre Leichtfertigkeit und ihren Übermut hervorzuheben. (S. auch den Komm. zu 7-8: vagaris.) S. auch Lal. 1,30: petulans grex; 40,30: caper ille, quo vix alter est petulcior. consimilis caprae Vgl. Cant. 2,8-9: similis est dilectus meus capreae; Hor. carm. 3,15,11-12: illam cogat amor Nothi / lascivae similem ludere capreae. Ein Commentator vetus (Ed. 1597, S. 179) erklärt zu Hor. carm. 3,15,12: lascivae. petulcae; perpulchre: quia hoc genus pecudis libidini et lasciviae est deditissimum. • 6 salax Klassisch nur von Männern und männlichen Tieren (vgl. OLD s.v. 1; z.B. Ov. fast. 4,771: sitque salax aries), doch in der Frühen Neuzeit wird dieser Unterschied allgemein nicht mehr gesehen. Vgl. z.B. die Übersetzung des Eobanus Hessus zu Theoc. 10,30: capra salax viridem cytisum, lupus ipse capellam [sequitur]. Den an sich derben Ausdruck verwendet Schoonhoven in der ersten Elegie als positives Attribut; s. Eleg. 1,25-28 Dii superi, quàm sunt lepidissima turba puellae? / turba virûm ponens insidias animis. / hinc oculis, illinc gressu volucrisque salaxque / attrahit in vires pectora nostra suas. proterva S. den Komm. zu Praef. 15: iuvenes proterviores. • 7-8 Zum Gestus der Missachtung vgl. [Theoc.] 8,74- 75: οὐ µὰν οὐδὲ λόγον ἐκρίθην ἄπο τὸν πικρὸν αὐτᾷ , / ἀλλὰ κάτω βλέψας τὰν ἁµετέραν ὁδὸν εἷρπον . Dort ignoriert ein Sprecher namens Daphnis ein Mädchen. vagaris Vgl. bes. Ov. met. 10,535: per iuga … vagatur. Jedoch kann vagari auch vom inneren Schwanken gesagt werden; vgl. z.B. Stat. Theb. 10,735-736: illi atra mersum caligine pectus / confudit sensus; pietas incerta vagatur. (Vgl. dazu OLD s.v. vagor 5b: „[of a person] to be unsettled in mind, waver, vacillate.“) Lalages unstetes Umherschweifen in den Bergen deutet auf ihren unsteten Charakter. (S. z.B. auch das neckische Spiel in Lal. 4.) nos … abhorres Klassisch kann nur das Simplex horrere transitiv gebraucht <?page no="250"?> 3 Kommentar 250 werden; abhorrere mit Akkusativ findet sich erst bei Sueton (z.B. Aug. 83). Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 262, § 70,2. irretortis … oculis Vgl. Hor. carm. 2,2,23: oculo irretorto. Nisbet/ Hubbard (1978, z. St.) übersetzen „without a backward glance.“ Das Adjektiv ist eine Prägung des Horaz. S. auch Lal. 2,7: nec vertens oculos tuos. • 9-13 Zum Mythos von Apoll und Daphne vgl. Ov. met. 1,452-567: Als Apoll sich vor Amor mit seinem kräftigen Bogen brüstet und dessen Waffe dagegen gleichsam als Kinderspielzeug bezeichnet, lässt der Liebesgott ihn seine treffsicheren Geschosse am eigenen Leibe spüren. Apoll verliebt sich in die Nymphe Daphne. Sie flieht vor ihm, er läuft ihr nach, doch als er sie fast eingeholt hat, bittet Daphne die Erde und ihren Vater, den Flussgott Peleus, ihr zu helfen. Sie wird in einen Lorbeerbaum verwandelt. Schoonhoven spielt hier insbesondere auf die Szene an, in der Amor Apoll einen Pfeil ins Herz schießt, der Liebe erweckt, der Nymphe dagegen einen, der Liebe verhindert; vgl. Ov. met. 1,468-471: eque sagittifera prompsit duo tela pharetra / diversorum operum: fugat hoc, facit illud amorem; / quod facit, auratum est et cuspide fulget acuta, / quod fugat, obtusum est et habet sub harundine plumbum. In Lal. 25,17-20 erwähnt Schoonhoven den Mythos noch einmal, dort vor allem die Flucht und Verfolgung: cantemus potius, quâ prece Cynthius / crudelis pueri tactus arundine / veloces cohibere / Daphnes instituit pedes. • 9 aut fallor, aut Der Ausdruck ist gleichbedeutend mit nisi fallor. Zur Formulierung vgl. Ov. met. 1,607-608: aut ego fallor / aut ego laedor. S. auch den Komm. zu 15-16. dissimili An gleicher Stelle im Vers und in der Strophe steht consimilis (5). Schoonhoven arbeitet im ganzen Gedicht zum einen mit Vergleichen und zum anderen mit Gegensätzen. Deus Wie in 13 (Divum) wird Amor nicht namentlich genannt, doch ist nicht nur aufgrund des bekannten Mythos, sondern auch wegen des Liebespfeiles klar, wer gemeint ist. • 10 punxit Das Perfekt zu pungere müsste pupugit oder pepugit lauten; die Form punxit ist vielleicht in Analogie zu angere/ anxi; cingere/ cinxi; iungere/ iunxi usw. gebildet. Actio Vgl. z.B. Verg. Aen. 8,704: Actius … Apollo; Prop. 4,6,67: Actius … Phoebus. Apoll trägt den Beinamen Actius als Helfer in der Schlacht bei Actium, nach der Augustus den dortigen Apollotempel erweiterte. (Vgl. Suet. Aug. 18,2: ampliato vetere Apollinis templo …; dazu Fordyce 1977 zu Verg. Aen. 8,704.) Ovid stellt am Ende der Erzählung von Apoll und Daphne ebenfalls einen Bezug zu Augustus her (met. 1,560-563; Apoll an den Baum Daphne): tu ducibus Latiis aderis, cum laeta triumphum / vox canet et visent longas Capitolia pompas. / postibus Augustis eadem fidissima custos / ante fores stabis mediamque tuebere quercum. (Zu Beginn des Jahres 27 v. Chr. wurde Augustus ob cives servatos geehrt, d.h. über der Tür seines Palastes wurde ein Eichenkranz angebracht und die Türpfosten mit Lorbeer geschmückt; vgl. Bömer 1969 zu Ov. met. 1,562: postibus Augustis.) • 11 Apolloni Der Mythos von Apoll und Daphne dient zunächst als Beispiel für ungleiche Liebe. Dazu kommt, dass sich der singende Hirte mit dem Gott der musischen Künste ver- <?page no="251"?> Ad Lalagen. Carmen XI, Ex Dousa Fil. versum 251 gleicht. Zur dichterischen Selbstdarstellung des Daphnis s. auch den Komm. zu Lal. 1,2. Daphne Daphne flieht vor Apoll, weil sie Jungfrau bleiben möchte (vgl. Ov. met. 1,486-487: ‚da mihi perpetua, genitor carissime,’ dixit / ‚virginitate frui: dedit hoc pater ante Dianae’), Lalage dagegen flieht (zumindest aus Sicht des Sprechers) aus Übermut und Koketterie. Trotz der unterschiedlichen Motivation bleibt als tertium comparationis natürlich, dass ein Mädchen vor seinem Liebhaber davonläuft. Die griechische Form des Dativs ist auch in der lateinischen Literatur mehrfach für den Eigennamen „Daphne“ belegt. (Vgl. Reisch: ThLL Onom. 3 [1918],38,15 und 41- 66 [Beispiele].) • 12 varium Synonym zu dissimili (9). calorem S. den Komm. zu 1: usta caloribus. • 13 Divum S. V. 9: Deus mit Komm. • 14-15 nos Hier ist kein echtes „wir“ gemeint wie in 9, sondern „ich.“ (S. auch V. 7.) Daphnis stellt den entscheidenden Unterschied zwischen Apoll und sich selbst heraus, wobei nos (14) und at ille (13) jeweils am Versanfang pointiert gegenübergestellt sind. Numen honoribus suspeximus Der Reim honoribus suspeximus wäre für antike Ohren sicherlich kein Wohlklang gewesen. Die zweifache Bedeutung von suspicere als „nach oben blicken“ und „bewundern“ ist auch in dem deutschen Wort „aufblicken“ gegeben. Der Ablativ honoribus passt nicht recht in die Konstruktion; vielleicht ist dies ein verkürzter Ausdruck nach dem Vorbild z.B. von Cic. off. 2,36: eos viros suspiciunt maximisque efferunt laudibus. • 15-16 Der Schluss scheint der Aussage des Gedichtes zu widersprechen, denn Daphnis fühlt sich von Lalage mit Missachtung gestraft, obwohl er den Liebesgott geehrt hat. Wenn er dennoch an die Richtigkeit der Sentenz glaubt, drückt er damit die Hoffnung aus, dass Lalage ihr Verhalten ihm gegenüber ändern werde: Daphnis ist des Frevels unschuldig, also kann es nicht sein, dass Lalage tatsächlich wie Daphne einen Pfeil mit Bleispitze im Herzen trägt, folglich wird sie sich ihm irgendwann zuwenden. So bekommt rückblickend auch aut fallor in 9 ein anderes Gewicht: Daphnis hofft, dass er sich an diesem Punkte tatsächlich täuscht. Zu gedichtschließenden Sentenzen s. Kap. 1.2.2.4. ira Deûm Die Junktur ist sehr verbreitet; vgl. z.B. Verg. Aen. 3,215; 11,233; Ov. met. 10,399; Val. Fl. 1,683; Sil. 14,617. Bei Ovid bekommt Apoll speziell die saeva Cupidinis ira (met. 1,453) zu spüren. Ad Lalagen. Carmen XI, Ex Dousa Fil. versum In der Überschrift kennzeichnet Schoonhoven das Gedicht als Übersetzung eines Textes von Ianus Dousa dem Jüngeren (Johann van der Does, 1571- 1596). Dousas Prometheusgedicht ist das dritte von fünf niederländischen Sonetten (Epigrammata quaedam Belgico idiomate), die sich am Schluss seines ansonsten in lateinischer Sprache verfassten Ἐρωτοπαίγνιον finden. (Vgl. Dousa filius: Poemata, S. 175-177.) Da dieses Gedicht Schoonhoven als direkte Vorlage diente, gebe ich es hier vollständig wieder: <?page no="252"?> 3 Kommentar 252 Gelijck als *Pyrrhas oom der gooden gast, ten laest, *Prometheus 516 Om dat hij had gerooft d’onsterfelijke vonken, Heeft moeten hanghen aen der hooge steenroots honken, Daer in sijn hert den gier met bec en clauvven raest; 5 So ick die van mijn lief gespijst vvert en geaest, Om dat ick vvt tgesicht en vriendelijke lonken Haer oogs tot mijn behoef ghenomen heb vvat vonken Daer mijn hert door verquickt sou vverden metter haest, Van v Cupido fel verschuert vverd vvreedelijken. 10 Ben ick so schuldich dan dat ghij niet met mijn pijn Te vrede sijnd’ u gaet bij eene gier gelijken, En hebt genomen voor mijn altijt bij te blijven? O groote deerlickheijt? vvant vvanneer sal van mijn Dit hartknagich gequel oijt Hercules verdrijven? „Gleich wie Pyrrhas Onkel (Prometheus), der Gast der Götter, zuletzt, weil er die unsterblichen Funken geraubt hatte, an den Winkeln des hohen Steinfelsens hat hängen müssen, wo der Geier mit Schnabel und Klauen in seinem Herz wütet, so werde ich, der ich von meiner Liebsten verspeist und gefressen werde, weil ich von dem Gesicht und den freundlich lockenden Blicken ihrer Augen zu meinem Nutzen ein paar Funken genommen habe, wodurch mein Herz eilends erquickt werden sollte, von dir, Cupido, heftig zerrissen auf grausame Weise. Bin ich denn so schuldig, dass du nicht mit meinem Schmerz zufrieden bist und einem Geier gleichen willst und dir vorgenommen hast, immer bei mir zu bleiben? O großer Jammer! Denn wann soll von mir diese herzzernagende Qual jemals Herkules vertreiben? “ 517 Im Rahmen des 10. Freiburger Neulateinischen Symposions zu Ianus Dousa (dem Älteren) habe ich das Sonett sowie Schoonhovens Adaptation in größerer Ausführlichkeit vorgestellt, als es im Rahmen einer einleitenden Gedichtinterpretation möglich ist. (Vgl. Heckel 2009, passim.) Die wichtigsten Punkte greife ich im Folgenden auf. Schoonhovens lateinische Fassung ist keine Übersetzung im modernen Sinne, sondern eine freie Übertragung. Er behält die Struktur des Textes und die Anordnung der wichtigsten Elemente bei, doch weichen die beiden Versionen im Wortlaut und in manchen Einzelheiten voneinander ab. Zudem wählt er mit den Phalaeceen ein anderes Metrum als Dousas Alexandriner. Die letzten fünf Verse, in denen der Liebende Cupido anspricht, lässt Schoonhoven aus, da Daphnis auch dieses Gedicht an Lalage richtet. Gerade die verzweifelten Fragen in Dousas letzten Versen sind jedoch emotional besonders aufgeladen, so dass Schoonhoven an Lebhaftigkeit 516 Die Glosse geht wahrscheinlich auf den älteren Dousa zurück, der die Gedichte seines Sohnes 1607 posthum herausgab. 517 Ich danke Frau Laurette Artois und Herrn Fred Graumans für die Korrektur meiner Übersetzung. <?page no="253"?> Ad Lalagen. Carmen XI, Ex Dousa Fil. versum 253 einbüßt. Innere Beteiligung kann nur aus einzelnen Wörtern wie hausi und devoratur (s. die Kommentare dort) sowie aus der zweifachen Betonung des Schmerzes am Ende geschlossen werden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gedichten an Lalage wirkt Daphnis im Prometheusgedicht eher distanziert. In der Frühen Neuzeit war der Vergleich eines Liebenden mit Prometheus ein beliebtes Motiv. So existiert zu Dousas niederländischem Gedicht wiederum ein lateinischer Prätext, ein Gedicht aus dem Harmosynes, seu Ocellorum liber primus des vor allem aufgrund seiner editorischen Tätigkeit bekannten Janus Gruter (Pericula, S. 173-174). Trousson (1964, 125-126) nennt als früheste ihm bekannte Beispiele zum selben Thema einige französische Gedichte, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen. In der antiken Literatur habe ich nur eine Stelle gefunden, an der Prometheus im Zusammenhang mit Liebesschmerz genannt wird, und zwar bei Properz (2,1,65-70) in einer Reihe von Adynata. Dort ist der Prometheus-Mythos jedoch nur eines von drei mythologischen Exempeln, und die Parallele bleibt auf die Qualen beschränkt. Den Mythos, auf den die Gedichte anspielen, erzählt bereits Hesiod (Th. 521-616; Op. 47-105): Prometheus betrügt Zeus bei der Aufteilung der Opfer zugunsten der Menschen, woraufhin der Göttervater ihnen das Feuer entzieht. Doch Prometheus raubt das Feuer heimlich und bringt es den Menschen wieder. Zur Strafe lässt Zeus ihn fesseln, und ein Adler frisst seine Leber, die sich fortwährend erneuert. Das letzte Motiv bildet eine Parallele zum Tityos-Mythos (s. auch den Komm. zu 9: iecur): Weil der Riese Tityos Latona begehrt hatte, töteten Apoll und/ oder Diana ihn, und in der Unterwelt fraßen zwei Geier seine Leber. Dort besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen Vergehen und Strafe, denn die Leber galt als Sitz der Begierde. (Vgl. Scherling 1937, 1593-1598; Nisbet/ Rudd 2004 zu Hor. carm. 3,4,77-78.) In späteren Versionen des Prometheus-Mythos wird gelegentlich nicht die Leber, sondern das Herz des Prometheus gefressen. (Vgl. z.B. Hyg. fab. 31; 54; 144.) Dass die Qualen des Prometheus und des Liebenden sich ähneln, leuchtet ohne Weiteres ein. Schwieriger ist die zweite Parallele, die in den Gedichten der Frühen Neuzeit konstruiert wird und die auf dem Motiv des Feuerraubes basiert. Prometheus entwendet Zeus das Feuer und bringt es den Menschen, für die es eine positive Errungenschaft bedeutet. (Zu Prometheus als „Kulturstifter“ s. den Komm. zu 1.) Der Liebende aber stiehlt das Feuer aus den Augen der Liebsten für sich selbst, und das Feuer an sich ist für ihn ambivalent, indem es einerseits Licht bedeutet, andererseits aber auch eine verzehrende, quälende Hitze. Prometheus bekommt von Zeus eine Strafe auferlegt; der Liebende dagegen wird durch einen Blick in die Augen der Geliebten unmittelbar bestraft. Dousa spricht von ihren „freundlichen Blicken“ (6: vriendelijke lonken), doch andererseits wird der <?page no="254"?> 3 Kommentar 254 Liebende von seiner Liebsten gespijst en geaest („verspeist und gefressen“; 5). Auch bei Schoonhoven lässt sich diese Doppeldeutigkeit fassen. Von den Augen Lalages geht ein Strahlen aus (6: iubar), und gleichzeitig schießt Amor von dort aus Pfeile (7), die in diesem Kontext an die scharfen Klauen des Raubvogels erinnern. So ist die Geliebte gleichsam Lichtquelle und Raubvogel in einem. Man kann vielleicht sagen, dass, ausgehend von dem bereits antiken Vergleich der „herzzernagenden Qualen“ (vgl. Prop. 2,1,65-70; s.o.), der Feuerraub des Prometheus zu weiteren Assoziationen einlud, indem man die traditionelle Metapher des Feuers als Liebesglut damit verknüpfte. Zum Prometheus-Motiv bei Schoonhoven s. auch Lal. 4,12-18; 31,1-3; Var. Carm., S. 49 (dort soll ein Eierdieb als „zweiter Prometheus“ von einem im Bauch schlüpfenden Küken gequält werden; s. auch Kap. 1.1.2). Übersetzungen volkssprachlicher Gedichte ins Lateinische gibt es auch sonst. Vor allem die Gedichte Petrarcas waren als Vorbilder beliebt. Zum Beispiel überträgt Christoforo Landino ein berühmtes italienisches Sonett Petrarcas (Canzoniere 132) ins Lateinische und integriert es in seinen eigenen Gedichtzyklus Xandra (B 23). (Vgl. Wenzel 2010, 74-75 mit Anm. 110.) Metrum: Phalaeceen. ex Dousa Fil. versum S. die Einleitung. • 1 humani generis parens Prometheus galt seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. als Schöpfer und Fürsprecher der Menschen. (Vgl. Kraus 1957, 696-698.) Sein Feuerraub wurde in der Renaissance als Metapher für die Entstehung von Kultur gesehen. Boccaccio spricht in seinem Prometheuskapitel der Genealogiae (4,44) von einer zweiten Schöpfung: Die erste Schöpfung geschehe durch die Natur, doch die zweite Schöpfung vermittels der doctrina mache den Menschen erst zu einem zivilisierten, kultivierten Lebewesen. Schoonhoven wählt für Prometheus eine Bezeichnung, die in der christlichen Literatur als Antonomasie für Adam steht; vgl. z.B. Greg. M. dial. 4,1: de paradisi gaudiis … expulsus est primus humani generis parens (ähnlich Greg. M. in Ezech. 1,9,22). Spätestens im 16. Jahrhundert wurde Prometheus mit Adam in Beziehung gesetzt: Beide eignen sich Wissen und Erkenntnis an, handeln dabei gegen ausdrückliches göttliches Verbot und werden deshalb bestraft. Giordano Bruno bezeichnet sie in seiner satirischen Schrift Cabala del Cavallo Pegaseo als „Metaphern vom selben Typ.“ (Dialogo primo; vgl. dazu Ziolkowski 2000, 69-70.) • 2 ferulâ Die Vorstellung, dass Prometheus das Feuer in einem markhaltigen Narthex-Stengel entwendet, geht schon auf Hesiod zurück (Th. 567; Op. 52: ἐν κοίλῳ νάρθηκι ) und ist im realen Leben verankert: Glut wurde in solchen Stengeln aufbewahrt, deren Mark auch als Zunder dienen konnte. (Vgl. Kraus 1957, 662-664.) In der lateinischen Literatur vgl. Plin. nat. 7,198: ignem … adservare ferula Prometheus [invenit] und Hyg. fab. 144: quod [sc. ignem] postea Prometheus in ferula detulit in terras. periclo Syn- <?page no="255"?> Ad Lalagen. Carmen XI, Ex Dousa Fil. versum 255 kope. (Vgl. z.B. Prop. 1,15,3.) • 3 Woher Prometheus das Feuer nahm, ist nicht einheitlich überliefert; genannt werden die Wolken, eine unterirdische Gottheit oder der Schmiedegott Hephaistos. (Vgl. Kraus 1957, 693- 694.) Nur Servius und Fulgentius geben die Sonne als Feuerquelle an. Vgl. Serv. ecl. 6,42: Prometheus … post factos a se homines dicitur auxilio Minervae caelum ascendisse et adhibita facula ad rotam solis ignem furatus, quem hominibus indicavit; Fulg. myth. 2,6: clam ferulam Phoebiacis applicans rotis ignem furatus est, quem pectusculo hominis applicans animatum reddit corpus. Itaque ligatum eum ferunt vulturi iecur perenne praebentem. Phoebi Apoll als Sonnengott. (Vgl. OLD s.v. Phoebus.) • 4-5 Zur Formulierung vgl. Fulg. myth. 2,6 (zitiert zu 3); s. auch Lal. 4,13-14 mit Komm. Caucaseis … antris Vgl. Sil. 4,331: ubi Caucaseis tigris se protulit antris. Die Felsgrotten stehen als pars pro toto für die Felsen des Kaukasus, dem mythischen Ort von Prometheus’ Strafe. Der Kaukasus wird in der lateinischen Dichtung oft in Verbindung mit Prometheus genannt; vgl. z.B. Verg. ecl. 6,42; Prop. 2,1,69; 2,25,14; Val. Fl. 4,63; 4,71-72. Das Gebirge wird zudem häufig als unwirtlicher und unkultivierter Ort beschrieben; vgl. z.B. Verg. Aen. 4,367; Hor. carm. 1,22,7; Ov. met. 8,798; ars 3,195. S. auch den Komm. zu Lal. 5,11: Caucasea. • 6 sic Erst hier wird deutlich, dass ein Vergleich vorliegt, da der erste Teil (1-5) nicht durch ut eingeleitet wurde. Solche „parataktischen“ Gleichnisse und Vergleiche kommen schon bei Theokrit vor. (Z.B. Theoc. 14,39-42; vgl. Bernsdorff 1996, bes. 72-74; zum Begriff des „paratactic simile“ bereits Gow 1952 zu Theoc. 13,61-62.) iubar Ursprünglich meinte iubar das Strahlen des Morgenlichtes, dann auch allgemein des Lichtes von Himmelskörpern. (Zum Sonnenlicht vgl. z.B. Sen. Ag. 463: Phoebi iubar; Stat. silv. 2,2,46: Phoebi tenerum iubar.) Seneca (Tro. 448) überträgt es zuerst auf den Glanz des Gesichtes oder der Augen. (Vgl. Baer: ThLL 7,2 [1956-1979],572,16-573,58.) Wie bereits mehrfach in Lal. 10 wählt Schoonhoven hier ein Wort, das auf der Ebene des illustrandum ebenso passt wie auf der des illustrans. (S. auch Lal. 10,1: usta caloribus; 10,2-3: gravi; 10,5: petulcae mit Kommentaren.) • 7 Im ersten Gedicht seines Ἐρωτοπαίγνιον beschreibt Dousa der Jüngere, wie Amor sich in den Augen der schönen Hyella niederlässt und von dort aus Brandpfeile schießt, woraufhin die Erde in Flammen aufgeht; vgl. bes. Erot. 1,7: [Amor] ex oculis radiantia spicula torquens; weiter Erot. 2,2: [dominae] ex oculis in me spicula torquet Amor. puer aliger = Lal. 2,29. (S. den Komm. dort.) sagittat Das Verb ist nicht klassisch, kommt später jedoch in der Bedeutung „mit Pfeilen schießen“ vor. (Vgl. Du Cange 1954 s.v. 1. sagittare.) S. auch den Komm. zu Lal. 4,26-27. • 8 hausi In Bezug auf Prometheus war die Formulierung sachlich (3: tulisset ignem), während Daphnis hier, wo es um seine eigenen Gefühle geht, mit größerer Intensität spricht. (S. auch den Komm. zu 9: devoratur.) Die Verwendung von haurire in Verbindung mit der Feuer- und Lichtmetaphorik für die Liebe findet sich - ebenfalls in Form eines Enjambements - schon bei Ovid; vgl. met. 8,324-326: <?page no="256"?> 3 Kommentar 256 hanc pariter vidit, pariter Calydonius heros / optavit renuente deo flammasque latentes / hausit. Vgl. auch Heins. Eleg. 3,2 (Poemata 3 1610, S. 51): ille parens veri … hauserat e blandis pueri spirantis ocellis, / hauserat e vultu purpureisque genis, / quicquid Aristonides divina cantat in umbra.... continuo Ohne Akzent ist continuo als Adjektiv und nicht als Adverb aufzufassen. (Zur neulateinischen Akzentsetzung s. Kap. 1.3 c.) Damit erhält jeweils eines der Substantive in den letzten zwei Versen ein Attribut, so dass der Satz ausgewogen wirkt; eine kleine Variation besteht darin, dass einmal der Nominativ und einmal der Ablativ näher qualifiziert wird. Schoonhoven selbst merkt in den Corrigenda jedoch an, er habe Zeichensetzung und Akzente nicht im Detail überprüft. Als Adverb stünde continuo parallel zu statim in 4. In der Übersetzung folge ich der gedruckten Fassung. • 9 iecur Die Leber galt seit Aischylos als Sitz negativer Gefühle, insbesondere des Schmerzes, der Wut und der ungestillten erotischen Begierde. Zu letzterem vgl. z.B. Theoc. 11,16: Κύπριδος ἐκ µεγάλας τό οἱ ἥπατι πᾶξε βέλεµνον ; Anacreont. 33,27-28 W.: [ Ἔρως ] µε τύπτει / µέσον ἧπαρ . σὺ δὲ καρδίαν πονήσεις ; Hor. carm. 1,25,13.15: cum tibi flagrans amor et libido … / saeviet circa iecur ulcerosum; Hier. epist. 64,1,3: voluptas et concupiscentia … consistit in iecore. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,13,4; Rubenbauer: ThLL 7,1 [1934],245,62-246,11: de iecore tamquam sede affectuum.) Im Tityos-Mythos war diese Bedeutungsebene wichtig (s. auch die Einleitung), während sie bei Prometheus keine Rolle spielt. Schoonhoven wählt für seinen Vergleich den weitaus bekannteren Prometheus-Mythos, betont aber durch die Übertragung auf die Ebene des Gefühls wieder den Doppelsinn des Wortes iecur. Dass er dabei auch an den Tityos-Mythos dachte, kann aufgrund der Wortwahl in Lal. 4,15-16 als wahrscheinlich gelten. Dort spricht Schoonhoven ebenfalls von Prometheus, imitiert jedoch eine Ovidstelle, die sich auf Tityos bezieht. (S. den Komm. dort.) devoratur Beide Teile des Vergleichs enden mit einer Form von vorare. Bezogen auf den Liebenden wählt Schoonhoven das intensivere Kompositum, das zugleich dem Schluss des Gedichtes besonderes Gewicht verleiht. (S. auch den Komm. zu 8: hausi.) Ad Lalagen. Carmen XII In Gedicht 6 beobachtete Daphnis, wie Lalage sich dem Rivalen Thyrsis zuwandte. Nun bietet sich ihm selbst die Gelegenheit eines Liebesverhältnisses mit der benachbarten Hirtin Lyce, einer potentiellen Rivalin Lalages. Lyces Liebeserklärung (21-26) steht im Zentrum des Gedichtes. (S. auch den Komm. dort.) Die ersten 20 Verse bereiten ihr Geständnis vor: Der Schlaf des Daphnis gibt ihr zunächst Gelegenheit, ihn unbemerkt zu berühren (5-15). Mit seinem Erwachen beginnt eine Kommunikation durch Körpersprache (Erröten, Tränen) sowie durch das Überreichen eines Kranzes (18-20), bevor Lyce Daphnis tatsächlich anspricht. Ihre Worte sind so be- <?page no="257"?> Ad Lalagen. Carmen XII 257 deutsam, dass danach sechs Verse lang Schweigen herrscht, während dessen Lyce gespannt wartet und Daphnis innerlich mit sich ringt. Dabei redet er Lalage zum ersten Mal in dem Gedicht an (31: ignis, Lalage, tuus), das bislang ausschließlich von ihm und Lyce handelte. Gleich darauf fällt die Entscheidung für Lalage (33: vicit amor tuus), und es folgt eine Beschreibung von Lyces einerseits traurig-verzweifelter, andererseits hasserfüllter Reaktion. Daphnis schließt mit einer fürsorglichen Warnung an Lalage, sich vor dem Zorn der unterlegenen Rivalin in Acht zu nehmen (43-46). Dass Daphnis Lalage so ausführlich von Lyces Werbung erzählt, dient ganz offensichtlich dazu, Lalages Eifersucht zu wecken. Schon Theokrits Polyphem setzt die Behauptung, er habe eine andere Frau (6,26: ἄλλαν τινὰ φαµὶ γυναῖκ ’ ἔχεν ), taktisch ein, um Galatea weiter zu reizen. Implizit droht Daphnis damit auch, dass er sich irgendwann von Lalage abwenden könnte, wenn sie ihn weiterhin zurückweist. Zu dieser Strategie passt, dass Daphnis Lyces körperliche Annäherungsversuche sehr anschaulich beschreibt, Lyce das Attribut aurea zugesteht (32) und sogar vorgibt, er habe lange (diu; 29) gezögert, bevor er Lyce zugunsten Lalages zurückwies. Doch Daphnis bleibt letztlich standhaft, ganz im Gegensatz zu Lalage, die sich mit Thyrsis einließ (Lal. 6). So besteht die zweite Funktion des Gedichtes darin, an Lalages schlechtes Gewissen zu appellieren. Bei Flaminio streut ein Hirte in einem Gedicht über einen Rivalen einige Verse ein, die seine eigene Treue im direkten Gegensatz zur Untreue der Geliebten zeigen; vgl. Lus. Past. 18,7-10: at neque me Phyllis nec formosissima Gorgo / nec movit roseis candida Nisa genis. / ipsa mihi furtiva tulit munuscula saepe, / sed lacrimans semper rettulit illa domum. Seine Treue stellte Daphnis schon einmal unter Beweis, als er Lalage die Vogeljungen schenkte, um die Thestylis ihn zuvor schmeichelnd gebeten hatte. (Lal. 7,18-24; s. auch den Komm. zu 7,18-20.) Schoonhoven gebraucht hier das gleiche Metrum wie Horaz in carm. 3,9, wo gleichsam ein „Vierecksverhältnis“ beschrieben wird, bei dem beide Partner zeitweise eine andere Beziehung hatten und nun zueinander zurückkehren. Die Situation ist nicht genau gleich, da Daphnis auf Lyces Avancen nicht eingeht, aber insgesamt ähnelt sich die Konstellation dennoch. Thyrsis wird in diesem Gedicht zwar nicht direkt genannt, ist aber durch das Thema „Rivalen“ durchaus in der Erinnerung des Lesers präsent. Zur Stropheneinteilung s. die Einleitung zu Lal. 2. Das vorliegende Gedicht beginnt mit einer Einheit von vier Versen, und ab 27 lassen sich wiederum Gruppen von vier bzw. acht Versen ausmachen (27-30; 31-34; 35-42; 43-46). Dazwischen (5-26) ist kein Viererschema erkennbar, und insgesamt ist auch hier wieder die Verszahl nicht durch vier teilbar. Im nächsten Gedicht (Lal. 13) wird sich die Situation des ersten Teiles umkehren: Daphnis nutzt Lalages Schlaf, um sie heimlich zu küssen. <?page no="258"?> 3 Kommentar 258 Metrum: 4. Asklepiadeische Strophe, distichisch. 1 carmina murmurans Das Verb murmurare wird klassisch nicht in der Bedeutung „singen“ verwendet, doch kann murmur vom Vogelgesang gesagt werden. Vgl. z.B. [Sen.] Herc. O. 204-205: ales … / referam querulo murmure casus; Octavia 922-923; Stat. silv. 5,3,83-84: murmure trunco / quod gemit … Philomela. Ob auf die Formulierung möglicherweise Apul. apol. 47 (magia ista … res est … carminibus murmurata) eingewirkt hat, wo es jedoch um Zaubersprüche geht, lässt sich nicht beweisen. Daphnis singt wohl leise „für sich.“ S. auch Lal. 16,1 (hîc inter agnos carmina murmurans …), wo Daphnis zunächst allein auf der Weide ist und Lalage erwartet. • 2-3 Vgl. auch Var. Carm., S. 67: [quàm dulce] languidulos carpere somnulos / dulces inter oves et querulos sonos / orbi compare turturis. • 2 dulces Das Wort dulcis ist, so wie seine griechische Entsprechung ἡδύς , ein häufiges Adjektiv der Bukolik. (S. den Komm. zu Lal. 3,49: dulce suavium.) Es wird in der Regel nicht direkt als Attribut von Tieren gebraucht, in [Theoc.] 9,7 jedoch vom Laut des Kalbes und der Kuh. Zu den wenigen spätantiken Belegen für dulcis in Bezug auf Vögel vgl. Lackenbacher: ThLL 5,1 (1909-1934),2192,80-82; bei Apul. met. 5,22 ist die dulcissima bestia jedoch Cupido. inter oves Vgl. Tib. 1,10,9-10: somnum… petebat / securus varias dux gregis inter oves. • 3 Der Vers weist auf das Gleichnis in 37-42 voraus (s. auch den Komm. dort), wobei besonders die Wortpaare orbi (3) - orbata (38) und compare (3) - coniuge (37) ins Auge fallen. Der Klagegesang der Turteltaube ist zunächst Teil der bukolischen Szenerie, und der inhaltliche Zusammenhang mit dem Thema des gesamten Gedichtes wird erst rückblickend deutlich. S. auch Lal. 40,15-16: turtur orbe caro compare / adsis mit Komm. compare Ebenfalls von Tauben in Catull. 68,125-126: nec tantum niveo gavisa est ulla columbo / compar. Vgl. auch Var. Carm., S. 43: [cantus] quales … amico turtur orbus compare / ramis in altis integrat. • 4 laxavi corpora Vgl. Verg. Aen. 5,857: quies laxaverat artus. somnulo Das Diminutivum ist nicht klassisch (kein Beleg im OLD). • 5 vicina Vgl. Verg. ecl. 3,53: vicine Palaemon; s. auch Lal. 33,5: vicinus Corydon. vicina videns Alliteration. Lyce Der auch von Horaz in zwei Gedichten (carm. 3,10 und 4,13) verwendete Name bedeutet „Wölfin.“ In der erstgenannten Horazode spielt der Name auf die grausame Härte der Geliebten an, doch verbindet man mit einer Wölfin auch ungezähmte Wildheit und Gier. (Vgl. Nisbet/ Rudd 2004 zu Hor. carm. 3,10,1.) Bei Theokrit (14,22-50) heißt ein Rivale Λύκος ; in Longos’ Hirtenroman unterweist Λυκαίνιον Daphnis in Liebesdingen (3,15-19) und wird damit zur Rivalin der Chloe. S. auch V. 15 mit Komm. • 6 S. auch Lal. 35,5. oves Auch in V. 2 an gleicher Position: Beide hüten nebeneinander ihre Schafe, was zunächst den Eindruck einträchtiger Gemeinsamkeit erweckt. gramine Synekdoche; das Gras steht für die Weide. proximo Inhaltlich ist dies eine Dopplung zu vicina (5). • 7 accurrit celeri gradu Der Pleonasmus „mit <?page no="259"?> Ad Lalagen. Carmen XII 259 einem Schritte gehen“ (wobei gradus durch ein Attribut genauer spezifiziert ist) findet sich schon in der Antike häufig; vgl. z.B. Plaut. Truc. 286: abire hinc ni properas grandi gradu; Ter. Phorm. 867: suspenso gradu placide ire; Ov. met. 4,338: gradu discedere verso. • 8 incumbens… corpori Lyce legt sich über Daphnis’ zurückgelehnten Körper (14: corpus recubans). • 9-10 basia … carpsit Carpere kann vom „Entreißen“ eines Kusses gegen den Willen des oder der Geküssten gesagt werden. Vgl. z.B. Prop. 1,20,27 (erster Beleg der Junktur; vgl. Fedeli 1980 z. St.); Ov. met. 4,358; Ov. epist. 11, 119; Mart. 4,22,7-8: luctantia carpsi / basia; Mart. 5,46,1. Das Wort ist jedoch nicht notwendig negativ konnotiert; vgl. z.B. Ov. am. 2,11,45-46; Phaedr. 3,8,12; Stat. Theb. 3,711: illius umenti carpens pater oscula vultu; Claud. 21,120. Der schlafende Daphnis bemerkt zunächst nichts (furtim), d.h. er wehrt sich zwar nicht, erwidert den Kuss aber selbst auch nicht. • 10 dulcicrepo non sine murmure Lyce murmelt zwischen den Küssen wohl Liebesbeteuerungen - leise, um den Schlafenden nicht gleich zu wecken. Ihr murmur wirkt wie eine Antwort auf die „gemurmelten“ carmina aus Vers 1. Vgl. Joh. Sec. Bas. 16,18-20: cum suavicrepis murmura sibilis, / risu non sine grato, / gratis non sine morsibus. Die Wortstellung entspricht Hor. carm. 4,13,27: multo non sine risu. S. auch Lal. 13,5. Das in der antiken Literatur nicht belegte Kompositum dulcicrepus scheint nach Johannes Secundus’ ebenfalls nicht klassischem suavicrepus gebildet zu sein. Bei Apuleius (apol. 9) findet sich dulciloquus (s. auch Lal. 25,6). S. auch V. 2: dulces mit Komm. • 11-12 Vgl. Hor. carm. 1,13,11-12: puer furens / impressit memorem dente labris notam (im gleichen Metrum). Auch in der Horazode geht es um einen Rivalen, dort jedoch in der sehr viel vertrauteren Konstellation einer Frau zwischen zwei Männern. Die Liebesmale gehören zu den topischen Elementen der Liebesdichtung. (S. auch Praef. 9: leves… morsus mit Komm.) Schoonhoven verleiht dem Horazzitat eine besondere Pointe, denn es ist Lyce, die „Wölfin“ (s. den Komm. zu 5), die Daphnis hier „beißt.“ Während die Liebeskämpfe mit Lalage noch recht harmlosen Charakter hatten, wird hier eine erotische Gier geschildert, die geradezu gewalttätig wirkt. (S. auch V. 15.) fervida S. V. 26: fervidus. livido … dente … notam Enallage; nicht der Zahn ist bläulich, sondern das durch den Biss erzeugte Mal. Zum Motiv vgl. z.B. Prop. 3,8,22; Tib. 1,6,13-14: livor … / quem facit impresso mutua dente venus; Ov. am. 1,8,98: facta… lascivis livida colla notis. memorem „Die Erinnerung bewahrend.“ Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,13,12; OLD s.v. memor 6. • 13 S. Lal. 3,41 mit Komm.; 24,20. • 14 recubans Das Partizip steht attributiv zu corpus. Die Form wirkt auf den ersten Blick irreführend, da movens (13) und putans (16) jeweils adverbiale Partizipien im Nominativ sind, die sich auf die handelnden Personen beziehen. • 15 Die Hyperbole passt zur „wölfischen“ Natur der Lyce und zu dem „Beißen“ der Lippen. (S. die Kommentare zu 5 und 11-12.) Das Motiv des Blutsaugens erinnert auch an den bereits in der Antike verbreiteten Glauben an Werwölfe. (Vgl. W. Kroll <?page no="260"?> 3 Kommentar 260 1940, 423-426.) Besonders bekannt ist die Erzählung aus Petron. 62. In der bukolischen Dichtung vgl. Verg. ecl. 8,97-99: his ego saepe lupum fieri et se condere silvis / Moerim, saepe animas imis excire sepulcris, / atque satas alio vidi traducere messis. Schoonhoven gebrauchte in Lal. 4,39-40 bereits eine ähnliche Formulierung (mihique vivum sanguinem / exsugis), doch war dort keine erotische Handlung gemeint, sondern Lalages Abweisung raubte Daphnis die Lebenskraft. • 16 culices Lyce gebärdet sich als Wölfin (s. die vorigen Verse), doch Daphnis hält sie für Mücken - ein witziger Kontrast. Das „Blutsaugen“ (15), das gerade noch Ausdruck einer wölfischen Gier war, wird rückwirkend mit harmlosen Mückenstichen assoziiert. • 17 somnos excutio Vgl. Verg. Aen. 2,302: excutior somno und zur Konstruktion Ov. met. 11,621: [Somnus] excussit … sibi se. • 18 Solange Daphnis schlief, war Lyce mutig. Nun, da er wach ist und eine wirkliche Kommunikation beginnt, errötet sie vor Nervosität und Schüchternheit. malas Accusativus respectus. croceis Croceus ist zunächst „safrangelb“, kann aber auch eine rötliche Farbe meinen und wird gelegentlich von der Morgenröte gesagt. Vgl. Ov. fast. 3,403-404: cum croceis rorare genis Tithonia coniunx / coeperit. ruboribus Oft von der Schamröte. Vgl. OLD s.v. 2a; z.B. Ov. met. 2,450: laesi dat signa rubore pudoris. • 19 corollulam S. den Komm. zu Lal. 1,13. • 20 effundens lacrimas Zur Formulierung vgl. Lucr. 1,91: lacrimas effundere; Verg. Aen. 10,465: lacrimas… effundit inanis. exhibuit Vgl. Apul. met. 11,13: sacerdos … porrecta dextera ob os ipsum meum coronam exhibuit. • 21-26 Die wörtliche Rede bildet zusammen mit dem einleitenden Vers exakt die Mitte des Gedichtes. (S. auch die Einleitung.) • 21 orsa … loqui Der Ausdruck gehört in den Bereich der epischen Sprache. Vgl. Verg. Aen. 2,2; 6,125; 6,562; Ov. met. 6,28; 4,320; Lucan. 10,85; Val. Fl. 5,403; Stat. Theb. 10, 125. (Vgl. Bohnenkamp: ThLL 9,2 [1968-1981],947,55-58.) Die Übertragung in ein lyrisches Gedicht wirkt parodistisch. Lyces Rede erhält dadurch eine pathetische Note (s. auch die Anrede o pastor im nächsten Vers), doch wird ihr hehres Liebesbekenntnis ins Leere laufen. Zur Diskrepanz von Lyces Auftreten und Daphnis’ Wahrnehmung s. auch den Komm. zu 16; zur Epenparodie die Kommentare zu 30: alternans und 32: certabat. orsa fuit Zur Form (PPP + Perfekt von esse) statt des gewöhnlichen Perfectum historicum vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 164, § 41,5. • 22 Vgl. Hor. carm. 3,9,21: sidere pulchrior / ille est (s. auch die Einleitung); Claud. 11,1: princeps corusco sidere pulchior (s. auch den Komm. zu 23-24). • 23-24 prae quo Vgl. OLD s.v. prae 2 4: „in comparison with, faced with“; z.B. Ter. Hec. 483: te postputasse omnis res prae parente intellego. spernat Der Relativsatz hat einen konsekutiven Sinn: Daphnis ist so schön, dass Göttinnen ihn ihren Geliebten vorziehen. Adonidem / Cypris, candidulum Cynthia Virbium Schoonhoven wählt zwei Beispiele aus einer längeren Reihe Claudians; vgl. 11,16-17: Venus reversum spernit Adonidem; / damnat reductum Cynthia Virbium. Nur Venus und Adonis, nicht aber Diana und Virbius sind ein Liebespaar, so <?page no="261"?> Ad Lalagen. Carmen XII 261 dass die Parallele im ersten Fall stimmiger ist. Die Zusammenstellung ganz unterschiedlicher Beziehungen von Göttinnen zu sterblichen Männern ist nicht ungewöhnlich; vgl. z.B. auch Serv. Aen. 7,761 (Zitat unten). Vgl. auch Schoonh. Buc. 5,30-31: pastor, cui Cypris Adonim / posthabeat. (Dort werben ebenfalls zwei Hirtinnen um einen Hirten.) Adonidem Cypris In den beiden anderen Gedichten, in denen Schoonhoven dieses mythologische Beispiel wählt, geht es um die Trauer der Venus um ihren getöteten Geliebten; s. Lal. 7,3-4; 25,9-10. Adonidem Zur Form s. den Komm. zu Lal. 7,4: Adonim. Hier orientiert Schoonhoven sich an Claudian (Zitat oben). Cypris ist ein Beiname der Venus nach ihrem Kultort Zypern. Die Namensform ist im Lateinischen erst seit dem 4. Jahrhundert häufiger belegt (vgl. Georges s.v. Cypros D); vorher wird die Form Cypria verwendet (z.B. [Tib.] 3,3,34). Im Griechischen ist der Name Κύπρις jedoch geläufig; vgl. z.B. Theoc. 1,95; Bion, Epitaphios Adonidos 12. candidulum Die weiße Hautfarbe ist ein Zeichen von Schönheit. Vgl. OLD s.v. candidus 5a: „(of persons) fair-skinned, fair (usu. implying beauty)“; Janka 1997 zu Ov. ars 2,504 mit zahlreichen Belegen, z.B. Verg. ecl. 2,17-18. Der „Glanz“ wird auch in 22 (nitido sidere pulchrior) als Schönheitsmerkmal hervorgehoben. (Auch Sterne können dasselbe Attribut erhalten; vgl. z.B. Lucr. 5,1210: candida sidera.) Das Diminutivum ist bereits bei Cicero belegt (Tusc. 5,46; vgl. OLD s.v.). Cynthia Virbium Cynthia ist ein Beiname der Diana nach dem Berg Cynthus auf Delos, dem Geburtsort des Apoll und der Diana. Als Hippolytus, von seiner Stiefmutter Phädra verleumdet, getötet worden war, wurde er nach einer Tradition des Mythos von Diana wiedererweckt und als Gott Virbius in ihrem Hain bei Aricia verehrt. Vgl. z.B. Ov. met. 15,479-546; bes. 543-544: ‚qui’ que ‚fuisti / Hippolytus’ dixit, ‚nunc idem Virbius esto! ’. Servius (Aen. 7,761) bietet eine Etymologie des Namens Virbius: Diana Hippolytum, revocatum ab inferis, in Aricia nymphae commendavit Egeriae et eum Virbium, quasi bis virum, iussit vocari. (…) Virbius est numen coniunctum Dianae, ut matri deum Attis, Minervae Erichthonius, Veneri Adonis. • 25 sume In Lal. 7,24 fordert Daphnis mit diesem Wort Lalage auf, eine Liebesgabe von ihm anzunehmen. corollulam In Lyces affektiver Rede kommen zwei Diminutive in aufeinanderfolgenden Versen vor (noch 24: candidulum), vorbereitet durch corollulam in 19. • 26 Vgl. Ov. am. 2,1,3: hoc quoque iussit Amor; epist. 4,10: scribere iussit amor. fervidus S. V. 11: fervida; s. auch die Feuermetaphern in Lal. 4,10: aestum movere fervidum; 9,9: flammas iungere fervidas; 14,7- 8: plus quàm Vesevus aut caverna fervida / Aetnae furentis ardeo. • 27 his dictis tacuit Auch dies ist ein parodistischer Anklang an epische Sprache, doch sind die intertextuellen Referenzen nicht so eindeutig wie in 21. Die Junktur his dictis kommt 13 Mal in Vergils Aeneis vor, jedoch nicht als Ablativus absolutus (vgl. Verg. Aen. 1,579 u.ö.); tacuit soll vielleicht an den Einstieg und das Ende der berühmten Erzählung des Aeneas erinnern; vgl. Verg. Aen. 2,1: conticuere omnes; 3,718: conticuit tandem. S. auch V. 29: tacitus. <?page no="262"?> 3 Kommentar 262 Dass nach sehr bedeutsamen Worten oft erst einmal Schweigen herrscht, ist richtig beobachtet. • 28 cupido pectore Vgl. Ov. epist. 18,90: qui calet in cupido pectore praestat amor. cupido … flagitans Die Intensität, mit der Lyce die Antwort erwartet, macht noch einmal deutlich, wie leidenschaftlich ihre Liebe ist. (S. schon V. 11: fervida; 26: amor … fervidus.) Die selbe Leidenschaftlichkeit äußert sich nach der Abweisung in Lyces wütender Raserei. (S. V. 35: furens und 44-46.) • 29 diu Einsilbig gemessen. Dass Daphnis für seine Antwort so lange braucht, ist für Lalage wenig schmeichelhaft. (S. dazu die Einleitung.) • 30 alternans „Innerlich schwankend“; vgl. OLD s.v. alterno 1b (in dieser Bedeutung jedoch nur intransitiv belegt). Vgl. bes. Verg. Aen. 4,287: haec alternanti potior sententia visa est. Aeneas entscheidet sich, dem Willen der Götter zu gehorchen und Karthago zu verlassen, statt bei Dido zu bleiben. Auch hier liegt also eine Epenparodie vor. (S. auch den Komm. zu 21.) sollicitudines Das Unbehagen ergibt sich daraus, dass Daphnis in jedem Falle eine der Frauen vor den Kopf stoßen muss, indem er sich für die andere entscheidet. • 31-34 Nachdem vier Verse lang der weitere Verlauf der Geschichte in der Schwebe gehalten wurde, bekennt Daphnis sich nun dazu, Lalage treu bleiben zu wollen. Er wendet sich dabei zum ersten Mal in diesem Gedicht ausdrücklich an Lalage. (S. dazu auch die Einleitung.) Seine Antwort an Lyce gibt er im Gegensatz zu deren Rede nicht wörtlich wieder, doch muss er auch Lyce seine Entscheidung direkt mitgeteilt haben, um sie zu der folgenden Reaktion zu veranlassen. Die Verse zeichnen sich durch zahlreiche Wortwiederholungen auf engem Raum (hinc; Lalage[s]; tuus; amor; vicit), Parallelismen (certabat amor - vicit amor; amor virginis - amor tuus; vicit amor - vicit protervitas) und Chiasmen (amor virginis aureae - Lalages grata protervitas; amor tuus - Lalages … protervitas) aus, die oft zudem an gleicher Versposition stehen. Abwägen (31-32) und Entscheidung (33-34) erhalten jeweils gleich viel Raum, wobei die Wahl auch darin sichtbar wird, dass Lalage insgesamt drei Verse gewidmet sind, Lyce dagegen nur einer. Die Passage wirkt fast ein wenig zu ausgewogen, doch passt diese Gleichförmigkeit durchaus zu der Schlichtheit, mit der die zentrale Entscheidung getroffen wird. • 31 ignis … tuus Da Daphnis sich keineswegs sicher sein kann, dass Lalage ihn liebt, muss hier seine Liebe zu Lalage gemeint sein, die ihm wichtiger ist als die Tatsache, dass eine andere hübsche Frau ihn liebt. Das Possessivpronomen vertritt einen Genetivus obiectivus, so dass streng genommen tui stehen müsste. S. ebenso auch Lal. 16,19-20: [Narcissus] calere / igne tuo, Lalage, videtur. Dass „mittels einer Attraktion oder Assimilation das Possessivpronomen statt des Gen. obiectivus gebraucht“ wird (Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 599, § 116, Anm. 5), kommt schon in der Antike vor, so z.B. in der Komödie und häufig bei Cicero. (Vgl. z.B. Cic. Att. 1,20,7: vir bonus amatorque noster [für nostri].) S. ebenso auch V. 33: amor tuus. • 32 certabat Die Szene wird sprachlich als Wettkampf beschrieben. Auch das wiederholte vicit in den <?page no="263"?> Ad Lalagen. Carmen XII 263 beiden folgenden Versen lässt sich diesem Bereich zuordnen. Wie alternans (30) kann auch certare in epischen Entscheidungssituationen verwendet werden, wenn auch dort nicht mit abstraktem Subjekt. (Vgl. OLD s.v. certo 1 4: „to contend with arguments, etc., dispute“; z.B. Verg. Aen. 10,7; 10,14.) virginis aureae Vgl. z.B. Prop. 4,7,85: aurea Cynthia; Hor. carm. 1,5,9,: te … aurea. Nisbet/ Hubbard 1975 z. St. kommentieren: „a lover’s word.“ Das Adjektiv wird auch in Bezug auf Amor gebraucht; vgl. z.B. Ov. am. 1,2,42; 2,18,36; rem. 39. Das Lob der Lyce soll Lalage vor Augen halten, wie viel Daphnis um ihretwillen aufzugeben bereit war. Gleichzeitig dient es als implizite Warnung, indem es Lalage daran erinnert, dass es außer ihr auch noch andere begehrenswerte Frauen gibt. (S. auch die Einleitung.) • 33 amor tuus S. den Komm. zu 31: ignis tuus. • 34 Vgl. Hor. carm. 1,19,7: grata protervitas (im gleichen Metrum). Nisbet/ Hubbard (1975, z. St.) bezeichnen den Ausdruck als „slight oxymoron.“ S. auch den Komm. zu Praef. 15. • 37-42 Das Motiv aus 3 wird wieder aufgenommen, nun jedoch als Gleichnis ausgestaltet. Während in 3 die männliche Turteltaube klagte, passt hier das Geschlechterverhältnis zu den handelnden Personen. Dass die verlassene Liebende mit einer vom Stier verlassenen Kuh verglichen wird, ist in erster Linie wohl Verg. ecl. 8,85-89 geschuldet: talis amor Daphnin qualis cum fessa iuvencum / per nemora atque altos quaerendo bucula lucos / propter aquae rivum viridi procumbit in ulva / perdita, nec serae meminit decedere nocti, / talis amor teneat, nec sit mihi cura mederi. Daneben hat Lucr. 2,355-363 auf die Formulierung eingewirkt: at mater [eines Kalbes] viridis saltus orbata peragrans / †non quit† humi pedibus vestigia pressa bisulcis, / omnia convisens oculis loca si queat usquam / conspicere amissum fetum, completque querelis / frondiferum nemus adsistens et crebra revisit / ad stabulum desiderio perfixa iuvenci, / nec tenerae salices atque herbae rore vigentes / fluminaque illa queunt summis labentia ripis / oblectare animum subitamque avertere curam. Flaminio gebraucht in Lus. Past. 24,1-2 das gleiche Bild: ut quondam nivei correpta cupidine tauri / mugitu resonat bucula maesta nemus; weiter 24,4-5: non miseram gramina laeta iuvant, / non liquidi fontes. S. auch Lal. 40,3-5. • 37 coniuge S. Lal. 40,4: tauro marito mit Komm. • 38 fugit Auf der Ebene des illustrans ist die „Flucht“ kaum mehr als eine ruhelose Bewegung, während auf der Ebene des illustrandum Lyce tatsächlich vor Daphnis davonläuft. • 39 Zur Formulierung vgl. Lucr. 5,226: … vagituque locum lugubri complet; Ov. met. 14,537: complevit murmure. murmure S. V. 10: dulcicrepo non sine murmure (dort von Lyce). • 40 Vgl. Lucr. 2,361-362 (Zitat s.o.); Verg. ecl. 5,25- 26: nulla neque amnem / libavit quadripes nec graminis attigit herbam. salices … latices Paronomasie. • 41 ros floribus insidens Vgl. Plin. nat. 11,112: insidet hic [sc. ros] raphani folio. • 43-44 Daphnis wendet sich noch einmal direkt an Lalage und spricht eine fürsorgliche Warnung aus. • 45-46 Vgl. Iuv. 10,328-329: mulier saevissima tunc est / cum stimulos odio pudor admovet. Zu Sentenzen am Gedichtschluss s. Kap. 1.2.2.4. saevissima Am Schluss <?page no="264"?> 3 Kommentar 264 des Gedichtes wird noch einmal an Lyces „Wolfsnatur“ erinnert. cum morsus odiis accumulat pudor Lyce empfindet es schmerzlich, nicht wiedergeliebt zu werden. Die wohl deutlich ausgefallene Zurückweisung und die damit verbundene Schmach bewirken, dass sich zu ihrer Bitterkeit Hass auf die siegreiche Rivalin Lalage und vielleicht auch auf Daphnis gesellt. morsus Vgl. OLD s.v. morsus 6b: „(applied to mental pain)“; z.B. Ov. Pont. 1,1,73-74: sic mea perpetuos curarum pectora morsus / … habent; Stat. silv. 5,2,3: mea secreto velluntur pectora morsu; weiter OLD s.v. morsus 7: „the gnawing (of envey), carping“; z.B. Hor. epist. 1,14,38: odio obscuro morsuque. (Mayer 1994 z. St. übersetzt: „the bite of secret hatred.“) Ad Lalagen. Carmen XIII Das Gedicht bildet ein Gegenstück zum vorigen. Dort machte sich die verliebte Lyce den Schlaf des Daphnis zunutze und küsste ihn unbemerkt; hier nähert sich Daphnis der schlafenden Lalage, als ob er sich dies bei Lyce abgeschaut hätte. Die Parallelen werden durch wörtliche Anlehnungen hervorgehoben. (S. die Kommentare zu 2, 4, 5 und 9.) Sich selbst stellt Daphnis jedoch viel harmloser dar als die „Wölfin“ Lyce, deren leidenschaftlicher Kuss geradezu einem Biss gleichkam. (S. bes. Lal. 12,5.11-15.) In beiden Gedichten stoßen jeweils Traumwelt und Wirklichkeit aufeinander. Der Annäherung im Schlaf steht die Zurückweisung im Wachen gegenüber. In Gedicht 12 erfolgt diese tatsächlich, doch auch hier ist zumindest die Angst davor ständig präsent. Blandula (13) ist Lalage nur, wenn sie schläft; wenn sie erwachte, wäre sie furiosa (11) und vermutlich dura (16: gerade der Wunsch zeigt, dass die Realität anders aussieht). Das Motiv des Schlafes der Geliebten kommt bei Properz (1,3) und Longos (1,25-26) vor, sowie in zwei Epigrammen der Anthologia Palatina (5,123 [= GP 3212-3217] und 5,275; vgl. Hunter 1983, 72). Besonders eng sind die Parallelen zu Longos. (S. die Kommentare zu 5; 6-7; 9-12; 9-10.) Metrum: 3. Asklepiadeische Strophe. 1-2 Der Anfang bildet mit den beiden ersten Versen der letzten Strophe eine Ringkomposition. Lalage und pectora gaudiis steht jeweils an gleicher Versposition, implevere wird durch repleas, (tui) somnuli durch dormias wieder aufgenommen. Die Erinnerung an ein erstmaliges Ereignis mündet am Schluss des Gedichtes in den Wunsch einer immerwährenden Wiederholung, was auch durch den Ersatz von implere durch replere unterstrichen wird. pectora … implevêre Zum metaphorischen Gebrauch von implere vgl. OLD s.v. 5c; z.B. Hor. epist. 2,1,211-212: pectus … / falsis terroribus implet. munera somnuli Zur Formulierung vgl. Ov. fast. 3,185: capiebat munera somni. somnuli S. Lal. 12,4: somnulo mit Komm. • 3-4 dum In nachklassischer und dichterischer Sprache kann dum in der Bedeutung „während“ <?page no="265"?> Ad Lalagen. Carmen XIII 265 auch mit dem Konjunktiv stehen. (Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 377- 378, § 210,5.) S. auch V. 11-12 mit Komm. discincta papillis Man erwartet einen Accusativus respectus. Vielleicht ist die etwas merkwürdige Konstruktion durch ungenaue Imitation von Versen wie Ov. epist. 6,89 (per tumulos errat passis discincta capillis) und Sann. Part. Virg. 3,287 (nudis discincta veste papillis) entstanden. dulci valle Auch im vorigen Gedicht wird betont, dass die Umgebung des Schlafenden dulcis sei. (S. Lal. 12,2.) Dort werden die Schafe genannt, zwischen denen Daphnis ruht, hier die Landschaft selbst. (Vgl. dazu Verg. ecl. 1,3: dulcia … arva.) Der Ort, an dem Lalage ruht, ist liebreizend wie Lalage selbst. (S. V. 6: dulce [mit Komm.]; 8: dulciter; 13: blandula.) Zu dulce als Schlüsselwort der Bukolik s. den Komm. zu Lal. 3,49: dulce suavium. recumberes Zur erotischen Konnotation von cubare s. den Komm. zu Lal. 3,9. • 5 exspirans Vgl. Prop. 1,3,7 (von der schlafenden Cynthia): visa mihi mollem spirare quietem; Longos 1,25,2: οἷον δὲ ἀποπνεῖ τὸ στόµα (s. jeweils auch die Einleitung); ferner Catull. 64,87-88: suavis exspirans castus odores / lectulus. lepido non sine murmure Zur Wortstellung s. Lal. 12,10 mit Komm. Vgl. weiter Bocc. Buc. 14,179: lepido cum murmure. • 6-7 Dulce malum kann für die Geliebte stehen (z.B. Ov. am. 2,9,26: dulce puella malum est) oder für die Liebe (z.B. Sen. Phaedr. 132-135: quisquis in primo obstitit / pepulitque amorem, tutus ac victor fuit; / qui blandiendo dulce nutrivit malum, / sero recusat ferre quod subiit iugum). Lalage ist reizend, gibt sich aber meist unnahbar, so dass ihr Charme Daphnis gleichzeitig bezaubert und quält. Das Oxymoron erinnert natürlich auch an Sappho fr. 130,2 V.: γλυκύπικρος . In der lateinischen Literatur vgl. Plaut. Pseud. 63: dulce amarumque una nunc misces mihi; Catull. 68,18: dulcem … amaritiem. (Vgl. Voigts Similienapparat zu Sappho fr. 130,2.) Im Folgenden wird der Ausdruck in seine beiden Bestandteile zerlegt (male und dulciter). Die wortreiche Umschreibung ist redundant. sauciat mentem Vgl. Longos 1,25,2: δάκνει τὸ φίληµα τὴν καρδίαν . (S. auch die Einleitung und den Komm. zu 9- 10.) Zur mens als Sitz erotischer Begierde s. den Komm. zu Lal. 21,9: mentem. • 8 Dulciter afficit entspricht hier in etwa dulcedine afficit. (Zu afficere mit Adverb vgl. OLD s.v. 2.) • 9-12 Die Fragen haben hier die Funktion von begeisterten Ausrufen. Vgl. ähnlich Ov. am. 1,5,19-22 (s. auch den Komm. zu 13-16); Longos 1,25,2. (S. auch die Einleitung und den Komm. zu 5: exspirans.) • 9-10 Daphnis wagt das, was sich die Liebenden bei Properz und Longos aus Angst, die Geliebte zu wecken, nicht trauen. Vgl. Prop. 1,3,15-17: [quamvis Amor et Liber iuberent] subiecto leviter positam temptare lacerto / osculaque admota sumere †et arma† manu / non tamen ausus eram dominae turbare quietem; Longos 1,25,2. (S. auch die Einleitung.) furtiva … basia S. Lal. 9,18: furtivum … osculum (mit Komm.); weiter Lal. 12,9-10: furtim basia plurima / carpsit. (S. auch die Einleitung.) contuli Gebräuchlich ist die Junktur oscula ferre. (S. Lal. 30,11: latura dulce basium mit Komm.) Das Kompositum betont die große Menge der Küsse. cinxi Von einer Umarmung <?page no="266"?> 3 Kommentar 266 z.B. Ov. ars 2,457: candida … cingantur colla lacertis. Lalage ist discincta papillis (3). Daphnis’ Hände nehmen also den Platz des Busenbandes ein. (S. auch Lal. 14,13; 32,9.) Die zunächst recht harmlos scheinende Formulierung erhält durch den intratextuellen Bezug eine deutlich erotischere Bedeutung. In Longos’ Hirtenroman holt Daphnis eine verirrte Zikade aus Chloes Gewand, allerdings erst, als sie bereits wieder wach ist. (Longos 1,26,3; s. auch die Einleitung.) corpora Synekdoche. liberis Daphnis’ Hände sind „frei“, weil Lalage sie nicht festhält oder beiseite stößt. Es schwingt jedoch auch die Bedeutung „zügellos“ mit. Vgl. OLD s.v. liber 1 11; Pichon 1966, 188: „libera verba sunt quae pudoris leges non multum curant.