Fachdidaktik Deutsch
Eine Einführung
0622
2020
978-3-8233-7900-3
978-3-8233-6900-4
Gunter Narr Verlag
Tatjana Jesch
Diese Deutschdidaktik verbindet Sprach- und Literaturdidaktik unter Beachtung des Zweitspracherwerbs. Sie bietet eine multimedial ausgerichtete Systematik zur Orientierung in den Anforderungsbereichen des Faches Deutsch. Zudem nimmt das Lehrbuch eine schulstufenübergreifende Perspektive ein, die von der Vorschulzeit aus über die Primarstufe bis hin zur Sekundarstufe II reicht. Phasen und Formen der Lese- und literarischen Sozialisation sowie der Leseförderung werden, einschlägigen wissenschaftlichen Modellen folgend, von Schulstufe zu Schulstufe variiert. Dies geht einher mit Einblicken in die deutschdidaktische Empirie. Darüber hinaus werden Erkenntnisse der englischsprachigen Forschung zum Schrift-, Bildungs- und Fachspracherwerb sowie zum Leseverstehen aufgegriffen. Stärkere Aufmerksamkeit als üblich erfährt hier die Dual-Coding-Theorie, der zufolge Textrezeption unter Ansprache aller Sinne geschieht.
<?page no="0"?> 16939_Michler_Reimann_SL3a.indd 1 09.08.2019 12: 09: 40 Fachdidaktik Deutsch <?page no="1"?> ist die Reihe für die modularisierten Studiengänge ▶ ▶ ▶ ▶ auf zum Studium und zu diesem Band 16939_Michler_Reimann_SL3a.indd 2 09.08.2019 12: 09: 40 narr BACHELOR-WISSEN.DE ist die Reihe für die modularisierten Studiengänge ▶ die Bände sind auf die Bedürfnisse der Studierenden abgestimmt ▶ das fachliche Grundwissen wird in zahlreichen Übungen vertieft ▶ der Stoff ist in die Unterrichtseinheiten einer Lehrveranstaltung gegliedert ▶ auf www.bachelor-wissen.de finden Sie begleitende und weiterführende Informationen zum Studium und zu diesem Band <?page no="2"?> Tatjana Jesch Fachdidaktik Deutsch Eine Einführung <?page no="3"?> Idee und Konzept der Reihe: Johannes Kabatek, Professor für Romanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der iberoromanischen Sprachen an der Universität Zürich. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen · Deutschland Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.bachelor-wissen.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1864-4082 ISBN 978-3-8233-6900-4 (Print) ISBN 978-3-8233-7900-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0230-8 (ePub) <?page no="4"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Themenblock 1: Grundlagen der Deutschdidaktik 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? 2 2 Mündlichkeit und Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3 Eine dreidimensionale multimediale Systematik für die Kompetenzbereiche und Anforderungen im Fach Deutsch . . . 26 Themenblock 2: Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle 4 Erst- und Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 5 Früher Erzähl- und Literaturwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 6 Leseautobiografieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 7 Ein integratives Modell der Lese- und literarischen Sozialisation - frühe Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Themenblock 3: Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle 8 Schriftspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 9 Ein integratives Modell der Lese- und literarischen Sozialisation - Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 10 Leseförderung nach dem Mehrebenen-Modell des Lesens - Primarstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 11 Die Dual-Coding-Theorie: Grundlage multimodaler Lese- und Literaturdidaktik - nicht nur auf der Primarstufe . . . . . . . . . . . 167 Themenblock 4: Sekundarstufe 12 Voranschreitende Distanzkommunikation - Bildungssprache und Fachsprache im Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 13 Ein integratives Modell der Lese- und literarischen Sozialisation - Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 V Inhalt <?page no="5"?> 14 Leseförderung nach dem Mehrebenen-Modell des Lesens - Sekundarstufe I und II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Rechtsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 VI Inhalt <?page no="6"?> Vorwort Eine Einführung in die Deutschdidaktik trägt im Titel bereits den Anspruch der Integration: Verschiedene Forschungsgebiete und Praxisfelder gilt es in eine zusammenhängende Darstellung zu integrieren. Dabei sollen auch Möglichkeiten der Integration verschiedener Aufgaben im Beruf einer Lehrperson vorstellbar und nicht von vornherein durch didaktische und fachliche Grenzziehungen unkenntlich werden. Studierende des Lehramts Deutsch sollen bei der Lektüre zudem die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen ihren verschiedenen Studiengebieten wahrnehmen können. Die Strukturen von Sprache und Literatur sind in den Unterrichtsgegenständen oft miteinander verwoben. Im Studium wird dies nicht immer deutlich. Aber ein Nachdenken darüber, wie Erzählen beschaffen ist oder wie sich ein informelles Sprechen unter Vertrauten im Alltag und in der Literatur ausnimmt, will diese Einführung anstiften. Zudem spielt der Übergang vom informellen zum formellen Sprechen oder Schreiben beim Erwerb des Deutschen als Zweitsprache eine wichtige und herausfordernde Rolle. Viele Kinder und Jugendliche an unseren Schulen haben eine andere Muttersprache als die deutsche, oder sie entstammen zwar deutschsprachigen, aber nicht hinreichend sprachmächtigen Elternhäusern. Diese Heranwachsenden benötigen qualifizierte Unterstützung, damit ihre spezifischen Lernziele und sie selbst als Personen in den Deutschunterricht und den sonstigen Fachunterricht zumindest mittel- oder langfristig integriert werden können. Trennend und desintegrativ wirkt auch unser mehrgliedriges System weiterführender Schulen nach der Grundschule. An dieses System passen sich die entsprechend getrennten Lehramtstudiengänge an - oft über die nötigen didaktikwissenschaftlichen Spezialisierungen hinaus. Diese Einführung versucht nicht nur die Sekundarstufe I schulformübergreifend zu berücksichtigen, sie überschreitet mithilfe didaktischer Modelle auch die Grenzen zwischen Vorschulzeit und Schule sowie zwischen Primarstufe und Sekundarstufe. Wo auch immer Studierende später als Lehrpersonen tätig werden möchten, das Lehrbuch will ihre Perspektive ggf. auf die vorausgehenden und nachfolgenden Schulstufen und damit die Voraussetzungen VII Vorwort <?page no="7"?> und Folgen ihrer künftigen Arbeit öffnen. Wie alt auch immer die Kinder und Jugendlichen sein werden, die die angehenden Lehrkräfte unterrichten werden, es ist wichtig, um die Bedingungen und Spielarten der Entwicklung zu Lesenden von der frühen Kindheit an bis zur Schwelle ins Erwachsenenalter zu wissen. Leseförderung, die auch auf solchem Wissen aufbaut, hat im schulischen Deutschunterricht ihren Platz, ob auf der Primar- oder der Sekundarstufe I und II. Zu fördern gilt es aber nicht nur das Lesen und Schreiben schriftlicher Texte. Die Bedeutung visueller, akustischer und audiovisueller Texte wächst in der Gesellschaft wie in der Schule, zumal die jüngeren Generationen in eine neue, nicht mehr durch Druckschriften beherrschte Medienumwelt hineingeboren werden. Das möchte diese Einführung in ihrer didaktischen Modellbildung grundsätzlich und konzeptionell berücksichtigen, ohne ihren Rahmen durch die Schilderung der verschiedenen Einzelmedien-Didaktiken sprengen zu müssen. Es geht ihr um die Anregung zu einer von vornherein medial flexiblen Konzipierung von Deutschunterricht. So wichtig wie die vielfältige Medialität der Gegenstände im Deutschunterricht sind die verschiedenen Sinnesmodalitäten, die durch sie aktiviert werden, nicht zuletzt auch durch Schrifttexte herkömmlicher Art. Das Lehrbuch weist auf einen psychologischen Ansatz hin, der dieses sinnliche Erleben bei der Rezeption geschriebener und gesprochener Sprache empirisch, also erfahrungswissenschaftlich, erfasst und didaktisiert. Auch sonst widmet die Einführung der zunehmenden Empirisierung der Deutschdidaktik einige Aufmerksamkeit. Empirisch durch Untersuchungen in Lerngruppen begründete Verfahren werden vorgestellt. Dabei werden einige solcher Untersuchungen auch etwas genauer geschildert, damit Lehramtsstudierende einen Eindruck von den Forschungsmethoden und ihren mehr oder weniger erwünschten Resultaten erhalten. Mit der Empirisierung der Deutschdidaktik ist die Entwicklung nationaler Bildungsstandards einhergegangen. Deren Einhaltung in den Schulen soll gewährleisten, dass Defizite der deutschen Schülerschaft abgebaut werden, die durch PISA (Programme for International Student Assessment) seit dem Jahr 2000 offengelegt worden sind. Eine kritische Würdigung der Bildungsstandards und ihrer empirischen Fundierung soll den Lehramtsstudierenden zu einem mündigen Umgang mit diesen verbindlich gemeinten Vorgaben für ihre künftige Tätigkeit verhelfen. Die im Vorwort angedeuteten Inhalte des Lehrbuchs können die Studierenden auch durch die Bearbeitung verschiedenster Übungen festigen, vertiefen und anwenden. Die Lösungen sowie weitere Materialien finden Sie VIII Vorwort <?page no="8"?> auf der begleitenden Homepage www.bachelor-wissen.de. Die entsprechenden Stellen in dieser Einführung sind - wie hier - durch eine Maus in der Randspalte markiert. Jedes Kapitel schließt mit einer Zusammenstellung der verwendeten und weiterführenden Literatur. Letztere ist in blauer Schrift gesetzt. Freiburg, im März 2020 Tatjana Jesch �� IX Vorwort <?page no="10"?> Grundlagen der Deutschdidaktik Inhalt 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? 2 2 Mündlichkeit und Schriftlichkeit 16 3 Eine dreidimensionale multimediale Systematik für die Kompetenzbereiche und Anforderungen im Fach Deutsch 26 Der Deutschunterricht behandelt von der ersten bis zur 12. oder 13. Klassenstufe Formen, Regeln und Inhalte der Kommunikation. Die Unterrichtsgegenstände fordern bereits im Anfangsunterricht Lernende wie Lehrende heraus und sind im mehrgliedrigen Schulsystem den verschiedenen weiterführenden Schulformen angepasst. Allgemein zielt der Deutschunterricht auf die Befähigung der Schüler_innen - nicht zuletzt der Deutsch als Zweitsprache lernenden - zur Verständigung in den vielfältigen medialen Formen alltäglichen, beruflichen, politisch-gesellschaftlichen und kulturell-künstlerischen Austauschs. Die damit verbundenen detaillierteren Zielsetzungen haben die politisch Verantwortlichen - nachdem sie zur Jahrtausendwende den vielbeklagten PISA-Schock erlitten hatten - in output-orientierten Bildungsstandards festzulegen versucht. Inwieweit dieser Versuch als insgesamt gelungen anzusehen ist, der freilich Deutsch als Zweitsprache noch kaum berücksichtigt, gilt es kritisch zu hinterfragen. Dabei sollen didaktisch relevante Erkenntnisse über Mündlichkeit und Schriftlichkeit hinzugezogen werden. Die Ausführungen münden in eine dreidimensionale Systematik, die den Umgang mit den Bildungsstandards erleichtert, aber auch Gegenstände und Anforderungen des Deutschunterrichts einschätzen sowie angemessene Unterrichtsziele bestimmen hilft. Überblick 1 Themenblock 1 <?page no="11"?> 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? Zu den Gegenständen des Deutschunterrichts zählen sämtliche mit deutscher Sprache verbundenen Äußerungsformen. So wird das Führen von Gesprächen geübt, und es können Schrifttexte aller Art sowie Bilderbücher, Spiel- und Dokumentarfilme, Hörspiele oder Theateraufführungen angesehen, gehört, gelesen und von den Lernenden besprochen, schriftlich kommentiert oder selbst gestaltet werden. Immer spielt dabei Sprache mit ihren Regeln und Ausdrucksmöglichkeiten eine zentrale Rolle. Das muss nicht ausschließlich die Wortsprache sein, es können auch die Besonderheiten der bildlichen und filmischen sowie der akustischen Darstellungsformen hinzukommen. In all diesen Ausprägungen kann und soll Sprache selbst zum Lerngegenstand werden. Von Schulstufe zu Schulstufe ändert sich der Deutschunterricht gemäß dem zunehmenden Wissen über Texte, Medien und Kommunikationsformen sowie gemäß der sprachlichen Entwicklung der muttersprachlichen und - wünschenswerterweise - auch der Deutsch als Zweitsprache Lernenden. Auf der Primarstufe ist für beide Lernergruppen der Erwerb der Schriftsprache von großer Bedeutung, ebenso die frühe Begegnung mit Literatur, meist in Gestalt von Kinderbüchern und anderen Kindermedien. In dieser Phase des schulischen Lernens werden wichtige Grundlagen geschaffen für eine sprachliche Kompetenz, die nicht nur im Deutschunterricht benötigt wird, sondern auch in allen anderen Fächern und selbstverständlich bei der Bewältigung des Lebens außerhalb der Schule. Grundschullehrkräfte tragen also eine besondere Verantwortung und bedürfen spezieller Kenntnisse über kindliche Lernprozesse, insbesondere beim Erst- und Zweitspracherwerb, sowie über entsprechende didaktische und methodische Ansätze. Auf der Sekundarstufe I kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass diese frühen Lernprozesse immer schon abgeschlossen wären. Vielmehr ist auch jetzt noch Leseförderung gefragt für diejenigen Jugendlichen, die weiterhin grundlegende Leseschwächen zeigen. Nur so werden sie sich über kurz oder lang wie ihre Mitschüler_innen den anspruchsvolleren Texten gewachsen zeigen, die nun zu behandeln sind. Die neuen Gegenstände und Anforderungen des Deutschunterrichts sind gegenüber denen der Primarstufe zwar nicht vollkommen andersartig, sie liegen aber auf einem höheren und sich weiter steigernden Niveau. Dem trägt auch die Didaktik Rechnung, die jetzt selbstverständlich keine Grundschuldidaktik mehr ist, aber ebenfalls eine Vielfalt - nun dem Jugendalter angepasster - Ansätze bietet. In den Klassen 5 bis 10 gewinnen je nach Schulform sprachbezogene Berufsvorbereitung oder Wissenschaftspropädeutik allmählich an Bedeutung. Zugleich Primarstufe Sekundarstufe I 2 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="12"?> bahnt sich die Teilhabe an der kulturellen und literarischen Kommunikation der Erwachsenen an, auch indem die Allgemeinliteratur als Unterrichtslektüre die Kinder- und Jugendliteratur öfter als zuvor ergänzt oder gar gänzlich ablöst. Im Zuge dieser jugendgemäßen Niveausteigerung können darüber hinaus die Sprache der Politik und sprachliche Möglichkeiten einer eigenen politisch-gesellschaftlichen Stellungnahme das Interesse der Heranwachsenden wecken. Auf der Sekundarstufe II steht der Deutschunterricht dann ganz im Zeichen der Wissenschaftspropädeutik und der - mit dem Abitur unter Beweis zu stellenden - Allgemeinen Hochschulreife. Angestrebt wird dafür ein Sprachvermögen, das hinsichtlich des Textverstehens und der Formulierungsfähigkeit zum universitären Studium nicht nur der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, sondern grundsätzlich aller hochschulischen Fachrichtungen qualifiziert. Dementsprechend sollen die Schüler_innen eine besondere, akademischen und literarischen Anforderungen angemessene Souveränität im Umgang mit gehobener, abstrakter oder mehrdeutiger Sprache erwerben. Dabei soll neben dem literatur- und geistesgeschichtlichen Horizont der Lernenden ihr Bewusstsein von der Sprache als Erkenntnismedium noch einmal erweitert werden. Zudem soll sich ihre Teilhabe am kulturellen und politisch-gesellschaftlichen Leben der Gegenwart, anknüpfend an die Sekundarstufe I, weiter verstetigen. Die Kultusministerkonferenz hat die Anforderungen an den Deutschunterricht aller Schulstufen in Gestalt der schon angesprochenen Bildungsstandards formuliert, welche von den Lernenden jeweils bis zum Ende der letzten Klasse der Primarsowie der Sekundarstufen I und II erreicht sein sollen. Hierfür erwerben die Schüler_innen bestimmte Kompetenzen, also Fähigkeiten und Fertigkeiten, auf die sie in unterschiedlichen sprachlichen Anforderungssituationen flexibel zurückgreifen können. Die inhaltlichen Kompetenzbereiche ▶ „Sprechen und Zuhören“, ▶ „Schreiben“, „Lesen - mit Texten und Medien umgehen“ und ▶ „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ werden jeweils durch angemessene „Methoden und Arbeitstechniken“ ergänzt und für die Oberstufe leicht abgewandelt (vgl. KMK 2004, 2005 a, 2005 b, 2005 c, 2012). In Tabelle 1.1 lassen sich die Übereinstimmungen und Modifikationen der Kompetenzbereiche auf den verschiedenen Schulstufen überblicken: Sekundarstufe II Kompetenzbereiche 3 Themenblock 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? <?page no="13"?> Allgemeine Hochschulreife Sprechen und Zuhören Schreiben Lesen Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Sprache und Sprachgebrauch reflektieren Primarbereich (Kl. 4), Hauptschulabschluss (Kl. 9) und Mittlerer Schulabschluss (Kl. 10) Sprechen und Zuhören Schreiben Lesen - mit Texten und Medien umgehen Sprache und Sprachgebrauch untersuchen Auf der Sekundarstufe II, die zur Allgemeinen Hochschulreife führt, sind die Kompetenzbereiche wie erwähnt gegenüber den unteren Schulstufen geringfügig umbenannt und umstrukturiert. Die Anforderungen eigenständiger Reflexion und Auseinandersetzung kommen nun stärker als zuvor zur Geltung, sodass die gedankliche Beschäftigung mit Texten unterschiedlicher medialer Form mehr Raum in einem eigenen, vom Lesen abgekoppelten Kompetenzbereich erhält. Bei der vergleichenden Betrachtung der eigentlichen, die Bildungsstandards ausmachenden Kompetenzen innerhalb der Kompetenzbereiche treten die Differenzen zwischen der gymnasialen Oberstufe und den anderen Schulstufen, aber auch zwischen den Klassen 4, 9 und 10, noch deutlicher hervor. Ein beispielhafter Blick auf ausgewählte Kompetenzen des durch sämtliche Schulstufen hindurch gleichbleibend benannten Kompetenzbereichs „Sprechen und Zuhören“ mag dies in Tabelle 1.2 veranschaulichen. Die eingehendere Betrachtung der Bildungsstandards gibt wie angedeutet auch zu kritischen Überlegungen Anlass. Von Schulstufe zu Schulstufe werden komplexere und anspruchsvollere Teilkompetenzen formuliert, allerdings ohne dass die Änderung bzw. Ergänzung von Anforderungs-Details immer einer sinnvollen Lernentwicklung folgt. So fragt es sich, ob tatsächlich in der 9. Klasse Meinungsäußerungen nicht nachvollziehbar sein müssen, in der 10. Klasse aber schon. Auch leuchtet nicht ein, dass Gesprächsverhalten in der 9. und 10. Klasse durch die Lernenden „bewertet“, in der 12. oder 13. Klasse stattdessen jedoch „besprochen“ werden soll. Eine aufmerksame Lektüre der Tabelle 1.2 und der gesamten Bildungsstandards wird noch weitere Unstimmigkeiten zu Tage fördern (vgl. Kammler 2014: 13 ff.): Kritische Beobachtungen wie diese, die sich mühelos ergänzen ließen, lassen die Frage aufkommen, ob hinter solchen Formulierungen überhaupt ein Konzept steht - nicht nur, was die Unterschiedlichkeit der Standards für beide Schulstufen [hier bezogen auf die Bildungsstandards für den Haupt- und den Mittleren Schulabschluss; TJ], sondern auch, was die verwendete Begrifflichkeit und ihre Systematik als solche anbetrifft. (Kammler 2014: 14) Tab. 1.1 Kompetenzbereiche im Fach Deutsch Differenzen zwischen den Schulstufen Unstimmigkeiten in den Bildungsstandards 4 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="14"?> Zur hier beanstandeten konzeptionellen und begrifflichen Schwäche der Bildungsstandards kommt hinzu, dass sie als Regelstandards formuliert worden sind und nicht als Mindeststandards, wie es die zentrale deutsche Forschungs-Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ (Klieme u. a. 2003) ausdrücklich rät. Auszüge aus den Kompetenzen des Kompetenzbereichs „Sprechen und Zuhören“ Primarbereich (Kl. 4) Hauptschulabschluss (Kl. 9) Mittlerer Schulabschluss (Kl. 10) Allgemeine Hochschulreife Gespräche führen ▶ sich an Gesprächen beteiligen ▶ gemeinsam entwickelte Gesprächsregeln beachten: z. B. andere zu Ende sprechen lassen, auf Gesprächsbeiträge anderer eingehen, beim Thema bleiben ▶ Anliegen und Konflikte gemeinsam mit anderen diskutieren und klären Mit anderen sprechen ▶ sich konstruktiv an einem Gespräch beteiligen ▶ durch gezieltes Fragen notwendige Informationen beschaffen ▶ Gesprächsregeln einhalten ▶ die eigene Meinung begründet vertreten ▶ auf Gesprächsbeiträge sachlich und argumentierend eingehen ▶ das eigene Gesprächsverhalten und das anderer kriterienorientiert beobachten und bewerten Mit anderen sprechen ▶ sich konstruktiv an einem Gespräch beteiligen ▶ durch gezieltes Fragen notwendige Informationen beschaffen ▶ Gesprächsregeln einhalten ▶ die eigene Meinung begründet und nachvollziehbar vertreten ▶ auf Gegenpositionen sachlich und argumentierend eingehen ▶ kriterienorientiert das eigene Gesprächsverhalten und das anderer beobachten, reflektieren und bewerten Dialogische Gesprächsformen: mit anderen sprechen ▶ während des Zuhörens parallel eigene Äußerungen planen und diese in ihrer Wirkung einschätzen ▶ sich in eigenen Gesprächsbeiträgen explizit und zielführend auf andere beziehen ▶ in Kontroversen Strittiges identifizieren und eigene Positionen vertreten ▶ auf konstruktive Weise eigenes und fremdes Gesprächsverhalten beobachten, reflektieren und besprechen ▶ nach Geboten der Fairness kommunizieren und Strategien unfairer Kommunikation erkennen ▶ Diskussionen, Debatten und Präsentationen selbstständig moderieren ▶ in Simulationen von Prüfungs- und Bewerbungsgesprächen angemessen verbal und nonverbal handeln Tab. 1.2 Bildungsstandards im Fach Deutsch Regelstandards statt Mindeststandards 5 Themenblock 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? <?page no="15"?> Mindeststandards sind Kompetenzen auf einem niedrigen Niveau, das alle Lernenden erreichen sollen. Regelstandards sind Kompetenzen auf einem mittleren Niveau, das die schwächsten Schüler_innen nicht erreichen können. Die Expertise fordert, dass die Mindeststandards an der Realität geprüft werden, also von wirklichen Lernenden im Umgang mit den Lerngegenständen des Deutschunterrichts tatsächlich erfüllt werden können. Dazu ist eine anspruchsvolle empirische Forschung nötig, die in der Deutschdidaktik allerdings bislang nicht in ausreichendem Maß gelungen ist. Empirische Forschung untersucht die Wirklichkeit durch verschiedene Erhebungsmethoden wie Messungen oder Tests. Die erhobenen Daten wertet sie dann aus, um Antworten auf ihre Forschungsfragen zu finden. Die deutschdidaktische Forschung kann beispielsweise Antworten von Schüler_innen auf einen Textverständnistest erheben und auswerten. Seit die internationale Schulleistungsstudie PISA im Jahr 2000 den deutschen Schüler_innen enttäuschende Leistungen attestiert hat, empirisiert sich die deutschdidaktische Forschung. Um die Bildungsstandards empirisch abzusichern, müssten gültige Kompetenzmodelle entwickelt und der Formulierung der Standards zugrunde gelegt werden. Mit dem Mangel an derartigen Modellen begründet die Kultusministerkonferenz (KMK) ihre Entscheidung gegen Mindest- und für Regelstandards (vgl. KMK 2005a: 14). Trotz Berufung auf die Leit- Expertise gelingt der KMK freilich keine klar nachvollziehbare Begründung, weshalb Regelstandards eher als Mindeststandards unter Verzicht auf empirisch-wissenschaftliche Fundierung eingeführt werden dürfen (vgl. KMK 2005a: 14 f.). Inzwischen haben Albert Bremerich-Vos und Thomas Zabka (2010) auf immer noch schmaler empirischer Basis (vgl. Bremerich-Vos/ Zabka 2010: 88 f.) einen Vorstoß zur Festlegung von Mindeststandards für das Ende der Jahrgangsstufe 6 unternommen. Deren Lektüre weckt immerhin den Eindruck deutlich größerer Nähe zur Unterrichtsrealität, als sie die geltenden Bildungsstandards aufweisen. Weil Letztere als Regelstandards firmieren, drohen sie nach Meinung der KMK nicht „größere Teile der Schülerschaft durch überzogene Bildungsstandards zu überfordern“ - eine „Gefahr“ (KMK 2005a: 14), welche die KMK ausgerechnet mit dem aus ihrer Sicht verfrühten Bemühen um Mindeststandards in Verbindung bringt (vgl. KMK 2005a: 14). Es ist aber gerade zu beklagen, dass die Bildungsstandards entgegen ihrem expliziten Anspruch durchaus nicht wie „Regelstandards“ erscheinen, „die angeben, welches Kompetenzniveau Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt in einem Fach erreichen sollen“ (KMK 2012: 2), sondern vielmehr Definitionen Definition Mangel an Kompetenzmodellen Maximalstandards 6 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="16"?> wie höchst anspruchsvolle Maximalstandards. Eine daraus resultierende Überforderung der Prüfungskandidat_innen und Lernenden im Fach Deutsch durch die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (BSM), aber auch einen übersteigerten Anspruch der (vor den Bildungsstandards von 2012 gültigen) Einheitlichen Prüfungsanforderungen des Abiturs (EPA) konstatiert Michael Steinmetz in einer empirischen Studie (vgl. Steinmetz 2013: 290 f.). Steinmetz kritisiert, dass Bildungsstandards und EPA Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler richten, deren empirische Angemessenheit nicht überprüft ist. An ebendiesen Anforderungen werden die Kompetenzen gemessen, welche die Lernenden in ihren sprachlichen Leistungen zeigen. Steinmetz verdeutlicht den problematischen Zusammenhang in folgendem Schaubild (Steinmetz 2013: 12): Abb. 1.1 Einseitige Bestimmung der Kompetenzen durch Anforderungen (Steinmetz 2013: 12) Die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Schüler_innen wird innerhalb des hier dargestellten Beziehungsgefüges in keiner Weise als Maßstab für adäquate Anforderungen anerkannt. Ein Doppelpfeil im folgenden Schaubild (Abb. 1.2; Steinmetz 2013: 13) hingegen verdeutlicht, dass eben nicht nur in einer Richtung womöglich schülerferne Leistungsansprüche die erwünschten Kompetenzen der Lernenden vorgeben dürfen - wie es auch in den Bildungsstandards geschieht -, sondern dass umgekehrt das reale Leistungsvermögen die Anforderungen mitbestimmen muss: 7 Themenblock 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? <?page no="17"?> Abb. 1.2 Wechselseitige Bestimmung der Kompetenzen und Anforderungen (Steinmetz 2013: 13) Noch grundsätzlicher ist der international schillernde Kompetenzbegriff zu hinterfragen, der in seiner deutschen Spezialvariante auch den Bildungsstandards zugrunde liegt. In der viel zitierten PISA-Studie und dazugehörigen Veröffentlichungen der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) steht der Begriff der Kompetenz in der Bedeutung von Können neben dem umfangreicheren Literacy-Begriff, welche dem Können noch das Wissen hinzufügt (vgl. Herzog 2013: 31). Das in Deutschland vertretene Verständnis von Kompetenz umfasst ebenfalls Wissen und Können, entspricht also dem, was in der PISA-Studie als Literacy bezeichnet wird, und begreift die Verknüpfung von Wissen und Können als Handlungsfähigkeit (vgl. Herzog 2013: 31 ff.; Klieme u. a. 2003: 73). Leitend für diesen deutschen Diskurs ist zudem eine - durch Walter Herzog als theoretisch nicht fundiert bemängelte (vgl. Herzog 2013: 33; vgl. auch 34) - Kompetenz-Definition von Franz E. Weinert. Dieser zufolge versteht man unter Kompetenzen die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten[,] um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können (Weinert 2002: 27 f.). Der Begriff ‚volitional‘ stammt aus der Psychologie und bedeutet ‚durch den Willen bestimmt‘. Zu einer Kompetenz im Fach Deutsch gehört es also auch, entsprechende Probleme lösen zu wollen, z. B. Texte verstehen zu wollen. Kompetenzbegriff Merke 8 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="18"?> Weinerts Definition zeigt, dass eine Kompetenz nicht an konkrete Situationen, etwa an die Verstehensanforderung eines ganz bestimmten Textes gebunden sein soll, sondern dass sie unter wechselnden Bedingungen, beispielsweise auf verschiedene Texte, anwendbar sein soll. Mit Weinerts Definition wird zudem die Erlernbarkeit von Kompetenzen behauptet. Die Annahme, Kompetenzen ließen sich lernen, ist von Bedeutung auch für die erwähnte, in der Standard-Entwicklungsforschung tonangebende Expertise (Klieme u. a. 2003), . Ihr zufolge stehen stufenförmige Kompetenzmodelle in Aussicht, die womöglich sogar Erwerbs- und Entwicklungs-Prozesse unterrichtsleitend abbilden können (vgl. Herzog 2013: 35 f.; Klieme u. a. 2003: 135). In jedem Fall, so die Erwartung, liefern sie wissenschaftlich begründete Vorstellungen darüber, welche Abstufungen eine Kompetenz annehmen kann bzw. welche Grade oder Niveaustufen sich bei den einzelnen Schülerinnen und Schülern feststellen lassen (Klieme u. a. 2003: 74). Solche Niveaustufen sollen also sogar die Kompetenz bestimmter Schüler_innen erfassen helfen. Zugleich sollen sie für festgelegte Altersgruppen bestimmbar sein. Etwas geringer ist die Hoffnung auf eine gestufte Modellierung von biografischen Kompetenz-Erwerbsverläufen durch die aufeinanderfolgenden Lebensalter hindurch: Möglicherweise lassen sich die Stufen eines Kompetenzmodells auch als Schritte beim Erwerb von Kompetenzen interpretieren. In diesem Fall würde ein Kompetenzmodell Aussagen darüber machen, wie sich in der Lernbiographie von Kindern und Jugendlichen das Zusammenwirken der verschiedenen Komponenten von Kompetenz entwickelt, wie Kompetenzerwerb also verläuft. (Klieme u. a. 2003: 77; vgl. 135 f.) Das Erwartete und Erhoffte ist in den Bildungsstandards des Faches Deutsch und in der Deutschdidaktik bislang kaum realisiert. Die verschiedenen Deutsch-Kompetenzbereiche sind weder durchgehend auf „wissenschaftlich begründete“ Weise gestuft noch für fundierte Individualdiagnosen zu gebrauchen oder aus verlässlichen Erkenntnissen über Lernentwicklungswege abgeleitet (vgl. zur fächerübergreifenden Situation auch Herzog 2013: 36). Auch ein auf wissenschaftlichen Einsichten in die Kompetenzentwicklung beruhendes Curriculum für den Deutschunterricht, wie es die Expertise als mögliche Leistung von Kompetenzmodellen ansieht (vgl. Klieme u. a. 2003: 50 f.; Herzog 2013: 39), ist von den Bildungsstandards für das Fach Deutsch derzeit nicht zu erwarten. All dies gilt es gegenwärtig zu bilanzieren, so sehr die hier herangezogene Expertise ursprünglich auch auf die Forschungsleistung der Fachdidaktiken gesetzt hat (vgl. Klieme u. a. 2003: 75). Situationsunabhängigkeit von Kompetenzen Erlernbarkeit von Kompetenzen Gestufte Kompetenzmodelle 9 Themenblock 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? <?page no="19"?> Das Zustandekommen der Bildungsstandards ist aber ohnehin weniger wissenschaftlich als vielmehr gesellschaftspolitisch begründet: Bei den Bildungsstandards handelt es sich um Beschlüsse der Kultusministerkonferenz. Es sind keine wissenschaftlichen Texte, sondern statuierte, präskriptive Normen, deren Verfasser anonym sind und die von dem Normsetzer KMK nach Konsultation ‚gesellschaftlich relevanter Gruppen‘ wie Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften für verbindlich erklärt wurden. Es gibt viele Adressaten: Verlage, Lehrpersonen in Schulen und Hochschulen, Eltern, ja sogar Schülerinnen und Schüler. (Bremerich-Vos 2014: 9) Weniger die hier genannten Institutionen und Gruppen, an die sich die Bildungsstandards - ja durchaus sinnvollerweise - richten, als vielmehr die wissenschaftsfernen Intentionen, aus denen sie hervorgegangen sind, stellen ihren Nutzen für den Deutschunterricht und für die Deutschdidaktik in Frage. In ihrer mangelnden theoretisch-terminologischen Genauigkeit erschweren die Standardformulierungen eine empirische Operationalisierung, was mit zu dem schon beklagten Umstand beiträgt, dass solide wissenschaftliche Erkenntnisse - und sei es für eine Überarbeitung der Bildungsstandards - nicht in ausreichendem Umfang vorliegen. Die Verfügung über eine bestimmte Kompetenz, wie sie in den Bildungsstandards formuliert ist, muss für die empirische Forschung operationalisiert werden. Das heißt, dass Merkmale oder Leistungen festzulegen sind, bei deren Auftreten der jeweilige Bildungsstandard als erreicht, die entsprechende Kompetenz also als gegeben gelten darf. Eine bestimmte Kompetenz des Textverstehens wird z. B. dann als vorhanden angenommen, wenn in einem Textverstehenstest auf eine Aufgabe eine bestimmte Antwort gegeben wird. In anderen Wissenschaften sind es wieder andere Inhalte, die in analoger Weise durch beobachtbare Kriterien empirisch operationalisiert werden. Nach und nach sind zwar in der deutschdidaktischen Forschung punktuelle Kompetenzstufenmodelle entstanden und werden wohl auch weiterhin entstehen, aber eine Abdeckung aller Standards ist schwer vorstellbar (vgl. Bredel 2014: 5 f., Bremerich-Vos u. a. 2010, Bremerich-Vos u. a. 2012). Die vorliegenden Modelle kranken daran, dass sie mit den jeweils entwickelten Testaufgaben und deren Schwierigkeitsgrad stehen und fallen. Aufgrund des großzügigen Auslegungsspielraums der zu operationalisierenden Standards sind die gewählten Aufgaben nämlich keineswegs zwingend, sondern ohne weiteres durch schwierigere oder leichtere ersetzbar: „Ein Standard kann ja in Form vieler Aufgaben repräsentiert werden. Wären andere gewählt worden, resultierten andere Modelle.“ (Bremerich-Vos 2014: 10; vgl. Bre- Einflüsse auf die Bildungsstandards Theoretische und empirische Mängel der Bildungsstandards Merke Probleme der Kompetenzstufenmodelle 10 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="20"?> merich-Vos/ Zabka 2010: 87). Dieses Problem begleitet die Arbeit an der Modellierung von Kompetenzstufen seit Jahren unverändert. Zu der geringen theoretischen Präzision der Bildungsstandards und dem noch unaufgeholten empirischen Forschungsrückstand der Deutschdidaktik kommt aber ein weiterer Grund für die mangelnde Tauglichkeit vorliegender Kompetenzstufenmodelle hinzu: Selbst wenn die Standards auf einer tragfähigen theoretischen und empirischen Basis beruhten, haftete der Niveaustufen-Bestimmung als solcher infolge methodischer Sekundär-Zwänge der Psychometrie - der empirischen Messung psychisch-mentaler Personeneigenschaften - immer noch etwas unvermeidlich Gewaltsames und Willkürliches an, das inhaltlich-fachdidaktisch oder lernpsychologisch nicht zu rechtfertigen ist. Auch die Annahme stufenweiser, also ruckartiger Kompetenzzuwächse lässt sich durch die aktuelle Lernpsychologie kaum stützen (vgl. Bremerich-Vos 2014: 10 f.; Bremerich-Vos/ Zabka 2010: 87; Köller 2008: 172). Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass in der aktuellen Lernpsychologie nicht mehr wie in der klassischen von Lernstadien, -stufen oder -niveaus die Rede wäre. Vorstellungen der Kontinuität des Lernens, der Kumulation erworbener Fähigkeiten zu neuen Kompetenzen sowie der Überlagerung von Strategien bzw. von Formen der Wissensrepräsentation herrschen derzeit jedoch vor und widersprechen so der durch psychometrische Kompetenzstufenmodelle nahegelegten Annahme überindividueller sprunghafter Lernzuwächse (vgl. Hasselhorn/ Gold 2009; Faulstich 2013; Vygotskij 2002). Ob aber das Lernen nun in Sprüngen oder allmählich geschieht, Peter Faulstich bezweifelt unter Berufung auf Klaus Holzkamp (1993, 1996), dass es sich überhaupt zentral vorhersehen und steuern lässt. Im Unterricht macht sich laut Faulstich das Individuum mit seiner „Unverfügbarkeit und Eigensinnigkeit“ (Faulstich 2013: 86) geltend - wodurch letztlich bereits das Grundanliegen der Bildungsstandards ganz unabhängig von ihrer empirischen Absicherung in Frage gestellt ist. Festzuhalten bleibt: Die bisherige Fassung der Kompetenzbereiche und -niveaus sowie der ihnen zugehörigen Standards ist - wenn nicht individuellem Lernen überhaupt unangemessen - in den erhobenen Leistungsansprüchen überfordernd, empirisch wie theoretisch unabgesichert und in Sprache und Struktur wenig systematisch: „Im Blick auf die Systematik, die interne Abstufung und die Präzision der Standards gibt es also Überarbeitungsbedarf.“ (Feilke 2014: 8). Lernpsychologische Zweifel an Kompetenzstufung Zweifel an der Planbarkeit von Lernprozessen 11 Themenblock 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? <?page no="21"?> Übungen 1. Vergegenwärtigen Sie sich die Kompetenzbereiche auf den verschiedenen Schulstufen. Welche Besonderheit besteht dabei bezüglich der Allgemeinen Hochschulreife? 2. Erläutern und problematisieren Sie den in Deutschland vertretenen Kompetenzbegriff. 3. Führen Sie Einwände gegen die Stufung von Kompetenzen an. 4. Vergleichen Sie die folgenden Auszüge aus den Bildungsstandards Deutsch für den Hauptschulabschluss und für den Mittleren Schulabschluss: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennen Sie? Welche Unterschiede lassen sich auf die Unterschiedlichkeit der Schulabschlüsse zurückführen, welche nicht? Begründen Sie Ihre Antworten. Schreiben Texte schreiben ▶ gedanklich geordnet schreiben, ▶ formalisierte lineare Texte/ nichtlineare Texte verfassen: z. B. sachlicher Brief, Lebenslauf, Bewerbungsschreiben, Ausfüllen von Formularen, Schaubild, Diagramm, Tabelle, ▶ grundlegende Schreibfunktionen umsetzen: erzählen, berichten, informieren, beschreiben, appellieren, argumentieren, ▶ produktive Schreibformen nutzen: z. B. umschreiben, weiterschreiben, ausgestalten, ▶ kreative Schreibformen nutzen: z. B. Figurengeschichten, Verwandlungsgeschichten, Schreiben zu Bildern, ▶ Inhalte verkürzt wiedergeben, ▶ wesentliche Informationen aus linearen und nichtlinearen Texten zusammenfassen, ▶ wesentliche Gestaltungsmittel untersuchen und darstellen, ▶ Argumente finden und formulieren, ▶ Argumente gewichten und Schlüsse ziehen, ▶ begründet Stellung beziehen, ▶ Texte sprachlich gestalten: strukturiert, verständlich und zusammenhängend schreiben, ▶ Texte mit Hilfe von neuen Medien verfassen: z. B. Textverarbeitungs- und Mailprogramme. (KMK 2005c: 12) �� Lösungshinweise unter www.narr.de Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Hauptschulabschluss (Jahrgangsstufe 9) 12 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="22"?> Schreiben Texte schreiben ▶ formalisierte lineare Texte/ nichtlineare Texte verfassen: z. B. sachlicher Brief, Lebenslauf, Bewerbung, Bewerbungsschreiben, Protokoll, Annonce/ Ausfüllen von Formularen, Diagramm, Schaubild, Statistik, ▶ zentrale Schreibformen beherrschen und sachgerecht nutzen: informierende (berichten, beschreiben, schildern), argumentierende (erörtern, kommentieren), appellierende, untersuchende (analysieren, interpretieren), gestaltende (erzählen, kreativ schreiben), ▶ produktive Schreibformen nutzen: z. B. umschreiben, weiterschreiben, ausgestalten, ▶ Ergebnisse einer Textuntersuchung darstellen: z. B. ▷ Inhalte auch längerer und komplexerer Texte verkürzt und abstrahierend wiedergeben, ▷ Informationen aus linearen und nichtlinearen Texten zusammenfassen und so wiedergeben, dass insgesamt eine kohärente Darstellung entsteht, ▷ formale und sprachlich stilistische Gestaltungsmittel und ihre Wirkungsweise an Beispielen darstellen, ▷ Textdeutungen begründen, ▷ sprachliche Bilder deuten, ▷ Thesen formulieren, ▷ Argumente zu einer Argumentationskette verknüpfen, ▷ Gegenargumente formulieren, überdenken und einbeziehen, ▷ Argumente gewichten und Schlüsse ziehen, ▷ begründet Stellung nehmen, ▶ Texte sprachlich gestalten ▷ strukturiert, verständlich, sprachlich variabel und stilistisch stimmig zur Aussage schreiben, ▷ sprachliche Mittel gezielt einsetzen: z. B. Vergleiche, Bilder, Wiederholung, ▶ Texte mit Hilfe von neuen Medien verfassen: z. B. E-Mails, Chatroom. (KMK 2004: 12) Setzen Sie diese vergleichende Lektüre der Bildungsstandards nun - nach Ihren Interessensschwerpunkten bezüglich der Schulstufen und der Kompetenzbereiche - eigenständig fort. Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10) 13 Themenblock 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? <?page no="23"?> Verwendete und weiterführende Literatur Bredel, Ursula (2014): Anspruch und Wirklichkeit - Debattenbeitrag zu den Bildungsstandards. In: Didaktik Deutsch 36. S. 5-8. Bremerich-Vos, Albert (2014): Revision der Bildungsstandards? - Zurzeit nicht vordringlich. In: Didaktik Deutsch 36. S. 9-12. Bremerich-Vos, Albert, Ulrike Behrens, Katrin Böhme u. a. (2010): Kompetenzstufenmodelle für das Fach Deutsch. In: Olaf Köller, Michel Knigge, Bernd Tesch (Hg.): Sprachliche Kompetenzen im Ländervergleich. Münster: Waxmann. S. 37-50. Bremerich-Vos, Albert, Katrin Böhme, Michael Krelle u. a.(2012): Kompetenzstufenmodelle im Fach Deutsch. In: Petra Stanat, Hans Anand Pant, Katrin Böhme u. a. (Hg.): Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern am Ende der vierten Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch und Mathematik. Münster: Waxmann. S. 56-71. Bremerich-Vos, Albert, Thomas Zabka (2010): Fixierung von Mindeststandards? Ein Vorschlag für das Ende der Jahrgangsstufe 6 in Hamburg. In: Didaktik Deutsch 29. S. 84-100. Faulstich, Peter (2013): Menschliches Lernen. Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie. Bielefeld: transcript. Feilke, Helmuth (2014): Überarbeiten! Überlegungen zu Bildungsstandards, Textkompetenz und Schreiben. In: Didaktik Deutsch 37. S. 6-9. Hasselhorn, Marcus, Andreas Gold (2009): Pädagogische Psychologie. Erfolgreiches Lernen und Lehren. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Herzog, Walter (2013): Bildungsstandards. Eine kritische Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. Holzkamp, Klaus (1993): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/ M.: Campus. Holzkamp, Klaus (1996): Texte aus dem Nachlass. Hamburg: Argument. Kammler, Clemens (2014): Präzisiert die Bildungsstandards Deutsch! Vergleichende Anmerkungen zum mittleren Schulabschluss und zum Hauptschulabschluss. In: Didaktik Deutsch 36. S. 13-16. Klieme, Eckhard, Hermann Avenarius, Werner Blum u. a. (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Bonn: BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung). KMK = Kultusministerkonferenz (2004): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss. München: Luchterhand. KMK = Kultusministerkonferenz (2005 a): Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung. München: Luchterhand. KMK = Kultusministerkonferenz (2005 a): Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung. München: Luchterhand. KMK = Kultusministerkonferenz (2005 c): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Hauptschulabschluss. München: Luchterhand. KMK = Kultusministerkonferenz (2012): Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. http: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Datei- 14 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="24"?> en/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18-Bildungsstandards- Deutsch-Abi.pdf (19.09.2017). Köller, Olaf (2008): Bildungsstandards - Verfahren und Kriterien bei der Entwicklung von Messinstrumenten. In: Zeitschrift für Pädagogik 54 H. 2. S. 163- 173. Schermer, Franz J. (2014): Lernen und Gedächtnis. 5. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Standke, Jan, Elvira Topalović (Hg.) (2019): Deutschdidaktik 2000-2018. Debatten - Entwicklungen - Perspektiven. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 66 H. 1. Göttingen: V&R unipress. Steinmetz, Michael (2013): Der überforderte Abiturient im Fach Deutsch. Eine qualitativ-empirische Studie zur Realisierbarkeit von Bildungsstandards. Wiesbaden: Springer VS. Vygotskij, Lev Semënovič (2002): Denken und Sprechen. Psychologische Untersuchungen. [Erstersch. 1934] Weinheim: Beltz. Weinert, Franz E. (2002): Vergleichende Leistungsmessung in Schulen - eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Franz E. Weinert (Hg.): Leistungsmessungen in Schulen. 2. Aufl. Weinheim: Beltz. S. 17-31. 15 Themenblock 1 Was sind die Gegenstände und Ziele des Deutschunterrichts? <?page no="25"?> 2 Mündlichkeit und Schriftlichkeit Ein an diese Systematisierungs-Problematik anschließender, in der Forschung allerdings bislang kaum problematisierter Aspekt der Bildungsstandards, der gleichwohl zu überdenken wäre, ist die Einteilung der meisten Kompetenzbereiche nach der medialen Form der jeweiligen Sprachverwendung. So wird unterschieden nach ▶ „Sprechen und Zuhören“, ▶ „Schreiben“ und „Lesen“. Erkennbar ist die Berücksichtigung einerseits medial mündlicher, andererseits medial schriftlicher Verständigung. Dabei handelt es sich in der Tat um keine unwichtige Unterscheidung, denn gesprochene und geschriebene Sprache sind mit je eigenen Umständen, Beschränkungen und Möglichkeiten der Kommunikation verbunden, die von Werner Knapp u. a. (2011) tabellarisch aufgelistet werden (Tab. 1.3). Gesprochene Sprache Geschriebene Sprache Lautstrom, Lautkontinuum graphisches Produkt, räumliche Ausdehnung flüchtig, nicht wiederholbar kann archiviert werden, zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden an konkrete Kommunikationssituation gebunden, hat ein Gegenüber Kommunikationspartner nicht unbedingt bekannt oder vorhanden Senden und Empfangen zeitlich eng beieinander Senden und Empfangen zeitlich meist versetzt direkte Rückfragen und Unterbrechungen möglich Rückfragen nur mittelbar möglich, Unterbrechungen zum Nachfragen i. d. R. nicht möglich deiktische Ausdrücke möglich, Wörter wie links, rechts usw. müssen nicht erklärt werden Präzisierung nicht notwendig, da kein „Gegenüber“ vorhanden Gestik, Mimik, Intonation möglich zusätzliche Informationsträger nicht vorhanden, Emotionen müssen beschrieben werden Satzabbrüche aufgrund der Nähe möglich und häufig Sätze müssen zum Verständnis i. d. R. ausformuliert werden. keine Hilfsmittel nötig Hilfsmittel wie Stift etc. notwendig in der Regel dialogisch in der Regel monologisch Die in Tabelle 1.3 kontrastierten Kommunikationsbedingungen können eine mehr oder weniger genaue und ausführliche gedankliche Struktur sprachlichen Handelns bewirken. Eine in ähnlicher Weise spezifizierte gedankliche Ausrichtung aber, so der Einwand gegen die vorwiegend nach gesprochener und geschriebener Sprache untergliederten Bildungsstandards, ist an diesen Tab. 1.3 Gegenüberstellung gesprochener und geschriebener Sprache (Knapp u. a. 2011: 23) Mediale Einteilung der Kompetenzbereiche Gesprochene und geschriebene Sprache Gedankliche Struktur sprachlichen Handelns 16 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="26"?> nur vereinzelt und andeutungsweise ablesbar, so vielleicht an der Benennung der Kompetenzbereiche „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ und „Sprache und Sprachgebrauch reflektieren“ bzw. „untersuchen“ [Hervorh. TJ]. Die hier genannten gedanklichen Operationen können sich aber von schriftlichen Kommunikationsbedingungen unabhängig machen, können also durchaus auch sprechend und zuhörend vonstattengehen. Dabei mögen ‚Auseinandersetzung‘, ‚Reflexion‘ oder ‚Untersuchung‘ unterschiedlich zusammenhängend, ausführlich und komplex geraten. Diese divergente Ordnung, Detailliertheit und Differenziertheit der sprachlich codierten Gedanken ist ungeachtet der medialen Form von divergenten kognitiven Konzeptionen bestimmt, je nachdem, ob Schüler_innen sich untereinander im Pausengespräch verständigen wollen oder ob sie stärker durchdachte Inhalte gegenüber einer Lehrkraft, der Klasse oder gar der Schulöffentlichkeit vortragen sollen. In einem sehr einflussreichen Aufsatz der Linguisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher ist dies als Differenz zwischen Nähe- und Distanzsprache gefasst: Die Kombination ,Dialog‘, ,freier Sprecherwechsel‘, ,Vertrautheit der Partner‘, ,face-to-face-Interaktion‘, ,freie Themenentwicklung‘, ,keine Öffentlichkeit‘, , Spontaneität‘, ,starkes Beteiligtsein‘, ,Situationsverschränkung‘,[sic! ] etc. charakterisiert den Pol ,gesprochen‘. Die ihm entsprechende Kommunikationsform läßt sich am besten auf den Begriff Sprache der Nähe bringen. Analog charakterisiert die Kombination von ,Monolog‘, ,kein Sprecherwechsel‘, , Fremdheit der Partner‘, ,räumliche und zeitliche Trennung‘, ,festes Thema‘, , völlige Öffentlichkeit‘, ,Reflektiertheit‘, ,geringes Beteiligtsein‘, ,Situationsentbindung‘,[sic! ] etc. den Pol ,geschrieben‘. Die ihm entsprechende Kommunikationsform definieren wir als Sprache der Distanz. (Koch/ Oesterreicher 1985: 21 [Hervorh. i. Orig.]) Die hiermit eingeführte Begrifflichkeit zur Charakterisierung der beiden sprachlichen Pole wird in einer späteren Veröffentlichung von Koch und Oesterreicher noch einmal modifiziert (Abb. 1.3). Eine Erläuterung zur aktualisierten Terminologie in den zwei - links und rechts außen befindlichen - Diagrammspalten (Abb. 1.3) erscheint angebracht: Die Sprache der Nähe trägt Züge, wie sie aus der Gemeinsamkeit einer von den Kommunizierenden geteilten und handelnd zu bewältigenden Situation, wie sie zudem aber auch aus einer nahen zwischenmenschlichen Beziehung herrühren können. Kontexte des Mitgeteilten müssen unter solchen „Kommunikationsbedingungen“ (Koch/ Oesterreicher 1985: 19) nicht detailliert erläutert, Emotionen hingegen dürfen frei geäußert, Themen entwickelt und gewechselt werden. Die Kommunikationspartner_innen verhalten sich in ihrem Dialog spontan und kooperativ. Sprache der Nähe - Sprache der Distanz Kommunikation unter den Bedingungen der Nähe 17 Themenblock 1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit <?page no="27"?> Demgegenüber entsteht die Sprache der Distanz aus Bedingungen der Fremdheit und Ferne, unter denen Sendende im Verhältnis zu den Adessat_innen stehen. Die Mitteilung bleibt nicht privat, sondern wird öffentlich an ein anonymes Publikum gerichtet. Sie ergibt sich somit auch nicht spontan und kooperativ aus einer gemeinsamen Situation. Daher nimmt sie die Form eines emotionslosen, von thematischen Schwankungen freien Monologs an. Neben einer erneuerten Begrifflichkeit für die hier „idealtypisch“ (Abb. 1.3) und deshalb zuspitzend geschilderten Kommunikationsbedingungen ist Abbildung 1.3 aber auch eine von Koch und Oesterreicher bevorzugte geometrische Gestalt zur Veranschaulichung der - graduellen! - Skala zwischen idealtypischer Nähe- und Distanz-Sprache zu entnehmen, die zubzw. abnehmende Korrelationen mit dem grafischen und fonischen Medium zeigt (vgl. auch Koch/ Oesterreicher 1985: 23). Dieses Element aus Abbildung 1.3 ist in Abbildung 1.4 noch einmal separat nachgebildet. Das Diagramm (Abb. 1.4) zeigt die grundsätzliche Vereinbarkeit medialer Schriftlichkeit wie Mündlichkeit sowohl mit der Sprache der Nähe als auch mit der Sprache der Distanz. Die Dreiecks-Formen oberhalb und unterhalb des Doppelpfeils sollen jedoch darüber hinaus verdeutlichen, dass im graduellen Übergang vom Nähezum Distanz-Pol das mündliche (= fonische) Medium immer schwächer und das schriftliche (= grafische) Medium immer stärker vertreten ist, wohingegen bei umgekehrter Pfeilrichtung das genaue Gegenteil gilt. Das kognitive Konzept der Nähesprache kommt tatsächlich oft bei medial mündlichem Sprechen mit - im doppelten Wortsinne - nahestehenden Personen zum Einsatz. Es kann aber eben auch in geschriebener Nähe- Abb. 1.3 Nähe- und Distanzsprache (Koch/ Oesterreicher 1994: 588) Kommunikation unter den Bedingungen der Distanz Gradueller Übergang zwischen Nähe- und Distanzsprache Korrelationen von Nähe- und Distanzsprache mit medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit Mediale Variabilität der Nähe- und Distanzsprache Mediale und konzeptionelle Mündlichkeit 18 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="28"?> kommunikation auftreten, etwa in Briefen an Freunde oder beim Chatten mit der Peergroup im Internet. Der medialen Mündlichkeit steht also eine konzeptionelle Mündlichkeit (vgl. Abb. 1.3) gegenüber, die letztlich medienunabhängig ist. Ebenso ist die konzeptionelle Schriftlichkeit (vgl. Abb. 1.3) nicht wirklich mediengebunden. Zwar erfuhr die kognitive Konzeption der Distanzsprache historisch wichtige Impulse aus der Entwicklung und Verbreitung der Schriftmedien, sie ist aber nicht notwendig mit diesen verknüpft: Auch ein Referat im Unterricht, eine Ansprache auf der Abitur-Feier oder ein geschliffener Redebeitrag folgen, obgleich gesprochen, der distanzsprachlichen Konzeption, sind also konzeptionell als schriftlich (vgl. Abb. 1.3) einzuordnen. Eine in Abbildung 1.5 veranschaulichte Lokalisierung sprachlicher Äußerungen auf dem Kontinuum zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit ergänzt die schon angeführten Beispiele (Abb. 1.5). Die Konzeptionen der Nähe- und der Distanzsprache werden durch einander entgegengesetzte „Versprachlichungsstrategien“ (Koch/ Oesterreicher 1985: 19) in jeweils entsprechend strukturierte Mitteilungen umgesetzt. Diese Strategien unterscheiden sich in der sprachlichen Gestaltung durch ein Mehr oder Weniger an „Elaboriertheit“, „Planung“, „Komplexität“, „Informationsdichte“, text-kompositorischer „Integration“ und „Kompaktheit“. Zudem kontrastieren nähesprachliche Strategien der „Prozeßhaftigkeit“, „Vorläufigkeit“ und „parataktisch“ reihenden Syntax mit distanzsprachlichen Strategien der Text-„Vergegenständlichung“, „Endgültigkeit“ und „hypotaktisch“ konstruierten Syntax (H. Günther 1997: 66; vgl. Koch/ Oesterreicher 1985: 21 ff.). Abbildung 1.6 präsentiert diese Versprachlichungsstrategien auf einen Blick. Abb. 1.4 Skala zwischen Nähe- und Distanzsprache mit wechselnder medialer Korrelation (nach Koch/ Oesterreicher 1994: 588) medialen konzeptionelle konzeptionell Mediale und konzeptionelle Schriftlichkeit Versprachlichungsstrategien 19 Themenblock 1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit <?page no="29"?> Abb. 1.5 Kontinuum zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Knapp u. a. 2011: 20) Abb. 1.6 Konzeptionell mündliche und schriftliche Versprachlichungsstrategien (H. Günther 1997: 66) Die Kompetenzbereiche der Bildungsstandards nun, wie oben bereits problematisiert, vor allem nach dem Aspekt medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu gliedern (in „Sprechen und Zuhören“, „Schreiben“ und Didaktische Kritik an den Bildungsstandards 20 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="30"?> „Lesen“) und darüber hinaus nur ansatzweise auch nach gedanklichen Anforderungen zu kategorisieren (in „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ und „Sprache und Sprachgebrauch reflektieren“ bzw. „untersuchen“) ist aus didaktischer Sicht zu hinterfragen. Denn die kognitiv und für den Lernprozess bedeutsamen Konzeptionen der Nähe- und Distanzsprache kommen so nicht systematisch zur Geltung. Würde die konzeptionelle Ebene sprachlicher Kommunikation stärker in den Vordergrund gerückt, so wäre für den Sprach- und den Literaturunterricht gleichermaßen eine substanzielle begriffliche Basis hinzugewonnen. Demgemäß fokussiert die hier vorgelegte integrative Deutschdidaktik die ursprünglich zwar eher sprachwissenschaftliche, für die Literaturwissenschaft aber ebenso einsichtsfördernde Differenzierung zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Dabei wird eben nicht nur zwischen grafischem und fonischem Medium unterschieden, sondern auch zwischen den letztlich medienunabhängigen Konzeptionen sprachlicher Äußerungen. Wie schon verdeutlicht, kann die konzeptionelle Mündlichkeit im grafischen Gewand erscheinen, und konzeptionell Schriftliches kann durchaus fonisch übermittelt werden. Entscheidend für die Einordnung der hinter einer sprachlichen Äußerung stehenden Konzeption sind die angewandten Versprachlichungsstrategien. Je anspruchsvoller ein Text ausgearbeitet ist, desto näher rückt er an die konzeptionelle Schriftlichkeit heran, selbst wenn es sich bei ihm um eine gesprochene Rede oder etwa einen Radiokommentar handeln sollte. Je weniger durchgestaltet eine Mitteilung ist, desto näher bleibt sie umgekehrt der konzeptionellen Mündlichkeit, auch wenn sie als E-Mail oder handschriftliche Notiz in Erscheinung tritt. Kinder verfügen bei Schulantritt noch kaum über Strukturen der konzeptionellen Schriftlichkeit. Deren aus Sicht der Deutschdidaktik höchst wünschenswerter und förderungswürdiger Erwerb vollzieht sich während der gesamten Schulzeit und setzt sich oft noch im Studium fort. Übungen 1. Erläutern Sie die Begriffe ‚mediale‘ und ‚konzeptionelle‘ Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit. 2. Worin besteht die deutschdidaktische Relevanz konzeptioneller Schriftlichkeit? 3. Zur Erinnerung: Die Sprachwissenschaftler Peter Koch und Wulf Oesterreicher unterscheiden - auf den verbalsprachlichen Bereich bezogen - zwischen Sprache der Nähe und Sprache der Distanz. Diesen beiden Sprachkonzeptionen weisen die Autoren gegensätzliche Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien zu: Didaktische Relevanz der konzeptionellen Schriftlichkeit �� 21 Themenblock 1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit <?page no="31"?> Kommunikationsbedingungen Sprache der Nähe Sprache der Distanz raum-zeitliche Nähe raum-zeitliche Distanz Vertrautheit Fremdheit Privatheit Öffentlichkeit Emotionalität keine Emotionalität Situations- und Handlungseinbindung Situations- und Handlungsentbindung kommunikative Kooperation keine kommunikative Kooperation Dialog Monolog Spontaneität keine Spontaneität freie Themenentwicklung Themenfixierung Versprachlichungsstrategien Sprache der Nähe Sprache der Distanz Prozesshaftigkeit Text-Vergegenständlichung Vorläufigkeit Endgültigkeit Parataktischer Satzbau Hypotaktischer Satzbau Geringere Höhere Kompaktheit text-kompositorische Integration Komplexität Elaboriertheit Planung Informationsdichte Bedenken Sie, dass die Tabellen jeweils zwei Pole einer graduellen Skala bestimmen. Untersuchen Sie unter dieser Voraussetzung die folgenden Auszüge aus den Bildungsstandards daraufhin, ob die dort formulierten Anforderungen eher auf eine Sprache der Nähe oder der Distanz zielen. Begründen Sie Ihre Antworten. Überprüfen Sie anhand der folgenden Auszüge aus den Bildungsstandards zudem, ob diese zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit differenzieren. Begründen Sie Ihre Antworten. 22 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="32"?> Der Beitrag des Faches Deutsch zur Bildung In lebensnahen und kindgemäßen Situationen und an bedeutsamen Inhalten entwickeln die Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit, geschriebene und gesprochene Sprache situationsangemessen, sachgemäß, partnerbezogen und zielgerichtet zu gebrauchen. Schreiben Im Unterschied zum Sprechen wird beim Schreiben der Text langsamer und überlegter entwickelt, über Geschriebenes kann auch mit anderen nachgedacht und es kann entsprechend überarbeitet werden. Sprechen und Zuhören zu anderen sprechen ▷ Sprechbeiträge und Gespräche situationsangemessen planen Sprache und Sprachgebrauch untersuchen sprachliche Verständigung untersuchen ▷ Unterschiede von gesprochener und geschriebener Sprache kennen Sprechen und Zuhören Die Schülerinnen und Schüler handeln in persönlichen, fach- und berufsbezogenen und öffentlichen Kommunikationssituationen angemessen und adressatengerecht. Diese Situationen sind in ihrer Mündlichkeit durch Interaktivität, Unmittelbarkeit, Flüchtigkeit und die Nutzung para- und nonverbaler Zeichen gekennzeichnet. Schreiben Die Schülerinnen und Schüler verfassen inhaltlich angemessene kohärente Texte, die sie aufgabenadäquat, konzeptgeleitet, adressaten- und zielorientiert, normgerecht, sprachlich variabel und stilistisch stimmig gestalten. Dabei schreiben sie entsprechend der jeweiligen Aufgabe in unterschiedlichen Textformen. Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen Sich mit pragmatischen Texten auseinandersetzen Die Schülerinnen und Schüler nutzen für den eigenen Erkenntnisprozess vielschichtige, voraussetzungsreiche Sachtexte, darunter auch wissenschaftsnahe und berufsbezogene Fachtexte aus unterschiedlichen Domänen. Sie erschließen, analysieren und beurteilen Gehalt, Kontext und Wirkungsabsicht pragmatischer Texte. Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich (Jahrgangsstufe 4), (KMK 2005b: 6, 8, 9 f., 13) Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife, (KMK 2012: 14, 16, 20, 22, 25) 23 Themenblock 1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit <?page no="33"?> Sprache und Sprachgebrauch reflektieren Die Schülerinnen und Schüler analysieren Sprache als System und als historisch gewordenes Kommunikationsmedium und erweitern so ihr Sprachwissen und ihre Sprachbewusstheit. Sie nutzen beides für die mündliche und schriftliche Kommunikation. Untersuchen Sie unter den hier bearbeiteten Fragestellungen auch die Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Hauptschulabschluss und für den Mittleren Schulabschluss. 4. In fiktionalen Erzähltexten begegnet den Lesenden nicht selten vermeintliche konzeptionelle Mündlichkeit, obwohl doch diese literarischen Texte keineswegs spontan aus einer kommunikativen Nähe-Situation heraus entstehen, sondern sehr genau geplant und an eine breite Öffentlichkeit gerichtet sind. Die in ihnen auftretende konzeptionelle Mündlichkeit kann daher nicht als authentisch gelten. Vielmehr handelt es sich bei ihr um eine aus ästhetischen Gründen simulierte Nähesprache. Hier ein Beispiel aus der Jugendliteratur: Zu Hause Süße die Tür auf, ich denk, ist das Süße? Haare ganz rosa und so geföhnt, echt Wahnsinn. Und denn gleich an mein Hosenbein, „hübß aus, Deffen, Süße hübß aus? “, ich sie zur Seite, Mann, mir doch egal. Sie aber gleich, „bu-hu“ und heul-heul, alte Heulsuse. Ja Pech. Im Wohnzimmer Kuddi wieder vor der Glotze, Mama beim Bügeln, macht sie immer so, bügeln und glotzen, ich auch gleich: „Na? “ Und Mama: „Musst du immer so gemein zu der Kleinen sein! “ Also immer dasselbe, nä, und sie denn noch: „Komm her, Süße, Mama hat was für dich.“ Aber Süße jetzt immer so die Fäuste gegen die Augen und „bu-hu“ und heulheul, seh ich genau, dazwischen linst die mich an, also die weiß schon alle Tricks, nä. Untersuchen Sie den Roman-Auszug auf die darin vorgeführten konzeptionell mündlichen Versprachlichungsstrategien hin. Schreiben Sie den Roman-Auszug um, indem Sie Versprachlichungsstrategien der konzeptionellen Schriftlichkeit anwenden. Textbeispiel (Aus: Kirsten Boie: Ich ganz cool. 4. Aufl. München: dtv junior 2009: 9) 24 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="34"?> Verwendete und weiterführende Literatur Dürscheid, Christa (2011): „Schreib nicht, wie Du sprichst.“ Ein Thema für den Deutschunterricht. In: Björn Rothstein (Hg.): Sprachvergleich in der Schule. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. S. 89-109. Dürscheid, Christa (2012): Einführung in die Schriftlinguistik. 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dürscheid, Christa, Franc Wagner, Sarah Brommer (2010): Wie Jugendliche schreiben. Schreibkompetenz und neue Medien. Berlin: de Gruyter. Günther, Hartmut (1997): Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Heiko Balhorn, Heide Niemann (Hg.): Sprachen werden Schrift. Mündlichkeit - Schriftlichkeit - Mehrsprachigkeit. Lengwil am Bodensee: Libelle. S. 64-73. Knapp, Werner, Cordula Löffler, Claudia Osburg, Kristina Singer (2011): Sprechen, schreiben und verstehen. Sprachförderung in der Primarstufe. Seelze: Klett/ Kallmeyer. Koch, Peter, Wulf Oesterreicher (1985): Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36. S. 15-43. Koch, Peter, Wulf Oesterreicher (1994): Schriftlichkeit und Sprache. In: Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Halbbd. 1. Berlin: de Gruyter. S. 587- 604. Müller, Karin (1990): „Schreibe, wie du sprichst! “ Eine Maxime im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Eine historische und systematische Untersuchung. Franfurt am Main: Lang. Schwitalla, Johannes (2012): Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. 4. Aufl. Berlin: Erich Schmidt. Sieber, Peter (1998): Parlando in Texten. Zur Veränderung kommunikativer Grundmuster in der Schriftlichkeit. Tübingen: Niemeyer. Storrer, Angelika (2014): Sprachverfall durch internetbasierte Kommunikation? Linguistische Erklärungsansätze - empirische Befunde. In: Albrecht Plewnia, Andreas Witt (Hg.): Sprachverfall? Dynamik - Wandel - Variation. Berlin: de Gruyter. S. 171-196. 25 Themenblock 1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit <?page no="35"?> 3 Eine dreidimensionale multimediale Systematik für die Kompetenzbereiche und Anforderungen im Fach Deutsch Dieses Lehrbuch markiert zur Orientierung im Feld der Deutschdidaktik den für die Lernprogression wesentlichen konzeptionellen Aspekt deutlicher als in Darstellungen der Deutschdidaktik bislang üblich und setzt hierzu den medialen Aspekt ins Verhältnis. Da zudem in der sprachlichen und literarischen Kommunikation sowohl die Rezeption als auch die Produktion konzeptioneller und medialer Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit gefordert sind, werden sie als Anforderungen zusätzlich berücksichtigt. Die Arbeitsbereiche der Deutschdidaktik werden somit unter drei Dimensionen der Kommunikation betrachtet und eingeordnet: unter den Dimensionen: 1. Konzept, 2. Medium und 3. produktive oder rezeptive Rolle. Der Begriff der kommunikativen Rolle impliziert keine Unterscheidung zwischen vermeintlich aktiver und passiver Kommunikationsleistung, denn sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Mitteilungen verlangen (re-)konstruierende Aktivitäten. Hinsichtlich der Dimension des Mediums wiederum werden in diesem Buch neben dem fonischen und grafischen Format deutscher Sprachäußerungen auch sonstige visuelle, akustische und audiovisuelle Medien in die Betrachtungen einbezogen. Demgemäß werden die Begriffe des ‚Lesens‘, des ‚Textes‘ und der ‚Literatur‘ in einem über die schriftliche und mündliche Verbalsprache hinausweisenden Sinne verstanden. Diese konsequente Überschreitung der wortsprachlichen Ebene erfordert eine Modifikation des Modells von Koch und Oesterreicher. Der weite Textbegriff verlangt nämlich bei der Unterteilung der Dimension Medium eine Komplettierung der für sich genommen zu engen, da schrift- und stimmbezogenen Termini des Grafischen und des Fonischen. Diese werden daher im vorliegenden Lehrbuch zu den Begriffskombinationen grafisch/ visuell und fonisch/ akustisch erweitert. Durch die mediale Ausweitung des Modells relativieren sich auch die im rein verbalsprachlichen Bereich beobachtbaren Affinitäten zwischen Medien und Konzepten. So korreliert etwa die Nähekommunikation zwar immer noch hoch mit dem Fonischen, sie geht aber nicht vorzugsweise mit dem sprecherunabhängigen Akustischen einher. Denn dieses genügt beispielsweise als - keineswegs bloß stimmbasierte - Hörspielkulisse oder Tonspur filmischer Texte oft auf sehr elaborierte Weise Erfordernissen der nichtspontanen Distanzkommunikation. Umgekehrt korreliert Distanzkom- Drei Dimensionen der Kommunikation Multimedialität Multimedialer Text- und Literaturbegriff Multimediale Erweiterung des Modells von Koch/ Oesterreicher Nähe- und Distanzkommunikation mit ausgeglichener medialer Korrelation 26 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="36"?> munikation zwar hoch mit dem Grafischen, geht aber nicht vorzugsweise mit dem das herkömmliche Schriftsystem überschreitenden Visuellen einher. Dieses nämlich genügt beispielsweise als Emoticon in der E-Mail- und sozialen Netzwerk-Kommunikation, als Handy-Video oder als fotografisches Handy-Selbstporträt, genannt ‚Selfie‘, oft auf sehr spontane Weise Erfordernissen der Nähekommunikation. Folglich bedarf es zu der von Koch und Oesterreicher (1985: 23, 1994: 588; vgl. oben Abb. Abb. 1.3, Abb. 1.4) gewählten Diagrammstruktur einer Alternative, die keine vorherrschenden Korrelationen - veranschaulicht etwa durch Dreiecke - zwischen Medium und Konzept anzeigt (Abb. 1.7): Abb. 1.7 Skala zwischen Nähe- und Distanzsprache mit ausgeglichener medialer Korrelation Mit dieser zweidimensionalen multimedialen Systematik, dargestellt in einer gleichfalls zweidimensionalen Grafik, sind nun zwar die Dimensionen des Konzepts sowie des - verbalen oder nonverbalen - Mediums der Kommunikation erfasst, aber nicht die dritte Dimension der kommunikativen Rolle. Zur Veranschaulichung aller drei Dimensionen einer zudem multimedialen Deutschdidaktik bietet sich eine ebenfalls dreidimensionale Visualisierung an. Die darin verbildlichte Systematik ermöglicht eine entsprechende Einordnung der Kompetenzbereiche und hilft bei der Einschätzung der Komplexität und Schwierigkeit von Anforderungen, die im Deutschunterricht an Schüler_innen herangetragen werden (Abb. 1.8). Der hier als Schaubild gestaltete Würfel der Deutschdidaktik bietet die drei genannten Dimensionen und acht durch diese Dimensionen bestimmte, in variabler Weise miteinander kombinierbare Teilwürfel. Mit ihnen lassen sich sämtliche Kompetenzbereiche aus den Bildungsstandards und verschiedene schulische Lern- und Leistungsaufgaben abbilden. Je mehr Teilwürfel dafür jeweils zusammenzufügen sind, desto komplexer sind die an die Schüler_innen gestellten Anforderungen. Der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben hängt dabei insbesondere von der kognitiven Konzeption ab, mit Dreidimensionale Visualisierung der dreidimensionalen Kompetenz-Systematik Funktion des didaktischen Würfels 27 Themenblock 1 Dreidimensionale multimediale Systematik für das Fach Deutsch <?page no="37"?> der die Lernenden rezipierend konfrontiert sind bzw. die ihnen zur Erbringung ihrer Produktionsleistung abverlangt wird. Exemplarisch und als Anleitung zur Ergänzung im Hinblick auf die übrigen Kompetenzbereiche sei nun der weiter oben bereits beispielhaft herausgegriffene Bereich „Sprechen und Zuhören“ in den Würfel der Deutschdidaktik eingeordnet: Das fonische/ akustische Kommunikations- Medium und die doppelte Anforderung sowohl der Produktion als auch der Rezeption weisen für die Konzeption der Distanzkommunikation - die den Standardformulierungen zufolge für die Allgemeine Hochschulreife überwiegend gefordert ist (Tab. 1.2) - den unteren linken, aus zwei hintereinanderliegenden Teilwürfeln gebildeten Quader als Kompetenzbaustein aus. Da jedoch zumindest in den Bildungsstandards der Primarstufe und der Sekundarstufe I zu diesem Kompetenzbereich die Konzeption der Nähekommunikation nicht ausgeschlossen scheint (Tab. 1.2), ist bei schulstufenübergreifender Betrachtung auch noch der linke obere Quader hinzuzufügen, sodass „Sprechen und Zuhören“ die gesamte linke Hälfte des didaktischen Würfels einnimmt. Somit ist dieser Kompetenzbereich sehr komplex und schwierig, zumal er auch die konzeptionelle Distanzkommunikation umfasst. Komplexität und Schwierigkeit sind in Abbildung 1.9 mit vier Teilwürfeln dargestellt. Abb. 1.8 Dreidimensionale und multimediale Kompetenz-Systematik Der Kompetenzbereich „Sprechen und Zuhören“ im didaktischen Würfel 28 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="38"?> Auch konkrete Anforderungen, die an Schüler_innen gerichtet werden, lassen sich im didaktischen Würfel verorten. So ist als Lern-, aber auch als Leistungsaufgabe der Auftrag vorstellbar, unter begleitendem Einsatz einer computergestützten Präsentation einen Vortrag zu halten, der zudem Raum für einen Austausch mit dem Publikum bietet. Nach den Bildungsstandards wären hier allgemein die Kompetenzbereiche „Sprechen und Zuhören“ und „Schreiben“, in der Sekundarstufe II „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ sowie in Primarstufe und Sekundarstufe I „mit Texten und Medien umgehen“ (unter Aussparung des hier eigentlich vorangestellten Lesens) beteiligt. Einzelne Standards aus den letztgenannten drei Kompetenzbereichen erweisen sich als passend für die zusätzlich verlangte grafische/ visuelle Produktion des Vortragstextes und der computergestützten Präsentation (vgl. v. a. zu Letzterer KMK 2004: 11, 12, 15; 2005b: 10, 13; 2005c: 11 f.; 2012: 18, 24). Beide Produkte - Vortrag und Präsentation - haben sich eingedenk der Referatssituation konzeptionell auf Distanzkommunikation auszurichten. Im Schaubild (Abb. 1.10) nimmt sich die Aufgabe eines interaktiven und von einer Computerpräsentation unterstützten Vortrags nach allem Gesagten so aus: Abb. 1.9 Kompetenzbereich „Sprechen und Zuhören“ (blau = Anforderung) Kombinierte Kompetenzbereiche im didaktischen Würfel 29 Themenblock 1 Dreidimensionale multimediale Systematik für das Fach Deutsch <?page no="39"?> Abb. 1.10 Vortrag mit digitaler Präsentation und Gespräch (blau = Anforderung) Bedenkt die Lehrperson nun weiterhin, dass zur Vorbereitung des Vortrags auch - unter Einbezug des Kompetenz(teil)bereichs „Lesen“ - einige grafische/ visuelle Distanz-Kommunikate wie etwa einschlägige informative Schrifttexte oder anspruchsvolle Filme zu rezipieren sind, so erweist sich der Auftrag als noch etwas schwieriger und komplexer (Abb. 1.11). Diese Einordnungsbeispiele sollen zunächst einmal zur exemplarischen Einführung in die Handhabung des deutschdidaktischen Würfels genügen. Die Aufgaben am Ende des Kapitels bieten weitere Gelegenheiten zum Aneignen und Durchspielen der Systematik. Eine Unterteilung nach literaturwissenschaftlich versus sprachwissenschaftlich fassbaren Unterrichtsgegenständen und somit nach Literatur- oder (Zweit-)Sprachdidaktik gibt das integrativ angelegte Würfelmodell nicht vor. Es dient aber bei Bedarf uneingeschränkt auch einem Unterricht, der phasenweise das spezifisch Literarische gegen nicht-literarisch Sprachliches abgrenzt. Solche Demarkationslinien sind selbst im Rahmen eines insgesamt integrativ ausgerichteten Deutschunterrichts immer wieder einmal zu ziehen, denn nur dies bannt die Gefahr, in der Praxis zu vergessen, dass gerade Integration nach einer Phase solchen Unterrichts eine besonders deutliche Grenzziehung zwischen den Fächern, den Fachteilen bzw. den einzelnen Bereichen braucht. Gerade Offenheit des didaktischen Würfels für integrativen oder getrennten Literatur- und Sprachunterricht 30 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="40"?> eine echte Schülerorientierung kann auf ein übersichtliches Ordnungssystem von Fächern und ihren Teilbereichen nicht verzichten (Klotz 2008: 70). Entsprechend mag etwa die Erarbeitung der - hier bislang im didaktischen Würfel noch nicht verorteten - Kompetenzbereiche „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ auf der Primarstufe und Sekundarstufe I sowie „Sprache und Sprachgebrauch reflektieren“ auf der Sekundarstufe II in einem rein sprachbezogenen Grammatikunterricht geschehen. Dieser kann und sollte sich jedoch gewinnbringend abwechseln mit integrativen Unterrichtssequenzen, in denen um der Literatur willen auf grammatische Kenntnisse zurückgegriffen wird, in denen womöglich aber auch das Lesen von Erzähltexten oder Gedichten zu einer Beschäftigung mit grammatischen Fragen führt, die über den gerade vorliegenden Lesetext hinausweisen: Idealerweise ist/ wäre es so, dass nicht nur sprachlich-grammatisches Wissen für das Verstehen, genauer für die Wahrnehmung literarischer Texte in ihrer Ästhetik und Spezifik dienstbar gemacht werden könnte, sondern dass umgekehrt auch vom Umgang mit Literatur der Impuls ausginge, sich genauer mit Sprache zu beschäftigen. (Klotz 2008: 63) Wie integrativ oder separat-grammatisch Sprache und Sprachgebrauch im Unterricht auch immer untersucht oder reflektiert werden, grundsätzlich Abb. 1.11 Vortrag mit digitaler Präsentation und Gespräch - incl. der vorbereitenden Rezeption grafischer/ visueller Distanz-Kommunikate (blau = Anforderung) Integrativer Literatur- und Sprachunterricht Ausschlaggebende Bedeutung der Aufgabenstellung 31 Themenblock 1 Dreidimensionale multimediale Systematik für das Fach Deutsch <?page no="41"?> kommen sämtliche Teilwürfel unseres didaktischen Modells als beteiligt in Frage. Ob nun im konkreten Einzelfall fonische/ akustische oder grafische/ visuelle Medien vorgesehen sind, ob den Lernenden eine produktive oder rezeptive Rolle zugewiesen ist und ob sie dem Konzept der Nähe- oder Distanzkommunikation gerecht werden sollen, entscheiden die jeweilige Aufgabenstellung und Unterrichtsplanung. Die zuletzt angesprochene Einordnung eines Unterrichtsgegenstandes oder einer Anforderung nach dem kommunikativen Konzept der Nähe bzw. Distanz wird freilich oft eine Ermessensentscheidung sein, da sie sich an einer graduellen Skala zwischen zwei Polen zu orientieren hat. Die Dimensionen Medium und Rolle wiederum sind nicht selten jeweils in beiden Teildimensionen realisiert. So ist filmisches Material sowohl fonisch/ akustisch als auch grafisch)/ visuell, und die Aufgabe, einen Film oder etwa einen rein verbalsprachlichen Text zu produzieren, erfordert in der Regel vorbereitende sowie begleitende Phasen der Rezeption. Übungen 1. Benennen und erläutern Sie die drei Dimensionen des deutschdidaktischen Würfelmodells. 2. Welche Funktionen erfüllt der deutschdidaktische Würfel? 3. Ordnen Sie gemäß Ihren Interessensschwerpunkten verschiedene Kompetenzbereiche aus den vier schulstufenspezifischen Bildungsstandards in das deutschdidaktische Würfelmodell ein. Begründen Sie Ihre Einordnungen. 4. Ordnen Sie die folgenden Aufgaben (Textbeispiele 1 und 2) in das deutschdidaktische Würfelmodell ein. Schätzen Sie dabei auch die Komplexität und Schwierigkeit der Aufgaben ein. Begründen Sie Ihre Lösungen: Grenzüberschreitungen in Konzept, Medium und Rolle �� 32 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="42"?> Ein Erzählspiel Spielregel: Drei oder vier Freiwillige aus eurer Klasse verlassen den Raum. Der erste kommt zurück und hört sich die folgende Geschichte an, die ihm vorgelesen wird. Dann kommt der zweite Mitspieler ins Klassenzimmer und hört sich an, wie der erste ihm die Geschichte erzählt. Mitspieler Nr. 2 erzählt die Geschichte für den dritten und so weiter. Die Zuhörer werden in drei bzw. vier Beobachtungsgruppen aufgeteilt. Jede Gruppe achtet auf einen Nacherzähler. Die Bobachtungsgruppen teilen anschließend den vier Erzählern mit, was sie beobachtet oder notiert haben. Textbeispiel 1 (Aus: Ideen Deutsch. Sprach- und Lesebuch. 5. Jahrgangsstufe. Braunschweig: Schroedel 2009: 79) 33 Themenblock 1 Dreidimensionale multimediale Systematik für das Fach Deutsch <?page no="43"?> Aufschneiderei Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausen Einmal befand sich Simplicissimus in einer Gesellschaft, die derartiges Jägerlatein erzählte, dass man ihre Lügen mit den Händen hätte greifen können. Als nun die Reihe auch an ihn kam, dass er etwas von seinen Erlebnissen erzählen sollte, fing er an: „Ich ging einmal mit meiner Flinte hinaus, um mir die Zeit zu vertreiben und zu sehen, ob ich nicht zufällig einen Braten erwischen könnte. […] Da wollte es das Glück, dass ich auf einem Teich eine Ente sah. Ich zielte auf sie und traf sie durch den Kopf. Mitten im Schuss sprang ein achtpfündiger Hecht auf, der gleichfalls von der Kugel getroffen wurde, sodass er seinen Bauch nach oben kehrte. Ich ging auf die andere Seite des Teiches, um zu sehen, wie ich meine Beute herausangeln und ans Trockene ziehen könnte. Da sehe ich, dass die Kugel in einen hohlen Baum gegangen war, in dem ein großer Bienenschwarm hauste. Es kam so viel Honig herausgeschossen, dass ich das Loch mit Moos zustopfen musste. Als ich nun das Moos ausreißen wollte, erwischte ich einen Hasen bei den Ohren, was mich so sehr erschreckte, dass ich ihn mit aller Kraft auf den Boden warf, wobei ich noch eine Schar Rebhühner aus Versehen mit erschlug […]. Dann verstopfte ich das Loch im Baum. Wie ich aber auf die andere Seite des Baumes kam, um auch das hintere Loch zu verstopfen, da fand ich einen sechzehnendigen Hirsch in den letzten Zügen liegen, den meine Kugel auch noch getroffen hatte […].“ „Ei“, sagte ein Zuhörer, das ist ja unglaublich! “ „Ach“, antwortete Simplicissimus, „hättet ihr mich nicht unterbrochen, so hätte ich zum Beispiel noch einen Wolf und ein paar Füchse in meiner Geschichte untergebracht.“ „So, so“, sagte der Zuhörer, „so gibt der Herr also zu, dass er alles erlogen hat! “ „Freilich gebe ich’s zu“, antwortete Simplicissimus, „aber durch das Anhören eurer Geschichten bin ich so angeregt worden, dass ich glaubte, jeder müsste sich solche Lügen aus den Fingern saugen.“ 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 Aufgabe: Vergleicht, wie jeweils die Geschichte von euren Mitschülerinnen oder Mitschülern nacherzählt wurde: Was wurde verändert, ergänzt oder auch weggelassen? Beobachtungsbogen zum Nacherzählen: ▶ Ist der Sinn der Geschichte verstanden? ▶ Wird die richtige Reihenfolge beachtet? 34 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="44"?> ▶ Wurde nichts Wichtiges ausgelassen? ▶ Kommt die Pointe am Schluss zum Ausdruck? ▶ Wird im Präteritum erzählt? ▶ Wie wird die wörtliche Rede wiedergegeben? Textbeispiel 2 (Aus: Praxis: Sprache & Literatur 10 Gymnasium. Braunschweig: Westermann 2009: 190 f.) 35 Themenblock 1 Dreidimensionale multimediale Systematik für das Fach Deutsch <?page no="45"?> Suchen Sie nach Ihren schulstufen- und schulformbezogenen Interessensschwerpunkten weitere Aufgaben aus Schulbüchern heraus. Ordnen Sie diese Aufgaben in das deutschdidaktische Würfelmodell ein. Schätzen Sie dabei auch die Komplexität und Schwierigkeit der Aufgaben ein. Begründen Sie Ihre Lösungen. Verwendete und weiterführende Literatur Klotz, Peter (2008): Integrativer Deutschunterricht. In: Michael Kämper-van den Boogaart (Hg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Völlige Neubearb. Berlin: Cornelsen Scriptor. S. 58-71. KMK = Kultusministerkonferenz (2004): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss. München: Luchterhand. KMK = Kultusministerkonferenz (2005 b): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich. München: Luchterhand. KMK = Kultusministerkonferenz (2005 c): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Hauptschulabschluss. München: Luchterhand. KMK = Kultusministerkonferenz (2012): Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. http: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18-Bildungsstandards- Deutsch-Abi.pdf (19.09.2017). Koch, Peter, Wulf Oesterreicher (1985): Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36. S. 15-43. Koch, Peter, Wulf Oesterreicher (1994): Schriftlichkeit und Sprache. In: Hartmut Günther, Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Halbbd. 1. Berlin: de Gruyter. S. 587- 604. 36 Grundlagen der Deutschdidaktik <?page no="46"?> Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle Inhalt 4 Erst- und Zweitspracherwerb 38 5 Früher Erzähl- und Literaturwerb 43 6 Leseautobiografieforschung 59 7 Ein integratives Modell der Lese- und literarischen Sozialisation - frühe Kindheit 75 Mit dem vorschulischen Spracherwerb geht auch ein Erwerb basaler Strukturen des Erzählens und der spielerischen Sprachgestaltung einher. In diesen Erwerbsprozessen ist bereits eine frühe Literarisierung des Vorschulkindes angelegt. So zeigt sich der jeweilige kindliche Stand der fonologischen Bewusstheit, das heißt der bewussten Wahrnehmung und Unterscheidung der Laute im Sprachsystem, bei der Bearbeitung von Aufgaben zur Reimrezeption und -produktion. Obgleich die frühkindlichen und vorschulischen Prozesse des Erst- und Zweitspracherwerbs einerseits sowie des Erzähl- und Literaturerwerbs andererseits miteinander zusammenhängen, werden sie im Folgenden um der besseren Verständlichkeit willen nacheinander in den Fokus der Darstellung gerückt. Ergänzend erfolgt eine Einführung in den Forschungsbereich zur Lesesozialisation und literarischen Sozialisation, die ihren Anfang bereits vor Schriftspracherwerb und Schuleintritt nehmen und bis zu Adoleszenz und Erwachsenenalter fortschreiten. Schließlich wird ein integratives, nämlich sprach- und literaturdidaktisches Erwerbsmodell vorgestellt, das schulstufenübergreifend angelegt ist, aber zunächst einmal eine Vertiefung hinsichtlich der frühen Kindheit erfahren soll. Überblick 37 Themenblock 2 <?page no="47"?> 4 Erst- und Zweitspracherwerb Die noch nicht bewusste auditive Unterscheidung sprachlicher Laute im Säuglingsalter sowie die parallele Entwicklung der zunächst vorverbalen Lautäußerung, des Lallens, gehen der sogenannten fonologischenBewusstheit voran. Fonologische Bewusstheit ist die Fähigkeit, die lautsprachlichen Strukturen wahrzunehmen. Dazu gehört das Erkennen sprachlicher Elemente wie Einzellaute, Silben oder Wörter. Fonologische Bewusstheit erleichtert den Schriftspracherwerb. Sie ist bei Kindern je nach sprachlicher Vorerfahrung unterschiedlich stark ausgeprägt. Der didaktisch wichtige Begriff der fonologischen Bewusstheit leitet sich vom sprachwissenschaftlichen Begriff der Fonologie ab. Fonologie ist die Lehre von den sprachlichen Lauten, die wiederum Fonologie im engeren Sinne und Fonetik umfasst. Gegenstand der Fonetik sind die Laute beim Sprechen und die damit verbundene Stimmbildung, während die Fonologie im engeren Sinne die Laute der Sprache auf ihre bedeutungstragende und -unterscheidende sowie grammatische Funktion im Sprachsystem hin untersucht. Beide Forschungsbereiche werden für eine überwiegend sprachtheoretisch fundierte Spracherwerbsforschung genutzt. Neben dem sprachwissenschaftlich ausgerichteten Ansatz gibt es entwicklungs- und lernpsychologische sowie psycholinguistische Strömungen der Spracherwerbsforschung. Eine stärkere Integration dieser unterschiedlich spezialisierten Forschungsansätze käme sicher auch der Forschung zur sprachlich-literarischen Sozialisation zugute und bereitete der sprach-(und literatur-)didaktischen Forschung insbesondere im Bereich der Primarstufe einen noch fruchtbareren Boden. Der Erwerb der Fonologie einschließlich der Fonetik geschieht in vier Phasen: 1. Phase des Lallens 2. Einwortphase 3. systematische Simplifizierungsphase 4. fehlerfreie Wortrealisation (Fox-Boyer 2014: 10). Während der bis zum Ende des zweiten Lebenjahres andauernden Einwortphase segmentiert das Kind die Wörter sowohl bei der Rezeption als auch bei der Produktion zunächst noch nicht, nimmt also deren interne Zusammensetzung aus Untereinheiten zunächst noch nicht wahr. Entsprechend vereinfacht, also gegenüber der Erwachsenensprache komplexi- Fonologische Bewusstheit Definition Fonologie Definition Linguistische und psychologische Ansätze der Spracherwerbsforschung Einwortphase bis Ende 2. Lebensjahr 38 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="48"?> tätsvermindert und individuell abgewandelt, sind die ersten 50 erworbenen Wörter. Von da an erweitert sich jedoch der Wortschatz bei vielen Kindern in einem sogenannten „Wortschatzspurt“ (Glück/ Elsing 2014: 4 f.) rasant, unterstützt durch eine beginnende Segmentierung, welche die Aneignung und Abspeicherung neuer Wörter erleichtert. Die zunehmend differenzierte Rezeption von Wörtern in ihrer Feinstruktur fördert von Version zu Version auch die Ausdifferenzierung und Korrektur der Wortproduktion, also der Aussprache der erworbenen Wörter. Ab dem Alter von zwei bis zweieinhalb Jahren treten die Kinder dann in eine Phase systematischerer Wortvereinfachung mit einer konstanteren Gestaltung der einzelnen Wörter ein. Die korrekte Wortartikulation ist schließlich im Alter von vier bis fünf Jahren erreicht. Etwas leichter noch als die artikulatorische Produktion von neuen Wörtern fällt Kindern die rezeptive Aneignung neuer Wortbedeutungen, also die kontextgesteuerte Abbildung von Bedeutungen auf Wortformen, die das Kind aus dem Sprachstrom heraushören kann. Diese Erwerbsleistung geschieht im Kindesalter sehr rasch und wird daher als Fast-Mapping bezeichnet. Wiederholte Begegnungen mit dem so erworbenen Wort werden vom Kind zur Präzisierung der Bedeutung gemäß dem jeweils aktuellen Kontext genutzt (vgl. Glück/ Elsing 2014: 6; Rau 2009: 133 f.). Fast-Mapping ermöglicht den Wortschatzspurt. Es vollzieht sich in drei Prozessen: 1) Die Wortform wird aus dem Sprachfluss herausgehört. 2) Die Wortbedeutung wird erfasst. 3) Wortform und Wortbedeutung werden miteinander verknüpft. Zügig schreitet auch der kindliche Grammatikerwerb voran, denn der Satzbau (Syntax) einerseits und die Morphologie andererseits, zu der die Deklination der Nomen, die Konjugation der Verben, die Wort-Ableitung (Derivation) und die Wort-Komposition gehören, werden nahezu gleichzeitig angeeignet. Darüber, welche Rolle morphologische oder syntaktische Lernfortschritte im interdependenten Erwerbsprozess spielen, besteht in der Forschung noch keine vollkommene Einigkeit. Nach einer Forschungsmeinung trägt die morphologische Beherrschung der regelmäßigen Verb- Konjugation und der entsprechenden Subjekt-Verb-Verbindung zur syntaktischen Fähigkeit etwa eines deutschsprachig aufwachsenden Kindes bei, das Verb in einem Haupt- und Aussagesatz regelkonform an die zweite Stelle, also hinter das einleitende Satzglied zu setzen. Eine andere Forschungsmeinung erklärt die Einhaltung der sogenannten Verbzweitstellung nicht aus dem Morphologie-, sondern aus dem Syntaxerwerb selbst heraus. Der Produktion der Verbzweitstellung geht demnach eine Phase rezeptiver Wortschatzspurt ab 1 ½ Jahren Phase der systematischen Simplifizierung ab 2 Jahren Fehlerfreie Wortrealisation ab 4 Jahren Fast-Mapping im Wortschatzspurt Definition Grammatikerwerb Erwerb der Verbzweitstellung 39 Themenblock 2 Erst- und Zweitspracherwerb <?page no="49"?> Auswertung dieses syntaktischen Phänomens voran (vgl. Siegmüller 2014: 16 f.). Dass grammatische Produktion durch kognitive Verarbeitung auf der Ebene der Rezeption vorbereitet werden muss, ist freilich generell und auch für die Positionierung des Verbs an der zweiten Stelle im Hauptsatz noch nicht ausgemacht: Die Debatte um den Erwerb der Verbzweitstellung steht im Fadenkreuz zwischen der Diskussion um den morphologischen bzw. syntaktischen Erwerbsprozess und der Fragestellung, ob rezeptive oder produktive Schritte im Erwerb vorangehen. (Siegmüller 2014: 17) Es liegen jedoch beachtenswerte Forschungsergebnisse vor, denen zufolge eine rezeptive Verarbeitung der - morphologischen - Deklination und der - syntaktischen - Positionierung von Satzkonstituenten den Erwerb der Verbzweitstellung begleitet. Denn nachdem dieser Erwerb abgeschlossen ist, können bald schon Akkusativ-Objekte korrekt vor oder hinter dem Verb platziert werden. Auch auf eine förderliche Wirkung der syntaktischen Verbzweitstellung auf die Morphologie liefert die Forschung Hinweise: Ist die feste Position des Verbs erkannt, werden davor oder dahinter Subjekt und Objekt flexibel platziert. Hierdurch ergibt sich die lernförderliche Notwendigkeit der Deklination, mit deren Hilfe es beispielsweise zu verdeutlichen gilt, ob der Mann den Hund sieht oder umgekehrt. Die Verbzweitstellung im Hauptsatz bei sonst variabler Wortstellung und der Akkusativ treten in der kindlichen Sprachproduktion für gewöhnlich ab Vollendung des dritten Lebensjahres auf (vgl. Siegmüller 2014: 17 f.). Bei Kindern mit Migrationshintergrund durchläuft der Erwerb des Deutschen als Zweitsprache bis ungefähr zum Abschluss des vierten Lebensjahres in etwa die gleichen Phasen und Schritte des Grammatikerwerbs, wie sie hier für den Erstspracherwerb skizziert wurden. Etwas stärker allerdings unterscheiden sich selbst bei solch frühem Zweitspracherwerb die fonologische und die Wortschatzentwicklung vom Erwerb des Deutschen als Erstsprache. Ab dem Alter von zirka vier Jahren gestaltet sich der Erwerb der Zweitsprache (L2) überwiegend deutlich anders als der Erwerb der Erstsprache (L1) (vgl. Haberzettl 2014: 6 f.). Eine Systematisierung dieses späteren, eigentlichen L2-Erwerbsprozesses in exakten Stufen- oder Phasenmodellen wird in der Forschung teilweise versucht (vgl. Grießhaber 2010: 153-166), ist allerdings kaum ganz zweifelsfrei möglich. Im Zuge des Zweitspracherwerbs lösen einander aber verschiedene vorübergehende Lernersprachen ab, die jeweils eine eigene, relativ stabile Systematik aufweisen. Solche Interimssprachen zeugen bei einer nicht defizitorientierten Betrachtung auch von den Leistungen des in Modifikation Erwerb des Deutschen als Zweitsprache Phasen des DaZ-Erwerbs ab 4 Jahren 40 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="50"?> begriffenen Regelerwerbs. Sie sind zudem von den Strukturen der Erstsprache beeinflusst. Ungeachtet ihrer sprachlichen Herkunft indessen bereitet den Lernenden die Aneignung der festen Verbzweitstellung mit ansonsten flexibler Wortstellung Schwierigkeiten. Die Deklination der Nomen und Pronomen schließlich ist nicht nur für die hier im Mittelpunkt der Betrachtung stehenden L2-Lernenden ab dem vierten Lebensjahr, sondern ebenso für Kinder mit früherem L2-Erwerbsbeginn und sogar für Lernende der Erstsprache (L1) eine beachtliche Herausforderung (vgl. Haberzettl 2014: 9 ff.; Ahrenholz 2014: 167, 170 f., 175 f.). Sowohl für Kinder mit Migrationshintergrund als auch für ausschließlich deutschsprachig aufwachsende Kinder gilt, dass sie im Verlauf ihres jeweiligen vorschulischen Erstspracherwerbs immer komplexere syntaktische Strukturen produzieren. Zudem entwickeln sie ihre Fähigkeit zur Gestaltung mündlicher, in der Regel erzählender Texte, die sich auf Alltagserfahrungen oder etwa auf Bilderbuchinhalte beziehen können, stetig weiter (vgl. Rau 2009: 41-49). Der Ursprung des Erzählens ist jedoch in der kindlichen Entwicklung schon wesentlich früher anzusetzen. Übungen 1. Erklären Sie die Begriffe ‚Fonologie‘ und ‚fonologische Bewusstheit‘. 2. In welchen Phasen vollzieht sich der kindliche Fonologie- und Wortschatz-Erwerb? 3. Was sind Interimssprachen im Erwerb des Deutschen als Zweitsprache? Verwendete und weiterführende Literatur Ahrenholz, Bernt (2014): Lernersprachenanalyse. In: Julia Settinieri, Sevilen Demirkaya, Alexis Feldmeier u. a. (Hg.): Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Eine Einführung. Paderborn: Schöningh. S. 167-181. Barkow, Ingrid, Claudia Müller (2016) (Hg.): Frühe sprachliche und literale Bildung. Sprache lernen und fördern im Kindergarten und zum Schuleintritt. Tübingen: Narr. Ehrmann, Nicole (2014): Konzepte frühkindlicher Mehrsprachigkeit bei Erzieherinnen. In: Ursula Bredel, Irina Ezhova-Heer, Stephan Schlickau (Hg.): Zur Sprache.kɔm. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. 39. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache an der Universität Hildesheim 2012. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen. S. 253-272. Fox-Boyer, Annette (2014): Phonologie- Erwerb. In: Annette Fox-Boyer (Hg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Kindergartenphase. München: Elsevier. S. 9-15. Fox-Boyer, Annette, Christian W. Glück, Caroline Elsing u.a (2014): Erwerb von Phonologie, Lexikon und Grammatik bei Kindern im Alter von 3; 0-5; 0 Jahren. In: Annette Fox-Boyer (Hg.): Handbuch Entwicklung der Erzählfähigkeit �� 41 Themenblock 2 Erst- und Zweitspracherwerb <?page no="51"?> Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Kindergartenphase. München: Elsevier. S. 3-23. Glück, Christian W., Caroline Elsing (2014): Lexikonentwicklung nach dem Wortschatzspurt. In: Annette Fox-Boyer (Hg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Kindergartenphase. München: Elsevier. S. 3-9. Grießhaber, Wilhelm (2010): Spracherwerbsprozesse in Erst- und Zweitsprache. Eine Einführung. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr. Haberzettl, Stefanie (2014): Zweitspracherwerb und Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft. In: Solveig Chilla,Stefanie Haberzettl (Hg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Mehrsprachigkeit. München: Elsevier. S. 3-18. Mehler, Kerstin, Rebekka Weitkamp (2014): Sprachförderkompetenzen in der fachschulischen Ausbildung von ErzieherInnen: Grundlagen und ein Modellprojekt. In: Ursula Bredel, Irina Ezhova-Heer, Stephan Schlickau (Hg.): Zur Sprache.kɔm. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. 39. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache an der Universität Hildesheim 2012. Göttingen: Universitätsverlag Göttingen. S. 273-285. Rau, Marie Luise (2009): Literacy. Vom ersten Bilderbuch zum Erzählen, Lesen und Schreiben. 2. Aufl. Bern: Haupt. Sachse, Steffi (2015) (Hg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Kleinkindphase. München: Elsevier. Schäfer, Blanca (2014): Der Erwerb phonologischer Bewusstheit und ihr Zusammenhang mit anderen sprachlichen Leistungen. In: Annette Fox-Boyer (Hg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Kindergartenphase. München: Elsevier. S. 25-38. Siegmüller, Julia (2014): Entwicklung der Grammatik. 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Es überschreitet dabei die aktuelle Zeitebene und vollzieht so eine kognitive und imaginative Leistung, wie sie auch für das Verstehen fiktionaler Literatur in der Vorlesesituation (und wesentlich später dann beim eigenständigen Lesen) wichtig ist: Geschichten präsentieren Handlungen, die nicht im Hier und Jetzt stattfinden, sondern im Dort und Damals. Sie erlauben in anschaulicher Weise die gelebte Gegenwart zu durchbrechen. (Merkel 2005: 169) Bereits dem erzählenden Kleinkind eröffnet sich daher die Option des Wechsels zwischen narratorialer und figuraler räumlich-zeitlicher Perspektive (vgl. Schmid 2014: 121-141), also zwischen der „Sicht des Erzählenden, der von seinem gegenwärtigen Standpunkt auf die erzählten Ereignisse zurückblickt“, und der „Sicht der handelnden Personen, die in der Erzählung agieren und in deren Situation sich der Erzähler zeitweise versetzt“ (Merkel 2005: 170). Verständlich sind frühkindliche elementare Erzählungen freilich oft nur für Personen, die den jeweiligen Zusammenhang kennen; denn umfassendere sprachliche Mittel, wie etwa grammatische Vergangenheitssignale, beherrscht das Kind zunächst noch nicht. So mag es beispielsweise eine Situation miterlebt haben, in welcher der Vater gestürzt ist. Eine ganze Zeit später, wenn der Vater längst mit anderem beschäftigt ist, sagt es dann womöglich: „Papa fallt.“ Bei aller Interpretationsbedürftigkeit dieser Äußerung ist in ihr gleichwohl eine Alltagserzählung angelegt, insofern ein bemerkenswerter Vorfall aus dem alltäglichen Leben mitgeteilt wird (vgl. Boueke/ Schülein 1991: 16 f.). Und weil das Merkmal des Ungewöhnlichen und Erwartungswidrigen ebenfalls dem literarischen Erzählen von Geschichten wesentlich anhaftet (vgl. Jesch 2009: 80-87), lässt das Zweijährige mit seiner ‚Erzählung‘ von etwas Besonderem wiederum eine Voraussetzung für literarische Kommunikation erkennen. Das Betrachten von Bilderbüchern und der begleitende Austausch mit Erwachsenen unterstützen die frühkindliche Literarisierung, vor allem, wenn Bezüge zur kindlichen Lebenswelt hergestellt werden. Situation, Erfahrungen und Empfindungen des Kindes werden im Buch fiktional überschritten, zugleich aber auch berührt und thematisiert. Im gelingenden Frühkindliches Erzählen Erzählperspektive Sprachliche Beschränkungen frühkindlichen Erzäh- Alltagserzählung Voraussetzung für literarische Kommunikation Vorlesegespräch Anbahnung von Fiktionsbewusstsein 43 Themenblock 2 Früher Erzähl- und Literaturwerb <?page no="53"?> Vorlesegespräch lassen sich Kind und erwachsene Bezugsperson einerseits aus ihrem Alltag entführen und verknüpfen andererseits ihr reales Erleben mit den Objekten und Vorgängen der literarisch dargestellten Welt. Dies schafft einen frühen Zugang zu einer Vorstufe des fiktionalen Als-ob und bereitet das erst im Laufe der Grundschulzeit zu voller Entfaltung gelangende, für eine kompetente Teilnahme an der literarischen Kommunikation unentbehrliche Fiktionsbewusstsein schon vor (vgl. Rau 2009: 19 ff.; Wieler 1995: 59 ff.). Bietet nun ein Kleinkind eine ‚Alltagserzählung‘ an wie: „Papa fallt“, so steht dahinter ein ähnliches Kommunikationsbedürfnis, wie es im Vorlesegespräch zum Zuge kommt. Der väterliche Sturz, als vergangenes Geschehen einerseits auf Distanz gebracht wie eine Geschichte im Bilderbuch, hat das Kind andererseits - nicht zuletzt aufgrund der Besonderheit und Erwartungswidrigkeit des Vorfalls - nachhaltig beeindruckt und will besprochen sein. Eine einfühlsame erwachsene Person wird die ‚Erzählung‘ des Kindes in eigenen Worten wiederholen: „Ja, der Papa ist hingefallen und hat sich wehgetan.“ Die Mutter oder der Vater wird dem Kind so vollständige grammatische Formulierungen und passende Wörter anbieten - sowohl für den Schmerz des Vaters (aus figuraler Perspektive des erzählten Er) als auch eventuell darüber hinaus für die kindlichen Empfindungen (aus figuraler Perspektive des erzählten Ich): „Hat dir das leidgetan? “ und „Das war wohl ein Schreck für dich.“ Auch die Gegenwart wird (unter Bezugnahme auf die narratoriale Perspektive des erzählenden Ich) vielleicht angesprochen: „Bist du noch traurig? “ oder „Bist du noch erschrocken? “ Das Kind erfährt so, dass sein Erzählen und die Reaktion der Eltern darauf ihm helfen, die Gefühle anderer sowie seine eigenen wahrzunehmen - und zu begreifen, also mit sprachlichen Begriffen zu verbinden. Später wird es (sinngemäß) erzählen können: „Einmal ist der Papa hingefallen und hat sich wehgetan. Das war ein Schreck für mich. Aber dann war alles wieder gut.“ Erzählsituationen fördern somit das psychische Wachstum und die Literarisierung des Kindes. Kinder sollten daher in Familie und Kindergarten Raum erhalten, von ihren Erlebnissen und Empfindungen zu erzählen, um sie zu verarbeiten. Kinderliteratur kann für diesen Austausch ein wichtiges Medium sein, aber auch das außerliterarische Leben bietet Anlässe für Erlebnis- oder Fantasieerzählungen. Die so ermöglichten Erzählungen können ganz Unspektakuläres oder durchaus Erwartungswidriges zum Gegenstand haben (vgl. Boueke/ Schülein 1991: 16). Sie können schon einer gewissen Dramaturgie folgen oder noch kaum strukturiert und wenig wirkungsorientiert sein - so wie es eben den verschiedenen Entwicklungsstadien kindlichen Erzählerwerbs auch im Zusammenhang mit den Anfor- Dialog mit dem erzählenden Kind Versprachlichung von Gefühlen Gelegenheiten zum Erzählen schaffen 44 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="54"?> derungen verschiedener Erzähltextformen entspricht. Wichtig ist dabei, dass es für die Erzählfähigkeit des Kindes förderlich ist, wenn es nicht monologisch erzählen muss, sondern beim Erzählen im Austausch mit einer erwachsenen Person steht (vgl. Becker 2011: 177-197; Wieler 2010: 287-291). Dafür bedarf es einer sprachlichen Zuwendung zum erzählenden Kind, die aus einem authentischen Interesse an dessen Befindlichkeit erwächst. Auch die Bekundung eigener Emotionen durch die aktiv zuhörenden Erwachsenen gehört dazu: Geschichten erzählt, wer Zuhörer hat, einen oder mehrere. Zuhören ist wichtig, aber wichtiger noch: aufmerksam, interessiert und teilnehmend zuhören. […] Wie befriedigend ist es für ein Kind, wenn der Zuhörer mitempfindet, wenn das Kind erzählt. Entsprechende emotionale Reaktionen spornen Kinder zum Geschichtenerzählen an. (Rau 2009: 84). Fraglich ist, ob dieser affektive, beziehungsstiftende Kontakt nicht auch bestehen bleiben sollte, wenn Kinder Geschichten anhören, statt sie selbst zu erzählen. Die technischen Möglichkeiten auditiver und insbesondere audiovisueller Erzählmedien sollten dann durch die Stimme und Körpersprache eines anwesenden menschlichen Gegenübers ersetzt werden: Das gestische Erzählen hat gegenüber den medialen Präsentationen […] den Vorzug, dass die Kinder über den Austausch der Zuhörersignale anders in die Geschichte einbezogen werden. (Merkel 2005: 170) Wird die Gestik als Mittel der Illustration kultiviert, „kann man von Kindern nach solchen Erzählstunden immer wieder hören: ‚Das ist ja wie Fernsehen‘ “ (Merkel 2005: 173). Diese Art des gestisch expressiven, untermalenden Vortrags von Geschichten unterstützt Kinder zudem beim Zweitspracherwerb (vgl. Merkel 2005: 178 ff.). Anregungen sowohl zum mündlichen als auch zum multimedial bestimmten Erzählen im Kindergarten (und in der Grundschule) sind in der didaktischen Literatur gleichermaßen zu finden (vgl. Hoffmeister-Höfener 2009; Wieler 2005). Es kommt darauf an, sie möglichst in Individualsituationen, Kleingruppen, Erzählkreisen und Erzählprojekten umzusetzen, um so das wichtige interaktive Moment zu wahren. Im Rahmen des Erstwie des - insbesondere frühen - Zweitspracherwerbs wird von Kindern, die Erzählsituationen und eine literarische Sozialisation erleben dürfen, die basale Handlungsstruktur, die Geschichten über viele Kulturkreise hinweg gemeinsam haben, beiläufig und ohne Erlangung eines bewussten, deklarativen Wissens darüber kognitiv angeeignet und genutzt, um Erzählungen zu rezipieren oder zu produzieren. Dietrich Boueke u. a. sehen dies durch ihre Erfahrung mit Grundschüler_innen bestätigt: Teilnehmendes Zuhören Geschichten hören ohne technische Medien Gestik als Illustration Multimediales Erzählen Erwerb der Handlungsstruktur 45 Themenblock 2 Früher Erzähl- und Literaturwerb <?page no="55"?> Schon bei Kindern im Grundschulalter kann man beobachten, daß es zuverlässig funktioniert: Sie erkennen auf Anhieb, ob ein Text, der ihnen als ‚Geschichte‘ angekündigt wird, tatsächlich eine solche oder irgendetwas anderes ist (Boueke u. a. 1995: 67). Diese Kenntnis über den Aufbau einer Geschichte entwickelt sich aber sogar bereits vor dem Schuleintritt und begünstigt das Verständnis sowie den - später zunehmend - strukturierten Vortrag narrativer Texte: Das Verstehen von Geschichten wird Kindern dadurch erleichtert, dass sie die grundsätzlichen Bauformen einer Erzählung schon kennen, ehe sie sie in eigenen Erzählungen befolgen können. (Merkel 2005: 171) Das Erzähl-Schema, auch als narratives Schema zu bezeichnen, differenziert sich vom vierten bis zum siebten Lebensjahr so weit aus, dass es schließlich eine universale und zugleich elementare Form annimmt: Gemäß diesem Erzählmuster wird stets ▶ eine Veränderung mitgeteilt und damit ▶ ein Verstreichen von Zeit angezeigt. ▶ Eine Anfangssituation, ▶ eine Transformation derselben und ▶ eine Endsituation werden als mindestens drei temporal aufeinanderfolgende Einzelkomponenten dargeboten. Dabei gilt für den Anfangs- und den Endzustand in der Regel, dass sie „um der Vergleichbarkeit willen in irgendetwas übereinstimmen und um der Veränderung willen in irgendetwas differieren“ (Jesch 2009: 80). Denkbar ist in Ausnahmefällen auch die Rückkehr zum Anfangszustand, doch liegt er als zeitlich späterer, aus einer quasi zirkulären Transformation hervorgehender Zustand doch auf einer anderen Ebene als ursprünglich. Auf diesem narrativen, d. h. erzählerischen Fundament jedenfalls baut die eigentliche Geschichte auf. Deren Komposition erfordert einige die basale Narration ergänzende Faktoren: ▶ Die Anfangssituation muss zusätzlich einen Handlungsimpuls geben, auf den hin sich eine Figur ein Handlungsziel setzt. ▶ Diese Figur veranlasst und beeinflusst den Übergang von der Anfangszur Schluss-Situation. ▶ Dabei hat sie sich mit Kontrahent_innen und widrigen Umständen auseinanderzusetzen. ▶ Ihrem Erfolg wird umgekehrt durch helfende Figuren und förderliche Gegebenheiten auch Vorschub geleistet. Merkmale einer Narration Mermale einer Geschichte 46 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="56"?> ▶ Das abschließende Erreichen oder Verfehlen des Handlungsziels setzt das Ende der Geschichte dann handlungslogisch in Beziehung zu ihrem Beginn. ▶ An jeglichem Punkt der Geschichte ist zudem ein Erwartungsbruch möglich, der das Publikum, eventuell aber auch die Figuren selbst überrascht. Dieses für die fiktionale Erzählkommunikation nahezu obligatorische Moment der Erwartungswidrigkeit, das sich innerhalb einer einzelnen Geschichte oft sogar mehrfach geltend macht, verleiht derselben eine Erzählwürdigkeit, die zusätzlich noch durch inhaltliche Relevanz des Erzählten für die Adressat_innen gewährleistet sein mag (vgl. Jesch 2009: 81; Martínez 2011: 7). In linearer und chronologischer Anordnung ergibt sich aus dem Gesagten folgendes abstrakte Schema einer Geschichte (Abb. 2.1): Abb. 2.1 Schema einer Geschichte (t = Zeitraum; * = mögliche Platzierung eines Erwartungsbruchs) (nach Jesch 2009: 82 f.; 2013: 93) story grammar Dieses in der Forschung vom Grundkonzept her immer wieder ähnlich, wenn auch oft als hierarchisch verästelte story grammar reproduzierte Schema (vgl. Boueke u. a. 1995: 67-91) ist kognitionspsychologisch als Muster einer Geschichte zu verstehen, das durch Erfahrung fest in unseren Köpfen verankert ist. Wir aktivieren es im Zuge der Produktion wie Rezeption eines Erzähltextes und füllen es von Slot zu Slot durch konkrete Geschehenselemente aus. Kognitionspsychologie untersucht mentale, d. h. geistige Vorgänge wie das Denken, die Wahrnehmung, das Lernen, das Verstehen und die Sprache. Daher ist sie wichtig für die Deutschdidaktik. Insbesondere die kognitionspsychologische Schematheorie ist für die didaktische Reflexion des Textverstehens interessant. Schemata sind kognitive Muster von Objekten, Situationen und Abläufen, die der menschlichen Erfahrungswelt angehören. Wenn in einem Text solche Gegebenheiten angesprochen werden oder der Text selbst nach einem bekannten - z. B. narrativen - Muster aufgebaut ist, werden in den Lesenden Erzählwürdigkeit Abstraktes Schema einer Geschichte Definition 47 Themenblock 2 Früher Erzähl- und Literaturwerb <?page no="57"?> die passenden Schemata aktiviert. Im Text fehlende Information wird im Leseprozess entsprechend ergänzt. Oder die im Text vorhandenen Informationen konkretisieren das abstrakte kognitive Schema. Im souveränen Spiel mit dem lebensgeschichtlich früh konstruierten Schema einer Geschichte werden fortgeschrittene Erzählende um der Wirkung willen gerne einmal die zeitliche Abfolge entgegen der Handlungslogik vertauschen und womöglich das Ende zuallererst präsentieren, bevor sie dann die vorausgegangene Entwicklung sukzessive aufdecken. Lesende oder Hörende werden die ihnen in einem derartigen Plot zugemutete temporale Permutation, d. h. zeitliche Umstellung wieder rückgängig zu machen und so die originäre Geschichte schemagetreu zu rekonstruieren versuchen. Ein solches Bemühen um zeitliche, aber auch inhaltliche Rekonstruktion der narrativen Struktur bleibt niemandem ganz erspart, der dargebotene Geschichten nachvollziehen möchte - nicht einmal kindlichen Zuhörer_innen, und seien sie im Zweitspracherwerb begriffen: „Sobald sie bemerken, dass ihnen eine Geschichte erzählt wird, werden sie das Gehörte nach dem Grundschema zu ordnen versuchen.“ (Merkel 2005: 180) Medial fonische Erzählungen selbst für jüngere Kinder müssen also nicht streng chronologisch aufgebaut sein, beschränken sich jedoch in der Regel auf das (rekonstruierbare) Grundschema einer einzigen Geschichten- Sequenz von der Anfangsbis zur Endsituation und stellen kaum mehrere solcher Figuren-Handlungen als zeitlich parallel dar. Eher schon lassen sie linear auf eine abgeschlossene Sequenz eine weitere Sequenz folgen. In dieser überschaubaren Weise können sogar längere Episodenketten vorgetragen und von Vorschulkindern in der Erst- oder Zweitsprache erfasst, wenn nicht gar erzählend fortgesetzt werden (vgl. Merkel 2005: 175 f.). Der Reiz eines solchen seriellen Erzählens besteht für Zuhörende wie Darbietende in einem Spiel mit Erwartung und Erwartungsbruch, das zwar den vorhersehbaren regelhaften Ablauf nach dem abstrakten Geschichten-Schema verlässlich wiederholt und dabei auch konkret-inhaltlich einiges beibehält, das aber manche der Inhalte von Sequenz zu Sequenz wirkungsvoll variiert und so die Erzählwürdigkeit der Fortsetzungsgeschichte sichert. Solch eine Verbindung aus durchschaubarer Struktur und Überraschungsmoment erkennt die von der strukturalistischen Literaturwissenschaft ausgehende Literaturdidaktikerin Maria Lypp als „Einfachheit“ im besten Sinne an, die nicht etwa als „Einförmigkeit“ abzuqualifizieren sei (Lypp 1999: 37). Strukturalistische Literaturwissenschaft überträgt den sprachwissenschaftlichen Strukturalismus nach Ferdinand de Saussure auf literarische Texte, indem sie deren Strukturgefüge und das damit verbundene Zeichensystem untersucht. Erzählerische Umstellung der Handlungsfolge Rekonstruktion der Chronologie beim Lesen oder Zuhören Episodenketten Spiel mit Erwartung und Erwartungsbruch Durchschaubare und zugleich überraschende Erzählstruktur Definition 48 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="58"?> Sie hat Methoden für die Literaturanalyse entwickelt, die auch in anderen Richtungen der Literaturwissenschaft eingesetzt werden. Analysiert werden die Erzählinstanz, die Handlungsstruktur und die Bedeutungsstruktur, die auf inhaltlicher Wiederholung und Abweichung beruht. Die strukturalistische Didaktikerin Lypp sieht die Qualität der kinderliterarischen Form der Episodenkette, die maßgeblich vom Prinzip der Wiederholung bestimmt ist, in den zugleich auftretenden Abweichungen: So kann beispielsweise eine Episodenkette, die bevorzugte Erzählform von Bilderbüchern und Vorlesegeschichten, in unzähligen Varianten auftreten, und erst dies ist ausschlaggebend, wenn es um Qualitätsmerkmale geht. (Lypp 1999: 37) Derartige Varianten befürwortet Lypp aus literaturdidaktischer Sicht aber nur dann, wenn der Abschluss der jeweiligen Episodenkette sinnstiftend auf diese zurückbezogen ist, wie es auch der Vorschulpädagoge Johannes Merkel in der erzählerischen Kooperation mit Kindern praktiziert: „Am Ende hänge ich meine Schlussepisode an“, die „einen klaren Schlusspunkt setzt“ (Merkel 2005: 176). Lypp wäre von diesem Vorgehen sicherlich angetan, urteilt sie doch entsprechend: „Prüfstein ist immer der Schluss. Denn Episodenketten laufen, wenn sie auch generell beliebig verlängerbar sind und es nicht eilig haben, einem Ziel zu.“ (Lypp 1999: 43). Lypp betont daher das „Zusammenwirken von Kette und letztem Glied, das jeweils die eindrucksvolle Abweichung am Schluss einer […] Erzählung erzeugt“ (Lypp 1999: 44). Die sinnvolle Abrundung einer Kette elementarer Erzählsequenzen kann auch eine ultimative - aber nicht notwendig erwartungswidrige - Endsituation sein, welche die allererste handlungsauslösende, meist problematische Anfangssituation der einleitenden Episode nach Ablauf der gesamten Episodenkette wieder aufgreift, indem sie eine positive oder negative Bilanz vorlegt. Dass eine derartige Auflösung ausbleibt, lastet Lypp dem bekannten Bilderbuch Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat (Holzwarth/ Erlbruch 1994) als „Konzeptionslosigkeit“ (Lypp 1999: 44) an: Wenn der Maulwurf […] sich auf den Weg macht, um herauszufinden, wer ihm auf den Kopf gemacht hat, erwartet man eine Gerechtigkeitsgeschichte bzw. eine detektivische Spurensuche; es zeigt sich aber, dass stattdessen ein Lernweg beschrieben wird betreffend die Artenvielfalt der tierischen Exkremente (Lypp 1999: 44). Mehr Beifall zumindest bezüglich der handlungslogischen Sequenzgestaltung fände bei Lypp wohl das Gedicht Jockel, die von Theodor Fontane Didaktische Bedeutsamkeit der Schlussepisode Rückbezug der Endsituation auf die Anfangssituation Beispiel einer gelungenen Episodenkette 49 Themenblock 2 Früher Erzähl- und Literaturwerb <?page no="59"?> stammende (hier gekürzte) Version eines volksliterarisch tradierten Erzählgedichts - so hierarchisch und gewaltverharmlosend die Strophen auf den ersten Blick heute anmuten mögen, insbesondere eingedenk einer frühkindlichen Zuhörerschaft: Jockel Sequenz 1: Anfangssituation: t 1 Handlungsimpuls impliziert (Hafer ungeschnitten) Transformation: Der Herr, der schickt den Jockel aus: . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Handlung der Hauptfigur Er soll den Hafer schneiden, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 2 Handlungsziel der Hauptfigur Der Jockel schneidt den Hafer nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Und kommt auch nicht nach Haus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Endsituation: t 4 Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Hafer ungeschnitten) t 4 implizites Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Knecht nicht nach getaner Arbeit zurückgekehrt) Sequenz 2: Anfangssituation: t 1 = Endsituation Sequenz 1 Transformation: Da schickt der Herr den Pudel aus, . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Handlung der Hauptfigur Er soll den Jockel beißen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 2 Handlungsziel der Hauptfigur Der Pudel beißt den Jockel nicht, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Der Jockel schneidt den Hafer nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Und kommt auch nicht nach Haus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Endsituation: t 4 Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Jockel ungebissen) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Hafer ungeschnitten) t4 Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Jockel nicht heimgekehrt) […] Sequenz 10: Anfangssituation: t 1 = Endsituation Sequenz 9 Transformation: t 2 Handlungsziele der Hauptfigur impliziert (Erledigung aller im Zeitraum t 1 gegebenen Versäumnisse) Abb. 2.2 Auszug aus einer Episodenkette mit abrundender Schlussepisode 50 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="60"?> Da geht der Herr nun selbst hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Handlung der Hauptfigur Und macht gar bald ein End daraus. . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Handlung der Hauptfigur Der Teufel holt den Henker nun, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Henker hängt den Schlächter nun, . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Schlächter schlacht’ den Ochsen nun, . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Ochse säuft das Wasser nun, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Das Wasser löscht das Feuer nun, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Das Feuer brennt den Prügel nun, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Prügel schlägt den Pudel nun, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Pudel beißt den Jockel nun, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Jockel schneidt den Hafer nun, . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Und kommt auch gleich nach Haus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Endsituation: t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Henker vom Teufel geholt) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Schlächter gehängt) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Ochse geschlachtet) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Wasser gesoffen) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Feuer gelöscht) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Prügel gebrannt) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Pudel geschlagen) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Jockel gebissen) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Hafer geschnitten) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Jockel heimgekehrt) Die letzte, die Episodenkette abrundende Endsituation, die sich auf die initiale Anfangssituation - und auf alle weiteren Anfangssituationen der aneinandergereihten Sequenzen - zurückbezieht, hat folgende Pointe: Die vom Herrn zunächst erfolglos in Auftrag gegebenen und dann doch noch ausgeführten Gewaltakte müssten die Erreichung des ursprünglichen Handlungsziels, nämlich dass der Hafer geerntet wird, eigentlich vereiteln. Eigentlich nämlich kann ein vom Teufel geholter Henker den Schlächter nicht hängen, ein gehängter Schlächter den Ochsen nicht schlachten, ein geschlachteter Ochse das Wasser nicht saufen, ein ausgesoffenes Wasser das Feuer nicht löschen und ein gelöschtes Feuer den Prügel nicht brennen. Was also sollte den Prügel zum Schlagen des Pudels veranlassen, was diesen zum Beißen des Knechts und was schließlich Letzteren zum Schneiden des Hafers sowie zur Heimkehr? So offenbart sich auf den zweiten Blick - oder beim Pointe der Schlussepisode 51 Themenblock 2 Früher Erzähl- und Literaturwerb <?page no="61"?> zweiten Hinhören -, wie kontraproduktiv die vom Herrn veranlasste Gewaltserie tatsächlich ist. Der Eigenart fiktionaler Literatur ist es zu verdanken, dass die hart gestraften, absichtsvoll die Befehle des Herrn erst verweigernden und dann befolgenden Nebenfiguren lediglich in ihrem Handeln Menschen ähneln müssen. Äußerlich menschenähnlich hingegen brauchen der Ochse und der Pudel nicht zu sein; ja es bedarf zur Erfüllung der Funktion einer literarischen Figur nicht einmal eines erfahrungsgemäß belebten Wesens, wie das Wasser, das Feuer und der Prügel als Beauftragte des Herrn veranschaulichen. Diese Besonderheit des fantastischen fiktionalen Erzählens kommt der kindlichen Tendenz zum Animismus, also zu der Vorstellung, alles wäre belebt und menschenartig, durchaus entgegen. Bezüglich des narrativen Schemas zeigt die obige Analyse von Fontanes Jockel (Abb. 2.2) zudem nochmals, dass bei der erzählerischen Darbietung die handlungslogische Chronologie der Geschichte Umstellungen und Überlagerungen erfahren kann: So werden die Zeiträume t 2 und t 3 teilweise gegenüber ihrer eigentlichen Reihenfolge vertauscht wiedergegeben, und t 4 wird letztlich zeitgleich mit t 3 mitgeteilt. Zudem werden Slots im Akt des Erzählens oft nur implizit gefüllt, wie es auch für die Anfangssituation von Sequenz 1 gilt, in welcher der Herr offenbar als Handlungsimpuls wahrnimmt, dass der Hafer reif für die Ernte sei, oder wie es für sein Handlungsziel gilt, Knecht Jockel möge nach der Ernte wieder heimkehren. Die als Beispiel gewählte Episodenkette veranschaulicht also insgesamt die schon angesprochene Notwendigkeit rezeptiver Rekonstruktion, bei der das Handlungsschema Kindern umso mehr Unterstützung bietet, je besser sie es bereits erworben haben. Die Abfolge immer neuer, dem Handlungsziel des Herrn entgegenstehender Episoden und ihre letztendliche Umkehr in eine gegenläufige Kettenreaktion wirken trotz aller Drastik der ergriffenen Gewaltmaßnahmen erheiternd, ein Effekt, der vor allem der absehbaren Wiederholungsstruktur mit gleichwohl stets überraschenden Variationen zu verdanken ist. Dies ist ein nicht nur im vorliegenden Text zu beobachtendes, sondern verallgemeinerbares literarisches Grundmuster, das nach Lypp Komik erzeugt und kindliche Lust an der Literatur wecken kann: Der serielle Charakter der Episodenkette, ihr mechanisch wirkender Ablauf, die scharfen Schnitte zwischen den Einheiten und die Möglichkeit zu starken Kontrasten sind das Material, aus dem das Komische ist. Das zentrale Phänomen der Kinderliteratur, die Komik, findet in der Kettenerzählung ihren idealen Boden. Prototypisch ist die Kettenreaktion nach Slapstick- Literarische Figur Kognitive Anforderungen der Episodenkette Komik durch Wiederholung und Abweichung 52 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="62"?> Art […]: Ein Ansteckungsphänomen, das sich blitzartig ausbreitet und abrupt ins Gegenteil umschlägt (Lypp 1999: 44; vgl. 43, 45). Begegnungen mit solchen im Sinne Lypps „einfachen“, transparent regelhaften und zugleich von Erwartungsbrüchen bestimmten Erzähltexten machen Kinder mit basalen literarischen Strukturen bekannt, führen sie also ein in die literarische Kommunikation: Unsere Untersuchungen einfacher Texte […] haben ergeben, dass sie nicht eine literarische Lallphase darstellen, sondern bereits die für alle Literatur konstitutiven Prinzipien enthalten. Diese werden in einer beeindruckenden Fülle individueller Abwandlungen gehandhabt. Gerade dieser Nuancenreichtum aber, der durch den Gebrauch weniger stereotyper Verfahren erzielt wird, ist es, der literarische Ausdrucksvielfalt erfahrbar macht und damit eine unschätzbare Einübung in das Kulturmuster Literatur ist. (Lypp 1999: 48, vgl. 42) Ob und unter welchen mehr oder weniger förderlichen Bedingungen Kinder in den ersten Lebensjahren mit solch essenzieller oder anderer Literatur in Berührung kommen, ermittelt die Forschung zur literarischen Sozialisation. Übungen 1. Warum ist es wichtig, Kindern Gelegenheiten zum Erzählen zu bieten? 2. Beschreiben Sie das grundlegende Erzählschema, das sich Kinder bis zum siebten Lebensjahr aneignen können. 3. Welche Merkmale gehören zu einer Geschichte? 4. Erläutern Sie die Struktur von Episodenketten und ihre Wirkung auf Kinder. 