“ S. auch Lal. 2,34: veneris … liberae. • 11-12 dum In der Bedeutung „solange (als)“ steht dum klassisch nur in Ausnahmefällen, später auch sonst gelegentlich mit dem Konjunktiv. (Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 372-374, § 210,1-2, bes. 374 Anm. 2.) S. auch V. 3-4 mit Komm. oris fulmine Der metaphorische Gebrauch kommt schon bei Cicero vor; vgl. fam. 9,21,1: imitere verborum meorum, ut scribis, ‚fulmina.’ (Vgl. OLD s.v. fulmen 4c [von heftigen Äußerungen].) Auch im Niederländischen gibt es diese Verwendung des Wortes „bliksem“ (Blitz). Vgl. Kluyver (Hg.) 1903, Woordenboek der Nederlandsche Taal 2,2, s.v. „bliksem“ 4: „In toepassing op treffende of grievende uitingen, vooral van toorn en ongenade.“ („Angewandt auf treffende oder verletzende Äußerungen, besonders von Zorn und Ungnade.“) Vgl. z.B. Nicolaas Heinsius (~1656-1718), Den Vermakelyken Avanturier 1,94: „Ten laatste wende hy den blixem van syn gramschap tegens my.“ („Zuletzt wandte er den Blitz seines Ingrimms gegen mich.“) Der Ausdruck mag auch von der ovidischen Junktur fulmineo ore beeinflusst sein (ars. 2,374; fast. 2,232; vgl. weiter met. 8,289: fulmen ab ore venit; vgl. Bernsdorff 1993b, 368, Anm. 5), wenngleich dort jeweils Eber gemeint sind. In einem anderen Gedicht speit der Faun tatsächlich Blitze; s. Lal. 30,12: te [sc. Faunum] vomentem fulmina. • 13-16 Zum Motiv des erotischen Wunsches als Gedichtschluss vgl. Ov. am. 1,5,26: proveniant medii sic mihi saepe dies. • 13-14 Zur Ringkomposition s. den Komm. zu 1-2. semper … dormias - semper repleas Die Hyperbel wird durch die Wiederholung von semper betont. blandula Blandus ist ein häufiges Wort der römischen Liebeselegie. (Vgl. die Belege bei Pichon 1966, 94-95.) Das Diminutivum findet sich erst später; vgl. Hadr. Imp. fr. 3,1 Blänsdorf: animula vagula blandula. • 15-16 Die Verse könnten eine Fortführung des vorigen Gedankens sein („und sei dadurch, dass du immer schläfst, niemals ablehnender meinem Verlangen gegenüber“), doch trüge dies inhaltlich nichts Neues bei. Wahrscheinlicher ist, dass Daphnis nach dem utopischen Wunsch, Lalage möge immer schlafen, nun eine zweite, realistischere Bitte äußert: Sie möge niemals, weder schlafend noch wachend, sich ihm gegenüber ablehnender verhalten als während ihres Schlafes. votum In der Liebesdichtung kann dies konkret die erotische Begierde bezeichnen. Vgl. Pichon 1966, 300: „Alias vota sunt cu- <?page no="267"?> Ad Lalagen. Carmen XIV 267 piditates omnes … saepius vota sunt amatoriae cupiditates“; z.B. Prop. 1,5,9: quod si forte tuis non est contraria votis. durior Zum Topos der dura puella s. den Komm. zu Lal. 5,1: duritiem. Ad Lalagen. Carmen XIV Das Gedicht beginnt mit zwei Versen, die das Thema angeben: Daphnis kann weder mit Lalage noch ohne sie leben. Es folgen vier Abschnitte von je sechs Versen. In den ersten beiden beschreibt Daphnis, was jeweils mit ihm geschieht: In Lalages Anwesenheit glüht er vor Liebe, in ihrer Abwesenheit vertrocknet er gleichsam. Die Teile sind durch nam quando (3) und at quando (9) eng aufeinander bezogen. Im dritten Abschnitt (15-20) gibt Daphnis Gründe dafür an, dass beide Zustände für ihn mit Kummer verbunden sind: Sind die Liebenden zusammen, denkt er bereits an die wieder bevorstehende Trennung; ist Lalage fort, fürchtet er Rivalen. Das resümierende haec, vita, causa est (15) suggeriert eine enge Verknüpfung mit dem Vorigen, ebenso wie die Wiederholung der Struktur nam quando … at (17 und 19). Inhaltlich beziehen sich jedoch beide causae von Daphnis’ Qual auf Lalages - zu erwartende und tatsächliche - Abwesenheit, während die Liebesglut in 2-8 eine ganz andere Art von Qual bedeutet. Der letzte Teil (21-26) bietet einen Vorschlag, wie Lalage Daphnis’ Befürchtungen und seinem Trennungsschmerz endgültig begegnen könnte. Die Ehe, die Daphnis sich wünscht, gehört zu den typischen Elementen des griechischen idealisierten Liebesromans. (S. auch den Komm. zu 21-22.) Im nächsten Gedicht (Lal. 15) wird das Motiv der Anwesenheit und Abwesenheit der Geliebten noch einmal in anderer Weise durchgeführt. Metrum: Iamben (Trimeter/ Dimeter). 1-2 Die einleitende Floskel imitiert den Anfang von Ov. am. 1,2,1: esse quid hoc dicam. In den folgenden anderthalb Versen adaptiert Schoonhoven einen Vers aus einer Elegie des Ovid, in der er über Cynthias Untreue klagt: sic ego nec sine te nec tecum vivere possum (am. 3,11,39). Daphnis äußert Lalage gegenüber ebenfalls einen solchen Verdacht, wenngleich er ihn vorsichtiger formuliert. (S. bes. V. 19-20.) Auch vermeidet er eine drastische und für die Frau wenig schmeichelhafte Feststellung wie Ov. am. 3,11,38: aversor morum crimina, corpus amo. Vita … vivere Polyptoton. Die Anrede Vita erhält durch das Folgende besonderen Sinn: Daphnis’ Leben ist ganz auf Lalage ausgerichtet. Vgl. dazu Catull. 68,155.159-160: sitis felices et tu simul et tua vita (…) et longe ante omnes mihi quae me carior ipso es, / lux mea, qua viva vivere dulce mihi est; Catull. 109,1.5-6: mea vita (…) liceat nobis tota perducere vita / aeternum hoc sanctae foedus amicitiae; Prop. 2,20,17-18. Vgl. Tränkle 1960, 160-161; s. auch die Kommentare zu Lal. 19,2: Vita und Eleg. 1,35-36: Vita … mori. • 3 quandò Als temporale Konjunktion steht quando <?page no="268"?> 3 Kommentar 268 vor allem in Iterativsätzen. Die Verwendung findet sich häufig bei Plautus. Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 365, § 208,11. • 4 balantium … gregem Das Partizip von balare wird häufig substantivisch für „Schaf“ gebraucht. (Vgl. Ihm: ThLL 2 [1900-1906],1709,23-34.) Die Form des Genetiv Plural ist meistens balantum, bei Apuleius balantium. Vgl. z.B. Verg. georg. 1,272: balantum… gregem; Aen. 7,538; Apul. Socr. 5 p. 129: balantium … greges. • 5 stratus Vgl. Hor. carm. 1,1,21-22: membra sub arbuto / stratus. Schoonhoven lässt das Objekt aus, doch kann man membra, corpus, me o.ä. leicht ergänzen. (Zum absoluten Gebrauch transitiver Verben vgl. Rubenbauer/ Hofmann 1995, 127, § 112-121, Vorbem. 2.) vallium cubilibus Vgl. Sann. Epigr. 1,15,33: per ima vallium cubilia. • 6 figo basia S. den Komm. zu Lal. 3,19. • 7-8 Fervidus und ardere (ardor) können jeweils echtes Feuer bezeichnen, aber auch leidenschaftliche Liebe. (Vgl. Pichon 1966, 88-89 und 147.) Ebenso steht furor in der Liebesdichtung auch für eine heftige, glühende Liebe oder Liebesraserei. (Vgl. Pichon 1966, 158: „saepissime furor pro valido ardentique amore ponitur …“; z.B. Catull. 68,129.) Feuermetaphern für die Liebe verwendet Schoonhoven oft; s. z.B. Lal. 2, 4 und 9. Der Vergleich mit einem Vulkan, den Daphnis sogar noch an Hitze zu übertreffen behauptet, stellt eine Steigerung gegenüber dem Bisherigen dar. Schon in der Antike werden Liebesgut und Liebesqualen mit dem Feuer des Ätna verglichen. Vgl. z.B. Catull. 68,53: … cum tantum arderem quantum Trinacria rupes; Ov. rem. 491: media torreberis Aetna; [Ov.] Her. 15,12: me calor Aetnaeo non minor igne tenet. Zur Formulierung vgl. bes. Hor. epod. 17,30-33 (dort ist die Ursache der Qual jedoch eine Verwünschung): ardeo / quantum neque atro delibutus Hercules / Nessi cruore nec Sicana fervida / furens 518 in Aetna flamma. In der neulateinischen Literatur vgl. bes. noch Heins. Eleg. 5,4 (Poemata 3 1610, S. 122): Daphnis ut infelix nimio flagraverit igne, / saucius ille tuo, Nais, amore fuit. / fluminaque et fontes erraverit altaque circum / culmina, qua flammas Aetna sub astra vomit. / Aetna vomit flammas, flammas in pectore Daphnis, / celabat nulla restituendus ope. Vesevus Neben Vesuvius ist auch die Form Vesēvus oder Vesaevus gebräuchlich; vgl. z.B. Verg. georg. 2,224; Val. Fl. 4,507; Stat. silv. 4,8,5. caverna Der Singular und das Attribut fervida legen nahe, dass Schoonhoven den Krater meint und nicht Höhlen am Berghang. Anders Verg. Aen. 3,674: curvis … Aetna cavernis. fervida S. auch Lal. 4,10; 9,9; 12,11.26. Aetnae furentis Vgl. Lucr. 2,592-593: ardent sola terrae, / ex imis vero furit ignibus impetus Aetnae; Sen. Phaedr. 190-191: qui furentis semper Aetnaeis iugis / versat caminos. • 9-14 Vgl. Heins. Monobl. 4 (Poemata 3 1610, S. 142- 143): … aut rosa, quae strophiumque inter tenerasque papillas, / virgineis clausa languet in uberibus, / cui Zephyrus pater ipse suas non amplius auras / sufficit, et 518 In der modernen Ausgabe von Shackleton-Bailey steht im Text statt furens (im Apparat neben virens und urens als Lesart aufgeführt) die Konjektur lurens. Die Schoonhoven sicher bekannte Edition des Stephanus von 1577 hat im Text furens (ad marg.: Al. virens). <?page no="269"?> Ad Lalagen. Carmen XIV 269 vires mater ademit humus: / haud secus ignoto mens externata furore / Rossa, tuis postquam vultibus incaluit, / aret, et effeto collapsae in corpore vires / deficiunt animae mollia vincla meae. • 9-10 Dass die Nacht die Zeit der Trennung ist, ergibt sich aus der Situation der Hirten, die tagsüber ihre Herden gemeinsam weiden und abends jeweils das Vieh in den Stall treiben. Vgl. auch Longos 2,11,3: διελύθησαν καὶ τὰς ἀγέλας ἀπήλαυνον τὴν νύκτα µισοῦντες ; 2,38; weiter Flam. Lus. Past. 11 (zitiert zu Lal. 16,49-52). avara noctis tempora = Lal. 16,50. Die Nacht ist „geizig“, weil sie den Liebenden zu wenig Zeit gönnt. Ähnlich z.B. Hor. carm. 1,11,7-8: invida / aetas. Avarus wird von Ovid in dieser Bedeutung verwendet; vgl. trist. 4,10,51-52: nec avara Tibullo / tempus amicitiae fata dedere meae. • 11 Aresco korrespondiert mit ardeo (8), das die gleiche Silbenzahl und eine ähnliche Lautfolge aufweist. flos recisus unguibus S. den Komm. zu Lal. 6,15. • 13-14 pater Zephyrus S. den Komm. zu Lal. 15,11-12. amplius Vgl. OLD s.v. 5b: „(after neg. and sim.) any longer, any more.“ ministrat In dieser Bedeutung auch Navag. Lus. 31,12: vitis pampineas ministrat umbras. • 15-16 voluptatis … comes Vgl. Plaut. Amph. 635: ita dis est placitum, voluptatem ut maeror comes consequatur. Janus Gruter fasst dies in seiner 1625 erschienenen Bibliotheca exulum in einen jambischen Trimeter: maeror perennis est voluptatis comes (S. 882). Die Bibliotheca ist eine Sammlung von thematisch geordneten Sprichwörtern, Redewendungen u.a., in der Gruter antike und zeitgenössische Autoren zitiert: intercurrunt quidem centena aliquot, quae et vitam suam et vestem proprie debent huius superiorisque saeculi ingeniis illustribus (aus der Praefatio ad Lectorem). Die oben zitierte Sentenz ist offenbar ein Plautuszitat im „Gewand“ des Schoonhoven (nur der Modus und die Reihenfolge der Wörter sind geändert). In jedem Falle kannte Gruter Schoonhovens Lalage-Zyklus, den er bereits 1614 in seine Sammlung Delitiae Poetarum Belgicorum aufgenommen hatte. Vgl. ferner Baudius, Monita (1611), S. 138: vita atque sors mortalis has habet vices, / ut aegritudo sit voluptatis comes. • 17-18 quandò S. den Komm. zu 3. conspicor Eigentlich das Wahrnehmen oder Beobachten von gegenwärtig Sichtbarem (OLD s.v.). Schoonhoven wählt hier und in 20 (suspicor) Komposita vom gleichen Stamm. Recessus ist in der Regel der Rückzug vor etwas Unangenehmem oder Gefährlichem bzw. das Zurückziehen an einen sicheren Ort. Hier jedoch verlässt Daphnis Lalage gezwungenermaßen und muss von dem Ort fortgehen, an dem er gerne bliebe. • 19 cum carere … coactus credulè Die vierfache Alliteration bildet lautmalerisch die Härte der momentanen Situation des Daphnis ab. Seinen Wunsch drückt er dagegen mit einer weichen Assonanz aus; s. V. 22: memet maritum. credulè Hier nicht mit der Konnotation „vertrauensvoll“, sondern „leichtgläubig“ im Sinne von „etwas zu schnell als gegeben annehmend.“ Vgl. Cic. Phil. 1,29 (ebenfalls in Verbindung mit suspicari): … ut quidam nimis creduli suspicantur. (Fuhrmann 1982 übersetzt: „wie einige allzu rasch Urteilende glauben.“) Das Adverb ist erst in der Spätantike bei Chalcidius <?page no="270"?> 3 Kommentar 270 belegt. (Vgl. Lommatzsch: ThLL 4 [1906-1909],1153,4.) • 20 S. den Komm. zu 1-2. potiri S. Ex Anacr. 4. suspicor S. V. 17: conspicor. • 21-22 Der Heiratswunsch erinnert an das typische „Happy Ending“ des antiken idealisierenden Liebesromans. Hier ist natürlich vor allem an Longos’ Daphnis und Chloe zu denken. (S. auch den Komm. zu 9-10; zu allgemeinen Parallelen s. Kap. 1.2.2.1.) finire … dolores Vgl. z.B. Hor. sat. 2,3,263: mediter finire dolores? quod si S. den Komm. zu Lal. 9,5-6: quod si non. memet maritum S. den Komm. zu 19. • 23-26 Vgl. Hor. carm. 1,13,17-20: felices ter et amplius / quos irrupta tenet copula nec malis / divulsus querimoniis / suprema citius solvet amor die! o ter beatos Μακαρισµός . Die Wendung „vielfach glücklich gepriesen sind …“ ist in der griechischen und lateinischen Literatur sehr häufig. Vgl. bereits Hom. Od. 5,306: τρὶς µάκαρες …. (Weitere Belege bei Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,13,17; Zitat oben.) candidi Hier in der Bedeutung laetus, prosper, felix. (Vgl. Goetz: ThLL 3 [1907],244,28.) copula In der Liebeselegie wird die Metapher des Bandes für lebenslange Treue gebraucht. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,13,18 mit Beispielen.) Copula steht vor allem bei christlichen Autoren für die Ehe. (Vgl. Lambertz: ThLL 4 [1906-1909],917,77-918,7; Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,13,18.) Supremi Numinis In der Antike ist supremus ein gängiges Attribut des Jupiter; vgl. z.B. Plaut. Amph. 831: per supremi regis regnum iuro; Hor. carm. 1,21,3-4: supremo … Iovi (OLD s.v. supremus 7). Später kann der christliche Gott als supremus deus bezeichnet werden. Vgl. z.B. Lact. inst. 2,11,16: [hominem] generatum esse a supremo deo; ähnlich Baudius, Monita (1611), S. 156: freta summi mens favore numinis. Dass supremum numen hier als Antonomasie für den christlichen Gott steht, halte ich jedoch für unwahrscheinlich, da der Lalage-Zyklus gerade keine christlich-religiöse Dichtung ist. Der Prätext (bes. Hor. carm. 1,13,20: suprema … die; vollständiges Zitat s.o.) lässt vor allem auch an den Tod als „äußerste“, also das Leben beendende Macht denken. Wendungen wie supremus dies oder suprema hora für den Tod sind verbreitet (vgl. OLD s.v. supremus 4; s. auch Lal. 35,15-16); auch kann Charon supremus vector genannt werden (Stat. silv. 5,3,282). Im Kontext des Heiratswunsches denkt man auch an das Eheversprechen ut te diligam …, donec mors nos disiunxerit (die Formel existiert bereits im Liber Precum Publicarum aus dem 16. Jahrhundert, hier zitiert nach einer Ausgabe von 1574, S. 165v und 166r). Das Todesmotiv bildet einen Gegensatz zum Lebensmotiv am Anfang (1-2). Ad Lalagen. Carmen XV Im vorigen Gedicht klagte Daphnis, wenn Lalage nicht da sei, vertrockne er wie eine Blume, die der Zephyr nicht mehr erfrische. (Lal. 14,11-14; s. auch unten den Komm. zu 11-12.) Dieses Motiv wird nun breiter ausgestaltet, wobei die Blumen nicht länger nur auf der Ebene eines Vergleiches <?page no="271"?> Ad Lalagen. Carmen XV 271 erscheinen, sondern auch selbst auf Lalages Kommen und Gehen reagieren (1-12). Dass bei Anwesenheit der (oder des) Geliebten alles grünt und blüht, bei Abwesenheit dagegen Dürre herrscht, kommt bereits in der antiken Bukolik als eine Variante der „pathetic fallacy“ vor. Vgl. [Theoc.] 8,41- 48 mit der Übersetzung des Eobanus Hessus: (ME.) omnia tunc vernant, tunc omnia pascua florent, / omnia plena boves ubera lactis habent, / cum virgo huc formosa venit; postquam illa recessit, / flaccescunt herbae, pastor et omne pecus. (DA.): tunc geminos pariunt ovis et capra, dulcia mella / stipat apis, ramos altius arbor agit, / cum venit huc Milon formosus; ut ille recessit, / pastor et ipse aret, marcet et omne pecus. Vgl. weiter Verg. ecl. 7,53-60: (C.) Stant et iuniperi et castaneae hirsutae, / strata iacent passim sua quaeque sub arbore poma, / omnia nunc rident: at si formosus Alexis / montibus his abeat, videas et flumina sicca. (T.) Aret ager, vitio moriens sitit aëris herba, / Liber pampineas invidit collibus umbras: / Phyllidis adventu nostrae nemus omne virebit, / Iuppiter et laeto descendet plurimus imbri. Zur „pathetic fallacy“ s. auch die Einleitung zu Lal. 3. Schoonhoven richtet in den Varia Carmina eine Ode an die Göttin Flora (S. 51). Sie wird als Gattin des Zephyr angerufen. Bei ihrem Erscheinen im Frühling beginnt alles zu blühen: cernis ut temet veniente ponat / terra squalorem et genus omne florum / rideat. Lalages Kommen erinnert an die Ankunft der Blumengöttin, und so wird der Geliebten gleichsam göttliche Macht zugesprochen. Dabei vereint Lalage die lebensspendenden Eigenschaften des Zephyr und der Sonne. (S. V. 7-8 und 11-12 mit Kommentaren.) Die ersten beiden Strophen sind gleich lang und ähnlich aufgebaut, wenngleich im Einzelnen variiert wird. Die dritte Strophe ist um einen Vers länger als die beiden anderen und bildet eine durch ergo (13) eingeleitete Schlussfolgerung, in der Daphnis die Reaktion der Blumen auf sich selbst überträgt. Daphnis verwendet dabei für seinen emotionalen Zustand Verben, die eigentlich das Grünen und Welken von Blumen beschreiben (virescere und marcescere; 14-15). Zum Metrum der gyconeischen Strophen mit Pherekrateen als Klausel s. die Einleitung zu Lal. 3. Metrum: Glykoneen / Pherekrateen. 1 dum In der zweiten und dritten Strophe steht stattdessen iteratives cum (7, 14 und 15), was inhaltlich besser passt. • 2 rubentia pascua Vgl. Verg. georg. 2,319: vere rubenti; 4,306: ante novis rubeant quam prata coloribus. Besonders im Frühling blühen viele rote Blumen. Vgl. Clausen 1994 zu Verg. ecl. 9,40: hic ver purpureum (weiter [Tib.] 3,5,4: purpureo vere). Schoonhoven übernimmt den Ausdruck offenbar, ohne dabei an eine bestimmte Jahreszeit zu denken, denn V. 4 deutet darauf hin, dass Sommer ist. • 4 concoquit Bei Früchten heißt concoquere „reif machen“, was für den Spätsommer als Jahreszeit spräche. Hier geht es jedoch um den Aspekt der Hitze, unter der die Blumen leiden. Verba propria für das Ausdörren durch die Sonne <?page no="272"?> 3 Kommentar 272 wären etwa exurere oder torrere. Vgl. jedoch Pers. 3,5-6: siccas insana canicula messes / iam dudum coquit et patula pecus omne sub ulmo est. • 5 tamquam Die Blumen sind nicht tatsächlich taufeucht, sondern obwohl es Mittag ist, wirken sie frisch wie im Morgentau. ebrii Hier in der abgeschwächten Bedeutung „soaked or swimming (with)“ (OLD s.v. ebrius 3); ebenso Lal. 36,21-22. S. auch Lal. 22,36: grillus roribus ebrius. An anderen Stellen gebraucht Schoonhoven das Wort metaphorisch; s. Lal. 40,48: magnis ebrius prae gaudiis; vgl. auch Hym. Poen. 11,20: divinis modice roribus ebria. • 6 vernant Vgl. [Theoc.] 8,41: παντᾷ ἔαρ (Übers. Hessus: omnia tunc vernant; s. auch die Einleitung); Carmina Burana 58,6: vernant flores / in pratis virentibus. cunctaque rident Vgl. Verg. ecl. 7,55: omnia nunc rident. (S. auch den Komm. zu Lal. 8,2: rideant und die Einleitung.) • 7-8 Vgl. Adam Siber, Poemata sacra (1565/ 66), Bd. 1, S. 75: subtrahis a nobis placidi tua lumina vultus. In bukolischem Kontext Daniel Georg Morhof, Opera poetica (1697), S. 495 (Idyllion Adonis): Sed quo nunc, o Adoni, fugis? cum subtrahis alma / lumina, nunc omnes sterilis nox obsidet agros, / spinaque cum tribulis vacuis dominatur in arvis. Die unumkehrbare Abwesenheit durch den Tod führt zur Unfruchtbarkeit der Natur. (Vgl. bes. Verg. ecl. 5,36-39 [Tod des Daphnis]; zum Motiv der „pathetic fallacy“ s. die Einleitung.) Die temporäre Abwesenheit der oder des Geliebten bewirkt dagegen eine Trockenheit, die durch die Rückkehr wieder beendet wird, so dass ein Kreislauf von Welken und Erblühen entsteht. (S. auch die in der Einleitung zitierten Beispiele.) lumina Im Plural verwendet Schoonhoven das Wort sonst stets für die Augen (Lal. 4,25; 6,10; 21,5; 29,17). Lalages Augen stehen hier metonymisch für ihre strahlenden Blicke oder das Leuchten ihres Antlitzes. In einem niederländischen Gedicht des jüngeren Dousa wird das Leuchten beschrieben, das von der Geliebten ausgeht; vgl. Belg. Id. 2,4-5 (S. 175): „v clare glans, v stralende gesicht / dat vvt v oogen steets al blixemende vlicht“ („dein heller Glanz, dein strahlender Blick, / der aus deinen Augen stets blitzend fliegt“); 2,13 (S. 176): „helderich aenschijn“ („helles Angesicht“, „heller Anblick“). In der lateinischen Fassung spricht Dousa von den radiantis fulgura vultus (Erot. 5,7 [S. 162]). Im Gegensatz zur versengenden Mittagssonne (4) spenden Lalages lumina offenbar ein mildes und wohltuendes Licht. • 9-10 Lalages Anwesenheit und Abwesenheit wird hier wie in den Versen 14-15 und 17-18 in strengen Parallelismen gegenübergestellt, die in dieser Häufung etwas zu schematisch wirken. Velut und sicuti machen deutlich, dass nicht wirkliche Feuchtigkeit bzw. Dürre für das Blühen oder Welken verantwortlich sind. (S. auch den Komm. zu 5.) ebrii Sc. roribus; s. V. 5. sicuti Die letzte Silbe ist in der Regel lang (Ausnahmen in den Fragmenten des Lucilius; vgl. OLD s.v. sicuti), doch hier wäre eine Kürze gefordert. • 11-12 Der Zephyr wird sehr oft als lebensspendender Wind beschrieben. Sein kühler Hauch erfrischt in der Sommerhitze, doch ist der Zephyr auch der Frühlingswind, der Wachstum und Reife fördert. <?page no="273"?> Ad Lalagen. Carmen XV 273 Vgl. Schönbeck 1962, 57-59 und 74; vgl. z.B. Hom. Od. 7,119; Longos 3,12,2: τὰ δὲ [ ἄνθη ] ἄρτι ὁ ζέφυρος τρέφων … ἐξῆγεν (zahlreiche weitere Belege bei Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,22,17). Verschiedene Etymologien des Namens nehmen auf die lebensspendende Wirkung Bezug; vgl. Ziegler 1972, 235: „Neben der wohl richtigen etymologischen Verbindung des Z. mit ζόφος (die den Z. als den verdüsternden Regenwind fasste) versuchte man auch die falsche Erklärung des Z. als ὁ τὸ ζῆν φέρων .“ Vgl. dazu weiter Isid. orig. 13,11,8: Zephyrus Graeco nomine appellatus eo quod flores et germina eius flatu vivificentur. S. auch Lal. 14,13-14. tamquam S. V. 5 mit Komm. Zephyrus pater Im Mythos ist Zephyr der Gatte der Flora (vgl. Ov. fast. 5,201-212), der Blumen hervorbringt und somit als deren „Vater“ gelten kann. Vgl. bes. Ov. fast. 5,211: hunc [sc. hortum] meus implevit generoso flore maritus [sc. Zepyrus]. Vgl. auch die Anrede bei Claudian (rapt. Pros. 2,72- 75): Aetna parens florum … / conpellat Zephyrum: ‚pater o gratissime veris, / qui mea lascivo regnas per prata meatu / semper et adsiduis inroras flatibus annum…‘; in der neulateinischen Literatur Heins. Monobl. 4 (zitiert zu Lal. 14,9-14); Monobl. 11 (Poemata 3 1610, S. 163): vos eritis testes, Zephyrus pater auraque fontis. vitales … auras Vgl. z.B. Lucr. 3,405; 3,577; Verg. Aen. 1,387-388; Sen. Herc. f. 651-652. • 13 ergò Die letzte Strophe bietet eine Schlussfolgerung aus den beiden vorigen. (S. die Einleitung.) Lalage Die Anrede wird zu Beginn des Schlussteils wiederholt. Dass sie an gleicher Position steht wie im ersten Vers, ergibt sich aus der metrischen Notwendigkeit. novum Hier in der Bedeutung „coming as a surprise, unforeseen.“ (OLD s.v. novus 4.) • 14-15 Das Motiv der Flucht und Annährung kam in anderer Form bereits in Lal. 4,5-6 vor. (S. auch den Komm. dort.) Zum Parallelismus s. den Komm. zu 9-10. Virescere nimmt vernant und rident (6) wieder auf. marcescere S. V. 10: marcidi. fugis Schoonhoven gebraucht hier, wo es um die Beziehung zwischen Lalage und Daphnis geht, das Verb fugere, während er in 7 das neutralere subtrahere verwendet. • 16 In den letzten vier Versen werden die ersten beiden Strophen noch einmal aufgegriffen. Rückblickend erscheint die „pathetic fallacy“ als Folie für die Empfindungen des Daphnis. flores S. V. 3. lumina S. V. 7-8 mit Komm. • 17-18 Zum Parallelismus s. den Komm. zu 9-10. gaudiis … luctibus Die Gefühle des Daphnis wurden metaphorisch als virescere und marcescere (14-15) bezeichnet, während den Blumen nun menschliche Emotionen zugeschrieben werden. Mensch und Natur erscheinen dadurch noch enger miteinander verbunden. Zur „pathetic fallacy“ s. die Einleitung. • 19 testari Hier in der übertragenen Bedeutung „to give evidence of, demonstrate (something) by one’s action or condition.“ (OLD s.v. testor 4.) videantur Die vorsichtige Formulierung ist wohl nicht als Einschränkung gemeint, da oben (1-12) die Reaktion der Blumen als etwas Selbstverständliches geschildert wurde. <?page no="274"?> 3 Kommentar 274 Ad Lalagen. Carmen XVI Dieses „Idyll“ im modernen Sinne des Wortes ist das wohl beschaulichste Gedicht des Lalage-Zyklus. Daphnis beschreibt einen gemeinsamen Tag, an dem Lalages Gegenwart nur Positives bewirkt. Von Weigerungen oder Zurückweisungen erfahren wir nichts. Auch Daphnis’ sonst oft so hitzige Annäherungen (s. zuletzt Lal. 14,7-8) sind für den Moment einer stillen Freude gewichen. Die Natur freut sich mit (bes. 13-16; s. dazu auch bereits Lal. 15) und trägt aktiv zur angenehmen Atmosphäre bei (21-24; 27-28). Sogar Narcissus legt seinen Hochmut ab (17-20). Das Gedicht ist sorgfältig strukturiert. Die erste Hälfte (Strophen 1-6) wirkt relativ statisch; man könnte die Szene geradezu malen. Die Strophen 1-3 beschreiben Daphnis’ Erwartung und Lalages Ankunft, die Strophen 4- 6 die Freude und Zuneigung der Natur. Die mittlere Strophe des Gedichtes führt das Bild des locus amoenus fort, doch mit den Adhortativen quaeramus (26) und vitemus (27) setzt bereits eine stärker zielgerichtete Handlung ein. Die zweite Hälfte ist deutlich bewegter. Vier Strophen handeln von Ziegen: Ein Muttertier muss zur Herde zurückgetrieben werden (29-32), und es finden Kämpfe zwischen Böcken statt (33-44). Dabei ergehen mehrere Aufforderungen an Lalage (29; 33-34; 37). Auch das Abendbild in den letzten zwei Strophen wirkt durch die zahlreichen Verben der Bewegung lebhaft (45: advolat; 47: discedente; 49: cedere; 52: redeas). Dies fällt besonders im Vergleich mit der Beschreibung von Lalages Ankunft auf, die nicht als gerade verlaufende Handlung erzählt wird, sondern als Zustand vorher (erste Strophe: Warten) und nachher (ab der zweiten Strophe ist Lalage bereits anwesend). Wie in Vergils zweiter Ekloge kann man ein Fortschreiten der Tageszeit beobachten. In der ersten Strophe ist Lalage noch nicht auf der Weide eingetroffen, d.h. es muss früh am Morgen sein. In der siebten Strophe ist die Hitze so groß, dass die Hirten in den Schatten flüchten: Genau in der Mitte des Gedichtes steht die Sonne am höchsten. In den letzten beiden Strophen ist es dann Abend geworden. Metrum: Alkäische Strophen. 1 S. Lal. 12,1-2: nuper carmina murmurans / dulces inter oves mit Komm. • 2 te morans Hier nicht in der üblichen transitiven Bedeutung „jemanden aufhalten“ (OLD s.v. moror 2). Die Bedeutung „jemanden erwarten“ ist klassisch nicht belegt. • 3-4 meis ocellis plus Vgl. bes. Catull. 3,5: quem plus illa oculis suis amabat; 14,1: ni te plus oculis meis amarem; 104,2: ambobus mihi quae carior est oculis. Der Topos lässt sich bis zu Kallimachos zurückverfolgen und wurde in der römischen Komödie oft verwendet. Vgl. Call. Dian. 210-211: καὶ δέ σέ φασι / καλὴν Ἀντίκλειαν ἴσον φαέεσσι φιλῆσαι ; Ter. Ad. 700-701: di me pater omnes oderint, ni magis te, quam oculos nunc amo meos; <?page no="275"?> Ad Lalagen. Carmen XVI 275 ferner Plaut. Mil. 984: quae te tamquam oculos amet; Ter. Ad. 903: qui te amat plus quam hosce oculos. (Vgl. Fordyce 1978 und Thomson 1997 zu Catull. 3,5.) Eine besondere Variante begegnet bei Theokrit (11,52-53): Polyphem ließe sich von Galatea sogar sein einziges Auge versengen, obwohl ihm nichts wertvoller ist als dieses. meis Die kurze erste Silbe von meis steht an einer Position, die metrisch lang gemessen werden müsste. ocellis Auch die Augen des Mannes werden gelegentlich mit einem Diminutivum bezeichnet. Vgl. z.B. Catull. 50,10; Prop. 1,10,7; Ov. am 2,19,19 (dazu Pichon 1966, 220). veneror Ursprünglich von Gottheiten (vgl. OLD s.v. 1), dann auch von Personen. In Bezug auf die Geliebte vgl. Pichon 1966, 289: „Venerari est proprie amantem humiliter colere et rogare“; z.B. Prop. 2,20,33: nec tu supplicibus me sis venerata tabellis; ferner Ov. ars 2,307. Zur Vergöttlichung der Geliebten in der römischen Liebeselegie vgl. Lilja 1978, 186-192. Ovid geht besonders weit, indem er die Geliebte gelegentlich eine Göttin nennt. Vgl. z.B. Ov. am. 3,2,59-60: quod dea promisit, promittas ipsa, rogamus: / pace loquar Veneris, tu dea maior eris; epist. 16,334: te… novam credet vulgus adesse deam. Zu Lalages göttlicher Wirkung s. den Komm. zu 13-16. animâ S. den Komm. zu 13: pectori. calenti Daphnis’ Seele glüht natürlich vor Liebe; vgl. z.B. Ov. ars 3,571: pueros … amore calentes. S. auch den Komm. zu Lal. 10,1-2 und unten V. 19. • 6 vultus decorem Bei Ovid als Hendiadyoin; vgl. epist. 20,59: et decor et vultus. • 7 fluctuanti Vgl. z.B. Plaut. Merc. 890: quid si mi animus fluctuat? ; Catull. 65,4: mens … fluctuat ipsa malis. (Vgl. OLD s.v. fluctuo 3a.) Die gängige Metapher für einen unruhigen Gemütszustand wird im nächsten Vers zur Allegorie erweitert. • 8 Helice et Cynosura Die beiden nördlichen Sternbilder sind besser bekannt als Großer und Kleiner Bär oder Großer und Kleiner Wagen. Da sie nie untergehen (vgl. z.B. Cic. nat. deor. 2,105: Hunc [sc. polum] circum Arctoe duae feruntur numquam occidentes), dienten sie als Orientierungssterne besonders in der Seefahrt. Die Griechen sollen sich dabei nach der Helike, die Phönizier nach der Kynosura gerichtet haben. Vgl. z.B. Ov. fast. 3,107-108: esse duas Arctos, quarum Cynosura petatur / Sidoniis, Helicen Graia carina notet; Val. Fl. 1,17-18: neque erit Tyriae Cynosura carinae / certior aut Grais Helice servanda magistris. Es existieren zwei verschiedene Verstirnungsmythen. (Vgl. z.B. Hyg. astr. 2,1-2.) Nach der arkadischen Version ist der Große Bär Kallisto, die, obwohl Jungfrau der Diana, von Zeus geschwängert und als Strafe von Diana in eine Bärin verwandelt worden war; der Kleine Bär gilt dann als Kallistos Sohn. Im kretischen Mythos sind Helike und Kynosura zwei Nymphen, die Zeus großzogen und ernährten und zur Belohnung als Sterne an den Himmel versetzt wurden. Vgl. Gundel 1912, 2858-2863; Gundel 1924, 37-41. Das Motiv, dass die Augen der Geliebten dem Liebhaber Orientierung geben wie Helike und Kynosura den Seefahrern, ist in der Frühen Neuzeit verbreitet. Vgl. Dousa fil. Erot. 9 (S. 164-165): at tua, me miserum, radiantia lumina quamvis / sint Helice nostrae, sint Cynosura rati, / non <?page no="276"?> 3 Kommentar 276 tamen adversam possunt vitare Charybdin / Nisaeosve, maris monstra timenda, canes. / sic, mihi dum te Helicen aut Cynosuram spero, Charybdis / tu violenta mihi es, tu mihi Scylla rapax; / hocque mage es mihi Scylla rapax, mihi saeva Charybdis, / quo magis es mi Helice, quo Cynosura magis; Erot. 15 (S. 169): … lumina sidereis aemula luminibus / alluxere facem, qualis post nubila fessis / esse Helice nautis aut Cynosura solet, / monstrantes iter igne suo, vestigia possem / qua reperire mei, qua reperire tui; Heins. Eleg. 1,3 (Poemata 3 1610, S. 6): navita turbatus geminam circumspicit Arcton, / et duce desertam sidere quaerit humum. / nos dubii blandos dominae sectamur ocellos, / expediunt nostras sidera bina vias. / quod scelus est blandam, superi, spectare puellam? / haec Helice nobis, haec Cynosura venit. Schoonhoven verdichtet den Vergleich, erreicht aber durch fluctuanti … menti eine zusätzliche Pointe. (S. den Komm. zu 7: fluctuanti.) menti S. den Komm. zu 13: pectori. • 9-12 Vgl. Flam. Carm. 3,2,3-5 (S. 182): quantum vere novo gaudet lasciva capella, / aestivis quantum sitientes imbribus horti, / tantum, Mopse, tuo reditu laetatur Ianthis; zum Motiv bereits Verg. ecl. 3,82-83: dulce satis umor, depulsis arbutus haedis, / lenta salix feto pecori, mihi solus Amyntas. Schoonhoven wählt hier die Form einer Priamel. • 9 protervi progenies gregis Vgl. Hor. carm. 3,13,8: lascivi suboles gregis. protervi S. den Komm. zu Praef. 15: iuvenes proterviores. • 10 recenti vere = Sen. Herc. f. 8. Recenti ist dort textkritisch umstritten, doch ist die Lesart tepenti wohl auf eine Normalisierung zurückzuführen. (Vgl. Zwierlein 1969, 254- 255; Fitch 1987 z. St.) Üblicher ist ver novum; vgl. z.B. Verg. georg. 1,43; Ov. met. 2,27; Pervig. Ven. 2; Flam. Carm. 3,2,3 (s. Zitat oben). • 11 flagrantes Hyperbolisch für die Trockenheit der Gärten. Eine andere Möglichkeit ist, dass flagrantes für fragrantes steht. (Vgl. OLD s.v. fragro: „often written flagr- … in codd.“) Duftende, also blühende Gärten brauchen besonders viel Wasser, so dass die Bedeutung ebenfalls Sinn ergäbe. Dagegen spricht jedoch die insgesamt sehr enge Parallele zu Flaminio (vollständig zitiert zu 9-12), hier Flam. Carm. 3,2,4 (S. 182): sitientes … horti. • 12 corda Synekdoche. S. auch den Komm. zu 13: pectori. • 13-16 Bei dieser Variante der „pathetic fallacy“ werden der Geliebten gleichsam göttliche Eigenschaften zugesprochen. S. auch die Einleitungen zu Lal. 3 und 15. Hier wird das Motiv zusätzlich zu den Pflanzen auf die Herde ausgeweitet. • 13 contulisti Zur Bedeutung „schenken“ vgl. Mittellateinisches Wörterbuch 2 (1999), 1297,66-1298,12 = confero C,1 β: deferre, dare; strictius tradere, tribuere, donare, impertire, largiri; de rebus incorporalibus (saepe de donis divinitus datis). Wie in 4 (s. dort den Komm. zu veneror) erscheint die Geliebte durch die Wortwahl als göttliches Wesen. pectori Der Sitz der Emotionen wird mehrfach variiert; s. V. 4: anima; 8: menti; 12: corda. • 14 mecum In beiden Drucken ist zwischen me und cum eine deutliche Lücke zu sehen, doch muss die getrennte Schreibung ein Setzerversehen sein. Inhaltlich stehen me und greges auf einer Ebene. („Du heiterst mich und die Herden auf“; nicht: „ich und du heitern die Herden auf.“) greges Nachdem in 9 die progenies gregis <?page no="277"?> Ad Lalagen. Carmen XVI 277 auf der Ebene eines Vergleiches vorkam, sind nun die greges auf der Hauptebene der Erzählung genannt. • 15 squalidis Vgl. OLD s.v. 3: „(of land) waste, barren.“ • 16 siluis Hier dreisilbig gemessen wie in Lal. 2,4. (S. den Komm. dort.) • 17-20 Die Verse führen die ebenfalls vierzeilige Strophe Lal. 8,9-12 weiter. Dort hatte Daphnis beschrieben, wie Narcissus auch als Blume noch seinen alten Hochmut bewahrt habe. Dass er als osor virginis aureae bezeichnet wird, erinnert auch hier noch daran, doch nun erreicht Lalage, dass Narcissus zu lieben beginnt. Die Blume Narzisse trägt, ebenso wie schon im achten Gedicht, menschliche Züge, was zur „pathetic fallacy“ der vorigen und der folgenden Strophe passt. Die emotionale Entwicklung spiegelt die Veränderung in Lalages Verhalten: In Lal. 8 musste sie aufgefordert und ermahnt werden, während das vorliegende Gedicht den Eindruck eines völlig harmonischen Beisammenseins erweckt. (S. auch die Einleitung.) Zur Identifizierung der Lalage mit Narcissus s. auch den Komm. zu Lal. 8,9-12. • 17 osor Das Wort wird in der Komödie (Plaut. Asin. 859; Poen. 74) und von Apuleius (Plat. 2,22; Socr. 12) verwendet. virginis aureae Hier ist natürlich Echo gemeint. Zu virgo aurea s. den Komm. zu Lal. 12,32. • 18 cervice flexâ = Lal. 8,12, doch heißt es dort weiter: turgidulum caput. Im achten Gedicht erinnert der gebeugte Hals der Narzisse an die Selbstbespiegelung des Narcissus. (S. den Komm. zu Lal. 8,11-12.) Im neuen Kontext wird daraus eine Geste der Zu-Neigung (te placide excipit). • 19 ponitque fastus Im Gegensatz zu Lal. 8,10: [Narcissus] nondum superbi pectoris immemor. Daphnis hatte Lalage dort Narcissus als warnendes Beispiel vorgehalten und die Geliebte aufgefordert: pone superbiam (Lal. 8,20). fastus Das Wort wird sehr häufig in erotischem Kontext verwendet. Vgl. Pichon 1966, 142-143; hier bes. Ov. ars. 511: iam ponet fastus. calere S. V. 4: calenti. • 20 igne tuo Das Possessivpronomen ersetzt einen Genetivus obiectivus. S. den Komm. zu Lal. 12,31: ignis … tuus. videtur Wie in Lal. 15,19 liegt keine echte Einschränkung vor. • 21-28 Wie schon die Narzisse (17-20) erhält auch die übrige Natur menschliche Eigenschaften. Sie kreiert selbst einen locus amoenus (s. dazu den Komm. zu Lal. 1,6- 12) und heißt Lalage darin willkommen. Besonders die Verben suggerieren ein aktives, bewusstes Handeln: Die Vögel grüßen, der Fluss schmeichelt, die Bäume sorgen für Erholung, der Efeu bereitet einen Sitz. Diese Variante der „pathetic fallacy“ gibt es in verschiedenen Ausprägungen schon in der antiken Bukolik. Vgl. bes. Verg. ecl. 9,40-42: hic ver purpureum, varios hic flumina circum / fundit humus flores, hic candida populus antro / imminet et lentae texunt umbracula vites (vorher bereits Theoc. 7,7-8: ταὶ δὲ … / αἴγειροι πτελέαι τε ἐύσκιον ἄλσος ὕφαινον ; vgl. Clausen 1994 zu Verg. ecl. 9,42); weiter z.B. [Theoc.] 8,33-40; Verg. ecl. 7,45-47; 9,57-58. Dass die Natur ihre Gaben den Menschen freiwillig zur Verfügung stellt, lässt auch an die Topik des Goldenen Zeitalters denken. Vgl. z.B. Verg. ecl. 4,18-20: at tibi prima, puer, nullo munuscula cultu / errantis hederas passim cum baccare tellus / mixtaque <?page no="278"?> 3 Kommentar 278 ridenti colocasia fundet acantho. • 21 piae volucres Vgl. Ov. am. 2,6,3 (Tod des psittacus): ite, piae volucres, et plangite pectora pinnis. Booth (1991, z. St.) merkt an, dass pietas eine menschliche Eigenschaft sei, die Ovid auf die Tierwelt übertrage. (S. auch den Komm. zu 21-28.) Mit dem Adjektiv pius werden oft die Bewohner des Elysium beschrieben. (Vgl. Ov. am. 2,6,51.58; Booth 1991 zu 2,6,51 mit weiteren Belegen.) Tatsächlich wirkt die ungetrübte Harmonie vor allem der ersten Hälfte des Gedichtes geradezu „paradiesisch.“ Zu einem „bukolischen Elysium“ s. Lal. 25,33-44. • 22 adstrepens Der Fluss begleitet den Gesang der Vögel gleichsam mit seinem Rauschen. Zur Formulierung vgl. Calp. ecl. 4,2: sub hac platano, quam garrulus adstrepit umor; ferner Hor. carm. 4,12,3: fluvii strepunt. • 23 blanditur undis Vgl. Mart. 6,42,3 (in Thermen): nullae sic tibi blandientur undae. Zur Vermenschlichung der Natur s. den Komm. zu 21-28. • 24 facili Die Blätter der Bäume bewegen sich „leicht“, d.h. schon beim kleinsten Windhauch. (Vgl. OLD s.v. 11a.) recreant S. V. 12: recreantur. Erst sorgt Lalage für Erquickung, nun wird sie selbst erquickt. susurro Zum Rascheln eines Baumes vgl. Nemes. ecl. 1,72: silvestris te nunc platanus, Meliboee, susurrat. S. auch den Komm. zu Lal. 28,2-3: susurrus. • 25-28 Die mittlere Strophe bildet einen Übergang zwischen den beiden Gedichthälften. (S. dazu die Einleitung.) Daphnis fordert Lalage auf, nun in den Schatten der Bäume zu treten, die mit ihrem leisen Rauschen bereits zur angenehmen Atmosphäre beitragen (23-24). • 25 sed quid moramur? Mit der rhetorischen Frage gibt Daphnis den ersten Impuls zu einer zielgerichteten Handlung. Nach der Ruhe des ersten Teils ist die zweite Gedichthälfte dann deutlich bewegter. (S. auch die Einleitung.) quid moramur = Hor. epod. 16,24. • 25-26 cum grege languido quaeramus umbram Vgl. Hor. carm. 3,29,21-22: iam pastor umbras cum grege languido / rivumque fessus quaerit. (S. auch Lal. 1,5.) • 26-27 hâc valle Caniculae vitemus aestus Vgl. Hor. carm. 1,17,17-18: hic in reducta valle Caniculae / vitabis aestus; ferner Tib. 1,1,27-28: sed Canis aestivos ortus vitare sub umbra / arboris ad rivos praetereuntis aquae. Caniculae Das Sternbild Canis Maior oder Sirius, der hellste Stern darin. Der Aufgang des Gestirns Ende Juli fällt mit den heißesten Tagen des Jahres zusammen, die deshalb „Hundstage“ genannt wurden. Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,17,17. • 27-28 Das Motiv eines Lagers aus Efeu finde ich sonst nicht. Bei Longos (1,2,1) gehört der Efeu jedoch zu dem Dickicht, in dem Lamon den ausgesetzten Daphnis findet. corymbi atqué hederae Corymbi sind die Blütentrauben des Efeus. Vgl. z.B. Verg. ecl. 3,38-39: vitis / diffusos hedera vestit pallente corymbos. Die Figur hat Ähnlichkeit mit einem Hendiadyoin, da auch hier ein Begriff untergeordnet gedacht werden muss („die Blütentrauben des Efeus“ statt „die Blütentrauben und der Efeu“). faciunt sedile Vgl. die (hier sehr freie) Übertragung des Eobanus Hessus von Theoc. 5,45 b: hic dulces fecere sedilia grata cyperi. S. auch den Komm. zu 21-28. • 29 da, Lalage, pedum Daphnis fordert Lalage hier und in 34 jeweils dazu auf, ihm <?page no="279"?> Ad Lalagen. Carmen XVI 279 gleichsam die Requisiten anzureichen. pedum S. den Komm. zu Lal. 6,38: pedum. • 30-31 cogam Üblich vom Zusammentreiben des Viehs; vgl. z.B. Verg. ecl. 3,20: Tityre, coge pecus. Hier wird nur ein einzelnes Tier zur Herde zurückgetrieben, doch ist der Bedeutungsunterschied nicht gravierend. ne malè deserat fetus tenellos In diesem friedlich-„idyllischen“ Gedicht kann der Hirte für das Wohlergehen seiner Herde sorgen. Anders ergeht es Meliboeus in Vergils erster Ekloge; vgl. 1,14-15: hic inter densas corylos modo namque gemellos, / spem gregis, a! silice in nuda conixa reliquit. fetus tenellos Vgl. z.B. Catull. 17,15: tenellulo … haedo; Verg. ecl. 1,21: ovium teneros … fetus. • 31-32 propinquo, cum reliquo grege, colle Die Kommata habe ich der Deutlichkeit halber belassen. pascat Im Aktiv öfter „weiden lassen“ (z.B. Verg. ecl. 9,23: Tityre, … pasce capellas); vgl. aber z.B. Tib. 2,5,25: pascebant … vaccae. • 33-44 Die harmonische Stimmung des gesamten Gedichtes wird durch die Kämpfe der Ziegenböcke unterbrochen. Zum Motiv vgl. auch Var. Carm., S. 67: assueti teneris carminibus capri / opponent rigidis cornua cornibus, / et victor referet serta virentia, / dulcis praemia proelii. Durch Verwendung von Wettkampfsymbolik (s. die Kommentare zu 35-36 und 37-38) und die parodistische Tendenz der Verse 43-44 werden die „Kriege“ der Böcke jedoch trotz des kämpferischen Vokabulars nicht allzu ernst genommen. (S. V. 36: ad iram; 38: acrius; 39: pugnet; auch 44: bella und minax.) Andererseits sind die Kämpfe Auseinandersetzungen zwischen Rivalen (vgl. auch Hor. carm. 3,13,5: et Venerem et proelia destinat) und spiegeln somit das Verhältnis der menschlichen Rivalen Daphnis und Thrysis. Trotz der scheinbar ungetrübten Zweisamkeit dieses Tages klingt auf der Ebene der Tiere doch wieder die potentielle Bedrohung des Liebesverhältnisses zwischen Daphnis und Lalage an. • 33 succede Klassisch bei Angabe einer Richtung entweder „unter etwas gehen“ (OLD s.v. 1a) oder „hinaufsteigen“ (OLD s.v. 3). • 34 humi iacentes Man könnte sich vorstellen, dass Daphnis, der im ersten Vers noch musiziert hatte, die Flöte bei Lalages Ankunft beiseitelegte, weil in diesem Moment die langersehnte Gegenwart der Geliebten wichtiger wurde als das Instrument. Bei Longos legt Daphnis einmal seine Syrinx nieder, um die schlafende Chloe zu betrachten (Longos 1,25,1). Dennoch bleibt merkwürdig, dass die Flöte hier offenbar außerhalb von Daphnis’ Reichweite auf dem Boden liegt, wo auch die umherlaufenden Tiere darauf treten könnten. Eine achtlos liegengelassene oder gar fortgeworfene Syrinx ist normalerweise kein gutes Zeichen; vgl. z.B. Longos 1,17,4 (der liebeskranke Daphnis vernachlässigt das Flötenspiel); 2,21,2 (Daphnis findet Chloes Syrinx, während sie selbst geraubt wurde). Zu weiteren Belegen für dieses Motiv vgl. Bernsdorff 1999, 77. arripe S. den Komm. zu 29: da, Lalage, pedum. fistulas Als „Hirtenflöte“ existiert das Wort klassisch nur im Singular (vgl. Bacherler: ThLL 6,1 [1912-1926],829, 70-830,7: fistula pastoralis) und wird im Lalage-Zyklus sonst auch nur so verwendet (Lal. 1,16; 3,11; 17,3; 25,36; 34,3; 37,2; 40,27). Der Plural ist als <?page no="280"?> 3 Kommentar 280 constructio ad sensum zu verstehen, vielleicht beeinflusst durch die ebenfalls geläufige Bezeichnung dieser Flöte als calami. Zu den verschiedenen Hirtenflöten s. den Komm. zu Lal. 1,15-16: fistula. • 35-36 Vgl. auch Schoonh. Buc., S. 166: Tityrus … canna… palustri / incitat ad pugnas adversis cornibus hircos. incitem capros canendo cornibus Alliteration. Das Anfeuern passt zu dem auch in der nächsten Strophe evozierten Bild des Wettkampfes. (S. den Komm. zu 37-38.) Das Motiv, dass Herdentiere auf das Syrinxspiel ihres Hirten reagieren, ist aus Longos bekannt. (S. den Komm. zu Lal. 18,5: ducturam.) incitem … ad iram Vgl. Cic. de orat. 1,53: quis enim nescit maximam vim exsistere oratoris in hominum mentibus … ad iram … incitandis. cornibus oppositis Vgl. Verg. georg. 2,525-526: in gramine laeto / inter se adversis luctantur cornibus haedi. • 37-38 Kränze wurden als Siegespreis beim Wettkampf verliehen (vgl. Blech 1982, 109-153), bestanden dann aber in der Regel aus Zweigen (z.B. Ölbaum, Fichte, Myrte, Silberpappel; vgl. Blech 1982, 127-145). Schoonhoven übernimmt dieses Symbol des athletischen Agons, passt es aber durch die Wahl von Blumen statt der Zweige der bukolischen Sphäre an. Der Blumenkranz hat zudem eine erotische Konnotation. (S. den Komm. zu Lal. 1,13.) Dies passt dazu, dass die Böcke zugleich als Rivalen auftreten und damit das Verhältnis von Daphnis und Thyrsis spiegeln. (S. den Komm. zu 33-44.) Bemerkenswert ist dabei auch, dass Lalage dem siegreichen Bock einen Kranz flechten soll und somit gleichsam als Schiedsrichterin auftritt. Vgl. hierzu Longos 1,15,4-17,1: Daphnis und Dorkon wetteifern, wer schöner sei, und Chloe gibt dem Sieger einen Kuss. quâ muneretur Vgl. Hor. epod. 2,19-21: … decerpens pira / certantem et uvam purpurae, / qua muneretur te, Priape. (Bei Horaz ist muneretur jedoch Deponens, bei Schoonhoven Passiv.) • 39-40 Im Emblembuch weist Schoonhoven oft darauf hin, dass der Weise nicht abhängig von Ruhm und Ehre sein dürfe. In einem Gedicht der Varia Carmina (S. 9-10) mit dem Titel Virtus favore ad altiora suscitatur räumt er jedoch ein, dass Ruhm und Applaus zu noch höheren Leistungen antrieben, auch wenn die virtus schon aus sich selbst heraus leuchte. Zu Sentenzen im Lalage-Zyklus s. Kap. 1.2.2.4. • 41-44 Der Kampf, der in 33-36 angekündigt wurde, findet nun statt. Haedus steht hier synonym zu caper (35). Da der Ziegenbock bereits Hörner trägt, handelt es sich im Gegensatz zu Horaz’ Böcklein, cui frons turgida cornibus (carm. 3,13,4; s. auch den Komm. zu 33-44), nicht um ein ganz junges Tier. • 41-42 gramina qui gerit Das realistische Detail bildet einen Kontrapunkt zur Imitation Vergils in den folgenden beiden Versen. cornu recurvo Vgl. Ov. am. 3,13,17: dux… gregis cornu … recurvo. • 43-44 Vgl. Verg. ecl. 3,86-87: pascite taurum / iam cornu petat et pedibus qui spargat harenam; georg. 3,232-234: [taurus] … temptat sese atque irasci in cornua discit / arboris obnixus trunco, ventosque lacessit / ictibus, et sparsa ad pugnam proludit harena. In den Georgica beschreibt Vergil den Kampf von Stieren um eine Kuh und verwendet dabei erotisches Vokabular; vgl. bes. <?page no="281"?> Ad Lalagen. Carmen XVI 281 georg. 3,210: Venerem; amoris; 3,215: viris; 3,216: femina; 3,218: amantis; 3,227: amores. Während Vergil den Wortschatz der Liebeselegie gebraucht, um einen Stierkampf zu schildern, benutzt Schoonhoven den Kampf der Ziegenböcke, um ein menschliches Rivalitätsverhältnis abzubilden. Vergil zitiert die Verse der Georgica in der Aeneis in einem Vergleich des Turnus mit einem Stier. (Vgl. Aen. 12,103-106.) Schoonhovens Imitation ist somit in mehrfacher Hinsicht parodistisch: Der Stier wird zu einem (noch dazu jungen) Ziegenbock, und der Kampf steht nicht länger gleichnishaft für einen Krieg der Heroen, sondern er spiegelt die Rivalität zwischen zwei Hirten. (S. den Komm. zu 33-44.) • 45 sed ecce Vgl. Verg. ecl. 2,66: aspice: Der vorige Gedankengang wird abgebrochen, weil der Sprecher bemerkt, dass es Abend wird. Vesperus advolat Vgl. Verg. ecl. 10,77: venit Hesperus; ferner Verg. ecl. 6,86: invito processit Vesper Olympo. Vesperus Die Form (statt des klassischen Vesper) lässt sich durch Kontamination mit dem griechischen Wort Ἕσπερος erklären, das auch in der lateinischen Literatur übernommen wurde. (Vgl. z.B. Verg. ecl. 10,77; Ov. met. 5,441: Hesperus.) • 46 Schoonhoven kombiniert ein Abendbild Vergils mit einer Metapher, mit der Lukrez Wolken beschreibt, die sich bei einem aufziehenden Unwetter an Berggipfeln bilden. Vgl. Verg. ecl. 1,82: et iam summa procul villarum culmina fumant; Lucr. 6,459-460: fit quoque uti montis vicina cacumina caelo / quam sint quoque magis, tanto magis edita fument. Lukrez erklärt in den folgenden Versen, dass die Wolken nur an den Gipfeln zu sehen seien, weil der Wind die zunächst unsichtbar dünnen Wolken dort zusammentreibe (Lucr. 6,462-464). Da Gewitterwolken keine typische Erscheinung des Abends sind, wird man bei Schoonhoven eher an Abendnebel denken. Dieser bildet sich zwar zuerst in den Tälern, kann aber durch die Luftbewegung an den Hängen aufsteigen, so dass es so wirkt, als ob die Berge „rauchten.“ • 47-48 Vgl. Verg. ecl. 2,67: et sol crescentis decedens duplicat umbras; georg. 1,450: (von der Sonne) emenso cum iam decedit Olympo; ferner ecl. 1,83: maiores… cadunt altis de montibus umbrae. Zum Abend als gedichtschließendem Motiv bei Horaz vgl. Hynd 1978, 135-142. Phoebo Die Sonne. Olympo Hier metonymisch für den Himmel; vgl. OLD s.v. 1c. noctiferae Klassisch nur als Substantiv im Maskulinum („der Abendstern“; vgl. OLD s.v.). • 49-52 Vgl. Flam. Lus. Past. 11,1-3.7: nascitur et nostro Vesper crudelis amori / iam caulis saturas ducere mandat oves. / deliciae Ligurina meae, te linquere cogor (…). / hic illas [sc. oves], mea vita, iterum cogamus in unum. S. auch den Komm. zu Lal. 14,9-10. • 49 Vita nimmt ringkompositorisch die Anrede aus der ersten Strophe (3) wieder auf. Rursus steht in 45 an gleicher Stelle und unterstreicht damit den engen Zusammenhang der beiden Strophen: Rursus cedere cogimur ist die direkte Folge des rursus Vesperus advolat. • 50 avara noctis tempora = Lal. 14,10. (S. den Komm. dort.) iubent Vgl. Ov. am. 1,4,60: separor a domina nocte iubente mea. • 51-52 sequente sole Die Sonne steht oft metonymisch für den Tag. (Vgl. OLD s.v. sol 2c.) Hier ist <?page no="282"?> 3 Kommentar 282 wohl konkret der Morgen gemeint, im Sinne von „sobald die Sonne wieder scheint.“ iterum redeas precamur Es passt zur positiven Gesamtstimmung des Gedichtes, dass Daphnis nicht mit der Trennung endet, sondern mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen. Mit dem Gedanken an den nächsten Morgen schließt sich zugleich der Kreis zum Gedichtanfang. (S. auch den Komm. zu 49: Vita.) Mit dem Kreislauf von Tagen und Nächten sind tägliche Wiederholungen von Handlungen verbunden, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass zahlreiche Wörter des Gedichtes mit dem Präfix rebeginnen: 2: resedi; 11: regressu; 12: recreantur; 16: restituis; 21: reducem; 24: recreant; 52: redeas. (Vgl. z.B. Catull. 5,4: soles occidere et redire possunt.) Ad silvas, in quibus osculatus erat Lalagen. Carmen XVII Das Gedicht hat ein Epigramm des Flaminio zum Vorbild, an das es sich in Aufbau und Motivik sehr eng anlehnt: Irrigui fontes, et fontibus addita vallis, / cinctaque piniferis silva cacuminibus, / Phyllis ubi formosa dedit mihi basia prima, / primaque cantando parta corona mihi, / vivite felices, nec vobis aut gravis aestas, / aut noceat saevo frigore tristis hiems. / nec lympham quadrupes, nec silvam dura bipennis, / nec violet teneras hic lupus acer oves: / et nymphae laetis celebrent loca sancta choreis, / et Pan Arcadiae praeferat illa suae. (Flam. Lus. Past. 20.) Der Apostrophe eines bukolischen Ortes folgt jeweils die Erwähnung der Küsse, die das Mädchen dem liebenden Hirten dort gab. Der längste Abschnitt besteht aus guten Wünschen an den locus amoenus. Das Thema ist auch aus einem antiken Epigramm bekannt (AP 9,220 = GP 3434-3439): Ἁ χλοερὰ πλατάνιστος ἴδ ’ ὡς ἔκρυψε φιλεύντων / ὄργια , τὰν ἱερὰν φυλλάδα τεινοµένα . / ἀµφὶ δ ’ ἄρ ’ ἀκρεµόνεσσιν ἑοῖς κεχαρισµένος ὥραις / ἡµερίδος λαρῆς βότρυς ἀποκρέµαται . / οὕτως , ὦ πλατάνιστε , φύοις· χλοερὰ δ ’ ἀπὸ σεῖο / φυλλὰς ἀεὶ κεύθοι τοὺς Παφίης ὀάρους . (Viridans platanus vide ut abdit amantium / mysteria, sacram frondem protendens. / circa vero ramos suos gratus tempestivo flore / vitis iucundae racemus dependet. / sic, o platane, crescas: viridesque ex te / frondes usque tegant Paphiae susurros.) Vgl. Biese 1973, 1, 113. Schoonhovens Gedicht weist einige Parallelen zu diesem Epigramm auf, die bei Flaminio nicht vorkommen, so dass beide Texte als direkte Vorbilder zu gelten haben. Die dankbare Hinwendung an die Wälder, die Daphnis’ Liebe Raum gaben, ist ein Gegenstück zur Bitte um Schutz in Lal. 3, dessen erster Teil ebenfalls auf ein Epigramm Flaminios zurückgeht. (S. die Einleitung dort.) Im Gegensatz zu Gedicht 17 erweitert Schoonhoven in Lal. 3 den Prätext um weitere Abschnitte. Metrum: Iambische Trimeter. Ad silvas Das Gedicht gehört zu den wenigen, die nicht direkt an die Geliebte adressiert sind. S. die Einleitung zu Lal. 5. • 1 Während der Wald <?page no="283"?> Ad silvas, in quibus osculatus erat Lalagen. Carmen XVII 283 ocelle ruris genannt wird, also wohl weithin das Land bedeckt, sind die feuchtigkeitsliebenden Pappeln insbesondere an Flüssen zu finden. (Vgl. Murr 1969, 17-18.) ocelle ruris = Petrus Lotichius Secundus, Ad hortulum Claudiae 2 und 44 (S. 155-157). Mit dem Diminutivum ocellus können Personen angesprochen werden; vgl. bes. Catull. 50,19; ferner Plaut. Asin. 664; Truc. 579. Catull verwendet es auch als Anrede eines Ortes (31,1-2: Paene insularum, Sirmio, insularumque / ocelle), wodurch ein besonders emotionales Verhältnis zu diesem Platz zum Ausdruck kommt. (Vgl. Godwin 1999 z. St.) Daphnis apostrophierte bereits in Lal. 3 die bukolische Landschaft als beseelte Natur und zeigt hier nun durch die affektive Anrede seine Dankbarkeit für den gewährten Schutz. Schoonhoven verwendet ocellus sonst in Bezug auf menschliche Augen, und zwar sowohl die der Geliebten als auch die des Hirten (Lal. 11,6; 16,3; 23,15; 24,28; 40,34; Eleg. 1,5). populi Neben der allgemeinen Anrede an den Wald werden die Pappeln gesondert angesprochen. Die Pappel hat im Lalage-Zyklus insgesamt eine besondere Bedeutung. (S. den Komm. zu Lal. 1,6: populus.) Zur Apostrophe dieses Baumes vgl. schon Ov. epist. 5,27: popule, vive, precor. (S. auch den Komm. zu Lal. 40,62-63.) • 2 Der kühle Baumschatten und die Blüten sind typische Elemente des locus amoenus. (S. den Komm. zu Lal. 1,6-12.) floridum Wenn man annimmt, dass die Szene im Frühling stattfindet, wäre es möglich, dass einige Bäume blühen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass blühende Weinreben die Bäume beranken. Dies wird durch zwei Prätexte nahegelegt: AP 9,220 (= GP 3434-3439, zitiert in der Einleitung), vgl. dort bes. flore in V. 3 der lateinischen Version; Verg. ecl. 9,42 (Zitat s.u.). umbraculum Das Wort bezeichnet allgemein einen Sonnenschutz, hier wohl eine Art Laube. In der Poesie kommt der Begriff zuerst bei Vergil vor. (Vgl. Clausen 1994 zu Verg. ecl. 9,42.) Der dort geschilderte locus amoenus enthält bereits einige Elemente, die Schoonhoven hier verwendet; vgl. Verg. ecl. 9,40-42: varios hic flumina circum / fundit humus flores, hic candida populus antro / imminet et lentae texunt umbracula vites. • 3-4 Lalage Der Dativ findet sich im Lalage-Zyklus nur hier und Lal. 30,7. Bei der griechischen Deklination von Eigennamen mit der Endung -ē (η ) ist im Lateinischen die Dativendung -ae (ῃ ) üblicher; vgl. Kühner/ Holzweissig 1912, 1, 421-427, § 96-97. S. jedoch Lal. 10,11: Daphne mit Komm. sonore fistulae allecta nostrae Vgl. Navag. Lus. 19,9: tu levibus allecta modis silvestris avenae. Dass Lalage Daphnis’ Musik bewundert und mit Küssen belohnt, kommt als Motiv mehrfach vor; s. Lal. 3,11-12; 34,5-8; 35,1-4. Zur Hirtenflöte s. den Komm. zu Lal. 1,15- 16: fistula. • 5 manus protervas Vgl. Ov. met. 5,670-671: protervas / … manus. figens basia S. den Komm. zu Lal. 3,19: figit. • 6 virete Vgl. Stat. silv. 2,7,13: Aoniae virete silvae. dudum Auch in der Bedeutung „lange“ bezieht sich dudum im klassischen Latein nur auf die Vergangenheit („schon lange“), nicht aber auf die Zukunft. (Vgl. Hofmann: ThLL 5,1 [1909-1934],2175, 43-2177,61.) nulla … incendia Der Italiener Flaminio formuliert mögliche <?page no="284"?> 3 Kommentar 284 Beeinträchtigungen anders: Sowohl grimmige Kälte als auch zu große Hitze können schädlich sein. (Vgl. Flam. Lus. Past. 20,5-6; zitiert in der Einleitung.) Schoonhoven, in dessen Heimat die Sommer sicherlich nicht besonders heiß waren, die Winter aber kälter als im Süden, sieht dagegen in der Wärme des Sommers etwas Lebensspendendes. Als komplementäre Gefahr zur winterlichen Kälte setzt er dafür Waldbrände mit ihrer extrem hohen und zerstörerischen Hitze. • 7 Zum Stutzen der Bäume s. den Komm. zu Lal. 3,5-7. frondium decoribus S. den Komm. zu Lal. 3,7: frondis. • 8 Vgl. Ov. met. 13,709: saevit hiems; Stat silv. 1,4,121; Flam. Lus. Past. 20,6 (zitiert in der Einleitung). Bei Ovid und Statius steht hiems in der Bedeutung „Sturm“, so dass die Verwendung des Verbums saevire („wüten“, „toben“) sinnvoll ist, wohingegen Flaminio das Adjektiv saevus wählt, das ein weiteres Bedeutungsspektrum abdeckt. (Auch „grausam“, „grimmig“: vom Unwetter oder vom Meer, aber z.B. auch von Felsen gesagt; vgl. OLD s.v. 5.) Durch Schoonhovens Vermischung der Prätexte ergibt sich eine Ungenauigkeit, denn bezogen auf die Winterkälte, die ja Erstarrung bewirkt und somit gerade das Gegenteil einer Bewegung darstellt, passt das Verb saevire nicht. • 9-10 Im Gegensatz zu Flaminius (s. die Einleitung) beschreibt Schoonhoven die Auwirkungen von Kälte und Wärme auf die Pflanzen in fast technisch anmutender Genauigkeit. humoribus … caloribus Die letzten Wörter der Verse reimen sich (dazu auch 7: decoribus). Auch die Verse 5 und 6 enden mit demselben Laut (basia / incendia). quando Iterativ. Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 365, § 208,11. occludet Nach der consecutio temporum müsste hier streng genommen Futur II (occluserit) gesetzt werden, da im Hauptsatz mit dem iussiven Konjunktiv recludat ein futurischer Ausdruck steht. (Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 181-182, §180,7.) almis … humoribus Ablativus qualitatis. venulas Zur Bezeichnung der Adern eines Baumes bzw. Blattes als venae vgl. OLD s.v. 3a. Cynthius Gemeint ist Apoll als Sonnengott, der hier metonymisch für die Sonne steht. S. auch den Komm. zu Lal. 2,3: Cynthii. • 11-12 Vgl. Flam. Lus. Past. 20,10: Pan Arcadiae praeferat illa suae. (S. auch die Einleitung.) Arkadien ist die mythische Heimat des Pan, der als Erfinder der Syrinx und Gott der Hirten galt; vgl. z.B. Verg. ecl. 2,32-33: Pan primum calamos cera coniungere pluris / instituit, Pan curat ovis oviumque magistros. (Vgl. Schmidt 1987, 252.) Schoonhoven unterscheidet nicht zwischen den Waldgottheiten Pan und Faun. Die Vermischung beginnt schon in der Antike. (S. den Komm. zu Lal. 1,19-20.) Zu Arkadien als „Heimat des Hirtengesanges“ vgl. auch Bernsdorff 2001, 94-96. Ausgehend von Sannazaros Arcadia (1504 erschienen) wurde die Landschaft zu einem wirklichkeitsfernen Ort, an dem allein das verlorene Goldene Zeitalter noch zu erahnen ist. (Vgl. Schmidt 1987, 245-255.) sic Üblich als Einleitung eines Wunsches, der von der Erfüllung einer Bitte abhängig gemacht wird (S. den Komm. zu Lal. 26,13: sic sic.) Hier ist der Wunsch bereits erfüllt, so dass der folgende Satz nicht im optativen Kon- <?page no="285"?> Ad Lalagen. Carmen XVIII 285 junktiv steht (so z.B. AP 9,220,5-6 [= GP 3438-3439], zitiert in der Einleitung), sondern im Futur. locis amoenis Die angesprochenen Wälder bilden selbst auch einen locus amoenus; s. V. 1-2. Die Junktur gibt es schon bei Sallust (Catil. 11,5: loca amoena) und Cicero (z.B. Att. 12,19,1: est hic quidem locus amoenus …). Quintilian schreibt über das Lob von Gegenden: est et [laus] locorum …: in quibus similiter speciem et utilitatem intuemur, speciem maritimis planis amoenis, utilitatem salubribus fertilibus. (Inst. 3,7,27; vgl. H. Lausberg 1990, 135, § 247,1a.) Als terminus technicus wird der Begriff nach Curtius (1993, 199) zuerst von Isidor von Sevilla verwendet (orig. 14,8,33). Da Arkadien seit der Renaissance zum Inbegriff bukolischer Idylle wurde (s. den Komm. zu 11), kann Schoonhoven hier von den lieblichen Plätzen der Arkadier sprechen, obwohl es sich in der Realität um eine wohl eher karge Berglandschaft der Peloponnes handelt. • 12-13 Vgl. Flam. Lus. Past. 20,9: nymphae laetis celebrent loca sancta choreis. (S. auch die Einleitung.) Naiades Flussnymphen. Pappeln (s. V. 1) galten, da sie bevorzugt an wasserreichen Orten stehen, als Baum der Nymphen. (Vgl. Murr 1969, 18.) perpetim S. den Komm. zu Lal. 4,3: perpetim. Ad Lalagen. Carmen XVIII Der Beginn des Gedichtes zeigt Daphnis wartend, da Lalage sich verspätet hat. Erst in V. 15 kann er beglückt ausrufen: iam venis. Für die Technik, dass innerhalb eines Gedichtes eine Veränderung der Situation eintritt, worauf der Sprecher des Gedichtes hinweist, wird der Begriff des Mimetischen verwendet. (Vgl. Albert 1988, passim; zur Definition bes. 24.) Das Motiv des Wartens auf das Eintreffen des oder der Geliebten ist aus Vergils Eklogen bekannt (8,64-109). Auch dort wird schließlich die Ankunft des Herbeigesehnten vermeldet (8,108-109). Johannes Secundus imitiert diese Verse in seiner Elegie 2,2. (Vgl. dazu M. Lausberg 2004, 11-16.) Die Elegie des Secundus weist neben dem Warten auf die Geliebte weitere Parallelen zu Lal. 18 auf: Der Liebende fürchtet, dass die Geliebte bei Rivalen weilt (Joh. Sec. Eleg. 2,2,16-26; s. V. 1 mit Komm.), und bei jedem Geräusch glaubt er, sie nahen zu hören. (S. den Komm. zu 10-14.) Daphnis wartet sehnsuchtsvoll, aber auch misstrauisch. Er schilt Lalage zwar nur für die Vernachlässigung der Herde (3-5 sowie indirekt 6 und 17; s. die Kommentare), doch macht vor allem die implizite Furcht vor Rivalen deutlich, dass er sich auch selbst zurückgesetzt fühlt. Eine Vernachlässigung der Herde wird sonst vor allem liebeskranken Hirten zugeschrieben. (S. den Komm. zu Lal. 4,20.) Auffällig ist hier, dass Lalages Herde offenbar ohne die Hirtin auf die Weide gelangt ist. Das Motiv der selbständigen Rückkehr zum Stall ist häufiger belegt, vor allem als Topos des Goldenen Zeitalters (vgl. z.B. Verg. ecl. 4,21-22: ipsae lacte domum referent distenta capellae / ubera; Hor. epod. 16,49-50: illic iniussae veniunt ad <?page no="286"?> 3 Kommentar 286 mulctra capellae / refertque tenta grex amicus ubera), aber auch beim verliebten Polyphem des Theokrit (11,12-13: πολλάκι ταὶ ὄιες ποτὶ τωὔλιον αὐταὶ ἀπῆνθον / χλωρᾶς ἐκ βοτάνας ). Bei Ovid läuft das Vieh Polyphem von selbst hinterher; vgl. met. 13,781: lanigerae pecudes nullo ducente secutae. Im Gegensatz zu Gedicht 16 kommt Lalage nicht morgens auf die Weide, sondern erst am Nachmittag. (S. den Komm. zu 3-5.) Die lange Wartezeit wird dadurch veranschaulicht, dass der Teil des Gedichtes vor Lalages Eintreffen 14 Verse umfasst, der Teil danach dagegen nur 10. Bei Lalages Ankunft ist die Mittagszeit ebenso wie die Gedichtmitte überschritten. Metrum: Phalaeceen. 1 Vgl. Verg. ecl. 9,39: huc ades, o Galatea; quis est nam ludus in undis? Es könnte ein kindliches Spiel gemeint sein, so wie die ἀθύρµατα … ποιµενικὰ καὶ παιδικά bei Longos (1,10,2; s. auch den Komm. zu 8-9): Chloe verfertigt dort Heuschreckenfallen, Daphnis eine Syrinx. Lusus und verwandte Wörter haben jedoch sehr häufig eine erotische Konnotation. Vgl. z.B. Prop. 2,32,29-30: longo nox una aut altera lusu / consumpta est; Ov. am. 2,3,13: apti lusibus anni. (Vgl. OLD s.v. lusus 1d und ludus 1d: „amorous sport“; Plepelits: ThLL 7,2 [1956-1979],1889,33-52; Pichon 1966, 192; s. auch Lal. 24,15.) In der Vorrede an den Leser wird der ganze Gedichtzyklus programmatisch als „Spiel“ bezeichnet; s. Ad Lect.: ludicro carmine; haec animi causa lusimus. (S. auch den Komm. dort.) Schon in einem früheren Gedicht gab Daphnis zu, misstrauisch zu sein, wenn Lalage nicht mit ihm zusammen ist (Lal. 14,19-20). Auch die Erwähnung zweier Rivalen am Schluss des vorliegenden Gedichtes (20-24) spricht dafür, dass Daphnis befürchtet, Lalage sei bei einem anderen Mann. • 2 quod … revisas Inhaltlich und grammatisch wäre ut zu erwarten. Im Spätlateinischen kann jedoch auch quod als Konjunktion eines Konsekutivsatzes gebraucht werden. Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 279, § 192, Anm. 6. • 3-5 Vgl. Longos 4,25,1: ἄπειµι τὰς αἶγας ἄξων ἐπὶ ποτόν , αἵ που νῦν διψῶσαι περιµένουσι τὴν σύριγγα τὴν ἐµήν . Die Schafe wurden mittags zur Tränke geführt; vgl. Varro 2,2,12: pascunt diem totum ac meridiano tempore semel agere potum satis habent. Dass Lalages Schafe großen Durst leiden, deutet darauf hin, dass die gewohnte Zeit bereits deutlich überschritten ist. • 3 miserâ Aktivisch wie z.B. Plaut. Trin. 1087- 1088: ego miserrumis periclis sum per maria maxuma / vectus. (Vgl. OLD s.v. miser 2.) • 4 balatum ingeminant Die Schafe rufen nach der Hirtin. Bei Longos ist das Blöken dagegen Ausdruck der Freude oder Zufriedenheit; als Daphnis und Chloe einmal nicht da sind, liegen die Tiere daher still da, ohne zu weiden oder zu blöken (Longos 1,32,3). ingeminant Dies bezieht sich auf die Häufigkeit und nicht auf die Lautstärke; vgl. z.B. Verg. georg. 410-411: ter gutture voces / aut quater ingeminant; Ov. met. 3,369 (Echo): ingeminat voces. cannam Dieser Name der Panflöte (fistula) ist erst seit Ovid gebräuchlich und in bukolischer Dichtung nur bei Calpurnius Siculus be- <?page no="287"?> Ad Lalagen. Carmen XVIII 287 legt. (Vgl. Bannier: ThLL 3 [1907],262,1-8.) Sowohl das Material für eine fistula kann als canna bezeichnet werden als auch metonymisch die fistula selbst; vgl. z.B. Ov. met. 2,682: dispar septenis fistula cannis; Calp. 2,31: iam levis obliqua crescat tibi fistula canna (Material); Ov. met. 11,171: Pana iubet Tmolus citharae submittere cannas (Flöte). • 5 ducturam Das Motiv, dass die Herde auf den Klang von Musik und speziell auf die Panflöte hört, kommt in verschiedenen Variationen bei Longos vor. Vgl. z.B. 1,30: die Rinder des Dorkon kommen herbei, wenn eine bestimmte Melodie auf der Syrinx erklingt; 2,3,2 (Philetas): βοῶν … πολλῆς ἀγέλης ἡγησάµην µόνῃ µουσικῇ ; 4,15: die Herde reagiert jeweils mit bestimmten Handlungen, wenn Daphnis unterschiedliche Melodien auf seiner Flöte spielt. Das Führen zur Tränke ist dort allerdings nicht aufgeführt. fluvios Der Plural steht synekdochisch für das Wasser eines Flusses. (Vgl. OLD s.v. fluvius c.) • 6 ego … nostro Die beiden Pronomina am Anfang und Ende des Verses betonen, dass Daphnis („ich! “) Dinge erledigt, die eigentlich Lalages Aufgabe gewesen wären. (S. auch V. 4-5: tuam cannam … requirunt.) ego Da zwei Kürzen in der äolischen Basis vermieden werden, sollte die zweite Silbe lang gemessen werden (so gelegentlich in der Komödie, sonst sehr selten; vgl. OLD s.v. ego). bisque … quaterque Es werden oft konkrete Zahlen gesetzt, um die häufige Wiederholung einer Handlung auszudrücken. Bei Nennung zweier Multiplikativa stehen jedoch üblicherweise zwei aufeinanderfolgende Zahlen wie z.B. terque quaterque. (Vgl. OLD s.v. quater.) pedo S. den Komm. zu Lal. 6,38: pedum. • 7 uxores olidi nimis mariti Vgl. Hor. carm. 1,17,7: olentis uxores mariti. Zur Antonomasie „Gatte der Herde“ für den Ziegenbock vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,17,7 mit zahlreichen Belegen, darunter [Theoc.] 8,49; Verg. ecl. 7,7. • 8-9 Bei Longos (1,10,1-2; s. auch den Komm. zu 1) passen Daphnis und Chloe gegenseitig auf die Herde des anderen auf und treiben verirrte Tiere zurück. Die Stelle erinnert an Lal. 16,29-32, wo ebenfalls erfolgreich eine Ziege zurückgetrieben wurde. (S. besonders die Parallelen vagantem/ divagantes; cogam/ coegi; cum reliquo grege/ ad reliquos greges.) cacumina summa Vgl. Verg. Aen. 6,678: summa cacumina. S. auch Lal. 16,46: summa culmina mit Komm. divagantes Nachklassisch; vgl. Hofmann: ThLL 5,1, (1909-1934),1568,31-49. • 10-14 Bei jedem Geräusch glaubt Daphnis, Lalages Schritte zu hören. Zum Motiv vgl. Tib. 1,8,65-66: dum mihi venturam fingo, quodcumque movetur, / illius credo tunc sonuisse pedes; Ov. epist. 19,53-54: auribus incertas voces captamus et omnem / adventus strepitum credimus esse tui (zu ähnlichen Motiven vgl. Rosati 1996 zu Ov. epist. 19,53-54); in der neulateinischen Literatur z.B. Joh. Sec. Eleg. 2,2,21-22: quemcumque movet strepitum levis aura per aedes, / dilectos dominae suspicor esse pedes. (S. auch die Einleitung.) • 10-11 Vgl. Verg. ecl. 1,74-75: non ego vos [sc. capellas] … / dumosa pendere procul de rupe videbo; Ov. Pont. 1,8,51: pendentes … rupe capellas. cum Iterativ. Bei wiederholten Handlungen der Vergangenheit kann cum bereits in klassischer Zeit mit <?page no="288"?> 3 Kommentar 288 Konjunktiv Imperfekt bzw. Plusquamperfekt stehen. (Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 206-207, § 182,8.) capellae Daphnis und Lalage weiden Schafe (s. z.B. V. 5) und Ziegen, ohne dass sich wie bei Longos jeweils eine Herde einer Person zuordnen ließe. breves myricas Vgl. Verg. ecl. 4,2: humiles… myricae. Clausen (1994, z. St.) merkt an, dass Vergil die Tamarisken von Theokrit (1,13) übernommen und zum Symbol seiner bukolischen Poesie gemacht habe, aber diese Pflanzen möglicherweise selbst gar nicht kannte. Die Büsche bzw. kleinen Bäume seien nicht besonders niedrig. Servius kommentiert (ecl. 4,2): myricae virgulta sunt humillima et sterilia. Da Schoonhoven Vergil und Servius gelesen hatte, aber gewiss aus eigener Anschauung keine Tamarisken kannte, ist sein Irrtum hier verständlich. • 12-13 favoniusve leni … aurâ Ein milder Westwind. Favonius ist der lateinische Name des Zephyr; vgl. z.B. Plin. nat. 18,337: favonius … zephyrus Graecis nominatus. (S. dazu den Komm. zu Lal. 15,11-12.) Zur Formulierung vgl. Catull. 64,84: lenibus auris; Ov. met. 9,661: sub adventu spirantis lene favoni. S. auch Lal. 29,18: leni zephyro. • 15 iam venis Zum mimetischen Charakter des Gedichtes s. die Einleitung. Im Gegensatz zu V. 3 ist iam hier bloße Angabe des Zeitpunktes. (Vgl. OLD s.v. 1a.) venis Lalages Ankunft ist das zentrale Thema des Gedichtes, was durch das Polyptoton adventum - venis am Übergang zwischen den beiden Teilen betont wird. (Zu den Abschnitten des Gedichtes und ihrem Verhältnis zueinander s. die Einleitung.) modò In den beiden vorigen Gedichten (16 und 17) hatte Daphnis davon erzählt, dass Lalage zugänglicher war. • 16 Der Vers bezieht sich eng auf Lal. 16; s. bes. 16,13-14: tu contulisti gaudia pectori, / mecum dolentes exhilaras greges. (S. dort auch den Komm. zu contulisti.) praesens Dies kann von Menschen, besonders aber von Göttern gesagt werden, deren Anwesenheit als hilfreich oder wohltuend empfunden wird. (Vgl. OLD s.v. praesens 3.) Zur Vergöttlichung der Geliebten s. die Kommentare zu Lal. 16,3-4: veneror und 16,13-16. • 17-24 Etliche Indizien weisen darauf hin, dass sich die Verse poetologisch deuten lassen. Zunächst fällt auf, dass Schoonhoven durch die Nennung des Galesus eine dezidiert metapoetische Passage des Properz aufruft; vgl. 2,34,67-72: tu [sc. Vergili] canis umbrosi subter pineta Galaesi / Thyrsin et attritis Daphnin harundinibus. (…) felix, qui vilis pomis mercaris amores! / huic licet ingratae Tityrus ipse canat. Auch bei Schoonhoven kommen die Hirten Thyrsis und Tityrus vor, dazu Daphnis als Sprecher. Der Name Tityrus steht sehr häufig als Chiffre für Vergil. Dies soll bereits für Vergils Eklogen gelten; vgl. schon Serv. ecl. 1,1: … hoc loco Tityri sub persona Vergilium debemus accipere; non tamen ubique, sed tantum ubi exigit ratio. Auch für die zitierte Stelle bei Properz wird diese Identifikation angenommen. (Vgl. z.B. Enk 1962 und Butler/ Barber 1964 jeweils z. St.) Auch in späterer Bukolik wird auf Tityrus-Vergil als Archeget der römischen Hirtendichtung verwiesen. Vgl. z.B. Calp. ecl. 4,62-64: Tityrus hanc [sc. fistulam] habuit, cecenit qui primus in istis / montibus Hyblaea modulabile carmen <?page no="289"?> Ad Lalagen. Carmen XVIII 289 avena. - magna petis, Corydon, si Tityrus esse laboras; zur Identifikation von Tityrus und Vergil weiter 4,160-163: tu mihi talis eris, qualis qui dulce sonantem / Tityron e silvis dominam deduxit in urbem / ostenditque deos et „spreto“ dixit „ovili / Tityre, rura prius, sed post cantabimus arma.“ Das Motiv der Flöte des Tityrus, die für die Dichtung Vergils steht, wird in der Frühen Neuzeit wieder aufgenommen. So beschreibt Sannazaro in seinem Hirtenspiel Arcadia, 519 dass die Flöte des Mantuaners Tityrus lange Zeit an einem Baume gehangen habe, ehe Sincero (= Sannazaro) sie nun wieder spiele. (Vgl. Schmidt 1987, 249.) Schoonhoven nennt Tityrus noch an zwei weiteren Stellen des Gedichtzyklus (Lal. 23,25 und 25,37), wo ebenfalls jeweils eine Identifikation mit Vergil wahrscheinlich ist. (S. die Kommentare dort.) Zudem beschreibt er in einem Gedicht im Anhang des Emblembuches (Embl.: Poemata aliquot, S. 229) einen Hirten Tityrus, der seine Ziegen weidet et calamo veteres decantat amores / aemulus Ascraeo vati. Als aemulus des Hesiod aus Askra sieht sich Vergil selbst; vgl. georg. 2,176: Ascraeum… cano Romana per oppida carmen. Dass Daphnis sich hier zu den iugera Tityri begibt, bedeutet also auf metapoetischer Ebene, dass er das „Feld“ der vergilischen Hirtendichtung betritt. (Zur Metapher s. den Komm. zu Praef. 5-8.) Auch die Erwähnung der Kränze, die von den Rivalen geflochten werden, unterstützt die poetologische Deutung, ebenso wie deren Attribut lepidas. (S. jeweils die Kommentare unten.) Wenn man annimmt, dass der Hirtendichter Daphnis hier auch für den Dichter Schoonhoven steht, bliebe die Frage, wer die beiden Rivalen Meliboeus und Thyrsis sind. Meliboeus kommt im Lalage-Zyklus nur hier vor, doch Thyrsis gehört zum festen „Personal“ des Gedichtzyklus. Als Rivale spielt er besonders in den Gedichten 6, 27 und 35 eine Rolle. (S. auch V. 24: aemulis.) Dass Meliboeus und Thyrsis die Kränze (= Gedichte) am vorigen Abend flochten (s. den Komm. zu modo), lässt meines Erachten nicht darauf schließen, dass Daphnis (Schoonhoven? ) hier eine Dichtungstradition aufnimmt, die lange zurückliegt. Vor Sannazaro (s.o.) hing die „Flöte Vergils“ während des gesamten Mittelalters am „Baume“ und wurde erst von ihm wieder gespielt, doch zur Zeit Schoonhovens gab es längst eine rege Produktion neulateinischer Hirtendichtung. Es ist also davon auszugehen, dass es sich bei „Meliboeus“ und „Thyrsis“ um Zeitgenossen handelt, mit denen „Daphnis“ wetteifert. Alle drei bewegen sich dabei auf dem „Feld“ vergilischer Bukolik. Man könnte dabei zum Beispiel an Simon Langius und Nicolaus Goutswaert denken, denen Schoonhoven den Lalage-Zyklus widmet, wobei er sie ausdrücklich auffordert: precor, ut … simile quid tentetis (Ded.). Zumindest von Langius wissen wir, dass er ebenfalls dichtete, denn eines der Ehrengedichte für Schoonhovens Poemata antehac non edita stammt von ihm. (S. dazu Kap. 1.1.2.) Doch hatte Schoonhoven auch andere Freunde, von denen er 519 Dieses italienische Werk hat Schoonhoven jedoch wahrscheinlich nicht direkt gekannt. <?page no="290"?> 3 Kommentar 290 selbst sagt, dass er gemeinsam mit ihnen dichte. So ist eine Ode der Varia Carmina an einen in der Ferne weilenden Studiengenossen gerichtet (Ad Petrum Besemerum in studiis suis commilitonem carissimum, S. 32), dessen Rückkehr Schoonhoven ersehnt, damit man sich wieder gemeinsam im Gras an einem Flusse sitzend der silvestris Camena widmen könne. • 17 subitò Ein leichter Vorwurf schwingt mit: Man muss sich beeilen, weil es durch Lalages langes Ausbleiben schon so spät geworden ist. potum Vgl. Verg. ecl. 9,24: potum pastas [capellas] age. • 18 aggeres In der Bedeutung „Uferdamm“ z.B. Verg. Aen. 7,106: gramineo ripae … ab aggere; Sil. 10,92: flumineo … aggere. Galesi Die Schreibweise Galesi findet sich bei Statius, silv. 3,3,93. Die Gegend am Galaesus, einem Fluss bei Tarent, war besonders für die dortige Schafzucht berühmt. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1978 zu Hor. carm. 2,6,10-11: dulce pellitis ovibus Galaesi / flumen … petam.) Schoonhoven wählt den Fluss offensichtlich aufgrund der Verbindung zur Bukolik und insbesondere auch wegen der poetologischen Implikation. (S. den Komm. zu 17-24.) Insgesamt spielt der Gedichtzyklus nicht an einem einheitlichen Ort; so sitzt Daphnis in Lal. 5,3 an der Isula, d.h. der IJssel bei Gouda, dann wieder werden Berge erwähnt, die weder in Holland noch direkt bei Tarent zu finden sind. Wir haben es also mit einer Phantasielandschaft zu tun, in die gelegentlich reale Orte integriert werden. S. dazu Kap. 1.2.1.2 c. • 19-20 deinde Dein wird zu einer Silbe zusammengezogen wie z.B. Catull. 5,7-10 (im selben Versmaß). iugera Hier in der allgemeinen Bedeutung „Land.“ (Vgl. OLD s.v. iugerum b.) Zur poetologischen Implikation s. den Komm. zu 17-24. Tityri … Meliboeus … Thyrsis Klassische Hirtennamen, die schon bei Theokrit und Vergil häufig vorkommen; vgl. z.B. Theoc. 3,2 (Tityros), Theoc. 1 (Thyrsis als Dialogpartner); Verg. ecl. 1 (Tityrus und Meliboeus als Dialogpartner); Verg. ecl. 7 (Thyrsis als Dialogpartner). Zur Bedeutung und Funktion der Namen s. den Komm. zu 17-24. • 21 iunxerunt In Bezug auf Kränze scheint iungere nicht belegt zu sein, doch kann das Verb für das Verfertigen verschiedener Gegenstände gebraucht werden (z.B. von der fistula; vgl. Tib. 2,5,32; Ov. met. 1,711-712). lepidas In der Dedicatio erhielten die Musen dieses Attribut, das auf das hellenistische Stilideal weist. (S. den Komm. zu Ded.: lepidas.) Dass hier die Kränze als lepidae bezeichnet werden, stützt also die poetologische Deutung der Verse. (S. den Komm. zu 17-24.) modò Vermutlich „gestern.“ Es kann nicht am selben Tag gewesen sein, denn erstens ist es zwar spät geworden, aber sicherlich führen Daphnis und Lalage die Herden nicht im Dunklen zur Tränke, und zweitens wäre nicht verständlich, warum Meliboeus und Thyrsis die Kränze liegenlassen mussten, Daphnis sie dagegen mitnehmen kann. corollas Zur poetologischen Bedeutung des Kranzes s. den Komm. zu Lal. 1,13 und die Einleitung zu Lal. 1. S. auch den Komm. oben zu 17-24. • 22 vesperus Zur Form s. den Komm. zu Lal. 6,45. iubebat S. Lal. 16,50: iubent mit Komm. • 23 mecum rapiam Brachylogie für <?page no="291"?> Ad Lalagen. Carmen XIX 291 „ich raube und nehme mit mir.“ • 24 invidentibus aemulis Vgl. OLD s.v. aemulus 2 2: „A rival in love“; z.B. Catull. 71,3: aemulus iste tuus, qui vestrum exercet amorem; Ov. rem. 768. Das Motiv des Neides von Rivalen kommt öfter vor; s. Lal. 35,10.13; Eleg. 1,15.20; 2,32. Der Neid der anderen ist dabei vor allem Zeichen des eigenen Glückes. Vgl. auch Schoonh. Embl., S. 191: videte nunc … quam praestet esse invidiosum quam miserabilem (Schoonhoven zitiert dazu Plaut. Truc. 743-746; vgl. bes. 746: qui invident egent, illi quibus invidetur, i rem habent). S. auch den Komm. zu Eleg. 1,19-20: invidia. Mit der Erwähnung der Rivalen schließt sich der Kreis zu 1: lusus. (S. den Komm. dort.) Gleichzeitig lässt sich aemulus auch im Sinne der dichterischen Aemulatio deuten. (S. den Komm. zu 17-24.) Ad Lalagen. Carmen XIX Das Gedicht ist aufgrund seiner Kürze sowie der Wahl des Metrums der Gattung des Epigramms zuzuordnen. Innerhalb des Lalage-Zyklus im engeren Sinne ist es das einzige Gedicht in elegischen Distichen, was für einen bewussten Einsatz des Versmaßes spricht. (S. auch Kap. 1.2.4.) In den Amores Pastorales sind außerdem die beiden Elegien am Schluss des Buches im selben Metrum verfasst. Thematisch steht das Epigramm auf den Tod eines Ziegenbocks in der Tradition antiker Tierepikedien. (Vgl. Herrlinger 1930, passim mit großer Textauswahl.) Sie umfassen in der Regel vier bis acht Verse und sind besonders in der Anthologia Palatina (z.B. 7,189-216), aber auch sonst zu finden. Manche dieser Trauergedichte haben die Form von Grabepigrammen. Häufig vorkommende Tiere sind Hunde, Pferde, Heuschrecken, Zikaden, Vögel und Delphine. Um eine gestorbene Ziege geht es in Theokrits sechstem Epigramm, das ansonsten jedoch keine Gemeinsamkeiten mit Schoonhovens Gedicht aufweist. Im Bereich der neulateinischen Literatur sei vor allem auf zwei Epigramme des Navagero verwiesen (Lus. 8: Tod eines Jagdhundes; Lus: 10: Tod eines Hütehundes; jeweils 12 Verse). In Flaminios zweitem Buch der Pastoraldichtung erzählen drei aufeinanderfolgende Epigramme, wie eine treue Ziege der verstorbenen Geliebten Hyella in den Tod folgt (Carm. 4,11-13). In vielen antiken Tierepikedien wird das frühere typische Verhalten des Tieres dem Zustand des Todes kontrastierend gegenübergestellt. Dies geschieht oft in der Form οὐκέτι … ἀλλά (das frühere Verhalten ist nicht mehr möglich, sondern das Tier liegt tot da) oder οὐκέτι … γάρ (das frühere Verhalten ist nicht mehr möglich, denn das Tier ist gestorben). Vgl. z.B. AP 7,200-203 [= HE 2767-2770; 2839-2842; 704-707; 3268-3271]; weitere Beispiele bei Herrlinger 1930, 16-28. Auch Schoonhovens Daphnis beschreibt in der ersten Gedichthälfte das frühere Verhalten des lascivior haedus. In der zweiten Hälfte folgt jedoch keine Darstellung seines Todes, sondern die - wenn <?page no="292"?> 3 Kommentar 292 auch eingeschränkte - Behauptung, dass der Ziegenbock weiterhin zumindest passiv am Leben der Herde teilnehmen wird. Der Gedanke, dass ein Tier nach dem Tod seine Sinneswahrnehmung behalten könnte, ist in antiken Tierepikedien selten; vgl. jedoch den Beginn der „Grabschrift des Jagdhunds Lycas“ (zitiert bei Herrlinger 1930, 20): Ἦ σεῦ καὶ φθιµένας λεύκ ’ ὀστέα τῷδ ’ ἐνὶ τύµβῳ / ἴσκω ἔτι τροµέειν θῆρας , ἄγρωσσα Λυκάς . Schoonhovens Epikedion fügt sich in den Kontext des Liebeswerbens um Lalage. Die wichtigsten antiken Vorbilder hierfür sind das passer- Gedicht Catulls (3) und Ovids Klage um Corinnas psittacus (am. 2,6). Diese beiden parodistischen „Trauergedichte“ sind dadurch in die Liebesdichtung integriert, dass es sich um das Schoßtier der Geliebten handelt. Ebenso war die gestorbene Ziege bei Flaminio (s.o.) in besonderer Weise mit der geliebten Hyella verbunden. Bei Schoonhoven ist dagegen nicht erkennbar, dass Lalage eine besondere Beziehung zu dem haedus gehabt hätte. Die Verbindung zur Liebesthematik wird stattdessen dadurch hergestellt, dass Daphnis Lalage direkt anredet. Diese Sprechersituation ist in einem Epikedion ungewöhnlich. Meistens spricht in der Fiktion entweder das Tier selbst gleichsam aus dem Grabe heraus den Betrachter an, oder das Tier wird angeredet, oder ein unbeteiligter Sprecher berichtet vom Tod des Tieres. Dies gilt auch für Catull. 3 und Ov. am. 2,6, wo jeweils teils in der dritten Person über den toten passer bzw. psittacus gesprochen, teils der Vogel direkt adressiert wird. Bereits durch die Überschrift Ad Lalagen wird deutlich, dass das Gedicht trotz seiner epigrammatischen Form ein integrativer Teil des Gedichtzyklus ist. Lalage ist, ebenso wie der Sprecher Daphnis, vor allem in den jeweils ersten und letzten beiden Versen präsent, und zwar unmittelbar durch Possessivpronomina (mei, tuam), Anrede der Geliebten (Vita, puella) und Verben in der ersten Person (ago, plango) sowie indirekt durch die Erwähnung von Daphnis’ Gesang (cantus) und Lalages Hartherzigkeit (duritiem). Diese beiden Verspaare rahmen den Mitteilteil, der ausschließlich von dem Ziegenbock und seiner Stellung in der Herde handelt: Früher kämpfte er gerne, nun wird er begraben, doch wird er seine Gefährten weiterhin beobachten. Daphnis nimmt sich dabei zurück, und selbst seine Handlung wird unpersönlich ausgedrückt (contumulare iuvat). In den ersten beiden Versen ist jedoch trotz des Bezuges zur Geliebten die wichtigste Aussage, dass der Ziegenbock gestorben ist und nun begraben wird. Erst allmählich wird deutlich, dass es Daphnis nicht wirklich um den haedus geht. Durch die Fiktion, dass der Ziegenbock auch nach dem Tod noch wahrnimmt, was um sein Grab herum geschieht, leitet Daphnis zu seinen eigenen Gesängen über - Gesängen über Lalages Sprödigkeit. Die scheinbare Klage um den Bock (ille) wird fast unmerklich zur Klage über die Hartherzigkeit der Geliebten (tuam). Die beiden Pronomina bilden pointiert den äußersten Rahmen des Gedichtes. Der Übergang von der <?page no="293"?> Ad Lalagen. Carmen XIX 293 Totenklage zur Klage des Liebenden wird dadurch erleichtert, dass die Gattung der Liebeselegie, in deren Versmaß auch dieses Epigramm steht, dem Klagegesang verwandt ist, was volksetymologisch auf eine Ableitung des Namens elegia vom Griechischen ἒ ἒ λέγειν zurückgeführt wurde. (Vgl. Holzberg 2001, 5.) Es fällt auf, dass Schoonhoven für die Liebesklage das Verb plango verwendet, das oft im Kontext der Trauer gebraucht wird, so dass sich auch hierin Totenklage und Liebesklage überlagern. An den beiden anderen Stellen, an denen Daphnis Lalages durities beklagt, steht dagegen queror (Lal. 5,1 und 31,20). Petrus Hofman Peerlkamp zitiert in seiner Vita Belgarum (1822, 321-322) dieses Epigramm als Beispiel dafür, dass Schoonhovens Dichtkunst nicht an die Eleganz des Flaminio heranreiche, dessen Lusus Pastorales, wie Peerlkamp richtig vermerkt, Vorbild für Schoonhovens Amores Pastorales waren. (S. auch Kap. 1.2.2.1.) Ich hoffe jedoch oben gezeigt zu haben, dass Schoonhoven die literarische Form des Epikedions in durchaus origineller Weise behandelt, indem er einerseits die traditionelle Motivik aufgreift (früheres Leben des Bockes, Begräbnis) und andererseits dem Gedicht am Schluss eine unkonventionelle Wendung gibt, die durch die pointierte Rahmung des Gedichtes und die bewusste Verwendung des Verbes plango auch sprachlich gelungen gestaltet ist. Trotz Peerlkamps Kritik ist bemerkenswert, dass noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur Schoonhovens Emblembuch, sondern auch seine lyrische Dichtung bekannt war und gelesen wurde. Zum Epikedion des Lalage-Zyklus gibt es ein Gegenstück in den Varia Carmina (S. 43-45). Der Dichter beklagt dort den Tod seiner Elster (Mortem Picae suae avis rarissimae deplorat). Er stellt sich dabei ausdrücklich in die Nachfolge Catulls, doch weist das Gedicht größere inhaltliche Parallelen zu Ov. am. 2,6 auf. Das Epikedion beginnt pathetisch: descende caelo Musa splendidissimo / cantus ministrans lugubres. Das parodistische Verfahren, einen geringen Gegenstand in gehobenem Ton zu behandeln, wird weiter durchgehalten, etwa wenn der Dichter seine übertrieben gefühlvolle Klage anstimmt, die Vogelwelt aufruft mitzutrauern und die Elster schließlich ins Vogelparadies versetzt. Zudem wird etwa die Sangeskunst der Elster gerühmt (loquelis dulcibus), obgleich die Laute der Elstern in Wirklichkeit gerade nicht besonders angenehm klingen. In den letzten sechs Versen, dem „Epitaph“ der pica, wird das Pathos mit einem Mal von derbem Realismus abgelöst (ich paraphrasiere): „Hier ruhe ich Elster, die bezeugt, was der magister artium, der Bauch, alles vermag - denn während der Abwesenheit meines Herrn bin ich verhungert.“ Ellinger, der das Gedicht als Beispiel für besonders lebensnahe Poesie zitiert, ist die Ironie offenbar entgangen. (Vgl. Ellinger 1933, 286.) Metrum: Elegische Distichen. <?page no="294"?> 3 Kommentar 294 1 ille Zur Rahmung des Gedichtes s. die Einleitung. quondam Auch die Epigramme der Anthologie (s. die Einleitung) beginnen oft mit der Erwähnung dessen, was „einst“ war, wobei in der Regel besondere Fähigkeiten oder bestimmte Gewohnheiten des gestorbenen Tieres hervorgehoben werden. Vgl. hier bes. AP 7,191,1 [= GP 3710]: πάρος (Herrlinger 1930, 27); AP 7,202,1 [= HE 704]: οὐκέτι µ ’ ὡς τὸ πάρος … (Herrlinger 1930, 17). mei … pecoris lascivior haedus Der Genetiv kann als possessivus im weitesten Sinne, d.h. zur Bezeichnung „jede[r] Person oder Sache, der etwas angehört“ (Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 414, § 83,3), erklärt werden. Der Komparativ lascivior steht somit ohne direkten Vergleichspunkt. (Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 475-476, § 225, Anm. 19.) Vgl. auch die ähnlich gewagte Konstruktion e cunctis canibus praestantior Augon (Navag. Lus. 8,7; s. auch die Einleitung und den Komm. zu 3-4). pecoris Der Begriff pecus wird häufiger in Bezug auf Schafe verwendet, doch können auch Ziegen so bezeichnet werden. Vgl. z.B. Verg. ecl. 1,74: ite meae, felix quondam pecus, ite capellae. lascivior Zum Übermut der Ziegen vgl. z.B. Verg. ecl. 2,64: lasciva capella; Hor. carm. 3,13,8: [haedus] lascivi suboles gregis; Ov. met. 13,791: tenero lascivior haedo. S. auch den Komm zu Lal. 10,5: consimilis caprae. Zur erotischen Konnotation s. den Komm. zu Ad. Lect.: lasciva. • 2 Vgl. Ov. am. 2,6,1-2: Psittacus, Eois imitatrix ales ab Indis, / occidit: exequias ite frequenter, aves. (S. auch die Einleitung.) Vita Das an sich konventionelle Kosewort (s. den Komm. zu Lal. 1,13) steht hier in pointiertem Kontrast zum Tod und Begräbnis des Ziegenbocks (occidit; exsequias). Auch in diesem Epikedion wendet sich Daphnis letztlich wieder seinem „Leben“ zu (s. auch den Komm. zu Lal. 14,1-2: Vita … vivere), denn seine Liebe zu Lalage ist das einzige, das wirklich zählt. Zur Wendung des Gedichtes am Schluss s. die Einleitung. Das Wortspiel mit der doppelten Bedeutung von vita wird in Eleg. 1,35-36 noch einmal aufgegriffen. (S. auch den Komm. dort.) decenter Vgl. Ov. am. 2,5,44: maesta decenter erat. • 3-4 Vgl. Navag. Lus. 8,3-4: hac illi [sc. dem gestorbenen Jagdhund] in ripa tumulum frondente sub umbra / erigit: hoc ipso concidit ille loco. (S. auch die Einleitung.) sub platanis Möglicherweise besteht eine Verbindung zu den Kämpfen, die der Ziegenbock zu Lebzeiten am selben Ort austrug. Bei Theokrit versammeln sich die Zuschauer des Kampfes zwischen Kastor und Amykos unter Platanen; vgl. Theoc. 22,76: οἱ δὲ θοῶς συνάγερθεν ὑπὸ σκιερὰς πλατανίστους . Die Belege, die Murr (1969, 14) für die Platane als Baum am Grab des Protesilaos anführt, sind nicht haltbar. 520 Platanen waren also sicherlich keine typischen Grab- 520 Vgl. AP 7,141,3-4 [= GP 923-924, Antiphilos]: σῆµα δέ τοι πτελέῃσι συνηρεφὲς ἀµφικο µεῦσι / Νύµφαι (in der lateinischen Übersetzung: monumentum vero tibi populis obumbratum exornant / Nymphae; es sind also Ulmen oder Pappeln genannt, jedenfalls keine Platanen); Plin. nat. 16,238: sunt hodie ex adverso Iliensium urbis iuxta Hellespontum in Protesilai sepulcro arbores, quae omnibus ex eo aevis, cum in tantum adcrevere, ut Ilium aspiciant, inarescunt rur- <?page no="295"?> Ad Lalagen. Carmen XIX 295 bäume. Im Gegensatz etwa zur Pappel (s. den Komm. zu Lal. 1,6: populus) galt die Platane in der antiken Tradition auch nicht als Baum des Todes und der Unterwelt. Allerdings wurden Platanen, deren Früchte für den Menschen nicht verwertbar sind, steriles genannt (Verg. georg. 2,70; vgl. dazu Erren 2003), und als Baum, an dem sich kein Wein hochranken ließ, war die Platane caelebs (Hor. carm. 2,15,4; vgl. dazu Nisbet/ Hubbard 1978). Die „Unfruchtbarkeit“ mag eine Assoziation mit dem Tod begünstigt haben. Wegen ihres weiten Schattens wurde die Platane auch oft als Teil eines locus amoenus genannt. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1978 zu Hor. carm. 2,15,4: platanusque; in der Bukolik vgl. z.B. Calp. ecl. 4,2: sub hac platano.) Dazu passt, dass der Bock von seinem Grab unter den Platanen aus weiterhin die Hirtengesänge des Daphnis hören wird (7). proelia cornibus uncis … movit Deshalb nennt Daphnis den Ziegenbock lascivior (1). Das Motiv lässt vor allem an Hor. carm. 3,13,4-5 denken: cui frons turgida cornibus / primis et Venerem et proelia destinat. Zur Formulierung vgl. weiter Prop. 2,5,19: taurus ferit uncis cornibus hostem; Ov. met. 14,670-671: movit / proelia. minax movit Alliteration. • 5-7 Trotz des Einschnittes durch den Tod überwiegt die Kontinuität. Der Ziegenbock kann zwar nicht mehr aktiv kämpfen, doch nimmt er weiterhin passiv am Leben der Herde und ihres Hirten teil. Zur Beibehaltung früherer Verhaltensweisen nach dem Tod (hier bes. 7) s. auch Lal. 8,11-12 mit Komm. • 5 In 2-4 beschrieb Daphnis das Begräbnis des Bockes, doch hier muss funera „Tod“ heißen (vgl. OLD s.v. funus 3), denn die Wahrnehmungsfähigkeit müsste selbstverständlich mit dem Tod enden und nicht erst nach der Beerdigung. Die Tautologie defunctis und post funera ist möglicherweise durch die Kontamination eines ovidischen Verses mit zwei Passagen aus Senecas Trostschrift an Polybius entstanden; vgl. Ov. Pont. 1,2,111: si superest aliquis post funera sensus; Sen. dial. 11,5,2: si quis defunctis sensus est; 11,92-93: si nullus defunctis sensus superest, evasit omnia frater meus vitae incommoda (…) Si est aliquis defunctis sensus, nunc animus fratris mei velut ex diutino carcere emissus … gestit. Zu weiteren Parallelen vgl. Helzle 2003 zu Ov. Pont. 1,2,111-112; hier bes. noch Carmen Epigraphicum 1339,7-8: suscipe nun coniunx, si quis post funera sensus, / debita sacratis Manibus officia. sensus Worin die bleibende Sinneswahrnehmung des haedus bestünde, wird im Folgenden durch aspiciet und audiet näher ausgeführt. • 6 aspiciet Im Konditionalsatz fehlt das Verb. Da Schoonhoven im Indikativ fortfährt, ist das konditionale Gefüge indefinit. cominus ire Die Junktur com(m)inus ire wird in der Regel für eine feindliche Annäherung im Kampf oder bei der Jagd gebraucht; vgl. zum Kampf z.B. Verg. Aen. 10, 453-454: desiluit Turnus biiugis, pedes apparat ire / comminus; Prop. 3,1,26; zur Jagd z.B. Ov. fast. 5,175-176: in apros / audet et hirsutos comminus ire leas; Ov. susque adolescunt. (Vorher werden zwar Platanen genannt, eine in Delphi und eine in Arkadien, doch müssen die arbores deshalb nicht ebenfalls Platanen sein.) <?page no="296"?> 3 Kommentar 296 hal. 52 (Tiere untereinander): [animalia] ipsa sequi natura monet vel comminus ire; keine Kampfhandlung dagegen bei Stat. Theb. 2,510-512: [fera] conlustrat campos, si quis concurrere dictis / hospes inexplicitis aut comminus ire viator / audeat. Dass tatsächlich Kämpfe gemeint sind, legt proelia movit (3-4) nahe: Der Ziegenbock kann nun die Kämpfe der anderen Ziegen nur noch betrachten, in denen er sich einst hervorgetan hat. Daneben schwingt auch die Bedeutung von com(m)inus „nahe“ mit, denn von seinem letzten Ruheplatz aus kann der Bock nur sehen, was sich in der Nähe seines Grabes abspielt. socios greges Die Herden, zu denen der haedus einst gehörte. • 7 S. auch Lal. 25,35-36: [sororcula] quae viva solebat, / audit murmura fistulae. Auch dort gibt es eine Fortsetzung des Gewohnten nach dem Tod. (S. den Komm. zu 5-7.) Lalages Schwester ist dabei jedoch in das Elysium versetzt, vielleicht weil die Vorstellung eines himmlischen Lebens nach dem Tod der trauernden Lalage am ehesten Trost zu bieten verspricht. solet Statt des Präsens erwartete man ein Vergangenheitstempus. audire … audiet Das Polyptoton unterstreicht die Kontinuität. (S. den Komm. zu 5-7.) idem Die Konstruktion ist inkonzinn. Es wäre zu erwarten, dass das Relativpronomen quos durch eosdem wieder aufgenommen würde (quos solet cantus audire, eosdem audiet). Auch sachlich wäre dies angemessener, da die Lieder tatsächlich dieselben geblieben sind wie vorher, während der Bock - auch wenn ihm sein Hörvermögen nach dem Tod geblieben sein sollte - nicht mehr derselbe ist. • 8 duritiem S. den Komm. zu Lal. 5,1: duritiem und weiter Lal. 31,20: tuam … duritiem queror. quandò Als temporale Konjunktion steht quando besonders in Iterativsätzen ohne spezielle Zeitangabe. (Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 365, § 208,11.) plango puella Die Alliteration ist onomatopoetisch. Noch deutlicher wird dies in der Vorbildstelle Ov. am. 2,6,3: ite, piae volucres, et plangite pectora pinnis. Zur Klage s. auch die Einleitung. puella Als Anrede Lalages sonst nur in Lal. 18,1. tuam Zur Rahmung des Gedichtes s. die Einleitung. Ad Lalagen. Carmen XX Das Gedicht ist an der Horazode 1,23 orientiert, mit der es in Metrum und Strophenzahl übereinstimmt. Auch das Thema der spröden Geliebten, die mit einem ängstlich flüchtenden Tier verglichen wird, hat Schoonhoven von Horaz übernommen. An herausgehobenen Stellen finden sich wörtliche Anklänge. (S. bes. die Kommentare zu 1 und 5.) Strukturell vertauscht Schoonhoven die zweite und dritte Strophe der Horazode, so dass bei ihm die durch atqui non ego te eingeleitete Strophe, in der Daphnis von sich selbst spricht, durch zwei Strophen auf der Vergleichsebene gerahmt wird. Schoonhovens Gedicht endet in einem „offenen Schluss“ auf der sekundären Ebene des mythischen Vergleiches, eine Technik, die auch Horaz in <?page no="297"?> Ad Lalagen. Carmen XX 297 anderen Gedichten häufig verwendet. (Vgl. Bernsdorff 2005, 2 mit Anm. 5; 3-4.) Das Mädchen, das vor seinem Liebhaber flüchtet, wird von Horaz mit einem scheuen Hirschkalb verglichen, von Schoonhoven dagegen mit Scylla, der Tochter des Nisus. Der Mythos sei kurz zusammengefasst (vgl. bes. Ov. met. 8,1-151; zu wörtlichen Anklängen s. die Kommentare zu 9 und 12): Die Stadt Megara wird von dem kretischen König Minos belagert. Nisus, der König von Megara, hat ein purpurnes Haar, das seine Herrschaft schützt. Seine Tochter Scylla verliebt sich in Minos, raubt ihrem Vater das Haar und verhilft so dem Angreifer zum Sieg. Ihre Hoffnung, dass er sie daraufhin nach Kreta mitnehmen werde, erfüllt sich jedoch nicht. Verzweifelt stürzt Scylla sich ins Meer. Ihr Vater, der sie verfolgt, wird in einen Seeadler (haliaeëtos) verwandelt, Scylla in eine ciris. Uneinigkeit besteht darüber, welches Tier mit der ciris gemeint ist. In der Regel wird sie als Vogel beschrieben (vgl. z.B. Verg. georg. 1,406; Ov. met. 8,150- 151; Ciris 484-488), bei Hygin als Fisch (fab. 198,4). Unter biologischem Gesichtspunkt ist die Variante Hygins zu bevorzugen, da der Seeadler Fische, aber keine Vögel jagt. (Vgl. Bömer 1977 zu Ov. met. 8,151.) Aus Schoonhovens Darstellung geht nicht hervor, ob Scylla ihrem Vater durch die Luft oder im Wasser zu entfliehen versucht, doch legte er sicherlich die Vogel-Version zugrunde, die ihm vor allem durch die Lektüre Ovids vertraut war. Horaz’ Hirschkalb fürchtet sich vor völlig ungefährlichen Dingen. Seine Flucht ist grundlos (vgl. 1,23,4: vano … metu), so wie der Sprecher die Angst der Chloe vor ihm als unbegründet darstellt. Scylla flieht ihren Vater dagegen mit gutem Grunde, d.h. Daphnis wirft Lalage hier vor, sie meide ihn, obwohl er nicht gefährlich sei wie Scyllas Vater. Diese Argumentationsweise entspricht der dritten Strophe der Horazode. Das tertium comparationis, das die Horazode, den Scylla-Mythos und Schoonhovens Gedicht verbindet, ist das Fluchtmotiv. Zudem werden bei Horaz und Schoonhoven Menschen mit Tieren verglichen, und im Scylla- Mythos geht es um Tiere, die einmal Menschen waren. Ansonsten verwundert die Verwendung gerade dieses Mythos jedoch, denn die verwandelte Scylla flieht vor ihrem Vater und nicht vor ihrem Geliebten. Den „missing link“ bildet die Geschichte vom liebenden Apoll und der ihn fliehenden Nymphe Daphne, wie sie Ovid in den Metamorphosen schildert (1,452-567). Schoonhoven verwendet das ungleiche Liebespaar an zwei anderen Stellen des Lalage-Zyklus explizit als Folie für die Beziehung zwischen Daphnis und Lalage (Lal. 10,9-16 und 25,17-20). Hier evoziert er den Mythos durch zwei wörtliche Anspielungen (s. die Kommentare zu 5 und 6). Die Anrede Apolls an Daphne (insbesondere Ov. met. 1,504-507) weist nun einerseits Parallelen zur Horazode 1,23 auf (so schon Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,23,9), anderseits findet sich dort unter mehreren Tier- <?page no="298"?> 3 Kommentar 298 vergleichen der folgende: sic aquilam penna fugiunt trepidante columbae (Ov. met. 1,506). Apoll ist einem Adler gleichgesetzt, Daphne einem ihn fliehenden kleineren Vogel. Die Parallele zum Scylla-Mythos - auch wenn Nisus dort genau genommen in einen Seeadler verwandelt wird und Scylla in eine ciris und nicht in eine Taube - ist offensichtlich. Schoonhoven kombiniert also drei Prätexte miteinander, die bereits durch motivische Ähnlichkeiten und zum Teil sogar direkte Anspielungen untereinander verbunden sind. Das auf ersten Blick recht schlicht wirkende Gedicht zeigt sich bei näherem Hinsehen als ein komplexes Geflecht von intertextuellen Referenzen. Metrum: 3. Asklepiadeische Strophe. 1-2 vitas me, Lalage, non secus ac … Vgl. Hor. carm. 1,23,1: vitas inuleo me similis, Chloe. (S. auch die Einleitung.) Patrem suum steht als Objekt gleichsam ἀπὸ κοινοῦ zu cernens und dem zu ergänzenden vitat. Ohne das Partizip cernens wäre die Struktur des Vergleiches syntaktisch klarer. cernens Scylla sieht ihren Vater herannahen, obwohl er sich klug zu verbergen versucht (3-4: per nubila … vafer). Scylla ist hier die Tochter des Nisus. (Zum Mythos s. die Einleitung.) In Eleg. 1,7-8 nennt Schoonhoven die bekanntere mythische Scylla, das Meerungeheuer neben Charybdis. (S. auch den Komm. dort.) In der Antike werden gelegentlich Elemente der beiden Scylla-Figuren vermischt; vgl. z.B. Ov. am. 3,12,21-22; Verg. ecl. 6,74-77; Prop. 4,4,39-40. (Zu weiteren Belegen vgl. Clausen 1994 zu Verg. ecl. 6,74; Fedeli 1965 zu Prop. 4,4,39-40.) • 3-4 per nubila gyros ducit Vgl. AP 9,10,3-4 [= GP 171-172]: τοὔνεκα καί µιν / αἰετὸς ἐκ νεφέων ὀξὺς ἔµαρψεν ἰδών (quapropter eum / aquila e nubibus acute visum corripuit); zur Formulierung Ov. am. 2,6,33-34: ducensque per aera gyros / milvus. mille vafer modis = Hor. carm. 3,7,12 (ebenfalls am Strophenende). Die Horazode 3,7 ist im gleichen Metrum verfasst wie 1,23 (s. die Einleitung) und Schoonhovens Gedicht. In beiden Horazoden kommt eine Frau namens Chloe vor (1,23,1; 3,7,10), und es beginnt jeweils eine Strophe mit atqui (1,23,9; 3,7,9; auch im vorliegenden Gedicht V. 5). In 3,7 ist Chloe eine potentielle Rivalin, so dass auch dort ein erotischer Kontext gegeben ist. Der Name der beiden horazischen Prätexte bereitet zudem die Longos-Rezeption im folgenden Gedicht 21 vor, da die Protagonistin des Romans ebenfalls Chloe heißt. Schoonhoven hat offenbar die Verbindung von Hor. carm. 1,23 und der dritten Strophe von carm. 3,7 gesehen und die Junktur mille vafer modis an dieser Stelle bewusst übernommen. Sowohl vafer als auch mille modis sind Ausdrücke aus der Komödiensprache. Vafer kommt in den Oden des Horaz nur an dieser Stelle vor, und die Junktur mille modis ist vor Horaz nur bei Plautus (Trin. 264) belegt. (Vgl. Nisbet/ Rudd 2004 zu Hor. carm. 3,7,12.) vafer Nisus ist schlau, da er versucht, sich ungesehen durch die Wolken zu nähern. Scylla sieht ihn jedoch trotzdem (2: cernens). • 5-8 Umrahmt von dem <?page no="299"?> Ad Lalagen. Carmen XX 299 mythischen Vergleich in der ersten und letzten Strophe spricht Daphnis hier von sich selbst. Der Hirte erscheint dabei in seiner gewohnten bukolischen Umgebung (bes. 7-8). • 5 atqui non ego te = Hor. carm. 1,23,9. (S. auch die Einleitung.) Atqui hat einen entschuldigenden Ton. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1975 z. St.) non … noxius insequor Vgl. Hor. carm. 1,23,9-10: non … persequor; Ov. met. 1,504 (Apoll und Daphne): non insequor hostis (zur Verbindung der beiden Texte s. die Einleitung); weiter Verg. georg. 1,408: insequitur Nisus. Daphnis betont, dass er Lalage nicht feindlich verfolge - anders als Nisus, der Scylla unbarmherzig verfolgt (9: persequitur). • 6 Vgl. Ov. met. 1,507 (Apoll und Daphne): amor est mihi causa sequendi. (S. auch die Einleitung.) basiolum Im Lalage-Zyklus kommt das Diminutivum nur hier und in Lal. 23,29 vor. An beiden Stellen ist die Form bewusst gesetzt, um die Geringfügigkeit zu verdeutlichen (hier: „nur ein Küsschen“; 23,29: „kaum ein Küsschen“). Das Diminutivum ist in der antiken Literatur nur bei Petron und Apuleius belegt. (Petron. 85,6; Apul. met. 10,21; vgl. Ihm: ThLL 2 [1900-1906],1773,68-72.) In der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit ist es jedoch verbreitet; vgl. z.B. Flam. Lus. Past. 3,3; Joh. Sec. Bas. 10,16; 11,9. causa viae Die Junktur ist häufig; vgl. z.B. Verg. Aen. 9,376; Ov. met. 5,258; 10,23. • 7 hoc me de grege pellit Dass der verliebte Hirte seine Herde vernachlässigt, ist topisch. (S. den Komm. zu Lal. 4,20.) Der Ausdruck de grege wird oft verwendet, wenn ein Tier aus der Herde gemeint ist; vgl. z.B. Verg. ecl. 3,32; Ov. am. 1,8,56; vgl. auch Anacreont. 54,7-8 W.: ταῦρος … / ἐξ ἀγέλης ἐλασθείς . Hier erhalten Daphnis und Lalage trotz des Tiervergleiches jedoch insgesamt keine tierischen Züge. Pellere kann von Menschen ebenso wie von Tieren gesagt werden; s. auch Lal. 13,12: pellerer. • 8 cacumina montium Die Junktur ist häufig; vgl. z.B. Sen. nat. 2,58,3; Dousa d. Ä. Epigr. 2,56,11; Sann. Epigr. 1,15,32: per alta montium cacumina. • 9 genitor = Ov. met. 8,70 (vom Vater der Scylla). persequitur Vgl. Hyg. fab. 198,4: Nisus autem dum filiam persequitur …. S. auch den Komm. zu 5: non … noxius insequor. • 10 vindicias Als terminus technicus bezeichnet vindiciae die „interim possession (of disputed property) granted by the praetor to one or other party in the suit till ownership was finally decided by a iudex“ (OLD s.v. vindiciae a). Danach kann auch der Gegenstand, dessen Besitz umstritten ist, vindiciae heißen (vgl. OLD s.v. b). Im antiken Sprachgebrauch wird das Wort fast ausschließlich in der Prosa verwendet; das einzige im OLD genannte Gegenbeispiel ist Lucilius (1219). • 11 Vgl. Ov. am. 3,12,21: Scylla patri caros furata capillos. capillum Schoonhoven folgt der Version aus Ovids Metamorphosen, nach der es sich um ein einzelnes Haar handelte. (S. den Komm. zum folgenden Vers.) • 12 Vgl. Ov. met. 8,10: crinis inhaerebat, magni fiducia regni. <?page no="300"?