5. Vervollständigen Sie die Analyse mit Bleistift: Jockel Sequenz 1: Anfangssituation: t 1 Handlungsimpuls impliziert (Hafer ungeschnitten) Transformation: Der Herr, der schickt den Jockel aus: . . . . . . . . . . . . t 3 Handlung der Hauptfigur Er soll den Hafer schneiden, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 2 Handlungsziel der Hauptfigur Der Jockel schneidt den Hafer nicht . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Und kommt auch nicht nach Haus. . . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Erwerb basaler literarischer Strukturen �� Textbeispiel (Theodor Fontane, „Jockel“) 53 Themenblock 2 Früher Erzähl- und Literaturwerb <?page no="63"?> Endsituation: t 4 Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Hafer ungeschnitten), implizites Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Knecht nicht nach getaner Arbeit zurückgekehrt) Sequenz 2: Anfangssituation: t 1 = Endsituation Sequenz 1 Transformation: Da schickt der Herr den Pudel aus, . . . . . . . . . . . . . . t 3 Handlung der Hauptfigur Er soll den Jockel beißen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . t 2 Handlungsziel der Hauptfigur Der Pudel beißt den Jockel nicht, . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Der Jockel schneidt den Hafer nicht . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Und kommt auch nicht nach Haus. . . . . . . . . . . . . . . t 3 Widerstand durch Nebenfigur Endsituation: t 4 Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Jockel ungebissen) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Hafer ungeschnitten), t 4 Handlungsziel der Hauptfigur verfehlt (Jockel nicht heimgekehrt) Da schickt der Herr den Prügel aus, • Er soll den Pudel schlagen; • Der Prügel schlägt den Pudel nicht, • Der Pudel beißt den Jockel nicht, Der Jockel schneidt den Hafer nicht Und kommt auch nicht nach Haus. Da schickt der Herr das Feuer aus, Es soll den Prügel brennen; Das Feuer brennt den Prügel nicht, Der Prügel schlägt den Pudel nicht, Der Pudel beißt den Jockel nicht, Der Jockel schneidt den Hafer nicht Und kommt auch nicht nach Haus. Da schickt der Herr das Wasser aus, Es soll das Feuer löschen; Das Wasser löscht das Feuer nicht, Das Feuer brennt den Prügel nicht, Der Prügel schlägt den Pudel nicht, Der Pudel beißt den Jockel nicht, Der Jockel schneidt den Hafer nicht Und kommt auch nicht nach Haus. 54 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="64"?> Da schickt der Herr den Ochsen aus, Er soll das Wasser saufen, Der Ochse säuft das Wasser nicht, Das Wasser löscht das Feuer nicht, Das Feuer brennt den Prügel nicht, Der Prügel schlägt den Pudel nicht, Der Pudel beißt den Jockel nicht, Der Jockel schneidt den Hafer nicht Und kommt auch nicht nach Haus. Da schickt der Herr den Schlächter aus, Er soll den Ochsen schlachten, Der Schlächter schlacht’ den Ochsen nicht, Der Ochse säuft das Wasser nicht, Das Wasser löscht das Feuer nicht, Das Feuer brennt den Prügel nicht, Der Prügel schlägt den Pudel nicht, Der Pudel beißt den Jockel nicht, Der Jockel schneidt den Hafer nicht Und kommt auch nicht nach Haus. Da schickt der Herr den Henker aus, Er soll den Schlächter hängen, Der Henker hängt den Schlächter nicht, Der Schlächter schlacht’ den Ochsen nicht, Der Ochse säuft das Wasser nicht, Das Wasser löscht das Feuer nicht, Das Feuer brennt den Prügel nicht, Der Prügel schlägt den Pudel nicht, Der Pudel beißt den Jockei nicht, Der Jockei schneidt den Hafer nicht Und kommt auch nicht nach Haus. Da schickt der Herr den Teufel aus, Er soll den Henker holen, Der Teufel holt den Henker nicht, Der Henker hängt den Schlächter nicht, Der Schlächter schlacht’ den Ochsen nicht, Der Ochse säuft das Wasser nicht, Das Wasser löscht das Feuer nicht, Das Feuer brennt den Prügel nicht, Der Prügel schlägt den Pudel nicht, Der Pudel beißt den Jockei nicht, Der Jockei schneidt den Hafer nicht Und kommt auch nicht nach Haus. 55 Themenblock 2 Früher Erzähl- und Literaturwerb <?page no="65"?> Sequenz 10: Anfangssituation: t 1 = Endsituation Sequenz 9 Transformation: t 2 Handlungsziele der Hauptfigur impliziert (Erledigung aller im Zeitraum t 1 gegebenen Versäumnisse) Da geht der Herr nun selbst hinaus . . . . . . . . . . . . . t 3 Handlung der Hauptfigur Und macht gar bald ein End daraus. . . . . . . . . . . . . t 3 Handlung der Hauptfigur Der Teufel holt den Henker nun, . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Henker hängt den Schlächter nun, . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Schlächter schlacht’ den Ochsen nun, . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Ochse säuft das Wasser nun, . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Das Wasser löscht das Feuer nun, . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Das Feuer brennt den Prügel nun, . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Prügel schlägt den Pudel nun, . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Pudel beißt den Jockel nun, . . . . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Der Jockel schneidt den Hafer nun, . . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Und kommt auch gleich nach Haus. . . . . . . . . . . . . . t 3 Hilfe durch Nebenfigur Endsituation: t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Henker vom Teufel geholt) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Schlächter gehängt) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Ochse geschlachtet) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Wasser gesoffen) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Feuer gelöscht) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Prügel gebrannt) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Pudel geschlagen) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Jockel gebissen) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Hafer geschnitten) t 4 Handlungsziel der Hauptfigur erreicht (Jockel heimgekehrt) 56 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="66"?> Verwendete und weiterführende Literatur Becker, Tabea (2011): Kinder lernen erzählen. Zur Entwicklung der narrativen Fähigkeiten von Kindern unter Berücksichtigung der Erzählform. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Boueke, Dietrich, Frieder Schülein (1991): Kindliches Erzählen als Realisierung eines narrativen Schemas. In: Hans- Heino Ewers (Hg.): Kindliches Erzählen, Erzählen für Kinder. Erzählerwerb, Erzählwirklichkeit und erzählende Kinderliteratur. Weinheim: Belz. S. 13-41. Boueke, Dietrich, Frieder Schülein, Hartmut Büscher u. a. (1995): Wie Kinder erzählen. Untersuchungen zur Erzähltheorie und zur Entwicklung narrativer Fähigkeiten. München: Fink. Eder, Ulrike (2015) (Hg.): Sprache erleben und lernen mit Kinder- und Jugendliteratur I. Theorien, Modelle und Perspektiven für den Deutsch als Zweitsprachenunterricht. Wien: Praesens. Grimm, Hannelore (1998): Sprachentwicklung - allgemeintheoretisch und differentiell betrachtet. In: Rolf Oerter, Leo Montada (Hg.): Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. 4. Aufl. Weinheim: Psychologie Verlags Union. S. 705-757. Hoffmeister-Höfener, Thomas (2009) (Hg.): Erzählwerkstatt im Kindergarten. Berlin: Cornelsen Scriptor. Holzwarth, Werner, Wolf Erlbruch (1994): Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat. 13. Aufl. Wuppertal: Hammer. Jesch, Tatjana (2009): Textverstehen. In: Christine Garbe, Karl Holle, Tatjana Jesch: Texte lesen. Lesekompetenz - Textverstehen - Lesedidaktik - Lesesozialisation. Paderborn: Schöningh. S. 39-102. Jesch, Tatjana (2013): Erzählen - von bleibender Aktualität für den Literaturunterricht? In: Der Deutschunterricht 65 H. 6. S. 90-95. Jesch, Tatjana (2014): Literarisierung von Anfang an: Durch Erzählen sich selbst fühlen und begreifen lernen. In: Claudia Solzbacher, Kristina Calvert (Hg.): „Ich schaff’ das schon …“ Wie Kinder Selbstkompetenz entwickeln können. Freiburg/ Br.: Herder. S. 81-90. Lypp, Maria (1984): Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur. Frankfurt/ M.: dipa. Lypp, Maria (1999): Kinderliteratur als verbale Kunst betrachtet. In: Matthias Duderstadt, Claus Forytta (Hg.): Literarisches Lernen. Frankfurt/ M.: Grundschulverband - Arbeitskreis Grundschule e. V. S. 37-49. Lypp, Maria (2000): Vom Kasper zum König. Studien zur Kinderliteratur. Frankfurt/ M.: Lang. Martínez, Matías (2011): Erzählen. In: Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart: Metzler. S. 1-12. Merkel, Johannes (2005): Erzählen zur Sprachförderung von Migrantenkindern in Kindergarten und Grundschule. In: Petra Wieler (Hg.): Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Freiburg/ Br.: Fillibach. S. 167-183. Rau, Marie Luise (2009): Literacy. Vom ersten Bilderbuch zum Erzählen, Lesen und Schreiben. 2. Aufl. Bern: Haupt. Schmid, Wolf (2014): Elemente der Narratologie. 3. Aufl. Berlin: de Gruyter. Wieler, Petra (1995): Vorlesegespräche mit Kindern im Vorschulalter. Beobachtungen zur Bilderbuch-Rezeption mit Vierjährigen in der Familie. In: Cornelia 57 Themenblock 2 Früher Erzähl- und Literaturwerb <?page no="67"?> Rosebrock (Hg.): Lesen im Medienzeitalter. Biographische und historische Aspekte literarischer Sozialisation. Weinheim: Juventa. S. 45-64. Wieler, Petra (Hg.) (2005): Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Freiburg/ Br.: Fillibach. Wieler, Petra (2010): Vorlesen, Erzählen - Gespräche im Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Axel Krommer, Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts Bd. 2. Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. S. 283-298. 58 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="68"?> 6 Leseautobiografieforschung Die Forschung zur allgemeinen und literaturbezogenen Leseentwicklung von der frühen Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter - die Lesozialisationsforschung - hat wichtige Erkenntnisse aus der Auswertung schriftlicher Leseautobiografien gewonnen. Leseautobiografieforschung untersucht den Einfluss lebensgeschichtlicher Prozesse und Faktoren auf das Lesen. Dazu erhebt sie in größeren empirischen Untersuchungen schriftliche Leseautobiografien. Deren Gemeinsamkeiten wertet sie aus, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, welche Auswirkungen Sozialisationsinstanzen wie Familie und Schule oder Entwicklungsphasen wie Kindheit und Pubertät auf das Lesen haben. Bei den Proband_innen der Leseautobiografieforschung handelt es sich um Studierende. Ihre Lese- und literarische Sozialisation ist daher vermutlich häufiger erfolgreich verlaufen als in anderen Gruppen. Dennoch lassen ihre autobiografischen Rückblicke immer wieder prototypische lebensgeschichtliche Phasen erkennen, die nicht nur von Lesebegeisterung, sondern auch von Lesekrisen bestimmt sind. Die Lesesozialisation setzt während der frühen Kindheit in der Familie ein, unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen in der Regel begleitet und angeregt vor allem von der Mutter, die in der Vorschulzeit noch immer als wichtigste Bezugsperson des Kindes fungiert. In dieser Phase liegt das Zeitfenster für eine gelingende primäre literarische Initiation durch Vorlesen, Erzählen, Rezitation von Kinderreimen und gemeinsames Bilderbuchbetrachten. In einem zweiten Stadium ergänzt nach Schuleintritt die Grundschule die familialen Impulse zur Leseentwicklung. Insbesondere der Schriftspracherwerb markiert eine wichtige Etappe der Lesesozialisation. Tritt in der Kindheit bis etwa zum Alter von 11 Jahren zu den familialen und schulischen Leseanregungen auch die Bibliothek als leseförderliche Institution hinzu, so sind alle klassischen Voraussetzungen für eine lustvolle und ausgiebige Lektüre von Kinderliteratur gegeben. Nach dem Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe I am Ende der Kindheit jedoch, nämlich ab 12 Jahren und bis zum Abschluss der Pubertät mit 15 Jahren, droht eine vor allem literaturbezogene Lesekrise. Im nun erreichten Lebensalter werden die einst genossenen Kinderbücher als thematisch und formal nicht mehr angemessen wahrgenommen. Zugleich erweist es sich als schwierig, an thematisch erwachsenere, aber formal nicht überfordernde Übergangslektüre zu gelangen. Die Schule, Gleichaltrige und nicht buchförmige Medienangebote können in diesem Entwicklungsstadi- Definition Proband_innen der Leseautobiografieforschung Lesekrisen Lesesozialisation in der Vorschulzeit Lesesozialisation in der Grundschulzeit Lesesozialisation in der Zeit der Sekundarstufe I 59 Themenblock 2 Leseautobiografieforschung <?page no="69"?> um als krisenverschärfend oder aber als das Leseinteresse erneuernde Instanzen erlebt werden. Gelingt es nicht, den kindlichen Lesemodus zu transformieren, mündet die Lesekrise in der späten Adoleszenz, auf Sekundarstufe II, in weitestmögliche Lesevermeidung. Überwiegend sind es Jungen, die als Nicht- oder Wenig- Lesende aus ihrer Lesekarriere hervorgehen. Von Deutschlehrkräften und Gleichaltrigen empfangen sie keine leseförderlichen Anregungen, und als junge Erwachsene in Ausbildung und Beruf beschränken sie sich auf die unumgängliche Pflichtlektüre. Ebenfalls mehrheitlich männlich sind die im Zuge der pubertären Lesekrise von der fiktionalen Literatur ganz abgekommenen spätadoleszenten sowie jungerwachsenen Sach- und Fachbuch-Lesenden, die für schu- Abb. 2.3 Biografischer Verlauf der Lesesozialisation Lesesozialisation in der Zeit der Sekundarstufe II 60 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="70"?> lische, freundschaftliche und ausbildungs- oder berufsbezogene Lese-Anstöße oft aufgeschlossen und lesend in erster Linie auf Erkenntnisgewinn, aber auch auf soziale Teilhabe aus sind. Die dritte Gruppe, welche sich nach der Lesekrise formiert, besteht vor allem aus weiblichen Literatur-Lesenden mit noch immer bestehendem Interesse an fiktionaler Lektüre. Sie durchlaufen auf der Sekundarstufe II eine sekundäre literarische Initiation, sind aber in ihren Lesehaltungen nicht einheitlich, insofern sie eher die ästhetischen, bildenden, kommunikativen oder wunscherfüllenden und unterhaltsamen Aspekte literarischer Texte besonders wertschätzen. Zur Veranschaulichung sind die Phasen und Umstände der Lesesozialisation in einem Schaubild zusammengestellt (Abb. 2.3). Etwas eingehender erläutert seien hier ergänzend zum Schaubild über den biografischen Verlauf der Lesesozialisation (Abb. 2.3; vgl. Garbe 2010: 27) die verschiedenen, ab der späten Adoleszenz sich herausbildenden Lesemodi nach Graf (2004: 31-119), die in diesem Lehrbuch teilweise zwecks terminologischer Vereinheitlichung sprachlich (nicht aber inhaltlich) leicht modifiziert sind: ▶ Das Pflicht-Lesen ist ein auf extrinsischer Motivation beruhender Lesemodus, in dem das Lesen auf berufliche sowie ausbildungs- oder studienbezogene Zusammenhänge begrenzt bleibt. ▶ Das Instrumentelle Lesen ist ein auf intrinsischer Motivation beruhender Lesemodus, in dem das Lesen ganz in den Dienst der Informationsaufnahme gestellt wird. ▶ Das Konzept-Lesen ist ein auf intrinsischer Motivation beruhender Lesemodus, in dem das Lesen, einem persönlichen Konzept folgend, um der eigenen (literarischen) Bildung willen betrieben wird. ▶ Das Erkenntnis-Lesen ist ein auf intrinsischer Motivation beruhender Lesemodus, in dem das Lesen um des intellektuellen Genusses an der Wahrnehmung logischer Textstrukturen und an daraus ableitbarer Erkenntnis willen betrieben wird. ▶ Das Partizipatorische Lesen ist ein auf intrinsischer Motivation beruhender Lesemodus, in dem das Lesen um des sozialen Austauschs oder der Umsetzung im sonstigen eigenen Lebenszusammenhang willen betrieben wird. ▶ Das Ästhetische Lesen ist ein auf intrinsischer Motivation beruhender Lesemodus, in dem das Lesen um des intellektuellen Genusses an der Wahrnehmung ästhetischer Textstrukturen willen betrieben wird. ▶ Das Intime Lesen ist ein auf intrinsischer Motivation beruhender Lesemodus, in dem das Lesen ganz in den Dienst persönlicher emotionaler Wunscherfüllung gestellt wird. Lesemodi 61 Themenblock 2 Leseautobiografieforschung <?page no="71"?> Christine Garbe weist im Rahmen ihrer Darstellung der Graf ’schen Lesemodi (vgl. Garbe 2009b: 176 ff.) darauf hin, dass diese in didaktischer Sicht als einander ergänzend anzustreben seien: Unter normativer Perspektive sollte das Ziel einer ganzheitlichen Lesesozialisation darin bestehen, Kindern und Jugendlichen sämtliche Rezeptionsmodi von Texten zugänglich zu machen und sie nicht etwa einseitig auf einen Modus (z. B. des ästhetischen Lesens) auszurichten. (Garbe 2009b: 175 f. [Hervorh. i. Orig.]) Den bisherigen Erkenntnissen der Leseautobiografieforschung ist hinzuzufügen, dass eine jüngere empirische Fragebogen-Erhebung mit 1.347 Schüler_innen der Klassen 5-12, durchgeführt von Marina Mahling in den verschiedenen Schulformen Hessens und Thüringens, zu teilweise neuen Resultaten gelangt. Statt abgrenzbarer krisenhafter Phasen wurde ein mit zunehmendem Alter der Heranwachsenden stetig abnehmendes Leseinteresse festgestellt. Zudem soll die Schule als Instanz der Lesesozialisation deutlich an Bedeutung eingebüßt haben: Diese Untersuchung hat gezeigt, dass die Existenz einer Lesekrise angezweifelt werden muss. Darüber hinaus ist die Einschätzung, welche Bedeutung die verschiedenen Instanzen der Lesesozialisation haben, zu überdenken: Entgegen der bisherigen Forschungsmeinung zeichnet sich ab, dass die Schule aktuell kaum Einfluss nimmt (Mahling 2016: 335). Einfluss auf das Leseverhalten der Jugendlichen übt hingegen laut Mahling durchaus die Familie (vgl. Mahling 2016: 333 ff.), auch wenn diese als Lesesozialisationsinstanz den Gleichaltrigen nachgeordnet ist: „Bei den Schülern ab der 5. Klassenstufe haben die Peers den größten Einfluss auf das Lesen, gefolgt von der Familie“ (Mahling 2016: 335). Zum fehlenden Befund einer Lesekrise konzediert Mahling: „Es ist aber nicht auszuschließen, dass eine Lesekrise bei einem Teil der Schüler bereits früh und bei anderen erst mit etwas höherem Alter eintritt“ (Mahling 2016: 334). Die von Mahling ermittelten Ergebnisse bedürfen weiterer Prüfung. Bestätigen sie sich, so geht ihr Neuigkeitswert möglicherweise darauf zurück, dass nicht nur spätere Studierende befragt wurden. Weitere Gründe können Änderungen in den Sozialisationsbedingungen oder auch das Erhebungsverfahren mit Fragebögen sein. Demgegenüber stützt die Leseautobiografieforschung ihre Einsichten auf längere narrative Texte der Proband_innen. Bei der Auswertung ebendieser Leseautobiografien kommen Kriterienkataloge wie die im Folgenden wiedergegebenen (Tab. 2.1, Tab. 2.2) und jeweils kurz kommentierten zum Einsatz: Neue Forschungsergebnisse zur Lesesozialisation Kriteriengeleitete Auswertung von Leseautobiografien 62 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="72"?> Aufbau/ Selbststrukturierung Instanzen der Lesesozialisation Bedeutung des Lesens in der Kindheit … in der Jugend Sachliteratur Belletristik Deutschunterricht Veränderungen der Lesemotivation Entwicklung der Lesekompetenz Sozioökonomische Faktoren Gegenwart des Lesens Hauptthema der LAB Hauptaussage der LAB Selbstdarstellung? Stilisierung? In Zeile 1 seiner Auswertungstabelle für Leseautobiografien (Tab. 2.1) zielt Werner Graf mit der Kategorie „Aufbau/ Selbststrukturierung“ auf die Textgestaltung, in der letzten Zeile mit der Kategorie „Selbstdarstellung? Stilisierung? “ darüber hinaus auf die autobiografische Selbstpräsentation, die im Text erkennbar wird. Dieser letzte Aspekt wird unten noch vertieft werden. Ein weiterer, hier beispielhaft vorzustellender Analysebogen für Leseautobiografien (Tab. 2.2) spart die Gesichtspunkte der Textstruktur und der Selbststilisierung aus, ist aber insgesamt stärker ausdifferenziert als derjenige Grafs: Allgemeine Angaben Geschlecht Bildungsstand der Eltern Lesen im biografischen Kontext Bedeutung des Lesens Besonders beeindruckende Bücher Lesekrisen/ Zeiten des Nichtlesens Gegenwärtiges Leseverhalten Besonderheiten in der Lesegeschichte Sonstige Mediennutzung/ Medienrituale Tab. 2.1 Auswertungsschema für Lektüreautobiografien (LAB) (Graf 2007: 9) Tab. 2.2 Auswertungsbogen für Lektüreautobiografien: Wie wird man ein_e Leser_in? (nach Garbe u. a. 2009: 221 ff.) 63 Themenblock 2 Leseautobiografieforschung <?page no="73"?> Lesen in der Familie/ in der Kindheit Lese- und Freizeitverhalten in der Familie Vom Vorlesen zum Selberlesen Leseanreger_innen in der Familie: Eltern, Geschwister, Großeltern Besuch von Bibliotheken und Buchläden Gelesene Bücher Lesen in der Schule und in professionellen Zusammenhängen Grundschule Sekundarstufe I Sekundarstufe II Im Unterricht gelesene Lektüren Einzelne (Deutsch-)Lehrer_innen Lesen in Ausbildung und Beruf Lesen und Freund_innen/ Peergroups; Lesen in der Jugend Freizeitlektüre Freund_innen und Cliquen In den ersten beiden Zeilen ihres Analysebogens fragen Garbe/ Philipp/ Ohlsen nach dem Geschlecht der Person, welche die Leseautobiografie verfasst hat, sowie nach dem Bildungsstand ihrer Eltern. Dass das Geschlecht für Leselebensläufe eine Rolle spielt, wurde bereits angedeutet (vgl. Garbe 2008). Auch die Bildungsnähe oder -ferne des Elternhauses ist ausschlaggebend für die Lesesozialisation (vgl. Hurrelmann u. a. 1995; Wieler 1995). Zu beachten ist zudem die Nutzung anderer Medien außer dem Buch, wie Garbe/ Philipp/ Ohlsen in ihrem Auswertungsbogen mit der letzten Kategorie „Sonstige Mediennutzung/ Medienrituale“ des Abschnitts „Lesen im biografischen Kontext“ in Erinnerung rufen (vgl. Hurrelmann u. a. 1995: 34-38). Hinzu kommt als wichtiger Analyseaspekt die in der ersten Zeile des Abschnitts „Lesen in der Familie/ in der Kindheit“ berücksichtigte familiale Freizeitgestaltung, die für das Verhältnis der Kinder zum Lesen als in Gemeinschaftlichkeit eingebettete oder aber isolierte Aktivität bedeutsam ist (vgl. Hurrelmann u. a. 1995: 38 f., 46 ff.). Exemplarisch sei nun leseautobiografisches Material vorgestellt, auf das die obigen Kriterienkataloge etwa bezüglich der Instanzen der Lesesozialisation, der Bedeutung des Lesens in der Kindheit sowie der fraglichen Selbstdarstellung und Stilisierung (vgl. Tab. 2.1) oder bezüglich der in sich Relevanz von Geschlecht und Bildungsnähe für die Lesesozialisation Relevanz der Mediennutzung für die Lesesozialisation Relevanz der familialen Freizeitgestaltung für die Lesesozialisation Auszüge aus Leseautobiografien 64 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="74"?> noch einmal ausdifferenzierten Rubrik Lesen in der Familie/ in der Kindheit (vgl. Tab. 2.2) angewandt werden könnten: Meine Leseerfahrung beginnt meiner Meinung nach bereits mit dem Ansehen von Bilderbüchern und dem Vorgelesen bekommen [sic! ] von Geschichten und Märchen durch meine Eltern. Dies weckte mein Interesse bereits vor der Einschulung für Bücher. (Graf 1995: 99) Diesem Ausschnitt aus der realen Leseautobiografie eines Studenten, der zu Recht vorschulische Vorleseerlebnisse und Bilderbuchrezeption trotz noch nicht entwickelter Lesefähigkeit seiner „Leseerfahrung“ subsumiert, sei die - typische Aussagen in sich vereinende - Leseautobiografie einer fiktiven Studentin hinzugefügt: Solange ich mich erinnern kann, haben Bücher immer eine sehr große Rolle in unserer Familie gespielt. Meine Eltern sind selbst beide begeisterte Leser, dementsprechend groß ist auch der der [sic! ] Buchbesitz meiner Eltern. Von klein auf wurden Bücher selbstverständlich in unseren Familienalltag integriert. Oft saß ich auf dem Schoß meiner lesenden Eltern und tat so, als ob ich auch schon lesen könnte. Meine Eltern redeten häufig über neue Literatur. Oft besuchten wir gemeinsam Bibliotheken und suchten dort neue Bilderbücher für mich aus. Mein Vater las mir am häufigsten vor. Ich liebte seine Stimme, sie war so ruhig. Das Vorlesen übernahm mein Vater sehr gerne. Meine Mutter erzählte mir lieber Geschichten oder sang mir etwas vor. Aber das reichte mir irgendwann nicht mehr. Ich wollte endlich selber lesen.(Garbe/ Philipp/ Ohlsen 2009: 225) Beide zitierten Darstellungen präsentieren bedeutsame Faktoren für eine gelingende literarische Sozialisation: ▶ von Geborgenheit geprägte familiäre Rituale gemeinsamer Rezeption fiktionaler Literatur in Vorlesesituationen und beim Bilderbuchbetrachten ▶ (gesanglicher) Vortrag gebundener, liedhafter Sprache ▶ die habituelle, das Kind einbeziehende Nutzung von Bibliotheken ▶ eine intensive Lesepraxis und Anschlusskommunikation der Eltern ▶ die kindliche Antizipation künftiger Lesefähigkeit ▶ ein umfangreicher Buchbesitz im Elternhaus Laut der grundlegenden empirischen Studie der Lesesozialisationsforschung aus dem Jahr 1993, die das „Leseklima in der Familie“ untersucht, gehen aus Startbedingungen wie den hier lesebiografisch beschriebenen bei ebenfalls günstigem Verlauf der weiteren Leseentwicklung mit hoher Wahrscheinlichkeit „erwartete“ Lesende hervor (Hurrelmann u. a. 1995: 266). Diese Prognose nämlich erweist sich empirisch als gerechtfertigt in Bezug auf Familien, Erwartete Lesende 65 Themenblock 2 Leseautobiografieforschung <?page no="75"?> in denen „der Umgang mit Büchern eine besondere Stellung im Alltag hat“, „überdurchschnittlich viele Bücher und Kinderbücher“ vorhanden sind, die Kinder „mit der Nutzung der Stadtbücherei bzw. einer Buchhandlung vertraut gemacht“ werden, „die Eltern gern, regelmäßig und deutlich länger lesen als der Durchschnitt der Befragten“, „Gespräche über das Gelesene entstehen“, „gesungen“ wird, den Kindern „selbstausgedachte Geschichten erzählt“ werden und „das Vorlesen ein festes Alltagsritual“ ist, „bis die Kinder lieber allein lesen“ (Hurrelmann u. a. 1995: 266 f.). Derart günstige Voraussetzungen ermöglichen in der frühen Kindheit die „primäre literarische Initiation“ (Graf 1995: 99) und somit die erste Weichenstellung für eine erfolgreiche Lesekarriere. Aus vermeintlich leseförderlichen Umständen können allerdings auch „unerwartete“ Wenig-Lesende hervorgehen. Weitere empirisch vorfindliche Entwicklungsverläufe sind diejenigen hin zu „erwarteten“ Wenig-Lesenden und „unerwarteten“ Lesenden (Hurrelmann u. a. 1995: 270, 299, 319). In beiden letztgenannten Fällen fehlen während der Vorschulzeit (und später) viele der in den obigen Leseautobiografien geschilderten leseförderlichen Faktoren. Studierende des Lehramts Deutsch zum Verfassen der eigenen Leseautobiografie anzuregen, ist ein wichtiges Mittel der Förderung ihrer Selbstreflexion, die ihnen wiederum eine Einschätzung der Voraussetzungen ihrer späteren Schüler_innen etwa in der Grundschule erleichtert (vgl. Graf 2007: 3). Allerdings ist bei der Auswertung erhobener Leseautobiografien nach den vorgestellten Kriterien wie angedeutet zu beachten, dass aufgrund von rückblickender Verklärung, Wunschdenken und Streben nach positiver Selbststilisierung, auch als Akt der Anpassung an (vermeintliche) soziale Erwünschtheit, die Erzählung der jeweiligen Entwicklungsgeschichte nicht immer zuverlässig ist. Werner Graf hat „fünf Modelle der Stilisierung nachgewiesen […], nämlich die Chronik, das Bekenntnis, die Rechtfertigung, die Idealisierung und die Selbstreflexion“ (Graf 2007: 10; vgl. Graf 2000): ▶ Die Chronik reinigt die Leselebensgeschichte von emotionalen und sozialen Aspekten, um mit entsprechender Nüchternheit eine zeitliche Abfolge der bewältigten Lektüren zu präsentieren (vgl. Graf 2000: 64). ▶ Gegenstand des Bekenntnisses ist zuweilen eine starke Bindung an das Medium Buch, meist aber eine hochkulturellen Erwartungen nicht genügende Lesepraxis (vgl. Graf 2000: 66). ▶ Letztere lässt oft nach einer Rechtfertigung suchen, die aber nicht überzeugen kann, da sie die zugrunde liegende Problematik nicht berührt, sondern in widersprüchlicher Weise Zeitmangel oder einen schlechten Literaturunterricht vorschützt: Unerwartete Wenig- Lesende Erwartete Wenig- Lesende Unerwartete Lesende Funktion der Leseautobiografie für angehende Deutschlehrkräfte Fünf Modelle der Stilisierung von Leseautobiografien 66 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="76"?> In einem solchen Fall wird man entsprechende Passagen einer Lektüreautobiografie als Rechtfertigungsversuch analysieren; denn einer untauglichen Erklärung kann nicht der Status der Selbstanalyse zugebilligt werden. (Graf 2000: 67) Von Selbstreflexion darf hingegen die Rede sein, wenn die Genese der eigenen Lesepraxis nachvollziehbar erforscht und dabei beispielsweise der erfahrene Deutschunterricht in seiner Wirkung auf die eigene Person sinnvoll hinterfragt oder das selbst vorgebrachte Argument des Zeitmangels als allzu wohlfeil entlarvt wird (vgl. Graf 2000: 70 f.): „Damit wäre die Differenz zwischen einer reflektierten und einer rechtfertigenden Lektüreautobiografie auf den Punkt gebracht“ (Graf 2000: 71). ▶ Wenig reflektiert ist schließlich die Idealisierung des eigenen Leseenthusiasmus als persönlichkeitsbedingt keinerlei Schwankungen unterworfen: Die Lesemotivationsgenese wird in solchen hochstilisierten Selbstdarstellungen nicht hinterfragt, es wird ein den Lesern zugehöriges Lesebedürfnis angenommen. Diese scheinbar natürliche, anthropologische Bedürftigkeit wird im intensiven Leseerlebnis befriedigt. (Graf 2000: 68) Als wichtig stellt sich hier die fantasierte Wunscherfüllung dar, welche oft den Lesegenüssen im Kindesalter zugeschrieben wird: „Dieses Erinnerungsbild einer glücklichen Lesekindheit […] fehlt in kaum einer Lektüreautobiografie dieses Erzählmodells der Selbstvergrößerung“ (Graf 2000: 68). Die aus solcher Lustorientierung heraus sich auch in späteren Lebensphasen als „ ‚Gefühlslesen‘ “ (Graf 2000: 69) oder Intimes Lesen verstetigende und sogar bei schwierigen Texten ausdauernd auf Gratifikation zielende sowie diese zugleich aufschiebende Lektürepraxis kann positiv auf die Lesekompetenz zurückwirken (vgl. Graf 2000: 69). Gleichwohl gilt für die wissenschaftliche Einschätzung und Auswertung von Leseautobiografien: „Idealisierte Lesepassagen stehen unter dem berechtigten Verdacht, Leseprobleme zu unterdrücken oder zu vernachlässigen“ (Graf 2000: 71). Die fünf beschriebenen Formen autobiografischer Stilisierung - Chronik, Bekenntnis, Rechtfertigung, Selbstreflexion und Idealisierung - treten häufig innerhalb einer Leseautobiografie kombiniert auf. Das Verfahren Grafs zu ihrer Zergliederung und Deutung, mit dem er sich dem „methodischen Problem“ der „Leseforschung“ stellt, „‚zwischen den Zeilen lesen‘ zu müssen“, weil „die Lektüreautobiografien meistens nicht durchreflektiert sind“ (Graf 2000: 71), ließe sich durch narratologische, d. h. erzähltextanalytische Begriffe explizieren, wie sie bei der Analyse von Patient_innen-Erzählungen bereits angewandt werden (vgl. Jesch 2008; Narratologische Analyse von Leseautobiografien 67 Themenblock 2 Leseautobiografieforschung <?page no="77"?> 2015). Dieses Vorgehen beruht auf einer Behandlung faktualer Erzählungen, als wären sie fiktionale Literatur. Entsprechend gelangt das Kommunikationsmodell fiktionaler Erzähltexte zur Anwendung, dem zufolge eine ausschließlich im Text (und nicht als realer Mensch) zum Ausdruck kommende Autor_instanz eine fiktive Erzählinstanz einsetzt, mit deren möglicher Unzuverlässigkeit stets zu rechnen ist (vgl. Schmid 2014: 43, 45-64; Jesch 2009: 73 ff.; Lahn/ Meister 2013: 182-187). Der Begriff der Unzuverlässigkeit ist ebenso wenig als moralischer Terminus zu verstehen, wie Graf mittels Analyse der Stilisierung „die Unglaubwürdigkeit der Texte nachzuweisen“ (Graf 2000: 71) sucht. Auch die narratologische Betrachtung der Kommunikationsinstanzen einer Leseautobiografie fokussiert gleich der Stilisierungs-Analyse, die nach der „Funktion im Erzählkonstrukt“ (Graf 2000: 71) fragt, die textinternen Bezüge und ist nicht so sehr am Nachweis einer Abweichung von vermuteten extratextuellen Fakten interessiert. Vielmehr würdigt die hier vorgestellte Spielart der narratologischen Analyse Inkohärenzen als unbewusste Mitteilungen über abgewehrte Inhalte, indem sie die Doppelkommunikation durch Autor- und Erzählinstanz aufmerksam verfolgt (vgl. Jesch 2008: 14; 2015: 100 ff.). Übertragen auf eine Leseautobiografie, sind auch dort zwei Kommunikationsinstanzen anzunehmen - erstens die Autor_instanz als die im Text ‚unhörbar‘ zum Ausdruck kommende Gesamtpersönlichkeit und zweitens die mit wahrnehmbarer ‚Stimme‘ - möglicherweise unzuverlässig - erzählende Instanz. Diese Erzählinstanz spaltet sich wiederum auf in ein erzählendes und ein erzähltes Ich, wie es auch aus der fiktionalen Literatur bekannt ist. Gegenstand der Erzählung ist die Leseentwicklung des erzählten Ich, die durch das erzählende Ich kohärent oder aber widersprüchlich und unglaubhaft dargestellt wird. Sind solche Unstimmigkeiten erkennbar, können sie als letztlich vonseiten der Autor_instanz, also der im Text zum Ausdruck kommenden Gesamtpersönlichkeit, kommuniziert gelten. Diese Gesamtpersönlichkeit teilt so im Text unbewusst mit, dass sie mit ihrer literarischen Sozialisation im Unreinen oder sich über dieselbe im Unklaren ist. Eine bewusste Selbstreflexion, artikuliert durch das erzählende Ich, unterbleibt jedoch. Das erzählende Ich offeriert stattdessen ▶ eine oberflächliche, auf relevante Informationen und gedankliche Verarbeitungstiefe verzichtende Lese-Chronik oder ▶ nicht überzeugende Konstrukte zur Rechtfertigung einer als defizitär empfundenen Lesepraxis oder ▶ nicht auf entsprechend reichhaltigen Erfahrungsberichten beruhende Idealisierungen lesebiografischer Phasen. Kommunikationsmodell fiktionaler Erzähltexte Erzählerische Unzuverlässigkeit Doppelkommunikation durch Autor- und Erzählinstanz Erzählendes und erzähltes Ich 68 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="78"?> Durch kritische Analyse der autobiografischen Texte aber lassen sich die in nicht authentischen Schilderungen auftretenden, eine Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz anzeigenden Widersprüche und Leerstellen - als von der Autor_instanz unbewusst gelieferte Indizien - gerade sehr gut nutzen, um zu tiefergehenden Hypothesen über die eigentlichen, uneingestandenen lesebiografischen Konflikte und Versäumnisse zu gelangen. Genau dies tut letzlich auch Graf, wenngleich ohne dafür eine narratologische Methode in Anschlag zu bringen (vgl. Graf 2007: 9 f.). Bei seiner dementsprechend durchgeführten Untersuchung des leseautobiografischen Textes einer Studentin, aus dem die Vorschulzeit ausgespart bleibt, thematisiert Graf diese Lebensphase nachvollziehbarerweise nicht. Dennoch soll die genannte autobiografische Leerstelle nun in einem narratologischen und zugleich an Grafs Ansatz angelehnten Verfahren mit Aussagen der Erzählinstanz und Indizien der Autor_instanz so verknüpft werden, dass sich daraus eine lesebiografische Hypothese über die frühe Kindheit ableiten lässt. Dabei zeigen sich durchaus inhaltliche Korrespondenzen mit Grafs gleichwohl einen anderen Schwerpunkt setzender Analyse (vgl. Graf 2007: 9 f.). Relevante Auszüge aus der fraglichen Leseautobiografie seien hier zunächst einmal (unter Beibehaltung der Originalgrammatik, -zeichensetzung und -rechtschreibung) wiedergegeben: Vorweg kann festgehalten werden, dass ich heute weniger lese als in meiner Grundschul- und Gymnasialzeit (bes. Sek. I). Meine Eltern haben das Lesen gefördert, indem ich bereits in der ersten Grundschulklasse ‚Schreibschriftbücher‘ bekam und mit kleinen Geschenken zum ‚Lesetraining‘ animiert wurde. […] Meine Mutter war es auch, die mich mit der Stadtbibliothek vertraut machte - ich war vom Lesen besessen und brachte ‚Rucksäcke-voll‘ mit Abenteuer- und Kriminalbüchern nach Hause. […] Während meines Studiums ist es bisher so […]: ich konsumiere oberflächlich eine Vielzahl von Fachliteratur, um eine angemessene Hausarbeit anfertigen zu können, daher hoffe ich, nach meinem Studium endlich mal wieder die Muße zu finden, gute Bücher ‚verschlingen‘ zu können, da ich mir empfohlene Bücher (von Lehrenden sowie Buchtipps) häufig anschaffe und die nur noch darauf warten - wie in meiner Kindheit - gemütlich mit Tee und Plätzchen, gelesen zu werden. (Graf 2007: 7 f.) Wie bereits angemerkt, bleibt in dieser Leseautobiografie die wichtige Entwicklungsphase während der frühen Kindheit unerwähnt. Erwartete Indizien der Autor_instanz Beispielanalyse einer Leseautobiografie Auszüge der analysierten Leseautobiografie 69 Themenblock 2 Leseautobiografieforschung <?page no="79"?> Leser_innen absolvieren in diesen frühen Jahren die primäre literarische Initiation, was für erwartete Wenig-Leser_innen nicht gilt. Das erzählende Ich in der zitierten Leseautobiografie beginnt seine Darstellung mit dem Bekenntnis, gegenwärtig vergleichsweise wenig zu lesen, wohingegen dies in der Schulzeit noch anders gewesen sei. Der Eindruck, dass sich hier eine aktuelle Wenig-Leserin äußert, verfestigt sich angesichts der letzten Zeilen des autobiografischen Textes, in denen das derzeit zu bewältigende Studium als zu zeitaufwändig erscheint, um zusätzlich zu „oberflächlich“ „konsumier[ender]“ Fachlektüre ergänzenden Leseempfehlungen zu folgen, es sei denn durch bloße Anschaffung. Ob einige der ungelesen aufbewahrten Bücher von Lehrenden empfohlen oder vielmehr geschrieben worden sind, bleibt unklar. In beiden Fällen stünden sie aber inhaltlich in Verbindung mit dem Studium. Diese Schlussfolgerung weist das Argument, studienbedingter Zeitmangel halte das erzählte Ich vom Lesen ab, eher als in ihrer Widersprüchlichkeit von der Autor_instanz vorgeführte Rechtfertigung des erzählenden Ich aus denn als Selbstreflexion - wäre doch das verhinderte Lesen womöglich gerade ein Teil des Bildungserlebnisses Studium. Dank Autor_instanz deutlich unpassend erscheint auch die Fantasie, studiennahe und insofern vermutlich anspruchsvolle, zu komplexer intellektueller Verarbeitung anhaltende Literatur in einem gedankenlosen Akt oraler Gier ebenso zu „ ‚verschlingen‘ “ wie die lesebegleitend verzehrten „Plätzchen“. Gegen eine gereifte Lesekompetenz der Studentin spricht zudem das Bekenntnis der - eventuell aufgrund fehlender Lesestrategien notgedrungenen - Oberflächlichkeit bei der als extensiv, nicht aber intensiv dargestellten Rezeption von Fachliteratur. Dieses Lesen ist offenbar nicht durch intellektuelles Interesse, sondern gänzlich extrinsisch als Pflicht-Lesen motiviert und zielt ausschließlich darauf ab, „eine angemessene Hausarbeit“ abzuliefern, nicht aber die eigenen Kenntnisse im gewählten Studiengebiet zu erweitern. Es darf also in Anbetracht von Anfang und Schluss der Leseautobiografie angenommen werden, dass das erzählte Ich zur Gruppe der Wenig-Leser_innen ohne höher entwickelte Lesekompetenz zählt. Offen scheint, ob es sich hier um eine erwartete oder unerwartete Wenig-Leserin handelt. Die Frage soll mit Blick auf die frühe Kindheit behandelt werden, die unter günstigen Umständen Gelegenheit zur primären literarischen Initiation bieten kann. An dieser Stelle jedoch klafft in der Leseautobiografie eine Lücke, die als weiteres der Autor_instanz anzurechnendes Indiz auf eine partiell problematische Lesegenese hinweist. Die Eltern, in der Regel wichtige Instanzen gelingender literarischer Sozialisation während der Vorschulzeit, treten in Stilisierungsform Bekenntnis Stilisierungsform Rechtfertigung Stilisierungsform Bekenntnis 70 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="80"?> der Erinnerung des erzählenden Ich erst nach Schuleintritt auf den Plan. Sie werden ausdrücklich als leseförderlich eingeführt, da sie die Erstklässlerin mit Lektüre versorgen. Zumindest teilweise scheint diese Unterstützung indessen eher dem Leistungsgedanken als der Vermittlung von Lesefreude verpflichtet. Die Tochter soll „mit kleinen Geschenken zum ‚Lesetraining‘ animiert“ werden. Ob diese Geschenke Bücher, Übungsmaterialien oder ganz anders geartete Belohnungen beziehungsweise Motivationshilfen für Leseanstrengungen des Kindes sind, wird nicht erläutert. Eventuell müsste das erzählende Ich sonst auf frühe Schwierigkeiten mit dem Lesenlernen zu sprechen kommen, was dem Bemühen um eine den kindlichen Literaturerwerb betreffende Idealisierung sowohl der Eltern als auch der Grundschulzeit zuwiderliefe. Das Verdienst, durch die womöglich einer Abwehrtendenz geschuldete Unschärfe der Erzählrede immerhin Überlegungen wie die soeben angestellten zu provozieren, käme einmal mehr der Autor_instanz zu, also der bei allem inneren Widerstreben zugleich auch zur Mitteilung drängenden Gesamtpersönlichkeit. In diesem Sinne aufmerken lassen die Übertreibungen bei der Idealisierung des Erfolgs, den die Mutter mit der Heranführung des erzählten Ich an die Stadtbücherei erzielt: Mehrere „Rucksäcke“ voller Bücher werden, wenn auch in vielleicht distanzierend gemeinten Anführungszeichen, als Ausbeute des Bibliotheksbesuchs behauptet. Und das Lesen dieser Büchermengen bereitet dem Mädchen nicht etwa nur Freude, dieses ist vielmehr „besessen“ davon. Was in der hier untersuchten Leseautobiografie über die frühe Kindheit und über eine primäre literarische Sozialisation nicht gesagt wird und was über die Eltern - die eigentlichen Sozialisationsagenten der Vorschulzeit - erst hinsichtlich der Grundschulzeit gesagt wird, lässt bei aller Idealisierungstendenz nicht den Eindruck aufkommen, als herrschte in der Familie des erzählten Ich seit dessen früher Kindheit ein Leseklima zweckloser Freude an Literatur und am Austausch darüber. Dementsprechend wird eine eigene, in ihrer Vorbildhaftigkeit für das Kind gar nicht hoch genug zu veranschlagende (vgl. Graf 1995: 100 f.) Lesepraxis der Eltern nirgendwo angedeutet. Diese Bilanz legt als Antwort auf die oben aufgeworfene Frage die Hypothese nahe, die hier ihre Lesegeschichte entwerfende Studentin sei eine zum Teil erwartete Wenig-Leserin. Zwar hat sie vermutlich (unerwartet? ) eine Phase lustvoller Kinderlektüre durchlaufen, doch hat ihr privates und schulisches Umfeld eine Weiterentwicklung ihrer literaturbezogenen Lesekompetenz auf ein weniger kindliches oder gar erwachsenes Niveau allem Anschein nach weder lebensgeschichtlich früh vorbereitet noch beim Stilisierungsform Idealisierung Stilisierungsform Idealisierung Bilanz der Analyse 71 Themenblock 2 Leseautobiografieforschung <?page no="81"?