> 3 Kommentar 300 Ad Lalagen. Carmen XXI Das Gedicht weist formal enge Bezüge zum vorigen auf. Metrum und Strophenzahl entsprechen hier wie in Lal. 20 der Form von Hor. carm. 1,23. Auch die wörtlichen Imitationen der Horazode werden an einer Stelle fortgesetzt. (S. den Komm. zu 1.) Inhaltlich wirkt das Gedicht wie eine Antwort auf Daphnis’ beruhigende Worte in Lal. 20,5-8: Lalage, die eben noch vor ihm flüchtete, ist ihm nun näher als je zuvor. Die veränderte Situation kommt jeweils schon in den ersten Worten der Gedichte zum Ausdruck; s. Lal. 20,1: vitas me und dagegen 21,1: tecum. Die Assonanz der Wörter vitas (20,1) und Vita (21,1), die in einem ähnlichen Zusammenhang gesehen werden könnte, ist eher als Zufall zu betrachten, da vitas der Horaz-Imitation geschuldet und Vita ein häufig verwendeter Kosename ist. Einige Wortwiederholungen sind für sich genommen ebenfalls nicht signifikant, da es um Motive geht, die im Lalage-Zyklus ständig vorkommen. Hier ist jedoch eine Häufung von Wiederholungen auf engem Raum gegeben, wobei jeweils die positive Veränderung von Daphnis’ Lage deutlich wird. (S. die Kommentare zu 1-2; 8-10; 10: expetat.) Wenn man die 40 Gedichte des Lalage-Zyklus im engeren Sinne betrachtet, beginnt nun die zweite Hälfte. Dies ist traditionell ein Ort für programmatische Aussagen, so z.B. in Vergils sechster Ekloge und zu Beginn der dritten Buches der Georgica. Schoonhovens Daphnis charakterisiert sich hier noch einmal eindeutig als bukolischer Dichter, der in den Tälern, die in der Praefatio für das „Feld“ der bukolischen Dichtung standen (s. Praef. 5-6 mit Komm.), dem Pan Lieder singt (4). Natürlich sind die Täler auch Teil der bukolischen Landschaft und kommen im Lalage-Zyklus oft einfach als Ort vor, an dem die Hirten ihre Herden weiden. Ebenso sind Gesang und Flötenspiel des Hirten häufige Motive. Pan wird jedoch unter diesem Namen nur noch in Lal. 1 genannt, und zwar direkt nachdem Daphnis sein eigenes Spiel auf der Panflöte erwähnt hatte. Hinzu kommt, dass in der zweiten Strophe des vorliegenden Gedichtes die Geliebte offensichtlich als Muse stilisiert wird. (S. den Komm. zu 5.) Zum Auftakt der zweiten Hälfte erreicht die Beziehung zwischen Daphnis und Lalage eine neue Stufe. Bislang wollte Daphnis vor allem geküsst werden, doch nun genügt ihm das nicht mehr. Die drei Strophen enthalten jeweils ein wichtiges Element der ersten drei Bücher von Longos’ Hirtenroman Daphnis und Chloe (s. auch Kap. 1.2.2.1). Die erste Strophe handelt von den gemeinsamen Tätigkeiten der Hirten. In der zweiten Strophe sieht man Daphnis und Lalage das tun, was Philetas im zweiten Buch Daphnis und Chloe als einzig wirksames Heilmittel gegen das Liebesverlangen empfiehlt (Longos 2,7,7): φίληµα καὶ περιβολὴ καὶ συγκατακλιθῆναι γυµνοῖς σώµασι . Daphnis und Chloe beschränken sich - so wie auch Daphnis und Lalage - zunächst auf Küsse und <?page no="301"?> Ad Lalagen. Carmen XXI 301 Umarmungen, folgen dann aber auch dem dritten Rat, ohne jedoch zum Ziel zu kommen. (S. auch den Komm. zu 10: dulcius.) Der Wunsch der dritten Strophe entspricht dem, was Longos’ Daphnis im dritten Buch von Lykainion lernt. (S. bes. auch den Komm. zu 11: natura magistra.) Das vierte Buch von Longos’ Hirtenroman endet mit der endgültigen Vereinigung von Daphnis und Chloe. Folgerichtig weist Schoonhovens Gedicht nur drei Strophen auf, denn Daphnis wird sein Ziel erst in Lal. 38 erreichen. Ein wichtiger Unterschied zu Longos besteht darin, dass Schoonhovens Daphnis nicht naiv ist. Die „erotische Aposiopese“ in Vers 10 (s. den Komm. dort) bedeutet keine tatsächliche Unkenntnis, sondern nescio quid dulcius ist eine euphemistische Umschreibung. Schoonhoven erlaubt sich in diesem Gedicht eine grammatische Spielerei, indem er die drei Strophen gleichsam „durchkonjugiert“: In der ersten Strophe stehen alle Verben in der ersten Person Singular, in der zweiten Strophe in der zweiten Person Singular, in der dritten Strophe schließlich in der dritten Person. (Den feststehenden Ausdruck nescio quid zähle ich nicht als Verb.) Durch das anaphorische tecum in den Versen 1-3 sowie nobis und meo in 5-6 umfassen die ersten beiden Strophen insgesamt jeweils ein „wir.“ Das heikle Thema der dritten Strophe wird dagegen mit Bedacht unpersönlich formuliert. (S. auch die Kommentare zu 9-12.) Ein ähnliches Spiel mit der Grammatik findet sich bereits in der Antike: Anakreon dekliniert in einem Gedicht (PMG 359) den Namen des Geliebten. In der zu Beginn des 17. Jahrhundert maßgeblichen Anakreon-Edition des Henricus Stephanus ist dieses Gedicht jedoch nicht enthalten, so dass Schoonhoven es wahrscheinlich nicht gekannt hat. Zur Verbindung der Motive „Hirtentätigkeiten“ und „Umarmung“ vgl. auch Tib. 1,2,71-74: ipse boves mea si tecum modo Delia possim / iungere et in solito pascere monte pecus, / et te dum liceat teneris retinere lacertis, / mollis et inculta sit mihi somnus humo. Metrum: 3. Asklepiadeische Strophe. 1-2 In Lal. 20,7-8 treibt Daphnis’ Wunsch ihn von der Herde fort (de grege pellit) über die Gipfel der Berge (per cacumina montium); hier weidet er die Herden (greges pasco) zusammen mit Lalage in den Bergen (montibus aviis). Zur Verbindung der beiden Gedichte s. auch die Einleitung. montibus aviis = Hor. carm. 1,23,2. (S. auch die Einleitung.) regredior tecum … domum Zuhause müssen Daphnis und Lalage sich allerdings trennen (s. Lal. 14,9-10; 16,49-50), so dass hier nur gemeint sein kann, dass man den Heimweg gemeinsam zurücklegt. • 3 vallibus imis = Verg. georg. 1,374. • 4 Vgl. Longos 2,3,2: Φιλητᾶς … ἐγώ , ὃς πολλὰ µὲν ταῖσδε ταῖς Νύµφαις ᾖσα , πολλὰ δὲ τῷ Πανὶ ἐκείνῳ ἐσύρισα . Pan als Erfinder der Panflöte ist in besonderer Weise mit der Hirtenmusik verbunden. (S. den Komm. zu Lal. 1,17: Pana.) Gleichzeitig gehört er zu den lüsternen Waldgottheiten, so dass <?page no="302"?> 3 Kommentar 302 durch die Nennung des Pan bereits der Wunsch der dritten Strophe vorbereitet wird. • 5 Die Geliebte wird hier als Muse stilisiert (s. auch die Einleitung). Dazu trägt zum einen die Wortwahl bei: So sieht in Hor. carm. 4,3 die Muse Melpomene ihre Schützlinge placido lumine an, und in Ov. ars 3,547-548 werden die Mädchen aufgefordert, sich Dichtern gefällig zu zeigen, denen auch die Musen gewogen seien (Pierides favent). Zwar kann favere nicht nur von Musen und anderen Göttern gesagt werden, sondern auch von Menschen, doch kann dies als kumulatives Argument zählen. Wichtiger ist jedoch die Bezeichnung von Lalages Blick als blandiloquus. In der berühmten Passage in Lukrez’ erstem Buch, in der er die poetische Form seines Lehrgedichtes mit dem Honig vergleicht, mit dem man Kindern bittere Medizin versüße, wird das von den Musen inspirierte Lied suaviloquens genannt (Lucr. 1,945-947: volui tibi suaviloquenti / carmine Pierio rationem exponere nostram / et quasi musaeo dulci contingere melle). Die Wörter blandiloquus und suaviloquens sind beide selten und sehr ähnlich hinsichtlich ihrer Form und Bedeutung, so dass man annehmen kann, dass Schoonhoven hier an Lukrez dachte. Dies wird noch dadurch gestützt, dass Gedicht 21 in mehrfacher Hinsicht an Gedicht 3 erinnert. Auch dort musizierte Daphnis in den grünen Tälern (Lal. 3,9-12), während Lalage bei ihm lag und ihn küsste. Lalages Kuss wurde dabei als Inbegriff der Süße beschrieben, und die Erwähnung von Honig in diesem Zusammenhang, ebenso wie Daphnis’ Vergleich seiner selbst mit einer Zikade, deutete auch dort auf eine poetologische Ebene. (S. Lal. 3,49-56 mit Kommentaren.) So erschien Lalage in Gedicht 3 als des Dichters Daphnis Muse, ihre Honigküsse waren seine musische Inspiration. Aufgrund der engen Parallelen der zweiten Strophe von Gedicht 21 zu Gedicht 3 ist anzunehmen, dass Lalage tatsächlich auch hier als Muse stilisiert werden soll. Dazu passen auch die dulcissima basia (8), die an die besonders süßen Honigküsse aus Gedicht 3 erinnern. blandiloquis luminibus Blandiloquus wird in der antiken Literatur nur von der Sprache gebraucht. Vgl. z.B. Plaut. Bacch. 1174: ut blandiloquast! ; Sen. Ag. 289: voce blandiloqua. (Vgl. Münscher: ThLL 2 [1900-1906], 2028,55-62.) Es gibt jedoch den Topos der „sprechenden Augen“ oder der „sprechenden Miene“; vgl. z.B. Cic. leg. 1,27: oculi nimis arguti, quem ad modum animo affecti simus, loquuntur; Ov. am. 1,4,17: vultum… loquacem. (Vgl. Plepelits: ThLL 7,2 [1956-1979],1667,81-1668,21.) • 6 gremio … cubas meo Abbildende Wortstellung. (S. den Komm. zu Lal. 3,31.) Zur erotischen Bedeutung von cubare s. den Komm. zu Lal. 3,9: cubans. • 7 cervicemqué retorques Der Wortlaut ist sehr eng an Horaz angelehnt; vgl. carm. 2,12,25- 26: cum flagrantia detorquet ad oscula / cervicem. Bei Horaz wendet das Mädchen zwar den Kopf ab, doch werden in der Liebesdichtung auch Küsse auf den Nacken positiv bewertet. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1978 z. St. mit weiteren Belegen.) Die Geste des Zurücklehnens zum Küssen findet sich bei Catull; vgl. 45,10-12: Acme leviter caput reflectens / et dulcis pueri ebrios <?page no="303"?> Ad Lalagen. Carmen XXI 303 ocellos / illo purpureo ore suaviata. (Vgl. dazu auch die Ausgangssituation 45,1-2: Acmen Septimius suos amores / tenens in gremio …; s. hier V. 6.) • 8-10 In Lal. 20,6 wünscht Daphnis sich nur ein basiolum; hier bekommt er sogar dulcissima basia und ist dennoch nicht zufrieden. (Zur Verbindung der beiden Gedichte s. auch die Einleitung.) Dieser Widerspruch lässt sich damit erklären, dass auf die Erfüllung eines Wunsches oft nicht Zufriedenheit, sondern der nächste Wunsch folgt. Andererseits zeigt sich, dass Daphnis’ scheinbare Harmlosigkeit (Lal. 20,5: non noxius) in Wirklichkeit eine besondere Schläue darstellt, d.h. er ist eigentlich vafer wie Scyllas Vater (Lal. 20,4). • 8 ad Lalage ist Daphnis zugewandt; s. auch V. 6: arrides. dulcissima S. V. 10: dulcius mit Komm. • 9 mentem Daphnis vermeidet den Zusatz des Possessivpronomens meam, so dass die ganze dritte Strophe unpersönlich formuliert ist. (S. auch den Komm. zu 10: expetat.) Die mens erscheint im Lalage-Zyklus häufig als Sitz erotischer Begierde; s. bes. noch Lal. 13,7; 22,12; 37,12. Vgl. dazu z.B. Catull. 64,330: quae tibi flexanimo mentem perfundat amore. (Vgl. OLD s.v. mens 6.) decet Bei „Ausdrücken der Billigkeit und Angemessenheit“ steht im Lateinischen der Indikativ, während im Deutschen der Konjunktiv gebraucht wird; vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 171, § 44, 2b. • 10 nescio quid Das sittsame Verschweigen des eigentlich Gemeinten nennt McKeown „erotic ἀποσιώπησις .“ (1989, zu Ov. am. 1,5,25: cetera quis nescit? , dort mit weiteren Belegen; s. auch den Komm. zu Lal. 6,19-24.) dulcius Die Küsse sind so süß, wie Küsse sein können (s. V. 8: dulcissima basia), aber es gibt noch etwas Besseres. Bei Longos erkennen Daphnis und Chloe, nachdem sie sich geküsst und umarmt haben, dass noch etwas fehlt. Sie beschließen, auch dem dritten Rat des Philetas zu folgen und sich nackt zueinander zu legen, denn: πάντως ἐν αὐτῷ τι κρεῖττων ἔσται φιλήµατος . (Longos 2,9,2; s. auch die Einleitung.) Erst Lykainion zeigt Daphnis jedoch, was τὰ ἔρωτος ἔργα wirklich sind (Longos 3,17,2): τὰ δέ ἐστιν οὐ φίληµα καὶ περιβολὴ καὶ οἷα δρῶσι κριοὶ καὶ τράγοι . ἄλλα ταῦτα πηδήµατα καὶ τῶν ἐκεῖ γλυκύτερα . expetat Durch die Wahl der dritten Person distanziert Daphnis sich verschämt von seinem erotischen Verlagen. In der ganzen dritten Strophe wird keine explizite Verbindung zum Ich-Sprecher hergestellt. (S. auch die Kommentare zu 9: mentem und 11-12: illam.) Die Wiederaufnahme desselben Verbs wie in Lal. 20 jeweils am Ende von V. 10 in gleicher Versposition ist auffällig. Zur Verbindung der beiden Gedichte s. auch die Einleitung. • 11-12 natura magistra … docet Bei der Initiation von Longos’ Daphnis ist Lykainion die Lehrmeisterin. Den endgültigen Vollzug des Geschlechtsaktes braucht sie Daphnis jedoch nicht zu erklären: αὐτὴ γὰρ ἡ φύσις λοιπὸν ἐπαίδευε τὸ πρακτέον . (Longos 3,18,4.) Schoonhovens wörtliche Übersetzung des ἡ φύσις ἐπαίδευε als natura docet legt nahe, dass auch Schoonhovens Daphnis sein erotisches Verlangen auf einen Trieb zurückführt, der „von Natur aus“ gegeben ist. Morgan (2004, zu Longos 3, 18,4) macht darauf aufmerksam, dass φύσις auch die Geschlechtsteile be- <?page no="304"?> 3 Kommentar 304 zeichnen könne. Dieselbe Bedeutung kann auch das lateinische Wort natura annehmen. Vgl. z.B. Apul. met. 3,24 (Verwandlung in einen Esel): nec ullum miserae reformationis video solacium, nisi quod mihi … natura crescebat. (Vgl. OLD s.v. natura 15: „the external organs of generation, the private parts.“) Eine solche Doppeldeutigkeit ließe sich mit der allgemeineren Auffassung der natura als „natürlichem Trieb“ gut vereinbaren. Bei Longos versuchen Daphnis und Chloe zunächst, die Natur zu imitieren, indem sie Ziegenböcke und Widder nachahmen. (Longos 3,14; vgl. auch Theoc. 1,86-91.) Dass Schoonhoven durch natura magistra … docet auch darauf anspielt, schließe ich jedoch aus mehreren Gründen aus: Zum einen scheitert diese Form der Naturimitation bei Longos, so dass die Natur in diesem Falle gerade nicht als Lehrmeisterin - zumindest nicht als erfolgreiche Lehrmeisterin - fungiert. Ein zweites Argument ist dulcius (10), das Longos’ γλυκύτερα aufnimmt. (S. den Komm. dort.) Mit dem „Süßeren“ bezeichnet Lykainion bei Longos ausdrücklich etwas, das besser ist als das, was die Widder und Ziegenböcke treiben. Schließlich sollte man auch beachten, dass Schoonhoven zwar erotische Liebesdichtung schreibt, aber dennoch als christlicher Autor bestimmte Grenzen nicht ohne weiteres überschreitet. Schon die heiter-frivole Darstellung einer Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau bedarf der Rechtfertigung. (S. Ded. und Ad. Lect.) Bereits die homoerotische Liebe wird zum Beispiel von Eobanus Hessus dezidiert als Thema seiner bukolischen Dichtung ausgeschlossen (Buc. Id. ded. 69-70: non tamen hic aliquem frustra cantamus Alexim; / igne puellari carmina nostra calent), und das Nachahmen von Schafen und Ziegen wäre sicherlich als „abartig“ empfunden worden. illam Nicht zufällig steht hier das Pronomen der dritten Person, durch das eine größere Distanz ausgedrückt wird, als es bei hanc der Fall gewesen wäre. (S. die Kommentare zu 9: mentem und 10: expetat.) quottidie Die zweite Silbe des Wortes ist lang, doch wäre hier metrisch eine Kürze gefordert. Ad Lalagen. Carmen XXII Schoonhoven greift hier erstmals explizit den Topos der Liebe als Krankheit auf. Ein Ansatz findet sich in Lal. 10,1-4, wo Lalage das ersehnte levamen genannt wird. (S. auch den Komm. zu 11-14.) Bereits in der antiken Literatur bezeichnet sich der Liebende oft als „krank.“ Longos’ Daphnis zählt alle „Symptome“ auf, an denen er nach Chloes erstem Kuss leidet, und ruft schließlich aus: ὢ νόσου καινῆς (Longos 1,18,2). Die römischen Dichter betonen zumeist die Unheilbarkeit der Liebe durch herkömmliche Medikamente; vgl. z.B. Verg. ecl. 10,60: tamquam haec sit nostri medicina furoris; Prop. 2,1,57-58: omnes humanos sanat medicina dolores; / solus Amor morbi non habet artificem; Prop. 2,4,7-8; Ov. epist. 5,149: me miseram, quod amor non est medicabilis herbis! (ähnlich Ov. met. 1,523). Die Krankheit wird <?page no="305"?> Ad Lalagen. Carmen XXII 305 dabei in der Regel nicht genauer benannt. Schoonhoven vergleicht die Liebe dagegen speziell mit einem Fieber, was in der Antike nur selten vorkommt. (Vgl. jedoch Theoc. 30,1-2; s. den Komm. zu 3-4: febris.) Dadurch erhält er die Möglichkeit, den Topos der Liebe als Krankheit mit dem Motiv der Liebesglut zu verknüpfen, das er im Lalage-Zyklus auch sonst oft verwendet. Als Heilmittel gegen die Liebeskrankheit gilt vor allem der Gesang. (Vgl. z.B. Theoc. 11,1-3 oder den Refrainvers Nemes. 4,19 [u.a.]: cantet amat quod quisque: levant et carmina curas.) Longos’ Philetas nennt dagegen als φάρµακον Küsse, Umarmungen und Beieinanderliegen. (Longos 2,7,7; zitiert in der Einleitung zu Lal. 21.) Von dieser Methode verspricht sich auch Schoonhovens Daphnis den ersehnten Heilungserfolg. Wie schon in Lal. 21 fehlt gegenüber Longos jedoch der ausdrückliche Zusatz, dass man nackt ( γυµνοῖς σώµασι ) beieinanderliegen müsse. Auch im Sprichwort findet sich die Weisheit, dass nur der oder die Geliebte einen Liebenden heilen könne; vgl. Publil. sent. A 31: Amoris vulnus idem sanat, qui facit. Während Daphnis hier lediglich theoretisch beschreibt, was ihm helfen könnte, wird er in Lal. 37 von einer gelungenen Heilung durch Lalages Küsse erzählen. Insgesamt drückt sich Daphnis nach der deutlichen Anspielung in Lal. 21,9-12 nun wieder vorsichtiger aus. Ausdrücklich fordert er lediglich Küsse (15-20), was insofern unverfänglich scheint, als Lalage ihn bereits öfter geküsst hat (zuletzt Lal. 21,7-8). Es wirkt geradezu so, als habe Daphnis sich mit dem in 21,9-12 geäußerten Verlangen zu weit vorgewagt und Lalage erschreckt, oder als sei er erschrocken über den eigenen Mut. Nun hebt er seine Harmlosigkeit hervor, indem er sich z.B. innocens nennt (34) und mit einem Lamm vergleicht (28). Die Metaphern des letzten Teils verweisen jedoch subtil auf weitere erotische Handlungen. (S. bes. den Komm. zu 27-28.) Von besonderer Bedeutung ist das Landschaftsmotiv. Zunächst wird ein locus amoenus geschildert, der die „reale“ bukolische Umgebung bildet (5-10). Gleich darauf dient das dürstende Land als Vergleich für den Seelenzustand des Daphnis (12-14). In einem dritten Schritt wird die Landschaftsbeschreibung metaphorisch auf Lalages Körper übertragen (29-31 und im weiteren Sinne 35: palmite). Das Gedicht ist in ungleich lange glykoneische Strophen gegliedert, denen je ein Pherekrateus als Klauselvers dient. (Zum Metrum s. die Einleitung zu Lal. 3.) In den ersten zwei Strophen (1-10; 4+6 Verse) beschreibt Daphnis seinen momentanen Krankheitszustand, in den nächsten beiden Strophen (11-20; ebenfalls 4+6 Verse) nennt er seinen Wunsch, Lalage zu küssen, und in den letzten vier Strophen (25-37; 4+4+4+5 Verse) malt er die Situation aus, die nach der Erfüllung seines Wunsches einträte. Vosters <?page no="306"?> 3 Kommentar 306 zitiert in einem Aufsatz über das „Love Fever“ die erste Strophe (1997, 301- 303), bietet dazu jedoch nur wenige allgemein gehaltene Anmerkungen. Metrum: Glykoneen / Pherekrateen. 1 undique Hier „am ganzen Körper.“ Vgl. OLD s.v. undique 2b: „on every side or surface, all over, all round.“ • 2 Die Metapher der Liebe als Feuer verwendet Schoonhoven öfter. (S. z.B. Lal. 2 mit Einleitung; vgl. OLD s.v. aestuo 3: „to burn with love or desire.“) flammis tristibus Vgl. Verg. Aen. 7,787: tristibus … flammis. (Vgl. OLD s.v. tristis 7: „[of natural forces]: harsh, grim, savage.“) flammis aestuo Die figura etymologica (zum Ablativ s. den Komm. zu Lal. 31,14-15: tectae tegmine) ist schwer zu übersetzen. • 3-4 Zur Formulierung vgl. [Sen.] Herc. O. 1224-1227: hinc aditum nefas / in membra fecit, abstulit pestis latus, / exedit artus penitus et totas malum / hausit medullas. pestis soror … febris Die Konstruktion ist grammatisch nicht eindeutig, doch wird man pestis als Genetiv lesen, so dass das zusammenstehende pestis soror die Apposition zu febris (Nominativ) bildet. pestis Es muss keine Seuche gemeint sein, sondern pestis kann auch die schwere Krankheit eines Einzelnen bezeichnen. (Vgl. Vosters 1997, 302; OLD s.v. pestis 2b.) Zur Metapher der Liebe als Krankheit s. die Einleitung. Genau genommen beschreibt Schoonhoven die Liebe allerdings nicht als pestis, sondern als Fieber, das Ähnlichkeiten mit einer pestis hat. soror In der Antike wird soror nicht zur Bezeichnung einer „Verwandtschaft“ von Abstrakta verwendet, sondern nur bei konkreten Dingen wie z.B. den Händen. (Vgl. OLD s.v. soror 3.) Auf ersten Blick scheint die bereits homerische Vorstellung, dass Schlaf und Tod Brüder seien, ähnlich zu sein (vgl. z.B. Il. 14,231; 16,672), doch steht dort ursprünglich eine Genealogie der Götter im Hintergrund (vgl. z.B. Hes. Th. 211-212), so dass es sich nicht um reine Abstrakta, sondern um Personifikationen handelt. febris Theokrit (30,1-2) schreibt der Liebe die Eigenschaft eines Quartanfiebers zu: ᾤαι τὼ χαλέπω καἰνοµόρω τῶδε νοσήµατος· / τετόρταιος ἔχει παῖδος ἔρος µῆνά µε δεύτερον . Vgl. auch Caspar Barth, Amphitheatrum Gratiarum 16,104: febre interibit; 16,113: perit febri (Humanistische Lyrik 1997, 884; s. auch den Komm. zu Lal. 5,16: pereo). pallida membra Grammatisch könnte pallida sich auch auf febris beziehen (dann in der Bedeutung „bleich machend“), doch ergäbe das inhaltlich keinen Sinn, weil Fieber für Hitze und folglich für Röte sorgt. Zudem ist febris bereits durch pestis soror näher bestimmt (s.o.), so dass der Satz ausgewogener ist, wenn man das Attribut pallida zu membra zieht. Zur Junktur pallida membra in Bezug auf tatsächliche Krankheit vgl. [Tib.] 3,10,6: neu notet informis candida [varia lectio: pallida] membra color; Ov. epist. 21,16. Die Blässe des kranken Körpers lässt in diesem Kontext natürlich auch an den Topos der Blässe eines Liebenden denken. (S. Lal. 4,34-35: pallore tincta mit Komm.) Schon in der antiken Literatur wird die Blässe vor allem im Zusammenhang mit der Darstellung der Liebe als Krankheit erwähnt. Vgl. <?page no="307"?> Ad Lalagen. Carmen XXII 307 hier bes. Prop. 1,5,21-22.28: nec iam pallorem totiens mirabere nostrum, / aut cur sim toto corpore nullus ego … / mihi nulla mei sit medicina mali; Ov. epist. 12,99 (Medea): ipsa ego, quae dederam medicamina, pallida sedi. • 5-10 Zum locus amoenus s. den Komm. zu Lal. 1,6-12. Hier finden sich insbesondere etliche Anklänge an Hor. epod. 2,23-28: libet iacere modo sub antiqua ilice, / modo in tenaci gramine; / labuntur altis interim ripis aquae, / queruntur in silvis aves, / frondesque lymphis obstrepunt manantibus, / somnos quod invitet levis. • 5-6 somnulus S. Lal. 12,4: somnulo mit Komm. dulci Bezogen auf einen Ort nimmt dulcis eine ähnliche Bedeutung an wie amoenus. (Vgl. Lackenbacher: ThLL 5,1 [1909-1934],2192,68-76.) Vgl. z.B. Stat. silv. 3,2,138: dulce nemus; Mart. 1,49,7. ilice Die Steineiche ist häufiger Bestandteil eines locus amoenus; vgl. z.B. Verg. ecl. 7,1: forte sub arguta consederat ilice Daphnis; Hor. epod. 2,23 (Zitat s.o.); epist. 1,16,9-10: [quid] si quercus et ilex / multa fruge pecus, multa dominum iuvet umbra? ; Calp. 2,12-13. Im Lalage-Zyklus kommt sie nur hier vor. • 7 nil Die anaphorische Aufnahme des nil aus V. 5 bewirkt gleichsam ein „umgekehrtes Zeugma“: Das innere Objekt nil kommt bei iuvare häufig vor (vgl. z.B. Cic. Att. 5,21,12; 11,9,1; Prop. 2,34,30), wohingegen die Verbindung nil recreare ungewöhnlich ist. torrens strepero pede S. den Komm. zu Lal. 1,9: torrens strepero murmure. pede Von fließendem Wasser z.B. Lucr. 5,272: via secta semel liquido pede detulit undas; Verg. Aen. 9,124-125: amnis / … revocat… pedem Tiberinus; Hor. epod. 16,48: levis crepante lympha desilit pede. Der Fluss wird dabei als Gottheit gesehen. (Vgl. Georges s.v. pes II.) • 8 recursitans Eigentlich „immer wieder zurücklaufen.“ Da jedoch eine Landschaftsbeschreibung vorliegt und kein Adynaton, soll das Präfix hier wohl nur den Aspekt der Wiederholung verstärken. Das Intensivum von recursare ist erst in der Spätantike belegt (Mart. Cap. 1,25; vgl. Georges s.v. recursito). • 9 convallis Ein enges Tal; vgl. z.B. Verg. georg. 3,276. S. auch den Komm. zu 29-31. penetralia Vgl. OLD s.v. penetrale 1b: „the innermost part (of a region).“ • 10 pectus … aegrum Die Junktur ist häufig; vgl. z.B. Sen. Herc. f. 1320; Sil. 13,402. S. auch den Komm. zu 32: corporis aegri. • 11-14 Die Wassermetaphorik ist durch die Beschreibung des Flusses in 7-10 vorbereitet. Im Gegensatz zum realen Wasser wäre Lalage in der Lage, Daphnis die ersehnte Linderung zu bringen. Zum Vergleich der Geliebten mit einem erfrischenden Regen und verwandten antiken Motiven s. Lal. 10,1-4 mit Komm. • 11 Im Original wird der Vokativ nicht durch Kommata abgetrennt, so dass mea sich auf Lalage oder auf mens beziehen könnte. Der Vokativ Lalage kann jedoch gut allein stehen, während bei mens ein Zusatz erwünscht ist. Im Gegensatz zu Lal. 21,9 (s. den Komm. dort) gibt es hier keinen Grund, das Possessivpronomen zu vermeiden. • 12-13 mens Zur mens als Sitz erotischer Begierde s. den Komm. zu Lal. 21,9: mentem. anhelat Die Bedeutung „nach etwas verlangen“ ist selten; vgl. hier bes. Anth. 1,1,10,1-2 Shackleton Baily (= 23,1-2 Buecheler/ Riese): pinge, precor, pictor, tali candore puellam / qualem finxit <?page no="308"?> 3 Kommentar 308 Amor, qualem meus ignis anhelat. Vgl. Klotz: ThLL 2 (1900-1906),67,44 s.v. anhelo: sitire, gestire; OLD s.v. anhelo 6: „to thirst for, pant after.“ aestuans tellus Vgl. z.B. Verg. georg. 1,107: ager … aestuat. (Vgl. OLD s.v. aestuo 2a: „to be excessively hot, swelter [of places, conditions, etc.]“) Das in V. 2 metaphorisch gebrauchte Verb aestuare wird hier auf der Ebene des Vergleiches wiederholt. lampade Cynthii = Lal. 2,3. (S. den Komm. dort.) • 16-17 dulciculis Das Adjektiv wird in der Antike nur in Bezug auf Speise und Trank verwendet. Vgl. z.B. Plaut. Poen. 390: dulciculus caseus; Cic. Tusc. 3,46: dulciculae potionis aliquid. (Vgl. Lackenbacher: ThLL 5,1 [1909- 1934],2187,13-19.) An anderer Stelle vergleicht Daphnis Lalages Küsse mit Nektar, der Speise der Götter (Lal. 3,53-56). Dort vermeint er außerdem, Bienen hätten Lalage den Mund mit Honig gefüllt (Lal. 3,51-52). inhaerere Das Präfix drückt besondere Intensität aus. Vgl. Hofmann/ Ehlers: ThLL 7,1,3 (1954),1587,40-41, s.v. inhaereo: alicubi … haerere, infixum esse, fere ita ut avelli non possit; z.B. Ov. trist. 1,3,79: coniunx umeris abeuntis inhaerens. Für die Verwendung in Bezug auf Küsse sehe ich keinen antiken Beleg. labellulis Das Doppeldiminutivum kommt in der antiken Literatur nicht vor (kein Beleg im ThLL). • 18 mordentia Zum Motiv der Bisse beim erotischen Spiel s. Praef. 9 mit Komm. und Lal. 12,11-12. • 19-20 denegata ferociâ leni Leni deutet darauf hin, dass keine tatsächliche Weigerung gemeint ist, sondern ein Scheinkampf wie z.B. Lal. 3,17-19: suavia, / quae mi saevitia levi / nolens vincere figit. Zum Oxymoron vgl. Hor. carm. 2,12,26: facili saevitia negat. carpere furtim S. Lal. 12,9-10: furtim basia plurima / carpsit. Dort bedeutet furtim „heimlich“, hier muss es entgegen antikem Sprachgebrauch (vgl. Rubenbauer: ThLL 6,1 [1912-1926],1641,56-1643,20) jedoch „räuberisch“ heißen. Das Adjektiv furtivus kommt öfter in der Bedeutung „gestohlen“ vor (s. Lal. 9,18 mit Komm.), die Schoonhoven hier auf das Adverb überträgt. • 21-22 fuerat … inerat Das Plusquamperfekt kann stehen, um den großen zeitlichen Abstand zu betonen. S. den Komm. zu Lal. 5,12: contempsisset. color Die frühere „Farbe“ bildet den Gegensatz zur jetzigen Blässe (4: pallida membra). Membris sollte folglich ἀπὸ κοινοῦ sowohl auf vigor als auch auf color bezogen werden. S. auch Lal. 2,13 mit Komm. membris … vigor Vgl. Verg. georg. 4,418: membris venit vigor. • 23-24 quandò … esset S. den Komm. zu Lal. 5,9: cuperes. pristina sanitas Von der Gesundung z.B. Isid. orig. 4,13,3: Asclepiades quoque medicus phreneticum quendam per symphoniam pristinae sanitati restituit. Sanitas kann körperliche oder geistige Gesundheit bezeichnen. (Vgl. OLD s.v. sanitas 1 und 2.) Bevor er sich verliebte, war Daphnis vernünftig, also geistig gesund, und litt folglich auch nicht an den körperlichen Folgen einer Liebeskrankheit. • 25-26 caro corpore … colla … corallina Alliteration. caro corpore Vgl. Catull. 66,31-32: … an quod amantes / non longe a caro corpore abesse volunt? pendulus S. den Komm. zu Lal. 3,40. S. auch V. 35. labra corallina Vgl. Joh. Sec. Bas. 18,1-4: labra nostrae … puellae / inclusa circo candidae figu- <?page no="309"?> Ad Lalagen. Carmen XXII 309 rae, / ut si quis ornet arte curiosa / corallinis eburna signa baccis. • 27-28 Daphnis reiht in rascher Folge mehrere Metaphern und Vergleiche aneinander, in denen er seinen Wunsch ausmalt, an Lalages Busen zu ruhen: Er selbst ist wie ein saugendes Lamm, und Lalages Brüste sind wie ein Tal (29-31), ein Bett (31), oder ein Nest (33). Die gewählten Bilder scheinen prima facie vor allem eine Sehnsucht nach Geborgenheit auszudrücken. Sich selbst charakterisiert Daphnis dabei als laetus et innocens (34). Gerade der erste Vergleich erhält durch eine geschickte Verschiebung jedoch eine noch weiter reichende erotische Implikation: Daphnis behauptet, er wolle Hals und Lippen küssen (26), doch suggeriert das Bild vom saugenden Lamm, dass er vor allem Lalages Brüste küssen möchte, die zudem kurz darauf in 31 explizit genannt werden. Dabei ist sogar das gleiche Wort verwendet (27 und 31: ubera). mulgerem … matris Weiche Alliteration. mulgerem ubera Vgl. Germ. 166-167: … si vere Iuppiter infans / ubera Cretaeae mulsit fidissima caprae. Ubera bezeichnen im klassischen Latein die (menschlichen oder tierischen) Brustwarzen als Milchquelle. (Vgl. OLD s.v. uber 1 1 und 2.) Schoonhoven überträgt das Wort in der synekdochischen Bedeutung „Brüste“ in den erotischen Bereich. (S. Lal. 1,14 und 24,24; s. auch den Komm. zu 31.) • 29-31 Die Landschaftsbeschreibung (s. bes. V. 9: convallis) wird nun allegorisch auf Lalages Körper übertragen. Das Tal des locus amoenus vermochte Daphnis nicht zu helfen, das Tal der Brüste hingegen könnte eine Heilung des Liebeskranken bewirken. Das Verfahren, topographische Angaben auf Körperteile zu beziehen, wendet Ausonius in seinem Cento Nuptialis an, um aus unerotischen Vergilversen eine obszön-erotische Szene entstehen zu lassen. Vgl. dort die Verse 101-131, z.B. 110-111: est in secessu, tenuis quo semita ducit, / ignea rima micans. duplici viâ Vgl. OLD s.v. via 5a: „opportunity or facility for going.“ pectoris … ubera Vgl. Lucr. 5,885: ubera mammarum. Sonst verwendet Schoonhoven ubera synekdochisch; s. den Komm. zu 27. S. auch V. 10: pectus (dort ist das Herz gemeint). lectulus S. den Komm. zu 27-28. • 32 corporis aegri S. V. 10: pectus aegrum. Die Krankheit des Herzens bewirkt auch physische Krankheitssymptome. Zum Topos s. den Komm. zu 4: pallida membra. Modern würde man von psychosomatischen Erscheinungen sprechen. • 33-34 S. den Komm. zu 27-28. • 35 pendulus Zuerst (25) gebraucht Schoonhoven pendulus bei der Beschreibung einer menschlichen Handlung, dann in einem Tiervergleich. Bei ubera (27 und 31) ist die Reihenfolge umgekehrt. • 36 Vgl. AP 7,196,1 [= HE 4066]: τέττιξ , δροσεραῖς σταγόνεσσι µεθυσθείς (cicada, roscidis guttis inebriata); Verg. ecl. 5,77: dumque thymo pascentur apes, dum rore cicadae; Heins. Man. Dous. (Poemata 3 1610, S. 299): cicada (…) ebria nocturnis roribus. grillus Wie bereits in Lal. 3,56 vergleicht der singende Hirte Daphnis sich am Schluss des Gedichtes mit einer für ihren Gesang berühmten Grille bzw. Zikade. S. auch die Kommentare zu Lal. 1,2 und 3,56. ebrius S. den Komm. zu Lal. 15,5: ebrii. • 37 vitae fata Vgl. Lucan. 8,316-317: cuncta revolvens / vitae fata meae. <?page no="310"?> 3 Kommentar 310 Ad Lalagen. Carmen XXIII Lalage beschäftigt sich lange mit ihrem Äußeren, während Daphnis ungeduldig auf sie wartet. Dabei kommt es ihm doch gar nicht auf äußeren Schmuck an, sondern auf „die Herrin des Kleides“ (8). Der Hirte nimmt die Situation zum Anlass für allgemeine Betrachtungen darüber, wie hinderlich Kleidung für Liebende sei, und lobt dagegen das vergangene Goldene Zeitalter der freien Liebe. Der zentrale Begriff des tempus aureum fällt ungefähr in der Gedichtmitte. Dieser Zeit werden drei Charakteristika zugeschrieben und jeweils in einer Strophe ausgeführt (17-28): Nacktheit, unbegrenzt viel Zeit für Liebesspiele und bescheidene materielle Forderungen der Frauen. Dem gegenüber stehen Lalages Schmuck und Kleidung (1-16) sowie allgemeine Geschenkgier (29-32). Daphnis redet Lalage nur in den ersten drei Strophen direkt an, in denen es um die Kleidung geht. Die Gier nach immer größeren munera wirft er jedoch nicht ihr speziell vor. Auch ansonsten wird Lalage nirgends als habgierige Geliebte charakterisiert. Wenn Daphnis überhaupt einmal Geschenke für sie bereithält, so sind dies genau die in den Versen 25-28 positiv hervorgehobenen bescheidenen Gaben der Hirten wie z.B. junge Wildtauben (Lal. 7). Sogar von einem einfachen Lied lässt Lalage sich anlocken (Lal. 17; 34; 35). Was Daphnis als ferne Frühzeit darstellt, entspricht also tatsächlich zum großen Teil seiner eigenen Situation als Hirte. Dies gilt auch für das zweite genannte Charakteristikum des tempus aureum, die unbegrenzte Zeit: Wie vor allem in Gedicht 16 deutlich wird, sind Daphnis und Lalage im Idealfall den ganzen Tag über zusammen auf der Weide und verbringen die Zeit - auch wenn sie dabei ihren Tätigkeiten als Hirten nachgehen - gemeinsam. Zwar müssen im Gegensatz zum Goldenen Zeitalter die Tiere zum Beispiel zur Tränke geführt werden, aber insgesamt bedeutet das ganze Dasein, so wie es im Gedichtzyklus beschrieben wird, mehr Muße als Arbeit. Folgerichtig fehlt zu der entsprechenden Strophe (21-24) ein negatives Gegenbild. Das einzige Element der „Goldenen Frühzeit“, das in Daphnis’ Hirtenleben bislang nicht vorkommt, ist die freie Liebe. So dient der scheinbar moralisierende Vortrag über den einstigen Idealzustand (17-28) und die Verkommenheit der Jetztzeit (29-32) nur dazu, die Geliebte zu größerer Freizügigkeit zu überreden. Indem Daphnis sehr geschickt seine eigenen erotischen Wünsche mit dem Goldenen Zeitalter assoziiert, dem Inbegriff des Vollkommenen, suggeriert er zugleich, dass die Erfüllung dieser Wünsche einen moralischen Wert darstelle. Wenn Lalage sich Daphnis hingibt, zeigt sie damit, dass sie besser ist als die Frauen des degenerierten modernen Zeitalters. In der Renaissance wird seit Sannazaro das Goldene Zeitalter mit der idealisierten Hirtenlandschaft Arkadien verknüpft und zudem als Zeitalter <?page no="311"?> Ad Lalagen. Carmen XXIII 311 der freien Liebe beschrieben. (Vgl. Schmidt 1987, 247-249; Gatz 1967, 212.) Diese Verbindung ist nicht vergilisch, sondern das Thema der freien Liebe wird erst rückblickend mit der bukolischen Dichtung der Antike assoziiert. (S. auch den Komm. zu 25-26.) Schmidt betont, dass „… diese ‚Liebesfreiheit‘ und Natürlichkeit bei Sannazaro nur für das verlorene Goldene Zeitalter [gilt], nicht für die arkadische Gegenwart.“ (1987, 248.) Das Paradox, dass die Hirten einerseits in einer idealisierten bukolischen Sphäre leben, andererseits aber bestimmte Idealvorstellungen dennoch in eine ferne Vergangenheit projiziert werden, ist auch in Lal. 23 gegeben. Schoonhoven kombiniert mehrere Motive, die in gleicher oder ähnlicher Form auch in der römischen Liebeselegie vorkommen. Tibull beschreibt die unkultivierte Frühzeit, in der die gesellschaftlichen Barrieren geringer waren, als Paradies der freien Liebe (2,3,69-74): glans aluit veteres, et passim semper amarunt: / quid nocuit sulcos non habuisse satos? / tunc, quibus aspirabat Amor, praebebat aperte / mitis in umbrosa gaudia valle Venus. / nullus erat custos, nulla exclusura dolentes / ianua: si fas est, mos precor ille redi. Bereits Maltby (2002, z. St.) macht darauf aufmerksam, dass Tibull hier nicht das Goldene Zeitalter Hesiods vor Augen hat, sondern „the primitive pre-agricultural age of the Epicurean tradition,“ wie es z.B. Lukrez beschreibt (5,925- 987; vgl. bes. 962: Venus in silvis iungebat corpora amantum). Maltby fährt fort, das einzige positive Merkmal dieser Frühzeit sei „the easy access to love.“ (Vgl. auch Vischer 1965, 170.) Zu den Merkmalen dieser vorzivilisatorischen Zeit gehört, dass die Frauen mit geringen Gaben zufrieden sind, wie sie die Natur selbst hervorbringt. Vgl. bes. Prop. 3,13,25-34: felix agrestum quondam pacata iuventus, / divitiae quorum messis et arbor erant! (…) his tum blanditiis furtiva per antra puellae / oscula silvicolis empta dedere viris. Dagegen wird in der römischen Liebeselegie oft über die Forderung kostspieliger Geschenke geklagt; vgl. bes. Ov. am. 1,10. (McKeown [1989, 281] listet in der Einleitung zu diesem Gedicht die zahlreichen Belege für diesen Topos in der römischen Liebeselegie auf.) Tibull verflucht in diesem Zusammenhang den πρῶτος εὑρετής der käuflichen Liebe. (S. den Komm. zu 13-16.) Auch die Ablehnung des Schmuckes ist ein häufiges Thema der römischen Liebeselegie. Hier zeigt sich jedoch besonders deutlich, dass sich die Topoi dieser Gattung nur begrenzt auf die Hirtendichtung übertragen lassen, weil die Situation eine andere ist. Die Frauen der römischen Elegie sind Städterinnen, deren cultus und Vorliebe für Luxusgüter weit von der Natürlichkeit einer gedachten Frühzeit entfernt ist. Dies trifft auf das verhältnismäßig schlichte und einfache Leben der Hirten längst nicht in diesem Maße zu. In der Liebeselegie wird die Zurückweisung des ornatus oft mit dem Vorzug der natürlichen vor einer künstlichen Schönheit begründet; vgl. z.B. Tib. 1,8,9-16; Prop. 1,2. Fedeli (1980, 88-90, in der Einleitung zu Prop. <?page no="312"?> 3 Kommentar 312 1,2) weist auf den wahrscheinlich philosophischen Ursprung des Topos hin, aber auch auf sein Vorkommen im griechischen Epigramm (AP 5,270) und in der Komödie. (Vgl. die dritte Szene aus Plautus’ Mostellaria [= 157- 312], bes. 166-169; 248-265; 288-292.) Das Künstliche des Schmuckes wird besonders betont, wenn es um Schminke oder um das Färben der Haare geht. (Vgl. z.B. Prop. 2,18,23-38; Ov. am. 1,14.) Junge und hübsche Frauen haben solche Hilfsmittel nicht nötig, sondern nur alte oder hässliche Frauen müssen ihr wahres Aussehen kaschieren. (Vgl. z.B. Tib. 1,8,41-46.) Bei Schoonhoven geht es nicht um Natürlichkeit versus Künstlichkeit, da Lalage sich ohnehin nur mit einfachen Mitteln schmückt. Daphnis tadelt den Schmuck nicht, weil er ihm nicht gefiele, sondern weil die Kleidung den Körper bedeckt, den der Hirte lieber ohne diese Hülle sähe (5: tegmina; s. bes. auch V. 13-20). Zudem möchte Daphnis nicht länger warten, und das Zurechtmachen braucht Zeit. Hierzu findet sich wiederum ein ähnlicher Gedanke bei Properz (2,18,30): mi formosa sat es, si modo saepe venis. Im Anschluss an die römische Liebeselegie verwendet Schoonhoven einige Motive der antiken Literatur in spielerischer und zum Teil parodistischer Weise, so vor allem den Topos des Goldenen Zeitalters, aber auch den des πρῶτος εὑρετής . (S. den Komm. zu 13-16). Ein versteckter Witz ist außerdem in Bezug auf den „Schmuck“ zu beobachten: Die meisten Strophen weisen Reime oder Assonanzen von Wörtern am Versende auf; s. V. 2 und 4: capillulos - papillulas; 6 und 8: advola - volo; 11 und 12: Dianam - respuam (+ ornatam im Versinneren und 16: invidam); 13 und 14: amantibus - providus; 25 und 27: capro - antro; 26 und 28: Phyllida - gaudia; 29 und 31: munera - deteriora bzw. 30 und 31: deterit - deteriora. Dazu kommen zahlreiche weitere Stilmittel wie Polyptota, Anaphern, Alliterationen und Assonanzen innerhalb der Verse. (S. jeweils die Einzelkommentare.) Gerade das Gedicht, das gegen den Schmuck der Frau gerichtet ist, trägt also überdurchschnittlich viel rhetorischen „Schmuck.“ Die Wörter für „schmücken“, die Schoonhoven verwendet (4: comens; 6: compta; 12: ornatam), werden in der Rhetorik auch für den Redeschmuck gebraucht. (Vgl. OLD s.v. como 1b: „to embellish in speech or writing“; OLD s.v. ornatus 2 4.) Cicero vergleicht im Orator den ornatus der Frauen mit dem der Rede: nam ut mulieres esse dicuntur non nullae inornatae, quas id ipsum deceat, sic haec subtilis oratio etiam incompta delectat … (Cic. orat. 78). Metrum: 3. Asklepiadeische Strophe. 1 flumina consulis Lalage gebraucht einen Fluss als Spiegel, wobei Schoonhoven das Verb in Anlehnung an Ov. ars 3,135-136 wählt: nec genus ornatus unum est: quod quamque decebit, / eligat et speculum consulat ante suum. Es könnte Flusswasser gemeint sein, das sich z.B. in einer Schale befindet, doch liegt es näher, dass die Hirtin Lalage sich in einem nahen Fluss spiegelt. Das Motiv, dass Hirten ihr Spiegelbild in einem natürlichen Gewässer <?page no="313"?> Ad Lalagen. Carmen XXIII 313 betrachten, findet sich bereits bei Theokrit und Vergil. Vgl. Theoc. 6,35: ἐς πόντον ἐσέβλεπον ; Verg. ecl. 2,25: nuper me in litore vidi. Zudem denkt man natürlich an Narziss, mit dem Lalage sich auch wegen ihrer Sprödigkeit vergleichen lassen muss. (S. bes. Lal. 5 und 8.) • 2 disponit Vgl. z.B. Tib. 1,8,10: disposuisse comas. (S. auch die Einleitung.) nitidos Oft vom Glanz der Haare; vgl. z.B. Verg. georg. 4,337; Ov. epist. 21,166; Mart. 14,50,1. lege Von der Frisur z.B. Ov. ars 3,133: non sint sine lege capilli; Sen. Phaedr. 320: dari legem rudibus capillis; Oed. 416: effusos sine lege crines. (Vgl. OLD s.v. lex 10 b.) capillulos Das Diminutivum ist nicht klassisch (kein Beleg im ThLL). • 3 et peccare docentes = Hor. carm. 3,7,19 (im gleichen Metrum). • 4 comens S. den Komm. zu 6: compta. papillulas S. den Komm. zu Lal. 4,28: papillulae. • 5 quid Anapher am Beginn der Strophe (s. V. 1). mutas Vgl. z.B. Tib. 1,8,13: frustra iam vestes, frustra mutantur amictus. (S. auch die Einleitung.) tegmina corporis Die Bezeichnung der Kleidung als „Bedeckung“ ist in einem Gedicht, in dem es um Verhüllung und Nacktheit des Körpers geht, sicher nicht zufällig. Zur Formulierung vgl. die Übertragung des Eobanus Hessus von Theoc. 28,10-11: efficies … / vestimenta viris, quasque ferant et mulierculae / pallas caeruleas feminei tegmina corporis. Auch in der Antike kann Kleidung als tegmen bezeichnet werden; vgl. z.B. Lucr. 5,1350: nexilis ante fuit vestis quam textile tegmen. (Vgl. OLD s.v. tegimen 1 b.) • 6 compta Comere heißt häufig „kämmen“, doch wird nur in V. 2 die Frisur erwähnt. Was Daphnis im folgenden Verlauf des Gedichtes interessiert, sind nicht die Haare, sondern die Bedeckung bzw. Entkleidung des Körpers. Folglich muss comere hier allgemein „schmücken“ bedeuten (oder „kleiden“; vgl. OLD s.v. como 1 a), wie es in V. 4 aufgrund des Objektes papillulas ohnehin zwingend ist. • 7-8 Vgl. Plaut. Most. 169: non vestem amatores amant mulieri’, sed vestis fartim. vestem … vestis Polyptoton. vestem … vestis … volo Alliteration. (S. dazu noch 6: ad-vola.) • 9-10 Vgl. Hor. carm. 1,19,7-8: urit grata protervitas / et vultus nimium lubricus aspici. S. auch den Komm. zu Lal. 4,24-25. blanditiae Ein häufiges Wort der Liebeselegie. (Vgl. Pichon 1966, 94 mit Belegen.) • 11-12 prae Zur Bedeutung „im Vergleich mit“ vgl. OLD s.v. prae 2 4a; Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 513, § 95, 1c. Dianam ornatam benè respuam Prima facie scheint eine hyperbolische Schmeichelei vorzuliegen: Lalage ist sogar schöner als Göttinnen. Bei genauerem Hinsehen ist dies jedoch aus mehreren Gründen problematisch, denn einerseits ist der ornatus im ganzen Gedicht nicht positiv konnotiert, ornatam also hier kein unzweifelhaftes Lob, und andererseits ist gerade Diana keine Göttin, die man in besonderer Weise mit schönen Gewändern oder aufwendigen Frisuren in Verbindung brächte. Als Jagdgöttin mit geschürztem Gewand trägt sie oft sogar eher praktische als kostbare Kleidung. (Vgl. z.B. Ov. met. 3,156: succinctae … Dianae; dazu Bömer 1969.) Wenn man das Ziel des Gedichtes berücksichtigt, Lalage unbekleidet umarmen zu dürfen, lassen sich die beiden Verse jedoch auch anders ver- <?page no="314"?> 3 Kommentar 314 stehen, und zwar als Zurückweisung der jungfräulichen Göttin Diana, die züchtig bekleidet (ornata) ist. Es wäre sozusagen zu ergänzen: prae te <nudam>, Vita, Dianam ornatam bene respuam - Wenn du, Lalage, nackt zu mir kommst, kann mir die keusche Diana gestohlen bleiben. Wenn gerade Diana in einem Gedicht genannt wird, in dem es um Kleidung und Nacktheit geht, denkt man zudem an den Mythos des Actaeon, der Diana beim Bade überraschte und von ihr daraufhin in einen Hirsch verwandelt wurde, den seine eigenen Hunde zerrissen. (Vgl. z.B. Ov. met. 3,155-255.) Einer solchen Göttin, die das zufällige Erblicken ihres nackten Körpers derart hart bestraft, ist eine Geliebte wie Lalage, die keck und verführerisch zu sein versteht (9-10), natürlich vorzuziehen. benè Hier verstärkend; in gleicher Funktion, wenn auch gegensätzlicher Bedeutung, steht male in 14. • 13-16 Die Vorstellung, „daß jede Gewohnheit oder im Leben häufig auftretende Erscheinung ihren Urheber haben müsse, der den Dank oder Fluch der Menschheit verdiene“ (Leo 1912, 152), ist in der antiken Poesie zuerst in der griechischen Tragödie greifbar und wurde in der Komödie und der Elegie übernommen. Kleingünther (1933, passim) beschreibt ausführlich die Entstehung des Motivs bis zum Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. Die spätere literarische Tradition, die Schoonhoven hier vor allem imitiert, berücksichtigt er jedoch nicht. Müller (1952, 21) bietet eine Übersicht über das Motiv des πρῶτος εὑρετής in der augusteischen Dichtung. Je nach Gegenstand wird der „Erfinder“ gelobt oder getadelt. Die Verfluchung eines πρῶτος εὑρετής findet sich zuerst bei Euripides (Hipp. 407-409; vgl. Leo 1912, 154); in der römischen Elegie z.B. bei Tib. 1,4,57-60 (s. auch die Einleitung); Ov. am. 2,14,5. Eine negativ beurteilte Erfindung muss jedoch nicht notwendigerweise mit einer ausdrücklichen Verfluchung einhergehen; vgl. Tib. 1,10,1-2: quis fuit, horrendos primus qui protulit enses? / quam ferus et vere ferreus ille fuit! Auch Schoonhoven beschränkt sich darauf anzumerken, der Erfinder des Kleides sei hartherzig gewesen. Der Tadel der Kleidung, also einer eigentlich nützlichen Erfindung, geschieht natürlich mit einem Augenzwinkern. (S. auch die Einleitung.) • 13-14 pallidulis Das Diminutivum ist klassisch selten; vgl. jedoch z.B. Catull. 65,6. Zur topischen Blässe der Liebenden s. den Komm. zu Lal. 4,34-35: pallore tincta. durus infestusque Zur Junktur vgl. Sen. benef. 7,31,1: nec quisquam tam duri infestique adversus diligenda animi est …. malè S. den Komm. zu 11-12: bene. malè providus „Nicht sehr vorausschauend“, d.h. der πρῶτος εὑρετής hat die möglichen negativen Folgen seiner Erfindung nicht bedacht. • 15-16 vestem invenit … invidam Mehrfache Assonanz. Vgl. Ov. am. 3,2,27-28: invida vestis eras, quae tam bona crura tegebas; / quoque magis spectes - invida vestis eras. ocellis S. den Komm. zu Lal. 16,3-4: ocellis. prurientibus S. den Komm. zu Lal. 3,3-4: pruriginis. • 17 felices nimium Zu einem Μακαρισµός der Menschen des goldenen Zeitalters vgl. z.B. Verg. Aen. 11,252: o fortunatae gentes, Saturnia regna. Auch Seligpreisungen, die mit nimium felix o.ä. einge- <?page no="315"?> Ad Lalagen. Carmen XXIII 315 leitet sind, finden sich schon bei Vergil; vgl. z.B. georg. 2,458-459: o fortunatos nimium, sua si bona norint, / agricolas; Aen. 4,657: felix, heu nimium felix. Thomas (1988) merkt zu georg. 2,458 an: „nimium almost makes fortunatos a superlative.“ temporis aurei Der zentrale Begriff des „Goldenen Zeitalters“ (s. auch die Einleitung) steht in der Mitte des Gedichtes. Vgl. Hor. epod. 16,64: tempus aureum. • 18 mortales S. den Komm. zu Lal. 40,2: mortalium. montis in angulo S. Lal. 27,3-4: … cum tecum pecudes montis in angulo / solis sub face pascerem; 33,21. Dort befinden sich jeweils Daphnis und Lalage montis in angulo, hier die Menschen des Goldenen Zeitalters. Dass der Aufenthaltsort mit denselben Worten geschildert ist, unterstreicht die Ähnlichkeit der gepriesenen Frühzeit mit Daphnis’ eigenem Hirtendasein. (S. auch die Einleitung.) • 19-20 Vgl. Prop. 2,15,15-16: nudus et Endymion Phoebi cepisse sororem / dicitur et nudae concubuisse deae. Das nackte Beieinanderliegen entspricht auch dem dritten Heilmittel gegen das Liebesverlangen, das Philetas Daphnis und Chloe empfiehlt. (Vgl. Longos 2,7,7; s. dazu die Einleitung zu Lal. 21.) nudi … nudis Das Polyptoton am Versanfang steht in betontem Gegensatz zu vestem in 15 (weiter auch zu 5-8). quisque Gewöhnlich steht quisque in Anlehnung an bestimmte Wörter (Reflexiv- oder Possessivpronomina, Relativ- oder Interrogativpronomina, Superlative, Ordinalzahlen), doch gibt es schon in klassischer Zeit Ausnahmen. (Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 644-647, § 119,6.) • 21-22 iuncti pariter Bei Verben des Verbindens nimmt pariter etwa die Bedeutung in unum an. Vgl. Baer/ Ramminger: ThLL 10,1,2, (1984),284,38-53, hier bes. Ov. met. 2,701: iuncta suo pariter dabitur tibi femina tauro. mutuum … os Zur Konstruktion vgl. z.B. Catull. 45,20: mutuis animis amant amantur; Sen. contr. 1,1,3: porrigite mutuas in gratiam manus. S. auch V. 28: mutua. humidulis Das Diminutivum (h)umidulus ist in der Antike selten belegt; vgl. aber Lucr. 4,632; Ov. ars 3,629. peragrantibus In der antiken Literatur wird peragrare nur von der Bewegung durch einen weiten Raum (Land, Meer, Himmel) oder übertragen von geistigem „Durchgehen“ gesagt. (Vgl. Schwind: ThLL 10,1,8 [1994],1182,61-1185,8.) • 23 iocis Vgl. Pichon 1966, 175: „Ioci saepe sunt amatoria facta“; dazu z.B. Ov. ars 2,723-724: accedet amabile murmur / et dulces gemitus aptaque verba ioco; 3,640: furtivos … iocos. • 24 fallebant In der Bedeutung „sich die Zeit vertreiben“ z.B. Ov. epist. 1,9: spatiosam fallere noctem; Ov. met. 8,651: medias fallunt sermonibus horas. (Vgl. OLD s.v. fallo 7b.) solidos Vgl. z.B. Stat. silv. 4,3,36: quae solidum diem terebat. (Vgl. OLD s.v. solidus 9c.) dies Hirten sind natürlicherweise tagsüber zusammen, wenn sie sich auf der Weide treffen; s. z.B. Lal. 14,9-10 mit Komm. Hier wird jedoch auch betont, dass die Menschen des tempus aureum den ganzen Tag lang füreinander Zeit hatten, also nicht zu arbeiten brauchten. Dies ist auf die Vorstellung zurückzuführen, dass im Goldenen Zeitalter die Natur alles von selbst bereitstellte. Zum Topos des Automaton vgl. Gatz 1967, 203- 204. • 25-26 Das Motiv der zehn Äpfel als Liebesgabe eines Hirten kommt <?page no="316"?> 3 Kommentar 316 in bukolischer Dichtung schon bei Theokrit und Vergil vor. Vgl. Theoc. 3,10: ἠνίδε τοι δέκα µᾶλα φέρω ; Verg. ecl. 3,70-71: quod potui, puero silvestri ex arbore lecta / aurea mala decem misi; cras altera mittam (dazu noch Verg. ecl. 3,76.78: Phyllida; 3,81: [triste] nobis Amaryllidis irae.) Die engste Parallele findet sich bei Properz (2,34,69-70), der sich dort in einer Anrede an Vergil ebenfalls auf dessen dritte Ekloge bezieht: [tu canis] ut… decem possint corrumpere mala puellas / missus et impressis haedus ab uberibus. Schoonhoven übernimmt von Properz die Verbindung der beiden Arten von Liebesgaben (zehn Äpfel oder ein Tier der Herde) sowie die Verallgemeinerung der Aussage, durch Äpfel könne man sich jemanden geneigt machen, was bei Theokrit und Vergil noch jeweils auf eine konkrete Situation bezogen war. Man könnte also formulieren, dass Schoonhoven die Vergilimitation des Properz imitiert. Dafür spricht auch, dass er in Lal. 18 dieselbe Passage des Properz evoziert, wobei dort der Hirte Tityrus für Vergil steht. (S. Lal. 18,17-24 mit Komm.) Auf dieser poetologischen Ebene stellt das Lob des Goldenen Zeitalters hier zugleich ein Lob der Antike dar, genauer gesagt ein Lob des vergilischen Arkadien, so wie es in der Renaissance rückblickend interpretiert wurde. (S. dazu die Einleitung.) quisqué S. den Komm. zu 20. Tityrus Schoonhoven gebraucht den typischen Hirtennamen (s. den Komm. zu Lal. 18,19-20) hier synonym für „ein Hirte.“ (S. auch unten zu Phyllida.) Andererseits schwingt wie in Gedicht 18 auch die Verwendung von Tityrus als Chiffre für Vergil mit (s.o.). Tityrus quisque wäre somit zu verstehen als „ein jeder, der so war wie Tityrus (Vergil)“, d.h. ein Hirte und Dichter. iratam Es gibt keinen ersichtlichen Grund, warum das Mädchen zornig sein sollte. Das Adjektiv kann jedoch auch „hochmütig“ bedeuten. Vgl. z.B. Tib. 2,1,73-74: [Cupido] dicere iussit / limen ad iratae verba pudenda senem; dazu Pichon 1966, 175 (mit weiteren Belegen): „irasci dicuntur superbae et adrogantes puellae.“ Vgl. auch Verg. ecl. 3,81 (Zitat s.o.). Phyllida Vergil wählt diesen Namen häufig für die Geliebte eines Hirten (z.B. ecl. 3,76.78.107; 5,10; 7,59). Verg. ecl. 10,37 steht Phyllis geradezu synonym für „eine Geliebte.“ Schoonhoven übernimmt hier diese Verwendung. (S. auch oben zu Tityrus.) • 27 Vgl. Verg. ecl. 5,6: sive antro potius succedimus; 5,19: successimus antro. • 28 mutua gaudia = Lucr. 4,1205; vgl. ferner Lucr. 5,963: mutua … cupido. (S. auch die Einleitung.) Ovid betont in einer Elegie gegen die Habsucht der Geliebten (s. dazu die folgenden Verse), dass der Liebesakt Mann und Frau gleichermaßen gefalle; vgl. Ov. am. 1,10,31-36. • 29-30 Zum Topos der gierigen Geliebten in der römischen Liebeselegie s. die Einleitung. nunc Gegensatz zu tunc in 21 (jeweils am Beginn einer Strophe). basiolum S. den Komm. zu Lal. 20,6: basiolum. munera Dies können konkret Geschenke sein, „quibus viri puellarum amorem quasi mercantur“ (Pichon 1966, 210). Vgl. z.B. Prop. 3,13,27; Ov. am. 1,10, 11. (S. auch die Einleitung.) extorquent Das Verb wirkt in Bezug auf Küsse gewaltsam, wodurch hier die Härte des „Eisernen Zeitalters“ unterstrichen wird. • <?page no="317"?> Ad Lalagen narrans ei somnium suum. Carmen XXIV 317 30-32 deterit … deteriora Paronomasie. Priscian postuliert eine etymologische Verbindung zwischen beiden Wörtern (vgl. Prisc. 3,80,19-20: [adverbia] derivantur … a verbis, ‚detero deterius‘; vgl. auch Maltby 1991, 184), was jedoch nach heutiger Erkenntnis nicht zutrifft. (Vgl. Walde/ Hofmann 1982, 1, 344: „Verfehlt Vaniček 104 [deter(i)us als „abgenützt“ zu detero, detrimentum].“) deteriora reddens pro melioribus Erasmus (Adagiorum Epitome, S. 238) gebraucht diese Worte, um die auf Homer zurückgehende Redensart der Diomedis et Glauci permutatio zu erklären: In proverbium abiit, quoties inaequalem commutationem significamus, hoc est, deteriora pro melioribus reddita, scilicet aerea pro auribus. Zu Sentenzen am Gedichtende s. Kap. 1.2.2.4. Ad Lalagen narrans ei somnium suum. Carmen XXIV Daphnis träumte, dass Lalage ihre gewohnte Sprödigkeit aufgegeben habe. Bereits die Überschrift gibt an, dass es sich bei dem Gedicht um eine an Lalage gerichtete Erzählung handelt; die erste direkte Anrede folgt in Vers 14. Indem der Hirte seiner Geliebten die geträumten Erlebnisse berichtet, fordert er sie natürlich implizit auf, diese Wirklichkeit werden zu lassen. Das Gedicht ist als einziges der Amores Pastorales in Hexametern verfasst und hat somit die Form einer Ekloge. 521 Neben dem Versmaß verwendet Schoonhoven noch ein weiteres typisches Strukturelement der antiken Ekloge, die Rahmungstechnik. (Vgl. Rumpf 196, 71-72 und 201-257; Bernsdorff 2006, 173.) Die eigentliche Traumerzählung, die die Verse 13-27 umfasst, ist mehrfach gerahmt. Die Verse 1-12 und 28-29 sind Teile der Erzählung des Daphnis. Er beschreibt darin seinen abendlichen Heimweg und das Einschlafen sowie nach dem Traum das Erwachen. Der Schluss (30-34) fällt mit der aktuellen Sprechsituation zusammen. Hier bekommt das Gedicht mimetischen Charakter (s. die Einleitung zu Lal. 18), indem Daphnis Lalages Reaktion auf seinen Bericht wiedergibt. Der äußere Rahmen ist unvollständig, da ein entsprechender Part am Beginn des Gedichtes fehlt. Auch hierin orientiert sich Schoonhoven an der Form antiker Eklogen. So wird zum Beispiel Corydons Monolog in Vergils zweiter Ekloge durch fünf Verse eines extradiegetischen Erzählers eingeleitet, ohne dass es einen entsprechenden Schlussteil gäbe. Noch ähnlicher ist Theokrits drittes Idyll, in dem ein intradiegetischer Erzähler sein Ständchen an Amaryllis selbst in fünf Versen einleitet. (Vgl. Bernsdorff 2006, 174-175; vgl. auch Verg. ecl. 7.) Hexametrische Eklogen gehören nach antiker Gattungsdefinition zum Epos. (S. auch Kap. 1.2.2.1.) Schoonhoven knüpft in diesem Gedicht auch an die Tradition des Epos im engeren Sinne an, indem er überdurchschnitt- 521 In seinem Buch Bucolica schreibt Schoonhoven ebenfalls hexametrische Eklogen. (S. auch Kap. 1.1.2.) <?page no="318"?> 3 Kommentar 318 lich viele Motive und Formulierungen übernimmt, die aus den homerischen Epen, Vergils Aeneis oder Ovids Metamorphosen vertraut sind. (S. dazu die Einzelkommentare; in den Metamorphosen vgl. bes. 11,592-615: die Wohnstatt des Schlafes.) Auffällig sind die häufigen wörtlichen Imitationen am Versende. Möglicherweise war der Dichter hier für passende Versatzstücke besonders dankbar, da der Schluss eines Hexameters aufgrund der sehr eingeschränkten metrischen Variationsmöglichkeiten den schwierigsten Teil dieses Verses darstellt. Das Traummotiv ist seit dem homerischen Epos ein fester Bestandteil der antiken Literatur. (Zur Entwicklung und zu den verschiedenen Ausprägungen vgl. Walde 2001, passim.) Im Epos werden oft prophetische Träume beschrieben, die wahrhafte Voraussagen der Zukunft, aber auch trügerische Visionen sein können. (S. auch den Komm. zu 12.) In der antiken Bukolik sind Traumschilderungen selten; vgl. jedoch den Traum eines Fischers in [Theoc.] 21,39-62. Der Traum des Daphnis ist ein erotischer Wunschtraum. Mehrere solcher kompensatorischen erotischen Träume finden sich in Ovids Heroides (13,105-109; 19,59-66; [Ov.] epist. 15,123-134), wo ein tatsächliches Beisammensein aufgrund der räumlichen Trennung unmöglich ist. Walde (2001, 68-69) führt den Ursprung auch des erotischen Traummotivs auf Homer zurück: Penelope träumt, Odysseus lege sich nachts zu ihr (Od. 20,88-90). Auch in der neulateinischen Dichtung ist das Motiv des Wunschtraums verbreitet; vgl. z.B. Navag. Lus. 29 (s. auch den Komm. zu 32-34); Dousa fil. Erot. 9. Wichtig ist nicht nur der Traum an sich, sondern auch, dass er jeweils anschließend der Geliebten erzählt wird. Der Aufforderungscharakter dieser Traumberichte ist offensichtlich. Eine Variation bietet ein Kussgedicht des Niederländers Ianus Lernutius (Basium III; zitiert nach Ellingers Ausgabe der Basia des Johannes Secundus), in dem die Erfüllung im Traum versagt bleibt und gerade deshalb in der Wirklichkeit erbeten wird. (Vgl. ebd. V. 23: spes mea ne fallat, da, lux, mihi gaudia vera.) Bereits in den Anakreonteen (37 W.; in Stephanus’ Ausgabe [S. 10] überschrieben mit ὄνειρον ) erzählt ein Sprecher einen erotischen Traum, in dem er nicht zum Ziel kommt. Seine Reaktion darauf ist, weiterträumen zu wollen. (S. auch den Komm. zu 32-34.) In der römischen Liebeselegie kommen ebenfalls Träume vor, die jedoch keine erotischen Phantasien enthalten. (Vgl. Walde 2001, 239-260 und 314-320.) Den allegorischen Traum aus [Ov.] am. 3,5 greift Daniel Heinsius in seinem Somnium (Eleg. 5,2) auf. Daphnis’ Schilderung eines erotischen Traumes knüpft an die Gedichte 12 und 13 an, in denen der Schlaf eines geliebten Menschen jeweils Gelegenheit zu tatsächlichen erotischen Handlungen gab. Metrum: Daktylische Hexameter. <?page no="319"?> Ad Lalagen narrans ei somnium suum. Carmen XXIV 319 1-12 Die häufigen Tempuswechsel wirken im Deutschen ungelenk, so dass ich in der Übersetzung durchgehend das Erzähltempus verwendet habe (anders in 22-27; s. den Komm. dort). • 1 Im Epos steht am Buchanfang oft eine Angabe der Tageszeit, jedoch häufiger des Morgens. (Vgl. z.B. Hom. Il. 8; 11; 19; Od. 2; 3; 5: 8; 17; Verg. Aen. 11; Val. Fl. 5; Sil. 6.) Bei Homer beginnen drei Bücher damit, dass jemand schläft (Il. 2; 10; Od. 6), doch legte man sich jeweils bereits am Ende des vorigen Buches zur Ruhe. In späteren Epen kann zu Beginn eines Buches auch der Einbruch der Nacht beschrieben werden; vgl. Val. Fl. 7,1-3; Stat. Theb. 10,1: obruit Hesperia Phoebum nox umida porta. soporiferis … umbris Der Aufbau erinnert an Lucr. 6,864: … roriferis terram nox obruit umbris. Die Vorstellung, dass die Nacht die Erde mit ihren Flügeln umhülle, wird in Lal. 26,6-7 wieder aufgegriffen: dum noctis ala amplectitur / terras. (S. den Komm. dort mit weiteren Belegen.) Die in Gedicht 26 anzunehmende erotische Konnotation spielt hier noch keine Rolle. soporiferis Vgl. z.B. Ov. met. 11,586: vise soporiferam Somni velociter aulam; Sil. 7,287: dona soporiferae noctis; Flam. Lus. Past. 8,3-4: nox… soporiferis alis circumdata caecam / horrenti latebra nubis opacat humum. • 2 procul Dass die villa weit von den Weiden entfernt ist, könnte von Verg. ecl. 1,82 beeinflusst sein (zitiert zu 3-4: villae culmina). gregibus comitatus Vgl. Sen. Phaedr. 18-19: comitatae gregibus parvis / … fetae. humentes Die Erde ist feucht vom Tau der Nacht; vgl. z.B. Lucr. 6,864 (zitiert zu 1); Verg. Aen. 4,351-352: umentibus umbris / nox operit terras. S. auch Lal. 26,3-5 mit Komm. • 3-4 sordentia Die ärmliche Behausung ist ein Topos der bukolischen Dichtung; vgl. z.B. Verg. ecl. 2,28-29: o tantum libeat mecum tibi sordida rura / atque humilis habitare casas. Coleman (1977, z. St.) nennt dies „an invitation to Alexis to share the simple pleasures of the country.“ villae culmina Vgl. Verg. ecl. 1,82: et iam summa procul villarum culmina fumant. Bei Schoonhoven ist culmina poetischer Plural. (S. auch den Komm. zu 12: somnia.) ducens … horas Vgl. z.B. Verg. Aen. 6,539: nox ruit, Aenea; nos flendo ducimus horas. (Zu ducere in der Bedeutung „Zeit verbringen“ vgl. OLD s.v. 14a.) ambagibus Daphnis ist schon zuhause angekommen, so dass ambages hier im übertragenen Sinne zu verstehen ist: Nach der Ankunft legt er sich nieder, ohne sich zuvor noch mit irgendetwas anderem aufzuhalten. Klassisch wird ambages in übertragener Bedeutung nur in Bezug auf die Rede gebraucht. (Vgl. Vollmer: ThLL 1 [1900],1834,7-1835,36.) • 5 Corpora ist hier ein poetischer Plural. (S. auch den Komm. zu 12: somnia.) Das Bett nennt Daphnis speratus, weil er müde ist (languida). Seine eigentliche, tiefere Hoffnung offenbart sich jedoch in dem ab V. 13 erzählten Traum. Gleich zu Beginn (14) steht wieder corpora, diesmal aber als echter Plural. Dem einsamen Niederlegen am Abend wird das enge Beieinanderliegen im Traum gegenübergestellt. Zur Formulierung vgl. z.B. Verg. Aen. 7,108: corpora sub ramis deponunt; Ov. trist. 3,3,39: languescent corpora lecto (Hexameterschluss); Lucan. 4,306-307: languida fessi / corpora. Bei Ovid liegt der Schlaf selbst <?page no="320"?> 3 Kommentar 320 membris languore solutis auf seinem Lager (met. 11,612). • 6-12 Sowohl Hermes als Bringer des Schlafes als auch der personifizierte Schlaf, der Träume schickt, kommen schon bei Homer vor. (S.u. die Einzelkommentare.) Die Gottheiten sind verwandt, doch „bleibt zwischen beiden immer ein Unterschied, da Hermes immer nur der Schlafbringer ist, und nie als personifizierter Schlaf aufgefasst werden kann“ (Jolles 1916, 325). Schoonhoven lässt beide Götter hintereinander auftreten und dabei den Schlaf zudem mehrere verschiedene Handlungen ausführen. So wird Daphnis mindestens dreifach in Schlaf versetzt: durch Hermes’ Stab, durch den heranfliegenden Sopor und durch den Lethetrank. Danach schickt der Schlaf in noch einem weiteren separaten Schritt den Traum. Insgesamt ergeben sich durch den Versuch, möglichst viele Facetten aufzugreifen, einige Unstimmigkeiten und Dopplungen. Zu weiteren Details s.u. die Einzelkommentare. • 6 nuntius … Deûm Der Götterbote Hermes/ Merkur; vgl. z.B. Hor. carm. 1,10,5-6: [Mercuri] te canam … deorum / nuntium. mandata per auras = Verg. Aen. 4,270 (Hexameterschluss; der Bote ist dort ebenfalls Merkur). Schoonhoven hat das Versatzstück übernommen, ohne ihm inhaltlich Sinn zu verleihen. Weisungen erhält Daphnis nicht, und der Traum kann mit den mandata nicht gemeint sein, denn er wird erst in 12 geschickt. • 7 Vgl. Sil. 1,551: advolat obscura circumdata nube per auras. (Obscura hat dort jedoch eine andere syntaktische Funktion.) obscurus Zur Bedeutung „den Blicken entzogen“, „unsichtbar“ vgl. OLD s.v. 3a. nebulâ Nebel wird manchmal von Gottheiten erzeugt, um jemanden zu verbergen; vgl. z.B. Verg. Aen. 1,411-412 (Venus verhüllt Aeneas und Achates): at Venus obscuro gradientes aëre saepsit, / et multo nebulae circum dea fudit amictu; 1,439. (Vgl. OLD s.v. nebula 1d.) Auch in der Höhle des Somnus bei Ovid steigen Nebel auf; vgl. met. 11,595-596: nebulae caligine mixtae / exhalantur humo. virgâque potenti Vgl. Ov. fast. 5,447 (an Merkur): Pliade nate, mone, virga venerande potenti. Der Hexameterschluss erinnert zudem an Ov. met. 1,671 (zitiert zu 8), wenngleich die beiden Wörter dort syntaktisch nicht zusammengehören. • 8 Schon bei Homer besitzt Hermes die Fähigkeit, mit seinem Stab Lebewesen in Schlaf zu versetzen oder aufzuwecken. Vgl. Il. 24,343-344: εἵλετο δὲ ῥάβδον , τῇ τ ’ ἀνδρῶν ὄµµατα θέλγει / ὧν ἐθέλει , τοὺς δ ’ αὖτε καὶ ὑπνώοντας ἐγείρει . (= Od. 5,47-48; ähnlich Od. 24,2-4; vgl. dazu Roscher 1965, 1,2,2365.) In der römischen Literatur vgl. z.B. Ov. met. 1,671-672: … virgamque potenti / somniferam sumpsisse manu; weiter 2,735-736; 11,307-308. artus … perunxit Das Salben des Körpers gehört normalerweise zur Körperpflege; außerdem wurden Tote vor der Verbrennung gesalbt. (Vgl. Hug 1920, 1851-1866.) Dass hier Merkur mit seinem Stab Daphnis’ Glieder salbt, könnte von der Vorstellung beeinflusst sein, dass der Schlaf die Schläfen mithilfe eines Zweiges mit Lethewasser besprenge; vgl. z.B. Verg. Aen. 5,854-856: ecce deus [sc. Somnus] ramum Lethaeo rore madentem / … super utraque quassat / tempora. (S. auch den Komm. zu 10: lethea… pocla; zum Besprengen der <?page no="321"?> Ad Lalagen narrans ei somnium suum. Carmen XXIV 321 Schläfen s. weiter den Komm. zu Lal. 25,44.) Zur Formulierung vgl. Ov. fast. 4,853: arsurosque artus unxit. ultròque citròqué Mit doppelter Kopula statt des gewöhnlichen ultro citroque auch Lucr. 4,36. Metrisch wäre auch ultro citroque möglich (mit wahlweise positionslanger Silbe civor muta cum liquida), doch durch die gewonnene Doppelkürze wirkt der Hexameter weniger schwerfällig. • 9 Sopor … Deûm placidissimus Vgl. Ov. met. 11,623: Somne, quies rerum, placidissime, Somne, deorum. ales Der Schlaf kann seit dem Hellenismus als geflügelte Gottheit dargestellt werden; vgl. z.B. Call. Del. 234; Prop. 1,3,45; Sen. Herc. f. 1068; Sil. 10,344-345. (Vgl. Jolles 1916, 326.) • 10 Cimmerias … tenebras Die Kimmerier waren ein Volk im Norden, das nahe dem Ozean und damit für antikes Verständnis am Rande der Welt lebte. Ovid siedelt die dunkle Höhle des Schafes dort an; vgl. met. 11,592-595: est prope Cimmerios longo spelunca recessu, / mons cavus, ignavi domus et penetralia Somni: / quo numquam radiis oriens mediusve cadensve / Phoebus adire potest. Bömer (1980) merkt dazu an, dass Ovid sich hier auf zwei Stellen der Odyssee beziehe, aus deren Kombination hervorgehe, dass auch dort das „Reich der Träume“ ( δῆµος ὀνείρων , Hom. Od. 24,12) im Gebiet der Kimmerier liege. (Vgl. Hom. Od. 11,13-22.) Bereits bei Ps.-Tibull findet eine Verschiebung statt, insofern er mit dem Adjektiv Cimmerius nicht mehr eine oberirdische Region, sondern einen Ort der Unterwelt bezeichnet; vgl. [Tib.] 3,5,24: Lethaeamque ratem Cimmeriosque lacus. (Vgl. Tränkle 1990 z. St.; zur Verbindung von Tod und Schlaf s.u.) In der Spätantike wird das „kimmerische Dunkel“ sprichwörtlich; vgl. z.B. Lact. inst. 5,3,23: o mentem Cimmeriis ut aiunt tenebris atriorem! (Weitere Belege bei Otto 1962, 83.) lethea… pocla Die Lethe ist eigentlich ein Fluss der Unterwelt (so Lal. 25,44). Zu den Ähnlichkeiten von Tod und Schlaf, die oft als Brüder bezeichnet werden, gehört auch, dass beide Vergessen bewirken. Ovid lässt einen „abgezweigte[n] Bach der Lethe“ (Roscher 1965, 2,2,1957) an der Behausung des Somnus vorbeifließen. Vgl. Ov. met. 11,603-604: rivus aquae Lethes, per quem cum murmure labens / invitat somnos crepitantibus unda lapillis. Auch sonst ist die Verbindung von Schlaf und Lethe häufig; vgl. z.B. Verg. georg. 1,78: Lethaeo … somno; Verg. Aen. 5,854-856 (zitiert zu 8: artus perunxit); Hor. epod. 14,3: pocula lethaeos … ducentia somnos; Ov. trist. 4,1,47: soporiferae biberem si pocula Lethes. Zur Formulierung vgl. noch Apul. met. 2,29: Lethaea pocula. pocla Synkope. (S. z.B. auch Lal. 11,2.) Die Becher lassen auch daran denken, dass Hermes am Ende der Abendmahlzeit der letzte Becher als Trankopfer gespendet wurde; vgl. z.B. Hom. Od. 7,136- 138; Longos 4,34,3. (Vgl. dazu Eitrem 1913, 763; Jolles 1916, 325.) • 11 oblivia rerum Häufiger Hexameterschluss; vgl. bes. Lucr. 6,1213-1214: oblivia rerum / cunctarum; ferner z.B. Lucr. 3,828; Ov. Pont. 2,4,29. • 12 Nach der antiken Mythologie schickt der Schlaf Träume durch zwei verschiedene Tore. Durch ein Tor aus Horn werden die wahrhaftigen Träume ausgeschickt, durch ein elfenbeinernes Tor die täuschenden Träume. Vgl. Hom. <?page no="322"?> 3 Kommentar 322 Od. 19,562-567; Verg. Aen. 6,893-896, bes. 896: falsa ad caelum mittunt insomnia Manes (weitere Belege bei Austin 1977 z. St.); Hor. carm. 3,27,40-42: imago / vana, quae porta fugiens eburna / somnium ducit; Claud. 27,21-22: nec me mea lusit imago / inrita nec falsum somnia misit ebur. (S. auch V. 31-32.) Servius (Aen. 6,893) erläutert, Horn stehe wegen seiner Farbe und Härte für die Augen, Elfenbein für Zähne und damit für den Mund; et scimus quia quae loquimur falsa esse possunt, ea vero quae videmus sine dubio vera sunt. Tertullian erklärt die Wahl der Materialien dagegen damit, dass Horn durchscheinend sei, Elfenbein undurchsichtig; vgl. Tert. anim. 46,2: Homerus duas portas divisit somniis, corneam veritatis, fallaciae eburneam; respicere est enim, inquiunt, per cornu, ebur autem caecum est. Daphnis bewertet seinen Traum als Täuschung und nicht als prophetischen Traum. Dazu passt auch deceptus imagine somni (31). Dass sich zumindest die wichtigste Komponente des Traumes später erfüllen wird (Lal. 38), spielt hier keine Rolle, sondern es wird das Täuschende des Traumes im Gegensatz zu der Wirklichkeit hervorgehoben, die Daphnis beim Erwachen vorfindet. portis … misit Dazu passt nicht, dass der Schlaf in den Versen davor seine Wohnstatt (das „kimmerische Dunkel“) verlassen hat und als Vogel zu Daphnis geflogen ist. somnia Der poetische Plural gerade bei Substantiven im Neutrum ist in hexametrischer Dichtung aufgrund der willkommenen Kürzen sehr beliebt. (S. auch V. 4: culmina; 5: corpora; 21: ora.) In der Überschrift ist der Singular gebraucht. • 13 colle sub umbroso Vgl. Ov. ars 2,420: colle sub umbroso quam [sc. Venerem] tenet altus Eryx. Am Anfang von Lal. 7 besingt Daphnis sub umbroso salicto die Trauer der Venus um Adonis. Die Erzählung des erotischen Traumes beginnt also mit einer Ortsangabe, die sowohl durch die Imitation Ovids als auch durch das (wenngleich freiere) Selbstzitat an Venus denken lässt. Im pseudo-ovidischen Traumgedicht beginnt die Schilderung des Traumes mit dem Worten: colle sub aprico ([Ov.] am. 3,5,2). pedibus per mutua nexis = Verg. Aen. 7,66 (Hexameterschluss). Bei Vergil steht per mutua absolut, bei Schoonhoven dagegen auf corpora bezogen. Die Konstruktion wirkt bei Schoonhoven dadurch merkwürdig. pedibus Synekdochisch für die Beine. • 14 corpora S. den Komm. zu 5. secure Im Traum kann Daphnis sich der Anwesenheit seiner Geliebten „sicher“ sein. Sorglosigkeit ist Teil des träumerischen Idealzustandes, während dessen man die Wirklichkeit mit all ihren Problemen für eine Weile vergessen kann. So kann auch das Wasser der Lethe securus heißen, insofern es Vergessen und damit Freiheit von den vorigen Sorgen schenkt. (S. den Komm. zu 10: lethea… pocla.) Vgl. Verg. Aen. 6,713-715: animae, quibus altera fato / corpora debentur, Lethaei ad fluminis undam / securos latices et longa oblivia potant; Ov. Pont. 2,4,23: securae pocula Lethes. (Vgl. Austin 1977 zu Verg. Aen. 6,715: securos latices: „‚waters of unmindfulness‘, explained in longa oblivia; Lethe gives securitas, freedom from the cares of their finished life.“) • 15 blanditias nectens lususque In 13 ist nectere konkret von der Ver- <?page no="323"?> Ad Lalagen narrans ei somnium suum. Carmen XXIV 323 flechtung der Körper gebraucht, hier dagegen abstrakt. In übertragener Bedeutung wird nectere meist bei negativen Handlungen oder in Bezug auf das Verfassen von Texten verwendet. (Vgl. OLD s.v. necto 9 und 10.) Das „Spiel“ kann prinzipiell auch für erotische Dichtung stehen (s. den Komm. zu Ad Lect.: ludicro carmine), wenngleich dies an dieser Stelle nicht gemeint ist. Die Junktur blanditias nectere ist möglicherweise von Ov. am. 2,9,45 beeinflusst: et modo blanditias dicat, modo iurgia nectat. S. auch Eleg. 2,34. lusus Zum erotischen Spiel s. Lal. 18,1 mit Komm. protervos S. den Komm. zu Praef. 15. • 16 variabam lege capillos Zunächst ist nur die Bedeutung „frisieren“ nahegelegt; vgl. Ov. medic. 19: positu variare capillos. (Zu lege s. Lal. 23,2 mit Komm.) Im nächsten Vers berichtet Daphnis jedoch von Blumen, die er in Lalages Haare flicht, so dass er sie dadurch auch „bunt macht.“ Das gelungene Wortspiel hier lässt varias im vorigen Vers blass erscheinen. • 17 intexens Dies ist sicherlich von Verg. ecl. 2,49-50 beeinflusst (tum casia atque aliis intexens suavibus herbis / mollia luteola pingit vaccinia calta), auch wenn dort Blumen miteinander verwoben werden, hier dagegen Blumen in die Haare geflochten. violas … Hyacinthos Vor allem in der griechischen Literatur werden diese beiden Blumen zusammen genannt; vgl. z.B. Theoc. 10,28: καὶ τὸ ἴον µέλαν ἐστί , καὶ ἁ γραπτὰ ὑάκινθος ; Longos 1,18,2: τὰ … ἴα καὶ ὁ ὑάκινθος ἀνθεῖ ; aber auch Verg. Aen. 11,69: [flos] seu mollis violae seu languentis hyacinthi. Murr (1969, 257 und 261) weist darauf hin, dass beide Blumenarten intensiv duften. Beim Raub der Persephone und bei der Entführung der Europa sind beide Teil des Blumenkatalogs. (Vgl. h. Cer. 6-8; Mosch. 2,65-66; vgl. dazu Murr, ebd.) Das wohlriechende Veilchen dient auch - so wie hier - als Kranzblume dem Schmuck der Haare, oft zusammen mit Rosen oder Lilien. (Vgl. Murr 1969, 263.) Vgl. z.B. Anacreont. 57,21 W.; Ov. met. 12,410-411. Die Hyazinthe findet dafür seltener Verwendung; vgl. aber z.B. Anacreont. 42,5 W. pulchros Inhaltlich ἀπὸ κοινοῦ auf beide Blumen zu beziehen. • 18-27 Schoonhoven gebraucht hier mehrere Metaphern und Vergleiche aus dem Tierreich: Daphnis küsst nach Art der Tauben (19: columbatim), erkundet Lalages honigsüßes Gesicht, was an eine Biene denken lässt (20-21), kriecht dann schlangengleich weiter (23: serpo) und hängt schließlich an Lalages Busen wie eine Zikade (26). Eine ähnliche Häufung von Tierbildern kommt auch in Lal. 3,43-56 vor. (S. den Komm. dort.) • 18-19 Die Konstruktion ist ungewöhnlich, da Schoonhoven im Lalage-Zyklus figere sonst immer mit Dativ gebraucht (z.B. Lal. 6,9). Eine andere Möglichkeit wäre, dass in imagine absolut steht („im Traum“) und formosi vultus von labris abhängig ist. („Im Traum drückte ich den Lippen deines schönen Gesichtes Küsse auf.“) Dagegen spricht vor allem die Wortstellung. formosi Das Adjektiv nimmt pulchros aus dem vorigen Vers wieder auf, so dass indirekt die Schönheit von Lalages Gesicht mit der Schönheit der dort genannten Blumen verglichen wird. Idealtypisch wäre der Vergleich mit Rosen und Lilien. (Vgl. z.B. Prop. 2,3,10-12; ursprünglich <?page no="324"?> 3 Kommentar 324 bei Vergil [Aen. 12,68-69] vom Erröten: mixta rubent ubi lilia multa / alba rosa, talis virgo dabat ore colores.) Es gehört jedoch zu den Topoi der bukolischen Literatur, dass die Geliebten der Hirten dunkle, von der Sonne verbrannte Haut haben. Dieser Makel wird gerade mit dem Hinweis auf dunkle Blumen wie Veilchen und Hyazinthe relativiert, die doch auch schön seien und gerne Verwendung in Kränzen fänden. Vgl. z.B. Theoc. 10,26-29 (s. auch die Kommentare zu 17: violas … hyacinthos und 20-21: mellea ora); Verg. ecl. 10,38-39; Longos 1,16,4 (Daphnis über sich selbst): µέλας , καὶ γὰρ ὁ ὑάκινθος· ἀλλὰ κρείττων … ὁ ὑάκινθος κρίνων . demens Der Wahnsinn eines Liebenden ist ein verbreiteter Topos. Vgl. z.B. die beliebte Paronomasie amans amens (Otto 1962, 18); Verg. ecl. 2,69: a, Corydon, Corydon, quae te dementia cepit; ecl. 6,47. Durch den Kontext gewinnt das bekannte Motiv bei Schoonhoven eine neue Bedeutung: Daphnis hat tatsächlich Wahnvorstellungen, insofern er im Traum Dinge sieht und erlebt, die in Wirklichkeit nicht da sind. S. auch das unmittelbar folgende imagine sowie die Reflexion in 31: deceptus imagine somni. Ein innerer Zusammenhang dieser beiden Formen von dementia ist hier insofern gegeben, als der Traum auf das Verlangen des Daphnis, also seinen Liebeswahn, zurückzuführen ist. imagine vultus Häufiger Hexameterschluss; vgl. z.B. Ov. Pont. 2,8,21; trist. 1,7,1; Mart. 6,27,3; 9,24,1. Ovid gebraucht bei der Beschreibung des Somnus und seiner Wohnstatt ebenfalls das Wort imago für Traumbilder; vgl. met. 11,587.627. columbatim Zum Taubenkuss s. Lal. 3,43-45 mit Komm. Zur Formulierung vgl. Mart. 11,104,9: basia me capiunt blandas imitata columbas und bes. Ad Lydiam 14: da columbatim mitia basia. figebam basia S. den Komm. zu Lal. 3,19: figit. • 20-21 Schoonhoven nimmt auf die Tradition des Seelentausches beim Kuss Bezug, deren Ursprung und Entwicklung Ludwig in seinem Aufsatz „Platons Kuß und seine Folgen“ detailliert nachgezeichnet hat (1989b, 435-447): Schon bei Homer wird die Seele als Hauch beschrieben, die beim Tod den Menschen mit dem letzten Atemzug verlässt. Daraus entsteht zuerst der Gedanke, dass ein Liebender die Seele des oder der sterbenden Geliebten in einem letzten Kuss auffangen könne (Belege bei Reed 1997 zu Bions Epitaphios Adonidos 44-50), dann auch die Vorstellung eines Seelentausches beim Kuss während des Lebens. Einem Platon zugeschriebenen Epigramm (AP 5,78 = FGE 588-589) und dessen auch bei Gellius zitierter lateinischer Nachdichtung schreibt Ludwig eine besondere Wirkung auf die lateinische Literatur der Neuzeit zu (1989b, 438-439). Für die Ausbreitung des Motivs in den Niederlanden sind vor allem die Gedichte des Johannes Secundus bedeutsam (vgl. 1989b, 443- 444). Auch Schoonhoven ist unmittelbar von ihm beeinflusst. Vgl. Joh. Sec. Bas. 5,7-11: et linguam tremulam hinc et inde vibras / et linguam querulam hinc et inde sugis, / adspirans animae suavis auram / mollem, dulcisonam, humidam meaeque / altricem miserae, Neaera, vitae. percurrens Von einer Bewegung des Mundes bereits Lucr. 4,588: [Pan] unco saepe labro calamos percurrit hiantis. <?page no="325"?> Ad Lalagen narrans ei somnium suum. Carmen XXIV 325 S. auch Lal. 23,22: linguis humidulis os peragrantibus. tremulâ … linguâ S. Lal. 3,41 mit Komm; 12,13. mellea … ora Die Süße von Milch und Honig (s. dazu V. 23: niveo … rore und 25: dulcedine) ist sprichwörtlich. Vgl. z.B. Lucr. 2,398-399: mellis lactisque liquores / iucundo sensu linguae tractentur in ore sowie das berühmte „Land, darin Milch und Honig fließt“ (z.B. 2. Mose 3,17). Im Hohenlied wird der Mund der Geliebten folgendermaßen beschrieben: favus distillans labia tua, sponsa; mel et lac sub lingua tua (Cant. 4,11). Da Daphnis Lalage küsst, heißt ora hier in erster Linie „Mund“, doch könnte Schoonhoven auch an die „Honigfarbe“ der Haut gedacht haben; vgl. Theoc. 10,27: µελίχλωρον . (S. dazu auch die Kommentare zu 17 und 18.) ora Poetischer Plural. (S. auch den Komm. zu 12: somnia.) sugebam S. auch Lal. 12,15 (Lyces Kuss): sugebat mihi sanguinem. auras Schoonhoven verwendet aurae hier wie anima sowohl für den Atem als auch für die Seele. (S.o. zum Seelentausch beim Kuss.) Vgl. Joh. Sec. Bas. 5,9: animae … auram (ausführliches Zitat oben). • 22-27 Die Schilderung wird intimer, und Daphnis verfällt ins verlebendigende Präsens, das er erst in 28 mit dem Einbruch der Realität in den schönen Traum wieder aufgibt. Im Gegensatz zu 1-12 (s. den Komm. dort) habe ich den Tempuswechsel hier im Deutschen beibehalten. • 22 Dass die Freude unfassbar groß ist, betont die Außergewöhnlichkeit des Ereignisses. Zur Formulierung vgl. bes. Liv. 27, 51,6: cum uix gaudium animis caperent. • 23-27 Genau dies hat Daphnis sich zwei Gedichte zuvor als Heilmittel gegen seine Liebeskrankheit gewünscht (Lal. 22,29-37). Auch die verwendeten Bilder und Formulierungen sind zum Teil ähnlich. (S.u. die Einzelkommentare.) In beiden Fällen handelt es sich um ein imaginiertes Erlebnis. • 23 niveo … rore S. den Komm. zu 20- 21: mellea … ora. tumentia S. Lal. 32,7-8 mit Komm. • 24-25 ubera S. den Komm. zu Lal. 22,27. molli quae membra sedili excipiunt Im Traum erfüllt sich Daphnis’ Wunsch aus Lal. 22,29-32. Dort heißt es, Lalages Busen möge ein lectulus corporis aegri sein. Hier ist lectulus durch sedile und corpus durch membra ersetzt. Das Wort membrum (auch im poetischen Plural) kann im erotischen Kontext auch das männliche Glied bezeichnen; vgl. z.B. Ov. am. 3,7,65: nostra tamen iacuere velut praemortua membra. (Vgl. OLD s.v. membrum 1b.) Da andererseits membra ein gängiges Synonym für corpus ist, lässt sich hier jedoch nicht mit Sicherheit sagen, ob Schoonhoven diesen Nebensinn intendiert hat oder ob er nur den Ausdruck aus Lal. 22,31-32 variieren wollte. Allerdings wendet er auch in Gedicht 22 die Technik an, durch geschickt gewählte Bilder Assoziationen hervorzurufen, die über das tatsächlich Beschriebene hinausgehen. (S. den Komm. zu Lal. 22,27-28.) Indem Daphnis dort das Küssen der Lippen und des Halses mit dem Saugen eines Lammes vergleicht, verschiebt sich der Blick indirekt auf eine tiefere Körperregion, Lalages Brüste. Ebenso wird hier durch die Wahl des Wortes membra neben dem Busen auch der Bereich der Genitalien evoziert. Dass Schoonhoven an einen coitus inter mammas dachte, halte ich dagegen für <?page no="326"?> 3 Kommentar 326 unwahrscheinlich, da dies in einer vom Christentum geprägten Gesellschaft sehr gewagt gewesen wäre. (S. auch den Komm. zu Lal. 21,11-12: natura magistra … docet.) quae membra Die unglückliche Wortstellung verleitet beim ersten Lesen dazu, membra fälschlich als Apposition zu ubera aufzufassen. sedili Eine ähnliche Metapher verwendete Schoonhoven in Lal. 22,31 (lectulus). Zudem knüpft er an die allegorische Beschreibung des Körpers als Landschaft an (s. den Komm. zu Lal. 22,29-31), denn das sedile ist an anderer Stelle Teil der bukolischen Umgebung; s. Lal. 16,28: hederae faciunt sedile. oculos … pascunt Die gängige Metapher (vgl. OLD s.v. pasco 5b; z.B. Ov. am. 3,2,6: oculos pascat uterque suos) passt im Kontext eines Hirtenliedes besonders gut. dulcedine S. den Komm. zu 20-21: mellea … ora. • 26-27 Vgl. Heins. Man. Dous. (Poemata 3 1610, S. 299): qualis pampinea pendens e fronde cicada / tranquilli placide tempora veris agit, / et modo cum Zephyro sustollitur hinc atque illinc (…) sic te, Dousa, tuam solantem carmine gentem / improba mors nostris abstulit ex oculis. Das gleiche Bild gebraucht Schoonhoven in Lal. 22,35-36: sicut palmite pendulus / grillus. Zur Grille oder Zikade s. den Komm. dort. Zephyro Der Zephyr als lebensspendender milder Frühlingswind ist positiv konnotiert. (S. den Komm. zu Lal. 15,11-12.) sustollitur Eigentlich von einer Aufwärtsbewegung. Dagegen spricht der Zusatz huc atque illuc. • 28 tandem Hier in rein temporaler Bedeutung, da Daphnis den Traum genießt und das Aufwachen nicht ersehnt. dissolvit Die Bedeutung „öffnen“ ist selten und hauptsächlich seit der Spätantike belegt. Vgl. aber bereits auch Lucr. 6,597-598: metuunt inferne cavernas / terrai ne dissolvat natura repente. (Vgl. Lackenbacher/ Dittmann: ThLL 5,1 [1909- 1934],1498,31-38.) • 29 Sprichwörtlich von vergeblichen Handlungen. (Vgl. Otto 1962, 364-365.) Vgl. bes. Verg. Aen. 10,652: nec ferre videt sua gaudia ventos und dazu den Kommentar des Servius: proverbium est ‚venti ferunt gaudia‘, id est laetatur incassum; zur Formulierung weiter Ov. trist. 1,8,35: cunctane in aequoreos abierunt irrita ventos? Vergeblich ist Daphnis’ Freude, insofern sie nicht real ist und mit dem Aufwachen entschwindet. rapidos Ein häufiges Epitheton des Windes; vgl. z.B. Verg. Aen. 6,75; Ov. met. 1,36. Stürmische Winde tragen die Freuden besonders rasch hinweg. gaudia Die mit dem Traum endenden Freuden wurden in 22 an gleicher Stelle im Vers genannt. ventos Nun weht nicht mehr der sanfte Zephyr des Traumes (27), sondern der raue Wind der Wirklichkeit. • 30 moves Vom Lachen z.B. Hor. epist. 1,3,19: moveat cornicula risum. (Vgl. OLD s.v. moveo 16b.) lascivos S. den Komm. zu Ad Lect.: lasciva. cachinnos „Schallendes Gelächter.“ Auch vom spöttischen Lachen; vgl. z.B. Cic. Brut. 216: cachinnos inridentium commovebat. (Vgl. OLD s.v. cachinnus a.) Ebenso wird das griechische καχάζω gebraucht (vgl. hier bes. Theoc. 5,142-143). • 31 sim Daphnis malt sich aus, was Lalage gerade über ihn denkt. Der Satz steht daher im obliquen Konjunktiv. Das Eingeständnis, dass sie ihn zu recht für einen Getäuschten hält, folgt im nächsten Vers, wo der Indikativ sum betont an den <?page no="327"?> Ad Lalagen. Carmen XXV 327 Anfang gesetzt ist. deceptus imagine somni = Ov. met. 13,216 (Hexameterschluss); vgl. ferner Lucan. 7,8: [nox] sollicitos vana decepit imagine somnos. S. auch V. 18. • 32-34 Der Gedanke ist in nuce schon im Traumgedicht der Anakreonteen vorhanden ( πάλιν ἤθελον καθεύδειν ; Anacreont. 37,14 W.), doch wird der Sprecher dort bereits vor der Erfüllung seines Wunsches wach und will deshalb wieder einschlafen. (Vgl. Anacreont. 37,11-14 W.; s. auch die Einleitung.) Schoonhovens Version ist inhaltlich eng an Navageros Gedicht an Somnus orientiert, in dem ebenfalls ein Liebender davon träumt, dass die Geliebte ihm zugeneigter sei als in Wirklichkeit. Vgl. Navag. Lus. 29,13-16: vere beate Somne, quod si saepius / his, dive, me afficias bonis, / felicior caelestibus deis ero, / summo nec inferior Iove. (S. auch die Einleitung.) Anders dagegen der Wunsch eines Liebenden, eine reale Liebesnacht möge länger dauern. (Vgl. z.B. Ov. am. 1,13 mit Anspielung auf die dreifache Liebesnacht von Zeus und Alkmene in V. 45-46.) Dass ein regelmäßig geträumter Traum so erfüllend sein kann wie die Wirklichkeit, wird im 17. Jahrhundert auch philosophisch diskutiert. Vgl. Blaise Pascal: Pensées, fr. 662 (ed. Le Guern): „Si nous rêvions toutes les nuits la même chose, elle nous affecterait autant que les objets que nous voyons tous les jours. Et si un artisan était sûr de rêver toutes les nuits douze heures durant qu’il est roi, je crois qu’il serait presque aussi heureux qu’un roi qui rêverait toutes les nuits douze heures durant qu’il serait artisan.“ Dass ein fortdauernder erotischer Traum sogar dem Leben der Götter vorzuziehen sei, ist allerdings hyperbolisch. Einen ähnlichen Gedanken spricht Daphnis bereits in Lal. 3,53-56 aus (ebenfalls am Gedichtende), als er behauptet, Lalages Küsse dem Nektar der Götter vorzuziehen. sum S. den Komm. zu 31: sim. expulsis … Divis „Nach einer Vertreibung der Götter“ heißt hier „anstelle der Götter.“ nitidam … aethram Vgl. Auson. ecl. 7,5 Prete: sortitus regimen nitidae Sol aureus aethrae. Zur aethra als deorum sedes regnumque vgl. v. Mess: ThLL 1 (1900),1158,76-82; z.B. Stat. silv. 1,2,135-136: aethrae / rector … Iuppiter. Ad Lalagen. Carmen XXV In den vorigen Gedichten (seit Lal. 21) entwickelte Daphnis immer kühnere Phantasien, die sich in Wünschen und Träumen äußerten. Eine Steigerung wäre nur noch möglich, wenn den Träumen nun bereits die Realität folgte. So dient dieses Trostgedicht an Lalage auch als retardierendes Moment. (Ich verwende im Folgenden die deutschen Begriffe Trostgedicht bzw. Trostschrift trotz des berechtigten Vorbehaltes von Kassel 1958, 3.) Das Gedicht gliedert sich in drei Teile: Die ersten fünf Strophen (1-20) sind eine Aufforderung an Lalage, nicht länger zu weinen, die Strophen 6 und 7 (21-28) bestehen aus Sentenzen zur Unausweichlichkeit des Todes, und die Strophen 9 bis 11 (33-44) schildern ein Hirtenparadies, in dem es <?page no="328"?> 3 Kommentar 328 Lalages verstorbener Schwester nun gut gehe. Die achte Strophe (29-32) bildet einen Übergang, da sie bereits konkret auf den Fall der Schwester bezogen ist, andererseits aber noch an die philosophischen Sentenzen der Verse 21-28 anschließt. Der erste Teil (1-20) ist in seiner Struktur eng an der Horazode 2,9 orientiert. (S. auch die Einzelbelege im Kommentar; zur Rahmung s. den Komm. zu 1-2.) Horaz schreibt an Valgius, dessen Liebling Mystes gestorben ist, er möge nicht endlos trauern, sondern lieber von Augustus’ Taten singen. Nisbet/ Hubbard weisen darauf hin, dass die Ode der Form nach eine consolatio sei, das Thema dort jedoch mit einer gewissen Ironie behandelt werde (vgl. 1978, 136-138, Einleitung zu Hor. carm. 2,9). Wie unten zu zeigen sein wird, gilt dies auch für Lal. 25. In einer Ode der Varia Carmina (Ad amicum quempiam, supra modum filium suum defunctum plorantem; S. 17) imitiert Schoonhoven dagegen in der ersten Strophe den Beginn von Hor. carm. 1,24, einer ernsthaften consolatio. Schoonhovens stoisch geprägte Ode weist einige inhaltliche und wörtliche Parallelen zum Gedicht an Lalage auf. (S. die Kommentare zu 13-16; 21; 23-24; 29-32.) Das Trostgedicht an Lalage beginnt ebenso wie Hor. carm. 2,9 mit der Aufforderung, nicht länger zu trauern, die durch Beispiele aus anderen Lebensbereichen bzw. aus dem Mythos untermauert wird. Im Gegensatz zu Horaz wählt Schoonhoven ausnahmslos Beispiele, die der bukolischen Sphäre nahestehen: die Jagd der Diana, die Klage der Nachtigall und die Trauer der Venus um Adonis. Sowohl die Naturphänomene in den ersten beiden Strophen des Horaz als auch die drei von Schoonhoven genannten Mythen sind jedoch streng genommen Beispiele für etwas, das zwar unterbrochen, aber irgendwann wieder fortgesetzt wird. (Zu Venus und Adonis s. hier den Komm. zu 9-10: non perpetuo.) Die Mahnung, mit dem Weinen aufzuhören (13-16), sowie die apodiktische Feststellung nil prosunt lacrimae (21) legen dagegen nahe, dass Lalage endgültig aufhören soll zu trauern. Den gängigen Topos der Konsolationsliteratur behandelt Schoonhoven in der vierten Strophe parodistisch: Daphnis bittet Lalage, ihre Augen nicht durch Tränen zu verunstalten, d.h. er spricht als Liebhaber, der die Schönheit seiner Geliebten nicht beeinträchtigt sehen will, und nicht als ernsthaft um Lalages Gemütszustand Besorgter. (S. weiter auch den Komm. zu 18: crudelis pueri.) Dasselbe gilt auch für die fünfte Strophe. Daphnis regt an, statt der Totenklage doch lieber ein Lied von Apoll und Daphne zu singen. Da der Mythos die Beziehung zwischen Daphnis und Lalage spiegelt (s. den Komm. zu 17-20), ist die Aufforderung zum gemeinsamen Gesang tatsächlich eine Aufforderung, sich wieder Daphnis und seinem Werben zuzuwenden. In 21-32 verwendet Schoonhoven mehrere Topoi der antiken Konsolationsliteratur, wobei er insbesondere auf stoisches Gedankengut zurückgreift: Tränen rühren das Schicksal nicht, so dass die Trauer dem Verstor- <?page no="329"?> Ad Lalagen. Carmen XXV 329 benen nicht wieder zum Leben verhilft; der Tod ist ein allgemeines Gesetz alles Lebendigen; ja dem Verstorbenen geht es nun besser, da er der Mühen des irdischen Lebens enthoben ist. (S. die Einzelbelege im Kommentar; vgl. allgemein dazu Kassel 1958, bes. 17-29 zur Stoa.) Im letzten Teil (33-44) schildert Daphnis das Elysium, in dem sich Lalages Schwester nun befinde, als Hirtenparadies, das große Ähnlichkeit mit der irdischen bukolischen Sphäre aufweist. Die elysische Landschaft gleicht einem locus amoenus (s. bes. V. 34: umbras; 38: vallibus herbidis mit Kommentaren); Lalages Schwester trifft „ihren“ Palaemon wieder (s. V. 33 mit Komm.), und in 35-36 wird explizit die Kontinuität zum vorigen Hirtenleben hervorgehoben. Neben drei Namen aus Vergils Eklogen (Palaemon, Tityrus und Amaryllis; 33, 37 und 40) kommen in diesem Teil des Gedichtes zahlreiche weitere Schlüsselwörter der Bukolik vor: dulce (33); umbras (34); murmura fistulae (36); pastorum (37); vallibus herbidis (38); vimine (41); dulciter (42). Schon im Elysium des Homer und Hesiod (s. dazu auch den Komm. zu 34: Elysii) sind bukolische Elemente vorhanden. Bei Homer (Od. 4,567) weht dort der linde Zephyr (vgl. auch Bernsdorff 1993a, 37), und bei Hesiod (Op. 172-173) bringt die Erde dreimal im Jahr süße Frucht hervor, was an die Motivik des Goldenen Zeitalters erinnert. (Vgl. Habermehl 1996, 264-265.) Auch in Vergils Unterweltsschilderung trägt das Elysium mit seinen Wiesen und Wäldern, einem Fluss und nicht zuletzt den dort gesungenen Liedern durchaus bukolische Züge. Vgl. Verg. Aen. 6,638-639: amoena virecta / fortunatorum nemorum sedesque beatas; 644: pars pedibus plaudunt choreas et carmina dicunt; 653: per campum pascuntur equi; 656-659: conspicit, ecce, alios dextra laevaque per herbam / vescentis laetumque choro paeana canentis / inter odoratum lauris nemus, unde superne / plurimus Eridani per silvam volvitur amnis. Lukian schließlich vergleicht das Wehen des Windes in den Bäumen des Elysium mit dem Spiel von Hirtenflöten, wobei sich deutliche Parallelen zu Longos’ Hirtenroman aufzeigen lassen. (Vgl. Bernsdorff 1993a, bes. 36-40.) Zur Erschaffung eines regelrechten Hirtenparadieses war es also nur noch ein kleiner Schritt. Bereits in zwei Gedichten des Lalage-Zyklus wurde der Tod thematisiert. In Lal. 8 erinnert Daphnis Lalage an die Vergänglichkeit allen Lebens und folgert daraus, dass sie ihn jetzt lieben solle, ehe es zu spät sei. Vor allem die Schlussworte (ab 8,25) klingen dabei recht spöttisch. In Lal. 19 wird die Klage um einen toten haedus sukzessive zur Klage über die Hartherzigkeit der Geliebten. Daphnis instrumentalisiert in allen drei Gedichten das Todesmotiv für sein Liebeswerben. In Gedicht 25 ist der Ton jedoch verhaltener als in Lal. 8, und die Aufforderung zu lieben wird hier nur indirekt angedeutet und nicht (wie in Lal. 8,13-24) deutlich ausgesprochen. Möglicherweise musste Schoonhoven selbst im Alter von etwa dreizehn Jahren den Tod eines Geschwisterkindes erleben. Im Begräbnisindex der St. <?page no="330"?> 3 Kommentar 330 Janskerk in Gouda findet sich der Eintrag, am 30. September 1607 sei ein Kind von Dirck Jacobsz. Schoonhoven beerdigt worden. (Index begraven St. Janskerk 1574-1670, S. 641. Dirck Jacobsz. war Floris van Schoonhovens Vater; s. Kap. 1.1.1.) Metrum: 3. Asklepiadeische Strophe. 1-2 Während es in den anderen beiden Beispielen (Nachtigall und Venus) jeweils um Trauer geht, hat die Jagd der Diana keinen unmittelbaren Bezug zum Thema des Gedichtes. Schoonhoven zitiert wörtlich anderthalb Verse des Flaminio (carm. 1,9,1-2, S. 111). Die Erwähnung Dianas erscheint bei Schoonhoven erst im Kontext der fünften Strophe (17-20) sinnvoll. Die Jagd auf wilde Tiere nimmt das Verfolgungsmotiv des Mythos von Apoll und Daphne vorweg, wobei der Zusammenhang dadurch betont wird, dass Diana und Apoll Geschwister sind und hier mit gleichem Beinamen bezeichnet werden (1: Cynthia; 16: Cynthius). So entsteht eine Rahmung des ersten Gedichtteils. (S. die Einleitung.) Auch in der zugrundeliegenden Horazode 2,9 werden zu Beginn Beispiele gewählt, die auf den Inhalt des angestrebten Gesanges vorausdeuten, nicht aber das Thema der Klage aufgreifen. (Vgl. die Einleitung zu Hor. carm. 2,9 von Nisbet/ Hubbard 1978, 137; s. auch den Komm. zu 17: cantemus potius.) non semper = Hor. carm. 2,9,1 (ebenfalls am Gedichtanfang; s. auch die Einleitung). rapido … cursu Zur Junktur vgl. z.B. Verg. Aen. 5,291; 12,683. Cynthia Der Name Cynthia für Diana ist zuerst bei Horaz (carm. 3,28,12) belegt, dann z.B. Ov. met. 2,465; Stat. silv. 1,2,268. Er ist in Analogie zur Bezeichnung des Apoll als Cynthius gebildet (17), die es schon in hellenistischer Poesie gab (z.B. Call. Del. 10). Der Cynthos ist ein kleiner Berg auf Delos, der mythischen Geburtsinsel des göttlichen Geschwisterpaares. Vgl. Nisbet/ Rudd 2004 zu Hor. carm. 3,28,12. beluas … persequitur Vgl. Ov. am. 3,2,32: [Diana] sequitur fortes fortior ipsa feras. • 2-4 Vgl. Verg. georg. 4,514-515: [philomela] flet noctem, ramoque sedens miserabile carmen / integrat. Bei Vergil klagt die Nachtigall über den Raub ihrer Jungen durch einen durus arator, doch evoziert der klagende Gesang gerade dieses Vogels immer auch den Mythos der Philomela bzw. Prokne, die Itys beweint. (Es gibt unterschiedliche Versionen, welche der Frauen in eine Schwalbe, welche in eine Nachtigall verwandelt wurde; vgl. Radke 1957, 249-250.) Zum Mythos vgl. Ov. met. 6,424-674: Tereus, Gemahl der Prokne, vergewaltigt deren Schwester Philomela, schließt sie ein und schneidet ihr die Zunge heraus, damit sie niemandem davon erzählen kann. Philomela webt ihre Geschichte in ein Tuch, das sie Prokne zukommen lässt. Prokne befreit Philomela, und als Rache töten sie gemeinsam Tereus’ und Proknes Sohn Itys und setzen ihn seinem Vater zum Mahle vor. Als Tereus dies erkennt, verfolgt er die beiden Frauen, die sich in eine Schwalbe und eine Nachtigall verwandeln. Tereus wird zum Wiedehopf. • 3 docti … oris Statius zählt in einem Ge- <?page no="331"?> Ad Lalagen. Carmen XXV 331 dicht über den Papagei des Atedius Melior unter den gelehrten Vögeln (silv. 2,4,16: doctae … aves) auch die Nachtigall auf (2,4,21: et quae Bistonio queritur soror orba cubili). Zur Synekdoche vgl. z.B. Ov. am. 2,6,62 (Grabepigramm eines psittacus): ora fuere mihi plus ave docta loqui; Ov. met. 15,73- 74: ora / docta. Daulias Thukydides (2,29,3) schreibt, Tereus habe in Daulis gewohnt und die Frauen hätten ihre Tat an Itys dort verübt (zum Mythos s.o.), weshalb viele Dichter der Nachtigall den Beinamen Daulias gäben. Auch in der lateinischen Dichtung wird Daulias im Kontext des Prokne- Mythos verwendet (Belege bei Lyne 1978 zu Ciris 200). Vgl. Catull. 65,14; (zitiert oben zu 2-4); sonst meist attributiv in der Form Daulias ales (Ov. epist. 15,154; Epiced. Drusi 106; [Sen.] Herc. O. 192; vgl. auch Schoonhoven, Var. Carm., S. 25: avis Daulias). S. auch Lal. 35,2; 39,33. • 4 S. auch Lal. 40,17: integrato lacrimas. • 5-8 Vgl. Hor. carm. 2,9,9-12: tu semper urges flebilibus modis / Mysten ademptum, nec tibi Vespero / surgente decedunt amores / nec rapidum fugiente solem. (S. auch die Einleitung.) Während bei Horaz eine weitere Strophe dazwischentritt, lässt Schoonhoven die Strophen, die mit dem pointierten Gegensatz non semper und tu semper beginnen, direkt aufeinanderfolgen. • 5 tu S. den Komm. zu 8: tibi. Lalage Wie Valgius in Hor. carm. 2,9,5 wird auch Lalage zu Beginn der zweiten Strophe angeredet. luctisonis In der antiken Literatur ein hapax legomenon, das zudem nicht einhellig überliefert ist; vgl. Ov. met. 1,732: et gemitu et lacrimis et luctisono mugitu. (Vgl. Beikircher: ThLL 7,2 [1961-1970],1730,9-11.) S. auch den Komm. zu 6: dulciloquae. modis = Hor. carm. 2,9,9 (s.o. zu 5-8). Bei Horaz sind Elegien gemeint, die Valgius verfasst hatte. (Vgl. die Einleitung zu Hor. carm. 2,9 von Nisbet/ Hubbard 1978, 136.) Lalages Klagegesang dagegen ist Teil der Fiktion. Zur Totenklage in bukolischer Dichtung vgl. z.B. Mopsus’ Lied über den verstorbenen Daphnis (Verg. ecl. 5,20-44). S. auch den Komm. zu 17-20. • 6 urges Man glaubte, dass die Klage der Hinterbliebenen die Totenruhe der Verstorbenen störe. (Vgl. Nisbet/ Hubbard 1978 zu Hor. carm. 2,9,9; Zitat s.o.) Bei Horaz ist der verstorbene Mystes Objekt des urges. Bei Schoonhoven ist der Tod der Schwester Objekt, so dass sich zwei Gedanken verbinden: Lalage „setzt ihrer verstorbenen Schwester durch Klagen zu“, und sie „beklagt den Tod ihrer Schwerster.“ dulciloquae Der früheste Beleg ist Apul. apol. 9: dulciloquo calamo. Wie auch bei dem in gleicher Weise gebildeten luctisonus im vorigen Vers handelt es sich um ein seltenes Kompositum. (Vgl. Lackenbacher: ThLL 5,1 [1909-1934],2187,31-34.) fata Hier überwiegt die Bedeutung „Tod.“ (Vgl. OLD s.v. fatum 6a.) Der poetische Plural ist in der Dichtung häufig; vgl. z.B. Verg. Aen. 4,678. S. auch V. 30 mit Komm. sororculae Affektive Sprache; ebenso V. 29. Die Wahl des Diminutivs muss nicht bedeuten, dass die Verstorbene eine jüngere Schwester Lalages war. Der einzige Beleg im OLD enthält keine Aussage über das Altersverhältnis; vgl. Plaut. Cist. 451: germana mea sororcula - repudio te fraterculum. V. 33 legt nahe, dass Lalages <?page no="332"?> 3 Kommentar 332 Schwester zumindest ein gewisses Alter erreichte, da sie offenbar schon einen Geliebten hatte. S. den Komm. zu suo Palaemoni. • 7 Der komplexe Ausdruck von Hor. carm. 2,9,10-12 (Zitat oben zu 5-8) ist hier stark vereinfacht. • 8 tibi Tu (5) und tibi umschließen die Strophe, in der Lalage angeredet und ihre Trauer benannt wird. Die vorangehende und die nachfolgende Strophe bringen dagegen mythische Beispiele. • 9-12 Venus und Adonis wurden als Liebespaar schon zweimal im Gedichtzyklus erwähnt (Lal. 7,3-4 und 12,23-24). Zur Darstellung von Venus’ Trauer in bukolischer Dichtung vgl. bes. Bions Epitaphios Adonidos. Zum Mythos vgl. z.B. Ov. met. 10,519-559.708-739: Durch ein Versehen Amors verliebt Venus sich in den schönen Jüngling Adonis, der trotz ihrer Warnung auf die Jagd geht und dabei von einem Eber getötet wird. In 11-12 spielt Schoonhoven auf einen anderen Mythos an: Der Zyklop Polyphem liebt die Nymphe Galatea, die sich jedoch in Acis verliebt. Aus Eifersucht tötet Polyphem Acis mit einem Felsen. (Vgl. Ov. met. 13,740-897; hier bes. 13,882-884: insequitur Cyclops partemque e monte revulsam / mittit, et, extremus quamvis pervenit ad illum / angulus e saxo, totum tamen obruit Acin.) Es ist nicht klar, welche Verbindung Schoonhoven zwischen den beiden Geschichten sieht, die er durch quando (11) miteinander verknüpft. Möglich - wenn auch kaum wahrscheinlich - wäre, dass er Adonis und Acis verwechselt hat, also annahm, dass der Zyklop Adonis umbrachte. Quando wäre dann temporal aufzufassen (oder sinngemäß kausal, wenngleich dies grammatisch nicht ganz passt), der Konjunktiv Imperfekt (statt vorzeitigem Plusquamperfekt) als dichterische Freiheit zu betrachten. Geht man davon aus, dass keine Kontamination vorliegt, so ist die Zusammenstellung der beiden Geschichten seltsam und der Sinn nicht klar. Ein gleichzeitiger Temporalsatz ohne inhaltliche Verknüpfung mit dem Hauptsatz wäre möglich („Venus weinte nicht ununterbrochen, zu der Zeit, als der Zyklop Acis umbrachte“), doch gäbe es dann keinen erkennbaren Grund für die Erwähnung des Polyphem. Eine stärkere inhaltliche Verbindung der beiden Mythen durch adversative Bedeutung des quando („Venus weinte nicht ununterbrochen, während Polyphem Acis umbrachte“) würde dagegen eine Vergleichbarkeit dieser beiden Handlungen suggerieren, die tatsächlich nicht gegeben ist. S. auch den Komm. zu 11: quando. Prinzipiell wäre auch denkbar, dass zwischen den Versen 10 und 11 eine ganze Strophe ausgefallen ist. Dagegen spricht, dass Schoonhoven die Endfassung selbst durchgesehen hat, doch könnten auch ihm dabei Fehler entgangen sein. Dass die Horazode, die den ersten fünf Strophen zugrundeliegt, sechs Strophen hat, ist kein ausschlaggebendes Kriterium, da Schoonhoven sich nie sklavisch an seine Prätexte hält und hier zudem bei der Imitation der Struktur non semper - tu semper - at non bereits die zweite horazische Strophe auslässt. • 9-10 Das mythische Beispiel von Venus und Adonis verweist nicht auf die Beziehung Lalages zu ihrer Schwester, sondern eher auf die Liebesbeziehung <?page no="333"?> Ad Lalagen. Carmen XXV 333 zwischen Lalage und Daphnis, die der Hirte sich wünscht. Diese Ebene steht hier jedoch nicht im Vordergrund, da der Mythos von Apoll und Daphne (17-20; s. den Komm. dort) die aktuelle Situation viel deutlicher und passender spiegelt. at non perpetuò flevit Vgl. Hor. carm. 2,9,13-17: at non … / ploravit … / nec (…) flevere semper. (S. auch die Einleitung.) non perpetuò „Nicht ununterbrochen“, doch nimmt Venus die Klage alljährlich wieder auf. Vgl. Bion, Epitaphios Adonidos 97-98: λῆγε γόων Κυθέρεια τὸ σάµερον , ἴσχεο κοµµῶν· / δεῖ σε πάλιν κλαῦσαι , πάλιν εἰς ἔτος ἄλλο δακρῦσαι . S. auch oben den Komm. zu 9-12. Cypris caeruleis edita fluctibus Vgl. Apul. met. 2,8: licet illa … mari edita, fluctibus educata, licet inquam Venus ipsa fuerit; Celtis Od. 2,5,1-2: o Diva salsis edita fluctibus / ferventiorum mater amantium. Die Erwähnung der Geburt aus dem Meer (s. auch den Komm. zu 41: myrteo) passt zu der häufigen Verwendung von Wassermotiven im gesamten Gedicht. (S. den Komm. zu 16: lux, flumine.) Auch die Tötung des Acis, des Geliebten der Meernymphe Galatea, durch Polyphem findet an der Küste statt. (S. die folgenden beiden Verse.) Zur Frage, ob Schoonhoven die beiden Mythen vermischt oder einfach nebeneinandergestellt hat (s. oben den Komm. zu 9-12), trägt diese vage Ähnlichkeit jedoch nichts bei. Cypris Zum Namen s. den Komm. zu Lal. 12,23-24: Cypris. • 11 quandò Nachklassisch kann quando in temporaler, kausaler oder adversativer Bedeutung gebraucht werden und dabei jeweils mit Konjunktiv stehen. (S. ausführlicher den Komm. zu Lal. 5,9: cuperes.) Welche Bedeutung hier anzunehmen ist, hängt davon ab, in welchem inhaltlichen Zusammenhang die Verse 9- 10 und 11-12 stehen. (S.o. den Komm. zu 9-12.) vertice rupis Zur Formulierung vgl. Claud. 24,240: summo… in vertice rupis und ferner Lucan. 