> Übergang von der Kindheit zur Pubertät und späteren Adoleszenz wirklich anzuregen vermocht. Daher liest die Probandin als junge Erwachsene kaum und ist für die Zukunft nur zur wenig realistischen Hoffnung auf ein Lesen „wie in meiner Kindheit“ imstande. Übungen 1. Beschreiben Sie das Ziel und die Methodik der Leseautobiografieforschung. 2. Welche Phasen der Lesesozialisation hat die Leseautobiografieforschung festgestellt? 3. Welche Lesemodi bilden sich ab der späten Adoleszenz heraus? 4. Erläutern Sie die fünf Modelle der Stilisierung von Leseautobiografien. 5. Vergleichen Sie die unten abgedruckten Auszüge aus der (ihnen teilweise schon bekannten) Leseautobiografie A (Kap. 6) und den unten abgedruckten Abschnitt aus Leseautobiografie B miteinander: Als wie zuverlässig schätzen Sie LAB B gegenüber LAB A bezüglich des Vorschulalters, des Schuleintritts und der Kindheit ein? Auf welche Modelle der Stilisierung nach Graf greift das (in beiden Fällen weibliche) erzählende Ich jeweils zurück? Wo erkennen Sie Widersprüche und Leerstellen als von der Autor_instanz eingestreute Indizien für eine lesebiografische Problemlage? Wenn Ihnen der Einstieg schwerfällt, finden Sie auf der begleitenden Homepage www.bachelor-wissen.de eine Hilfestellung: Lesen Sie bezüglich Leseautobiografie A zur Beantwortung der Fragen den dort zur Verfügung stehenden Auszug aus einer Analyse durch Werner Graf. Überprüfen und begründen Sie die Aussagen Grafs am Text der LAB. �� 72 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="82"?> Leseautobiografie A „Vorweg kann festgehalten werden, dass ich heute weniger lese als in meiner Grundschul- und Gymnasialzeit (bes. Sek. I). Meine Eltern haben das Lesen gefördert, indem ich bereits in der ersten Grundschulklasse ‚Schreibschriftbücher‘ bekam und mit kleinen Geschenken zum ‚Lesetraining‘ animiert wurde. Weiter waren in den einzelnen Grundschulklassen (ich glaube ab der 3. und 4. Klasse) kleine Bücherbestände angelegt worden, von denen ich Büchern wie ‚Die schwarze Sieben‘ u. ä. den Vorzug gab. Meine Mutter war es auch, die mich mit der Stadtbibliothek vertraut machte - ich war vom Lesen besessen und brachte ‚Rucksäcke-voll‘ mit Abenteuer- und Kriminalbüchern nach Hause. […] Während meines Studiums […] hoffe ich, nach meinem Studium endlich mal wieder die Muße zu finden, gute Bücher ‚verschlingen‘ zu können, da ich mir empfohlene Bücher (von Lehrenden sowie Buchtipps) häufig anschaffe und die nur noch darauf warten - wie in meiner Kindheit - gemütlich mit Tee und Plätzchen, gelesen zu werden.“ Leseautobiografie B (fiktiv) „Lesen bedeutet mir heute sehr viel. Ich setze mich gerne mit den gelesenen Texten auseinander, diskutiere über diese, ja oft sind sie einfach ein Weg, um mich mit meinen Problemen auseinander zu setzen [sic! ]. Dass ich heute so gerne lese, habe ich wahrscheinlich meinem Deutschlehrer zu verdanken, denn meine Eltern haben auf das Lesen nicht so sonderlich großen Wert gelegt. Ich kann mich zwar erinnern, dass meine Mutter mir vorgelesen hat, aber meist nur eher widerwillig. Bücher haben meine Eltern gar nicht gelesen. So hatten wir auch zu Hause nicht viele Bücher. Bei uns dominierte eher das Fernsehen. Da mein Vater zu dieser Zeit arbeitslos war, lief der Fernseher fast die ganze Zeit. Ich jedoch habe mich schon immer für Bücher interessiert, schon bevor ich in die Schule kam. Oft nahm ich mir eines der wenigen Kinderbücher, die wir hatten, und blätterte es durch. Bei mir entwickelte sich mehr und mehr das Bedürfnis, diese Zeichen in den Büchern entschlüsseln zu können. In der Schule lernte ich endlich lesen. Ich las immer mehr Bücher, sehr zum Unverständnis meiner Eltern. Doch durch die Bücher gelangte ich in meine eigene Welt, weg von zu Hause, wo ich in meiner Phantasie alles Mögliche erleben konnte. Die Bücher besorgte ich mir in der Schulbibliothek, da meine Eltern nicht genügend Geld hatten, um meine Leselust zu befriedigen [sic! ] und mich sowieso nicht verstanden. […]“ Textbeispiel (Aus: Graf 2007: 7 f.) Textbeispiel (Aus: Garbe u. a. 2009: 233) 73 Themenblock 2 Leseautobiografieforschung <?page no="83"?> Verwendete und weiterführende Literatur Garbe, Christine (2008): „Echte Kerle lesen nicht! ? “ - Was eine erfolgreiche Leseförderung für Jungen beachten muss. In: Michael Matzner, Wolfgang Tischner (Hg.): Handbuch Jungen-Pädagogik. Weinheim: Beltz. S. 301-315. Garbe, Christine (2009 b): Lesesozialisation. In: Christine Garbe, Karl Holle, Tatjana Jesch: Texte lesen. Lesekompetenz - Textverstehen - Lesedidaktik - Lesesozialisation. Paderborn: Schöningh. S. 167-221. Garbe, Christine (2010): Literarische Sozialisation - Mediensozialisation. In: Volker Frederking, Axel Krommer, Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts Bd. 2. Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. S. 21-40. Garbe, Christine, Maik Philipp, Nele Ohlsen (2009): Lesesozialisation. Ein Arbeitsbuch für Lehramtsstudierende. Paderborn: Schöningh. Graf, Werner (1995): Fiktionales Lesen und Lebensgeschichte. Lektürebiographien der Fernsehgeneration. In: Cornelia Rosebrock (Hg.): Lesen im Medienzeitalter. Biographische und historische Aspekte literarischer Sozialisation. Weinheim: Juventa. S. 97-125. Graf, Werner (2000): Modelle der Retrospektion in Lektüreautobiographien. In: ide. Informationen zur Deutschdidaktik. H.2 Lesen in der Medienwelt. S. 62-72. Graf, Werner (2004): Der Sinn des Lesens. Modi der literarischen Rezeptionskompetenz. Münster: Lit. Graf, Werner (2007): Lesegenese in Kindheit und Jugend. Einführung in die literarische Sozialisation. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Hurrelmann, Bettina, Michael Hammer, Ferdinand Nieß (1995): Lesesozialisation Bd. 1. Leseklima in der Familie. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung. 2. Aufl. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Jesch, Tatjana (2008): Erzählungen hirnverletzter Personen: Eine Analyse aus narratologischer Perspektive. 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Esser 2000: 59 ff.), das drei hierarchische Ebenen, ▶ die gesellschaftliche Makroebene, ▶ die familiale Mesoebene und ▶ die kindliche Mikroebene, zueinander so in Beziehung setzt, dass von unten nach oben stets ein Spielraum für die individuelle Ko-Konstruktion der von oben nach unten geltend gemachten kulturellen Normen bleibt: Soziale Bedingungen wirken nicht einfach auf die Individuen, sondern sie werden von diesen interpretiert, aktiv ausgewählt und unter Umständen auch verändert. Umgekehrt entwickeln sich solche Aneignungs- und Veränderungskompetenzen allererst durch die kulturell organisierte Teilnahme der Einzelnen an entsprechenden sozialen Situationen. (Hurrelmann u. a. 2006: 19) Das Leseklima in der Familie - etwa während der hier interessierenden frühen Kindheit - geht aus einer solchen Ko-Konstruktion in Auseinandersetzung mit gesellschaftlich geltenden Lesenormen hervor. Unter den familiär vorgegebenen Konditionen wiederum ko-konstruiert das Kind seine individuelle lesekulturelle Identität. An Norbert Groeben (2004) anknüpfend, übertragen Hurrelmann u.a die soziologischen Termini Logik der Situation, Logik der Selektion und Logik der Aggregation (Esser 1999: 15 f.) auf die Spezifik der familialen Lesesozialisation. Mit der Logik der Situation, also der Geltung und Variabilität anerkannter Lesekulturnormen, sehen sich handelnde Eltern auf der familialen Mesoebene durch die übergeordnete gesellschaftliche Makroebene konfrontiert. Gemäß der Logik der Selektion verhalten sie sich zu dieser normativen Situation, indem sie die vorgefundenen Werte und Handlungsoptionen ganz oder teilweise übernehmen, in eigener Weise verknüpfen, sie abwandeln oder gänzlich zurückweisen. Das hieraus hervorgehende lesekulturelle Ergebnis wirkt, sofern sich ähnliche Ko-Konstruktionen vieler Familien kumulieren, also ein Aggregat Grundlage: Mehrebenen-Modell familialer Lesesozialisation Individuelle Ko-Konstruktion kultureller Normen Logik der Situation, Selektion und Aggregation 75 Themenblock 2 Lese- und literarische Sozialisation - frühe Kindheit <?page no="85"?> bilden, gemäß der Logik der Aggregation normverändernd auf die gesellschaftliche Makroebene zurück. Analog ko-konstruiert das Kind auf der Mikroebene in Interdependenz mit der in seiner Familie auf der Mesoebene herrschenden Lese(un)kultur seine erwartete oder unerwartete individuelle Lesehaltung. Infolge einer Häufung seiner entsprechend eigenwilligen Impulse oder ihrer Verstärkung durch Geschwister beziehungsweise befreundete Kinder kann die Logik der Aggregation das Leseklima in der Familie verändern und so indirekt sogar zu einem Wandel auf der gesellschaftlichen Makroebene beitragen (vgl. Garbe 2009b: 173 f., 182). Aus lesebiografischer Sicht weist allerdings Garbe zu Recht darauf hin, dass gerade die Einflussmöglichkeiten von Kindern in Anbetracht ihrer nachhaltigen familialen Prägung nicht überschätzt werden sollten: Im konkreten Fall werden jedoch einem solchen Kind aufgrund seiner lebensgeschichtlich erworbenen Dispositionen de facto weniger Optionen zur Verfügung stehen. Dies betrifft die biografische Dimension von Entwicklung. (Garbe 2009b: 174 [Hervorh. i. Orig.]) Auch für die erwachsenen Handelnden auf der familialen Mesoebene ist diese Ergänzung beim folgenden Blick auf das Mehrebenen-Modell familialer Lesesozialisation (Abb. 2.4) noch hinzuzudenken (vgl. Garbe u. a. 2006: 116): Abb. 2.4 Mehrebenen- Modell familialer Lesesozialisation (Hurrelmann u. a. 2006: 24) Garbe u. a. setzen mit ihren Überlegungen zwar an diesem Modell an, möchten aber darüber hinaus eben den biografischen Faktor, also die „ontogenetische Entwicklungsdimension auf Seiten des Individuums“ (Gar- Eingeschränkte kindliche Ko-Konstruktion Bedeutung der individuellen Entwicklung für die Lesesozialisation 76 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="86"?> be u. a. 2006: 116), berücksichtigen. Die Autor_innen bemängeln an der Lesesozialisationsforschung, dass sie auf die dem Individuum aus Sicht der Lesebiografieforschung, Entwicklungspsychologie und Spracherwerbsforschung innewohnenden Entwicklungsdynamiken zugunsten der äußeren Sozialisationsbedingungen zu wenig Wert gelegt habe: Kinder und Jugendliche haben bestimmte Entwicklungsaufgaben bzw. literale und literarische Kompetenzerwerbs-Aufgaben zu bewältigen, deren Reihenfolge nicht beliebig ist - weder untereinander noch hinsichtlich des Lebensalters, in dem sie geleistet werden können. (Garbe u. a. 2006: 116) Dieser in der Lesesozialisationsforschung innovative Ansatz einer integrativen literatur- und sprachdidaktischen Beschreibung des Kompetenzerwerbs auch auf der Basis von endogenen, d. h. aus dem Inneren der Individuen erwachsenden Erwerbs- und Entwicklungsaufgaben wäre durchaus geeignet, der wissenschaftlichen Fundierung der Bildungsstandards neue Impulse zu geben - derer sie, wie Kapitel 111 gezeigt hat, gerade bezüglich der Erwerbsperspektive dringend bedürfte (vgl. Garbe u. a. 2006: 116, 126 f.). Das integrative Modell der Lese- und literarischen Sozialisation, das Garbe u. a. vorgelegt haben, hat bislang keine derartige - bildungsrealpolitisch ohnehin unwahrscheinliche - Wirkung entfaltet und auch die in ihm vorgezeichnete Entwicklung eines Lesecurriculums nicht angestoßen. Das mag zum einen an der von den Verfasser_innen eingestandenen Skizzenhaftigkeit (vgl. Garbe u. a. 2006: 128) seiner Erstpräsentation liegen: Unser Entwurf ist angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes und der Komplexität des Gegenstandes in mehreren Punkten hypothetisch, vereinfachend und teilweise additiv geblieben; Fragen nach den Einflüssen von sozialer Schicht, (sozialem) Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und sozialem Wandel stellen wir ebenso zurück wie die Frage nach interindividuellen Unterschieden […]. (Garbe u. a. 2006: 117) Zum anderen lässt das Modell - wie im obigen Zitat bereits angedeutet - die vielschichtigen und nur interdisziplinär zu erforschenden Bedingungen der Leseentwicklung erahnen. Es eröffnet somit eine weitere Baustelle in der deutschdidaktischen Forschung, ohne dass das benötigte Fachpersonal schon entsprechend zahlreich, qualifiziert und kooperationsbereit zur Stelle wäre. Der von Garbe u. a. erhobene integrative, auf die theoretische, empirische und didaktische Zusammenschau von Literatur- und (Schrift-) Spracherwerb zielende Anspruch ist daher bisher nur in Ansätzen eingelöst und einlösbar (vgl. Pieper 2010: 111 f.). Problembewusstsein zeigen die Urheber_innen des Modells außerdem bezüglich der Mittelschichtorientierung der mit studentischen Proband_innen arbeitenden Lesebiografieforschung, auf deren Phaseneinteilung sie sich Integratives Modell der Lese- und literarischen Sozialisation: geringe Wirkung Mittelschichtorientierung des Modells 77 Themenblock 2 Lese- und literarische Sozialisation - frühe Kindheit <?page no="87"?> bei der eigenen Beschreibung von Entwicklungsplateaus stützen. Sie rechtfertigen dieses Vorgehen als Entwurf eines idealen Erwerbsverlaufs, der mittels kompensatorischer lesedidaktischer Angebote im schulischen Bereich auch Kindern aus bildungsfernen Unterschichtmilieus zu ermöglichen sei: Da wir eine Grundlage für curriculare Konzepte und Entscheidungen hinsichtlich einer entwicklungssensitiven Sequenzierung von Lehr-/ Lernzielen skizzieren wollen, orientiert sich unsere Modellierung implizit am Kriterium optimaler Entwicklungsverläufe, in denen die von den Instanzen der Meso- Ebene (Familie, Schule, peer group) angebotenen Mitgliedschaftsentwürfe bezüglich der Lesekultur optimal zu den Lernvoraussetzungen der Heranwachsenden passen. Diese normative Dimension ist auf der anderen Seite an die Notwendigkeit geknüpft, gerade den Kindern und Jugendlichen, die keine optimalen Lesesozialisations-Bedingungen vorgefunden haben, angemessene Förderungsmöglichkeiten anzubieten. Dies ist unbestreitbar eine der drängendsten Herausforderungen insbesondere für die formelle Sozialisationsinstanz Schule. (Garbe u. a. 2006: 117 [Hervorh. i. Orig.]) Früh schon formuliert Hurrelmann eine ähnliche Vorstellung von der Vorbildhaftigkeit gelingender literarischer Sozialisation - in Kindheit und Jugend, in Familie und Peergroup - für die Gestaltung des Schulunterrichts (vgl. Hurrelmann 1994: 23). Gegen von anderer Seite dennoch geäußerte Kritik (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 29; Pieper 2010: 111) betont Garbe die Förderperspektive eines idealen Sozialisationsmaßstabs. Sie eröffne sich für sämtliche Schulformen und milieuübergreifend auch für außerschulische sowie vorschulische Sozialisationsinstanzen - nicht zuletzt für Kinder aus Migrantenfamilien (vgl. Garbe 2009a: 36; Garbe u. a. 2006: 134). Wenngleich das Modell insgesamt ein noch unausgeführtes „Forschungsprogramm“ (Garbe 2009a: 36) ist, leistet es doch eine wichtige Hilfestellung zur Strukturierung des lesepädagogischen und lesedidaktischen Feldes, die auch im vorliegenden Lehrbuch in Anspruch genommen werden soll. An dieser Stelle sei zunächst einmal die frühe Kindheit von der Warte des Erwerbsmodells aus beschrieben, wobei es erläuternd eine Reihe von bereits als wichtig herausgestellten Gesichtspunkten wieder aufzugreifen gilt. Die frühe Kindheit zwischen 0 und 6 Jahren ist innerhalb des Modells auf dem „Plateau der Emergenz und Interpersonalität“ (Garbe/ Holle/ von Salisch 2006: 129) verortet. Damit ist gemeint, dass die Literalität auf diesem Plateau emergiert, d. h. im allerersten Entstehen, im Werden und Erwachen begriffen ist und dass der damit einhergehende Literaturerwerb an Interpersonalität zwischen Kind und Bezugsperson gebunden ist. Ideales Erwerbsmodell für alle? Das Modell als Strukturierungshilfe Frühe Kindheit Plateau der Emergenz und Interpersonalität Literalität 78 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="88"?> Literalität ist die Lese- und Schreibfähigkeit. Sie schließt die Anlage zur Sprachreflexion und zur Herausbildung des kommunikativen Konzepts der Distanz ein. Da das Vorschulkind in seiner Lebenswelt allenthalben Schriftgebrauch beobachtet und Schrifterzeugnisse wahrnimmt, übt es mit präliteraler Kritzelschrift bereits die Produktion schriftsprachlicher Äußerungen. In der logografemischen Phase vor Beginn des eigentlichen Schriftspracherwerbs erkennt es dann einprägsame Schriftzüge wie etwa Werbeembleme, malt diese ‚schreibend‘ nach und lernt in der Regel schließlich einige (in solchen Logos exponierte) Buchstaben schreiben. Günstigenfalls macht das Kind zudem (teilweise schon thematisierte) Erfahrungen mit grafischen/ visuellen Medien, indem es sich aus (Bilder-)Büchern vorlesen lässt und dabei das Gespräch mit der vorlesenden Person sucht, aber auch indem es - im präliteralen Stadium - zu Schrifttexten greift, um das Lesen zu imitieren und simulieren (vgl. K. B. Günther 1995: 99-106; Valtin 1997: 79, 81 f., 83). Wie weiter oben bereits angesprochen, rezipiert das Kind darüber hinaus medial fonische/ akustische, frei durch ein lebendiges Gegenüber oder auf Hörmedien vorgetragene Erzählungen und produziert selber welche, die sich im Zuge des früh einsetzenden Erzählerwerbs allmählich dem Konzept der Distanzkommunikation annähern. Zu dieser prä- und paraliterarischen (Hurrelmann u. a. 1995: 140) Praxis können wie früher schon geschildert auch das von erwachsener Bezugsperson und Kind gemeinsam gepflegte Spiel mit Sprache, das Rezitieren von Reimen oder das Singen von Liedern gehören. Zu solchen Formen dialogischer, interpersonaler Literarität, wie Garbe u. a. (2006: 131) sie auf dem hier erläuterten frühesten Plateau ihres Modells idealerweise begünstigt sehen, trägt nicht zuletzt die in Kapitel 4 angesprochene Entwicklung fonologischer Bewusstheit Entscheidendes bei - ebenso wie zur Emergenz von Literalität. Der frühe Erwerb von Literalität geschieht kaum weniger als derjenige der Literarität im Austausch mit wichtigen Bezugspersonen, und beide miteinander verflochtenen Erwerbsstränge sind laut Garbe u. a. in ein soziales „Wir“ eingebunden: Literale wie (prä- und para-) literarische Erfahrungen werden hier grundsätzlich im Modus der direkten Interaktion (meist mit einem ,kompetenten Anderen‘) gemacht; Bezugspunkt aller literalen Erfahrungen ist somit ein Wir, eine Einbettung aller Erfahrungen mit Schrift in einen (mündlichen) Dialog. (Garbe u. a. 2006: 130 [Hervorh. i. Orig.]) Somit sind nun alle Aspekte angesprochen, welche im folgenden Schaubild (Abb. 2.5) das erste Plateau der literalen und literarischen Entwicklung Frühe Erfahrungen mit Schrift Frühe Erfahrungen mit Literatur Beitrag der fonologischen Bewusstheit Interpersonalität 79 Themenblock 2 Lese- und literarische Sozialisation - frühe Kindheit <?page no="89"?> verstehen helfen. Die beiden späteren Plateaus, welche die Übersicht über das gesamte Modell ebenfalls zeigt, sollen erst weiter unten im Zusammenhang mit der schulischen Primarbzw. Sekundarstufe kommentiert werden. Abb. 2.5 Plateaus der literalen und literarischen Entwicklung (nach Garbe u. a. 2006: 129) Das Schaubild (Abb. 2.5) zeigt schon einen wichtigen Vorzug in der Konstruktion des Kompetenzerwerbs, obwohl hier bislang nur das erste Plateau im Modell der literalen und literarischen Entwicklung nach Garbe u. a. erläutert worden ist: Eingedenk der in Kapitel 1 reflektierten Problematik einer stufenförmigen Modellierung, die der Kontinuität von Lernprozessen aufgrund der Unterstellung von Entwicklungssprüngen aus lernpsychologischer Sicht kaum gerecht würde, entwerfen Garbe u. a. einander überlagernde Plateaus. Dies veranschaulicht, dass erreichte Kompetenzen und Strategien nicht von Lernstadium zu Lernstadium gekappt und jeweils durch völlig neue ersetzt werden, sondern dass sie den gesamten Erwerbsprozess über nachwirken und sich weiterentwickeln. Zudem bietet die Annahme von in nachfolgende Phasen hineinragenden Kompetenzausprägungen gebührenden Raum für - durch ein altersgebundenes Stufenmodell schwerer zu berücksichtigende - unterschiedliche Entwicklungstempi. Von solchen nämlich ist faktisch auszugehen, nicht zuletzt aufgrund der „Unverfügbarkeit und Eigensinnigkeit“ des Individuums, mag dieses auch jeglicher Entwicklungsplateaus statt Stufen 80 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="90"?> Regelhaftigkeit nicht gar so fernstehen, wie Faulstich es ihm oben in Kapitel 1 zuzutrauen scheint. Zudem ist als Voraussetzung für das Modell schichtförmig ineinandergreifender Plateaus zu beachten, dass sich ein Individuum bezüglich verschiedener Kompetenzfacetten zuweilen gleichzeitig auf verschiedenen Plateaus bewegt. Garbe u. a. fassen die genannten Besonderheiten ihres Modellentwurfs in folgende, zum Teil präzisierende und konkretisierende Worte: Die einzelnen Plateaus weisen zwar eine Sequenzierung auf und sind durch markante Übergänge gekennzeichnet (Eintritt in die Grundschule, Übergang in die weiterführenden Schulen und in berufliche Kontexte). Sie überlappen sich aber in einer dreifachen Weise: (a) Unter der Perspektive individueller Entwicklungsverläufe sind schnellere und langsamere Progressionen zu erwarten, und zwar sowohl was Zeitpunkt und Ausdehnung von Spurts innerhalb der Plateaus als auch Übergänge von einem Plateau zum anderen betrifft. (b) Mit dem Erreichen eines höheren Plateaus gehen die Fertigkeiten im Lesen und Schreiben, die auf der Basis des jeweils vorangehenden Plateaus erworben wurden, nicht verloren, sondern sie erhalten eine neue Qualität. (c) Weiterhin ist davon auszugehen, dass einzelne Dimensionen der literalen und literarischen Kompetenz mit unterschiedlichen Plateaus verbunden sein können. (Garbe u. a. 2006: 129 f.) Eine weitere Grundannahme des Modells ist, dass die „Merkmale von Lesekompetenz“ (Hurrelmann 2002: 277) in der Weise gegeben sind, wie Bettina Hurrelmann sie als auf die Rezeption fiktionaler und faktualer Texte gleichermaßen zutreffend zusammenfasst: Lesen […] ist, unabhängig von der Art der gelesenen Texte, ein konstruktiver Akt. Textverstehen verlangt kognitive Leistungen, motivationale und emotionale Beteiligung, die reflexive Begleitung des Rezeptionsprozesses auf Metaebene und als kulturelle Praxis auch die Fähigkeit zur Teilnahme an Anschlusskommunikationen in sozialer Interaktion. (Hurrelmann 2002: 277) Keineswegs also wird Lesekompetenz von der Deutschdidaktik als bloße Verstandesfähigkeit gedacht. Eine stabile Bereitschaft zum Lesen sowie die ganzheitlich die gesamte Person, also auch ihre Gefühle, betreffende Wahrnehmung des zu Verstehenden gehören dazu. Darüber hinaus können kompetent Lesende Abstand von ihrem eigenen Rezeptionsprozess nehmen. Sie sind in der Lage, diesen zu beobachten und seine Resultate zu beurteilen - kurz: eine Metaebene, eine übergeordnete Ebene zu betreten. Schließlich umfasst Lesekompetenz auch noch den Austausch mit anderen über das Gelesene, der in der deutschdidaktischen Terminologie als Anschlusskommunikation bezeichnet wird. Alle diese Bestandteile der Lesekompetenz gehen ein in die konstruktive Aktivität, als die das Lesen zu begreifen ist. Ganzheitlichkeit der Lesekompetenz 81 Themenblock 2 Lese- und literarische Sozialisation - frühe Kindheit <?page no="91"?> Hurrelmann bündelt die Elemente der Lesekompetenz in drei von ihr jeweils noch einmal differenziert erläuterte Dimensionen (vgl. Hurrelmann 2002: 277 ff.): 1. Kognition 2. Motivation und Emotion 3. Reflexion und Anschlusskommunikation Sich auf diese Einteilung berufend, zeichnen Garbe u. a. (2006: 132; vgl. 127 f., 133 ff.) ein „[l]iterales/ literarisches Kompetenzprofil auf dem Plateau der Emergenz/ Interpersonalität“. In tabellarischer Form (Tab. 2.3) offenbart es zahlreiche Anknüpfungspunkte an die weiter oben bereits mit der frühen Kindheit verbundenen Aspekte: ▶ An die Bedeutsamkeit einfacher literarischer Sprache im Sinne Lypps erinnert es, wenn von „sinnlich-poetischen Sprachspielen“ die Rede ist. ▶ Die Bedeutsamkeit einer lebendigen Vorlese- und Erzählpraxis ist berücksichtigt, wo von dem „Bedürfnis nach Vorleseroutinen“, dem „Eröffnen von und Einstieg in Vorlesesituationen“ sowie von der „Fähigkeit zum Verstehen (und Erzählen) einfacher Geschichten“ die Rede ist. ▶ Die Unterscheidung zwischen fonischem/ akustischem und grafischem/ visuellem Medium klingt an, wenn „[m]ündliches Erzählen“ dem „Vorlesen“ aus einem Schrifttext gegenübersteht und beides dem „oralen Handlungsfeld“ zugeordnet ist. ▶ Die Unterscheidung zwischen dem Konzept der Nähe und dem Konzept der Distanz klingt an, wo „mündliches“ und „literales Erzählregister“ ein Gegensatzpaar bilden. ▶ Das präliterale ‚Schreiben‘ und ‚Lesen‘ kehren als „Schreiben-Spielen“ und „Lesen-Spielen“ wieder. ▶ Die Vorbereitung des Fiktionsbewusstseins durch fiktive Welten und durch deren Bezüge zur eigenen außerliterarischen Lebenswelt ist angesprochen, wo die „[e]mergierende Fähigkeit zur Unterscheidung von Spiel (Fiktion) und Realität“ sowie das „Verbinden von Elementen der ‚Textwelt‘ mit eigenen Erfahrungen“ aufgeführt sind. ▶ Das Spiel mit Erwartung und Erwartungsbruch in fiktionalen Erzähltexten steht im Hintergrund, wo von „Erwartungsbildungen über den weiteren Handlungsverlauf “ und „überraschenden Wendungen“ die Rede ist. Ob die Zuordnung der (soeben teilweise zitierten) Kompetenzfacetten zu den drei Kompetenzdimensionen Emotion/ Motivation, Kognition oder Anschlusskommunikation/ Reflexion stets zwingend und eindeutig ist, wäre freilich zu hinterfragen; denn „Erwartungsbildungen“ sind nicht nur emo- Drei Dimensionen der Lesekompetenz Kompetenzprofil auf dem Plateau der Emergenz und Interpersonalität Zuordnung der Kompetenzfacetten zu den drei Kompetenzdimensionen 82 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="92"?> tional beanspruchend, sondern wesentlich auch eine kognitive Leistung, und das „Verstehen […] einfacher Geschichten“ mag reflexive Anteile haben, erfordert aber in erster Linie Kognition unterhalb der Metaebene. Das Studium der Lesekompetenztabelle (Tab. 2.3) mag deren hier vorgetragene Interpretation und Kritik überprüfen helfen: Emotion/ Motivation Kognition Anschlusskommunikation/ Reflexion Bedürfnis nach sinnlich-poetischen Sprachspielen (Rhythmus und Klang, v. a. in der oralen Kinderpoesie) Bedürfnis nach Symbolisierung eigener Erfahrungen, Ängste und Wünsche im Spiel mit Sprache Emotionale Reaktionen auf Personen und/ oder Handlungsverläufe in erzählten, vorgelesenen oder medial vermittelten Geschichten Erwartungsbildungen über den weiteren Handlungsverlauf in bekannten Erzählungen und zum Teil auch in Erstrezeptionen Emotionale Reaktionen bei überraschenden Wendungen Bedürfnis nach Vorleseroutinen Wertschätzung ,eigener‘ Bücher bzw. eines ,eigenen‘ Buchbestandes Konzeptionalisieren des literalen Handlungsfeldes Differenzierung im visuellen Handlungsfeld: Malen vs. Schreiben (ikonisches vs. symbolisches Zeicheninventar) Differenzierung im oralen Handlungsfeld: Mündliches Erzählen vs. Vorlesen (mündliches Register vs. literales Erzählregister) Schreiben-Spielen: Orientierung am grafischen Schriftduktus (Buchstabenformen, Schreibrichtungskonventionen) Lesen-Spielen: Bildorientiertes vs. textorientiertes (Vor-)Lesen; Mitzeigeverhalten beim Lesen; Leseton und Übernahme literarischer Muster ins eigene ,Vorlesen‘ Basale Buchkonzepte (Umschlag, Seiten, Autor/ in, Text, Leserichtung) und Genrekonzepte (Bilderbücher, Gedichte, Zeitungen, Umgebungstexte) Fähigkeit zum Verstehen (und Erzählen) einfacher Geschichten; Fähigkeit zum Aufbau geteilter Bedeutungen, z. B. im Vorlesedialog Emergierende Fähigkeit zur Unterscheidung von Spiel (Fiktion) und Realität Eröffnen von und Einstieg in Vorlesesituationen Verbinden von Elementen der , Textwelt‘ mit eigenen Erfahrungen Bedürfnis und Fähigkeit zum Nachspielen von Geschichten Korrekturen bei Verstößen gegen die Wortwörtlichkeit bekannter Texte Tab. 2.3 Literales/ literarisches Kompetenzprofil auf dem Plateau der Emergenz/ Interpersonalität (Garbe u. a. 2006: 132 [Hervorh. i. Orig.]) Auf dem Entwicklungsplateau der frühen Kindheit und Vorschulzeit werden, so lässt sich abschließend zusammenfassen, (prä-)literale sowie (prä- und para-)literarische Kompetenzen erworben, die den Übergang zum Schriftspracherwerb im engeren Sinne und zum literal gestützen Literaturerwerb vorbereiten. Mit Schulbeginn wird dieser Übergang dann weiter geebnet, und der langwierige, die Primarstufe, die Sekundarstufe und sogar noch das Studium in Anspruch nehmende Aufbau konzeptioneller Distanzkommunikation tritt zum schon verfügbaren Konzept der Nähekommunikation hinzu. 83 Themenblock 2 Lese- und literarische Sozialisation - frühe Kindheit <?page no="93"?> Übungen 1. Beschreiben und erläutern Sie das Mehrebenen-Modell familialer Lesesozialisation. 2. Erläutern Sie das Plateau der Emergenz und Interpersonalität im integrativen Modell der Lese- und literarischen Sozialisation. 3. Worin liegen die Vorzüge einer Annahme von Entwicklungsplateaus anstelle von Entwicklungsstufen? Verwendete und weiterführende Literatur Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 1. Situationslogik und Handeln. Frankfurt/ M.: Campus. Esser, Hartmut (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 2. Die Konstruktion der Gesellschaft. Frankfurt/ M.: Campus. Garbe, Christine (2009 a): Lesekompetenz. In: Christine Garbe, Karl Holle, Tatjana Jesch: Texte lesen. Lesekompetenz - Textverstehen - Lesedidaktik - Lesesozialisation. Paderborn: Schöningh UTB. S. 13-38. Garbe, Christine (2009 b): Lesesozialisation. In: Christine Garbe, Karl Holle, Tatjana Jesch: Texte lesen. Lesekompetenz - Textverstehen - Lesedidaktik - Lesesozialisation. Paderborn: Schöningh UTB. S. 167-221. Garbe, Christine, Karl Holle, Maria von Salisch (2006): Entwicklung und Curriculum: Grundlagen einer Sequenzierung von Lehr-/ Lernzielen im Bereich des (literarischen) Lesens. In: Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik. Ein Weiterbildungsprogramm. Weinheim: Juventa. S. 115-154. Groeben, Norbert (2004): (Lese-)Sozialisation als Ko-Konstruktion - Methodischmethodologische Problem-(Lösungs-) Perspektiven. In: Norbert Groben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Weinheim: Juventa. S. 145-168. Günther, Klaus B. (1995): Ein Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien. In: Heiko Balhorn, Hans Brügelmann (Hg.). Rätsel des Schriftspracherwerbs. Neue Sichtweisen aus der Forschung. Lengwil am Bodensee: Libelle. S. 98-121. Hurrelmann, Bettina (1994): Leseförderung. In: Praxis Deutsch 21 H. 127. S. 17-26. Hurrelmann, Bettina (2002): Prototypische Merkmale der Lesekompetenz. In: Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim: Juventa. S. 275-286. Hurrelmann, Bettina, Susanne Becker, Irmgard Nickel-Bacon (2006): Lesekindheiten. Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel. Weinheim: Juventa. Hurrelmann, Bettina, Michael Hammer, Ferdinand Nieß (1995): Lesesozialisation Bd. 1. Leseklima in der Familie. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung. 2. Aufl. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Pieper, Irene (2010): Lese- und literarische Sozialisation. In: Michael Käm- 84 Vorschulzeit und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="94"?> per-van den Boogaart, Kaspar H. Spinner (Hg.): Lese- und Literaturunterricht. Teil 1: Geschichte und Entwicklung. Konzeptionelle und empirische Grundlagen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. S. 87-147. Rosebrock, Cornelia, Daniel Nix (2008): Grundlagen der Lesedidaktik - und der systematischen schulischen Leseförderung. Baltmannsweiler: Schneider- Verlag Hohengehren. Valtin, Renate (1997): Stufen des Lesen- und Schreibenlernens - Schriftspracherwerb als Entwicklungsprozeß. In: Dieter Haarmann (Hg.): Handbuch Grundschule Bd. 2. Fachdidaktik: Inhalte und Bereiche grundlegender Bildung. 3. Aufl. Weinheim: Beltz. S. 76-88. 85 Themenblock 2 Lese- und literarische Sozialisation - frühe Kindheit <?page no="96"?> Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle Inhalt 8 Schriftspracherwerb 88 9 Ein integratives Modell der Lese- und literarischen Sozialisation - Kindheit 10 Leseförderung nach dem Mehrebenen-Modell des Lesens - Primarstufe 131 11 Die Dual-Coding-Theorie: Grundlage multimodaler Lese- und Literaturdidaktik - nicht nur auf der Primarstufe 167 Der Schriftspracherwerb ist ein komplexer, schon in der Vorschulzeit einsetzender und spätestens auf der Primarstufe dann kompetent zu begleitender Prozess. Den Primarschullehrkräften kommt hier eine höchst verantwortungsvolle und - nicht zuletzt theoretisch - anspruchsvolle Aufgabe zu, auf die dieses Kapitel einführend einstimmen und in Ansätzen vorbereiten soll. Dabei finden auch mit dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache verbundene Aspekte Beachtung. Einen wichtigen Gegenstand der Darstellung bilden ausgewählte Modelle des Schriftspracherwerbs sowie Basiskenntnisse und (widerstreitende) Forschungsmeinungen zum deutschen Laut- und Schriftsystem, die in der Didaktik übernommen, teilweise aber auch kontrovers aufgenommen werden. An diese Inhalte anschließend wird das bereits im Themenblock 2 eingeführte integrative Modell der Lese- und literarischen Sozialisation wieder aufgegriffen und diesmal eingehender auf die Phase der Kindheit bezogen. Neu vorgestellt wird ein didaktisch reflektiertes, schulstufenübergreifendes Lesekompetenzmodell, dessen verschiedene Ebenen es zunächst für die Primarstufe zu erschließen gilt. Das Kapitel endet mit den Grundsätzen und didaktischen Bezügen einer kognitiven Theorie des Lesens, welche den sinnlichen Prozessen beim Textverstehen besondere Aufmerksamkeit schenkt und in ihrer Relevanz ebenfalls keiner Begrenzung auf die - gleichwohl zentral betroffene - Primarstufe unterliegt. Überblick 87 Themenblock 3 <?page no="97"?> 8 Schriftspracherwerb Dass der Schriftspracherwerb in der frühen Kindheit beginnt, ist bereits deutlich geworden. Vorschulische Phasen gehören zu diesem Erwerbsprozess hinzu. In ihnen werden wichtige Voraussetzungen geschaffen für die Lese- und Schreibkarriere des Grundschulkindes, einschließlich seines Zugangs zu fiktionaler Literatur. Bevor der Erstschrifterwerb im Kontext von Mehrsprachigkeit beleuchtet wird, sollen zunächst (teilweise bereits in Kap. 7 angedeutete) allgemeine Entwicklungsmodelle, auch solche mit differenzierterer diagnostischer Funktion, genauer dargestellt werden. Das Kernmodell von Uta Frith (vgl. 1985: 306-311; 1986: 221-227), welches andere Forscher_innen aufgegriffen und modifiziert haben, setzt die „symbolic pre-literacy phase“ (Frith 1985: 308), also die in Kapitel 7 schon angesprochene präliterale Phase voraus, integriert sie als solche aber nicht. Die erste Phase von Frith’ eigentlichem Modell ist somit die an die präliterale anschließende, ebenfalls bereits in Kapitel 7 erwähnte logografemische Phase. Während derselben speichern Kinder einen bildlichen Gesamteindruck ihnen häufig begegnender Schriftzüge anhand charakteristischer Wortmerkmale, die in diesem Erwerbsstadium aber noch nicht als Buchstaben(bestandteile) erkennbar sind. Der eigene Name etwa oder der einer anderen vertrauten Person laden zum frühen logografemischen Lesen ein, und insbesondere in der Produktwerbung finden sich Schriftgrafiken mit für Kinder einprägsamen Details. Vor allem mit Hilfe dieser Details, cues genannt (Frith 1985: 306), gelingt das Wiedererkennen, das folglich auch Verwechslungen unterliegen kann - zumal das logografemische Lesen als Rateakt ohne Bedenkzeit einer spontanen look-and-say-Strategie (Frith 1985: 307 f.) folgt. Als visuelle Erkennungsmerkmale gespeicherte Buchstaben bieten sich als die ersten selbst geschriebenen des Kindes in der logografemischen Phase an (vgl. Frith 1985: 312). Wie in dieser Anfangsphase stellt Frith in jeder der beiden folgenden Phasen ihres Modells dem Lesen das Schreiben gegenüber und beachtet so die aus Kapitel 3 dieses Lehrbuchs als eine Dimension des didaktischen Würfels schon bekannte kommunikative Rolle entweder der (hier: lesenden) Rezeption oder der (hier: schreibenden) Produktion eines (hier: medial grafischen) Kommunikats: In particular, there is the major division of literacy skills into input and output components, word recognition (reading), and word production (writing). (Frith 1985: 310 [Hervorh. i. Orig.]) Insbesondere gibt es die wichtige Unterteilung literaler Fähigkeiten in Input- und Output-Komponenten, also in Worterkennung (Lesen) und Wortproduktion (Schreiben). [Übers. v. TJ] Schriftspracherwerbs-Modell von Frith Präliterale Phase Phase 1 nach Frith: Logografemische Phase Gegenüberstellung von Lesen und Schreiben 88 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="98"?> Der Schriftspracherwerb verläuft laut Frith bei der Bearbeitung der zunehmend anspruchsvollen Erwerbsaufgaben von der Rezeption zur Produktion und von dieser wieder zur Rezeption, um von da aus schließlich erneut zur Produktion überzugehen. Konkreter bedeutet dies für das rezeptive Lesen und das produktive Schreiben: Das im Schriftspracherwerb begriffene Kind wendet sich ▶ vom Lesen zum Schreiben in Phase 1, ▶ vom Schreiben zum Lesen in Phase 2 und wieder ▶ vom Lesen zum Schreiben in Phase 3. In jeder der drei Phasen herrscht eine eigene Strategie des Schriftspracherwerbs und der schriftsprachlichen Praxis vor. So folgen auf die logografemische Strategie in der gleichnamigen, schon eingeführten Phase zunächst die alphabetische und schließlich die orthografische Strategie in den jeweils gleichlautend bezeichneten Phasen. Jede Phase umfasst allerdings zwei Schritte, von denen der erste Schritt neben der neuen, die Phase benennenden und bestimmenden Strategie auch noch die alte Strategie der vorhergehenden Phase parallel zur Verfügung hält. Entsprechend ▶ geht das logografemische Lesen im ersten Schritt mit dem symbolischpräliteralen, aus Kapitel 7 erinnerlichen Kritzeln einher, ▶ verbindet der erste Schritt der alphabetischen Phase das alphabetische Schreiben mit dem noch beibehaltenen logografemischen Lesen und ▶ lässt der erste Schritt in die orthografische Phase hinein neben dem neu erworbenen orthografischen Lesen das alphabetische Schreiben weiterbestehen. Erst jeweils mit dem zweiten Schritt sind Lesen und Schreiben beide in Phase 1 logografemisch, in Phase 2 alphabetisch und in Phase 3 orthografisch. Es bleibt somit festzuhalten, dass Rezeption und Produktion während des Schriftspracherwerbs nur jeden zweiten Erwerbsschritt im strategischen Gleichschritt ausführen: The hypothesis I would like to put forward now is simply that normal reading and writing development proceeds out of step.“ (Frith 1985: 310 [Hervorh. i. Orig.]) Die Hypothese, die ich nun gerne vorbringen möchte, ist einfach die, dass eine normale Lese- und Schreibentwicklung nicht im Gleichschritt voranschreitet. [Übers. v. TJ] Frith benennt zusammenfassend die Schrittfolge abweichender und übereinstimmender Strategien sowie die jeweils schrittmachenden kommuni- Erwerbsverlauf zwischen Rezeption und Produktion Drei Phasen und Strategien: logografemisch, alphabetisch, orthografisch Zwei Schritte pro Phase 89 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="99"?> kativen Rollen der Rezeption oder Produktion in den einzelnen Phasen des Schriftspracherwerbs: In summary, the theory now states that at each phase there is a first step involving a divergence between strategies used for reading and writing, then a step involving convergence. Developmental progress is envisaged as an alternating shift of balance between reading and writing. Reading is the pacemaker for the logographic strategy, writing for the alphabetic strategy, and reading again for the orthographic one. (Frith 1985: 311) Zusammengefasst sagt die Theorie nun aus, dass es in jeder Phase einen ersten Schritt gibt, der eine Divergenz zwischen den für das Lesen und das Schreiben genutzten Strategien mit sich bringt, dann einen Schritt, der eine Konvergenz mit sich bringt. Der Entwicklungsfortschritt wird gedacht als eine abwechselnde Änderung der Gewichtung zwischen Lesen und Schreiben. Lesen ist der Schrittmacher für die logografemische Strategie, Schreiben für die alphabetische Strategie und Lesen dann wieder für die orthografische. [Übers. v. TJ] Bevor nach der inzwischen einsichtigen logografemischen Strategie auch noch die alphabetische und orthografische erläutert werden, soll zunächst ein Schaubild (Abb. 3.1) die beschriebene Grundstruktur von Frith’ Kernmodell des Schriftspracherwerbs illustrieren. Die Pfeile zeigen den vorherrschenden Entwicklungsverlauf der Strategien. Durch Kursivsetzung einer Strategie wird der Beginn ihres Auftretens markiert. Die tiefgestellten Zahlen an den Strategien geben deren Entwicklungsniveau an. Innerhalb der drei durchnummerierten Phasen sind mit den Kleinbuchstaben a und b jeweils zwei Schritte gekennzeichnet. Abb. 3.1 Kernmodell des Schriftspracherwerbs (nach Frith 1985: 311; 1986: 225) 90 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="100"?