3,470- 471: rupes quam vertice montis / abscidit impulsu ventorum adiuta vetustas. • 12 Die harte Alliteration unterstreicht die Grausamkeit der Handlung. (Für 10: Cypris caeruleis trifft dies jedoch noch nicht zu.) Cyclops = Polyphem. (S.o. den Komm. zu 9-12.) • 13-16 Inhaltlich und strukturell entspricht diese Strophe Hor. carm. 2,9,17-18: desine mollium / tandem querellarum (s. auch die Einleitung): In Form eines Imperativs wird die Aufforderung ausgesprochen, nicht länger zu klagen. Das Motiv, dass Tränen die Augen verunstalten, ist sehr häufig. Vgl. z.B. Plaut. Merc. 501: ne plora: nimi’ stulte facis, oculos corrumpis talis; Catull. 3,17-18: meae puellae / flendo turgiduli rubent ocelli; Tib. 2,6,43 (auch hier geht es um die Trauer der Geliebten um ihre Schwester): nec lacrimis oculos digna est foedare loquaces. (Vgl. Kuhlmann: ThLL 9,2 [1968-1981],410,77-82.442,60-62.) • 13-16 tandem … fletuum Vgl. Var. Carm., S. 17: tandem sistito fletus. (S. auch die Einleitung.) • 13 parce, precor, parce Vgl. Hor. carm. 4,1,2: parce precor, precor. Die Geminatio verleiht der Bitte Nachdruck. Parcere steht mit Infinitiv in der Bedeutung „unterlassen, etwas zu tun.“ (Vgl. OLD s.v. parco 2c.) • 14 Die Augen werden mit den Strahlen der Sonne verglichen, da ein Vergleich des Augenpaares mit der naturgemäß immer im Singular stehenden Sonne nicht logisch <?page no="334"?> 3 Kommentar 334 wäre. Vgl. Carmina Burana 180, 6. Strophe: tui lucent oculi / sicut solis radii. In der antiken Literatur scheint es keinen Beleg hierfür zu geben. Sehr verbreitet ist dagegen das Motiv, dass die Augen der Geliebten wie Sterne - oder sogar heller als Sterne - leuchten. Vgl. z.B. Prop. 2,3,14: oculi, geminae, sidera nostra, faces; Ov. am. 3,3,9: radiant ut sidus ocelli; epist. 20,55-56: tu facis hoc oculique tui, quibus ignea cedunt / sidera; met. 1,498-499 (Apoll und Daphne): videt igne micantes / sideribus similes oculos; 3,420; Sen. Phaedr. 1174. (Belege bei Bömer 1969 zu Ov. met. 3,420 und Enk 1962 zu Prop. 2,3,14.) radios … Hyperionis Hyperion kann sowohl der Titan heißen, der als Vater des Sonnengottes gilt (vgl. OLD s.v. Hyperion a), als auch - so wie hier - der Sonnengott selbst (vgl. OLD s.v. b). Ovid nennt die Sonne bald Hyperion (z.B. Ov. fast. 1,385; met. 15,406) bald Hyperione natus (met. 4,192.241). Bei Homer ist „Hyperion“ stets ein Epitheton des Helios (vgl. z.B. Il. 8,480; Od. 1,8.24; 12,133). Hesiod gibt dagegen als Genealogie an (Th. 371-374): Θεία δ ’ Ἠέλιον (…) γείναθ ’ ὑποδµηθεῖσ ’ Ὑπερίονος ἐν φιλότητι . Vgl. Bömer 1958 zu Ov. fast. 1,385. • 15 dedecorare Meist in der Bedeutung „entehren“ (vgl. OLD s.v. dedecorare a); gelegentlich „verunstalten.“ (Vgl. OLD s.v. b; bei dem dort zitierten Beleg [Prop. 3,22,36: faciem turpi dedecorare bove] schwingt jedoch auch die Vorstellung des „Schändlichen“ mit.) • 16 Lux, flumine Da Lalages Augen gerade mit der Sonne verglichen wurden (14), ist die Anrede lux hier besonders passend. Die Begriffe „Licht“ und „Wasser“ sind pointiert nebeneinander gesetzt: Das Licht Lalages bzw. ihrer Augen läuft Gefahr, vom Fluss der Tränen gelöscht zu werden. Vgl. ebenso bereits Catull. 64,242: in assiduos absumens lumina fletus. Wenngleich die Bezeichnung der Augen als lumina in der Dichtung sehr häufig vorkommt, ist die unmittelbare Zusammenstellung mit fletus doch bemerkenswert. Vgl. ferner z.B. Tib. 1,8,68; Ov. met. 4,674; in anderer Form Verg. Aen. 1,228: lacrimis oculos suffusa nitentis. Insgesamt kommen in dem Gedicht neben der häufigen Erwähnung von Tränen (4: fletus; 8: lacrimae; 9: flevit; 16: fletuum; 21: lacrimae) mehrmals auch andere Wasser vor (10: fluctibus; 44: Lethe). flumine fletuum Alliteration. Zum metonymischen Ausdruck des „Tränenflusses“ vgl. z.B. Ov. epist. 8,62: lacrimae fluminis instar eunt; Ov. met. 9,656: lacrimarum … rivo; Epiced. Drusi 225: [pater Tiberinus] uberibus… oculis lacrimarum flumina misit. (Vgl. dazu Flury: ThLL 7,2 [1956-1979],842,40-51.) • 17-20 Der Vorschlag eines gemeinsamen Gesanges entspricht dem letzten Teil der Horazode 2,9. (S. die Einleitung und den Komm. zu 1-2.) Das Motiv des Singens ist doppelt vorbereitet: durch das Beispiel vom Gesang der Nachtigall (2-4) und durch Lalages Trauergesang (5: luctisonis modis), den sie nun zugunsten eines anderen Liedes aufgeben soll. Als dessen Inhalt wünscht Daphnis sich die Geschichte von Apoll und Daphne, in der sich die Beziehung zwischen dem werbenden Daphnis und der oft spröden Lalage auf mythischer Ebene widerspiegelt. In Lal. 10,9-12 wurde dieser Vergleich ausdrücklich gezogen: aut fallor, aut <?page no="335"?> Ad Lalagen. Carmen XXV 335 nos dissimili deus / punxit sagitta, qualiter Actio / Apolloni Daphneque quondam / intulerat varium calorem. (S. auch den Komm. zu Lal. 10,9-13.) Dort versuchte Daphnis, Lalage zu einem anderen Verhalten ihm gegenüber zu bewegen. Im vorliegenden Gedicht steht trotz des Beispiels der Daphne nicht Lalages Flucht vor dem Liebhaber im Vordergrund, sondern es geht darum, ihre Gedanken vom Tod der Schwester wieder auf anderes zu lenken, und zwar vor allem auf den liebenden Daphnis. Die wesentliche Aufforderung ist: „Lass uns von Apoll und Daphne singen und damit indirekt von mir und dir.“ Auch das Trostgedicht dient somit dem Liebeswerben des Hirten. (S. auch die Einleitung.) • 17 cantemus potius Vgl. Hor. carm. 2,9,18-19: et potius nova / cantemus Augusti tropaea. (S.o. den Komm. zu 17- 20.) quâ prece Ovid gibt Apolls Bitte in langer wörtlicher Rede wieder; vgl. Ov. met. 1,504-524: Nympha, precor, Penei, mane! usw. • 18 crudelis pueri Amor wird oft als grausam bezeichnet. Vgl. z.B. Verg. ecl. 8,47: saevus Amor; 10,29: crudelis Amor; Tib. 1,8,7-8: deus crudelius urit, / quos videt invitos succubuisse sibi. Da Lalage gerade mit der Grausamkeit des Todes konfrontiert ist, wirkt der Hinweis auf die Grausamkeit der Liebe hier jedoch unangemessen und wenig einfühlsam. arundine Vom Pfeil des Amor z.B. Ov. met. 10,525-526: namque pharetratus dum dat puer oscula matri, / inscius exstanti destrinxit harundine pectus. Vgl. auch die Pfeilschüsse, mit denen Amor Apoll und Daphne trifft (Ov. met. 1,468-471): eque sagittifera prompsit duo tela pharetra / diversorum operum: fugat hoc, facit illud amorem; / quod facit, auratum est et cuspide fulget acuta, / quod fugat, obtusum est et habet sub harundine plumbum. • 19-20 veloces … pedes Vgl. Ov. met. 1,551 (Daphne): pes modo tam velox. cohibere Zur Bedeutung „hemmen“ vgl. Lambertz: ThLL 3 (1907),1546,6-74, doch ist dort immer das Hemmen des eigenen Laufes, Schrittes oder Fußes gemeint, nicht das eines anderen. Vgl. z.B. Sil. 15,742: cohibete fugam; Stat. Theb. 10,393: cohibete gradum! ; Hier. epist. 130,19: pedem domi cohibent nec tunc egrediuntur. • 21 nil prosunt lacrimae = Var. Carm., S. 17. (S. auch die Einleitung.) Seneca erwägt in seinen Trostschriften an Marcia und Polybius zum Schein einen möglichen Nutzen der Tränen: Wenn man dadurch das Schicksal erweichen könne, dann solle man weinen (dial. 6,6; 11,2,1). Natürlich kommt er zu dem Schluss, dass das Schicksal unerbittlich bleibt und Klagen folglich nicht helfen (dial. 11,4,1): diutius accusare fata possumus, mutare non possumus: stant dura et inexorabilia; nemo illa convicio, nemo fletu, nemo causa movet; nihil umquam ulli parcunt nec remittunt. proinde parcamus lacrimis nihil proficientibus …. Zur Formulierung vgl. Ov. ars 1,659: et lacrimae prosunt. • 21-22 Lachesis … neverit Lachesis ist eine der drei Schicksalsgöttinnen (Moiren bzw. Parzen), die den Lebensfaden der Menschen spinnen. Sachlich wäre nur eine Spinnerin notwendig, doch gibt es verschiedene Versuche, die Aufgaben auf die drei Moiren zu verteilen (etwa: Klotho hält den Rocken, Lachesis spinnt den Faden, Atropos schneidet ihn ab). Dem Namen nach ist Κλωθώ „die Spinnerin“, Λάχε - <?page no="336"?> 3 Kommentar 336 σις „die das Lebenslos zuteilt“ und Ἄτροπος „die Unerbittliche.“ Die Namen werden zuerst bei Hesiod (Th. 905) genannt; mehrere spinnende Moiren gibt es schon bei Homer (Od. 7,196-198). Vgl. Eitrem 1932, 2479-2483. Zur Formulierung vgl. bes. Sen. Oed. 985-986: servat… suae decreta colus / Lachesis dura revoluta manu; Mart. 1,88,9: cum mihi supremos Lachesis perneverit annos. colum Sowohl der Spinnrocken kann colus heißen als auch metonymisch der gesponnene Faden. Sehr häufig ist der Rocken der Parzen gemeint oder das, was von den Parzen gesponnen wird, also das Schicksal bzw. der „Lebensfaden.“ (Vgl. jeweils die Absätze im OLD.) Zur letztgenannten Bedeutung vgl. z.B. Val. Fl. 6,644-645: diva supremas / rumpit iniqua colus. rigido Enallage; es wird keine physische Eigenschaft des Daumens benannt, sondern die Unnachgiebigkeit und Unerbittlichkeit des Schicksals betont. (Vgl. OLD s.v. rigidus 5a: „stern, relentless, strict, inflexible, etc.“) pollice neverit Vgl. Ov. met. 8,453 (Parzen): stamina… inpresso fatalia pollice nentes. neverit Präsentisches Perfekt zur Bezeichnung einer Handlung, die in der Gegenwart des Sprechenden vollendet ist. (Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 124-125, § 33.) • 23-24 Zu den Topoi der Trostliteratur gehört die Erinnerung daran, dass alles gleichermaßen vergänglich ist, der Tod also Naturgesetz und nicht Einzelschicksal. Vgl. z.B. Sen. dial. 11,1,1: ita est: nihil perpetuum, pauca diuturna sunt; aliud alio modo fragile est, rerum exitus variantur, ceterum quidquid coepit et desinet. (S. auch den Komm. zu 27-28: nil … perpetuum.) Vgl. auch Var. Carm., S. 17: nos omnes eadem condicio manet: / cui nasci dederunt Dii, dederunt mori; / cunctos exitus aequat. (S. auch die Einleitung.) Zu Sentenzen im Gedichtzyklus s. Kap. 1.2.2.4. naturae imperio Vgl. Iuv. 15,138: naturae imperio gemimus. cadit Wenn cadere „sterben“ heißt, ist oft das „Fallen“ in der Schlacht gemeint; vgl. aber auch Prop. 2,28,42: vivam, si vivet; si cadet illa, cadam. (Vgl. OLD s.v. cadere 9a.) S. auch den Komm. zu den folgenden Versen. • 25-26 Die Blume dient als Beispiel für quodcumque creatum est (23), was durch die Wiederaufnahme von cadit (24) durch concidat (25) unterstrichen wird. Zugleich ist das Bild der Blume, die am Morgen blüht und am Mittag welkt, eine Allegorie der Vergänglichkeit des Lebens überhaupt und besonders des menschlichen Lebens. S. auch Lal. 8,19-20: te caducis consimiliem putans / rosis tumentem pone superbiam mit Komm. quàm subitò Als Einleitung eines indirekten Fragesatzes z.B. Plaut. Pseud. 49-50: faxo scies, / quam subito argento mi usus invento siet. aridus Vgl. OLD s.v. 2a: „… dried, sere, withered.“ protulerat Das Plusquamperfekt kann aus metrischen Gründen oder zur Verdeutlichung der Vergangenheit statt des Perfekts stehen. (S. den Komm. zu Lal. 5,12: contempsisset.) Lucifer Der Planet Venus trägt als Morgenstern den Namen Lucifer (griechisch Φωσφόρος , ἑωσφόρος ; s. auch den Komm. zu Lal. 33,1: Phosphorus); als Abendstern heißt er Vesper ( ἕσπερος ) . Seit wann man sich der Identität von beiden bewusst war, ist unklar. Vgl. Rehm 1913, 1250-1252. Der Morgenstern steht metonymisch für den Morgen. aureum Bei Blumen in der Regel <?page no="337"?> Ad Lalagen. Carmen XXV 337 „goldfarben“ (vgl. z.B. Verg. georg. 4,271-274: est etiam flos in pratis cui nomen amello / (…) aureus ipse; Plin. nat. 25,32; vgl. OLD s.v. aureus 4b), doch wird aureus auch allgemein von besonderer Schönheit gesagt (vgl. OLD s.v. 5). Aureum bildet einen pointierten Gegensatz zu aridus im vorigen Vers (jeweils ein dreisilbiges Adjektiv am Versschluss). • 27-28 Die Sentenz entspricht inhaltlich 23-24. (S. den Komm. dort.) S. auch Lal. 8,28: nil Sol perpetuum videt (mit Komm.); vgl. Var. Carm., S. 81 (In fragilitatem vitae humanae): sanxit perenni lege necessitas, / ut nil creatum perpetuum siet. nil … perpetuum Vgl. Sen. dial. 11,1,1: nihil perpetuum, pauca diuturna sunt. (S. auch den Komm. zu 23-24.) culmine Caeli Als Versschluss z.B. Manil. 2,810: summi qui regnat culmine caeli. Phoebus … videt Vgl. z.B. Ov. met. 13,852-853: non haec omnia magnus / Sol videt e caelo? ; Sen. apocol. 7,2: quod Phoebus ortu semper obverso videt; Boeth. cons. 2 carm. 6,9-10: quos videt condens radios sub undas / Phoebus. • 29-32 Vgl. auch Var. Carm., S. 17: felices nimium qui citò deserunt / has mundi tenebras et positi polô / lucem clarius altam / mente concipiunt suâ. (S. auch die Einleitung.) • 29-30 Der Gedanke, dass der Tod das Ende aller Mühsal sei, gehört ebenfalls zu den Topoi der Trostliteratur; vgl. z.B. Sen. dial. 6,19,5: mors dolorum omnium exsolutio est et finis ultra quem mala nostra non exeunt. ingemina Oft in der Bedeutung „wiederholt sagen“ oder „wiederholt nennen.“ (Mit wörtlicher Rede z.B. Ov. met. 1,653: ‚me miserum! ‘ ingeminat; mit Akkusativobjekt z.B. Claud. rapt. Pros. 3,221-222: [Venus] vicinos callida flores / ingeminat. Vgl. OLD s.v. 1b; Hofmann: ThLL 7,1 [1954],1517,52-76; s. auch Lal. 18,4: balatum ingeminant mit Komm.) Einen Beleg für ingeminare mit doppeltem Akkusativ habe ich nicht gefunden. sororculam S. V. 6: sororculae mit Komm. solvêre … fata Vgl. Sen. Tro. 600-601: me fata maturo exitu / facilique solvant. fata Sachlich natürlich der Tod der Schwester, doch nach 21-22 denkt man hier eher als in 6 (s. den Komm. dort) auch an das personifizierte Schicksal als handelndes Subjekt. • 31-32 Auch die Vorstellung eines Aufstieges der Verstorbenen zu einem höheren, besseren Ort findet sich oft in Senecas Trostschriften; vgl. dial. 6,23,1: facillimum ad superos iter est animis cito ab humana conversatione dimissis; minimum enim faecis, ponderis traxerunt; 6,25,1: … deinde ad excelsa sublatus inter felices currit animas. excepit illum coetus sacer, Scipiones Catonesque …; 11,9,8: fruitur nunc aperto et libero caelo; ex humili atque depresso in eum emicuit locum, quisquis ille est qui solutas vinculis animas beato recipit sinu, et nunc libere illic vagatur omniaque rerum naturae bona cum summa voluptate perspicit. aequore mundi Zur Junktur vgl. z.B. Lucr. 6,108: [nubes] dant etiam sonitum patuli super aequora mundi; Stat. silv. 3,2,43. Dort ist mundus jeweils das Himmelsgewölbe (Bailey 1963 zu Lucr. 6,108 übersetzt patuli super aequora mundi mit „over the levels of the spreading firmament“), bei Schoonhoven hingegen die Erde, auf der die Menschen leben. sedes … Deûm Häufige Junktur; vgl. z.B. Lucr. 5,146-147: sedes / … deum; 5,1188; Tib. 1,2,81: sedes … deorum; Ov. met. 2,512-513: deorum / sedibus. tulerunt <?page no="338"?> 3 Kommentar 338 Der Vokal „e“ ist hier kurz zu messen wie z.B. Verg. ecl. 4,61: matri longa decem tulerunt fastidia menses. Die Form -ĕrunt ist wahrscheinlich älter, die später übliche Form -ērunt wohl kontaminiert aus -ĕrunt und -ēre. (Vgl. Leumann 1977, 338, § 246.) • 33-44 Zum Hirtenparadies s. die Einleitung. • 33 dulcè Vgl. OLD s.v. dulcis 6b: „expressing fondness, affectionate, kind.“ In Analogie zum Griechischen kann das Neutrum eines Adjektivs als Adverb gebraucht werden (ursprünglich in der Form eines Akkusativs des Inhalts; z.B. dulce ridere gleich dulcem risum ridere). Vgl. Kühner/ Holzweissig 1912, 1, 1011, § 226,5; Hofmann/ Szantyr 1965, 40, § 45. Vgl. z.B. Catull. 51,5: dulce ridentem; Hor. carm. 1,22,23. Auch der Akzent zeigt an, dass es sich hier um ein Adverb handelt. (Zu den neulateinischen Akzentregeln s. Kap. 1.3 c.) S. auch V. 42: dulciter. suo … Palaemoni In Vergils dritter Ekloge tritt ein Palaemon als Schiedsrichter auf (3,55-59.108-111). Palaemon ist jedoch kein typischer Hirtenname, sondern der Name eines Meeresgottes. Vgl. z.B. Plaut. Rud. 160: Palaemo, sancte Neptuni comes; Verg. Aen. 5,823; Ov. met. 4,542 (metonymisch Ov. epist. 18,159: superare Palaemona nando). In Lal. 33,20 wird ein mons Palaemonis erwähnt. (S. den Komm. dort.) Das Possessivpronomen legt nahe, dass Palaemon im vorliegenden Gedicht der Geliebte von Lalages Schwester ist, der dann ebenfalls bereits gestorben sein muss. Die Verbundenheit der beiden im Himmel bildet einen Gegensatz zu dem immer noch erfolglosen Werben des Daphnis. Als Lalage später stirbt, will Daphnis sich selbst das Leben nehmen, um nach dem Tod mit ihr vereint zu werden; s. Lal. 40,56-57: et cui nequisti iungier vivens, ei / iungere vitae inanis atque spiritus. Ein Elysium als Ort der Liebenden schildert besonders ausführlich Tibull (1,3,57-66); vgl. bes. 57-58: sed me, quod facilis tenero sum semper Amori, / ipsa Venus campos ducet in Elysios; 63-64: ac iuvenum series teneris inmixta puellis / ludit, et adsidue proelia miscet amor. (S. auch den Komm. zu 41: myrteo.) In Senecas Tragödien gibt es sogar die Vorstellung einer ehelichen Verbindung erst nach dem Tod; vgl. Tro. 942-944: Polyxene miseranda, quam tradi sibi / cineremque Achilles ante mactari suum, / campo maritus ut sit Elysio, iubet. Zum Elysium der Liebenden vgl. Brazouski 1990, 35-36 mit weiteren Belegen. In der neulateinischen Literatur vgl. Flam. carm. 3,4,39-42 (S. 184): et mihi, qualis erit teneris comitata puellis, / occurret celeri candida Lygda pede: / et dulces dabit amplexus, et basia iunget, / iunget et optati gaudia coniugii. (Der Sprecher sieht sich im Elysium; s. auch den Komm. zu 37: Tityrus.) • 34 umbras Hier sind nicht die Schatten der Toten gemeint, sondern Schatten von Bäumen; so auch Sen. Tro. 158-160: nunc Elysii nemoris tutis / errat in umbris interque pias / felix animas Hectora quaerit. In einem Paradies der Hirten, wie es Daphnis beschreibt (s. die Einleitung), erinnern die umbrae an ein typisches Element des bukolischen locus amoenus. (S. den Komm. zu Lal. 1,6-12.) Elysii Erwähnungen des Elysium gibt es schon bei Homer (Od. 4,563-567; vgl. bes. 563: Ἠλύσιον πεδίον ) und Hesiod (Op. 167-173). Es wurde zunächst als Inseln im Westen <?page no="339"?> Ad Lalagen. Carmen XXV 339 jenseits des Okeanos vorgestellt. Spätestens Vergil versetzt das Elysium in die Unterwelt (Aen. 6,637-659). Daneben existiert jedoch seit Platon und Aristoteles die Vorstellung, dass die Seelen der Verstorbenen (bzw. der besten unter ihnen) zum Himmel aufsteigen. Vgl. J. Kroll 1953, 7-35; Waser 1905, 2470-2476; Habermehl 1996, 282-283. Schoonhoven, der sein Hirtenparadies im Himmel ansiedelt, ist sicherlich auch von christlichen Jenseitsvorstellungen beeinflusst. Elysii soli Offenbar äquivalent zu Ἠλύσιον πεδίον (Hom. Od. 4,563) bzw. campus Elysius (auch im Plural; vgl. z.B. Verg. georg. 1,38; Tib. 1,3,58; Sen. Tro. 944). • 35-36 Der Gedanke der Kontinuität nach dem Tode kam in verschiedenen Variationen bereits in Lal. 8,11-12 und 19,5-7 vor. (S. auch die Kommentare dort.) Neu ist, dass hier eine frühere irdische Tätigkeit im Elysium fortgesetzt wird und nicht auf der Erde. quae viva solebat Vgl. Ov. met. 13,441-443: hic subito, quantus, cum viveret, esse solebat, / exit humo late rupta similisque minanti / temporis illius vultum referebat Achilles; Sen. dial. 6,3,4: illum ipsum iuvenem … meliore pones loco, si matri suae, qualis vivus solebat, hilarisque et cum gaudio occurrit. murmura fistulae Murmur kann das Geräusch von Blasinstrumenten bezeichnen, doch ist dann meist der dumpfe Klang etwa von Hörnern oder einer Tuba gemeint. (Vgl. OLD s.v. murmur 1a.) Vgl. jedoch Ov. met. 14,537: inflati … murmure buxi. • 37 pastorum columen Eigentlich bedeutet columen „Giebel“ oder „First.“ Übertragen wird es von Personen gesagt, die innerhalb einer Gruppe die höchste Position innehaben. Vgl. z.B. Ter. Phorm. 287: columen … familiae; Catull. 64,26: Thessaliae columen Peleu. (Vgl. OLD s.v. columen 4a; Schwering: ThLL 3 [1907],1736,64-1737,25.) Tityrus Die Charakterisierung des Tityrus als pastorum columen legt nahe, dass wie schon in Gedicht 18 Vergil gemeint ist. (S. den Komm. zu Lal. 18,17-24; vgl. bes. Serv. ecl. 1,1: hoc loco Tityri sub persona Vergilium debemus accipere.) Wenn diese Deutung zutrifft, begegnet Lalages Schwester im Elysium dem Archegeten der römischen Bukolik. Aus der antiken Literatur ist dieses Motiv in der Form vertraut, dass Dichter oder generell Schriftsteller in der Unterwelt mit bereits verstorbenen Autoren zusammenkommen. Vgl. z.B. Hor. carm. 2,13 (der Dichter stellt sich vor, er höre in der Unterwelt Sappho und Alkaios musizieren); Ov. am. 3,9,60-64: in Elysia valle Tibullus erit. / obvius huic venies hedera iuvenalia cinctus / tempora cum Calvo, docte Catulle, tuo; / tu quoque, si falsum est temerati crimen amici, / sanguinis atque animae prodige Galle tuae. (Zu weiteren Belegen vgl. die Einleitung von Nisbet/ Hubbard 1978, 204 zu Hor. carm. 2,13.) In der neulateinischen Literatur vgl. Flam. carm. 3,4,35-38 (S. 184): ah liceat saltem Elysios invisere campos, / et fortunatae regna beata plagae; / hic ubi cum molli Nemesis formosa Tibullo / ludit; et est vati Lesbia iuncta suo. (S. auch den Komm. zu 33: suo … Palaemoni.) • 38 vallibus herbidis Die grünen Täler sind auch Teil der irdischen bukolischen Landschaft im Lalage-Zyklus; s. Lal. 3,10: dulci gramine vallium; 3,33: gramine vallium. (S. auch die Einleitung.) • 39 nutus voce Die komprimierte Formulierung <?page no="340"?> 3 Kommentar 340 basiert wohl auf Stellen wie Ov. am. 2,5,16: nutibus in vestris pars bona vocis erat; ars 1,574: saepe tacens vocem verbaque vultus habet. Vgl. OLD s.v. vox 1d zum übertragenen Gebrauch von vox bei nicht verbalen Ausdrucksmöglichkeiten. Nutus ist explikativer Genetiv, nutus vox also „eine Äußerung, die in einem Kopfnicken besteht.“ In der Übersetzung habe ich dies aus stilistischen Gründen vereinfacht. • 40 demonstrans „Recommend“ (OLD s.v. demonstro 4). Amaryllidi Amaryllis ist bei Vergil die Geliebte des Tityrus; vgl. ecl. 1,4-5: tu, Tityre, lentus in umbra / formosam resonare doces Amaryllida silvas. S. auch den Komm. zu 37: Tityrus. • 41 ornata caput Akkusativ der Beziehung; vgl. hier bes. Verg. georg. 3,21: ipse caput tonsae foliis ornatus olivae. myrteo Die Myrte ist die Pflanze der Venus. Zu Verg. ecl. 7,62 ([gratissima] formosae myrtus Veneri) notiert Servius, dass Venus sich mit Myrten bedeckt haben solle, als sie aus dem Meer gestiegen sei. (S. auch V. 10.) Murr (1969, 86-87) weist darauf hin, dass die Myrte auf Gräbern gepflanzt wurde, da Venus als Naturgöttin „auch die Bedeutung einer Todesgöttin angenommen“ habe. Als Pflanze der Unterwelt wird die Myrte mit den Schatten von unglücklich Liebenden in Verbindung gebracht; vgl. Verg. Aen. 6,442-444: hic quos durus amor crudeli tabe peredit / secreti celant calles et myrtea circum / silva tegit. Tibull (1,3,65-66; s. auch den Komm. zu 33: suo Palaemoni) nennt in diesem Zusammenhang sogar den Myrtenkranz: illic [sc. in den Elysischen Gefilden] est, cuicumque rapax Mors venit amanti, / et gerit insigni myrtea serta coma. Vgl. ferner z.B. Hor. carm. 1,4,9: nunc decet … viridi caput impedire myrto, wo der Beschreibung des Frühlings (1,4,5 erscheint Venus als Frühlingsgöttin) ab V. 13 eine Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens folgt. • 42 compellat In der Bedeutung „jemanden anreden als“ z.B. Cic. Phil. 2,94: compellarat hospitem. (Vgl. OLD s.v. compello 2 2a.) Indem Amaryllis Lalages Schwester als socia anspricht, nimmt sie die gerade im Elysium Angekommene in den Kreis der dort Wohnenden auf. • 43 convivia Poetischer Plural. • 44 In der antiken Vorstellung trinken die Schatten der Verstorbenen vom Wasser des Unterweltsflusses Lethe, woraufhin sie alles Gewesene vergessen. (Vgl. W. Kroll 1924, 2141- 2144.) Vgl. z.B. Verg. Aen. 6,713-715: animae, quibus altera fato / corpora debentur, Lethaei ad fluminis undam / securos latices et longa oblivia potant (allerdings trinken dort gerade diejenigen vom Lethefluss, die nicht ins Elysium gelangen, sondern wiedergeboren werden). Amaryllis wäscht die Schläfen der Verstorbenen. Die im Gehirn gespeicherten Erinnerungen werden also sozusagen von außen fortgespült. Das Motiv erinnert an das Besprengen der Schläfen mit Lethewasser, um jemanden in Schlaf zu versetzen; vgl. z.B. Verg. Aen. 5,854-856: ecce deus [sc. Somnus] ramum Lethaeo rore madentem / … super utraque quassat / tempora; Sil. 10,354-356: quatit inde soporas / devexo capiti pennas oculisque quietem / irrorat tangens Lethaea tempora virga. (S. auch Lal. 24,8 mit Komm.; zur Nähe von Schlaf und Tod s. den Komm. zu <?page no="341"?> Ad Lunam. Carmen XXVI 341 Lal. 24,10: lethea… pocla.) Zur Formulierung vgl. hier auch Catull. 65,5-6: namque mei nuper Lethaeo gurgite fratris / pallidulum manans alluit unda pedem. Ad Lunam. Carmen XXVI In einer Hymne an den Mond bittet Daphnis um Hilfe bei einer nächtlichen Unternehmung: Statt wie bislang die abendliche Trennung von Lalage hinzunehmen (s. Lal. 14,9-10; 16,49-52), macht er sich nun in der Dunkelheit auf den Weg zu ihr. Das Gedicht lässt sich grob in 5 + 7 + 5 Verse gliedern: Der Anrufung des Mondes (1-5) folgt die Bitte, Daphnis in der herrschenden Dunkelheit den Weg zu zeigen (6-12). Die Metapher in 6-7 weist dabei schon auf die eigentliche Bitte, den Hirten mit seiner Geliebten zusammenzubringen, voraus. (S. den Komm. dort.) Der abschließende Wunsch (13-17) nimmt auf die Liebe zwischen Luna und Endymion Bezug. Typische Elemente des Hymnos sind die Anrufung (invocatio) in den Versen 1-2, die Prädikation göttlicher Eigenschaften im Relativstil (2-5) und die Bitte (precatio) in den Versen 10-12. (Vgl. Norden 1929, 141-176; Furley 1998, 789.) Nach der Unterscheidung von Wünsch (1916, 142) liegt hier ein subjektiver Hymnos vor, da eine Gottheit um Hilfe gebeten wird, während objektive Hymnen ohne konkrete Intention von den Taten einer Gottheit erzählen. Ein Gegenstück zu dieser Hymne an den Mond bildet Lal. 30, ein Gedicht an den Faun. (S. die Einleitung dort.) Schon in den homerischen Hymnen gibt es einen Hymnos an Selene ([h.Hom.] 32). Erst später wird die Mondgöttin mit Artemis bzw. Diana gleichgesetzt. (Vgl. Wernicke 1896, 1354.) So sprechen Catull und Horaz im Hymnos Diana auch in ihrer Eigenschaft als Mondgöttin an; vgl. bes. Catull. 34,15-20; Hor. carm. saec. 35-36. Auch in der neulateinischen Literatur sind Gedichte an Diana-Luna sehr verbreitet. Vgl. z.B. Flam. carm. 1,4 (S. 104-105, Hymnus in Dianam), bes. die Verse 9-20 (s. auch den Komm. zu 3- 5); Petrus Lotichius Secundus, Elegiae 1,5 (Humanistische Lyrik 1997, 416- 422); Paul Schede Melissus, Ad Lunam (Humanistische Lyrik 1997, 792-796). Es werden jeweils verschiedene Wirkungsbereiche der Göttin hervorgehoben, so z.B. bei Paul Schede Melissus die Tätigkeit der Diana als Geburtshelferin. In der Elegie des Petrus Lotichius Secundus ist vor allem der Mond als Himmelskörper angeredet, der einem nächtlichen Wanderer den Weg erleuchten möge. In einem weiteren Gedicht des Flaminio (Lus. Past. 29) ist ebenfalls Luna als Mond angesprochen, der in diesem Falle sein Licht verbergen soll, um einen Liebenden nicht zu verraten. Dort wird - ebenso wie in Lal. 26 - die Mondgöttin Luna nicht ausdrücklich mit Diana assoziiert. Die Bitte eines Liebenden an den Mond, ihm auf seinem nächtlichen Weg zur Geliebten beizustehen, hat auch ein Vorbild in Ovids Heroidenbrief des Leander an Hero (vgl. bes. epist. 18,61-74). Leander erinnert <?page no="342"?> 3 Kommentar 342 die Mondgöttin dabei an ihre eigene Liebe zu Endymion, um sie sanftmütig zu stimmen (epist. 18,62-64). Horaz verwendet iambische Dimeter ausschließlich im Wechsel mit anderen Versen wie z.B. iambischen Trimetern (epod. 1); bei Catull kommen sie gar nicht vor. Stichische iambische Dimeter finden sich in plautinischen Cantica (z.B. Aul. 135-139; Epid. 27-28; vgl. Crusius 1967, 71-72), dann vor allem seit der Spätantike. Hier sei besonders auf den Liber Cathemerinon des Prudentius verwiesen: Vier der insgesamt zwölf Hymnen sind in akatalektischen iambischen Dimetern verfasst (Prud. cath. 1; 2; 11; 12). Metrum: Iambische Dimeter. 1-3 Die ersten zweieinhalb Verse sind aus drei antiken Zitaten zusammengesetzt; vgl. Catull. 61,199-203: ille pulveris Africi / siderumque micantium / subducat numerum prius, / qui vestri numerare volt / multa milia ludi (micare von Sternen ist häufig belegt; zu Vergleichen einer großen Menge mit der Zahl der Sterne s. V. 15-17 mit Komm.); Hor. carm. saec. 35-36: siderum regina bicornis, audi, / Luna, puellas; Hor. epod. 5,51: [o] Nox, et Diana, quae silentium regis. noctu Möglicherweise hat Schoonhoven hier einen Kommentar zu Hor. epod. 5,51 eingeflochten; vgl. Commentator vetus (Ed. 1597, S. 263): quae silentium regis: noctem in potestatem habes. o Die Interjektion steht häufig am Beginn der invocatio von Hymnen. (S. die Einleitung.) Vgl. z.B. Hor. carm. 1,30,1: o Venus, regina Cnidi Paphique; 1,35,1: o diva, gratum quae regis Antium; 3,13,1: o fons Bandusiae; Catull. 34,5: o Latonia. siderum S. auch V. 17: tuorum siderum mit Komm. quae … quae Zum Relativstil in Hymnen s. die Einleitung. • 3-5 Dem Mond wurden neben dem Bewirken von Ebbe und Flut auch vielfältige Einflüsse auf die Erde zugeschrieben, die tatsächlich andere Ursachen haben. Dazu gehört der nächtliche Tau. Vgl. Boll 1926, 46: „Auch der erquickende und befruchtende Tau fällt in hellen Mondnächten am reichlichsten und weist so wiederum auf den Zusammenhang des Mondes mit der Fruchtbarkeit.“ Vgl. z.B. auch Flam. carm. 1,4,17-20 (S. 104-105, Hymnus in Dianam): tunc silvae memor aureos / flores et violaria / et parvas segetes levi / nutris humida rore (s. auch die Einleitung). S. auch Lal. 24,2: humentes mit Komm. • 3-4 gemmulis … rorum Vgl. Lucr. 2,319: herbae gemmantes rore recenti; 5,461-462: aurea cum primum gemmantis rore per herbas / matutina rubent radiati lumina solis. argenteis Silbern vom Mondlicht. Vgl. z.B. Ov. epist. 18,71: [luna] fulges radiis argentea puris. rigas S. auch V. 9 mit Komm. • 5 alma Aufgrund der Wortstellung muss alma zu pascua gehören. (Zur Bezeichnung des Erdbodens als almus vgl. z.B. Lucr. 2,992-993: alma … terra; Ov. met. 15,204-205: florum… coloribus almus / ludit ager.) Metrisch wäre auch der Bezug auf regina möglich. Das Adjektiv almus dient sehr häufig als Epitheton von Gottheiten (vgl. OLD s.v. b) und wird in Hymnen bei der invocatio verwendet. Vgl. z.B. Lucr. 1,2: alma Venus; Hor. carm. saec. 9: alme Sol; Paul Schede Melissus, Ad <?page no="343"?> Ad Lunam. Carmen XXVI 343 Lunam 1: noctium dux alma. • 6-12 Alles liegt in nächtlichem Schlaf; nur der Liebende ist noch wach und macht sich auf den Weg zur Geliebten. Die Schlaflosigkeit eines Liebenden ist topisch. Vgl. schon das berühmte Sappho-Fragment 168 B V.: ∆έδυκε µὲν ἀ σελάννα / καὶ Πληΐαδες· µέσαι δὲ / νύκτες , παρὰ δ ’ ἔρχετ ’ ὤρα , / ἔγω δὲ µόνα κατεύδω ; weiter z.B. Longos 1,13,6 (Chloe): νύκτωρ ἠγρύπνει ; Longos 2,7,4 (Philetas über seine frühere Verliebtheit): … οὔτε ὕπνον ᾑρούµην ; Dido in Verg. Aen. 4,1-8 und 4,522-532; Medea in A. R. 3,744-770; Medea in Val. Fl. 7,1-8. S. auch Lal. 31,13-20 mit Komm. Der nächtliche Besuch bei der Geliebten mündet in der römischen Liebeselegie oft in die Situation des exclusus amator und den Gesang eines Paraklausithyron. (S. Lal. 31 mit Einleitung.) • 6-7 Ähnlich bereits Hes. Th. 126-127: Gaia gebar den gestirnten Uranos, damit er sie ganz umschließe ( ἐέργοι oder καλύπτοι ). Zur die Erde umhüllenden Nacht vgl. Verg. Aen. 8,369: nox ruit et fuscis tellurem amplectitur alis; Navag. Lus. 22,1: Nox bona, quae tacitis terras amplexa tenebris …. Die Metapher des Umarmens passt zum erotischen Kontext des Lalage-Zyklus und deutet somit bereits auf die eigentliche Bitte voraus. (S. auch die Einleitung.) • 7-8 omnes … animantium greges Das Genetivattribut ist redundant und wirkt ungelenk. Sinnvoll wäre zu sagen „alle Tiere der Herden“ oder aber die Tiere genauer zu spezifizieren (z.B. „alle Schaf- und Ziegenherden“). omnes undique = Lal. 8,1. • 9 solvit Zur Bedeutung „entspannen“ vgl. OLD s.v. solvo 8; vom Schlaf z.B. Verg. Aen. 9,189: somno vinoque soluti; Ov. met. 8,817: sopore solutum. rigat Die Pflanzen werden durch den Tau benetzt und somit erfrischt (4: rigas), die Tiere dagegen erfrischt der Schlaf. In der Antike wird nur das Kompositum irrigare übertragen gebraucht; vgl. hier bes. Verg. Aen. 3,511: fessos sopor inrigat artus. (Vgl. OLD s.v. irrigo 1d.) • 11-12 gradus … dirige Vgl. Sen. Phoen. 62: derigam inviti gradum. • 13 sic sic Sic ist die übliche Einleitung eines guten Wunsches, der von der Erfüllung einer Bitte abhängig gemacht wird. (Vgl. OLD s.v. sic 8d; s. auch V. 15; Lal. 17,11.) Ein solcher Wunsch schließt auch Flaminios Gedicht an den Mond (Lus. Past. 29,7-8). Im Gegensatz zu Schoonhovens Gedicht weist der Wunsch bei Flaminio jedoch keinen Bezug zum erotischen Kontext des Gedichtes auf. S. auch die Einleitung. fruare = fruaris. perpetim S. den Komm. zu Lal. 4,3: perpetim. • 14 Endymion, der Geliebte der Luna (Selene), heißt Latmius heros nach dem Berg Latmos in Karien, auf dem er in ewigem Schlafe und in ewiger Jugendschönheit liegt. (Vgl. Roscher 1965, 1,1246-1248.) Pseudo-Theokrit zählt Endymion wie Adonis zu den Hirten, die von Göttinnen geliebt wurden; vgl. [Theoc.] 20,37-39: Ἐνδυµίων δὲ τίς ἦν ; οὖ βουκόλος ; ὅν γε Σελάνα / βουκολέοντα φίλασεν , ἀπ ' Οὐλύµπω δὲ µολοῖσα / Λάτµιον ἂν νάπος ἦλθε καὶ εἰς ὁµὰ παιδὶ κάθευδε . Zur Formulierung vgl. bes. Ov. trist. 2,299-300: in Lunam Latmius heros, / … qui referatur, erit. heroe Der Ablativ von heros ist klassisch selten; vgl. aber Cic. Att. 4,3,5: in illo heroe. Luna Erst hier wird die Mondgöttin namentlich angeredet, doch gibt schon <?page no="344"?> 3 Kommentar 344 die Überschrift die Adressatin an. Auch die Periphrase in 1-3 ist eindeutig, nicht zuletzt wegen der zugrundeliegenden Prätexte. • 15-17 Der Vergleich einer unermesslichen Menge mit der Zahl der Sterne ist schon früh und in vielen Kulturen verbreitet. Vgl. West 2007, 95-96; z.B. Genesis 22,17: benedicam tibi et multiplicabo semen tuum sicut stellas caeli et velut harenam quae est in litore maris. Die Küsse lassen natürlich besonders an Catull. 7,7- 10 denken: quam sidera multa, cum tacet nox, / furtivos hominum vident amores: / tam te basia multa basiare / vesano satis et super Catullo est. (Im Kontext von Liebesspielen vgl. z.B. auch Catull. 61,199-203; zitiert zu 1-3.) Svennung (1945, 84-86) nennt zahlreiche weitere Beispiele vor allem aus der griechischen und römischen Literatur. (Vgl. auch Otto 1962, 321-322.) Schoonhoven verleiht dem bekannten Topos eine neue Pointe, indem er einen engen inhaltlichen Bezug zum Kontext des Gedichtes herstellt. Einen weiteren Beleg dafür, dass der Nachthimmel selbst angeredet wird, wenn es um die Zahl seiner Sterne geht, habe ich nicht gefunden. Die drei Verse zerfallen in zwei annähernd gleich lange Hälften mit gleichen Elementen, wobei tanta sit und quantus est sowie tuorum (zweimal) jeweils an gleicher Versposition stehen. sic S. V. 13 mit Komm. basiorum … seges Vgl. Catull. 48,4-6: nec numquam videar satur futurus, / non si densior aridis aristis / sit nostrae seges osculationis. (S. auch Praef. 10: segetem osculationis mit Komm.) tuorum siderum Die Sterne sind Luna zu eigen, insofern sie ihre Königin ist (1-2). Das letzte Wort nimmt ringkompositorisch das erste Wort des Gedichtes (die Interjektion o nicht mitgezählt) wieder auf. Ad Lalagen. Carmen XXVII Der Rivale Thyrsis war schon in Gedicht 6 begegnet. Dort musste Daphnis noch machtlos dessen Tändeleien mit Lalage zusehen und konnte seine eigene Unterlegenheit lediglich durch kleine Boshaftigkeiten und eine aufschneiderische Rede kompensieren. (Zum Motiv des Rivalen s. die Einleitung zu Lal. 6.) Jetzt befindet Daphnis sich in der besseren Ausgangsposition, die er jedoch vorläufig noch mit Gewalt behaupten muss. Erst in Lal. 35 (im gleichen Metrum) wird Lalage ihn freiwillig dem Rivalen vorziehen. Die ersten beiden Strophen wirken wie ein Rätsel und seine Auflösung. (S. den Komm. zu 1.) Es folgen zwei syntaktisch zusammengehörige Strophen, in denen Daphnis den Göttern dafür dankt, dass es ihm diesmal gelungen ist, sich zwischen Lalage und Thyrsis zu stellen und Lalage buchstäblich festzuhalten. Die abschließende fünfte Strophe bietet eine allgemeine Reflexion über das Vergnügen, sich siegreich gegen einen Rivalen zu behaupten. Metrum: 2. Asklepiadeische Strophe. <?page no="345"?> Ad Lalagen. Carmen XXVII 345 1 mirabar Daphnis wundert sich zunächst über Lalages abweisendes Verhalten, bis ihm klar wird, dass sie ihn Thyrsis’ wegen fortschickt. Auch der Leser wird in der ersten Strophe im Unklaren gelassen, bis in 5 die Auflösung folgt. So vollzieht man beim Lesen des Gedichtes die Ratlosigkeit und darauf folgende Erkenntnis des Daphnis gleichsam mit. Die gleiche Technik findet sich z.B. in Verg. ecl. 1,36-38: mirabar, quid maesta deos, Amarylli, vocares (…). / Tityrus hinc aberat. • 2 obliquis oculis Im Lateinischen ist hiermit meist ein neidvoller Blick gemeint; vgl. Hor. epist. 1,14,37: obliquo oculo; Petron. 113,6: obliquis trucibusque oculis utrumque spectabam. Zur Abweisung eines Liebhabers durch die Geliebte vgl. [Theoc.] 20,13: ὄµµασι λοξὰ βλέποισα . Etwas anders Anakreon, PMG 417,1 ( λοξὸν ὄµµασι βλέπουσα ) von einem scheu fliehenden Mädchen. aufuge Der Imperativ kommt im antiken Latein fast nicht vor. (Vgl. Ihm: ThLL 2 [1900-1906],1341,45-1342, 22.) Die einzige Ausnahme ist das überlieferte assiduas aufuge blanditias in Prop. 1,9,30. In modernen Ausgaben wird aufuge durch verschiedene Konjekturen ersetzt, doch die Textausgaben und Kommentare, die Schoonhoven verfügbar waren, haben aufuge. (Dies gilt für alle Ausgaben, die ich einsehen konnte; vgl. z.B. Ed. Iosephus Scaliger 1582; Ed. Dousa fil. 1592.) • 3 montis in angulo = Lal. 23,18. • 4 solis sub face Vgl. z.B. Sen. Phaedr. 379: Phoebeae facis; Stat. Theb. 3,539: face solis. (Zur Sonne als fax vgl. Jachmann: ThLL 6,1 [1912-1926],403,71-82.) • 5 a longè Diese Verbindung der Präposition a mit dem Adverb longe kommt einmal bei Hygin vor (fab. 257,8: exclamat… a longe) und findet sich ansonsten vor allem in frühen lateinischen Bibelübersetzungen. (Vgl. Lommatzsch: ThLL 1 [1900],40,43- 50.) In der Vulgata sind meist ersatzweise andere Formulierungen eingetreten; vgl. aber noch Marc. 5,6: videns autem Iesum a longe cucurrit. nitidum Aus Sicht der Lalage ist Thyrsis „strahlend schön“, doch aus Daphnis’ Perspektive kann hier kein reines Lob gemeint sein, zumal er den Rivalen in Lal. 6 in möglichst schlechtes Licht rückt. (S. z.B. 6,13: caprimulgus ille; 6,17: naribus hispidis.) Nitidus kann auch eine negative Konnotation erhalten; vgl. bes. Hor. carm. 3,24,20: nitido … adultero. (Vgl. OLD s.v. nitidus 6a „… [sts. in bad sense = foppish]“; vgl. auch Nisbet/ Rudd 2004 z. St.: „here nitido describes a smart but ungentlemanly sleekness …, and has a hint of hair-oil.“) Thyrsida Der Rivale ist aus Lal. 6 bereits bekannt, so dass der Name keiner Erklärung bedarf. • 6 occultis latebris Der Pleonasmus wird durch conditum noch verstärkt; hinzu tritt tacito im nächsten Vers. Die Betonung des Heimlichen diskreditiert den Rivalen: Wer sich so sorgfältig versteckt, hat wohl etwas zu verbergen. Zur Formulierung vgl. Celtis Od. 3,5,61-62: nec desunt Veneris gaudia fervidis, / occultis latebris atque cubiculis …. • 7 Die wortlose Kommunikation von Liebenden in Anwesenheit anderer Personen ist ein gängiger Topos vor allem der Liebeselegie; vgl. z.B. Ov. am. 1,4,17-28 (zahlreiche Belege bei Booth 1991 zu Ov. am. 2,5,15-18, darunter zum vielsagenden nutus Ov. am. 1,4,17; ars 1,138; trist. 2,453; Tib. 1,2, <?page no="346"?> 3 Kommentar 346 21). Zur Formulierung vgl. bes. Ov. am. 3,11,23: iuvenum tacitos inter convivia nutus; Ov. fast. 1,418: signaque dat nutu; Ov. epist. 16,258: et modo per nutum signa tegenda dabam. S. auch Lal. 6,3 mit Komm. • 9 grates Zu ergänzen ist etwa habeo oder ago. Die Auslassung des Verbes ist selten; vgl. aber z.B. Auson. epist. 17,3 Prete: grates superis …. (Vgl. Hey: ThLL 6,2 [1925-1934],2205,5-8: omisso verbo.) quod Das kausale quod (s. auch V. 13) müsste klassisch den Indikativ nach sich ziehen. Vgl. jedoch Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 384, § 211,3, Anm. 3: „Spätere Schriftsteller gebrauchen bei den kausalen Konjunktionen zuweilen auch ohne besonderen Anlass den Konjunktiv, wo die klassische Prosa den Indikativ setzen würde.“ malè Hier anstelle einer Negation. (Vgl. OLD s.v. male 6.) • 10 vestro … corpore Im Gegensatz zu nos/ noster statt ego/ meus ist der Gebrauch des Plurals statt Singular für die zweite Person nicht üblich. Da Daphnis den Rivalen Thyrsis gar nicht an Lalage heranlässt (12), kann jedoch nur ihr Körper gemeint sein, so dass corpore als Singular erst zu nehmen ist. Durch vestro kommt dabei indirekt zum Ausdruck, dass Daphnis fürchtet, die beiden wieder zusammen sehen zu müssen. Im sechsten Gedicht sprach er in Bezug auf Lalage und Thyrsis von vestras delicias meos dolores (Lal. 6,33). • 11 Abbildende Wortstellung: Meis blanditiis schiebt sich gleichsam zwischen invitae und tibi, so wie Daphnis Lalages Wunsch hinderlich im Wege steht. invitae Konzessiv. blanditiis Wenn man die folgende Strophe betrachtet (vor allem 15: vexarit und 16: premerem), ist dies ein Euphemismus. • 12 gressum … clauserim Der Ausdruck ist nicht ganz logisch: Man kann den Weg versperren oder den Schritt hemmen, aber nicht den Schritt versperren. • 13-14 Den Wangenkuss gibt es auch in der antiken lateinischen Literatur, jedoch - soweit ich sehe - ohne erotische Komponente. Vgl. z.B. Ciris 253: dulcia deinde genis rorantibus oscula figens; Prop. 4,11,80: siccis oscula falle genis; Stat. Theb. 2,353-355: dolorem / coniugis amplexu solatus et oscula maestis / tempestiva genis posuit lacrimasque repressit. Wenn Eheleute oder ein Liebespaar sich auf die Wange küssen, geschieht dies in Situationen der Trauer; vgl. z.B. Ov. met. 4,141 (Thisbe findet den sterbenden Pyramus): gelidis in vultibus oscula figens. Sittl (1970, 40-41) erwähnt die Wange als „Ort des Kusses“ nicht, sondern nur Auge, Stirn, Bart, Haar und Nacken. In der Frühen Neuzeit gehört der Wangenkuss zu den erotischen Handlungen; vgl. z.B. Joh. Sec. Bas. 7,7-10: [basia] istis purpureis genis, / istis turgidulis labris / ocellisque loquaculis / ferrem; Bas. 16,1-8. quod S. den Komm. zu 9. alii Natürlich dem Thyrsis. spondentes Im Kontext einer Liebesbeziehung lässt das Verb spondere auch an ein Heiratsversprechen denken. (Vgl. OLD s.v. spondeo 1b.) Daphnis äußert den Wunsch einer Ehe in Lal. 14,21-26. adeò Vgl. OLD s.v. adeo 2 4a: „to (such) a high degree, to (such) a great extent, (so) very, extremely.“ nostra protervitas Metonymie. Zur protervitas s. auch den Komm. zu Praef. 15. • 15 vexarit Die Formulierung nostra protervitas vexarit lässt offen, auf welche Weise Daphnis Lalages Wangen „quält.“ Eine <?page no="347"?> Ad Lalagen. Carmen XXVII 347 Möglichkeit wäre, dass er seine Wut auf den Rivalen handgreiflich an ihr auslässt, wie es Ovid in einer Elegie andeutet: et fuit in teneras impetus ire genas (am. 2,5,46). Im vorliegenden Gedicht legt der Kontext jedoch keine Gewalttätigkeit in Form von Verletzungen nahe, sondern eine Fortführung erotischer Handlungen gegen Lalages Willen. So ist es wahrscheinlicher, dass Daphnis Lalage küsst, wenngleich in diesem Moment wohl nicht gerade zärtlich, sondern eher besitzergreifend. (S. auch V. 18-19.) Vexare kann im Zusammenhang mit leidenschaftlicher Liebe gebraucht werden; vgl. z.B. Ov. am. 2,19,15: sic ubi vexarat tepidosque refoverat ignes; Mart. 8,46,7: felix, quae tenerum vexabit sponsa maritum. (Vgl. OLD s.v. vexo 5c: „to trouble, torment [with passion, etc.]“) nexilibus S. Lal. 1,25-26: nexilibus … brachiis mit Komm.; 9,1-2: me nexilibus premens / ulnis. Vgl. auch Joh. Sec. Bas. 2,4-5: si queas / in mea nexilibus proserpere colla lacertis. • 16 premerem Auch die Umarmung ist eher eine Demonstration von Daphnis’ Macht über Lalage als ein Zeichen von Zärtlichkeit. (S. schon vexarit im vorigen Vers.) Vgl. Ov. am. 1,4,35 (vom Rivalen): nec premat impositis sinito tua colla lacertis. • 17-20 Sich gegen einen Rivalen durchsetzen zu müssen, gehört wie der Widerstand der Frau (s. Lal. 2,15-16 und 9,18-22 mit Kommentaren) zu den Schwierigkeiten, die den Reiz einer Beziehung erhöhen. Vgl. z.B. Ov. am. 1,4; 2,12,3. Eine ironische Überspitzung dieser Idee findet sich in Ov. am. 2,19 und 3,4, wo der Liebende den Ehemann einmal bittet, es ihm schwerer zu machen, damit seine Leidenschaft nicht aufhöre, und ihm im zweiten Falle rät, gerade nicht wachsam zu sein, da leicht Erreichbares keine Aufmerksamkeit mehr errege. Vgl. z.B. Ov. am. 2,19,3: quod licet, ingratum est; quod non licet, acrius urit. Zu gedichtschließenden Sentenzen im Lalage- Zyklus s. Kap. 1.2.2.4. • 17 dulce est Vgl. z.B. Hor. carm. 4,12,28: dulce est desipere in loco (ebenfalls in einer Sentenz am Gedichtschluss). S. auch Lal. 1,31; 5,18. crede mihi Häufige Beteuerungsformel; vgl. z.B. Prop. 1,2,7; Ov. am. 1,8,62. potirier Alter Infinitiv Präsens Passiv; vgl. z.B. Plaut. Asin. 916. S. auch Lal. 4,6: viderier mit Komm. • 18 quod Das Neutrum bezeichnet hier Küsse, Umarmungen und ähnliches, das dem Rivalen lieb ist. S. auch im Folgenden osculum, … quod. plus sapit osculum Vgl. Claud. 14,13: quod flenti tuleris, plus sapit osculum. (S. auch den Komm. zu Lal. 9,18-22 und den Komm. oben zu 17-20.) • 19 volupe est Das Wort volup ist in der Komödie oft belegt; vgl. z.B. Plaut. Asin. 942: fecit volup. Besonders häufig tritt es in Verbindung mit esse auf; vgl. z.B. Plaut. Mil. 276-277: te … / volup est convenisse. Schoonhoven verwendet hier die Form volupe. Diese ist teilweise auch für die antiken Komödien in Handschriften überliefert oder wurde aus dem zusammengezogenen volupest herzustellen versucht. Vgl. Kühner/ Holzweissig 1912, 1, 548, § 122,5. In frühneuzeitlichen Textausgaben, wie sie Schoonhoven vorlagen, steht an der oben zitierten Stelle volupe’st (z.B. in der mehrfach aufgelegten Leidener Ausgabe M. Acci Plauti Comoediae viginti. Lugduni Batavorum, ex officina Plantiniana Raphelengii; eingesehen <?page no="348"?> 3 Kommentar 348 habe ich die Exemplare von 1593 und 1609). S. auch Lal. 29,17. • 20 hosti Hostis kann zwar auch einen persönlichen Feind bezeichnen (vgl. OLD s.v. hostis 3a), doch ist öfter ein Staatsfeind und/ oder militärischer Feind gemeint. Schoonhoven spielt hier mit der Allegorie der Liebe als Kriegsdienst, wie sie Ovid in den Amores (1,9) ausführlich entwickelt (prägnant schon am. 1,9,1: militat omnis amans). Was für den Soldat der hostis, ist für den Liebenden der Rivale; vgl. bes. Ov. am. 1,9,17-18: mittitur infestos alter speculator in hostes, / in rivale oculos alter, ut hoste, tenet. Pastor et Echo. Carmen XXVIII Der Mythos von Narziss und Echo ist ein wiederkehrendes Motiv des Lalage-Zyklus. (S. noch Lal. 5; 8,9-12; 16,17-20.) Im fünften Gedicht sprach Daphnis Echo als Leidensgenossin an. Nun unterhält sich ein Hirte direkt mit Echo. Der pastor könnte Daphnis sein - auch in Lal. 38 und 40 nennt er sich in der Überschrift in der dritten statt in der ersten Person -, doch ist dies nicht zwingend. Im Gegensatz zu allen anderen Gedichten, die sich ebenfalls nicht direkt an Lalage richten (s. die Einleitung zu Lal. 5), fällt ihr Name weder im Text noch in der Überschrift, und die Beziehung zwischen Daphnis und Lalage kommt nicht explizit zur Sprache. Auch Lal. 28 handelt jedoch von der Liebe und bewegt sich dazu im bukolischen Milieu. Die allgemeine Aufforderung an die puellae (12-15) gilt implizit selbstverständlich auch für Lalage. Der Hirte stellt im Verlauf des Gedichtes zwei durch an eingeleitete Vermutungen auf, warum Echo sich wohl in verschwiegenen Höhlen verberge. Echo verneint, einen Verstoß gegen die Sittlichkeit begangen zu haben (5: vitium pudoris), gibt aber zu, dass sie sich schäme (11: pudor; s. auch den Komm. dort). Ihren Rückzug in abgelegene Gegenden begründet sie doppelt. Zunächst verweist sie auf den Verlust der Fähigkeit zur selbständigen Rede (5; s. den Komm. dort). Erst im zweiten Anlauf räumt sie ein, dass sie sich auch aus Scham über ihre gescheitertes Werben um Narcissus zurückgezogen habe (8-11). Beide Begründungen sind wichtig für das abschließende fabula docet, die Mahnung an alle Mädchen, sich erobern zu lassen, statt selbst die Initiative zu ergreifen: Die Zurückweisung der Echo durch Narcissus bedeutet, dass sie ergo anders hätte vorgehen müssen. Dabei wird ihre bloße Reaktionsfähigkeit beim Sprechen gleichsam zum Muster für das allgemein erwünschte Verhalten der Frau, das sich ebenfalls auf bloße Reaktion (redament) beschränken soll. (S. auch den Komm. zu 12-15.) In Lal. 5 arbeitete Schoonhoven mit Echoeffekten. (S. die Einleitung dort.) Nun verwendet er im Gespräch zwischen Hirte und Echo Echoreime im engeren Sinne. Das literarische Spiel, bei dem Echo die Schlusswörter oder letzten Silben eines Gegenüber wiederholt, wurde bereits in der anti- <?page no="349"?> Pastor et Echo. Carmen XXVIII 349 ken griechischen Literatur gepflegt. (Vgl. z.B. Hollander 1981, 23-26.) In Aristophanes’ Thesmophoriazusen tritt Euripides als „Echo“ auf (Th. 1068- 1096). Mehrere Parallelen zeigen, dass Aristophanes dabei eine Szene aus der Andromeda des Euripides imitiert. Obwohl dieses Stück bis auf wenige Fragmente verlorenen ist, lässt sich aus der Parodie schließen, dass schon Euripides einen Echoeffekt einsetzte. (Vgl. Austin/ Olson 2004 zu Ar. Th. 1018-19; 1069b.) Ein weiteres frühes Beispiel für einen Echoreim ist ein Epigramm des Kallimachos; vgl. fr. 28,5-6 Pf.: Λυσανίη , σὺ δὲ ναίχι καλὸς καλός ἀλλὰ πρὶν εἰπεῖν / τοῦτο σαφῶς , ἠχώ φησί τις ‘ ἄλλος ἔχει ’ . Nicht nur καλός wird echoartig wiederholt, sondern „ ναίχι καλός (néchi kalós) entspricht zur Zeit des Kallimachos phonetisch spiegelbildlich ἄλλος ἔχει (állos échi)“ (Asper 2004, 461 z. St.; vgl. auch Gutzwiller 1998, 218-222). Gauradas lässt in einem sechszeiligen Epigramm in jambischen Trimetern (AP 16,152 = FGE 458-463) Echo jeweils am Versende antworten und arbeitet zum Teil mit verschiedenen Wortbedeutungen (z.B. ἐρῶ - „ich liebe“ und „ich werde sagen“). Zum Echo in der bukolischen Literatur s. die Einleitung zu Lal. 5; vgl. hier bes. Bion, Epitaphios Adonidos 37-38: ‚ αἰαῖ τὰν Κυθέρειαν· ἀπώλετο καλὸς Ἄδωνις ‘. / Ἀχὼ δ ' ἀντεβόασεν ‚ ἀπώλετο καλὸς Ἄδωνις ‘ . Von den römischen Dichtern wurde das Spiel mit der Graecula echo (Martial 2,86,3) gemieden. Eine Ausnahme ist das berühmte Gespräch zwischen Narcissus und Echo in Ovids Metamorphosen. (Vgl. bes. met. 3,379- 392; weiter 3,495-501; s. auch die Einleitung zu Lal. 5.) Rede und Gegenrede sind bei Ovid in den Text eingebunden. (Vgl. z.B. met. 3,380: dixerat ‚ecquis adest? ’, et ‚adest’ responderat Echo; 391-392: ‚ante’ ait ‚emoriar, quam sit tibi copia nostri.’ / rettulit illa nihil nisi ‚sit tibi copia nostri.’) Dass Echoreime im Zusammenhang mit dem Mythos von Narcissus und Echo verwendet werden, bleibt insgesamt jedoch die Ausnahme. (Vgl. Vinge 1967, 374.) Seit dem 16. Jahrhundert erfreute der Echoreim sich wieder großer Beliebtheit, und zwar sowohl in den klassischen Sprachen Latein und Griechisch als auch in den Volkssprachen. (Zu volkssprachlichen Beispielen vgl. Colby 1919, passim; Hollander 1981, 27-61; Liede 1963, 136-139; Vinge 1967, 173.) Im Prosadialog Iuvenis et Echo des Erasmus von Rotterdam antwortet Echo auf die lateinischen Sätze des Jünglings teilweise auch mit einem phonetisch gleichlautenden griechischen Wort. Die lateinische Übersetzung ist dabei stets am Rand vermerkt. Aus dem längeren Dialog sollen einige Kostproben genügen (Erasmus: Colloquia, S. 457-459): Iu. Cupio paucis te consulere, si vacat. Ec. Vacat. Iu. Et si venio tibi gratus iuvenis. Ec. Venis. Iu. Sed potesne mihi et de futuris dicere verum, Echo? Ec. Ἔχω . [Ad marg.: Ἔχω , possum.] (…) Iu. Quid captant plerique qui ambiunt sacerdotium? Ec. Otium. Iu. Praeterea nihil habet sacerdos? Ec. κέρδος . [Ad marg.: κέρδος , lucrum.] (…) Iu. Proinde si me voles abire, dicito. Ec. Ito. <?page no="350"?