> Nunmehr gilt es also die wesentlichen Merkmale auch der bislang noch ungeklärten Strategien des Schriftspracherwerbs darzulegen, welche auf die in Phase 1 dominierende logografemische Strategie folgen. Als Voraussetzung dafür wird eine kurze Einführung in ein Zeicheninventar vorangestellt, das zur sprachwissenschaftlichen Darstellung der Beschaffenheit sowie Systematik gesprochener und geschriebener Sprache gebräuchlich ist und auf das auch in diesem Lehrbuch zurückgegriffen werden soll. Wie in Kapitel 4 über den Erst- und Zweitspracherwerb bereits deutlich wurde, ist bezüglich der Erforschung der gesprochenen Sprache zu differenzieren zwischen Fonetik als Wissenschaft von der akustischen und physiologischen Lautbildung einerseits und Fonologie (im engeren Sinne) als Wissenschaft von den Lauten in ihrer bedeutungstragenden und -unterscheidenden sowie grammatischen Funktion andererseits. Dieser Zweiteilung des Forschungsgebiets tragen Notationsweisen Rechnung, die sich in der unten einsehbaren tabellarischen Übersicht wiederfinden (Tab. 3.1). So stehen fonetische Schreibweisen gemäß dem International Phonetic Alphabet (IPA) (vgl. International Phonetic Alphabet Chart 2005; International Phonetic Association 2014) lautschriftlich in eckigen Klammern: [ ˈlaʊ̯ tʃʀɪft ]. In fonologischer Schreibweise stehen die für die Bedeutungsunterscheidung funktionalen Foneme oder (wortförmige) Fonemfolgen ebenfalls lautschriftlich zwischen Schrägstrichen: / ˈlaʊ̯ tʃʀɪft / . Hinzu tritt in der Tabelle 3.1 auch die konventionelle Markierung schriftsprachlicher Formen und Elemente, da diese ab Phase 2 des Schriftspracherwerbs eine zunehmend kontrollierte Beziehung zur medial fonischen Sprachproduktion eingehen und sich im Zuge der 3. Erwerbsphase teilweise von solch einer fonografischen Funktion sogar lösen, gegenüber der Lautstruktur der Sprache also verselbständigen. Innerhalb der medialen Dimension der Sprache und des didaktischen Würfels wurde in den Kapiteln 2 und 3 bereits der ‚grafische‘ Pol eingeführt. Hiermit war die Ebene der Buchstaben, das schriftsprachliche Material der Grafe angesprochen, vergleichbar dem hörbaren Material der sprachlichen Fone am fonischen/ akustischen Pol. So aber wie das Fon in sprachfunktionaler Sicht zum Fonem wird, wird das Graf in seiner bedeutungsunterscheidenden Eigenschaft zum Grafem. Die entsprechende grafematische Schreibweise fügt schriftsprachliche Grafeme und (wortförmige) Grafemfolgen in spitze Klammern ein: <Schrift>. Der Tabelle 3.1. sind neben den soeben eingeführten Schreibkonventionen und den für das Deutsche benötigten IPA-Zeichen für Fone auch solche Zeichen zu entnehmen, deren Relevanz erst weiter unten erkennbar wird oder die um einer etwas umfassenderen Darstellung willen mit berücksichtigt wurden. Hinführung zum Verständnis von Phase 2 und 3: Sprachwissenschaftliche Notationen Fonetik und Fonologie Fonetische Notation Fonologische Notation Grafematische Notation 91 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="101"?> Konsonanten Vokale Weitere Zeichen Beispiele Erläuterung IPA- Zeichen Beispiele IPA- Zeichen Beispiele [b] [d] [f] [ɡ] [h] [ʝ] [k] [l] [m] [n] [ŋ] [p] [r] (Zungen-r) [ʀ] (Zäpfchenr) [z] [ʒ] [s] [ʃ] [t] [v] [ç] [χ] [ʔ] Ball Dampf Frosch Gans Haus Jacke Kamm List Milch Napf Ring Pult Rand 1 Rand 1 Sinn Genie Muße Schal Teer Wald China Kachel Uhr 2 [ˈʔu: ɐ̯ ] [a] [ɑ] [ɐ] [-] [æ] [e] [ɛ] [ɛ̃ ] [ə] [i] [ɪ] [o] [ɔ] [ɔ̃ ] [ø] [œ] [œ̃ ] [u] [ʊ] [y] [ʏ] kalt Kahn Schieber Gourmand nähme Reh Bett Teint Rabe Brief Sinn Hof Topf Fasson Föhn Körner Parfum Mut Hund süß Sünde [ ] / / | | < > ˈ : ͡ . - # ˌ ˰ [ˈlaʊ̯ tʃʀɪft](Lautschrift) / ˈlaʊ̯ tʃʀɪft/ (Lautschrift) |Buchstabe| <Schrift> [ˈtasə](Tasse) [zo: n](Sohn) [ ͡ tsɑ: n](Zahn) [ˈkɪn.dɐ](Kinder) <Kin-der> Kind#er [ˈɡe: bn̩ ] [ˈfe: ʀi̯ ən](Ferien) fonetische Schreibweise fonologische Schreibweise grafetische 3 = auf Grafe (nicht auf Grafeme) bezogene Schreibweise grafematische oder orthografische Schreibweise Hauptakzent Vokal lang Konsonanten verbunden; auch [ ͜ ts] Silbengrenze zwischen Sprechsilben Silbengrenze zwischen Schreibsilben Morphemgrenze silbischer Konsonant nicht-silbischer Vokal 1 Ob ein Zungen-r oder ein Zäpfchen-r artikuliert wird, hat auf die Wortbedeutung keinen Einfluss. 2 [ʔ] bezeichnet einen kaum wahrnehmbaren Konsonanten ganz zu Beginn des Wortes, dem kein Graf oder Grafem entspricht, das wie bei den anderen Beispielen in der Tabelle durch Fettsatz hervorgehoben werden könnte. Der Laut entsteht durch Schließen der Stimmritze, auch Glottis genannt, und anschließendes plötzliches Öffnen derselben. Dieser Sprengungseffekt erzeugt den Laut, der daher zu den Plosiven (vgl. ‚explosiv‘) gehört. Genauer wird der Laut als glottal, plosiv und stimmlos eingeordnet. 3 Das Adjektiv ‚grafetisch‘ ist abgeleitet von ‚Grafetik‘ - analog zum Begriffspaar ‚fonetisch‘ und ‚Fonetik‘: „die senkrechten Striche entsprechen in der [Fonetik; TJ] den eckigen Klammern“ (Eisenberg 2013: 290). Tab. 3.1 Sprachwissenschaftliche Notationen (nach Eisenberg 2016: 29 ff.; 2013: 290) Nun ist mit den in der Tabelle 3.1 aufgelisteten Notationen und den zu dieser tabellarischen Übersicht hinführenden Erklärungen eine Darstellungs- Phase 2 nach Frith: Alphabetische Phase 92 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="102"?> grundlage geschaffen, auf der sich die noch erläuterungsbedürftigen Strategien des Schriftspracherwerbs leichter einführen lassen. In dessen zweiter Phase nämlich schließt an das logografemische Abzeichnen von Wortbildern sowie Schreiben einzelner markanter Buchstaben das alphabetische Schreiben an. Dieses orientiert sich erstmals an der Grafem-Fonem-Korrespondenz der Schriftsprache, also an der Verknüpfung zwischen Buchstaben (zusammensetzungen) wie <a> oder <sch> als kleinsten bedeutungsunterscheidenden Schrifteinheiten - den Grafemen - einerseits und den kleinsten bedeutungsunterscheidenden Lauten der gesprochenen Sprache - den Fonemen - andererseits. Das Grafem-Inventar des deutschen Kernwortschatzes umfasst nach Peter Eisenberg die im Folgenden aufgeführten Grafeme (Tab. 3.2): Konsonant-Grafeme Vokal-Grafeme <b> <d> <f> <g> <h> <j> <k> <l> <m> <n> <p> <r> <s> <t> <v> <w> <x> <z> <ß> <qu> <ch> <sch> <a> <e> <i> <ie> <o> <u> <ä> <ö> <ü> Das tabellarisch (Tab. 3.2) wiedergegebene Grafem-Inventar für den deutschen Kernwortschatz entspricht nicht ganz dem Buchstabenbestand des Alphabets. So sind Buchstabenzusammensetzungen in Gestalt der Mehrgrafe <ie>, <ch>, <sch> und <qu> enthalten. Das |q| ist als einzelner Buchstabe nicht in das Inventar der Grafeme aufgenommen, da es in Wortschreibungen stets das |u| nach sich zieht. Nicht als Grafeme inventarisiert finden sich der Buchstabe |c| als Einzelgraf und der Buchstabe |y|, weil sie im Kernwortschatz nicht vertreten sind, sondern nur im erweiterten Tab. 3.2 Grafem-Inventar des Deutschen für den Kernwortschatz (nach Eisenberg 2016: 67; 2013: 290) Grafem-Fonem- Korrespondenz Unzulässig: Gleichsetzung von Buchstaben und Grafemen 93 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="103"?> Wortschatz den Schreibungen von Fremdwörtern und Eigennamen angehören. Diese Begrenzung des Grafem-Inventars ist nicht zwingend (vgl. Eisenberg 2016: 67), lässt sich aber aus grafematischer Sicht rechtfertigen: „Das Kernsystem wird unnötig kompliziert und verliert viel von seiner Signifikanz, wenn man es nicht in der angegebenen Weise beschränkt“ (Eisenberg 2013: 290). Mit diesem Kerninventar der Grafeme setzen sich auch die Lernenden im Zuge der zweiten Phase des Schriftspracherwerbs auseinander, indem sie sich im alphabetischen, Laute und Buchstaben aufeinander beziehenden Schreiben üben und dabei Fonem-Grafem-Korrespondenzen erkunden. Analog zum Grafem-Inventar des Deutschen sei daher hier auch ein Fonem-Inventar vorgestellt. Die Zahl der Foneme ist geringer als die der Fone in der Tabelle der Notationen (Tab. 3.1). Denn nicht alle Lautausprägungen der deutschen Sprache haben eine eigene bedeutungsunterscheidende Funktion. Ein Fonem kann vielmehr in unterschiedlichen lautlichen Varianten erscheinen, wie die Tabelle der Notationen (Tab. 3.1) bezüglich des Zungen-r und des Zäpfchen-r bereits deutlich hat erkennen lassen. Solche Varianten werden als Allofone bezeichnet. Die tatsächlich bedeutungsfunktionalen Foneme einer Sprache zu erfassen, bedarf - oft strittiger - linguistischer Analyse. Eisenberg schlägt im Ergebnis ein unten tabellarisch dokumentiertes deutsches Fonem-Inventar vor (Tab. 3.3), „das für viele Zwecke gut geeignet, aber keineswegs problemlos ist“; denn das „für alle Zwecke einer Grammatik in gleicher Weise geeignete Phonemsystem“ (Eisenberg 2013: 82) ist wissenschaftlich nicht ermittelbar. Konsonant-Foneme Vokal-Foneme / b/ / d/ / f/ / ɡ/ / h/ / ʝ/ / k/ / l/ / m/ / n/ / ŋ/ / p/ / ʀ/ / z/ / ʒ/ / s/ / ʃ/ / t/ / a/ / ɑ/ / æ/ / e/ / ɛ/ / ə/ / i/ / ɪ/ / o/ / ɔ/ / ø/ / œ/ / u/ / ʊ/ / y/ / ʏ/ Tab. 3.3 Fonem-Inventar des Deutschen (nach Eisenberg 2013: 88, 91 ff.) Relevanz der Grafeme und Foneme für die alphabetische Phase Allofone 94 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="104"?> Konsonant-Foneme Vokal-Foneme / v/ / ç/ / ʔ/ Die Korrespondenz zwischen Grafemen und Fonemen, welche ab der zweiten Phase des Schriftspracherwerbs für die alphabetische Strategie von Bedeutung ist, unterliegt bestimmten, in der Tabelle 3.4 angegebenen Regeln. Diese werden oft, gemäß der älteren Schreibweise von ‚Fonem‘ mit |Ph|, als GPK-Regeln bezeichnet. Konsonanten Vokale / b/ → <b> / bʊnt/ - <bunt> / a/ → <a> / kalt/ - <kalt> / d/ → <d> / dʊʀst/ - <Durst> / ɑ/ → <a> / tʀɑn/ - <Tran> / f/ → <f> / fʀɔʃ/ - <Frosch> / æ/ → <ä> / bæʀ/ - <Bär> / f/ → <v> / fil/ - <viel> / e/ → <e> / vem/ - <wem> / ɡ/ → <g> / ɡʊnst/ - <Gunst> / ɛ/ → <e> / vɛlt/ - <Welt> / h/ → <h> / haʀt/ - <hart> / ə/ → <e> / ˈkɪʀçə/ - <Kirche> / ʝ/ → <j> / ʝʊŋ/ - <jung> / i/ → <ie> / kil/ - <Kiel> / k/ → <k> / kalt/ - <kalt> / ɪ/ → <i> / mɪlç/ - <Milch> / l/ → <l> / lɪçt/ - <Licht> / o/ → <o> / ton/ - <Ton> / m/ → <m> / mɪlç/ - <Milch> / ɔ/ → <o> / fʀɔst/ - <Frost> / n/ → <n> / napf/ - <Napf> / ø/ → <ö> / ʃøn/ - <schön> / ŋ/ → <ng> / ʝʊŋ/ - <jung> / œ/ → <ö> / kœln/ - <Köln> / p/ → <p> / pɔst/ - <Post> / u/ → <u> / mut/ - <Mut> / ʀ/ → <r> / ʀɛçt/ - <Recht> / ʊ/ → <u> / ɡʊʀt/ - <Gurt> / z/ → <s> / zamt/ - <Samt> / y/ → <ü> / vyst/ - <wüst> / s/ → <ß> / ʀus/ - <Ruß> / ʏ/ → <ü> / hʏpʃ/ - <hübsch> / ʃ/ → <sch> / ʃʀot/ - <Schrot> / t/ → <t> / ton/ - <Ton> / ai/ → <ei> / bain/ - <Bein> / v/ → <w> / vɛʀk/ - <Werk> / au/ → <au> / ͡ tsaun/ - <Zaun> / ç/ → <ch> / mɪlç/ - <Milch> / ɔi/ → <eu> / hɔi/ - <Heu> / ks/ ← <x> / nɪks/ - <Nix> 1 / ts/ ← <z> / ͡ tsɔʀn/ - <Zorn> / kv/ ← <qu> / k ͡ vɑl/ - <Qual> 1 germ. Wassergeist; Auswahl des Beispiels zur Wahrung der Einsilbigkeit (statt der auch möglichen Beispiele ‚Nixe‘ oder ‚Hexe‘) Tab. 3.4 Grafem-Fonem-Korrespondenz-Regeln (nach Eisenberg 2013: 291 f.) Regeln der Grafem- Fonem-Korrespondenz: GPK-Regeln 95 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="105"?> Wenn die alphabetische, Foneme und Grafeme zueinander in Beziehung setzende Strategie im Schreiben Niveau 2 erreicht hat, lässt sie sich Uta Frith zufolge auf demselben Level auch für das Lesen übernehmen (vgl. Abb. 3.1). Beim alphabetischen Schreiben und Lesen in Phase 2 des Schriftspracherwerbs findet jetzt auch die Reihenfolge der Buchstaben, anders als noch in der logografemischen Phase, gebührende Beachtung. Dadurch wird ein analysierendes Erlesen sogar neuer Wörter möglich. Beim alphabetischen, von Buchstabe zu Buchstabe die entsprechenden Laute identifizierenden Lesen sind die in Kapitel 4 thematisierte fonologische und, genauer, die fonematische Bewusstheit des Kindes hilfreich. Das alphabetische Lesen schließlich geht durch einen weiteren Strategiewandel in ein orthografisches Lesen über, das verschiedenen neuen Grundsätzen folgt. Nicht mehr nur die Zuordnungen von Fonemen zu Grafemen sind nun beim Lesen und Schreiben maßgeblich, sondern weitere orthografische Prinzipien, die sich dem Kind im Zuge seiner Leseerfahrung als wirksam zu erkennen gegeben haben. So legt das morphematische Prinzip die Zusammensetzung der Worte eben nicht aus bedeutungsunterscheidenden Fonemen und Grafemen, sondern aus Morphemen zugrunde - den kleinsten bedeutungstragenden Sprach- und Schrifteinheiten. Beispielsweise sorgt das morphematische Rechtschreibprinzip dafür, dass die hörbare Auslautverhärtung des Wortes Land nicht durch das Grafem <t> verschriftet wird, welches dem hier tatsächlich gesprochenen stimmlosen Laut [t] entspräche, sondern durch das dem stimmhaften [d] entsprechende Grafem <d>. Stimmhaft nämlich endet das Stammmorphem Land#, wenn ihm im Genitiv ein weiteres Morphem, das Flexionssuffix #es, folgt, sodass die deklinierte Form (des) Land#es entsteht. Durch die orthografische Angleichung des Morphems Land# im Nominativ an die anderen deklinierten Formen des Wortes, in denen der Laut [d] aufgrund seiner Binnenposition erhalten bleibt und nicht der Auslautverhärtung unterliegt, wird die das Lesen und Schreiben erleichternde Morphemkonstanz hergestellt. Weitere konstante Wortbausteine, für deren immer gleiche Schreibung sich in der orthografischen Phase eine morphematische Bewusstheit ausbildet, sind Präfixe wie ver# oder ent#, Zirkumfixe wie ge# + #t, etwa in ge#dach#t, und Erscheinungsformen verschiedener sonstiger Morphemtypen (vgl. Busch/ Stenschke 2008: 83). Mit Hilfe solcher als kognitive (Teil-)Schemata gespeicherter Bausteine setzen Kinder die zu lesenden - und später auch die zu schreibenden - Wörter zunehmend automatisch und daher weniger mühevoll als bei Anwendung der alphabetischen Strategie zusammen (vgl. Augst/ Dehn 2013: 52-58). Bezüglich des Lesens hat Max Coltheart (1978; 2005) ein Zwei-Wege-Modell entwickelt und computergestützt geprüft. Es beschreibt als einen der beiden Wege des Wortlesens den kognitiven Vorgang der Schemaerkennung als Alphabetische Strategie beim Schreiben und Lesen Erlesen unbekannter Wörter Orthografische Prinzipien Morphemkonstanz Morphematische Bewusstheit Morphemtypen Automatisierung des Lesens Zwei-Wege-Modell des Lesens nach Coltheart Mentales Lexikon 96 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="106"?> direkten Zugriff auf ein mentales Lexikon. Dieses hält einen Sichtwortschatz und rekurrente, d. h. häufig auftretende Morpheme sowie deren fonologische und semantische Entsprechungen für den Abruf beziehungsweise für die rasche Kombination zum gesuchten Wort bereit. Dieses mentale Lexikon bildet und erweitert sich im Zuge orthografischer Leseerfahrung und beschleunigt den sich durch Übung immer stärker automatisierenden Leseprozess. Neben dem Weg des orthografischen Lesens bleibt alternativ für unbekannte Wörter der Weg der dominant alphabetischen Strategie immer noch gangbar. Gerheid Scheerer-Neumann, die Colthearts Ansatz aufgegriffen und für die deutsche Sprache modifiziert hat, weist darauf hin, dass dieser zweite Weg des Wortlesens auch die Analyse der morphematischen Struktur umfasst sowie durchaus in Interaktion mit dem mentalen Lexikon beschritten wird (Scheerer-Neumann 2015: 59). Im Schaubild (Abb. 3.2) lassen sich die zwei Wege des Wortlesens entsprechend darstellen. Abb. 3.2 Zwei-Wege-Modell des Wortlesens nach Coltheart (2005) und Scheerer-Neumann (2015) Wie angesichts des Schaubildes zum Zwei-Wege-Modell des Wortlesens (Abb. 3.2) und der Tabelle zu den sprachwissenschaftlichen Notationen (Tab. 3.1) bereits zu erahnen ist, wird in der Forschung zusätzlich zum alphabetisch-fonologischen und morphematischen Prinzip als weiteres orthografisches Prinzip auch ein silbisches (vgl. Maas 2006: 115-289) beschrieben. Über dieses herrscht allerdings keine wissenschaftliche Einigkeit, auch wenn es zur Begründung einer neueren rechtschreibdidaktischen Position, der sogenannten Silbenanalytischen Methode (vgl. Röber-Siekmeyer 2009), herangezogen wird. Die Aspekte des silbischen Prinzips in der Orthografie skizziert Eisenberg aus sprachwissenschaftlicher Sicht unter Voraussetzung Sichtwortschatz Silbisches Prinzip Silbenanalytische Methode in der Orthografiedidaktik Uneinigkeit über die Schreibsilbe 97 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="107"?> der in der Linguistik nicht einhellig vertretenen Annahme, dass es eine Schreibsilbe gebe, die sich von der Sprechsilbe unterscheide. In der Schreibsilbe träten Grafeme auf, die keinen Fonemen zuzuordnen, also in der gesprochenen Sprache nicht hörbar seien. Vielmehr drückten diese Grafeme silbische Gesetzmäßigkeiten aus und erleichterten so das Lesen. Zum Beleg dieser Auffassung dienen Eisenberg (und Gleichgesinnten) das Dehnungs- <h>, das silbenöffnende <h> und die Konsonantenverdoppelung zwischen zwei Silben, auch als Silbengelenk oder Schärfungsschreibung bekannt. Alle drei Phänomene seien hier kurz aus Eisenbergs Sicht erläutert (vgl. Eisenberg 2015: 88-91): ▶ Das Dehnungs-<h> erfüllt nicht wirklich die Funktion, den voranstehenden Vokal zu verlängern; denn wo es auftritt, wäre ohnehin eine gedehnte Aussprache zu erwarten. So wird der Vokal [ ɑ ] in <Bah-re> mit <h> nicht anders gesprochen als in <Wa-re> ohne <h>. Als betonter Vokal in einer offenen, das heißt durch keinen Konsonanten hörbar geschlossenen Silbe ist er also auch ohne angehängtes <h> lang zu lesen. Dass ein Teil der analog aufgebauten Wörter mit offener erster Silbe und einem betonten Vokal als deren Silbenkern dennoch unter Hinzufügung eines <h> verschriftet wird, folgt keiner klaren Regel. Grafisch schließt das <h> in diesen Fällen jedoch die offene erste Sprechsilbe, weshalb es statt als Dehnungs-<h> passender auch als silbenschließendes <h> bezeichnet wird. Zudem ist die Regularität zu beobachten, dass dieses stumme <h> nach dem ersten Silbenkern-Vokal nur dann erscheint, wenn ein Grafem <l>, <m>, <n> oder <r> folgt, die allesamt für sonorantische, also stimmhafte Konsonanten stehen. Solche Sonoranten leiten oft komplexe Silben-Endränder aus mehreren aufeinanderfolgenden Konsonanten ein wie etwa in <Durst> oder <Kunst>. Die Vokale in solchen Silben sind meist kurz, sodass die sonorantischen Konsonanten eventuell Signalwirkung für Kurzvokale erlangt haben könnten. Ebendiese Wirkung bei langen Vokalen umzukehren und so einer Irreführung der Lesenden vorzubeugen, mag der Zweck des Dehnungs-<h> sein. Die Unsicherheit dieser Hypothese wird freilich noch verstärkt durch das häufige Zusammentreffen langer Vokale mit sonorantischen Konsonanten ohne orthografischen Einschub eines Dehnungs-<h>, so neben dem schon genannten Beispiel <Wa-re> auch in <ma-len> oder <Sa-men> sowie in vielen weiteren Wörtern. ▶ Das Auftreten des stummen silbenöffnenden <h> in Schreibsilben ist dagegen in klarer und überschaubarer Weise regelgeleitet. Anders als das silbenschließende <h> erscheint es erst zu Beginn der jeweils zweiten Schreibsilbe eines Zweisilbers, welche stets - mit dem Grafem <e> - eine 98 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="108"?> unbetonte Reduktionssilbe verschriftet. Deren Kern, sofern er in einem nicht betonbaren Reduktionsvokal besteht (sofern also die Reduktionssilbe nicht stattdessen einen silbischen Konsonanten enthält; vgl. Tab. 3.1), wird oft Schwa-Laut genannt. Der Kern der ersten Silbe indessen ist ein betonbarer Vokal, ein sogenannter Vollvokal. Zwischen den Kernen der ersten und zweiten Silbe werden in den hier interessierenden Fällen einer schriftlichen Einfügung des stummen silbenöffnenden <h> keine Silbenränder gesprochen. Als Beispiele führt Eisenberg schriftliche Zweisilber an wie <Mü-he> oder <wie-hern>, die mündlich ohne das Fonem/ h/ produziert werden. ▶ Die Konsonantenverdoppelung zwischen zwei Silben schließlich ist der schriftliche Ausdruck eines Silbengelenks, das in der gesprochenen Sprache als ein einziger Konsonant vernehmbar ist. Dieser gehört sowohl der vorhergehenden Silbe mit betontem Kurzvokal als auch der nachfolgenden Silbe mit unbetontem Vokal an. Als Beispiele für eine dieses Phänomen verschriftende Gelenkschreibung wären die Wörter <Mit-te> oder <Grot-te> anzuführen. Nicht alle Silbengelenke jedoch werden durch Verdoppelung eines und desselben Konsonanten-Grafems niedergeschrieben. Zuweilen sind dem konsonantischen Fonem des Silbengelenks mehrere Grafe (= Buchstaben) als ein Grafem zugeordnet, so dem Fonem/ ç/ das Grafem <ch> wie in <Sichel> oder <Wache>, dem Fonem / ʃ / das Grafem <sch> und dem Fonem/ k/ das Mehrgraf <ck>. Auch rekurrente Grafemfolgen können das Silbengelenk abbilden, etwa die Grafemfolge <n> <g> das Fonem/ ŋ/ oder die Grafemfolge <t> <z> die Fonemfolge / t/ / s/ . Gelenkschreibungen ohne Konsonantenverdoppelung werden bei der Silbentrennung unterschiedlich behandelt: Die Silbengelenk-Grafeme <ch>, <sch> und das Mehrgraf <ck> bleiben ungeteilt: Beispiele wären <Sa-che>, <Ta-sche> und <Zu-cker> - wobei die letztgenannte Form die Trennungsschreibweise <Zuk-ker> ersetzt, durch die bis zur (2006 endgültig in Kraft getretenen) Rechtschreibreform das Silbengelenk mittels Konsonantenverdoppelung beiden Silben zugewiesen wurde. Die Silbengelenk-Grafemfolgen <n> <g> und <t> <z> werden auch noch nach der aktuellen Rechtschreibung auf die durch das Gelenk verbundenen Silben aufgeteilt: <Krin-gel> und <Tat-ze> veranschaulichen dies. Eisenbergs Auffassung von der Konsonantenverdoppelung als durch das Silbengelenk bedingt hat indessen keinen Eingang in das amtliche Regelwerk (ARW) für die reformierte deutsche Rechtschreibung erhalten, wo stattdessen das in der Linguistik konkurrierende Akzentmodell herangezogen wird (Dudenredaktion 2006: 1163 [Hervorh. i. Orig.]): Silbengelenkmodell versus Akzentmodell 99 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="109"?> § 2 Folgt im Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens. Bezüglich <k> und <z> wird dabei eine eigene, abweichende Regelhaftigkeit festgestellt: § 3 Für k und z gilt eine besondere Regelung: (1) Statt kk schreibt man ck. (2) Statt zz schreibt man tz. Zudem konzediert die Dudenredaktion insgesamt 12 „Fallgruppen“ von Wortschreibungen, die nicht dem in § 2 für verbindlich erklärten Akzentmodell folgen (Dudenredaktion 2006: 1163 f. [Hervorh. i. Orig.]): § 4 In acht Fallgruppen verdoppelt man den Buchstaben für den einzelnen Konsonanten nicht, obwohl dieser einem betonten kurzen Vokal folgt. § 5 In vier Fallgruppen verdoppelt man den Buchstaben für den einzelnen Konsonanten, obwohl der vorausgehende kurze Vokal nicht betont ist. Dass das Akzentmodell aber keineswegs durch mehr Ausnahmen relativiert wird als das Silbengelenkmodell, führen Gerhard Augst und Mechthild Dehn in einer Tabelle vor Augen (Augst/ Dehn 2013: 103), für deren Wiedergabe in Tabelle 3.5 allerdings unter anderem die Bezeichnungen der beiden verglichenen linguistischen Ansätze den obigen Ausführungen entsprechend geändert wurden: Nr. Beispiel Akzentmodell Silbengelenkmodell 01 Fall - Fälle R R 02 Kredit-e A A 03 Narr-en R R 04 Brombeere A R 05 Bollwerk R A 06 fuffzig R A 07 innen R R 08 an A R 09 denn R A 10 Job A R 11 Tross-e R R Zudem sind in Tabelle 3.5 die von Augst und Dehn angeführten Beispiele 2 und 3 durch solche ersetzt worden, die gemäß den einander gegenüberge- Tab. 3.5 Akzentmodell vs. Silbengelenkmodell der Konsonantenverdoppelung: Regel- (R) und Ausnahmefälle (A) Kommentar zu Tabelle 3.5 100 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="110"?> stellten wissenschaftlichen Positionen nicht nur kurze, sondern zugleich auch betonte Vokale aufweisen, welche für die Regelprüfung relevant sind. Der betonte Vokal in der zweiten Silbe des neu eingefügten Beispiels 2 - <Kredit> - wird hier als kurz vorausgesetzt, obwohl er von Teilen der deutschen Sprachgemeinschaft lang gesprochen wird. Wichtig für das Verständnis der Tabelle ist schließlich die Berücksichtigung des in das Silbengelenkmodell integrierten morphematischen Prinzips. Diesem gehorchend tritt die Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben, die aus dem Gelenk zwischen zwei Silben herrührt, um der lesefreundlichen Morphemkonstanz willen in den zugehörigen Wortstämmen auch dann auf, wenn denselben keine weitere Silbe folgt (vgl. Eisenberg 2015: 94); die Beispiele 1, 3 und 11 veranschaulichen dies. Beispiel 10 wiederum ist - abweichend von Augst und Dehn - als Regelfall des Silbengelenkmodells gekennzeichnet, da zu <Job> keine Flexionsform mit <bb> existiert. Eisenberg als exponierter Vertreter des Silbengelenkansatzes formuliert denn auch deutliche Zweifel daran, dass das morphematische Prinzip eine Genzüberschreitung zwischen den Wortarten, also wie bei Augst und Dehn zwischen dem Nomen <Job> und dem Verb <jobben>, zulassen könnte: Das morphologische Prinzip wird häufig über die Flexionsmorphologie hinaus auf die Wortbildung ausgedehnt. Man nimmt an, dass ein Stamm in Wörtern unterschiedlicher Kategorie seine Eigenschaften bewahrt, also etwa kühn - erkühnen - Kühnheit oder schön - verschönen - Schönheit. Aber erst wenn diese Zusammenhänge geklärt sind, lässt sich die Reichweite des morphologischen Prinzips ganz ermessen. Besonders in der Fremdwortschreibung ist man gelegentlich mit vorschnellen Verallgemeinerungen bei der Hand und möchte, wie es die Neuregelung der Orthographie von 1996 vorsieht, Tipp wegen tippen und Stopp wegen stoppen mit zwei p schreiben. Wahrscheinlich wurden damit irreguläre Schreibungen etabliert, denn weder Tip noch Stop weist eine fundierende zweisilbige Flexionsform mit pp auf. Vertrauen wir ruhig dem systematischen Charakter unserer Wortschreibung, sonst werden immer wieder theoretische Einsichten wie praktische Möglichkeiten verschenkt. (Eisenberg 2015: 94) Zwei unterschiedliche Wortarten, nämlich Präposition und Adverb, verkoppelt auch Beispiel 7 in seiner von Augst und Dehn vorgesehenen Form: <in> - <innen>. Der Schluss, mit diesem Wortpaar werde im Rahmen des Silbengelenkmodells eine Ausnahme vom morphematischen Prinzip sichtbar, ist unter dem Eindruck von Eisenbergs oben zitierten Ausführungen nicht haltbar. Vielmehr steht die Schreibweise der als solche grundsätzlich nicht, mithin auch nicht zur Zweisilbigkeit flektierbaren Präposition <in> durchaus nicht im Widerspruch zum Silbengelenkmodell, da sie keinen Streitfall: Morphemkonstanz zwischen verschiedenen Wortarten? Kommentar zu Tabelle 3.5 101 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="111"?> seiner Anwendungsfälle darstellt. Dem Akzentmodell hingegen widerspricht die Schreibung von <in>, da <n> trotz des vorangehenden kurzen und betonten Vokals nicht verdoppelt wird. Weil diese Konstellation mit Beispiel 8, der ganz analogen Präposition <an>, bereits abgedeckt ist, wird Beispiel 7 in der hier vorgelegten Tabellenversion auf das Adverb <innen> reduziert. Auch das originäre Beispiel 11 bei Augst und Dehn: <Trupp> - <Truppe> ist zu hinterfragen; zwar werden diesmal nicht zwei verschiedene Wortarten aufeinander bezogen, aber zwei verschiedene Wörter mit unterschiedlichen Genera, nämlich im ersten Fall mit dem Maskulinum, im zweiten mit dem Femininum. Das einsilbige Wort <der Trupp> kennt keine zweisilbige Flexionsform und bildet insofern mit seiner Konsonantenverdoppelung eine Ausnahme von den Regeln des Silbengelenkmodells - im Gegensatz zur Einschätzung bei Augst und Dehn. Als Beispiel 11 fungiert daher nun ein weniger strittiger Fall, wie die Tabelle zeigt. Die gegenüber der Fassung von Augst und Dehn modifizierte Beispielsammlung (Tab. 3.5) lässt noch weniger als zuvor eine Überlegenheit eines der kontrastierten linguistischen Modelle erkennen. Aus dem auch von Jakob Ossner konstatierten Patt zwischen den zwei wetteifernden Ansätzen zur Erklärung der Konsonantenverdoppelung erwächst das Dilemma für die Fachdidaktik, dass die Linguistik ihr nicht den eindeutig besten Weg weisen kann: Die Didaktik des Schriftspracherwerbs steht vor dem Problem, entscheiden zu müssen, nach welchem Modell sie die Konsonantenbuchstabenverdoppelung einführt. Es ist einer jener Fälle, bei denen nicht die Sache entscheiden kann, was zu tun ist, sondern Gründe im Lernersubjekt gefunden werden müssen. (Ossner 2014: 333) Ossner präferiert mit Rücksicht auf die Schüler_innen das Silbengelenkmodell, weil der silbische Rhythmus der gesprochenen Sprache den Kindern schon vertraut ist, bevor sie eingeschult werden. Die dem Akzentmodell zugrunde liegende sprachliche Einheit sei hingegen das Wort, auf dessen Wortstamm mit seiner Vokalquantität und -betonung die Grundschüler_innen zu achten hätten, obwohl sie schriftliche Wortgrenzen relativ spät im Zuge der Entwicklung ihrer Schreibfähigkeit einzuhalten begännen und erst „gegen Ende der Grundschulzeit Länge bzw. Kürze eines Stammvokals bestimmen“ könnten (Ossner 2014: 334). Als orientierende Spracheinheit helfe zudem besser als das Wort die im Vergleich kurze Silbe dabei, Schreibfehler zu reduzieren (vgl. Ossner 2014: 334 f.). Mit diesem Versuch, trotz des linguistischen Dissenses eine begründete sprachdidaktische Entscheidung für das Silbengelenkmodell zu fällen, darf Ossner freilich nicht auf allseitige Zustimmung hoffen. Entsprechend führt Patt zwischen Silbengelenkmodell und Akzentmodell Dilemma der Deutschdidaktik Didaktisches Plädoyer für das Silbengelenkmodell Didaktisches Plädoyer gegen das Silbengelenkmodell 102 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="112"?> Günther Thomé engagiert aus: „Warum man das Schriftsystem des Deutschen nicht als ein silbisches beschreiben sollte“ - so der Titel seines einschlägigen Aufsatzes (Thomé 2014: 13). Thomé pocht auf die Trennung zwischen der gesprochenen Sprache und dem Sprachsystem, welch Letzterem die Schriftsprache angehöre: Damit bezieht sich Schriftsprache nicht auf Phonetik und eben auch nicht auf Prosodie, also die akustisch wahrnehmbaren Aktivitäten der Sprechwerkzeuge, sondern in ihrem lautorientierten Aspekt ausschließlich auf sprachsystematische Lauteinheiten. (Thomé 2014: 17) In diesem Sinne adressiert Thomé den Sprachwissenschaftler Eisenberg aus skeptischer Distanz und kritisiert insbesondere die Sprachdidaktikerin Christa Röber-Siekmeyer, vor deren silbenanalytisch begründetem Ansatz er geradezu warnt: Sicher ist es interessant, wenn in der Linguistik als zweckfreie Forschung der Zusammenhang der Silbenstruktur von Wörtern untersucht wird, deren geschriebene Formen ein Graphem enthalten, das aus zwei gleichen Konsonantbuchstaben zusammengesetzt ist, auch wenn sich als Ergebnis zeigt, dass Hypothesen über den ursächlichen Zusammenhang nicht zu halten sind und es sich bei der Silbenstruktur eher um ein sekundäres, bestenfalls paralleles, Phänomen handelt. Wenn allerdings silbenbasierte Ansätze der Orthographievermittlung in der Didaktik als optimale Verfahren propagiert werden, muss bedacht werden, dass durch ungeeignete Informationen in den Lernentwicklungen von Schülern/ innen auch Schaden angerichtet werden kann. (Thomé 2014: 24) Dass solch eine Sorge unbegründet ist, ergibt eine von der Sprachdidaktikerin Swantje Weinhold durchgeführte empirische Studie, die im Längsschnitt den schulischen Schriftspracherwerbsprozess von der 1. bis zur 4. Klasse unter den Bedingungen der neuen Silbenanalytischen Methode einerseits und zweier in der bisherigen Unterrichtstradition stehender Fibellehrgänge andererseits vergleicht. Das fibelgestützte und das silbenbezogene Verfahren erweisen sich im Ergebnis als gleich effektiv, sodass sich der Silbenansatz nicht als ‚schädlich‘ herausstellt, wie Thomé es befürchtet, aber auch nicht als besonders förderlich, wie es die ihn vertretende Fraktion innerhalb der Sprachdidaktik unterstellt. Dies gilt letztlich sogar für die oben ausführlich kommentierte, durch die Silbenanalytische Methode didaktisch fokussierte Konsonantenverdoppelung, auch Schärfungsschreibung genannt, die nach dem bereits referierten linguistischen Verständnis Eisenbergs zwischen einer Silbe mit kurzem betontem Vokal und einer unbetonten Reduktionssilbe auftritt: Unschädlichkeit und Unwirksamkeit der Silbenanalytischen Methode Kein Vorteil der Silbenanalytischen Methode und des Silbengelenkmodells 103 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="113"?> Die Vermutung, dass die Silbenkinder ihren Vorsprung in den Bereichen Reduktionssilbe und Schärfungsschreibung im Verlauf der Grundschulzeit ausbauen würden, weil deren korrekte Verschriftung im Zentrum der [sic! ] Unterrichts steht, hat sich nicht bestätigt. (Weinhold 2009: 71) Zudem lassen Weinholds Studie zufolge sowohl der Fibelals auch der silbenanalytische Unterricht Leistungsunterschiede innerhalb von Lerngruppen fortbestehen: Dem Anfangsunterricht ist es offenbar weder mit dem einen noch mit dem anderen fachdidaktischen Ansatz gelungen, dass sich alle Lerner eine sichere Basis in der Orthographie aufbauen konnten, die sie bis zum Ende der Grundschule so weiterentwickeln konnten, dass sich ihre Leistungen angleichen. (Weinhold 2009: 70 f.) Um Lehrpersonen nicht nur in der Grundschule, sondern auch auf der Sekundarstufe I angesichts widerstreitender orthografiedidaktischer Ansätze eine Orientierung zu bieten, hat inzwischen das Kultusministerium in Baden-Württemberg einen „Rechtschreibrahmen für die Klassen 1 bis 10“ herausgegeben (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden- Württemberg 2018). Die wissenschaftliche Begleitung oblag zu einem wesentlichen Teil Jakob Ossner, was sehr zur rechtschreibdidaktischen Aktualität des Leitfadens beigetragen hat. In Lehrkräftefortbildungen gilt es im Anschluss an die Publikation für den Unterricht erforderliches Grundlagenwissen zum vermitteln. Nur so besteht Aussicht auf eine entsprechende curriculare Systematisierung an den Schulen des Landes. Hierzu soll auch dieses Lehrbuch einen kleinen Beitrag leisten. Mit dem alphabetisch-fonologischen, dem morphematischen und dem silbischen Prinzip sind jedoch noch nicht alle orthografischen Prinzipien eingeführt, die in der linguistischen und sprachdidaktischen Forschung eine Rolle spielen. Unter teilweise modifizierender, aktualisierender und reduzierender Übernahme eines in seiner Anlage hilfreichen Ansatzes von Dieter Nerius (2007) soll hier eine Systematik angeboten werden, die freilich eine Reihe von sogenannten Prinzipien ausschließt, welche sich einer konsequenten Generalisierung innerhalb der gegenwärtigen deutschen Sprachstruktur verweigern (vgl. Nerius 2007: 98). Es bleiben über das alphabetisch-fonologische, das morphematische und das silbische Prinzip hinaus ein - auch im Akzentmodell und im Silbengelenkmodell der Konsonantenverdoppelung jeweils erkennbares - intonatorisches Prinzip, zudem ein lexikalisches Prinzip, ein syntaktisches Prinzip und ein textuales Prinzip. Erläuterungen stehen noch für die drei zuletzt genannten orthografischen Prinzipien aus, nämlich für das lexikalische, das syntaktische und das textuale: Intonatorisches Prinzip 104 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="114"?> Das lexikalische Prinzip, das auf der Unterscheidung von Wortarten und auf semantischen Aspekten der Wörter gründet, beeinflusst die Getrennt- und Zusammenschreibung (vgl. Ramers 2014: 307 f.). Jedoch ist, folgt man manchen aktuellen Forschungsmeinungen, eine wesentliche Zuständigkeit des lexikalischen Prinzips zusätzlich auch für die Groß- und Kleinschreibung - entgegen Nerius (vgl. 2007: 91) - infrage zu stellen. Umgekehrt wird in diesem Lehrbuch das syntaktische Prinzip reichhaltiger gefasst als bei Nerius, der es nur für die Zeichensetzung und die satzinitiale Großschreibung, also die Großschreibung am Satzanfang, wichtig hält (vgl. Nerius 2007: 91). Welche Rolle das syntaktische Prinzip darüber hinaus für die Getrennt- und Zusammenschreibung auch in der aktuellen Regelung der Rechtschreibung spielt bzw. spielen sollte, geht aus einlässlichen Ausführungen Ossners hervor (vgl. Ossner 2010: 135-168, insbes. 167 f.) und wird auch sonst in der Fachliteratur kenntlich gemacht (vgl. Busch/ Stenschke 2008: 68; Ramers 2014: 305 ff.). Der neueren didaktischen Forschung zufolge leistet das syntaktische Prinzip zudem für die Groß- und Kleinschreibung (= GKS) und in diesem Zusammenhang auch wieder für die Getrennt- und Zusammenschreibung (= GZS) Maßgebliches, wohingegen die Schulgrammatik bislang dem lexikalischen Prinzip diese Rolle zugeschrieben hat. Ebendieser traditionellen Auffassung zum Trotz entscheidet offenbar weniger eine dem isolierten Wort als solchem anhaftende Eigenschaft, nämlich der Wortart ‚Substantiv‘, ‚Verb‘ oder ‚Adjektiv‘ anzugehören, über die Groß- oder Kleinschreibung sowie die damit zusammenhängende Getrennt- und Zusammenschreibung als vielmehr der Satzzusammenhang - wie die folgenden Beispielsätze veranschaulichen: 1. Wir wollen das Kochen erlernen. 2. Wir wollen das kochen, was wir gerne essen. 3. Zum Essen trinke ich ein großes Helles. 4. Nach dem Kopfstehen tut mir der Kopf weh. 5. Deshalb stehe ich nicht mehr kopf. 6. Früher habe ich gerne kopfgestanden. In allen 6 Sätzen, deren Schreibweisen sämtlich der reformierten Rechtschreibung seit 2006 entsprechen, hilft der Wortartansatz kaum weiter. Ob kochen, essen, kopfstehen und helles als Verb bzw. Adjektiv oder als Substantiv auftritt und ob kopf klein- oder großgeschrieben und in einem (trennbaren) Verb getrennt oder zusammengeschrieben oder als Substantiv zusammen- und großgeschrieben oder aber groß- und getrennt geschrieben wird, ist nicht unabhängig vom Satzzusammenhang vorherzusagen. Es zeigt sich, dass in der aktuellen Rechtschreibung für die Groß- und Kleinschreibung über das in diesem Zusammenhang herkömmlicherweise heran- Lexikalisches Prinzip Syntaktisches Prinzip Relevanz des Satzzusammenhangs Groß- und Kleinschreibung, Zusammen- und Getrenntschreibung in der reformierten Rechtschreibung 105 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="115"?> gezogene lexikalische Prinzip hinaus das syntaktische Prinzip geltend gemacht wird (vgl. Ramers 2014: 308-314). Entsprechend konstatiert Ossner: „Die Orthographiereform hat 1996 den ursprünglich stark semantisch [weil lexikalisch; TJ] geprägten Substantivbegriff zugunsten eines morphosyntaktischen aufgegeben.“ (Ossner 2010: 206). Mit der (nach 2004 bereits zweiten) Reform der Reform im Jahre 2006 bestätigt sich diese - wenngleich nicht ganz entschiedene - Neuausrichtung der Groß- und Kleinschreibung sowie der damit verbundenen Getrennt- und Zusammenschreibung auf das syntaktische Prinzip (vgl. Ossner 2010: 195 f., 207; Ramers 2014: 307). Folgende syntaktische Kriterien der satzinternen Großschreibung, die überdies als Substantivmerkmale aufgefasst werden, dürfen sowohl linguistisch als auch für die reformierte Rechtschreibung und das dazugehörige amtliche Regelwerk (ARW) als letztlich ausschlaggebend gelten (vgl. Dudenredaktion 2006: 1185-1192; Eisenberg 2013: 329 f.): ▶ Ein nach dem syntaktischen Prinzip satzintern großzuschreibendes Wort ist Kern einer Nominalphrase. Die Wortfolge „ein großes Helles“ aus dem obigen Beispielsatz 3 bietet hierfür ein Beispiel, da sie sämtliche möglichen Elemente einer solchen Phrase enthält: als deren Kopf ein Artikelwort zu Beginn der Phrase, zudem fakultativ ein (im vorliegenden Fall als einzelnes Adjektiv auftretendes) Attribut und als Kern der Phrase das durch die Verbundenheit mit den genannten anderen Elementen syntaktisch erzeugte Substantiv, auch Nomen genannt (auf das noch ein Attribut folgen könnte, hier aber nicht folgt): a ein (= Artikelwort) großes (= Attribut) Helles (= Substantiv/ Nomen) Mit Ossner lässt sich das Exempel a nochmals erläutern (Ossner 2010: 192): Substantive im Sinne des § 55 ARW sind Ausdrücke, die Kern einer Nominalphrase eines gegebenen Satzes sind. Eine Nominalphrase hat den Aufbau: Artikelwort ̑ (Attribut) ̑ Substantiv. Früh schon hat auch Utz Maas (Maas 1992: 156) gefordert, die Kategorie Substantiv im Sinne der syntaktischen Kategorien bzw. Strukturen zu rekonstruieren“.[…] Wir können vorläufig definieren: Eine (satzmediale) Majuskel [= Großbuchstabe; TJ] bedeutet, daß das großgeschriebene Wort als Kern einer nominalen Gruppe fungiert. Die Großschreibung der Kerne von Nominalphrasen dient nachweislich der rascheren Sinnerfassung beim Lesen, weil neben den - durch ihre Stellung in Haupt- und Nebensatz sowie in der Entscheidungsfrage - ohnehin gut auffindbaren Verben die weiteren inhaltlich zentralen Wörter Syntaktische Kriterien der satzinternen Großschreibung Höheres Lesetempo durch satzinterne Großschreibung 106 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="116"?