> 3 Kommentar 350 Weitere Beispiele für lateinische Echoreime sind Janus Secundus’ bekanntes Gedicht Echo et Viator oder das Buch Echo sive Lusus Imaginis Iocosae des älteren Janus Dousa, der das Spiel in über 300 elegischen Distichen mit je einem Echoreim am Ende bis zur Ermüdung treibt. Echo et Viator (abgedruckt in den Silvae des Secundus) ist wie Schoonhovens Pastor et Echo in Phalaeceen verfasst. Nicht auf jeden Satz und nicht in jedem Vers folgt notwendigerweise ein Echo. (Secundus hat 8 Echoeffekte bei insgesamt 51 Versen, Schoonhoven eine höhere Frequenz von 6 Echoeffekten bei insgesamt 15 Versen.) In Leiden gab Theodorus Douza 1609 ein Büchlein Echo sive Lusus Nobilium Poëtarum mit lateinischen und griechischen Echogedichten heraus. Nach einigen antiken Beispielen (Ausonius, Ovid, griechische Epigramme) folgen etliche frühneuzeitliche Echogedichte, darunter auch Echo et Viator des Janus Dousa. Die Sammlung zeigt, wie beliebt das Spiel mit dem Echoreim zu Schoonhovens Zeit war. Eine theoretische Abhandlung mit Regeln für das Verfassen von Echoreimen bietet Julius Caesar Scaliger in seiner 1561 erschienenen Poetik (2,29 [S. 72-73] und 3,126 [S. 170-171]). Auch Scaliger verweist auf den antiken Ursprung. Darüber hinaus stellt er Regeln dafür auf, wie weit die Variation beim Echo gehen darf: Das Längen oder Kürzen einer Silbe, das Hinzutreten oder Wegfallen der Aspiration oder der Wechsel zwischen einfachem Vokal und Diphthong (z.B. e/ ae) sind erlaubt, solange diese Effekte bewusst gesetzt werden und nicht auf Zufall oder Nachlässigkeit zurückzuführen sind. Um eine scherzhafte Wirkung zu erzielen, können auch Buchstaben ausgetauscht werden, wofür Scaliger folgendes Beispiel bringt (S. 170): non temere antiquas mutat Vasconia voces, cui nihil est aliud vivere, quam bibere. (S.u. V. 7-8: vobis - nobis.) Ich habe mich bemüht, in der Übersetzung den Echoeffekt nachzuahmen. Teilweise musste dafür eine etwas ungefüge Wortstellung im Deutschen in Kauf genommen werden. Wo die Übersetzung deutlich vom lateinischen Wortlaut abweicht, ist dies im Kommentar vermerkt. Metrum: Phalaeceen. Pastor et Echo Die Überschrift ist genauso gestaltet wie etwa Erasmus’ Iuvenis et Echo oder Secundus’ Echo et Viator. (S. auch die Einleitung.) • 1 Vgl. Joh. Sec. Silv., Echo et Viator 1: O quae diva cavos colis recessus. S. auch die Einleitung. resonos recessus An den Bergwänden und in den Wäldern und Schluchten der bukolischen Landschaft hallt das Echo wider. Vgl. z.B. Verg. ecl. 1,5: resonare doces Amaryllida silvas; ferner ecl. 10,8: respondent omnia silvae. Schoonhoven nennt diese Orte resoni, Ovid die Stimme der Echo und damit den Klang des Echos. Vgl. Ov. met. 3,358: resonabilis Echo (so auch Ausonius; zitiert zu 2-3: animavit); 3,496: resonis … vocibus. recessus S. auch Lal. 5,6. • 2-3 Vgl. Auson. epigr. 101,1-2 Prete: commoritur, <?page no="351"?> Pastor et Echo. Carmen XXVIII 351 Narcisse, tibi resonabilis Echo, / vocis ad extremos exanimata modos; Navag. Lus. 19,9-10: tu levibus allecta modis silvestris avenae / excipis e summo carmina nostra iugo. (S. auch die Einleitung zu Lal. 5.) calami Zu den verschiedenen Flöten s. den Komm. zu Lal. 1,15-16: fistula. susurrus Vom Klang der Flöte bei Apuleius; vgl. flor. 17, p. 80: voce hominis … fistula susurro iucundior. Da die Lieder der Hirten oftmals Liebeslieder sind, ist zudem an die Bedeutung „Liebesgeflüster“ zu denken. Vgl. z.B. Hor. carm. 1,9,19: lenes… sub noctem susurri; Prop. 1,11,13: blandos audire susurros. voces … loquelas Schoonhoven vermischt zwei Formen des Echos: den Widerhall, den das Flötenspiel des Hirten hervorruft (voces), und Worte, die das Echo wiedergibt (loquelae). Nur durch voces wird V. 2 aufgenommen und korrekt weitergeführt. (Vgl. OLD s.v. vox 5b: „a sound produced by a musical instrument“; z.B. Catull. 63,21 [Zimbeln]; Hor. ars 216 [Saiteninstrumente].) Mit den loquelae könnte - parallel zum Flötenspiel - Hirtengesang gemeint sein, doch vor allem ist das vorliegende Gedicht selbst ein Beispiel dafür, wie die Worte des Hirten vom Echo zurückgeworfen werden. animavit Zur Konstruktion mit in und Akkusativ vgl. z.B. Ov. met. 14,566: in nymphas animata classe marinas. • 4 tacitis … in antris Tacitus bedeutet hier „verschwiegen“ im Sinne von „versteckt“, „verborgen“ (vgl. OLD s.v. 8). „Still“ sind die Höhlen nur, wenn gerade kein Echo ertönt, doch wird in 2-3 beschrieben, wie das Flötenspiel des Hirten oft (crebro) ein Echo erweckt. (S. auch V. 1: resonos recessus.) Bei Ovid (met. 3,394) heißt es von Echo, sie lebe seit ihrer Zurückweisung durch Narcissus solis … in antris. • 5 vitium pudoris … oris Die Genetive haben unterschiedliche Funktionen: Pudoris ist objektiver, oris subjektiver Genetiv. vitium … oris Vitium kann hier einerseits „Fehltritt“ und andererseits „Fehler“ heißen. Der „Fehltritt des Mundes“, nämlich Echos frühere Geschwätzigkeit, führte zu ihrem „Sprachfehler“, der darin besteht, dass sie nur noch Gesagtes wiederholen kann. (Vgl. Ov. met. 3,359-369; s. den Komm. zu Lal. 5,8.) Der Ausdruck vitia oris et linguae für Sprachfehler findet sich bereits bei Quintilian (inst. 1,5,32). • 6 Die Worte des Hirten werden hier gleichsam zum Echo der Echo, indem er oris durch os und ruit durch ruendo wieder aufnimmt, wenn auch polyptotisch variiert. quid os commeruit - ruit Hier mache ich in der Übersetzung von der Freiheit Gebrauch, einzelne Buchstaben auszutauschen. (S. die Einleitung und 7-8: vobis - nobis.) Wörtlich: „Was hat der Mund verschuldet? - Er hat unüberlegt gehandelt.“ • 7-8 vobis - nobis Nur in dieser Antwort weicht ein Buchstabe ab, während Variation in den übrigen Fällen dadurch erzielt wird, dass Echo nur den Schluss des jeweils letzten Wortes wiedergibt, wobei die Quantitäten immer gewahrt bleiben. Die einfache Wiederholung eines ganzen Wortes ist durchgängig vermieden. Zu den Regeln für Echoreime s. auch die Einleitung. pueri Narcissus wird hier im Gegensatz zu Lal. 5,10 nicht mehr namentlich genannt. • 9- 10 retulit mihi Menalcas Hirten mit dem Namen Menalcas kommen in der <?page no="352"?> 3 Kommentar 352 bukolischen Literatur sehr häufig vor, z.B. in [Theoc.] 8 und 9 als Sänger. Hier ist vor allem an den Menalcas aus Vergils neunter Ekloge gedacht, der dort im Gespräch des Lycidas und des Moeris als „die einzige wirkliche Hirtengesangsautorität“ erscheint (Rumpf 1996, 209). Vgl. bes. Verg. ecl. 9, 55: ista satis referet tibi saepe Menalcas. Anders Lal. 6,44. (S. den Komm. dort.) annis doctus et usibus Hendiadyoin. Es wird suggeriert, dass Menalcas die unglückliche Liebe der Echo zu Narcissus selbst beobachtete und dem Hirten aus eigener Erfahrung davon berichten konnte. Die Handlung des Gedichtzyklus spielt weder an einem bestimmten Ort (s. Kap. 1.2.1.2 c) noch zu einer bestimmten Zeit, so dass auch Mythen gleichsam als zeitgenössische Ereignisse eingeflochten werden können. Zur Formulierung vgl. z.B. Cic. de orat. 2,204: docuit … nos longa vita ususque rerum maximarum; Cic. Balb. 60: cum me … usu ipso iam perdoctum viderent; Ov. met. 6,29: seris venit usus ab annis. S. auch den Komm. zu 12: docta malo. repulsam Ovid benennt die Zurückweisung der Echo mit dem gleichen Wort; vgl. met. 3,395 (ebenfalls betont am Versschluss): sed tamen haeret amor crescitque dolore repulsae. Repellere kann auch im technischen Sinne vom Echo gebraucht werden; vgl. z.B. Vitr. 5,8,1 (über Akustik in griechischen Theatern): sit electus locus, in quo leniter adplicet se vox neque repulsa resiliens incertas auribus referat significationes. (Vgl. OLD s.v. repello 1a.) • 11 pudor In 5 verneinte Echo, dass sie sich wegen eines vitium pudoris verberge, nun stimmt sie zu, dass der pudor sie gezwungen habe zu weichen. Einen Verstoß (vitium) gegen die Sittlichkeit räumt sie also nicht ein, wohl aber, dass sie sich schäme. Vgl. Ov. met. 3,393-394 (Echo): spreta latet silvis pudibundaque frondibus ora / protegit. Zur doppelten Begründung der Zurückgezogenheit s. auch die Einleitung. coegit - egit Da der variierende Echoeffekt an dieser Stelle im Deutschen nicht nachzuahmen war, habe ich mich für die Übersetzung „drängen“ entschieden, die am ehesten beiden lateinischen Verben gerecht wird. • 12-15 In Lal. 5 identifizierte Daphnis sich mit Echo, mit der er gemeinsam über unerfüllte Liebe klagte. Lal. 28 erhält nun eine ganz andere Wendung: Echos mangelnde Fähigkeit zur Eigeninitiative beim Sprechen (explizit in Lal. 5,7: quae tantum sequeris nec potes alloqui) dient als Muster für das gewünschte Rollenverhalten der Frau im Allgemeinen. Aus männlicher Sicht war Echos Vorgehen zu forsch, und an ihrem Beispiel können andere Mädchen lernen, lieber abzuwarten und sich erobern zu lassen. Dieses Rollenverständnis lässt sich auch auf der Handlungsebene des Gedichtzyklus wiederfinden: Lalage lässt nur nach und nach eine Annäherung zu, wird aber nicht nur von Daphnis, sondern auch von Thyrsis umworben (zu dem Rivalen Thyrsis s. Lal. 6; 27; 35); Lyce dagegen, die sich Daphnis freiwillig anbietet, wird abgewiesen (Lal. 12). • 12 docta malo Menalcas wurde durch langjährige Lebenserfahrung klug (10: annis doctus et usibus), Echo dagegen durch ihr persönliches Geschick. mones puellas Echos Erfahrungen befähigen sie dazu, andere Mädchen zu lehren, welches <?page no="353"?> Ad Lalagen. Carmen XXIX 353 Verhalten Männern gegenüber am meisten Erfolg verspricht. Damit übernimmt Echo eine ähnliche Lehrerfunktion wie Ovid in der Ars Amatoria. Vgl. ars 2,745-746: ecce, rogant tenerae sibi dem praecepta puellae: / vos eritis chartae proxima cura meae; auch kommen Formen von monere im dritten, an die puellae gerichteten Buch der Ars mehrfach vor (vgl. dort die Verse 48, 193, 353, 494 und 750). Nicht ovidisch ist allerdings die ausschließlich passive Rolle der Frauen. (S. o. zu 12-15.) • 13-14 ne … petant … petitae Die Mädchen sollen nicht aktiv werben, sondern sich passiv umwerben lassen. Durch die Verwendung desselben Wortes wird die Antithese besonders deutlich hervorgehoben. Die erwünschte Rolle der Mädchen als Reagierende wird auch durch redament im nächsten Vers unterstrichen. • 15 redament Das Kompositum scheint eine Wortschöpfung Ciceros zu sein; vgl. Lael. 49: [animus] qui vel amare vel (ut ita dicam) redamare possit. Apuleius verwendet amare und redamare ebenso wie Cicero in Bezug auf wechselseitige Freundschaft (vgl. Apul. Plat. 2,13 p. 239: ut ament atque redamentur; 2,13 p. 238), wohingegen im vorliegenden Gedicht die erotische Liebe gemeint ist. Pastor: Vale Echo. Echo: O Navagero beginnt die Anrede eines Hirten an Echo mit salve, Echo (Lus. 19,5; s. auch die Einleitung zu Lal. 5), jedoch ohne Echoreim. Ein Abschiedsgruß mit Widerhall, bei dem allerdings Narcissus sein Spiegelbild meint, findet sich in Ovids Metamorphosen (3,501): … dictoque vale ‚vale’ inquit et Echo. Bei Schoonhoven verabschiedet sich der Hirte von Echo, die als Antwort ein Seufzen hören lässt. Dass das ‚o’ von Echo metrisch elidiert werden muss, beeinträchtigt den Echoeffekt, auch wenn man das Stück mit verteilten Rollen liest und versucht, das vom Hirten gesprochene Echo in Echos Seufzen übergehen zu lassen. Ad Lalagen. Carmen XXIX Das Gedicht ist in zwei Strophenpaare und eine Schlussstrophe gegliedert. Lalage tanzt zum Flötenspiel des Corydon (1-8), während Nisa es ihr gleichzutun versucht, dabei jedoch eine klägliche Figur macht (9-16). Daphnis ist bloßer Beobachter dieser Szene, die er mit verwunderten Fragen kommentiert. Die Frageform ist auch in der letzten Strophe beibehalten, in der Daphnis von seiner eigenen Reaktion spricht (17-20). Die Hirtin Nisa bildet einen negativen Kontrast zu Lalage. In einem Vergleich mit Schwänen und Gänsen (12-13) werden die Fähigkeiten beider direkt gegenübergestellt, nachdem Nisas Bewegung bereits als dispar cursus (11) bezeichnet wurde. Das Wort salire und seine Ableitungen sind stets auf Lalages anmutigen Tanz bezogen (3-4; 7; 10-11). Der Gegensatz „schön“ und „hässlich“ erstreckt sich sowohl auf den Tanz (noch 8: formans und 12: deformaret; zu trepidante planta s. den Komm. zu 15-16) als auch auf die Gestalt der beiden Tänzerinnen (2: pede candido und 9: genas fusca). <?page no="354"?> 3 Kommentar 354 Der Tanz ist in der bukolischen Sphäre vor allem mit dem Gefolge des Bacchus verbunden, zu dem tanzende und musizierende Mänaden sowie tanzende oder Flöte spielende Satyrn und andere Waldgottheiten gehören. (Vgl. Lonsdale 1993, 76-110; s. auch den Komm. zu 5: ut Satyrus.) Dies ist auch ein häufiges Motiv besonders der griechischen Vasenmalerei. (Vgl. Warnecke 1932, 2235; Weege 1926, z.B. Abb. 6 [sitzender Satyr mit Flöten]; Abb. 89 [tanzendende Mänaden sowie tanzende und musizierende Waldgottheiten].) Auch die Kombination, dass Waldgottheiten Flöte spielen und Frauen oder Nymphen dazu tanzen, ist oft gegeben. (Vgl. Weege 1926, z.B. Abb. 90; 97.) Passend wird der Flöte spielende Corydon hier mit einem Satyr verglichen. Lalage übernimmt, auch wenn der Vergleich nicht ausdrücklich gezogen wird, die Rolle einer Nymphe. Eine andere Art des Tanzes beschreibt Longos (2,36-37): Dryas führt einen pantomimischen Tanz auf, in dem er einen Erntearbeiter darstellt, woraufhin Daphnis und Chloe tanzend den Mythos von Pan und Syrinx nachspielen. In Rom hatten Tänze zumeist rituelle Funktion. Im ländlichen Bereich sind hier vor allem die Arvalia zu nennen. (Vgl. Guidobaldi 1992, 12-14.) Es gibt jedoch auch das Motiv des erotischen Tanzes; vgl. bes. Ov. ars 1,595: si vox est, canta; si mollia bracchia, salta; 3,349-352: quis dubitet, quin scire velim saltare puellam, / ut moveat posito bracchia iussa mero? / artifices lateris, scaenae spectacula, amantur: / tantum mobilitas illa decoris habet. Für höher gestellte Frauen der römischen Gesellschaft galt der Tanz außerhalb des Ritus jedoch als unschicklich. (Vgl. Gibson 2003 zu Ov. ars 3,349-380; Warnecke 1932, 2247.) In der neulateinischen Literatur sei besonders auf Flaminio verwiesen, der in seinen Lusus Pastorales ebenfalls den Tanz der Geliebten in der bukolischen Sphäre beschreibt. Vgl. Lus. Past. 14,9-10 (Tanz der Geliebten): saltabit Ligurina: tuas [sc. Veneris] mea tibia laudes / cantabit. Metrum: 3. Asklepiadeische Strophe. 1 Zur Verbindung von schmeichelnden Worten und Bitten vgl. z.B. Ov. ars 1,439-440: blanditias ferat illa tuas … nec exiguas … adde preces; met. 14,18-19: precesque / blanditiasque. (Vgl. Bömer 1986 z. St. mit weiteren Belegen.) queis S. den Komm. zu Praef. 13-14: queis. blanditiis Ein häufiges Wort der Liebeselegie; s. den Komm. zu Lal. 23,9-10: blanditiae. • 2-4 Vgl. Hor. carm. 1,36,12: neu morem in Salium sit requies pedum und bes. 4,1,27-28 (Tanz zu Ehren der Venus): pede candido / in morem Salium ter quatient humum. • 2 pertraxit Vgl. OLD s.v. pertraho 2b: „(hyperb.) to constrain to come“; vgl. z.B. Liv. 45,10,6: in contionem … eos iidem precibus pertraxerunt. Corydon Ein gängiger Hirtenname; vgl. z.B. Theoc. 4,1; 5,6; Verg. ecl. 2,1; 7,2 (usw.); Calp. ecl. 1,8; 4,1 (usw.). In beiden Drucken ist die Schreibweise Coridon überliefert. In neulateinischen Editionen kommt es jedoch häufig zu Ver- <?page no="355"?> Ad Lalagen. Carmen XXIX 355 tauschungen von „i“ und „y“ (so z.B. auch neulat. hyems statt hiems), so dass ich mich hier für die antike Schreibweise Corydon (vom griechischen Κορύδων ) entschieden habe. Zur Orthographie s. Kap. 1.3 a. • 3 Saliorum Die Salier waren Priester der Kriegsgötter Mars und Quirinus, die sie durch Gesang und Waffentanz verehrten. (Vgl. Geiger 1920, 1874-1875; Guidobaldi 1992, 14-15.) Der Name leitet sich von salire/ saltus ab. Vgl. z.B. Ov. fast. 3,387-388: [Numa] iam dederat Saliis a saltu nomina ducta / armaque et ad certos verba canenda modos; Serv. Aen. 8,285; Porph. Hor. carm. 1,36,12: per quod signat et largius bibendum et saltandum. Salii autem sacerdotes Martis hodieque tripudiare in sacrificiis Martis dicuntur, unde et Salii a saliendo, id est, a saltando dicti. (Vgl. dazu auch Walde/ Hofmann 1982, 2, 467: „Dass es sich um bloße Volksetymologie handle … ist nicht anzunehmen.“) S. auch V. 7: salieres; 11: saltus. • 4 ter Zum Dreischritt des Saliertanzes vgl. Geiger 1920, 1891. ter … quateres Der Wortwitz (man könnte zunächst an ter quater denken) wird durch die Sperrung etwas verdeckt. pigram Vgl. Hor. carm. 1,22,17: pigris … campis; Ov. met. 2,771: humo pigra 522 ; dort jeweils in der Bedeutung „unfruchtbar“, „erstarrt.“ Da die bukolische Landschaft sonst grünend und blühend dargestellt ist, gibt es keinen Grund, den Boden hier als „unfruchtbar“ zu bezeichnen. Zudem gilt der Zephyr, der weht, während Lalage tanzt (18), als lebensspendender Frühlingswind. (S. den Komm. zu Lal. 15,11-12.) Geht man von der Grundbedeutung „träge“ aus, so bildet die pigra humus einen Gegensatz zur Bewegung Lalages. Da die Übertragung von Hor. carm. 4,1,27-28 (Zitat s.o.) in ein anderes Versmaß ein zusätzliches Wort erforderte, ist das Attribut jedoch möglicherweise nicht viel mehr als ein metrisch bedingtes Füllsel. • 5 quandò Liest man quando als temporale Konjunktion (s. den Komm. zu Lal. 25,11: quando), so entsteht ein logischer Widerspruch zur ersten Strophe („Corydon bat dich zu tanzen, als du tanztest“), es sei denn, man interpretiert den Tanz in morem Saliorum als spezielle Form des Tanzens. („Als du tanztest, bat Corydon dich, wie die Salier auf die Erde zu stampfen.“) Aufgrund der Reihenfolge versteht man 2-4 jedoch zunächst als generelle Aufforderung zum Tanz, zumal in den Prätexten das Tanzen in morem Salium ebenfalls zur Beschreibung anderer Tänze dient. (Vgl. Hor. carm. 1,36,12; 4,1,27-28; s. den Komm. zu 2-4.) Ich fasse quando daher hier als kausale Konjunktion auf, und zwar in Analogie zu cum in der Bedeutung „da ja.“ (Kausales quando kann nachklassisch mit dem Konjunktiv stehen; s. den Komm. zu 522 Bömer (1969, zu Ov. met. 2,770-772: at illa / surgit humo pigra semesarumque relinquit / corpora) bezieht pigra als Nominativ Singular auf illa im vorigen Vers, wobei er eine Längung der Silbe durch die Penthemimeres annehmen muss. Da der Ablativ Singular syntaktisch möglich und sogar durch die Wortstellung nahegelegt ist, scheint mir eine natürliche Länge jedoch wahrscheinlicher. Die Junktur humo pigra wird zudem durch Hor. carm. 1,22,17 (s.o.) gestützt. Vgl. in diesem Sinne auch Anderson 1997 z. St.: „humo pigra 771: ablativ of place from which. The soil is frozen and ‚lifeless.‘“ <?page no="356"?> 3 Kommentar 356 Lal. 5,9: cuperes.) Inhaltlich ergibt sich damit folgende Aussage: „Wie hat Corydon dich zum Tanz überredet, <was ich deshalb weiß,> weil du ja, <wie ich (Daphnis) als Betrachter sehen konnte,> zu seinem Flötenspiel getanzt hast? “ ipse Corydon. ut Satyrus Vgl. Verg. ecl. 5,73: saltantis Satyros imitabitur Alphesiboeus. Seit hellenistischer Zeit war die Darstellung der Satyrn von der Gestalt des Pan beeinflusst. Sie konnten folglich als ziegenartige, musizierende Gottheiten erscheinen, die vor allem die Panflöte bliesen. (S. den Komm. zu 7: canna.) Vgl. Roscher 1965, 4,488-489; Hartmann 1927, 52. Satyrn gehörten auch zum tanzenden und musizierenden Gefolge des Bacchus; vgl. z.B. Catull. 64,251-252: at parte ex alia florens volitabat Iacchus / cum thiaso Satyrorum et Nysigenis Silenis; Hor. carm. 2,19,1-4: Bacchum in remotis carmina rupibus / vidi docentem (credite, posteri) / Nymphasque discentis et auris / capripedum Satyrorum acutas. Auch in der Bildenden Kunst ist das Motiv des Flöte (meist Doppelflöte) spielenden Satyrs häufig. (S. auch die Einleitung.) Neben der Assoziation mit Tanz und Musik denkt man bei einem Satyr jedoch vor allem an seine Lüsternheit. (S. den Komm. zu Lal. 6, 52: agrestes Satyri.) Damit erscheint Corydon implizit als potentieller Rivale, vor dem Lalage sich - ebenso wie zum Beispiel vor dem lüsternen Waldgott Faun im folgenden Gedicht - hüten muss. Dies wird jedoch nicht weiter ausgeführt, und insgesamt beurteilt Daphnis die aktuelle Situation positiv, weil er selbst Vergnügen daran hat, Lalage beim Tanz zuzuschauen (17-20). • 5-6 arboreo … trunco Corydon sitzt entweder auf einem Baumstumpf oder auf einem umgefallenen Baumstamm. Zur Bedeutung „Baumstamm“ vgl. z.B. Verg. Aen. 10,835: arboris acclinis trunco. dulce melos = Laus Pis. 176. Vgl. auch Auson. Parentalia 11,5-6 (p. 22 ed. Prete).: fistula … / pastorale melos concinuit. septifori Das Wort ist erst seit dem 5. Jahrhundert n. Chr. belegt; vgl. Alc. Avit. carm. 1,82-83: arcem … septiforem und bes. Sidon. epist. 2,2,14: cui concentui licebit adiungas fistulae septiforis armentalem Camenam. (Vgl. Georges s.v. septiforis.) Zur Panflöte mit sieben Rohren vgl. bereits Verg. ecl. 2,36: est mihi disparibus septem compacta cicutis / fistula. daret Vgl. z.B. Prop. 4,3,32: [queror] non dare carmen aves; Stat. silv. 4,2,55: dux superum secreta iubet dare carmina Musas. (Vgl. OLD s.v. do 1 26.) • 7 cannâ Zu dieser Bezeichnung der Panflöte s. den Komm. zu Lal. 18,4: cannam. salires S. auch V. 3: Saliorum; 11: saltus. • 8 Lalage bewegt die Füße zur Melodie der Flöte. Vgl. z.B. Liv. 7,2,4: ad tibicinis modos saltantes. formans Vgl. OLD s.v. formo 2b: „to arrange (the limbs) in a given attitude“; Kapp: ThLL 6,1 (1912-1926),1103,66-74: formare ad; vgl. z.B. Sen. epist. 94,3: qui iaculari discit … manum format ad derigenda quae mittit; Quint. inst. 1,1,22: corpora ad quosdam membrorum flexus formari nisi tenera non possunt. Dort ist jedoch das Einüben von Bewegungen gemeint, wodurch bestimmte physische Fähigkeiten ausgebildet werden, während Lalage bereits tanzen kann (3-4). S. auch V. 12: deformaret mit Komm. modulos So wie modus (im Plural; vgl. OLD s.v. 8) kann auch modulus „Lied“ bedeuten. (Vgl. OLD s.v. <?page no="357"?> Ad Lalagen. Carmen XXIX 357 modulus 3b; Rubenbauer: ThLL 8,2 [1952],1250,46-1251,11.) Vgl. z.B. Apul. met. 11,9: fistulae tibiaeque modulis dulcissimis personabant. • 9 Vgl. Flam. Lus. Past. 18,8: roseis candida Nisa genis. Nisa ist eine benachbarte Hirtin. (S. Lal. 6,39 mit Komm.) genas Accusativus respectus. fusca Dunkle, sonnenverbrannte Haut galt in der Antike als Makel, der jedoch gerade in der bukolischen Literatur oft durch einen Verweis auf ebenfalls dunkle und dennoch schöne Blumen wie z.B. Veilchen oder Hyazinthen relativiert wird. Vgl. z.B. Theoc. 10,28; Verg. ecl. 10,38-39: quid tum, si fuscus Amyntas? / et nigrae violae sunt et vaccinia nigra; Longos 1,16,4. (S. auch den Komm. zu Lal. 24,18-19: formosi.) Im Vergleich zu dem negativen niger ist fuscus sogar eine euphemistische Bezeichnung; vgl. Ov. ars 2,657-658: nominibus mollire licet mala: fusca vocetur, / nigrior Illyrica cui pice sanguis erit; ferner rem. 327. Im vorliegenden Gedicht wird die Bräune der Nisa jedoch nicht beschönigt (s. auch unten zu caloribus), sondern durch den pointierten Gegensatz von genas fusca und pede candido (2) wird Nisas Hässlichkeit der Schönheit Lalages gegenübergestellt. Vgl. Verg. ecl. 2,16: quamvis ille niger, quamvis tu candidus esses. caloribus Die Wärme steht metonymisch für die Sonne. Von der Sonne verbrannte Haut ist negativ konnotiert; vgl. z.B. Hor. epod. 2,41: perusta solibus. • 10 Zur Formulierung vgl. Verg. ecl. 6,20: addit se sociam. iungebat Konatives Imperfekt: Da Nisa den Tanz nicht beherrscht (s. vor allem V. 15-16), gelingt es ihr nicht, zur wirklichen „Partnerin“ Lalages zu werden. cum Konzessiv. • 11 saltus S. auch V. 3: Saliorum; 7: salires. dispare cursu Zur Junktur vgl. z.B. Cic. de orat. 3,178: dispari motu cursuque; nat. deor. 2,19. dispare Neben dem Ablativ Singular dispari kommt auch die Form dispare vor; vgl. z.B. Stat. Theb. 4,214: dispare coetu; Nemes. ecl. 2,16: ambo aevo cantuque pares nec dispare forma. (Vgl. Gudeman: ThLL 5,1 [1909- 1934],1390,6-9.) cursu Daphnis gebraucht für Nisas Versuche nicht einmal das Wort „Tanz.“ (S. auch die Einleitung.) • 12 deformaret Durch formans (8; ebenfalls zu Beginn des letzten Verses einer Strophe) und deformaret wird der Gegensatz zwischen der anmutigen Bewegung Lalages und Nisas unbeholfenem Stolpern betont. (S. die Einleitung.) • 12-13 Abgesehen von dem Enjambement in Lal. 1,24-25 (s. den Komm. dort) fällt das Strophenende sonst im Lalage-Zyklus immer mit einem deutlichen syntaktischen Einschnitt zusammen. Der schöne Gesang der Schwäne ist topisch, ebenso wie eine Kontrastierung mit den weniger wohllautenden Geräuschen anderer Vögel. (Vgl. Otto 1962, 104-105.) Der locus classicus ist Verg. ecl. 9,36: sed argutos inter strepere anser olores. Naturgemäß wird dem Schwanengesang in der Regel herausragende Dichtung oder Gesang verglichen, während die Übertragung auf den Tanz nicht recht einleuchtet. Die Attribute der beiden Vögel (improbus und nitidus) passen hingegen sehr gut zu Lalage und Nisa. Nitidis nimmt candido (2) wieder auf; improbus beschreibt einerseits in der Bedeutung „minderwertig“ die mangelhaften tänzerischen Fähigkeiten der Nisa, andererseits unterstreicht es die Anmaßung der <?page no="358"?> 3 Kommentar 358 schlechten Tänzerin, die sich mit Lalage zu messen versucht. (Vgl. erstens OLD s.v. improbus 1a: „[of persons or things] not satisfying official standards in some way; [in vaguer sense] of poor quality, inferior“; Prinz: ThLL 7,1,1 [1934],693,24-45; zweitens OLD s.v. improbus 4a: „… unconscionable, shameless, greedy, presumptuous ….“) improbus … anser Vgl. Verg. georg. 1,119: improbus anser. oggannit Das Wort wird in der Antike nur von Menschen gebraucht. (Vgl. Teßmer: ThLL 9,2 [1968-1981],535,80-536,15.) nitidis … oloribus Die strahlend weiße Farbe des Schwanes steht sprichwörtlich für besondere Schönheit; vgl. z.B. Verg. ecl. 7,38: candidior cycnis; Mart. 1,115,2: loto candidior puella cycno. (Vgl. Otto 1962, 104.) • 14-16 Die Zeichensetzung der beiden Drucke gibt an, dass der Teil von cupiens bis planta zusammengehöre. Da man trepidante planta sonst eher zu concidit zöge, habe ich der Deutlichkeit halber die Kommata belassen. Crebro ist Adverb zu concidit (16). Vgl. Joh. Sec. Od. 11 (In choreas ab se spectatas),15-16: intactam… sensim / nabat humum trepidante planta. • 14-15 Nisa wünscht sich, so leichtfüßig tanzen zu können, dass sie gleichsam schwebend den Boden gar nicht zu berühren scheint. pervolitare humum Oxymoron. humum intactam Vgl. Ov. trist. 4,3,6 (von Gestirnen): vester ab intacta circulus extet humo. • 15-16 trepidante planta steht ἀπὸ κοινοῦ als Ablativus modi zu pervolitare und als Ablativus instrumenti zu intactam. Da trepidante planta zum Wunsch der Nisa gehört (s.o. zur Zeichensetzung), meint trepidante hier zunächst eine eilige, lebhafte Bewegung in positivem Sinne. (Vgl. OLD s.v. trepido 2a: „to act in haste, scurry, bustle“; z.B. Hor. carm. 2,3,11-12: obliquo laborat / lympha fugax trepidare rivo.) Auch im Prätext Joh. Sec. Od. 11,16 (zitiert zu 14-16) ist ein anmutiger Tanz beschrieben. Durch das folgende concidit in solum (vorbereitet durch den Vergleich in 12-13) erhält trepidante einen negativen Beiklang: In Wirklichkeit ist Nisas Fuß nicht flink, sondern „zitternd“ im Sinne von „schwankend.“ (Vgl. auch Iuv. 6,96: tremulis … plantis.) Damit ist auch hier wieder der Gegensatz zwischen Nisa und Lalage hervorgehoben. (S. V. 2: pede candido; s. auch die Einleitung.) planta Pars pro toto für den Fuß, doch ist sicherlich nicht zufällig der Teil des Fußes genannt, der normalerweise den Boden berührt. solum In 4 und 14 (Lalages Tanz und Nisas gewünschtes Können) verwendet Schoonhoven das Wort humus. Um das Stürzen der Nisa zu beschreiben, wählt er dagegen solum („Grund“, „Boden“). • 17-20 „Reiz ist Schönheit in Bewegung.“ (Lessing: Laokoon 1,21.) • 17 volupè S. den Komm. zu Lal. 27,19: volupe est. • 18-19 Vgl. z.B. Ov. met. 1,527-528 (Daphne auf der Flucht): nudabant corpora venti, / obviaque adversas vibrabant flamina vestes. Das Motiv des Windes, der das Gewand bauscht, erscheint sehr häufig im Mythos der Europa, die vom Stier über das Meer getragen wird. Vgl. bes. Nonn. D. 1,70-71: [Boreas] φᾶρος ὅλον κόλπωσε δυσίµερος , ἀµφοτέρῳ δὲ / ζῆλον ὑποκλέπτων ἐπεσύρισεν ὄµφακι µαζῷ . (Vgl. Bühler 1960, 172-173 zu Mosch. 2,129-130 mit weiteren Belegen.) In beiden genannten Beispielen befinden sich Daphne <?page no="359"?> Ad Faunum. Carmen XXX 359 bzw. Europa in schneller Bewegung, d.h. der Wind wird zumindest teilweise durch die Bewegung erzeugt oder verstärkt. Hier wird dies zwar nicht ausdrücklich gesagt, doch bewegen sich auch Lalages Kleider sicherlich bereits durch den Tanz (etwa ein schwingender Rock). Anders Lal. 36,11-16, wo die aurae Lalages Gewand anheben, ohne dass sie sich selbst dabei bewegt. cum Iteratives cum kann bereits in klassischem Latein mit dem Konjunktiv stehen. Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,2, 206, § 182,8. leni Zephyro Der Zephyr ist ein milder Westwind; s. die Kommentare zu Lal. 15,11-12 und 18,12-13. Zur Junktur vgl. z.B. Ov. am. 1,7,55: ut leni Zephyro gracilis vibratur harundo; ars 3,693; Sen. Herc. f. 699. papillulae et surae Die lobende Nennung mehrerer Körperteile der Geliebten erinnert an „Kataloge“ wie Ov. am. 1,5,19-22. Vgl. bes. 1,5,20: forma papillarum quam fuit apta premi; 1,5,22: quam iuvenale femur! ; zu weiteren „catalogues of physical charms“ vgl. McKeown 1989 z. St.; hier bes. noch Hor. carm. 2,4,21-22: bracchia et vultum teretesque suras / integer laudo. papillulae S. den Komm. zu Lal. 4,28: papuillulae. surae detegerentur Vgl. Catull. 64,129 (vom Schürzen der Gewänder): mollia nudatae tollentem tegmina surae. • 20 loca proxima Da die papillae und die surae sich an ganz verschiedenen Stellen des Körpers befinden, sollte man proxima hier vor allem auf die letztgenannten Waden beziehen. Streng genommen wären den Waden die Knie und Oberschenkel am nächsten, doch lässt die Aposiopese durchaus Raum für frivole Hintergedanken. (Vgl. Ov. am. 1,5,25: cetera quis nescit; s.o. zum Katalog.) Loca ist eine gängige euphemistische Umschreibung der weiblichen Genitalien; vgl. z.B. Ov. ars 2,719: loca …, quae tangi femina gaudet. (Vgl. Janka 1997 z. St.; Adams 2002, 94-95; OLD s.v. locus 2b „(pl.) the femal genitals.“) Ad Faunum. Carmen XXX Das Gedicht an den Faun ist ein Gegenstück zur Hymne an den Mond (Lal. 26), die fast die gleiche Zahl an Versen aufweist und im selben Metrum verfasst ist. (S. die Einleitung zu Lal. 26; zu den Gedichten, die nicht direkt an Lalage gerichtet sind, s. die Einleitung zu Lal. 5.) Beide Gedichte sind ringkompositorisch angelegt. (S. die Kommentare zu 1 sowie zu Lal. 26,15- 17: tuorum siderum.) Am Beginn steht jeweils eine mit o eingeleitete Anrufung (1; Lal. 26,1-2); der Hauptgedanke ist die Bitte, ein Zusammentreffen mit Lalage zu ermöglichen (6-16; Lal. 26,10-12); zum Schluss wird - eingeleitet durch sic sic - ein guter Wunsch ausgesprochen, der im Falle der Erfüllung der Bitte wirksam werden soll (17-18; Lal. 26,13-17). Der Gottheit wird dabei jeweils Erfolg in Liebesangelegenheiten gewünscht, wie ihn Daphnis auch für sich erbittet. Der größte Unterschied besteht darin, dass Luna in Gedicht 26 um Hilfe gebeten wird, der Faun dagegen um Beendigung seines hinderlichen Verhaltens. Das Gebet an den Faun, das formal mit invocatio und precatio die <?page no="360"?> 3 Kommentar 360 wichtigsten Elemente eines subjektiven Hymnos aufweist (s. dazu die Einleitung zu Lal. 26), wird damit zur Hymnenparodie. Schon die Anrede terror Naiadum (1) wäre in einem ernst gemeinten hymnischen Gebet verfehlt, ebenso wie die Charakterisierung des Faun als einer gefährlichen, lüsternen, Angst und Schrecken verbreitenden Gottheit. Das wichtigste Vorbild eines scherzhaften „Hymnos“ an den Faun mit Anrufung, Bitte und Opferversprechen ist Hor. carm. 3,18. (Zu den hymnischen Elementen vgl. die Einleitung von Nisbet/ Rudd 2004, 220 zu Hor. carm. 3,18.) Die humorvolle Anrede Nympharum fugientum amator lässt jedoch auch die Deutung zu, dass die Nymphen sich nicht fürchten, sondern ein kokettes Verhalten an den Tag legen (Hor. carm. 3,18,1; vgl. Nisbet/ Rudd 2004 z. St.), und insgesamt stellt Horaz den Faun nicht als Schreckensgestalt dar. Abeasque parvis / aequus alumnis (3,18,3-4) wurde zwar gelegentlich als Aufforderung an den Faun verstanden, er möge gehen, bevor er Schaden anrichte, doch argumentieren Nisbet/ Rudd (2004, z. St.) überzeugend gegen eine solche Interpretation. Der Faun wurde schon früh mit Pan identifiziert (s. den Komm. zu 12- 13), dessen Gestalt und charakteristische Wesenszüge er annahm. Dazu gehört auch die Beziehung des Pan zu den Nymphen (z.B. Syrinx, Echo oder Pitys), die oft in mythischen Erzählungen thematisiert wird. Für den Hirtengott Pan haben Quellen als Tränke der Tiere eine große Bedeutung, weshalb er besonders oft als Liebhaber der Najaden erscheint. (Vgl. Roscher 1965, 3,1,1390-1395.) Lalage, die im vorigen Gedicht wie eine Nymphe tanzte, wird nun mit den Najaden verglichen, die den Faun fürchten (bes. 8-9). Gleichzeitig spiegelt sich in dem Verhältnis des Verfolgers Faunus zu den verfolgten Nymphen auch die Beziehung von Daphnis und Lalage; s. bes. Lal. 2,5-6: tunc me, Naiades velut / Faunum capripedem, corde tremens fugis. Daphnis spricht dies hier nicht offen an, sondern gibt vor, dass Lalage ihm nur aus Angst vor dem Faun fernbleibe und sonst öfter käme. In Gedicht 27 - dem letzten, in dem eine direkte Interaktion zwischen Daphnis und Lalage stattfand - hielt er sie allerdings gegen ihren Willen fest, wobei die Verben vexarit und premerem auch eine gewisse Gewaltsamkeit der Umarmung implizierten (Lal. 27,15-16). Auch finden wir im folgenden Gedicht (Lal. 31) Lalage dem liebenden Hirten gegenüber immer noch spröde und hartherzig. Das Gedicht weist nach der Anrufung (1-2) eine doppelte Rahmung auf: Opferversprechen und Wunsch (3-5 und 17-18) umschließen die Bitte (6-7 und 16), deren Begründung im Teil dazwischen gegeben wird (8-15). Metrum: Iambische Dimeter. 1 Vgl. Hor. carm. 3,18,1: Faune, Nympharum fugientum amator. (S. auch die Einleitung.) In einer doppelten Ringkomposition wird gegen Ende des Gedichtes sowohl terror wieder aufgenommen (16: terrorem) als auch Naia- <?page no="361"?> Ad Faunum. Carmen XXX 361 dum (17: Naiades). Damit ist der thematische Rahmen des Gedichtes gegeben: Der terror, den der Faun den Najaden und auch Lalage gegenüber ausübt, führt zu einem Misslingen der Liebe des Faun zu den Nymphen und des Daphnis zu Lalage. terror Wie das deutsche Wort „Schrecken“ ist auch terror mehrdeutig: Hier ist der Faun als „schreckliches“ Wesen gemeint, in V. 16 dagegen „Schrecken“ im Sinne von „Angst.“ Vgl. OLD s.v. terror 1c: „(meton.) a person or thing that causes terror“ (w. gen. of person frightened); z.B. Cic. Verr. 2,5,118: aderat … mors terrorque sociorum et civium Romanorum, lictor Sextius; OLD s.v. terror 2: „extreme fear, terror (as a feeling).“ Der mit Pan gleichgesetzte Faun (s. den Komm. zu 12-13) verbreitet „panischen Schrecken.“ (S. den Komm. zu Lal. 1,19-20.) Naiadum Najaden sind Flussnymphen, doch wäre das Weideland (s. den folgenden Vers) eher ein Ort z.B. für Bergnymphen (Oreaden). Es ist daher anzunehmen, dass Naiades hier statt Nymphae steht (vgl. auch Hor. carm. 3,18,1; Zitat oben), möglicherweise aus metrischen Gründen. Zur allgemeinen Bedeutung „Nymphe“ vgl. OLD s.v. Naias 2. Schoonhoven nennt als Verfolgte des Faun bald Najaden und bald allgemein Nymphen; s. Lal. 2,5-6: tunc me, Naiades velut / Faunum capripedem, corde tremens fugis; 3,3-4: [Faunus] pruriginis impotens / Nymphis insidiatur. Allerdings hat der Hirtengott Pan/ Faun zu den Flussnymphen eine besondere Beziehung. (S. die Einleitung.) S. auch V. 8 und 17: Naiades. • 2 per pascua S. den Komm. zu 1: Naiadum. Die Weiden erstrecken sich zwar bis ans Flussufer (s. Lal. 5,4), aber die Präposition per deutet darauf hin, dass die Nymphen sich nicht nur am Ufer aufhalten, sondern auch mitten im Weideland. • 3-4 Dem Faun, der wie Pan als Schützer der Herden galt (s. auch die Einleitung), wurde gewöhnlich eine junge Ziege oder ein Böcklein geopfert. Vgl. z.B. Hor. carm. 1,4,11-12: nunc et in umbrosis Fauno decet immolare lucis, / seu poscat agna sive malit haedo; 3,18,5: si tener pleno cadit haedus anno. (Vgl. Roscher 1965, 1,2, 1455; s. auch die Einleitung.) Der haedulus ist noch sehr jung, was sowohl durch das Diminutivum deutlich gemacht wird als auch durch den Hinweis, dass er gerade erst (primulum) entwöhnt sei. haedulum Das Diminutivum ist selten; der erste Beleg ist Iuv. 11,66. (Vgl. Brink: ThLL 6,3 [1936- 1942],2488,37-45.) primulùm Der Akzent zeigt an, dass es um ein Adverb handelt. (Zu den neulateinischen Akzentregeln s. Kap. 1.3 c.) Zu diminutiven Adverbien vgl. Kühner/ Holzweissig 1912, 1, 1016, § 226,9; primulum kommt vor allem bei Plautus und Terenz vor. a lacte depulsum Vgl. Verg. ecl. 7,15: depulsos a lacte … agnos. • 5 misellus Einer der Gründe, warum Liebende miseri sind (vgl. Pichon 1966, 202-203), ist die Trennung von der Geliebten. Die hilflosen Menschen, die unter dem Faun leiden, werden durch Diminutive charakterisiert (hier pastor misellus, 14-15: tenellulae … puellulae). offero Die Bedeutung „opfern“ findet sich vor allem im christlichen Kontext. Vgl. Heine: ThLL 9,2 (1968-1981),503,31-504,12; bes. 503,81- 504,4: animantes (z.B. hircos, arietem). Zum Opfer eines Ziegenbocks für den <?page no="362"?> 3 Kommentar 362 Faun s. den Komm. zu 3-4. • 6-7 Der Faun schadet Lalage insofern, als sie sich vor seiner Wildheit ängstigt (8-9 und 12-14), also Übergriffe befürchtet. Die Folge, dass sie nicht wagt, zu Daphnis zu gehen, empfindet dagegen vor allem Daphnis als „Schaden“, während Lalage sich dem Hirten oft genug auch aus eigenem Antrieb entzieht. sic „Dann“, „in diesem Falle“, mit Bezug auf die vorher beschriebenen Umstände. (Vgl. OLD s.v. sic 9a.) Lalage Der Dativ kommt im Lalage-Zyklus nur hier und Lal. 17,3 vor. (S. den Komm. dort.) • 8 ut … Naiades Zum Vergleich Lalages mit den Nymphen s. die Einleitung. S. auch V. 1: Naiadum; 17: Naiades. ipsae Die Najaden sind das hauptsächliche Ziel der Übergriffe des Faun. (S. V. 1: terror Naiadum sowie die Einleitung.) • 9 feroces Enallage. extimet Im klassischen Latein existiert als Kompositum nur extimescere; ein spätantiker Beleg ist unsicher. (Vgl. Kornhardt: ThLL 5,2 [1931-1953],2028,15-18.) Nach dem Perfekt extimui von extimesco wurde später auch das Präsens extimeo („sehr fürchten“) gebildet. Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch 3 (2007), 1744,11-17. S. auch V. 14: exhorret. • 11 Die Junktur oscula ferre ist häufig. (Vgl. OLD s.v. osculum 1.) latura Das Partizip Futur Aktiv kann in finaler Bedeutung gebraucht werden; vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 777, § 139, 5. • 12-13 Der Faun wird bereits von den augusteischen Dichtern mit Pan identifiziert. (Vgl. Roscher 1965, 1,2,1454-1458.) Er erscheint somit als ziegenfüßige Waldgottheit (s. auch Lal. 2,6: Faunum capripedem) und Schützer der Herden. (S. auch den Komm. zu Lal. 1,19-20: venatibus asper.) Schoonhoven beschreibt Pan und Faunus mit den gleichen Merkmalen; s. Lal. 1,17- 20: non est, quod metuas Pana protervulum, / quamvis flammivomus prata perambulet / et venatibus asper / in quemcumque etiam furat. vomentem fulmina Die Blitze, die der Faun speit, bilden einen pointierten Gegensatz zum Kuss der Lalage (11: basium; jeweils am Versende): Lalages Mund bedeutet Süße, der Mund des Faun dagegen Gefahr. Zur Formulierung vgl. Verg. Aen. 8,620: flammas… vomentem; Ov. met. 2,119: ignem… vomentes. Zum feuerspeienden Faun bzw. Pan s. den Komm. zu Lal. 1,18: flammivomus. fessum … venatibus Vgl. z.B. Ov. met. 3,163: dea silvarum venatu fessa; Nemes. ecl. 3,3: Pan venatu fessus. Wenn Faun (bzw. Pan) müde von der Jagd zurückkehrt, hält er Mittagsruhe, und es ist gefährlich, ihn zu stören. (Vgl. Roscher 1965, 2,2, 2832.) Zu Pan/ Faun als Gott der Jagd s. den Komm zu Lal. 1,19-20: venatibus asper. • 14 exhorret Synonym zu extimet in 9. Das Verb exhorrere ist seit der Spätantike häufig belegt; vgl. Kapp/ Meyer: ThLL 5,2 (1931-1953),1439, 10-1440,17; bes. 1439,35-44 zum transitiven Gebrauch mit Betonung des Aspektes der Furcht. ut Vgl. OLD s.v. ut 21a: „(causal) … as being“; vgl. z.B. Cic. Tusc. 5,92: Diogenes liberius, ut Cynicus, Alexandro … inquit. tenellulae Das Doppeldiminutivum ist in der antiken Literatur selten belegt; vgl. vor allem Catull. 17,15: puella tenellulo delicatior haedo. In der Liebesdichtung dient tener oft allgemein zur Beschreibung der Anmut; vgl. z.B. Tib. 1,3,63- 64: iuvenum series teneris immixta puellis / ludit; Ov. am. 3,1,27: quod tenerae <?page no="363"?> Ad Lalagen. Carmen XXXI 363 cantent lusit tua Musa puellae. (Vgl. Pichon 1966, 278.) Im vorliegenden Gedicht wird besonders die Furchtsamkeit und Schwäche der Mädchen hervorgehoben. Vgl. dazu bes. Ov. epist. 19,7: ut corpus teneris ita mens infirma puellis; s. auch timidum genus im folgenden Vers sowie den Komm. zu 5: misellus. • 15 Zur allgemeinen Charakterisierung der Mädchen als furchtsam vgl. z.B. Ov. am. 3,13,23: iuvenes timidaeque puellae [= rem. 33]. puellulae S. den Komm. zu 5: misellus. • 16 tolle Vgl. OLD s.v. tollo 14c: „to get rid of, put an end to (conditions, practices, attitudes, etc.).“ terrorem S. V. 1: terror mit Komm. • 17-18 Der Wunsch passt zum erotischen Inhalt der Bitte. S. auch die Einleitung. sic sic Einleitung eines guten Wunsches, der von der Erfüllung einer Bitte abhängig gemacht wird; s. auch Lal. 26,13 mit Komm. subinde „Unmittelbar darauf“ oder „von da an.“ (Vgl. OLD s.v. 1a und b.) Naiades S. auch V. 1: Naiadum; 8: Naiades. faciles Vgl. Verg. ecl. 3,9: faciles Nymphae. Ad Lalagen. Carmen XXXI Abends treiben die Hirten ihre Herden nach Hause und müssen sich daher trennen. Nun hält Daphnis sich, während die Natur bereits zur Ruhe gekommen ist (13-16), als exclusus amator vor Lalages verschlossener Tür auf und begehrt vergeblich Einlass. Das Lied, das er hier anstimmt, ist demnach ein Paraklausithyron. Das Motiv des nächtlichen Singens vor dem Haus der Geliebten ist in der griechischen und römischen Literatur weit verbreitet. Die ersten Beispiele finden sich jeweils schon in der Komödie (Aristophanes bzw. Plautus). Ich werde mich im Folgenden darauf beschränken, einige besonders wichtige bzw. für die Interpretation dieses Gedichtes relevante Texte anzuführen; im Übrigen verweise ich auf Copleys Monographie zum Exclusus Amator (1956; zu Einwänden im Einzelnen vgl. die Rezension von Luck 1957, 338-342). Besonders bekannt ist das Paraklausithyron als Thema der römischen Liebeselegie. Vgl. bes. Tib. 1,2 (ferner 1,5); Prop. 1,16 (dort referiert die Tür in den Versen 17-44 ein an sie gerichtetes Paraklausithyron); Ov. am. 1,6. Auch außerhalb dieser vollständigen Paraklausithyra wird immer wieder auf die Situation des exclusus amator angespielt; vgl. z.B. Tib. 2,3,73-74: exclusura dolentes / ianua; Prop. 3,25,9-10: limina iam nostris valeant lacrimantia verbis, / nec tamen irata ianua fracta manu; Ov. am. 1,9,8: [amans] fores dominae servat; weiter fast. 5,339-340: ebrius ad durum formosae limen amicae / cantat. Neben den Liebeselegikern imitiert Schoonhoven ein Paraklausithyron des Horaz, die Ode 3,10. (Zu wörtlichen Anlehnungen s. jeweils die Einzelkommentare.) Bereits Theokrit versetzt den exclusus amator in eine bukolische Umgebung (Idyll 3: κῶµος ). Der Hirte singt dort nicht vor der Tür eines Hauses, <?page no="364"?> 3 Kommentar 364 sondern vor der Grotte seiner Geliebten Amaryllis (3,13: ἄντρον ). Lalage wohnt jedoch in einem Haus (5: ianuae; 10: fores; s. auch Lal. 8,13-14: domum … desere), so dass die Gegebenheiten hier wieder eher an die typische Situation der Liebeselegie erinnern, in der Paraklausithyra gesungen werden. In Longos’ Roman Daphnis und Chloe steht Daphnis ebenfalls einmal vor dem Haus, in dem Chloe mit ihren Eltern wohnt (Longos 3,6), doch weist nicht Chloe ihn zurück, sondern er selbst traut sich nicht anzuklopfen, weil ihm kein überzeugender Vorwand einfällt. Auch [Theoc.] 23 ist ein Gedicht über den exclusus amator, jedoch nicht in bukolischer Umgebung. Ein zurückgewiesener Liebhaber kündigt in einem Paraklausithyron (23,19-48) an, sich vor der Tür des unbarmherzigen Geliebten aufzuhängen, und führt dies anschließend aus. Eine solche Geschichte erzählt auch Ovid in den Metamorphosen (14,698-758; die Verse 718-732 bilden ein Paraklausithyron). Das Gedicht lässt sich in zwei genau gleich lange Hälften gliedern. In 1- 12 ist keine Strophenbildung erkennbar, wohingegen die Verse 13-24 drei Strophen zu je vier Versen bilden. In der Leidener Originalausgabe ist das Gedicht ohne Absätze fortlaufend gedruckt, dies im Gegensatz zu Gedicht 8, das regelmäßige Strophen bildet, die auch graphisch abgesetzt sind. (Zum Metrum s. die Einleitung zu Lal. 8.) Der erste Teil handelt von dem typischen Verhalten des exclusus amator, der vor der Tür der Geliebten singt, weint und ihre Hartherzigkeit beklagt. In der zweiten Hälfte wird stärker betont, dass Daphnis sich in einer bukolischen Umgebung aufhält. Die Bezugnahme auf die verschlossene Tür fällt dagegen weg. (Zur Rolle der Tür im Paraklausithyron s. den Komm. zu 5: surdae … ianuae.) Traditionelle Motive des Paraklausithyron werden an die Situation des Hirten angepasst. (S. die Kommentare zu 17 und 19.) Ein neuzeitliches Vorbild für ein Paraklausithyron in bukolischer Umgebung, bei dem auch Elemente der römischen Liebeselegie übernommen werden, ist Flam. Lus. Past. 7. (S. auch die Kommentare zu 17 und 23-24.) Metrum: Alkäische Elfsilbler. 1-3 Vgl. Hor. carm. 1,16,13-16 (Bitte, ihm nicht mehr wegen eines früheren Spottgedichtes zu zürnen): fertur Prometheus addere principi / limo coactam particulam undique, / desectam et insani leonis / vim stomacho apposuisse nostro. Prometheus gilt als Schöpfer der Menschen, wenngleich der Mythos sonst nicht in der Form überliefert ist, dass Prometheus den Menschen Eigenschaften der Tiere zugeteilt habe. Vgl. Kiessling/ Heinze zu Hor. carm. 1,16, 13-16. Nisbet/ Hubbard (1975, z. St.) nennen als engste Parallele eine Fabel des Aesop (228 Hausrath), nach der Prometheus einige Tiere in Menschen verwandelt habe, die deshalb ψυχὰς θηριώδεις hätten. Ein verwandtes Motiv ist die Bezeichnung eines oder einer hartherzigen Geliebten als Löwenjunges. Vgl. z.B. [Theoc.] 23,19: ἄγριε παῖ καὶ στυγνέ , κακᾶς ἀνάθρεµµα λεαίνας … <?page no="365"?> Ad Lalagen. Carmen XXXI 365 (s. auch die Einleitung); Catull. 64,154: quaenam te genuit sola sub rupe leaena? ; Catull. 60: num te leaena montibus Libystinis / aut Scylla latrans infima inguinum parte / tam mente dura procreavit ac taetra, / ut supplicis vocem in novissimo casu / contemptam haberes, a nimis fero corde? • 1 Prometheus … ignifer Prometheus brachte den Menschen das Feuer. (S. die Einleitung zu Lal. 11.) conderet In christlicher Literatur kann condere im Sinne von creare verwendet werden. Vgl. Spelthahn: ThLL 4 (1906-1909),154,30-55; hier bes. Claud. 8,228-229: cum conderet artus / nostros, aetheriis miscens terrena, Prometheus …. • 2 immane quantam Zur Ellipse des Verbs esse bei immane (est), quantum vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 13-14, § 5, Anm. 4. Durch die Verwendung als feststehender Ausdruck geht das Gefühl für die ursprüngliche Syntax offenbar verloren (ähnlich wie z.B. bei nescio quid - „irgendetwas“). So kann immane quantam particulam … addidit hier als Frage mit dem Interrogativum quantam aufgefasst werden statt als Aussagesatz in der Form: immane est, quantam usw. Vgl. OLD s.v. immanis 3e: „immane quantum, … a tremendous amount or degree; immane quantus, a tremendous degree of.“ quantam particulam Quantam muss hier in jedem Falle „wie groß“ bedeuten (nicht „wie klein“). Das Diminutivum particulam hat Schoonhoven von Horaz übernommen (zitiert zu 1-3), gebraucht es hier jedoch gleichbedeutend mit partem. Particula kann „Atom“ oder „Materieteilchen“ heißen (vgl. OLD s.v. particula 2; Nisbet/ Hubbard 1975 zu Hor. carm. 1,16,14), doch wäre ein einzelnes Teilchen nicht groß, und das Zufügen eines einzelnen Löwenatoms mutet ebenfalls seltsam an. (Bei Horaz liegt, wie der Zusatz undique zeigt, ein kollektiver Singular vor.) • 2-3 tuis duri Leonis cordibus Abbildende Wortstellung: Lalage trägt die Grausamkeit des Löwen im Herzen. duri S. auch V. 8: dura mit Komm.; 20: duritiem. • 4-6 Die vierfache Anapher nil unterstreicht Lalages Mitleidlosigkeit. • 4 nil lacrimae movent Vgl. Prop. 3,25,5: nil moveor lacrimis. • 5 fusa Vgl. OLD s.v. fundo 5c: „… (transf.) to produce a stream of poetry“; z.B. Lucr. 4,589: … fistula silvestrem ne cesset fundere musam (s. auch 4,584-585; zitiert zu 12); Catull. 64,321: talia divino fuderunt carmine fata; Stat. silv. 5,5,33-34: iuvat inlaudabile carmen / fundere. surdae … ianuae Die verschlossene Tür ist im Paraklausithyron das zentrale Symbol für die Situation des exclusus amator. Häufig spricht der Liebende die Tür direkt an. Vgl. bes. Prop. 1,16 und Catull. 67 (Gespräch zwischen Liebhaber und Tür). Meistens bleibt die Tür jedoch taub für die Bitten des Liebenden; vgl. z.B. Ov. am. 1,6,54: surdas … fores (s. auch die Einleitung); Mart. 10,14,8: et madet heu! lacrimis ianua surda tuis; zur Formulierung weiter Ov. am. 1,8,77: surda sit oranti tua ianua, laxa ferenti. Durch die doppelte Nennung der Tür (auch 10: fores) betont Daphnis seine Lage als Ausgeschlossener. carmina Lal. 31 ist selbst ein solches carmen, das Daphnis vor Lalages Tür singt. (S. auch die Einleitung.) • 6 Paul Fleming (1609-1640) imitiert diesen Vers in seinen Suavia (7,20): hinc malas tremulus pallor obambulat. In einem weiteren Kussgedicht nennt <?page no="366"?> 3 Kommentar 366 Fleming in einer Aufzählung von Liebenden Schoonhovens Lalage ausdrücklich, so dass eine gute Kenntnis des Werkes vorausgesetzt werden kann. Vgl. Suavia 13,23: [tot basiationes, quot …] Lalage Schönhovioque … [tot una da mihi uni]. 523 pallor Vgl. Hor. carm. 3,10,14: [te] nec tinctus viola pallor amantium [curvat]. (S. auch die Einleitung.) Zur Blässe der Liebenden s. auch den Komm. zu Lal. 4,34-35: pallore tincta. undiqué Vgl. OLD s.v. undique 2b: „on every side or surface, all over, all round.“ obambulans Im antiken Sprachgebrauch kommt eine übertragene Bedeutung von obambulare fast nicht vor. (Der einzige Beleg im Thesaurus ist Aug. soliloq. 2,14,25: quasi ad insidiandum obambulavit oratio; vgl. Wieland: ThLL 9,2 [1968-1981], 35,39-40.) Das Simplex ambulare wird dagegen häufiger im übertragenen Sinne verwendet; vgl. bes. Gudeman: ThLL 1 (1900),1874,61-1875,27. In 17 steht obambulare in eigentlicher Wortbedeutung. • 7 Vgl. Hor. carm. 3,10,17: nec rigida mollior aesculo. (S. auch die Einleitung.) Die aesculus ist eine Eichenart. Die Härte von Eichenholz ist sprichwörtlich; vgl. z.B. Prop. 1,9,31: illis [sc. blanditiis] et silices et possint cedere quercus; Ov. am. 3,7,57-58: illa graves potuit quercus adamantaque durum / surdaque blanditiis saxa movere suis. (Vgl. Otto 1962, 322.) stas „Stillstehen“, „unbeweglich dastehen.“ (Vgl. OLD s.v. sto 7a.) Die Eiche, mit der Lalage hier verglichen wird, kann sich nicht bewegen. Vgl. ähnlich Ter. Haut. 831: i: quid stas, lapis? Schoonhoven bezieht die Unbeweglichkeit in übertragenem Sinne auf Lalages harten und spröden Sinn. • 8-11 Zum wiederholten Weggehen und Zurückkehren des exclusus amator vgl. z.B. Tib. 1,5,71-74: non frustra quidam iam nunc in limine perstat / sedulus ac crebro prospicit ac refugit / et simulat transire domum, mox deinde recurrit / solus et ante ipsas exscreat usque fores. (S. auch die Einleitung.) dura Zum Topos der Hartherzigkeit der Geliebten s. den Komm. zu Lal. 5,1: duritiem. S. auch V. 3 und 20. misellus S. auch V. 20. sollicitus Daphnis ist zu unruhig, um an einem Ort zu verweilen. S. auch V. 18. fores S. auch V. 5: surdae … ianuae mit Komm. respice respice Geminatio. Gemeint ist: „Zeige Interesse an mir“, „kümmere dich um mich.“ Vgl. OLD s.v. respicio 8: „to have regard for (a person, his welfare, etc.), show concern for, be sollicitous for.“ • 12 fletum … tibiae Das „Weinen der Flöte“ finde ich so nicht belegt, doch gibt es zahlreiche verwandte Vorstellungen, so das flebile carmen (z.B. Hor. carm. 2,9,9: flebilibus modis; Ov. rem. 36: exclusus flebile cantet amans; epist. 15,7: flendus amor meus est: elegia flebile carmen und bes. [Sen.] Herc. O. 128-130: illo Thessalicus pastor in oppido / indocta referens carmina fistula / cantu nostra canet tempora flebili) oder die klagende Flöte (z.B. Lucr. 4,584-585: dulcis… querelas, / tibia quas fundit; Hor. carm. 3,7,30: sub cantu querulae … tibiae). tristis Enallage. • 13-20 Zum Motiv, dass alles rings umher schläft und nur der Liebende keinen Schlaf findet, s. den Komm. zu Lal. 26,6-12. Im vorliegenden Gedicht beschreibt Schoonhoven 523 Diesen Hinweis verdanke ich Frau Dr. Beate Hintzen. <?page no="367"?> Ad Lalagen. Carmen XXXI 367 ausführlicher die abendliche Ruhe der Natur. In Schilderungen der Abendruhe kommen immer wieder ähnliche Elemente vor, was zum Teil auf literarische Abhängigkeit zurückzuführen sein mag, vor allem jedoch auch der Erfahrung entspricht. Vgl. bereits Alkman (PMG 89); hier bes. Verg. Aen. 4,522-525: nox erat et placidum carpebant fessa soporem / corpora per terras, silvaeque et saeva quierant / aequora, cum medio volvuntur sidera lapsu, / cum tacet omnis ager, pecudes pictaeque volucres; Stat. silv. 5,4,1-4: crimine quo merui iuvenis, placidissime divum, / quove errore miser, donis ut solus egerem, / Somne, tuis? tacet omne pecus volucresque feraeque / et simulant fessos curvata cacumina somnos. Vgl. auch Goethes Wandrers Nachtlied: „Über allen Gipfeln / ist Ruh, / in allen Wipfeln / spürest du / kaum einen Hauch; / die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / ruhest du auch.