> als großgeschriebene sofort ins Auge fallen (vgl. Ossner 2010: 187-190). Darüber hinaus bestimmen die Kerne von Nominalphrasen grammatisch durch ihr Genus und ihren Numerus die Deklination der auf sie bezogenen Artikelwörter und adjektivischen Attribute mit und erleichtern dadurch den Lesenden das Erkennen der inhaltlichen Beziehung. Ihr ebenfalls einheitlicher Kasus indessen wird den Nominalphrasen aus dem umgebenden syntaktischen Kontext heraus verliehen. Unmittelbar aus der Funktion des Substantivs als Kern einer Nominalphrase ergeben sich zwei weitere syntaktische Kriterien der satzinternen Großschreibung, und zwar die Artikelfähigkeit und die Attribuierbarkeit der großzuschreibenden Wörter: ▶ Einem nach dem syntaktischen Prinzip satzintern großzuschreibenden Wort lässt sich ein Artikelwort zuweisen. Dies kann ein unbestimmter Artikel sein wie in Exempel a: a ein großes Helles Im Unterschied dazu verknüpft der obige Beispielsatz 1 in der Wortfolge „das Kochen“ den Kern dieser (nicht attributiv erweiterten) Nominalphrase mit einem bestimmten Artikel: b das Kochen Demgegenüber verdeutlicht Beispielsatz 2, wie die Anwendung der Artikelprobe als allzu schematische Strategie Schüler_innen in die Irre führen kann. Denn aus deren Sicht mag die Wortfolge „das kochen“ den Eindruck erwecken, sie enthalte einen Artikel. Statt eines Artikelwortes steht hier aber vor dem infiniten Verb kochen das Demonstrativpronomen das, welches sich auf das Relativpronomen was und den dadurch eingeleiteten Relativsatz „was wir gerne essen“ bezieht. Zu Recht also ist kochen hier kleingeschrieben, denn es ist nicht artikelfähig und nicht Kern einer Nominalphrase. In Beispielsatz 3 finden wir mit der Wortfolge „Zum Essen“ (zusätzlich zu den schon behandelten Exempeln a und b ein weiteres Exempel c für satzinterne Großschreibung: c Zum Essen Zwar weist Exempel c mit Zum zunächst die linguistisch unumstrittene satzinitiale Großschreibung auf. Aber auch bezüglich der hier interessie- 107 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="117"?> renden satzinternen Großschreibung ist Zum als Teil der Präpositionalphrase Zum Essen relevant. Macht man nämlich die Verschmelzung der Präposition zu mit dem bestimmten Artikel im Dativ dem rückgängig, so erhält man die Präpositionalphrase zu dem Essen. So wird offenbar, dass in diese Präpositionalphrase die Nominalphrase dem Essen eingebettet ist, deren Kasus von der Präposition zu per Kasusrektion bestimmt wird. Dass Essen somit als artikelfähiger Kern einer Nominalgruppe hervortritt, spricht für die Großschreibung des Wortes. ▶ Ein nach dem syntaktischen Prinzip satzintern großzuschreibendes Wort ist attribuierbar. Entsprechend sind aus den Beispielsätzen 1, 3 und 4 die Kerne der Nominalphrasen „das Kochen“, „Zum [= Zu dem] Essen“, „dem Kopfstehen“ und „der Kopf “ grundsätzlich attribuierbar, wie die ‚Probe aufs Exempel‘ d, e, f und g jeweils ergibt: d das professionelle (= Attribut) Kochen e Zum (= Zu dem) köstlichen (= Attribut) Essen f nach dem langen (= Attribut) Kopfstehen g der verletzte (= Attribut) Kopf ▶ Ein nach dem syntaktischen Prinzip satzintern großzuschreibendes Wort ist referierbar, d. h. es kann ein grammatisch eindeutiger Bezug dazu hergestellt werden. Entsprechend lässt sich durch Erweiterung der Beispielsätze 1, 3 und 4 tatsächlich auf deren Nomen referieren, wie die Exempel h, i und j beweisen: h Wir wollen das Kochen erlernen, weil es eine wichtige Kunst ist. i Zum Essen, das wir bei Kerzenlicht einnehmen, trinke ich ein großes Helles, wie es mir auch im letzten Urlaub immer serviert wurde. j Nach dem Kopfstehen, vor dem der Arzt mich schon gewarnt hat, tut mir der Kopf weh, weil ich nämlich beim Sport daraufgefallen bin. In den Beispielsätzen 5 und 6 wird die Rechtschreibung einer Verbzusammensetzung mit einem Substantiv in Distanzstellung gemäß Exempel k und in Kontaktstellung gemäß Exempel l vorgeführt: k stehe … kopf l kopfgestanden In beiden Exempeln wird kopf kleingeschrieben, da das Wort im Satzzusammenhang nicht Kern einer Nominalphrase ist, keine Artikelfähigkeit, keine Attribuierbarkeit und - hier vor allem von Interesse - keine Referierbarkeit aufweist. Abweichungen der geltenden Rechtschreibung Abweichungen der geltenden Rechtschreibung vom syntaktischen Prinzip 108 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="118"?> von der so begründeten Kleinschreibung in sprachwissenschaftlich ähnlich gelagerten Fällen, etwa bei Rad fahren oder Schlange stehen, stellen vom syntaktischen Prinzip aus geurteilt orthografische Inkonsistenzen dar; denn sie ließen sich eigentlich ganz analog zu kopfstehen und eislaufen bilden. Formen wie das große Rad fahren oder, mit Präpositionalphrase und eingebetteter Nominalphrase, in der langen Schlange stehen enthalten indessen keine festen Verb-Substantiv-Zusammensetzungen mehr. Nur in solchen Verwendungsweisen, vergleichbar mit auf dem verletzten Kopf stehen oder auf dem brüchigen Eis laufen, haben wir es jeweils mit einem artikelfähigen und attribuierbaren Kern einer Nominalphrase zu tun, der zudem referierbar ist: auf dem verletzten Kopf stehen, der eigentlich verbunden gehört oder auf dem brüchigen Eis laufen, das gefährlich nachgibt oder das große Rad fahren, dessen Rücklicht kaputt ist oder in der langen Schlange stehen, die sich vor der Konzertkasse gebildet hat. Referierbarkeit ist ein wesentlicher syntaktischer Aspekt großzuschreibender Wörter, da sie die Herstellung sinnvoller Bezüge beim Lesen unterstützt und der aufmerksamkeitslenkenden Majuskel referierbarer Wörter in diesem Sinne besondere Funktionalität verleiht (vgl. Ossner 2010: 198). Auch das nun noch vorzustellende textuale Prinzip der Orthografie schlägt sich wie das soeben behandelte syntaktische Prinzip unter anderem in der Großschreibung der referierbaren Nomen nieder. Die orthografische Hervorhebung dieser Ansatzpunkte für Referenzbildung beschleunigt nämlich beim Lesen die Erfassung der inhaltlichen Zusammenhänge nicht nur innerhalb der Satzgrenzen, sondern auch über diese hinaus - auf Textebene. Die textuale Ergänzung von Beispielsatz 1 verdeutlicht dies: Rad fahren Schlange stehen kopfstehen eislaufen das große Rad fahren in der langen Schlange stehen auf dem verletzten Kopf stehen auf dem brüchigen Eis laufen auf dem verletzten Kopf stehen, der eigentlich verbunden gehört auf dem brüchigen Eis laufen, das gefährlich nachgibt das große Rad fahren, dessen Rücklicht kaputt ist in der langen Schlange stehen, die sich vor der Konzertkasse gebildet hat textuale Prinzip Wir wollen das Kochen erlernen. Meine Großmutter beherrschte es sehr gut. Mein Vater hat es von ihr aber nicht übernommen. Jetzt müssen wir es uns also selbst aneignen. Gegen die traditionelle Verankerung der Großschreibung im lexikalischen Prinzip, also in einem wortartbezogenen Ansatz der Substantiv-Bestimmung, wendet bereits Maas ein: „Die Rechtschreibregeln sind nicht für Wörter definiert, sondern für Texte“ (Maas 1992: 156). Aus diesem Grund gebraucht Ossner auch den Begriff „Textreferenz“ (Ossner 2010: 206) und bescheinigt der aktuellen Rechtschreibung, von einigen Inkonsequenzen abgesehen, insgesamt eine entsprechende Funktionalität im Dienste des Textverstehens: „Textreferenzausdrücke werden großgeschrieben, referierende Ausdrücke […] klein.“ (Ossner 2010: 207). Textuales Prinzip Großschreibung dient der Textreferenz - unabhängig von der Wortart 109 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="119"?> Didaktisch kommt es darauf an, bei der Vermittlung der Groß- und Kleinschreibung von Anfang an, also schon in der Grundschule, dem syntaktischen wie textualen Prinzip Raum und Geltung zu verschaffen (vgl. Maas 1992: 174 f.). Als Beitrag zur Einführung syntaktischer Aspekte in den Rechtschreibunterricht der Primarstufe präsentieren Hartmut Günther und Ellen Nünke in Anlehnung an Röber-Siekmeyer (1999) ein abwechslungsreiches und spielerisches Unterrichtsmodell für das Ende der 2. Klasse, das von einem produktiven sowie Großschreibung, Adjektivattribuierung und Adjektivdeklination reflektierenden Umgang mit sogenannten Treppengedichten ausgeht (vgl. H. Günther/ Nünke 2005: 16-49). Diese basieren jeweils auf einer sich stufenartig erweiternden Nominalphrase und sind etwa in folgender Art gestaltet: das Krokodil das große Krokodil das große, grüne Krokodil das große, grüne, hungrige Krokodil lebt am Nil Dieser am syntaktischen Prinzip orientierte didaktische Ansatz lässt sich ausgehend von Ossner (2010) in dreifacher Hinsicht ergänzen: 1. durch Versöhnung mit dem lexikalischen Prinzip, das in der reformierten Rechtschreibung für die Großschreibung noch immer eine Rolle spielt, gilt dort doch „weiterhin der Unterschied zwischen einem genuinen [= echten; TJ] und einem kontingenten [= zufälligen (da vom grammatischen Kontext abhängigen); TJ] Substantiv“ (Ossner 2010: 208); als Einstieg in den Erwerb der Substantivgroßschreibung empfiehlt Ossner daher in der von ihm vertretenen Lernprogression die Vermittlung inhaltlich für Kinder greifbarer Nomen: „Curricular bedeutet dies, dass man in der Grundschule ab dem 2. Schuljahr mit prototypischen Substantiven beginnt; dies sind Konkreta“ (Ossner 2010: 208); 2. durch die Didaktisierung der Artikelfähigkeit als Voraussetzung für die Großschreibung eines Wortes, zumal dieses Kriterium in der aktuellen Rechtschreibregelung zentral ist: Die Rechtschreibreform im Bereich der Groß- und Kleinschreibung zwingt heute dazu, das morphosyntaktische Merkmal von Anfang an zu behandeln, da im Wesentlichen alles, was mit einem Artikel verbunden ist (mit Ausnahme referierender Ausdrücke), großgeschrieben wird. Substantive sind Wörter, die mit der/ die/ das verbunden werden können (Ossner 2010: 208 [Hervorh. i. Orig.]); Didaktische Bedeutung des textualen und syntaktischen Prinzips Unterricht nach dem syntaktischen Prinzip Treppengedichte 110 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="120"?> auch die Rahmung der erweiterten Nominalphrase durch das Artikelwort mit seiner „Spannkraft“ oder „Reichweite“ (Ossner 2010: 210 f.) und das Nomen als entfernt stehendes Bezugswort dazu ist didaktisch aufzugreifen, denn Adjektive sind Wörter, „die nach dem Artikel und vor dem Substantiv stehen können“ (Ossner 2010: 208); curricular setzt Ossner diesen Schritt und erst recht die Einbindung von Abstrakta später an als H. Günther/ Nünke (2005), die beides bereits in ihr dem Muster des Treppengedichts entspringendes Konzept für die ausgehende 2. Klasse einschließen; anders Ossner, der noch für die gesamte 3. Klasse ausschließlich „Primärbegriffe“ wie „der Tisch, der Stuhl…; der Hund, die Katze“ vorsieht (Ossner 2010: 209 [Hervorh. i. Orig.]) und erst ab der 3. Klasse deren adjektivische Attribuierung thematisiert sehen möchte, schon ab Beginn der 2. Klasse allerdings die konkreten Begriffe selbst und ihre bei H. Günther/ Nünke (2005) eher vernachlässigte Artikelfähigkeit: Diese Substantive […] sollten von Anfang an mit dem Artikel eingeführt und im Satz mit dem erforderlichen Artikel behandelt werden. Ab dem 3. Schuljahr lernen die Schülerinnen, das Syntagma Artikel + Substantiv mit adjektivischen Attributen aufzufüllen. Auf diese Weise verfestigt sich eine semantisch-morphosyntaktische Vorstellung von Substantiven, die ab dem vierten Schuljahr auf sog. Abstrakta wie Angst, Freude, Traurigkeit … erweitert werden kann. (Ossner 2010: 209 [Hervorh. i. Orig.]) 3. durch den Einbezug der Referierbarkeit von Nomen in die didaktische Analyse. So wird den Kindern ab der 4. Klasse ein gedanklich vertiefender Zugang zum Problem der Großschreibung eröffnet und bei Überschreitung der Satzgrenze das textuale Prinzip nahegebracht. (Vgl. Ossner 2010: 208 f.) Tabellarisch gibt Ossner sein Curriculum der Groß- und Kleinschreibung für die Primarstufe in folgender Weise (Tab. 3.6) wieder: 2. Schuljahr 3. Schuljahr 4. Schuljahr Prototypische Substantive auf der Ebene von Primärbegriffen Syntagma: Art. + Subst. Art. + Adj. + Subst. Abstrakta (z. B. aus dem Gefühlswortschatz) Art. + Adj. + Subst. Erste Ansätze von Textreferenz Wichtig ist Ossner der Satzbezug der großzuschreibenden Nomen, der schon in der 2. Klasse stets herzustellen ist. Die Verknüpfung der Wortarten mit dem syntaktischen Prinzip strebt er mittels der von ihm entwickelten Wortschatzkiste an, auf deren Fächer die Kinder das Wortmaterial aus zuvor zerlegten Sätzen (aus Pappe) verteilen sollen, um umgekehrt aus den in der Tab. 3.6 Curriculum der Groß- und Kleinschreibung (Ossner 2010: 201) Wortschatzkiste 111 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="121"?> Kiste vorfindbaren Wörtern neue Sätze zusammenzufügen (vgl. Ossner 2010: 210; 2008: 243 f.): Zu einer sinnvollen Förderung sprachlicher Fähigkeiten gehört auch, dass mit der einen Hand nicht genommen wird, was mit der anderen gegeben wurde. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn in der 2. Klasse mühsam wandern als Verb eingeführt wird und dazu der Merksatz notiert wird, dass man Verben klein schreibe [sic! ]. Dies ist besonders kontraproduktiv, wenn zugleich das Lied das [sic! ] Wandern ist des Müllers Lust gesungen wird. Sinnvoll ist hier ein anderes Vorgehen. Schon früh sollten Schülerinnen daran gewöhnt werden, dass man Dinge ordnen kann, so auch Wörter […]. In der Orthographie sind […] die Wortarten wesentlich syntaktisch bestimmt. Daher sollte die Wortartbestimmung am Anfang ebenso verfahren. Ein einfacher Vorschlag ist eine Wortschatzkiste, in die Wörter aus Texten eingeordnet werden und aus der heraus Sätze gebaut werden. (Ossner 2008: 243 f.) Abbildung 3.3 illustriert die Idee der Wortschatzkiste: Abb. 3.3 Wortschatzkiste für die Primarstufe (Ossner 2008: 244) Nachdem nun die orthografische Strategie, die gemäß Frith’ Modell des Schriftspracherwerbs in dessen Phase 3 auftritt, genauer auf wesentliche orthografische Prinzipien hin betrachtet worden ist, sei noch kurz die spekulative, aus dem Kernmodell ausgelagerte Phase 4 beleuchtet. Laut Frith erlangt in ihr die Schriftsprache möglicherweise völlige System-Autonomie gegenüber dem mündlichen Sprechen, sodass mit dieser vermuteten spätesten Erwerbsphase - in der Terminologie des vorliegenden Lehrbuchs ausgedrückt - das Konzept der Distanzkommunikation innerhalb des grafischen Mediums uneingeschränkt verfügbar würde. Dabei kann es sich freilich nur um ein sehr fortgeschrittenes Stadium der Schriftsprachbeherrschung weit jenseits der Primarstufe handeln. Es ist hier (Abb. 3.4) als während der Schulzeit kaum - wenn überhaupt jemals - erreichbares Fernziel im didaktischen Würfel abgebildet. Phase 4 nach Frith bleibt spekulativ 112 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="122"?> Abb. 3.4 Kompetenzbereiche „Schreiben“ und „Lesen“ der Allgemeinen Hochschulreife und darüber hinaus: Medial grafische konzeptionelle Distanzkommunikation in der Rolle der Produktion und Rezeption (Blau = Phase 4 des Schriftspracherwerbs nach Uta Frith 1985: 309) Eine solche Kompetenzfacette, sofern sie vorstellbar ist, wäre wünschenswert nur als ein kommunikatives Register neben anderen, denn das Konzept der Nähe soll nicht ersetzt, sondern ergänzt werden. Frith selbst stellt die von ihr angenommene Phase 4 in folgenden Worten dar: Once the three phases have been passed through one could consider the essential period for literacy acquisition to be completed. However, at least a Phase 4 is conceivable where the independence of written from spoken language is achieved and written language is handled as a system in its own right. Too little is known about this further development of functional literacy, but it need not concern us here, because not reaching a higher level of skill than Phase 3 is not usually regarded as failure. (Frith 1985: 309 [Hervorh. i. Orig.]) Wenn die drei Phasen durchlaufen worden sind, könnte man die für den Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit wesentliche Periode für vollendet halten. Jedoch ist zumindest eine Phase 4 denkbar, in der die Unabhängigkeit der geschriebenen von der gesprochenen Sprache erlangt und geschriebene Sprache als ein System eigenen Rechts gehandhabt wird. Zu wenig ist bekannt über diese weitere Entwicklung der funktionalen Lese- und Schreibfähigkeit, aber das muss uns hier nicht beunruhigen, denn nicht ein höheres Fähigkeitsniveau als in Phase 3 zu erreichen, wird normalerweise nicht als Scheitern betrachtet. [Übers. v. TJ] 113 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="123"?> Sowohl dieser hier vage umrissenen Phase 4 als auch der von Frith ebenfalls nur gestreiften präliteralen Phase, die sich aber bereits in Kapitel 7 als für die frühkindliche Lesesozialisation wichtig erwiesen hat, widmet Klaus B. Günther (1995) etwas mehr Aufmerksamkeit. Dem von Frith stammenden Kernmodell des Schriftspracherwerbs fügt er die beiden Phasen als jeweils früheste und späteste noch hinzu. In der präliteralen Phase 0 ist das Kind auf Bild- und Symbolhaftigkeit ohne realistischen Abbildungsanspruch und ohne Erkenntnis der kommunikativen Besonderheit des Schriftsystems ausgerichtet (vgl. K. B. Günther 1995: 101). Die fortgeschrittenste Phase 4 ist bei Günther inhaltlich zum Teil ähnlich gefasst wie bei Frith, wird aber mit größerer Gewissheit und zeitlich wohl früher in Aussicht gestellt: Ad Phase 4 Es ist davon auszugehen, daß die Aneignung der orthographischen Strategie wegen der Vielfalt und Komplexität der implizierten linguistischen Regeln einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt, auch wenn sie in Ansätzen […] schon Kindern mit einem Lesealter von 7 Jahren verfügbar ist, bis der Gebrauch der Schrift automatisch als integrativer Prozeß abläuft. Um dies in dem Modell festzuhalten, haben wir der Vorlage von Frith […] noch eine integrativ-automatisierte Phase hinzugefügt. Sie stellt eigentlich keine neue Strategie mehr dar, sondern bezeichnet den schriftlichen Sprachgebrauch des kompetenten Lesers und Schreibers in einem autonomen und funktionsspezifischen Repräsentationssystem der Sprache. (K. B. Günther 1995: 109 [Hervorh. i. Orig.]) Mit der Benennung der Phase 4 als „integrativ-automatisierte“, in welcher „der Gebrauch der Schrift automatisch als integrativer Prozess abläuft“, betont K. B. Günther allerdings nicht so sehr wie Frith die Eigengesetzlichkeit der Schriftsprache, sondern eher die Verschmelzung und Flüssigkeit der mannigfaltigen Prozesse beim Lesen und Schreiben. Die Phasenmodelle des Schriftspracherwerbs sind zur Diagnostik und Förderung in der Grundschule mehrfach aufgegriffen worden (vgl. Scheerer- Neumann 2015: 59 ff.; Schründer-Lenzen 2013: 74 ff.; Valtin 1997: 83). Eine problematische Auswirkung der didaktischen Orientierung an solchen eher linearen Entwicklungsmodellen kann nicht zuletzt im vorwiegend anzutreffenden analytisch-synthetischen Unterricht (in dem größere Spracheinheiten analysiert und kleinere wie Grafe und Grafeme zu größeren synthetisiert werden) ein verspätetes Angebot der orthografischen Strategie und der damit verbundenen orthografischen Prinzipien sein (vgl. Schründer-Lenzen 2013: 75): Unterstützt durch die heute in Deutschland favorisierte analytisch-synthetische Leselehrmethode, steht zunächst die Lautorientierung der Schrift im Schriftspracherwerbs-Modell von K. B. Günther Phase 0 nach K. B. Günther: Präliterale Phase Phase 4 nach K. B. Günther: Integrativautomatisierte Phase Schriftspracherwerbs-Modelle: Lerndiagnostik und Förderung auf der Primarstufe Problematik linearer Entwicklungsmodelle 114 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="124"?> Vordergrund; erst später werden orthographische Strukturen erworben und genutzt. (Scheerer-Neumann 2015: 60 [Hervorh. i. Orig.]) Hierzu merkt Sylvia Costard kritisch an, dass kognitionswissenschaftliche Studien auf einen gleichzeitigen Erwerb der alphabetischen und der orthografischen Strategie hindeuten (vgl. Costard 2011: 70): Es wird anders als in den Stufenmodellen davon ausgegangen, dass der Aufbau des orthografischen Lexikons von Beginn des Schriftspracherwerbs an eine wichtige Rolle spielt. (Costard 2011: 70) Scheerer-Neumann reflektiert und relativiert solche Kritik an der Annahme von sukzessiven Erwerbsphasen, indem sie den die alphabetische Phase begleitenden Lexikonaufbau berücksichtigt und in das Entwicklungsstadium differenziert einordnet (vgl. Scheerer-Neumann 2015: 61). Insgesamt weist sie die Einschätzung des Phasenmodells als starr hierarchisierend zurück, da mit ihm die Anbahnung einer Phase parallel zu einer anderen, noch vorherrschenden vereinbar sei. Auch würden die älteren Strategien nicht unwiderruflich von den jüngeren abgelöst, sondern stünden weiterhin zur Verfügung: Stufen dürfen auch nicht als streng abgrenzbare Phasen verstanden werden; dynamische Entwicklungsprozesse implizieren schon während der Dominanz bestimmter Verarbeitungsprozesse die Vorbereitung der nächsten Stufe; zudem bleibt der Rückgriff auf die Strategie einer früheren Entwicklungsstufe bestehen. (Scheerer-Neumann 2015: 61 [Hervorh. i. Orig.]) Diesen Überlegungen entsprechend modelliert Scheerer-Neumann den Schriftspracherwerb nach wie vor entlang der von Frith festgelegten Phasenabfolge, wie sich auch am Beispiel des Wortlesens zeigt (Tab. 3.7): Parallelität des alphabetischen und orthografischen Strategieerwerbs Bewahrung älterer Strategien Schriftspracherwerbs-Modell von Scheerer-Neumann 115 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="125"?> Phase/ Strategie Lesestrategie Mentales Lexikon Bildungsstadium 0 präliteral Unterscheidung zwischen Schrift und Bildern vorschulisch 1 logografemisch 1a Logografemisches (‚ganzheitliches‘) Worterkennen Wenige Sichtwörter Ausgewählte visuelle Merkmale vorschulisch 1b Logografemisches Worterkennen mit Lautieren weniger Grafeme Etwas größerer Sichtwortschatz vorschulisch, Beginn 1. Schuljahr 2 alphabetisch 2a Beginnendes Erlesen Einheiten: Grafeme und Foneme in ihrer Korrespondenz Schwierig: längere Wörter, Konsonantencluster Kontextbezogene Sichtwörter (z. B. Fibelwörter) Erste Monate 1. Schuljahr 2b Konsequentes Erlesen Einheiten: Grafeme und Foneme in ihrer Korrespondenz Synthese gelingt auch bei Konsonantenclustern Fonologisch strukturierte Sichtwörter Zweite Hälfte 1. Schuljahr 3 orthografisch 3a Beginnende orthografische Strategie Größere Einheiten (z. B. Silben) Beginnende Automatisierung Fonologisch und morphemisch strukturierte Sichtwörter Ab 2. Schuljahr 3b Entfaltete orthografische Strategie Größere Einheiten (Silben, Morpheme) Nutzung orthografischer Strukturen Weitgehende Automatisierung des indirekten Wortlesens Fonologisch und morphemisch strukturierte Sichtwörter Ab 3. Schuljahr Tab. 3.7 Entwicklung des Wortlesens auf dem (früh)kindlichen Bildungsweg (nach Scheerer-Neumann 2015: 74; Frith 1985; K. B. Günther 1995) 116 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="126"?> Um auch das Rechtschreiben in ihr Erwerbsmodell einbeziehen zu können, konstruiert Scheerer-Neumann (2015) analog zum Zwei-Wege-Modell des Wortlesens (vgl. oben Abb. 3.2) ein eigenes Zwei-Wege-Modell des Rechtschreibens, das hier in modifizierter Gestalt wiedergegeben sei (Abb. 3.5). Mit Hilfe von Scheerer-Neumann (2015) lassen sich das Phasenmodell und, mit seinem direkten und indirekten Weg zum Lesen wie zum Schreiben, das Zwei-Wege-Modell übersichtartig zueinander in Beziehung setzen (Tab. 3.8): Phase/ Strategie Hauptweg zum Lesen: Für den direkten Weg: Mentales Lexikon Hauptweg zum Rechtschreiben: 1 logografemisch Direkter Weg: Erkennen von Wörtern an visuellen Merkmalen/ einzelnen Buchstaben Begrenzter, aber wachsender Sichtwortschatz; ausgewählte visuelle Merkmale; Lernwörter Direkter Weg: Auswendiglernen der Buchstaben weniger Wörter (z. B. Namen) 2 alphabetisch Indirekter Weg: Erlesen auf der Basis der Grafem-Fonem-Korrespondenz Kontextbezogene Sichtwörter (z. B. Fibelwörter); später fonologisch strukturierte Sichtwörter; Lernwörter Indirekter Weg: Lautorientiertes Schreiben auf der Basis der Grafem- Fonem-Korrespondenz 3 orthografisch Indirekter Weg: Lesen auf der Basis größerer Einheiten (Silben, Morpheme) und orthografischer Strukturen Fonologisch und morphemisch strukturierte Sichtwörter; Lernwörter Indirekter Weg: Alphabetisches Schreiben, überformt durch orthografische Strukturen 4 integrativ-automatisiert Direkter Weg: Abrufen von Wörtern aus dem mentalen Lexikon Fonologisch und morphemisch strukturierte Sichtwörter; Lernwörter Direkter Weg: Automatisiertes orthografisches Schreiben Der Begriff der Lernwörter in Tabelle 3.8 wird von Scheerer-Neumann (2015) dem Rechtschreiben zugeordnet und den für das Lesen hilfreichen Sichtwörtern gegenübergestellt: Schon während des Erwerbs der alphabetischen Strategie beginnt […] die Speicherung wortspezifischer Eintragungen im orthographischen [nicht mehr logografemischen; TJ] Lexikon als Sichtwörter (Lesen) und Lernwörter (Rechtschreiben). (Scheerer-Neumann 2015: 61) Tab. 3.8 Schriftspracherwerb: Lesen und Rechtschreiben 117 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="127"?> Das mentale Lexikon hält mit den darin gespeicherten Sichtwörtern und Lernwörtern den direkten Weg zum Lesen und Schreiben offen, auch wenn dieser als Hauptweg nach der logografemischen Phase erst wieder in der integrativ-automatisierten Phase (nach K. B. Günther 1995: 99, 109) beschritten wird (vgl. Scheerer-Neumann 2015: 118). Die Anwendung von Erwerbsmodellen der angedeuteten Art ist vielfältig: Gerade ihre Vorhersage erwartbarer und regulärer Entwicklungsschritte lässt im Kontrast dazu individuelle, etwa im Tempo abweichende Erwerbsverläufe kenntlich werden. Die betroffenen Kinder können dann durch Binnendifferenzierung, also durch Ermöglichung unterschiedlicher Lerngeschwindigkeiten und Lernformen innerhalb einer Klasse, gefördert werden. Zudem erfährt jedes Erwerbsstadium eine Würdigung als notwendige Phase besonderer Umgangsweisen mit den Anforderungen des Lesens und Schreibens. ‚Fehler‘ werden - als wichtige Indizien des vom Kind schon erreichten Entwicklungsstandes - zur Diagnose und zur Entscheidung über dem Kind auf seinem Niveau angemessene Fördermaßnahmen genutzt (vgl. Valtin 1997: 83 f.). Als kompaktes Hilfsmittel für ein solches Vorgehen bietet sich auch Renate Valtins tabellarische Darstellung der schriftsprachlichen Erwerbs- Abb. 3.5 Zwei-Wege-Modell des Rechtschreibens (nach Scheerer-Neumann 2015: 58, 112; Coltheart 2005: 12) Schriftspracherwerbs-Modelle: Diagnose von Abweichungen ‚Fehler‘ als Hinweise für Diagnose und Förderung 118 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="128"?> prozesse an (vgl. Tab. 3.9), da sie - bei aller Kürze - die Diagnose erleichternde Beschreibungen der einzelnen Lernstadien enthält. Relativierend vorausgeschickt sei jedoch mit Valtin das Zugeständnis, dass Lesen und Schreiben nicht von allen Kindern exakt analog erworben werden: Ob sich die Entwicklungsverläufe zwischen Lesen- und Schreibenlernen tatsächlich so parallel entwickeln, wie die Tabelle suggeriert, ist noch nicht geklärt. Wie die vorliegenden Falldarstellungen […] zeigen, sind die Beziehungen zwischen Lesen und Schreiben nicht eindeutig. Einige Kinder lernen erst die alphabetische Strategie beim Schreiben, d. h. sie verschriften (halb-) phonetisch, können aber z. T. nicht lesen, was sie selbst geschrieben haben. […] Andere Kinder können schon einzelne Wörter synthetisierend [d. h. Foneme anhand von Grafemen zusammenziehend; TJ] lesen, bevor sie mit dem Schreiben beginnen. (Valtin 1997: 82 f.) Valtins von ihr selbst mit den zitierten Worten kommentierte Tabelle wird hier für die Wiedergabe modifiziert, insbesondere durch die Zuordnung von Phasenbezeichnungen nach Frith (1985) und K. B. Günther (1995) sowie eine entsprechend angepasste Phasennummerierung, aber auch sprachlichinhaltlich: Phase/ Strategie Fertigkeiten, Fähigkeiten, Einsichten Schriftsprache allgemein Lesen Schreiben 0 präliteral Äußerliche Nachahmung beobachteten Schriftsprachgebrauchs Simulation von Lesen und Vorlesen Simulation von Schreiben = Kritzeln 1 logografemisch Kenntnis einzelner Buchstaben anhand figurativer Merkmale Erraten von Wörtern aufgrund visueller Merkmale von Buchstaben(teilen) (z. B. Erraten von Firmenlogos) Malen von Buchstabenreihen (z. B. Malen des eigenen Namens) 2 alphabetisch 2a Beginnende Einsicht in den Buchstaben-Laut- Bezug, Kenntnis einiger Buchstaben/ Laute Benennen von Lautelementen häufig orientiert am Anfangsbuchstaben, Abhängigkeit vom Kontext Schreiben von Lautelementen häufig orientiert an prägnantem Anlaut, Skelettschreibungen 2b Einsicht in die Buchstaben-Laut-Beziehung Buchstabenweises Erlesen Übersetzung von Buchstaben- und Lautreihen, Fonetisches Schreiben nach dem Prinzip: „Schreibe, wie du sprichst! “ Tab. 3.9 Entwicklungsmodell des Lesen- und Schreibenlernens Lese- und Schreib- Entwicklung 119 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="129"?> Phase/ Strategie Fertigkeiten, Fähigkeiten, Einsichten Schriftsprache allgemein Lesen Schreiben gelegentlich ohne Sinnverständnis 3 orthografisch 3a Verwendung orthografischer bzw. sprachstruktureller Elemente Fortgeschrittenes Lesen Verwendung von größeren Einheiten (z. B. von mehrgliedrigen Schriftzeichen, Silben, Endungen wie -en, -er) Fortgeschrittenes Schreiben Verwendung von orthografischen Mustern (z. B. von nicht aussprachegetreuen Umlauten, und zwar wegen des Stammmorphems, also etwa <Länder> trotz Aussprache mit/ ɛ / und nicht/ æ/ , und zwar wegen <Land>; von Endungen wie -en, -er; ); gelegentlich falsche Generalisierungen 3b Automatisierung von Teilprozessen Zunehmend automatisiertes Worterkennen dadurch leseförderliche kognitive Entlastung für die Bildung von Hypothesen über den weiteren Inhalt des Satzes Zunehmend automatisiertes Rechtschreiben durch entfaltete orthografische Kenntnisse Wie indessen der Schriftspracherwerb in der Zweitsprache Deutsch bei Kindern auf der Primarstufe genau verläuft, ist bisher noch kaum erforscht (vgl. Schulte-Bunert 2015: 132). Dass bei L2-Kindern, also bei solchen Grundschüler_innen, die Deutsch als Zweitsprache erlernen, signifikant häufiger als bei L1-Kindern eine Entwicklungsverzögerung im Erwerb der Lesefähigkeit und somit Leseschwierigkeiten oder eine anhaltendere Leseschwäche zu diagnostizieren sind, belegen die regelmäßig alle fünf Jahre durchgeführten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchungen (IGLU). Zwar zeigen in Deutschland die nicht signifikant unterschiedlichen Ergebnisse von 2006 und 2011 gegenüber 2001 eine leichte Verbesserung, die womöglich auf verstärkte einschlägige Sprachfördermaßnahmen zurückzuführen ist (vgl. Schwippert u. a. 2012: 200, 205). Nichtsdestoweniger besteht immer noch gesteigerter Förderbedarf für L2-Lernende (informativ Schriftspracherwerb in Deutsch als Zweitsprache Verzögerung beim Lesen Internationale Grundschul-Lese-Untersuchungen Hoher Förderbedarf der DaZ-Lernenden 120 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="130"?> hierzu: Niebuhr-Siebert/ Baake 2014). Zu berücksichtigen ist allerdings, dass neben der nicht-deutschen Familiensprache auch der soziale Status die Leseentwicklung beeinflusst. Dieser Faktor wirkt sich ebenso auf L1-Kinder aus, weshalb die Förderung der Lesekompetenz auf individueller Diagnostik beruhen und nicht von vornherein an einen Migrationshintergrund gebunden sein sollte (vgl. Schwippert u. a. 2012: 206). Ganz ähnlich wie beim Lesen stellt sich die Situation der L2-Lernenden im Verhältnis zu den L1-Kindern beim Rechtschreiben dar (vgl. Scheerer- Neumann 2015: 38 f.). In Bezug auf LRS, ausgeschrieben: Lese-Rechtschreib- Schwierigkeiten (die zu beheben und nicht dauerhaft sind) oder Lese- Rechtschreib-Schwäche (die schwerer zu beheben und dauerhafter ist), lässt sich also - auch über die Primarstufe hinaus - generell resümieren: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in der Gruppe der LRS stark überrepräsentiert; betroffen sind vor allem Kinder/ Jugendliche, deren Eltern beide im Ausland geboren wurden. Ein Teil des Effekts hängt allerdings mit dem höheren Anteil der Migrantenfamilien in den unteren sozialen Schichten zusammen. (Scheerer-Neumann 2015: 41) So ermutigend wie für die schulische Didaktik und Methodik herausfordernd ist aber die Erkenntnis der Spracherwerbsforschung, dass durch Migration und Sozialstatus bedingte Rückstände von Kindern, die Deutsch als Zweitsprache womöglich erst in der Schuleingangsphase zu lernen beginnen, bei gezielter Förderung durchaus aufholbar sind. Die Zweisprachigkeit als solche stellt hierfür laut Stefanie Haberzettl kein unüberwindbares Hindernis dar: An dieser Stelle soll nur festgehalten werden, dass Kinder, selbst wenn sie erst bei Schuleintritt in den L2-Erwerb einsteigen, das nötige Rüstzeug - wie auch immer dieses Rüstzeug genau zu bestimmen ist - dafür mitbringen. Ob sie im Laufe ihrer deutschsprachigen Schulkarriere eher Erfolge oder eher Misserfolge erleben werden, hängt vom weiteren Ausbau ihres kerngrammatischen Fundaments und ihres Wortschatzes sowie vom Aufbau ihrer Textkompetenz und damit von Kompetenzen ab, die vom Einstiegsalter sowie der Mehrsprachigkeit unabhängig sind. (Haberzettl 2014: 8) Eine integrative Spracharbeit unterstützt den für den Bildungsweg von L2- Kindern entscheidenden Kompetenzerwerb. Sie ist auch im (binnendifferenzierten) Regelunterricht möglich. Ausschlaggebend ist, dass sie Grammatik und Wortschatz im Satz- und Textzusammenhang vermittelt. Dies kann anhand fiktionaler (Bilderbuch-) Texte und anhand faktualer Texte geschehen. Ein so bewirkter Kompetenzgewinn führt zudem, einen sprachsensiblen und insofern die ausgewiesenen Deutschstunden flankierenden Fachunterricht vorausgesetzt, zum Aufbau von Fachsprache etwa der Sachkunde oder Einfluss des sozialen Status auf die Leseentwicklung Rechtschreib-Problematik bei DaZ-Lernenden Chancen der Förderung von DaZ-Lernenden Integrative Spracharbeit im Regelunterricht 121 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="131"?> Biologie. Solch eine Thematisierung der sprachlichen und nicht nur der gegenstandsbezogenen Aspekte verschiedener Fächer öffnet von der Primarstufe an auch für L2-Lernende den Zugang zu bildungssprachlicher und fachsprachlicher Distanzkommunikation (vgl. Reiß-Held/ Hohbauer 2015: 9-17, 48-65, 117-141). Alternativ wird ein den Regelunterricht ergänzender separater Förderunterricht für L2-Lernende in der Grundschule empfohlen, insbesondere im Hinblick auf den schriftsprachlichen Anfangsunterricht. Damit die Kinder nicht-deutscher Erstsprache diesem Unterricht - der in ihrem Interesse möglichst einer Fibel folgt - überhaupt gewachsen sind, sollen sie ihren Wortschatz und ihre Grammatikkenntnisse zielgerichtet erweitern. Wichtig ist zudem die Entwicklung fonologischer Bewusstheit für die deutsche Sprache, da die L2-Lernenden mit der eigenen Prosodie ihrer Erstsprache aufgewachsen sind. Erst unter den genannten Lernvoraussetzungen lexikalischer, grammatischer und fonologischer Art kann der Schriftspracherwerb in der Zweitsprache Deutsch die alphabetische und orthografische Phase durchlaufen (Vgl. Schulte-Bunert 2015: 143 f., 150). Übungen 1. Beschreiben und erläutern Sie das Schriftspracherwerbs-Modell nach Frith in seinen wesentlichen Zügen. 2. Stellen Sie die Schriftspracherwerbs-Modelle nach Frith und K. B. Günther einander gegenüber. 3. Welche Schriftspracherwerbs-Modelle können Sie insgesamt nennen? 4. Welche didaktischen Funktionen erfüllen Schriftspracherwerbs-Modelle? 5. Erläutern Sie das Zwei-Wege-Modell des Wortlesens nach Coltheart und Scheerer-Neumann. 6. Erläutern Sie das Zwei-Wege-Modell des Rechtschreibens nach Scheerer- Neumann. 7. Welche Probleme zeigen sich beim Schriftspracherwerb von DaZ-Lernenden auf der Primarstufe? 8. Auf welchen Wegen lässt sich von der Primarstufe an ein erfolgreicher Schriftspracherwerb im Deutschen als Zweitsprache erreichen? 9. Stellen Sie das Silbengelenkmodell und das Akzentmodell mit ihren Begründungen der schriftsprachlichen Konsonantenverdoppelung einander gegenüber. 10. Erklären Sie die satzinterne Großschreibung nach dem syntaktischen Prinzip. 11. Erklären Sie die satzinterne Großschreibung nach dem textualen Prinzip. 12. Nennen Sie didaktische Ansätze zur Vermittlung der satzinternen Großschreibung auf der Primarstufe. Fachsprachliche und bildungssprachliche Distanzkommunikation Fibellehrgang und separate Förderung �� 122 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="132"?> Verwendete und weiterführende Literatur Augst, Gerhard, Mechthild Dehn (2013): Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht. Können - Lehren - Lernen. Eine Einführung für Studierende und Lehrende aller Schulformen. 5 Aufl. Seelze: Kallmeyer Klett. Barkow, Ingrid, Claudia Müller (2016) (Hg.): Frühe sprachliche und literale Bildung. Sprache lernen und fördern im Kindergarten und zum Schuleintritt. Tübingen: Narr. Betzel, Dirk (2015): Zum weiterführenden Erwerb der satzinternen Großschreibung. Eine leistungsgruppendifferenzierte Längsschnittstudie in der Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider- Verlag Hohengehren. Busch, Albert, Oliver Stenschke (2008): Germanistische Linguistik. 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Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. S. 83-95. Eisenberg, Peter (2016): Phonem und Graphem. In: Angelika Wöllstein (Hg.): Duden Bd. 4. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 9. Aufl. Berlin: Dudenverlag. S. 19-94. Frith, Uta (1985): Beneath the surface of developmental dyslexia. In: Karalyn E. Patterson, John C. Marshall, Max Coltheart (Hg.): Surface dyslexia: Neuropsychological and cognitive studies of phonological reading. London: Lawrence Erlbaum Associates. S. 301-330. Frith, Uta (1986): Psychologische Aspekte des orthographischen Wissens: Entwicklung und Entwicklungsstörung. In: Gerhard Augst (Hg.): New trends in graphemics and orthography. Berlin: de Gruyter. S. 218-233. Günther, Hartmut, Ellen Nünke (2005): Warum das Kleine groß geschrieben [sic! ] wird, wie man das lernt und wie man das lehrt. Duisburg: Gilles & Francke. Günther, Klaus B. (1995): Ein Stufenmodell der Entwicklung kindlicher Lese- und Schreibstrategien. In: Heiko Balhorn, Hans Brügelmann (Hg.). Rätsel des Schriftspracherwerbs. Neue Sichtweisen aus der Forschung. Lengwil am Bodensee: Libelle. S. 98-121. Güthert, Kerstin (2016): Aktuelle Änderungen des Rats für deutsche Rechtschreibung 2016 - Hintergründe und 123 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="133"?> Begründungen. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 63 H. 4. S. 371-398. Haberzettl, Stefanie (2014): Zweitspracherwerb und Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft. In: Solveig Chilla, Stefanie Haberzettl (Hg.): Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen. Mehrsprachigkeit. München: Elsevier. S. 3-18. International Phonetic Alphabet Chart (2005): de.scribd.com/ document/ 334781/ International-Phonetic-Alphabet-Chart-c-2005 (Abfragedatum: 02.10.2016). International Phonetic Association (2014): Handbook of the International Phonetic Association. A guide to the use of the International Phonetic Alphabet. 15. Aufl. 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Wiesbaden: Springer Fachmedien. 124 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="134"?> Schulte-Bunert, Ellen (2015): Schriftspracherwerb in der Zweitsprache Deutsch. In: Magdalena Michalak, Michaela Kuchenreuther (Hg.): Grundlagen der Sprachdidaktik Deutsch als Zweitsprache. 3. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. S. 129-153. Schwippert, Knut, Heike Wendt, Irmela Tarelli (2012): Lesekompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. In: Wilfried Bos, Irmela Tarelli, Albert Bremerich-Vos u. a. (Hg.): IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann. S. 191-207. Thomé, Günther (2014): Warum man das Schriftsystem des Deutschen nicht als ein silbisches bezeichnen sollte. In: Katja Siekmann (Hg.): Theorie, Empirie und Praxis effektiver Rechtschreibdiagnostik. Tübingen: Stauffenburg. S. 13-27. Valtin, Renate (1997): Stufen des Lesen- und Schreibenlernens - Schriftspracherwerb als Entwicklungsprozeß. In: Dieter Haarmann (Hg.): Handbuch Grundschule Bd. 2. Fachdidaktik: Inhalte und Bereiche grundlegender Bildung. 3. Aufl. Weinheim: Beltz. S. 76-88. Weinhold, Swantje (2009): Effekte fachdidaktischer Ansätze auf den Schriftspracherwerb in der Grundschule. Lese- und Rechtschreibleistungen in den Jahrgangsstufen 1-4. In: Didaktik Deutsch 15 H. 27. S. 53-75. 125 Themenblock 3 Schriftspracherwerb <?page no="135"?