“ • 13 nostris montibus Vgl. Verg. ecl. 5,8: montibus in nostris. obticent Zum Wortfeld des Schweigens s. noch V. 15: quiescunt und tacet. • 14-15 tectae … tegmine frondium aves Vgl. Ov. epist. 10,8: tectae fronde queruntur aves. S. auch Lal. 33,4: tectae frondibus alites. tectae … tegmine Bei einer figura etymologica kann statt eines Akkusativs des Inhalts auch ein Ablativ stehen, „durch den der Grund, das Mittel oder die Art und Weise angegeben wird.“ (Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 278, § 71, Anm. 2.) Vgl. z.B. Plaut. Most. 1158: tali ludo ludere; Sen. epist. 69,9: mori sua morte. • 16 Die Häufung dunkler Vokale malt die Ruhe der schlafenden Natur. (S. auch V. 22 mit Komm.) carpunt… curva cacumina Alliteration. carpunt… somnos Vgl. z.B. Verg. georg. 3,435: sub divo carpere somnos; Aen. 4,555. (Vgl. OLD s.v. carpo 2b.) Zur übertragenen Bedeutung von carpere vgl. auch Bannier: ThLL 3 (1907),494,22- 495,6: excerpere, eligere, sumere, attrahere, arripere, frui. cacumina Es könnten sowohl Wipfel als auch Berggipfel gemeint sein, doch passt das Attribut curva besser zu den gebogenen Spitzen der Bäume, und zudem sind die Berge bereits in 13 genannt. Im zugrundeliegenden Vers des Statius (zitiert oben zu 13-20) neigen sich Baumwipfel, als ob sie müde seien. Auch hier liegt diese Bedeutung nahe. • 17 Im Kontext eines Paraklausithyron wirkt das Wandern durch die Felder wie eine bukolische Abwandlung des Topos, dass der Liebende nachts einsam durch die Straßen läuft; vgl. z.B. Tib. 1,2,25: en ego cum tenebris tota vagor anxius urbe. Vgl. auch Flaminios bukolisches Paraklausithyron, Lus. Past. 7,3: ipse vagor media solus de nocte. (S. auch die Einleitung.) solus obambulo Vgl. Ov. trist. 2,459, eine Anspielung auf Tibulls Paraklausithyron (Tib. 1,5,71-74; zitiert zu 8-11): [Tibullus] scit, cui latretur, cum solus obambulet, ipsas / cui totiens clausas excreet ante fores. obambulo S. auch V. 6: obambulans mit Komm. • 18 Die asyndetische Reihung von Adjektiven spiegelt die Ruhelosigkeit des Hirten. insomnis Schlaflosigkeit gehört zu den typischen Merkmalen der Verliebtheit; s. den Komm. zu 13-20 sowie Lal. 26,6-12 mit Komm. Vgl. hier noch bes. Plaut. Merc. 24-25: sed amori accedunt etiam haec quae dixi minus: / insomnia, aerumna, error, terror et fuga …; Ov. am. 1,2,1-4 (dazu McKeown 1989 mit zahlrei- <?page no="368"?> 3 Kommentar 368 chen weiteren Belegen); Hor. carm. 3,7,7-8: [der treue, aber ferne Geliebte] noctes non sine multis / insomnis lacrimis agit. Daphnis’ Schlaflosigkeit bildet einen Gegensatz zum Schlaf der Natur (16: somnos). sollicitus S. den Komm. zu 8-11: sollicitus. pavens Der Liebende, der sich nachts zum Haus der Geliebten wagt, muss die Furcht vor den Gefahren überwinden, die im Dunkel der Nacht lauern. Vgl. z.B. Tib. 1,2,23-25. (S. auch den Komm. zu 17.) Ovid führt dieses Motiv spielerisch weiter; vgl. am. 1,6,9-15: at quondam noctem simulacraque vana timebam; / mirarbar, tenebris quisquis iturus erat. (…) nec mora, venit amor; non umbras nocte volantes, / non timeo strictas in mea fata manus: / te [sc. ianitorem] nimium lentum timeo. • 19 Auch das Motiv, dass der Liebende die Nacht auf der Schwelle der Geliebten zubringt, ist in die bukolische Sphäre übertragen. (S. auch den Komm. zu 17.) Zur gewöhnlichen Situation des exclusus amator vgl. z.B. Prop. 1,16,22: turpis … in tepido limine somnus erit; Ov. am. 2,19,21-22: sine me ante tuos proiectum in limine postes / longa pruinosa frigora nocte pati. Weniger spezifisch ist die Angabe in Ov. ars 2,523-524: clausa tibi fuerit promissa ianua nocte: / perfer et immunda ponere corpus humo. fusus Vgl. OLD s.v. fundo 1 13a: „(pass., of persons) to be stretched out (on the ground etc.)“; z.B. Verg. georg. 2,527: fusus… per herbam; Ov met. 8,530: humi fusus. gramine frigido Gras und angenehme Kühle sind topische Elemente eines locus amoenus. (S. den Komm. zu Lal. 1,6-12; vgl. auch OLD s.v. frigidus 3.) Nun wird der locus amoenus für Daphnis jedoch aus zwei Gründen zum locus horribilis. (Zum Begriff vgl. Bernsdorff 2001, 146-147.) Zum einen bezeichnet frigidus hier nicht die erfrischende Kühle am Mittag, sondern die eisige Kälte der Nacht. (Vgl. z.B. Prop. 1,16, 23-24: me mediae noctes, me sidera plena iacentem, / frigidaque Eoo me dolet aura gelu; s. auch die Einleitung.) Zum anderen liegt Daphnis nur deshalb draußen im kalten Grase, weil Lalage ihn nicht zu sich ins warme Haus einlässt, sondern „kalt“ abweist. • 20 misellus S. auch V. 9. tuam … duritiem queror S. den Komm. zu Lal. 5,1: solus Lalages duritiem queror; ferner Lal. 19,8: duritiem … plango, puella, tuam. duritiem S. auch V. 3; 8: dura mit Komm. • 21-24 Die Übersetzung vor allem von 22 ist problematisch. Dass Lalage Daphnis Schlaf schicken soll, ist sachlich schwer vorstellbar und vor allem inhaltlich nicht sinnvoll. Sie soll ihn, der draußen im kalten Grase liegt, erhören (audi). Das muss heißen, dass er eingelassen werden möchte, nicht aber, dass er gerne weiter draußen in der Kälte liegen und dort einschlafen will. Dafür spricht auch der letzte Vers. Damit die Einschränkung, Lalage solle „wenigstens“ seine Seele aufnehmen, Sinn macht, muss logisch ergänzt werden: „Wenn schon nicht mich, so nimm wenigstens meine Seele auf.“ Die Aufforderung „lass mich ein“ ist gewissermaßen implizit durch das „erhöre mich“ ausgedrückt. In 22 verstehe ich mittere als „lassen“, „fahren lassen.“ (S. den Komm. unten.) Lalage soll nicht - so wie die ganze Natur - schlafen, sondern noch ein wenig wach bleiben und sich um Daphnis kümmern. Zur Bedeutung von Vers 24 s. den Komm. dort. • <?page no="369"?> Ad Lalagen. Carmen XXXI 369 21 audi Hier prägnant „erhören.“ Vgl. Sinko: ThLL 2 (1900-1906),1289,83- 1290,45: exaudire (praesertim preces, sim.), non audire solum, sed etiam annuere. Audire wird in dieser Bedeutung von Göttern gebraucht (z.B. Hor. carm. saec. 34-36: supplices audi pueros, Apollo; / siderum regina biconis, audi, / Luna, puellas), aber auch von Menschen (z.B. Verg. Aen. 4,438-439: [Aeneas] nullis … movetur / fletibus aut voces ullas tractabilis audit; Sen. Med. 514: supplicem audivit Creo). Querentem nimmt quero aus dem vorigen Vers polyptotisch wieder auf. commiserescito Der Imperativ Futur wird in der Antike besonders häufig von Plautus verwendet. Kombiniert mit einem Imperativ Präsens kann eine zeitliche Abfolge (sofort und danach auszuführender Befehl) ausgedrückt werden, doch können beide auch ohne Bedeutungsunterschied nebeneinander stehen, in der Poesie z.B. aus metrischen Gründen. (Vgl. z.B. Verg. Aen. 6,95: tu ne cede malis, sed contra audentior ito.) Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 196-199, § 50,3. Im vorliegenden Gedicht fällt das Erhören und das Erbarmen inhaltlich zusammen. • 22 blandum somnum … paululum Onomatopoiie durch weiche Konsonanten wie m und l sowie dunkle Vokale; s. auch V. 16 mit Komm. mittito Vgl. OLD s.v. mitto 1: „to release, let go“; 4a: „to set aside, abandon, drop.“ Zur Bedeutung im Kontext s. den Komm. zu 21-24. Zur Form s. V. 21: commiserescito mit Komm. • 23-24 sinu saltem … suscipe spiritum Die Alliteration lässt den Hauch des spiritus hören. Ähnlich verfährt Vergil (ecl. 1,53-55), um das Summen der Bienen darzustellen. sinu … suscipe Dies weckt zunächst die Assoziation einer erotischen Handlung. migrantem suscipe spiritum Daphnis’ spiritus ist ruhelos wie er selbst (17-18). Wenn Lalage seinen Bitten gegenüber hart bleibt und ihn nicht zu sich einlässt, dann soll sie wenigstens seine Seele aufnehmen. (Zur Interpretation der Passage s. den Komm. zu 21-24.) Was suscipe spiritum inhaltlich genau heißen soll, ist nicht ganz klar. Zunächst einmal würde man verstehen, dass Daphnis Lalage wenigstens innerlich nahe sein möchte. Mit dem spiritus wären dann etwa Daphnis’ Gedanken an Lalage gemeint, seine Liebe zu ihr, vielleicht auch seine Liebesqualen. Gerade am Ende eines Paraklausithyron denkt man auch an den topischen Todeswunsch eines zurückgewiesenen Liebenden. Dies erschließt sich jedoch nicht unmittelbar, sondern nur vor dem Hintergrund der Prätexte. Vgl. z.B. [Theoc.] 23,19-48; Ov. met. 14,718-732 und hier bes. Flam. Lus. Past. 7,7-8: tu, precor, aut nostri miserere, aut si tibi tantum / displiceo, hic animam ponere dura iube. (S. auch die Einleitung.) Auch die Formulierung suscipe spiritum kann in dieser Weise gedeutet werden; vgl. z.B. Vulg. act. 7,58: et lapidabant Stephanum invocantem et dicentem: Domine Iesu, suscipe spiritum meum. Hinzu kommt die Vorstellung, dass ein Liebender die ausgehauchte Seele des oder der sterbenden Geliebten in einem letzten Kuss auffangen könne; vgl. z.B. Bion, Epitaphios Adonidos 47: ἀποψύχῃς ἐς ἐµὸν στόµα . (S. hierzu auch den Komm. zu Lal. 24,20-21.) Mit dem Schöpfungsmotiv am Anfang (1-3) und dem Todesmotiv am Ende <?page no="370"?> 3 Kommentar 370 ergäbe sich eine Rahmung des Gedichtes. Allerdings heißt migrare nur in der Verbindung ex/ de vita migrare „sterben.“ (Vgl. OLD s.v. migro 2b.) Inhaltlich wären beide Varianten vertretbar, entweder „lass mich ein oder lass mich dir wenigstens innerlich nahe sein“ oder „lass mich ein oder nimm - wenn ich mich aufgrund deiner Hartherzigkeit umbringe - wenigstens meinen letzten Lebensatem auf.“ Ad Lalagen. Carmen XXXII Lalages Gewand lässt ihre Brüste sehen, was Daphnis’ Verlangen geradezu unerträglich steigert. Er unterstellt, dass sie ihn absichtlich reize und sich an seinen Qualen noch weide. Dies erinnert vor allem an das im selben Metrum verfasste Gedicht 4, in dem Lalage ebenfalls durch aufreizendes Verhalten Daphnis’ Liebesglut schürte. (S. auch die Einzelkommentare; zum Metrum s. die Einleitung zu Lal. 26.) Ein direktes literarisches Vorbild ist Pontanos Gedicht Ad Hermionem ut papillas contegat (Hendec. 1,4; s. auch die Kommentare zu 5-6 und 13-14). Dort charakterisiert der Sprecher sich als Greis, den der Anblick von Hermiones nackten Brüsten in jugendliche Wallung versetzt. Der Typ der lasziven Hirtin war im 17. Jahrhundert in verschiedenen Kunstgattungen verbreitet. Der niederländische Maler Paulus Moreelse schuf etwa 15 Gemälde mit diesem Motiv. Am bekanntesten ist das 1630 entstandene Bild, dem der Titel „De schone herderin“ („die schöne Hirtin“) zugeschrieben wird. Es ist im Rijksmuseum in Amsterdam ausgestellt (Öl auf Leinwand; Objektnummer: SK-A-276) und ist unter folgender Adresse auch im Internet zu finden: https: / / www.rijksmuseum.nl/ nl/ collection/ SK-A-276. Das Bild wirkt wie eine Illustration zu Schoonhovens Gedicht: Eine Frau mit Hirtenstab und Blumen im Haar blickt den Betrachter neckisch an, indem sie einen Zeigefinger beinahe an die Lippen hält. Ihr goldfarbenes Gewand fällt vorne offen, so dass nicht nur ihr weißes Dekolleté, sondern auch die Brustwarzen zu sehen sind. Das Gedicht ist gleichmäßig strukturiert. Im Mittelteil (5-10) beschreibt Daphnis Lalages Brüste. Davor und danach benennt er jeweils in zwei Versen seine Qualen (3-4 und 11-12). In den beiden einleitenden Versen klagt er über Lalages protervitas; am Schluss (13-14) bittet er sie, seine Qualen zu beenden. Metrum: Iambische Dimeter. 1 protervitas S. den Komm. zu Praef. 15: iuvenes proterviores. • 2 innata Man denkt an die Beschreibung der „Schöpfung“ in Lal. 31,1-3. virgo Hier soll nicht Lalages Keuschheit betont werden, sondern ihre Jugendlichkeit. <?page no="371"?> Ad Lalagen. Carmen XXXII 371 Auch sonst bezeichnet virgo in den Amores Pastorales ein junges Mädchen, und zwar meist eine Liebende oder Geliebte. S. z.B. Lal. 16,17 (Echo); 12,23.35 (Rivalin Lyce); Eleg. 2,30 (blando virginis in gremio). pessima Lalage ist pessima, weil sie Daphnis reizt, ohne ihm Erfüllung zu gewähren. Malus und seine Steigerungsformen werden im Lateinischen nicht in erotischer Bedeutung gebraucht (etwa „schlimmes Mädchen“). • 3-4 iuvat Daphnis warf Lalage schon mehrfach vor, es kümmere sie nicht, dass er schon ganz bleich und ausgezehrt sei. (S. bes. Lal. 4,33-35; 31,4-6.) Hier geht er mit iuvat noch einen Schritt weiter: Offenbar lacht sie über seinen Schmerz. Vultusque Das überlieferte veltusque ist ein Setzerversehen. pallor luteus = Hor. epod. 10,16. S. den Komm. zu Lal. 4,34-35: pallore tincta. • 5-6 papillas candidas Vgl. Pont. Hendec. 1,4,1.5.16: candidas papillas. (S. auch die Einleitung.) Weiße Hautfarbe ist ein Merkmal besonderer Schönheit. S. den Komm. zu Lal. 12,23-24: candidulum. sororiantes Vgl. Plaut. fr. 82-84: tunc papillae primulum / fraterculabant - illud volui dicere, / ‚sororiabant’. S. dazu den Komm. zu Lal. 4,29-31: sororiantes. primulùm S. den Komm. zu Lal. 30,3-4: primulùm. • 7-8 Vgl. Ad Lydiam 18-19: papillas … / compresso lacte quae modo pullulant. Das Weiß der Milch korrespondiert mit dem strahlenden Weiß der Haut (5: papillas candidas). Die Farbe der Haut kann mit Milch verglichen werden (vgl. z.B. Ov. epist. 16,251-252: pectora vel puris nivibus vel lacte … candidiora), oder es kann sogar „Milch“ synekdochisch für „weiße Farbe“ stehen. (Vgl. Ov. ars 1,290: candidus … taurus; 1,292: cetera lactis erant = „das übrige [Fell] war weiß“; vgl. Heine: ThLL 7,2 [1970-1979],818, 22-36, s.v. lac: c. respectu coloris.) Hier ist jedoch nicht nur die Farbe gemeint, sondern tatsächlich Milch, denn sonst wäre tumore nicht zu erklären. Noch eindeutiger ist Lal. 24,23-24: niveo… tumentia rore / ubera. Normalerweise bildet sich Milch erst während einer Schwangerschaft, doch deutet nichts darauf hin, dass Lalage schwanger ist. Es gibt auch Fälle, in denen es ohne vorangegangene Schwangerschaft zur Milchbildung kommt. Dies ist in der Regel auf Hormonstörungen zurückzuführen, die vor allem durch Gehirntumore ausgelöst werden können, aber auch sonst auftreten. (Vgl. Cowie/ Tindal 1971, 254-255.) Hier geht es jedoch nicht um die Beschreibung pathologischer Zustände. So sagen die Verse sicherlich mehr über männliche erotische Wunschvorstellungen als über Schoonhovens biologische Kenntnisse aus. • 9 sub reductâ fasciâ = Lal. 4,29. Aus promis (5) und der Mahnung in 13 ist zu schließen, dass Lalages Brüste nicht - wie es die Präposition sub nahelegte - von der fascia vollständig bedeckt sein können. Folglich muss reducta heißen, dass das Band recht knapp sitzt und noch einiges sehen lässt. S. auch die Einleitung. • 10 In Lal. 29,18-19 wurden Lalages Brüste beim Tanz sichtbar, hier „tanzen“ die Brüste selbst. Inhaltlich entspricht der Ausdruck lusitant in Lal. 4,30. ducunt choreas In eigentlicher Bedeutung z.B. Ov. met. 14,520: duxere choreas; Joh. Sec. Bas. 2,19. • 11 Tabescere gehört zu den Metaphern, die den Liebenden als Kranken <?page no="372"?> 3 Kommentar 372 bzw. die Liebe als Krankheit beschreiben. Das Verb τήκειν / τήκεσθαι kommt in dieser Bedeutung schon in archaischer griechischer Lyrik vor (Pindar fr. 123,11 Snell), ist dann in der hellenistischen Dichtung verbreitet (z.B. Theoc. 1,66: ∆άφνις ἐτάκετο ) und gelangte von dort aus in die lateinische Poesie. Vgl. Fedeli 1980 zu Prop. 1,15,20: tabuit mit weiteren Belegen (darunter zahlreiche aus der AP, z.B. 5,210,2 [= HE 829]; weiter z.B. Prop. 3,6, 23; 3,12,9; Ov. met. 3,445; 4,259). • 12 interire Hyperbolischer Ausdruck für das Leiden an Liebeskummer; vgl. Pichon 1966, 174 (z.B. Tib. 1,9,45: tum miser interii, stulte confisus amari; Prop. 2,8,18). S. auch Lal. 4,40-41: me deseris / in valle semimortuum. Vgl. auch Caspar Barth, Amphitheatrum Gratiarum 16,104: febre interibit (Humanistische Lyrik 1997, 884; s. auch den Komm. zu Lal. 5,16: pereo). • 13-14 Vgl. Pont. Hendec. 1,4,1.5: praedico, tege candidas papillas; 1,4,16-18: aut contege candidas papillas / et pectus strophio decente vinci / aut, senex licet, involabo in illas. (S. auch die Einleitung.) Bei Pontanus tritt der Sprecher selbstbewusst auf: Wenn Hermione sich nicht bedeckt, wird er sich nicht länger zurückhalten. Daphnis dagegen wagt eine solch forsche Ankündigung nicht, sondern versucht, an Lalages Mitleid zu appellieren. In Ovids Heroidenbriefen stellt Paris Helena vor eine nur scheinbare Alternative; vgl. 16,289: aut faciem mutes aut sis non dura necesse est. Bei Pontanus und Schoonhoven wäre die Aufforderung, die Brust zu bedecken, theoretisch leicht zu erfüllen. recondas Das Bedecken der Brust ist die Gegenhandlung zu promis (5). Vgl. noch Ad Lydiam 18 und 22: conde papillas. sentiendas Schoonhoven gebraucht das Verb sentire, das eigentlich ein rezeptives Wahrnehmen bezeichnet (vgl. OLD s.v. 1), hier im Sinne von tangere. praebeas Von den beiden Alternativen steht die ersehnte Variante betont am Ende des Gedichtes. Ad Lalagen. Carmen XXXIII Am Morgen malt Daphnis sich den Verlauf des anbrechenden Tages aus: Lalage und er werden ihre Herden weiden (7-8) und dabei einen locus amoenus aufsuchen, an dem es auch in der zu erwartenden Mittagshitze noch angenehm kühl sein wird (9-12). Dort werden sie sich an Obst und Wein laben (17-24). Das „Idyll“ im modernen Sinne des Wortes gehört zu den Gedichten des Lalage-Zyklus, in denen die bukolische Atmosphäre besonders ausgeprägt ist. (S. bes. noch Lal. 16.) Schoonhoven erreicht dies vor allem durch gehäufte Imitation der Eklogen Vergils, die Schilderung des locus amoenus und zahlreiche eingestreute Hirtennamen. Neben Daphnis und Lalage treten weitere sieben Personen auf, deren Namen traditionell mit der bukolischen Dichtung verbunden sind. (S. die Kommentare zu 5; 13-15; 19-20.) Alle Namen kommen mindestens in einem weiteren Gedicht vor. (Zur Einheit der Personen s. Kap. 1.2.1.2 b.) <?page no="373"?> Ad Lalagen. Carmen XXXIII 373 Im Aufbau orientiert sich das Gedicht an Hor. carm. 4,12. (Zu wörtlichen Parallelen s. die Kommentare zu 18-24.) Auch die Horazode beginnt mit einer Naturbeschreibung, die das Motiv der Vögel (3-4; Hor. carm. 4,12,5-7) und der Hirten auf der Weide (5-8; Hor. carm. 4,12,9-12) enthält. Der Verweis auf die Mittagshitze (11-12; Hor. carm. 4,12,13: adduxere sitim tempora) leitet zum Thema des Weintrinkens über. Das Motiv des Weintrinkens an einem locus amoenus kommt bereits bei Hesiod vor (Op. 582- 596). Wenn in der Mittagshitze die Zikaden singen, ist der Wein am besten (582-585); um die Hitze zu ertragen, braucht man Schatten und Wein (bes. 592-593: ἐπὶ δ ' αἴθοπα πινέµεν οἶνον , / ἐν σκιῄ ἑζόµενον ); und auch weitere typische Elemente des locus amoenus wie der Zephyr und eine Quelle sind genannt, wobei das Quellwasser auch zum Mischen des Weines dient (594- 596). Zum Weintrinken im Schatten vgl. weiter z.B. Verg. ecl. 5,69-71: multo in primis hilarans convivia Baccho / (ante focum, si frigus erit, si messis, in umbra) / vina novum fundam calathis Ariusia nectar. Bei Longos (2,1-2) werden die Weinlese und das Keltern beschrieben. Ein dionysisches Element kam schon in Lal. 29 vor; s. die Einleitung dort zum Tanz des Bacchus-Gefolges. Metrum: 3. Asklepiadeische Strophe. 1 Die wörtliche Übersetzung wäre: „Schon hat, Lalage, der Morgenstern sein Antlitz hervorgestreckt.“ Aus Sicht des Betrachters erhebt sich das Gestirn über den Horizont bzw. taucht aus dem Meer auf, das in der antiken Vorstellung die Welt rings umgibt. Vgl. Sen. Phaedr. 747: exerit vultus rubicunda Phoebe. Lalage Die Anrede wird gegen Ende des Gedichtes (21) an gleicher Position in Strophe und Vers ringkompositorisch wieder aufgenommen. Nach der ausführlichen Beschreibung der Umgebung im Mittelteil kehren Daphnis’ Gedanken am Schluss wieder ganz zur Geliebten zurück. Phosphorus Der griechische Name des Morgensterns; vgl. Cic. nat. deor. 2,53: proxuma stella Veneris, quae Φωσφόρος Graece Lucifer Latine dicitur. (S. auch den Komm. zu Lal. 25,25-26: Lucifer.) In der lateinischen Poesie z.B. Sen. Herc. f. 128; Stat. silv. 2,6,79; Mart. 8,21,1-2. • 2 dimotis Vgl. Verg. Aen. 4,7: umentemque Aurora polo dimoverat umbram; ferner 11,210. polo Die Bezeichnung des ganzen Himmels als polus ist poetisch; vgl. OLD s.v. 2a. S. auch V. 14: ad polum. • 2-3 diem salutant Dies ist offenbar ein Neologismus. • 3-4 Das Motiv der Vögel, die morgens in den Bäumen erwachen und ihren Gesang beginnen, bildet ein Gegenstück zum Abendbild in Lal. 31,14-15: tectae virenti tegmine frondium / aves quiescunt. (S. auch den Komm. dort.) • 5 Corydon Zum Namen und zur Schreibweise s. den Komm. zu Lal. 29,2: Corydon. fusca S. den Komm. zu Lal. 29,9: fusca. Thestylis S. Lal. 7,18-20 mit Komm.; 39,31. • 6 pecudes Pecus kann speziell Schafe bezeichnen. (Vgl. OLD s.v. 1b.) Im nächsten Vers sind dagegen Ziegen genannt. montibus abdidit Hier ist wohl kein „Verstecken“ im eigentlichen Sinne gemeint, sondern das Weiden in abgelegenen, „verborgenen“ Bergregio- <?page no="374"?> 3 Kommentar 374 nen. Anders Lal. 35,1: montibus abditus. abdidit Wenn mehrere durch et, atque oder -que verbundene Personen Subjekte des Satzes sind und das Prädikat nachgestellt ist, bezieht sich das Verb gewöhnlich auf alle Personen und steht somit im Plural. Bereits in klassischer Zeit kann jedoch auch ein Prädikat im Singular gesetzt werden, das sich inhaltlich auf alle Personen, grammatisch aber nur auf das nächststehende Subjekt bezieht. Vgl. z.B. Cic. Att. 1,8,1: mater tua et soror a me … diligitur; Caes. Gall. 1,26,4; Verg. Aen. 1,574. Vgl. Kühner/ Stegmann 1912, 2,1, 44-45, § 13. • 7 et „Und“, nicht „auch“, denn die Unterschiede werden betont: Daphnis und Lalage halten sich in einem besonderen Winkel auf, und sie weiden hier Ziegen, Corydon und Thestylis dagegen Schafe. Vita S. den Komm. zu Lal. 1,13. • 8 angulo S. V. 21 mit Komm. • 9-12 Zum locus amoenus mit Pappel und Wildbach s. Lal. 1,6-12 mit Komm. Die wichtige Funktion eines solchen Ruheplatzes, in der Mittagshitze durch Schatten und frisches Wasser für Kühlung zu sorgen, ist hier durch den Verweis auf den zu erwartenden aestus (11-12) hervorgehoben. • 9-10 quem … quem Anapher am Beginn der ersten beiden Verse der Strophe; s. auch V. 13-14; 17-18. cingunt hederae et populus Zeugma. Das Verb passt besser zum Efeu als zu der einzelnen Pappel, die jedoch Teil des „Gürtels“ aus Gewächsen ist. Zur Formulierung vgl. Claud. carm. min. app. 5,57-58: atria larga, / quae uirides cingunt hederae laurique coronant. populus imminens Vgl. Verg. ecl. 9,41-42: hic candida populus antro / imminet. Zur Bedeutung der Pappel im Gedichtzyklus s. den Komm. zu Lal. 1,6: populus. torrens placido murmure S. auch Lal. 1,9: torrens strepero murmure. praeterit Von Flüssen z.B. Hor. carm. 4,7,3-4: decrescentia ripas / flumina praetereunt. • 11 hoc sole Sol kann metonymisch für den Tag stehen, so dass dies eine Zeitangabe sein könnte wie sequente sole in Lal. 16,51-52. (Vgl. OLD s.v. sol 2c.) Die folgende Vorhersage, dass die Hitze unerträglich werden wird, lässt jedoch konkret an die Sonne denken: Wenn jetzt am Morgen die Sonne schon so warm scheint, wird es später sehr heiß. Zur Bedeutung „Sonnenlicht“ oder „Sonnenwärme“ vgl. OLD s.v. sol 4 a und b. • 13-14 huc … hinc Das Polyptoton steht anaphorisch am Beginn der ersten beiden Verse der Strophe; s. auch V. 9-10; 17-18. Die Ortsangabe darf hier nicht zu eng gefasst werden. Der Platz, zu dem Dorylas seine Herden treibt, und Bions Weingärten, in denen Thyrsis singt, gehören im weiteren Sinne zu dem beschriebenen locus amoenus und dessen Umgebung. huc potum … convenient Vgl. Verg. ecl. 7,11: huc ipsi potum venient per prata iuvenci. Dorylae S. Lal. 35,1: Dorylae mit Komm.; 6,51. hinc … concinet ad polum Vgl. Verg. ecl. 1,56: hinc alta sub rupe canet frondator ad auras. Auch dort singt ein Laubscherer bei der Arbeit, um sich die Zeit zu verkürzen. (Vgl. Clausen 1994 zu Verg. ecl. 1,56; s. auch den Komm. zu 15-16.) Thyrsis ist der Name des Rivalen in Lal. 6, 27 und 35; ein aemulus Thyrsis ist außerdem in Lal. 18,20 genannt. (S. Kap. 1.2.1.2 b.) S. auch den Komm. zu 15-16. nitidum … polum An diesem sonnig heißen Tag (11-12) <?page no="375"?> Ad Lalagen. Carmen XXXIII 375 ist der Himmel wolkenlos heiter und strahlend. Vgl. Sen. Herc. f. 822: pura nitidi spatia … poli. S. auch V. 2: polo mit Komm. • 15-16 Das Laub des Weins und der Bäume, an denen er hochrankt, muss beschnitten werden, um genügend Licht durchzulassen. (Vgl. Clausen 1994 zu Verg. ecl. 1,56.) In den Georgica beschreibt Vergil diesen Vorgang; vgl. bes. 2,362-370. Die Arbeit im Weingarten deutet auf das Thema der letzten beiden Strophen voraus, den Weingenuss und dessen Wirkung. Wenn man eine Identität der Personen annimmt (s. dazu Kap. 1.2.1.2 b) und Thyrsis folglich der Rivale ist, könnte man unterstellen, dass Daphnis ihn auch hier nicht unbedingt positiv zeichnet. Das Beschneiden der Weinreben kann natürlich, wenn es zur Unzeit oder im Übermaß geschieht, auch Schaden anrichten. Vgl. dazu Verg. ecl. 3,10-11: tum, credo, cum me arbustum videre Miconis / atque mala vitis incidere falce novellas. Allerdings wird Thyrsis’ Sichel nicht mala genannt, sondern nur ihr Material beschrieben. Auch sonst gibt es an dieser Stelle im Text keinen Hinweis darauf, dass Thyrsis Bion Schaden zufügt und nicht einfach als Arbeiter in seinem Weingarten beschäftigt ist. Bionis Schoonhoven benennt einen Hirten nach einem antiken Dichter bukolischer Poesie. Als Hirtenname ist Bion in der antiken Bukolik nicht belegt, doch wird Bion im Epitaphios Bionos als Rinderhirte dargestellt; vgl. z.B. V. 11: Βίων τέθνακεν ὁ βουκόλος . S. auch Lal. 34,1; 40,22. tondet Hier Terminus technicus für das Zurückschneiden von Ästen und Laub. (Vgl. OLD s.v. tondeo 3a.) falcibus aeneis Schoonhoven behandelt das ae in aeneis hier wie einen Diphthong. Normalerweise werden beide Vokale getrennt gesprochen, wie auch aus der Schreibweise ahēneus bzw. ahēnus statt aēneus bzw. aēnus erhellt. Vgl. z.B. Lucr. 5,1294: falcis aenae; Ov. met. 7,227. • 17- 18 sunt … est Anaphorisches Polyptoton. S. auch V. 13-14 mit Komm.; 9-10. • 17 Der Vers ist eine Kollage aus verschiedenen Eklogenversen Vergils; vgl. 1,80: sunt nobis mitia poma (ebenfalls sunt betont vorangestellt); 2,51.53: ipse ego cana legam tenera lanugine mala (…) addam cerea pruna; 8,37: roscida mala. Vgl. weiter Prop. 1,20,36: roscida desertis poma sub arboribus. Roscida steht ἀπὸ κοινοῦ als Attribut sowohl der pruna als auch der poma. • 18 plenus onyx Der onyx ist ein spezieller Marmor bzw. ein Gefäß aus diesem Stein, das vor allem als Behälter für Salben diente. Vgl. z.B. Prop. 2,13,30: dabitur Syrio munere plenus onyx. (Vgl. OLD s.v. onyx 1b.) Als Material für einen Weinkrug ist Onyx nicht üblich und wäre sicherlich auch zu schwer und daher unhandlich. Die Verwechslung des Salbfläschchens mit einem Gefäß zur Aufbewahrung von Wein könnte auf ungenaue Imitation von Hor. carm. 4,12,14-20 zurückzuführen sein. Dort wird ein Gast aufgefordert, ein Gefäß mit Salböl mitzubringen, um dafür vom Gastgeber Wein zu erhalten. (Vgl. bes. 4,12,16-17: nardo vina merebere. / nardi parvus onyx eliciet cadum; s. auch die Einleitung.) In der schlichten bukolischen Umgebung, die in Lal. 33 geschildert wird, wirkt das kostbare Material auffällig. Ähnliches merkt Gow zu dem in Theokrits erstem Idyll beschriebenen κισσύβιον <?page no="376"?> 3 Kommentar 376 an, das, obwohl es aus Holz gefertigt ist, an eine Silberschmiedearbeit erinnere und „somewhat out of place“ wirke. (Vgl. Gow 1952, 14 zu Theoc. 1,27-56.) nectare Bereits bei Homer wird besonders guter Wein als „Göttertrank“ gelobt; vgl. Od. 9,359: ἀλλὰ τόδ ’ [sc. der Wein, den Odysseus Polyphem angeboten hat] ἀµβροσίης καὶ νέκταρός ἐστιν ἀπορρώξ . Theoc. 7,153 spielt auf diese Stelle an. (Vgl. auch Gow 1952 z. St. mit weiteren Belegen für die Bezeichnung des Weins als νέκταρ .) In der römischen Bukolik vgl. z.B. Verg. ecl. 5,71: vina novum fundam calathis Ariusia nectar. Coleman (1977, z. St.) merkt an, dass der Wein nicht nur wegen seines angenehmen Geschmackes „Nektar“ genannt werde, sondern auch, weil er Schmerz und Sorge lindere und die Menschen daher die Sorglosigkeit von Göttern erfahren lasse. Zum Wein als Sorgenlöser s. V. 23-24 mit Komm. In Lal. 3,53-55 werden Lalages Küsse mit dem Göttertrank verglichen. • 19 candidus Die weiße Hautfarbe ist ein Zeichen von Schönheit. (S. den Komm. zu Lal. 12,23-24: candidulum.) Aegon Ein Hirtenname; vgl. z.B. Theoc. 4,2; Verg. ecl. 3,2; 5,72; Calp. ecl. 6,83. S. auch Lal. 39,30. • 20 pressum Hier: „keltern.“ (Vgl. OLD s.v. premo 25.) Vgl. z.B. Hor. carm. 4,12,14: pressum … Liberum (s. auch die Einleitung); Tib. 1,5,24: pressa… veloci candida musta pede. Palaemonis In Lal. 25,33 begegnet ein Hirte namens Palaemon, der sich im Elysium befindet, also bereits gestorben ist. Entweder ist hier nicht dieselbe Person gemeint, oder der Berg heißt auch noch nach dem Tod des Besitzers „Berg des Palaemon.“ Zur Verwendung der Hirtennamen s. Kap. 1.2.1.2 b. • 21-24 Nach der ausführlichen Beschreibung der Umgebung und der Erwähnung etlicher anderer Personen entsteht in der letzten Strophe das Bild einer trauten Zweisamkeit in einem abgelegenen Winkel. Daphnis möchte mit Lalage zusammen Wein trinken, um in gelöster Heiterkeit aller Sorgen ledig zu sein. Für ihn besteht die wichtigste Hoffnung natürlich darin, Lalage zu gewinnen; seine curae sind die Sorgen und der Kummer des immer wieder zurückgewiesenen Liebenden. Von Lalages Sorgen und Wünschen erfahren wir im Gedichtzyklus nichts, da Daphnis als Sprecher stets nur sein eigenes Gefühlsleben schildert. • 21 hoc Sc. nectar. Lalage S. den Komm. zu 1. montis in angulo S. Lal. 23,18 mit Komm.; 27,3-4; s. auch V. 8. • 22 fusis S. Lal. 31,19: fusus mit Komm. • 23-24 Vgl. Hor. carm. 4,12,19-20: spes donare novas largus amaraque / curarum eluere efficax. (S. auch die Einleitung.) spes donare potentes Zur inneren Kräftigung durch Wein vgl. z.B. auch Hom. Il. 6,261; Hor. carm. 3,21,17: tu [sc. ein Weinkrug] spem reducis mentibus anxiis; Ov. ars 1,237: vina parant animos; met. 12,242. (Vgl. Otto 1962, 372.) curas… eluere Dass der Wein die Sorgen vertreibt, ist eine allgemeine Erfahrung, die sich in der Literatur sehr häufig wiederfindet. Einige Beispiele mögen genügen: Hor. carm. 1,7,31: nunc vino pellite curas; Prop. 3,17,4: [Bacche] curarum… tuo fit medicina mero; Ov. ars 1,238: cura fugit multo diluiturque mero. (Vgl. Otto 1962, 372.) Am Schluss des Emblems 19 zitiert Schoonhoven einige Verse aus den Anakreonteen, die zu dieser Zeit <?page no="377"?> Ad Lalagen. Carmen XXXIV 377 als Dichtung Anakreons galten, mit der lateinischen Übersetzung des Helias Andreas: πίωµεν οὖν τὸν οἶνον / τὸν τοῦ καλοῦ Λυαίου· / σὺν τῶι δὲ πίνειν ἡµᾶς / εὕδουσιν αἱ µέριµναι (Anacreont. 45,7-10 W.). - ergo merum bibamus / pulchrum merum Lyaei; / bibendo namque vinum / aerumna dormit omnis. (S. auch die Einleitung zu Ex Anacr.) Ad Lalagen. Carmen XXXIV Daphnis spielt so lieblich auf der Panflöte, dass Lalage ihm für die Wiederholung des Liedes fünf Küsse verspricht. Als sie ihr Versprechen nicht hält, droht er, dass Meineide schwer bestraft würden. Die Mahnung verhallt nicht ungehört, denn zu Beginn des folgenden Gedichtes erhält Daphnis die versprochenen Küsse und noch mehr dazu. (S. die Einleitung zu Lal. 35 sowie den Komm. zu 35,1-4.) Das Motiv erinnert an Longos 3,22,2-23,5: Daphnis fordert von Chloe zehn Küsse als Lohn, wenn er ihr die Geschichte der Nymphe Echo erzählt. Chloe gibt ihm danach nicht nur zehn Küsse, sondern πάνυ πολλά . Das Gedicht besteht aus zwei gleich langen Hälften (1-10: Lied und Versprechen; 11-20: Strafandrohung). Diese lassen sich jeweils wieder in Abschnitte von 4 + 4 + 2 Versen einteilen: 1-4: Daphnis’ Lied; 5-8: Lalages Versprechen; 9-10: Daphnis löst seinen Teil ein, Lalage ihren nicht; 11-14: Nemesis; 15-18: Pappel als Zeugin; 19-20: Warnung. In der antiken Tradition gelten Schwüre von Liebenden als nicht bindend. (S. den Komm. zu 11-12.) Der Jurastudent Schoonhoven ironisiert das Motiv des Meineides zusätzlich, indem er in der zweiten Gedichthälfte eine Fülle juristischer Termini verwendet: 11: rennuas, periurium; 12: Nemesis, puniet; 13: poena; 14: crimen; 15: periurii (s.o.), testis; 18: proloquetur, crimina (s.o.); 19: spondeas (s. auch V. 7). Metrum: Iamben (Trimeter/ Dimeter). 1-6 In Gedicht 7 singt Daphnis von Venus und Adonis, woraufhin ein Taubenpärchen herbeikommt, die Vögel der Venus. (S. den Komm. zu Lal. 7,1- 5.) Hier besingt er die Liebe des Zyklopen Polyphem zu der Nymphe Galatea und lockt damit Lalage persönlich herbei. (Zum Mythos s. den Komm. zu Lal. 25,9-12.) Der Hirte Daphnis identifiziert sich offenbar mit dem Hirten Polyphem, dessen Lied er reproduziert. (S. die Kommentare zu 3.) Die Situation erinnert vor allem an das erste Lied in Theokrits sechstem Idyll. Es wird von einem Hirten namens Daphnis vorgetragen, der mit der Stimme des Polyphem spricht. Bei Theokrit ist, wie Bernsdorff gezeigt hat, das Verhältnis von Rahmen und Lied sehr komplex. (Vgl. Bernsdorff 1994, passim.) Im vorliegenden Gedicht lässt sich die Beziehung von Daphnis und Lalage dagegen sehr gut mit dem Verhalten von Polyphem und Galatea in Theoc. 6,6-19 vergleichen. Polyphem spielt dort scheinbar unbeteiligt <?page no="378"?> 3 Kommentar 378 auf der Hirtenflöte (Theoc. 6,9: ἁδέα συρίσδων - s. V. 3-5: fistulae dulci sono/ grato sibilo), während Galatea ihn reizt, indem sie seine Herde mit Äpfeln bewirft. Lalage reizt den musizierenden Daphnis durch das Versprechen, ihn zu küssen, das sie jedoch nicht hält. Sie ist ebenso unbeständig wie Galatea; vgl. Theoc. 6,17: καὶ φεύγει φιλέοντα καὶ οὐ φιλέοντα διώκει . • 1 Bionis S. Lal. 33,15 mit Komm.; 40,22. (Zur Verwendung der Hirtennamen s. auch Kap. 1.2.1.2 b.) Bionis rupibus S. den Komm. zu Lal. 35,1-4. rupibus propendulus Gewöhnlich von Ziegen, die auf steilen Felsen klettern; vgl. z.B. Verg. ecl. 1,76: [capellas] pendere procul de rupe videbo; Ov. Pont. 1,8,51: pendentis … rupe capellas. Das Adjektiv propendulus ist in der antiken Literatur sehr selten belegt. Vgl. zuerst Apul. flor. 3,10 (dort von vorne herabhängenden Haaren); vgl. Beikircher: ThLL 10,2 (2002),1977,1-5. Hier soll das Präfix wohl andeuten, dass Daphnis vorn an der Kante der Felsen sitzt. • 2 Vgl. z.B. Lucr. 2,661-662 [660/ 662]: tondentes gramina campo / lanigerae pecudes; Ov. rem. 178: tondentes fertile gramen oves. • 3 Ignes Cyclopis lacrimasqué Im erotischen Kontext meint ignis häufig die Liebesglut (s. auch den Komm. zu Lal. 9,15: ignem), doch kann es in weiterer übertragener Bedeutung auch für die Liebesdichtung stehen. (Vgl. Pichon 1966, 168; vgl. z.B. Ov. trist. 4,10,45: suos solitus recitare Propertius ignes.) Ebenso können die lacrimae poetisch den Klagegesang bezeichnen. (Vgl. OLD s.v. 2b; vgl. z.B. Catull. 38,8: … maestius lacrimis Simonideis; Prop. 4,1,120.) Daphnis ruft sich also ein Lied des Polyphem ins Gedächtnis (4: retractabam), in dem dieser von seiner Liebe zu Galatea und seinem Liebeskummer singt (s. den Komm. zu 1-6), und spielt es auf seiner Flöte nach. Solche Liebes- und Klagelieder des Zyklopen sind z.B. Theoc. 11,19-79; Ov. met. 13,789-869. fistula Auch Polyphem spielt die Panflöte; vgl. z.B. Theoc. 6,9: ἁδέα συρίσδων (s. auch den Komm. zu 1-6); Ov. met. 13,784-785: harundinibus conpacta est fistula centum, / senserunt toti pastoria sibila montes. Zu den verschiedenen Arten von Flöten s. den Komm zu Lal. 1,15-16: fistula. • 4 dulci … sono S. den Komm. zu 5: grato sibilo. retractabam Vgl. OLD s.v. 7: „to go over (events, etc.) in one’s mind, review, recollect“; z.B. Ov. met. 4,569-570: prima retractant / fata domus releguntque suos sermone labores; 7,714: mecum… deae memorata retracto. S. auch den Komm. zu 3. sono S. Lal. 35,2: sonos. (S. den Komm. zu Lal. 35,1-4.) • 5-6 grato sibilo Oft meint sibilus einen scharfen Laut, d.h. ein Zischen oder Pfeifen. Calpurnius Siculus nennt so ein misslungenes Flötenspiel; vgl. ecl. 4,45: irrita septena modularer sibila canna. Bei Ovid (met. 13,784-785; zitiert zu 3: fistula) bläst Polyphem auf einer überdimensionierten Panflöte. Das Lied, das er dazu singt (met. 13,789-869), zeugt ebenso wie sein Flötenspiel von seinem rauen Charakter. Allerdings kann sibilus auch angenehme Geräusche wie das Säuseln des Zephyr oder das Rascheln von Laub bezeichnen; vgl. z.B. Lucr. 5,1382-1383: et zephyri, cava per calamorum, sibila primum / agrestis docuere cavas inflare cicutas; Catull. 4,12: [silva] loquente saepe sibilum edidit coma. Inhaltlich nimmt <?page no="379"?> Ad Lalagen. Carmen XXXIV 379 grato sibilo die Worte dulci … sono (4) wieder auf. Der doppelte Hinweis auf das Liebliche des Flötenspiels verdeutlicht, warum die sonst so spröde Lalage sich davon anlocken lässt. S. auch Lal. 37,2: fistulae… sibilus. velocibus ad me volasti gressibus Lalage eilt mit fliegenden Schritten herbei, die Poena dagegen bewegt sich mit hinkendem Schritt (13: claudicante gressu). Die langsame Strafe führt jedoch ihr Vorhaben aus, während die leichtfüßige, flüchtige Lalage ihr Versprechen rasch wieder vergessen hat. S. auch Lal. 35,3: excurrens propere. (S. dazu den Komm. zu Lal. 35,1-4.) velocibus … volasti Alliteration. • 7 spondens Im erotischen Kontext lässt das Verb auch an ein Heiratsversprechen denken; s. Lal. 27,14: spondentes mit Komm. redintegrem Dies ist ein prosaisches Wort (vgl. OLD s.v.). • 8 S. den Komm. zu 10. • 9 Redintegravi wiederholt redintegrem aus 7: Daphnis macht genau das, was Lalage fordert. solvas Die Küsse werden gleichsam als „Bezahlung“ für das Lied angesehen. Das Zählen und „Berechnen“ von Küssen erinnert an Catull. 5, wo jedoch am Ende die Menge der Küsse nicht mehr wirklich zählbar ist. Auch dort ist ein Terminus des Rechnungswesens verwendet. Vgl. W. Kroll 1960 zu Catull 5,11: „conturbare eine Rechnung in Unordnung bringen …, daher vom Bankier ‚Bankerott machen.‘“ • 10 Quinque … basia steht in Wortlaut und Versposition parallel zu 8: So wie Daphnis Lalages Bitte entspricht (s. den Komm. zu 9), soll auch Lalage ihr Versprechen exakt einlösen. • 11-12 Traditionell gelten die Schwüre der Liebenden als nicht bindend und werden folglich auch nicht bestraft. Jupiter selbst soll dies so bestimmt haben, weil er Hera über seine Affäre mit Io täuschte. (Vgl. Hes. fr. 124 Merkelbach/ West; vgl. dazu Maltby 2002 zu Tib. 1,4,23-24.) Das Motiv des ungestraften Meineides ist in der Liebesdichtung sehr häufig; vgl. z.B. Tib. 1,4,21-24: nec iurare time: veneris periuria venti / inrita per terras et freta summa ferunt. / gratia magna Iovi: vetuit pater ipse valere, / iurasset cupide quidquid ineptus amor; [Tib.] 3,6,49-50: nulla fides inerit: periuria ridet amantum / Iuppiter et ventos inrita ferre iubet; Ov. ars 1,633-634: Iuppiter ex alto periuria ridet amantum / et iubet Aeolios irrita ferre Notos. (Zu weiteren Belegen vgl. Maltby 2002 zu Tib. 1,4,21-26.) Vgl. auch die sprichwörtliche Wendung bei Publilius (sent. A 37): Amantis ius iurandum poenam non habet. Dagegen warnt der Liebhaber bei Properz (2,16,47- 48): non semper placidus periuros ridet amantes / Iuppiter et surda neglegit aure preces. Und er fährt fort (2,16,53): periuras tunc ille [sc. Iuppiter] solet punire puellas. S. auch die Einleitung. periurium S. auch V. 15: periurii. severius … severa Polyptoton. Der doppelte Verweis auf die Strenge der Nemesis verstärkt die Warnung, dass dieser Meineid bestraft werden wird. Nemesis ist die Göttin der Strafe und Vergeltung. Vgl. z.B. Ov. trist. 5,8,9: exigit a dignis ultrix Rhamnusia poenas; Catull. 50,20: ne poenas Nemesis reposcat a te. Sie tritt besonders als Rächerin der Hybris auf, die sich dem Frevler an die Fersen heftet. (Vgl. Herter 1935, 2366-2368; s. auch den Komm. zu 13-14.) Seit hellenistischer Zeit straft sie auch den Hochmut in der Liebe; vgl. z.B. <?page no="380"?> 3 Kommentar 380 Ov. met. 3,405-406: ‚sic amet ipse [sc. Narcissus] licet, sic non potiatur amato! ‘ / dixerat [sc. Echo]: adsensit precibus Rhamnusia iustis. (Vgl. dazu Herter 1935, 2370; W. Kroll 1960 zu Catull. 50,20.) puniet S. auch V. 13: poena. • 13-14 Vgl. Hor. carm. 3,2,31-32: raro antecedentem scelestum / deseruit pede Poena claudo. Nach der Kommasetzung des Originals (nam, claudicante poena gressu rariùs, / crimen quietum conspicit) müsste rarius zu claudicante gezogen werden. Der Hauptsatz hieße dann: „Die Strafe bemerkt das ruhende Verbrechen.“ (Quietus wie Liv. 38,28,8: timore vano quietum excitaverint malum; vgl. OLD s.v. quietus 2d: „[of things] not operating, dormant.“) Der Zusatz „mit seltener hinkendem Schritt“ bliebe jedoch merkwürdig. Schoonhoven selbst weist in den Corrigenda am Schluss der Poemata darauf hin, dass er die Interpunktion nicht gründlich überprüft habe: cetera quae properante oculo praeterivi, ut sunt commata quaedam et accentus nimis liberaliter aliquando ab operis additi, per te corriges benevole lector. Man kann also durchaus annehmen, dass das Komma versehentlich nach rarius statt nach gressu gesetzt wurde, weil das Versende einen Einschnitt suggerierte. Auch in den zugrundeliegenden Horazversen bezieht raro sich auf das finite Verb. Bei dieser Variante müsste conspicit etwa heißen „betrachtet, sieht an“, also: „Die Strafe mit hinkendem Schritt sieht ziemlich selten ein ruhendes Verbrechen an.“ Gemeint wäre, dass die Strafe das Verbrechen nicht einfach nur anschaut, ohne es aus seinem Zustand der quies aufzurütteln. Die Bedeutung von quietum bleibt jedoch problematisch. Einfacher zu verstehen wäre quietă oder quietē: „Die Strafe sieht das Verbrechen ziemlich selten ruhig mit an.“ claudicante poena gressu Es ist ein Topos, dass göttliche Strafe spät, aber dafür mit Gewissheit eintreffe; vgl. z.B. Hor. carm. 3,2,31- 32 (Zitat s.o.); Tib. 1,9,3-4: a miser, et si quis primo periuria celat, / sera tamen tacitis Poena venit pedibus. (Zu weiteren Belegen vgl. Otto 1962, 111; Nisbet/ Rudd 2004 zu Hor. carm. 3,2,31-32; Murgatroyd 1980 zu Tib. 1,9,3-4.) Die poena ist hier mit Nemesis (12) identisch, die dem Frevler sprichwörtlich auf dem Fuße folgt; vgl. Suid. 163 s.v. Νέµεσις : Νέµεσις δέ γε πὰρ πόδας βαίνει· παρόσον µέτεισι ταχέως ἡ δαίµων τοὺς ἡµαρτηκότας . In Emblem 51 (S. 153-155) behandelt Schoonhoven das Thema der iusta ultio. Dort heißt es: docet autem nos hoc Emblema differri aliquando poenam, non auferri, nec crimen quemquam in pectore gestare, qui non idem Nemesin in tergo. sequitur enim illa dea silenter et lento pede. Zur Illustration führt Schoonhoven dort die oben zitierte Horazstelle an. claudicante … gressu S. den Komm. zu 5-6: velocibus ad me volasti gressibus. poena S. auch V. 12: puniet. crimen S. auch V. 18: crimina. • 15-18 Die Pappel erhält Züge eines menschlichen oder göttlichen Wesens, das als Zeuge (15: testis) Lalages Meineid verraten kann (18: proloquetur; s. den Komm. dort). In der antiken religiösen Vorstellung wohnt natürlichen Orten wie z.B. Quellen oder Bäumen und Hainen ein numen inne. Beim numen arboris kann es sich sowohl um eine unpersönliche Kraft handeln, die im Baum wirkt, als auch um eine Hamadryade (Baumnym- <?page no="381"?> Ad Lalagen. Carmen XXXIV 381 phe), die im Baum lebt. (Vgl. F. Pfister 1937, 1279-1281: numina locorum.) Vgl. z.B. Ov. am. 3,1,1-2: stat vetus et multos incaedua silva per annos; / credibile est illi numen inesse loco; 3,13,7-8; Sil. 3,691: arbor numen habet. • 15 periurii S. auch V. 11: periurium. testis Dass der Ort eines Geschehens als Zeuge angerufen wird, ist ein häufiger Topos. Vgl. z.B. Catull. 64,357: testis erit magnis virtutibus unda Scamandri; Verg. ecl. 5,21: vos coryli testes et flumina (vgl. Clausen 1994 z. St. mit weiteren Belegen); Prop. 1,18,19-20: vos eritis testes, si quos habet arbor amores, / fagus et Arcadio pinus amica deo. S. auch den Komm. zu 15-18. populus Zur Bedeutung der Pappel im Gedichtzyklus s. den Komm. zu Lal. 1,6: populus. • 16 cubabas Iterativ. Zu cubare im erotischen Sinne s. den Komm. zu Lal. 3,9. • 17 haec haec Geminatio. susurris Eigentlich eher ein summendes Geräusch; vgl. z.B. Verg. ecl. 1,55 (von Bienen). Zum Wispern der Bäume vgl. z.B. Theoc. 1,1: ἁδύ τι τὸ ψιθύρισµα καὶ ἁ πίτυς , αἰπόλε , τήνα , / ἁ ποτὶ ταῖς παγαῖσι , µελίσδεται . frondium trementium Aufgrund ihres langes Stiels bewegen sich die Blätter der Pappel schon bei leichtem Wind; vgl. bereits Plin. nat. 16,91: … pediculo … tremulo populis, et iisdem solis inter se crepitantia [folia]. (Vgl. Murr 1969, 17-18, Anm. 6.) Das Zittern des Laubes ist sprichwörtlich; vgl. z.B. Ov. am. 1,7,53-54: exanimes artus et membra trementia vidi, / ut cum populeas ventilat aura comas (vgl. McKeown 1989 z. St.); Ov. epist. 14,40-41: frigida populeas ut quatit aura comas, / aut sic aut etiam tremui magis. Vgl. auch die niederländische Redewendung „trillen als een espeblad“ (Knuttel [Hg.] 1920: Woordenboek der Nederlandsche Taal 3,3, s.v. „esp“); deutsch: „zittern wie Espenlaub.“ Espe ist ein anderer Name der Zitterpappel, lateinisch Populus tremula. • 18 proloquetur Zur Belebung von Bäumen s. den Komm. zu 15-18. Vgl. hier bes. Catull. 4,12: [silva] loquente saepe sibilum edidit coma; Verg. ecl. 8,22-23: Maenalus argutumque nemus pinusque loquentis / semper habet. crimina S. auch V. 14: crimen. • 19 Die Alliteration gibt dem Vers einen drängenden Charakter. S. auch noch V. 18: proloquetur. spondeas S. V. 7: spondens mit Komm. • 20 Die „Ohren“ der Berge sind die Gottheiten, die auf ihnen leben. Das können Waldgottheiten sein (z.B. Faun, Pan, Satyrn, Nymphen), aber auch die Bäume, denen ein numen innewohnt. (S. den Komm. zu 15- 18.) Im Kontext der vorangegangenen Verse denkt man natürlich besonders an die Pappel (18: tua proloquetur crimina), doch ist die Warnung an Lalage nun allgemein formuliert: Wo auch immer sie sich in den Bergen aufhält, gibt es Wesen, die ihre Versprechungen hören und Zeugnis ablegen können. et aures montibus Geht man nach der Wortstellung, lautet die Übersetzung: „Denn die Berge haben sogar Ohren.“ Inhaltlich sinnvoller wäre jedoch: sunt et montibus aures („sogar die Berge haben Ohren“) - d.h. Lalage soll sich nicht unbeobachtet fühlen, nur weil keine Menschen in der Nähe sind. Metrisch wäre auch nam sunt aures et montibus möglich, doch klingt die gewählte Variante insofern besser, als hier bei aures der natürliche Wortakzent mit dem Iktus zusammenfällt. montibus Das letzte Wort <?page no="382"?> 3 Kommentar 382 des Gedichtes wird im ersten Vers des folgenden wieder aufgenommen, was die enge Verbindung der beiden Gedichte unterstreicht. (S. den Komm. zu Lal. 35,1-4.) Ad Lalagen. Carmen XXXV In der ersten Strophe scheint Lalage ihr Versprechen einzulösen, das sie im vorigen Gedicht nicht gehalten hatte. (S. den Komm. zu 1-4.) Der Rivale Thyrsis beobachtet die Situation (5-6). Jetzt endlich sind die Rollen im Vergleich zu Lal. 6 endgültig vertauscht: Während Daphnis sich in Lal. 27 (im gleichen Metrum) noch gewaltsam zwischen die Geliebte und seinen Rivalen drängen musste, wählt Lalage ihn nun von sich aus. (S. auch Lal. 6 und 27 mit Einleitungen.) Das Gedicht ist ringkompositorisch angelegt. (S. auch den Komm. zu 14: figere basia.) In der ersten Strophe und am Schluss geht es vor allem um Daphnis und Lalage, während der Mittelteil dem Rivalen Thyrsis gewidmet ist. Die Aufteilung ist jedoch nicht schematisch, denn einerseits geht Daphnis bereits in 10 vom Neid des Thyrsis zu seiner eigenen Reaktion über, und andererseits wird in 13 - wenn auch in allgemeinerer Form - noch einmal an den Neid des Rivalen erinnert. Die erfolgreiche Behauptung gegen einen Rivalen und die Freude über das eigene Glück im Angesicht des Neides der Abgewiesenen sind auch Thema in den beiden Elegien am Ende der Amores Pastorales. (S. bes. die Kommentare zu 7: color; 10; 13-16.) Metrum: 2. Asklepiadeische Strophe. 1-4 Im vorigen Gedicht beklagte Daphnis sich, dass Lalage ihm für ein Lied auf seiner Flöte fünf Küsse versprochen, aber nicht gegeben hätte. Dass Lalage ihn nun plötzlich ganz von selbst küsst, wirkt wie ein verspätetes Einlösen des Versprechens. Lalage scheint sich die Warnungen des vorigen Gedichtes zu Herzen genommen zu haben. Dass Daphnis statt der fünf Küsse neun erhält, wirkt wie ein kleiner Versuch der Wiedergutmachung. Die enge Verbindung zwischen den beiden Gedichten wird dadurch unterstrichen, dass die in den ersten Versen geschilderte Situation sich ähnelt. Daphnis befindet sich jeweils in bergigem Gebiet, das einem anderen gehört (Lal. 34,1: Bionis rupibus; 35,1: Dorylae montibus; zur Verwendung der Namen s. Kap. 1.2.1.2 b); es erklingt in beiden Fällen Musik, einmal vom Hirten selbst gespielt, einmal von Nachtigallen gesungen (Lal. 34,3-4: fistulae / dulci … sono; 35,2: querulos dauliadum sonos); und Lalage eilt in beiden Gedichten schnell herbei (Lal. 34,5-6: velocibus / ad me volasti gressibus; 35,3: excurrens propere). • 1 Dorylae Der Name Dorylas kommt in der antiken Bukolik nur einmal vor (Calp. ecl. 2,96). In Ovids Metamorphosen heißt ein Großgrundbesitzer Dorylas; vgl. 5,129-131: Dorylas ditissimus agri, / dives <?page no="383"?> Ad Lalagen. Carmen XXXV 383 agri Dorylas, quo non possederat alter / latius aut totidem tollebat turis acervos. Auch wenn Berge kein Ackerland sind, könnte die vorliegende Stelle von Ovid beeinflusst sein. S. auch Lal. 6,51; 33,13. montibus S. den Komm. zu Lal. 34,20: montibus. • 2 captarem Vgl. z.B. Sen. Herc. f. 790: captat aure subrecta sonum. (Vgl. OLD s.v. capto 2b: „[sts. w. aure, auribus] to listen to, try to hear.“) querulos … sonos Vgl. Prop. 3,6,18: querulo … sono. Dauliadûm Der Plural kommt in der antiken lateinischen Literatur nur einmal vor; vgl. Lyne 1978 zu Ciris 199-200: puellae / Dauliades. S. weiter den Komm. zu Lal. 25,3: Daulias. • 3-4 Daphnis verhält sich zu Beginn des Gedichtes passiv (er sitzt „verborgen“ und hört dem Gesang der Nachtigallen zu, statt wie im vorigen Gedicht selbst zu spielen), und Lalage ergreift von sich aus die Initiative. excurrens Gegensatz zu abditus (1). Der Ausgangspunkt der Bewegung wird nicht genannt; es könnte Lalages Haus sein (s. Lal. 8,13-14: quidnam moraris diu, Lalage, domum / fumo nigrantem desere, desere), möglicherweise aber auch ein nahes Gebüsch. Das Verb excurrere kommt sehr viel häufiger in Prosatexten vor als in der Dichtung. (Vgl. die Belege im OLD s.v.) ter tria basia = Joh. Sec. Bas. 9,9. Insbesondere sperrige Zahlen werden in der Poesie gerne durch Multiplikation kleinerer Zahlen ausgedrückt. Vgl. z.B. Verg. Aen. 1,71: bis septem (statt quattuordecim); Prop. 3,6,40: bis sex (statt duodecim); Ov. fast. 3,59: ter senos (statt duodevicenos). Manchmal entsteht durch die Zerlegung der Zahl aber auch lediglich mehr Fülle; vgl. z.B. Verg. Aen. 2,126: bis quinos (statt denos). Hier ergibt sich ein Spiel mit der heilig-magischen Drei. Vgl. im Christentum die heilige Dreieinigkeit; im profanen Bereich z.B. die Volksmärchen, in denen sehr oft der dritte Versuch zum Erfolg führt. (Vgl. Lüthi 1981, 853-855.) basia … fixisti S. den Komm. zu Lal. 3,19: figit. S. auch V. 14 mit Komm. • 5 An anderer Stelle heißt es von der Rivalin Lyce: quae pascebat oves gramine proximo (Lal. 12,6). Thyrsis Wie schon in Gedicht 27 wird Thyrsis erst zu Beginn der zweiten Strophe genannt. S. auch den Komm. dort. • 6 Superi Als Interjektion ist di immortales (auch o/ pro di immortales) weitaus gebräuchlicher und wird vor allem von Plautus und Cicero sehr häufig in dieser Funktion verwendet. (Vgl. z.B. Plaut. Aul. 265; 460; Bacch. 414; Cic. Phil. 1,20.) Vgl. aber Ov. met. 6,472: pro superi. • 7 vultus explicuit Die Junktur finde ich in der antiken Literatur nicht belegt. Der ähnliche Ausdruck frontem explicare (vgl. Hiltbrunner: ThLL 5,2 [1931-1953],1725,35-38; z.B. Hor. sat. 2,2,125; carm. 3,29,16) bedeutet „die Stirn glätten.“ Das kann hier jedoch gerade nicht gemeint sein, da eine glatte Miene kein Zeichen von Zorn, sondern im Gegenteil von Gelassenheit wäre. Für explicare muss folglich hier die Bedeutung „zeigen“, „erkennen lassen“ (OLD s.v. explico 7) angenommen werden, auch wenn dies sonst nicht vom Gesicht oder ähnlichem gesagt wird. vultus S. auch V. 9 mit Komm. quisve Wenn Fragen durch -ve verbunden werden, hat dies eine steigernde Wirkung. (Vgl. OLD s.v. -ve 3.) color Der Wechsel der Gesichtsfarbe ist ein äußeres Zeichen <?page no="384"?> 3 Kommentar 384 innerer Bewegtheit. Seneca nennt in seiner Beschreibung der Physiognomie eines Zornigen das gerötete Gesicht: multus toto ore rubor. (Dial. 3,1,4; s. auch den Komm. zum folgenden Vers.) Im Kontext der Eifersucht auf einen Rivalen vgl. z.B. Hor. carm. 1,13,5-6: tum nec mens mihi nec color / certa