> 9 Ein integratives Modell der Lese- und literarischen Sozialisation - Kindheit Das von Garbe u. a. (2006) vorgeschlagene Modell der Lese- und literarischen Sozialisation, das mit seinen allgemeinen Grundannahmen sowie insbesondere mit seiner Beschreibung der frühen Kindheit schon in Kapitel 7 genauer eingeführt worden ist, weist für die spätere Kindheit ab 6 Jahren dem schulischen Schriftspracherwerb die auch in diesem Lehrbuch erkennbare Bedeutung zu. Das Grundschulkind entfaltet sukzessive seine Sprachbewusstheit, sodass es zunehmend selbständig das eigene Lesen und Schreiben überwachen und dessen Grenzen problematisieren sowie in heuristischer, also strategisch-problemlösender Weise erweitern kann. Durch die Automatisierung basaler Lese- und Schreibprozesse gewinnt das Kind bei seiner schriftsprachlichen Produktion wie Rezeption freigesetzte kognitive Kapazitäten hinzu, die ihm nunmehr für die inhaltliche Satz- und Textverarbeitung zu Gebote stehen. Während der Grundschulzeit gelingt es daher im Rahmen des weiterführenden Lesens und Schreibens, Texte zu verstehen und zu verfassen. Das Grundschulkind erringt dabei laut Garbe u. a. Identität als ein Ich, das vom interpersonalen Wir der frühen Kindheit unabhängiger wird, da es - den von den Autor_innen fokussierten schriftsprachlichen Bereich durchaus überschreitend - die Fähigkeit eigenständiger Rezeption und Produktion grafischer/ visueller und fonischer/ akustischer Medien weiterentwickelt. Im Zuge des fortschreitenden Schriftspracherwerbs eignet es sich zudem das selbständige Lesen und Schreiben literarischer Texte an, begleitet von der Betrachtung und Gestaltung fiktiven Welten zugehöriger Bilder sowie von eigenem mündlichen (Nach-)Erzählen oder dem Anhören medientechnologisch gespeicherter Geschichten. Speziell auf das grafische Medium bezogen, ermöglicht die - lesetechnisch bedingte - Bereicherung um inhaltlichen Lesegenuss und um eine neue Autonomie gegenüber den nicht länger als Vorlesende benötigten Erwachsenen die lustvolle Kinderlektüre, die für eine erfolgreiche Lesekarriere typisch ist (Kap. 6) (vgl. Garbe u. a. 2006: 135 f.). Der voranschreitende Schriftspracherwerb schafft somit das Fundament für eine weiterführende schriftsprachliche Literarisierung: Pointiert gesagt werden der lustorientierte Rezeptionsmodus der frühen Kindheit und die neu erworbenen Lesefähigkeiten nun zusammengeführt in Aktivitäten selbstständigen Lesens (vorwiegend in der Freizeit). (Garbe u. a. 2006: 137) Gemäß allen hier für die Primarstufe skizzierten Erwerbsleistungen (idealerweise) auf dem „Plateau der Heuristik und Autonomisierung“ (Garbe u. a. 2006: 135) unterwegs, verbindet also das Kind zwischen 6 und 11 Jahren als Bedeutung des schulischen Schriftspracherwerbs Automatisierung grundlegender Lese- und Schreibprozesse Identitätsentwicklung: vom Wir zum Ich Unabhängigkeit vom Vorlesen Lustvolle Kinderlektüre Plateau der Heuristik und Autonomisierung 126 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="136"?> ein sich immer stärker profilierendes Ich einen heuristisch forschenden Zugriff auf die Schriftsprache mit einer eigenständigen, autonomen Praxis des Literaturvergnügens. Heuristiken sind Verfahren zur Erkenntnisgewinnung oder Problemlösung. Das Adjektiv ‚heuristisch‘ bedeutet ‚eine Heuristik betreffend‘ oder ‚einer Heuristik folgend‘. In der Phase des Schriftspracherwerbs auf dem Plateau der Heuristik entwickeln Kinder Verfahren zur Erkundung des Schriftsprachsystems. Das Entwicklungsniveau von heuristischer Literalität und autonom genießender Literarität ist im schon bekannten Schaubild blau unterlegt (Abb. 3.6): Abb. 3.6 Plateaus der literalen und literarischen Entwicklung (nach Garbe u. a. 2006: 129) Die kindliche Freude vor allem an imaginär wunscherfüllender Literatur erwächst aus einem identifikatorischen Miterleben des fiktiven Geschehens (vgl. Garbe u. a. 2006: 135). Aus Sicht der Lesebiografieforschung pflichtet auch Graf diesem Befund bei: Kinder lesen identifikatorisch. Die Identifikation mit den Helden rücken befragte Erwachsene im Rückblick in den Mittelpunkt der Selbstdarstellung ihrer Lektüre der Kindheit, und die Leseforscher beschreiben mit dem Identifikationsbegriff den dominierenden Lesemechanismus der Kindheit. (Graf 2007: 54) Definition Identifikatorisches Lesen 127 Themenblock 3 Lese- und literarische Sozialisation - Kindheit <?page no="137"?> Was aber leistet Identifikation über eine von - wie es in der Literaturdidaktik oft heißt - Alterität, also Fremdheit, ungetrübte „Unterhaltungsfunktion“ (Graf 2007: 53) hinaus? Welche entwicklungsbezogene Funktion erfüllt identifikatorisches Lesen in der Kindheit? Zur Beantwortung dieser Fragen trägt die Erkenntnis bei, dass „die literarischen Welten neben der Alltagswelt zur Lebenswelt der Leser gehören“. Erich Schön fährt fort: „Lernprozesse in einer der Welten schlagen sich als Kompetenzen auch in anderen nieder.“ (Schön 1990: 232). Eine von Schön bereits für das Kindheitsalter empirisch erhobene, in ihrer Gültigkeit von anderer Seite allerdings auch angezweifelte Form der Identifikation, die sogenannte „Substitution“ (Schön 1990: 255; vgl. zur kritischen Rezeption Garbe u. a. 2006: 139), ermöglicht solch sozial lehrreiches Interferieren, d. h. Überlagern der fiktiven mit der außerliterarischen Welt der Lesenden: Erst auf der Basis einer solchen Substitution sind logisch affektive Beziehungen zu einem Protagonisten möglich; und sie sind nicht nur möglich, sondern sie sind - eine gelungene Substitution vorausgesetzt - grundsätzlich ebenso wahrscheinlich wie in der realen Alltagswelt. (Schön 1990: 256) Die so verstandene Substitution zeichnet sich nach Schön wesentlich dadurch aus, dass die mit ihr verbundene Identifikation nur eine zwischen der realen und der fiktiven Umwelt ist, noch nicht aber eine des lesenden Kindes mit einer literarischen Figur. Vielmehr wahrt das Kind seine eigene Identität und steht als es selbst in einem emotionalen Bezug zu den Figuren als zu Anderen, mit ihm nicht Identischen (vgl. Schön 1990: 256 ff.). Unter Berufung auf Schön berücksichtigt auch Graf die Substitution als eine Erscheinungsform kindlicher Identifikation beim Lesen (vgl. Graf 2007: 54 f.). Er reichert die Beschreibung des identifikatorischen Literaturgenusses in der Kindheit aber noch an, indem er auf die „Introjektion“ (Graf 2007: 55) hinweist, eine Aufnahme von Anteilen fiktiven Figurenverhaltens in die eigene Identität. In diesem psychischen Vorgang erkennt Graf den Akt einer quasi-oralen Vereinnahmung, die sich durch die sprachliche Bildhaftigkeit leseautobiografischer Äußerungen verrät, ist dort doch oft vom ‚Verschlingen‘ der Kindheitslektüre die Rede (Kap. 6): Die Metaphorik des Verschlingens verweist auf den oralen Charakter dieser Lektüre, was die analysierende Aufmerksamkeit auf eine weitere Unterform der Identifikation lenkt, nämlich die Introjektion, also die Übernahme fiktionaler Rollenangebote als Teil der eigenen Identität. (Graf 2007: 55) Von derartigen Rollenübernahmen, die im Zuge der vielfältigen Lektüren einer intensiven Lesekindheit immer wieder variieren, erwartet Graf eine Stimulierung des sozialen, emotionalen, ethischen und - dank Nachvollzug Fiktive Welt und Lebenswelt Identifikationsform Substitution nach Schön Identifikation realer und fiktiver Welt Keine Identifikation mit literarischen Figuren Identifikationsform Introjektion nach Graf Lernen aus fiktiven Rollen 128 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="138"?> der verschiedenen Perspektiven einander ablösender Identifikationsfiguren - auch kognitiven Lernens (vgl. Graf 2007: 54 f.). Die Erforschung kindlicher Identifikation beim Lesen ist freilich noch nicht abgeschlossen, sodass die hier vorgestellten Ansätze als vorläufige und der Weiterentwicklung bedürftige zu relativieren sind. Emotion/ Motivation Kognition Anschlusskommunikation/ Reflexion Aufbauende Literarisierung Lernen aus Literatur: Emotionales und soziales Lernen aus Literatur durch Beziehung zu fiktiven Welten und Figuren Lustvolle Rezeption fiktionaler Medien: Unterhaltung Freude an fiktiver Wunscherfüllung Identifikatorische Literaturrezeption (Substitution und Introjektion) Aufbauende Literarisierung Lernen aus Literatur: Ethisches Lernen und Perspektivenwechsel durch Identifikation mit verschiedenen literarischen Figuren Aufbauende Literalisierung Schulischer Schriftspracherwerb: Entwicklung von Sprachbewusstheit; zunehmend eigenständige strategische Sprach-Heuristik; metakognitive Selbstkontrolle (Monitoring); Automatisierung basaler Lese- und Schreibprozesse; dadurch Freisetzung kognitiver Kapazitäten für die Inhalte auf Satz- und Textebene; weiterführendes Lesen und Schreiben von Texten Aufbauende Literarisierung/ Literalisierung Rezeption und Produktion fiktionaler und faktualer Medien: Autonomisierung der Rezeption und Produktion fiktionaler wie faktualer grafischer/ visueller und fonischer/ akustischer Medien Ausbildung von Genrebewusstheit Aufbauende Literarisierung/ Literalisierung Austausch über fiktionale und faktuale Medien: Bereitschaft und Fähigkeit zum Austausch über Gelesenes und über Genrewie Lektürevorlieben (Freie) Reproduktion fiktionaler und faktualer Medien: Fähigkeit zur nacherzählenden oder zusamenfassenden medial grafischen und fonischen Wiedergabe von kürzeren fiktionalen und faktualen Texten Fähigkeit zur Umsetzung medial grafischer, besonders fiktionaler Texte in medial visuelle Kommunikate, also in Bilder Fähigkeit zum (szenischen) Nachspielen und Weiterspielen von fiktionalen, medial fonischen/ akustischen und grafischen/ (audio)visuellen Texten, also von zuvor rezipierten mündlichen Erzählungen, Hörbüchern, schriftlichen Geschichten, Bilderbüchern oder Filmen Tab. 3.10 Literales/ literarisches Kompetenzprofil auf dem Plateau der Heuristik/ Autonomisierung (nach Garbe u. a. 2006: 138; Schön 1990: 255 ff.; Graf 2007: 53 ff.) 129 Themenblock 3 Lese- und literarische Sozialisation - Kindheit <?page no="139"?> Die auf dem Plateau der Heuristik/ Autonomisierung erreichbaren emotional-motivationalen, kognitiven und kommunikativ-reflexiven Zugänge zu schriftsprachlichen, aber auch zu sonstigen faktualen und fiktionalen Medien lassen sich versuchsweise in einem Kompetenzprofil der Kindheit zusammenfassen (Tab. 3.10), partiell analog zu dem weiter oben für die frühe Kindheit ausgewiesenen Kompetenzprofil (vgl. Tab. 2.3). Übungen 1. Erläutern Sie das Plateau der Heuristik und Autonomisierung im integrativen Modell der Lese- und literarischen Sozialisation. 2. Welche Formen der Identifikation bei der Lektüre literarischer Texte werden Grundschulkindern seitens der Leseforschung zugeschrieben? Verwendete und weiterführende Literatur Eder, Ulrike (2015) (Hg.): Sprache erleben und lernen mit Kinder- und Jugendliteratur I. Theorien, Modelle und Perspektiven für den Deutsch als Zweitsprachenunterricht. Wien: Praesens. Garbe, Christine, Karl Holle, Maria von Salisch (2006): Entwicklung und Curriculum: Grundlagen einer Sequenzierung von Lehr-/ Lernzielen im Bereich des (literarischen) Lesens. In: Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik. Ein Weiterbildungsprogramm. Weinheim: Juventa. S. 115-154. Graf, Werner (2007): Lesegenese in Kindheit und Jugend. Einführung in die literarische Sozialisation. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Schön, Erich (1990): Die Entwicklung literarischer Rezeptionskompetenz. Ergebnisse einer Untersuchung zum Lesen bei Kindern und Jugendlichen. In: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft = SPIEL 9 H. 2. S. 229-276. Kompetenzprofil auf dem Plateau der Heuristik und Autonomisierung �� 130 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="140"?> 10 Leseförderung nach dem Mehrebenen-Modell des Lesens - Primarstufe Die Dimensionen der literalen und literarischen Kompetenz (Tab. 3.10) sind im Mehrebenen-Modell des Lesens von Cornelia Rosebrock und Daniel Nix (2008) wieder auffindbar, allerdings anders systematisiert und ausdifferenziert. Garbe u. a. (2006) beziehen sich in ihrer Modellbildung teilweise bereits auf diesen Ansatz, doch wird er hier separat dargelegt. Ausgangspunkt dafür soll ein Schaubild (Abb. 3.7) sein, das von dem durch Rosebrock und Nix (2008: 16) selbst gestalteten verdeutlichend abweicht. Die ursprüngliche Visualisierungsidee wird zwar beibehalten, aber statt eines kegelförmigen Ausschnitts aus drei konzentrischen Kreisen werden diese in Gänze wiedergegeben, sodass wesentliche Grundgedanken des Modells auch ohne den sehr instruktiven Kommentar von Rosebrock/ Nix (2008: 15 ff.) bereits auf einen Blick erahnbar sind. Zudem markieren Doppelpfeile Wechselwirkungen zwischen den Ebenen. Auf eine anschließende Erläuterung kann und soll gleichwohl nicht verzichtet werden. Abb. 3.7 Mehrebenen-Modell des Lesens (nach Rosebrock/ Nix 2008: 16) 131 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="141"?> Das Mehrebenen-Modell des Lesens nach Rosebrock/ Nix (Abb. 3.7) ist in didaktischer Hinsicht schulstufenübergreifend hilfreich, also nicht auf die in diesem Kapitel fokussierte Primarstufe beschränkt, sondern als Grundlage eines Curriculums, das auf die verschiedenen Lesekompetenzfacetten zielt, ebenfalls für die Sekundarstufe I (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 10) und sogar für die Oberstufe nutzbar. Für das Studierendenund/ oder Erwachsenenalter wird es hingegen kaum noch der Entwicklung von Lesecurricula dienen - so sinnvoll solche unter Umständen wären. Das Modell behält aber auch für diese Altersgruppen seine deskriptive Gültigkeit für den Lesevorgang als solchen. Nur die für den Leseerfolg wichtige Soziale Ebene wäre etwas anders zu fassen - nicht mehr so sehr durch die Herkunftsfamilie, nicht mehr durch gleichaltrige jugendliche Peers und Schule, sondern nun eher durch die selbst gegründete (familiäre) Lebensgemeinschaft und durch den Freundeskreis, durch Universität, Ausbildungsstätte oder Arbeitsplatz. Dass die mit der Sozialen Ebene des Modells zusammenhängende Leseentwicklung sich zumindest bis ins junge Erwachsenenalter fortsetzt, ist bereits aus Kapitel 6 über Leseautobiografieforschung und aus dem integrativen Modell der Lese- und literarischen Sozialisation von Garbe u. a. (2006) hervorgegangen. Durch die verschiedenen Altersstufen hindurch bleibt die für das Lesen wesentliche Qualität der Sozialen Ebene bestehen. Sie beruht auf der Anschlusskommunikation, die im familialen und freundschaftlichen, im schulischen und beruflichen sowie im kulturellen Umfeld einer Lektüre nachfolgen oder auch vorhergehen kann. So finden Lesende gedanklichen und emotionalen Anschluss an den gelesenen oder noch zu lesenden Text (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 23 f.). Auf dem frühkindlichen Plateau der Emergenz und Interpersonalität innerhalb des integrativen Lesesozialisationsmodells von Garbe u. a. (2006) begleitet solche Anschlusskommunikation auch den Rezeptionsprozess selbst, der idealerweise in ein Vorlesegespräch eingebettet ist (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 23). Zu diesem lesenden und zuhörenden Wir tritt dann auf dem schulkindlichen Plateau der Heuristik und Autonomisierung ein Ich hinzu, das den Lektürevorgang dank Schriftspracherwerb still und auf sich gestellt bewältigen kann. Die Anschlusskommunikation rahmt nun die Textbegegnung, durchdringt sie aber nicht mehr simultan wie in der Vorschulzeit. Für die auf der Subjektebene liegende Motivation, sich Textwelten zu erschließen, um darüber in Dialog und sozialen Kontakt zu treten, ist Anschlusskommunikation indessen nach wie vor ebenso wichtig wie für die ebenfalls im Subjekt verortete Beteiligung am Gelesenen und dessen Reflexion. Umgekehrt beeinflussen subjekthafte Motivation, Beteiligung und Reflexion sowie textrelevantes Wissen des lesenden Subjekts die Intensität der Anschlusskommunikation in Familie, Freundesgruppe und Schule. Mehrebenen-Modell des Lesens: auf alle Schulstufen didaktisch anwendbar Mehrebenen-Modell des Lesens: auch für das Erwachsenenalter aussagekräftig Soziale Ebene Anschlusskommunikation Subjektebene 132 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="142"?> Folglich steht gemäß dem Mehrebenen-Modell des Lesens von Rosebrock/ Nix die Soziale Ebene in Wechselwirkung mit der durch sie konzentrisch umschlossenen Subjektebene. Aber auch die kognitive Verarbeitung des Lesetextes auf der Prozessebene im Innersten des Modells ist abhängig vom Niveau der erfahrenen Anschlusskommunikationen und von Engagement wie Vorwissen des Subjekts. Gelingende kognitive Prozesse ihrerseits wirken auf das Subjekt motivierend, fördern dessen Nachdenklichkeit, erweitern seinen Wissenshorizont und bereichern auf der Sozialen Ebene seine Anschlusskommunikation. Wie immer das Subjekt sich als lesendes entfalten kann, bildet sich sein Selbstkonzept als Leser_in heraus. Ein positives Bild von der eigenen Lesekompetenz und von der eigenen Identität als schriftaffines Subjekt wird den kognitiven Verstehensprozess ebenso beflügeln wie den kommunikativen Austausch über den Textgehalt. Konzipiert sich das Subjekt hingegen als Nicht-Leser_in, sind Verstehens- und Verständigungsprobleme zu erwarten. Das sogenannte lesebezogene Selbstkonzept resultiert zu einem maßgeblichen Teil aus dem eher glücklichen oder unglücklichen Verlauf der Lese- und literarischen Sozialisation unter förderlichen oder hinderlichen biografischen Umständen auf der Sozialen Ebene: Solche motivationalen Selbstüberzeugungen als (Nicht-) Leser(in) kommen nicht aus dem Nichts: Sie sind milieugeprägt, beziehen sich auf Vorbilder, Erfahrungen und Rückmeldungen, die über das ganze Leben hinweg von den verschiedenen Lesesozialisationsinstanzen, also der Familie, der Schule, der Peer-Group usw. vermittelt bzw. verstärkt wurden. Das heißt, eine motivationale Überzeugung -beispielsweise: ‚Lesen ist (nicht) mein Fall‘ - ist in einer langen Lerngeschichte begründet und hat sich zu einem lesebezogenen Selbstkonzept verfestigt, das Teil der Identität ist. (Rosebrock/ Nix 2008: 22) Soziale und Subjektebene üben, so ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen, Einfluss auf das Lesen in dem engen Sinne eines kognitiven Prozesses, der mehr oder weniger erfolgreich vonstattengehen kann. Fünf Teilprozesse, die alle auf ihre Weise mentale Konstruktionstätigkeit verlangen, müssen den Lesenden auf der Prozessebene (vgl. Abb. 3.7) gelingen, damit ein Schrifttext in seinen verschiedenen Dimensionen kognitiv repräsentiert werden kann. Es ist somit ein mentales Modell der Textwelt, das in diesem komplexen Leseprozess sukzessive ausgebaut wird - oder eben bruchstückhaft und inkonsistent bleibt. Bleibt das mentale Modell unausgestaltet, kann dies daran liegen, ▶ dass die Lesenden schon an den hierarchieniedrigen Prozessen scheitern oder mühsam herumlaborieren, dass sie also Wechselwirkung zwischen Sozialer und Subjektebene Prozessebene Wechselwirkung zwischen Sozialer, Subjekt- und Prozessebene Selbstkonzept als Leser_in oder Nicht-Leser_in Herausbildung des lesebezogenen Selbstkonzepts in der Leselebensgeschichte Mentales Modell 133 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="143"?> 1. Buchstaben, Grafeme, Worte und Sätze nicht entziffern und nicht synthetisieren oder im besten Fall verlangsamt und nur teilautomatisiert decodieren können; 2. keine lokale Kohärenz bilden, das heißt keine inhaltlichen Zusammenhänge in und zwischen Sätzen herstellen; ▶ dass die Lesenden - erst recht, wenn sie die hierarchieniedrigen Prozesse nicht automatisiert haben, aber durchaus auch, wenn dieses schon geleistet ist - die hierarchiehohen Prozesse nicht bewältigen, dass sie also 1. keine globale Kohärenz bilden, sprich keinen den gesamten Text umfassenden inhaltlichen Zusammenhang herstellen, mit anderen Worten keine Makrostruktur erkennen; 2. keine Superstrukturen, das bedeutet keine für die Rezeptionslenkung wichtigen Text- und Genremuster (etwa des Volksmärchens oder eines deskriptiven Sachtextes) erkennen; 3. keine Textstrategien, also nicht die (etwa rhetorische, argumentative, parodistische, intertextuelle) Raffinesse und Konstruktionslogik der Darstellung erkennen. Die fünf für das Textverstehen erforderlichen Prozesse sind: 1. Grafem-, Wort- und Satzerkennung, 2. lokalen Kohärenzbildung, 3. globalen Kohärenzbildung, 4. Superstruktur-Erkennung und 5. Textstrategie-Erkennung. Sie finden, sofern sie vollzogen werden, synchron statt. Sie stehen aber entsprechend der aufsteigenden Nummerierung in einem hierarchischen Verhältnis zueinander: Die Grafem-, Wort- und Satzerkennung bildet als basale Leistung das Fundament des Leseprozesses, während die Erkennung von Text- oder „Darstellungsstrategien“ die höchste kognitive Anforderung stellt (Rosebrock/ Nix 2008: 16, 20; vgl. ausführlicher zur gesamten Prozessebene 17 ff.). Rosebrock/ Nix (2008: 10) legen den didaktischen Fokus zwar oft auf die Sekundarstufe I, beziehen das Mehrebenen-Modell des Lesens aber auch auf die Grundschule. Ihre Vorstellungen zur Leseförderung sind folglich von Interesse für die Primarstufendidaktik, erst recht, wenn sie durch eine schulstufenspezifische Reflexion ergänzt und modifiziert werden (vgl. Dehn 2010: 140-147). Fünf kognitive Teilprozesse des Textverstehens: synchron und hierarchisch 134 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="144"?> Die hierarchieniedrige Prozessebene: Lautleseverfahren und Leseflüssigkeit Die von Rosebrock/ Nix vorgeschlagenen Lautleseverfahren, importiert aus der englischsprachigen Forschung und daher im Folgenden teilweise mit englischen Termini verknüpft, zielen also dem Anspruch nach auf die Primarstufe und die Sekundarstufe I. Ihnen wird auf der Grundlage empirischer Forschung zugeschrieben, dass sie auf der Prozessebene die hierarchieniedrigen Prozesse fördern und so die Leseflüssigkeit (reading fluency) erhöhen. Als erwünschte Nebeneffekte ergeben sich ebenfalls auf der Prozessebene eine Förderung der hierarchiehohen Prozesse und somit des Textverstehens sowie auf der Subjektebene eine Stärkung des Selbstkonzepts als Leser_in und eine daraus resultierende Motivationssteigerung. Aufgrund der mit den Verfahren verbundenen Aufmerksamkeit für Fehllesungen wird auf der Subjektebene zusätzlich eine Aktivierung der Reflexion erwartet (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 31, 35, 44; 2015: 33, 36 f., 53). Leseflüssigkeit lässt sich demnach als wichtige Facette der Lesekompetenz in die Phasen des Schriftspracherwerbs auf der Primarstufe integrieren: Der Erwerb von Leseflüssigkeit ist dabei in einem unauffälligen Schriftspracherwerb idealtypisch nach der alphabetischen Phase und vor der Fähigkeit zum effizienten Umgang mit längeren Texten angesiedelt. (Rosebrock/ Nix 2008: 35) Die somit dem Schriftspracherwerb als unverzichtbare Komponente angehörende Leseflüssigkeit untergliedert sich wiederum in vier Teildimensionen. Die erste davon ist die Lesegenauigkeit oder Decodiergenauigkeit, die sich aus dem mehr oder weniger präzisen, sicheren und gegebenenfalls selbstkorrektiven Decodieren gelesener Wörter ergibt (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 35; 2015: 37). Exakter berechnen lässt sich die Decodiergenauigkeit aus der Anzahl der in einem bestimmten Zeitabschnitt fehlerfrei gelesenen Wörter geteilt durch die Gesamtzahl der in derselben Zeit gelesenen Wörter. Die Multiplikation dieses Wertes mit 100 führt dann zur Decodiergenauigkeit in Prozent (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 35 f.). Zu solch einer quantifizierenden Auffassung von Decodiergenauigkeit merkt indessen die US-amerikanische Lesedidaktikerin Gail Saunders-Smith kritisch an, dass der eigentlich sinnstiftende, dem kindlichen Streben nach Leseverstehen entsprechende Aspekt der Selbstkorrektur aus dem Blick zu geraten drohe (vgl. Saunders-Smith 2017: 39 f.): The superficial meaning of verbal accuracy indicates that a reader can just say the words. Yes, a positive correlation does exist between the number of words a student can read correctly and the student’s comprehension level. However, just reading words accurately does not guarantee understanding. Too often, accuracy is determined by the number of words a student can read without Funktionen der Lautleseverfahren Leseflüssigkeit im Schriftspracherwerb Vier Teildimensionen der Leseflüssigkeit Erste Teildimension der Leseflüssigkeit: Decodiergenauigkeit Kritik an der Berechnung der Decodiergenauigkeit 135 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="145"?> error in a minute or other period of time. The only information I can glean from such tests is the number of words a student can read correctly in a minute. How can an educator extrapolate this measure into something beyond the number of words read correctly in a minute? “ (Saunders-Smith 2017: 39) Die oberflächliche Bedeutung von wortbezogener Decodiergenauigkeit ist lediglich, dass Lesende die Wörter aussprechen können. In der Tat besteht eine positive Korrelation zwischen der Zahl der Wörter, die ein Schulkind korrekt lesen kann, und seinem Verständnisniveau. Aber bloßes akkurates Vorlesen von Wörtern garantiert noch kein Verstehen. Allzu oft wird Decodiergenauigkeit durch die Zahl der Wörter bestimmt, die ein Kind innerhalb einer Minute oder eines anderen Zeitabschnitts fehlerfrei lesen kann. Die einzige Information, die ich durch solche Tests ermitteln kann, ist eben die Zahl der Wörter, die Schüler_innen in einer Minute korrekt lesen können. Wie kann eine Lehrperson diesen Messwert hochrechnen zu irgendetwas jenseits der Zahl korrekt gelesener Wörter pro Minute? [Übers. v. TJ] Die zweite Teildimension der Leseflüssigkeit ist die Automatisierung des Decodierens, die in Kapitel 8 bereits als wichtige Entwicklungsleistung im Rahmen des Schriftspracherwerbs eingeordnet wurde. Sie ermöglicht dank der kognitiven Entlastung bei der sich quasi verselbständigenden Grafem-, Wort- und Satzerkennung überhaupt erst das Textverstehen: Nur wenn die Dechiffrierprozesse beim Lesen durch anhaltende Übung automatisiert wurden, d. h. in angemessener Geschwindigkeit, ohne Mühe, autonom und unbewusst vollzogen werden, stehen kognitive Kapazitäten für die eigentlichen Textverstehensprozesse zur Verfügung (Rosebrock/ Nix 2015: 37; vgl. 2008: 36). Laut der Primarstufendidaktikerin Mechthild Dehn müssen jedoch Grundschulkinder vor der Hinführung zu derartigen Automatisierungsleistungen schon über das Konzept von Graf und Grafem im System der Schriftsprache sowie über die Fähigkeit des Synthetisierens von Grafemen zu Wörtern verfügen: Automatisierung zu fördern hat nur Sinn, wenn der Prozess des Erwerbs stattgefunden hat: Wer zum Beispiel Buchstabenkenntnis trainiert, wenn das Kind noch gar keinen Begriff von Buchstaben ausgebildet hat, befördert nur träges Wissen […]. Das Kind kann dann zwar viele Buchstaben nennen, hat aber ihre Funktion für die alphabetische Struktur der Schrift nicht erkannt und kann sein Wissen nicht für das Lesen (und Schreiben) nutzen. […] Und es hat keinen Sinn, den Sichtwortschatz zu trainieren, ohne dass der Synthesevorgang angeeignet ist. (Dehn 2010: 141 f.) Zweite Teildimension der Leseflüssigkeit: Automatisierung Problematisierung der Förderung von Automatisierung auf der Primarstufe 136 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="146"?> Der Decodierautomatismus, sofern er denn entwicklungsadäquat angeeignet werden konnte, steigert im Zusammenwirken mit der Decodiergenauigkeit die Lesegeschwindigkeit als dritte Teildimension der Leseflüssigkeit. Eine angemessene Lesegeschwindigkeit ist für das Satz- und Textverstehen essenziell; denn allzu langsames Lesen überfordert das Arbeitsgedächtnis und lässt bereits Gelesenes in Vergessenheit geraten, bevor auch nur lokale Kohärenz hergestellt ist (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 37; 2015: 38 f.). Auch gegen diese - über das Lesetempo vorgenommene - Teilbestimmung der Leseflüssigkeit macht Saunders-Smith einen bedenkenswerten Einspruch geltend: „Reading is not a race“ - „Lesen ist kein Wettrennen“, so mahnt sie. Vielmehr sei für ein an inneren Bildern reiches, das Wesentliche eines Textes erschließendes und genießendes Lesen Zeit nötig: „No rushing allowed.“ - „Keine Hast erlaubt.“ An die Stelle des Ausdrucks „ ‚speed‘ “, Geschwindigkeit, setzt Saunders-Smith daher bewusst „ ‚smoothness‘ “, also Ruhe und Ausgeglichenheit, die ein glattes Lautlesen ermöglichen (Saunders-Smith 2017: 40). Hieraus sieht Saunders-Smith dann die vierte Teildimension der Leseflüssigkeit erwachsen, nämlich eine Vorlesefähigkeit, die eine natürliche, dem jeweiligen Text angemessene Vortragsweise gewährleistet (vgl. Saunders- Smith 2017: 40; Rosebrock/ Nix 2008: 38; 2015: 39). Wortbetonung (also von Silbe zu Silbe wechselnde Lautstärke), Rhythmus (also wechselnde Silbenlänge), Intonation (also Tonhöhe, bei einer Frage z. B. steigend) und phrasiertes (also durch Pausen gegliedertes) Lesen ermöglichen beim Textvortrag eine Segmentierung der Sätze nach semantisch-grammatischen Einheiten (z. B. nach Nominalphrasen) und eine dem inhaltlichen Zusammenhang insgesamt angemessene Prosodie. Die Prosodie einer Sprache umfasst deren Möglichkeiten der Wortbetonung, des Rhythmus, der Intonation und der Phrasierung. Oft wird der Begriff des phrasierten Lesens für ein Vorlesen unter Erfüllung mehrerer der hier aufgeführten Anforderungen verwandt: „Phrasiertes Lesen stellt die Fähigkeit zu einem ausdrucksvollen rhythmischen und melodischen Lesen dar“ (van Zadelhoff 2016: 66). Der Terminus des Phrasierens stammt aus der Musik und meint dort die Einteilung eines Tonstücks in melodisch-rhythmische Abschnitte. Rosebrock/ Nix bieten einen - hier abgewandelten - Diagnosebogen zur Einschätzung der Vorlesefähigkeit an (Abb. 3.8). Aus Sicht der Primarstufendidaktik des Schriftspracherwerbs ist die Übung der Vorlesefähigkeit allerdings ambivalent zu bewerten: Einesteils beeinträchtigt Vorlesen als zusätzliche Anforderung das Decodieren und dessen Automatisierung sowie in der Konsequenz das Textverstehen; an- Dritte Teildimension der Leseflüssigkeit: Lesegeschwindigkeit Problematisierung der Förderung von Lesegeschwindigkeit Vierte Teildimension der Leseflüssigkeit: Vorlesefähigkeit Merke Diagnose der Vorlesefähigkeit Problematisierung der Förderung von Vorlesefähigkeit auf der Primarstufe 137 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="147"?> dernteils festigt die Prozedur der Grafem-Fonem-Zuordnung und des stimmlichen Recodierens den Eintrag der vorgelesenen Worte im mentalen Lexikon - sodass sie bereitstehen für den automatisierten, auf direktem Weg erfolgenden Abruf aus dem Sichtwortschatz (vgl. Dehn 2010: 141). Zur Förderung der Leseflüssigkeit wurden verschiedene Lautleseverfahren entwickelt, die sich zwei methodischen Grobausrichtungen - nicht ohne Überschneidungen - zuteilen lassen, nämlich dem Wiederholten Lautlesen und dem Begleiteten Lautlesen. Diese methodische Typologie sei hier vorgestellt: Wiederholtes Lautlesen (repeated reading) ist ein in Gesellschaft einer zuhörenden Lehrperson wiederholtes Vorlesen desselben Textes bis zur Erreichung einer vorgegebenen Lesegeschwindigkeit, gemessen in Wörtern pro Minute (WpM). Die Wiederholung soll den Ausbau des direkten Weges Abb. 3.8 Diagnose-Skala zur Vorlesefähigkeit (nach Rosebrock/ Nix 2015: 43 f.; 2008: 34) Förderung der Leseflüssigkeit: Zwei Typen von Lautleseverfahren Erster Lautlese-Typ: Wiederholtes Lautlesen 138 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="148"?> beim Lesen (vgl. Abb. 3.2) und damit auch die Erweiterung des Sichtwortschatzes forcieren. Im Verein mit gezielten Hinweisen der Lehrperson soll sie zudem die Wahrnehmung der für die Vorlesefähigkeit, also für eine inhaltlich passende Prosodie, wichtigen Textmerkmale (z. B. der segmentierenden Zeichensetzung oder der - großgeschriebenen - Kerne von Nominalphrasen) schärfen. Gelingt all dies, dann fördert das Wiederholte Lautlesen die Automatisierung der hierarchieniedrigen Prozesse beim Lesen, und zwar auch für den Umgang mit neuen Texten. Eine Vielzahl motivierender Ziele für diese - auch in Gruppenkonstellationen umzusetzende - Art des Lautlesens ist denkbar, etwa ein klassenöffentlicher Lesevortrag oder die Gestaltung eines Hörspiels beziehungsweise eines sogenannten Lesetheaters, also einer Rollenlesung von Erzählrede und direkter Figurenrede durch eine kooperierende Lerngruppe (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 39 ff.; 2015: 46 ff.; Nix 2006). Begleitetes Lautlesen (assisted reading) (vgl. Lauer-Schmaltz 2014: 63) ist ein gemeinsames Lautlesen durch zwei Personen mit unterschiedlicher Lesefähigkeit. Die lesestärkere Person übernimmt als Lesemodell, Tutor_in oder Begleiter_in Vorbildfunktion für die leseschwächere Person als von ihr begleitete Tutand_in und geht auf deren Lesefehler ein (vgl. zur Begrifflichkeit van Zadelhoff 2016: 171). Verschiedene Vorgehensweisen sind bei dieser Art des Lautlesens möglich (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 41 ff.; 2015: 48 ff.): a) Lautlesen durch die leseschwächere Person, begleitet durch stilles Mitlesen der lesestärkeren Person, die nur falsch gelesene Wörter korrekt vorliest und dann wiederholen lässt (vgl. van Zadelhoff 2016: 172); b) wiederholendes Lautlesen eines von der lesestärkeren Person vorgelesenen Textes durch die leseschwächere Person; c) Ablösung beim Vorlesen, die der leseschwächeren Person überraschend von der lesestärkeren Person abverlangt wird; d) gleichzeitiges Lautlesen durch beide Personen in einem sogenannten Lautlese-Tandem; unterschiedliche Phasen und Spielarten sind ausführbar. Für Lautlese-Tandems in der Grundschule ist jedoch zu bedenken, dass das lesestärkere Kind, sofern es beim Wortlesen eigentlich bereits den direkten Weg zum Sichtwortschatz im mentalen Lexikon nimmt, durch sein Vorlesen womöglich im automatischen Decodieren behindert, so auf die hierarchieniedrige Prozessebene zurückgeworfen, dadurch kognitiv stärker als nötig beansprucht und infolgedessen beim Textverstehen beeinträchtigt wird (vgl. Dehn 2010: 146). Die auf die Primarstufe bezogene Vermutung von Marie Lauer-Schmaltz, Cornelia Rosebrock und Andreas Gold (2014: 46), dass das Möglichkeiten der Motivation zum Wiederholten Lautlesen Zweiter Lautlese-Typ: Begleitetes Lautlesen Varianten des Begleiteten Lautle- Problematisierung von Lautlese-Tandems auf der Primarstufe 139 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="149"?> „laute Lesen die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit beim Leser [unterstützt]“, verfehlt also eventuell eine methodeninduzierte Problematik zumindest fortgeschrittenerer Grundschulkinder. Begleitetes Lautlesen und Wiederholtes Lautlesen verbinden sich miteinander in einem weiteren speziellen Lautleseverfahren, dem sogenannten Klassenlautlesen, das auf der Primarstufe einsetzbar ist (vgl. Lauer-Schmaltz u. a. 2014: 47): Dabei liest die Lehrkraft den Text zunächst zweimal vor und erfüllt damit die Rolle eines Lesemodells. Die Schülerinnen und Schüler schauen währenddessen in ihr Textexemplar und führen den Finger mit. Es folgt ein kurzes Klassengespräch […], in dem auch Aspekte thematisiert werden, die für ein gelungenes Lautlesen des Textes wichtig sind […]. Anschließend liest die gesamte Klasse den Text einmal gemeinsam mit der Lehrkraft im Chor. Schließlich bilden die Kinder Paare und jedes Kind liest den Text seinem Nachbarkind ein weiteres Mal vor, wobei der Partner jeweils die Aufgabe hat, die Lesung zu überwachen und Feedback zu ihrer Qualität zu geben. Diese Routine nimmt insgesamt etwa 20 Minuten in Anspruch. Darüber hinaus sollen die Kinder den Text zu Hause einer anderen Person einmal gut vorlesen. (Lauer-Schmaltz u. a. 2014: 47) Wenn Lautleseverfahren einen Zugewinn an Leseflüssigkeit bringen, macht sich dies für die Lernenden nicht zuletzt durch die objektive Messbarkeit von Lesegeschwindigkeit und Decodiergenauigkeit bemerkbar. Der mit den Messwerten sichtbar gemachte Lernerfolg stärkt auf der Subjektebene das Selbstkonzept als Leser_in, was wiederum zu einer Motivationssteigerung beiträgt - so die Annahme (vgl. Rosebrock/ Nix 2008: 44 f.; 2015: 53 f.). Eine in der Hauptschule durchgeführte Lautlese-Studie von Cornelia Rosebrock, Carola Rieckmann, Daniel Nix und Andreas Gold (2010) relativiert allerdings diese Erwartung durch die Ergebnisse eines Follow-up-Tests, der vier Monate nach der ein Schulhalbjahr begleitenden Maßnahme und dem Posttest durchgeführt wurde: „Bei der Lesemotivation und beim lesebezogenen Selbstkonzept stagnieren die Werte oder sind sogar rückläufig.“ (Rosebrock u. a. 2010: 44, vgl. 36, 39). Die Autor_innen erklären diesen Befund versuchsweise mit dem Ausbleiben der motivierenden Dokumentation von Leselernerfolgen nach Abschluss der Intervention und mit einer in der unteren Sekundarstufe I generell feststellbaren Schwächung der Lesemotivation und des Selbstkonzepts als Leser_in (vgl. Rosebrock u. a. 2010: 48 f.). Eine weitere Studie über den Einsatz von Lautleseverfahren, diesmal auf der in diesem Kapitel vorrangigen Primarstufe, stellt und beantwortet leider nicht die Frage nach der Auswirkung der verwendeten Methoden auf das Leseselbstkonzept und die Lesemotivation von Grundschulkindern (vgl. Klassenlautlesen auf der Primarstufe Lautleseverfahren: Messbarer Lernerfolg Empirische Lautlese-Studie in der Hauptschule Empirische Lautlese-Studie in der Grundschule 140 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="150"?> Lauer-Schmaltz 2014; Lauer-Schmaltz u. a. 2014). Es finden sich in den zugehörigen Publikationen aber Hinweise darauf, dass der Einsatz von Lautleseverfahren auf der Primarstufe besonderen Bedingungen unterliegt. Auf solch ein Spezifikum, nämlich auf die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung von Decodierfähigkeit und Leseverstehen, weist Dehn schon früh in Abgrenzung zur Hauptschulstudie von Rosebrock u. a. (2010) hin: Wie komplex und für die Forschung kompliziert der Leselernprozess in der Grundschule verläuft, zeigt ein Befund aus Klasse 2 und 3: Dekodierfähigkeit und Leseverstehen entwickeln sich in der Grundschulzeit nicht parallel und nicht linear, sondern wechseln sich halbjahresweise ab […]. Dieser Befund steht in Widerspruch zu der Studie mit leseschwachen Zwölfjährigen. (Dehn 2010: 146) Die analoge Übertragung des Unterrichts mit Lautlese-Tandems in den leseschwachen sechsten Hauptschulklassen auf dritte Grundschulklassen führt dann tatsächlich nicht zu einer Steigerung der Leseflüssigkeit, die über den auch ohne diese Maßnahme eintretenden Zuwachs hinausginge. Nur für das Klassenlautlesen ergibt sich sowohl in der Gesamtstichprobe als auch in den Teilstichproben der Kinder mit und ohne Migrationshintergrund eine signifikante längerfristige Wirksamkeit bezüglich der Leseflüssigkeit, allerdings bei geringen statistischen Effektstärken, sodass die praktische Bedeutsamkeit der Ergebnisse als eher niedrig zu veranschlagen ist. Wie der vier Monate nach Abschluss der 5-monatigen Intervention erfolgte Follow-up- Test außerdem noch ergeben hat, verbessert sich durch beide überprüften Lautleseverfahren auch das Textverstehen der Gesamtstichprobe lediglich kurzfristig, nicht aber nachhaltig (vgl. Rosebrock u. a. 2010: 37; Lauer- Schmaltz u. a. 2014: 50, 53 ff.). Dass in der Grundschule die in der Hauptschule hinsichtlich der Leseflüssigkeit bewährten „Förderverfahren hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben sind“ (Lauer-Schmaltz u. a. 2014: 56; vgl. 56 ff.), begründen die Autor_innen in ihrer Diskussion der Resultate durch ▶ das ohnehin hohe Entwicklungstempo der Leseflüssigkeit in der Grundschule; ▶ eine mögliche Unterforderung vieler in der Automatisierung des Decodierens fortgeschrittener Kinder durch die Lesetexte; ▶ eine mögliche Überforderung vieler Kinder durch die Lesetexte; ▶ eine mögliche Überforderung vieler Kinder durch die Tandem-Methode; ▶ die sprachlichen Schwächen von Kindern mit Migrationshintergund; ▶ mangelnde Differenzierung und womöglich Individualisierung der Förderverfahren und Übungstexte gemäß der (auch kognitiven) Heterogenität der Lernenden auf der Primarstufe. Besondere Bedingungen für Lautleseverfahren auf der Primarstufe Lautlese-Tandems in der Hauptschule: Steigerung der Leseflüssigkeit nicht übertragbar auf die Grundschule Mögliche Gründe für die geringe Wirksamkeit von Lautleseverfahren auf der Primarstufe 141 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="151"?> In der Neuausgabe ihres Lehrbuchs über Grundlagen der Lesedidaktik nehmen Rosebrock/ Nix (2015: 54 f.) kurz und kaum problematisierend auf diese Grundschulstudie Bezug, konzedieren aber doch: Allerdings sind bei den Grundschülern die Effekte nicht im gleichen Ausmaß stark wie bei den schwach lesenden 12-Jährigen. Auch die Hoffnung, durch dieses Förderverfahren insbesondere die Leseschwächeren unter den Drittklässlern zu unterstützen, so dass begründet eine präventive Wirkung der Verfahren postuliert werden kann, hat sich vorerst nicht bestätigt (Rosebrock/ Nix 2015: 54). Besonders deutlich wird in der Grundschulstudie auch noch einmal die Notwendigkeit, für Lautleseverfahren den Lernenden angemessene Texte zu wählen. Wohl nicht zuletzt deshalb ist in die Neuausgabe des Lehrbuchs von Rosebrock und Nix ein Abschnitt über die Messung von Textschwierigkeit eingefügt (vgl. Rosebrock/ Nix 2015: 51 ff.; Lauer-Schmaltz u. a. 2014: 58). Dort wird in aller Kürze und nicht ganz treffend der sogenannte Lesbarkeitsindex LIX vorgestellt, der auch schon in der soeben beleuchteten Grundschulstudie bei der Zusammenstellung der Lesetexte Beachtung gefunden hat (vgl. Rosebrock/ Nix 2015: 52; Lauer-Schmaltz u. a. 2014: 50). Gemeint ist ein von Carl Hugo Björnsson (1968) zur Überprüfung sprachbedingter Textschwierigkeit entwickeltes Verfahren, aus dem als Ergebnis ein proportional zur Textschwierigkeit ansteigender Zahlenwert zwischen 15 und 80 hervorgeht (vgl. Bamberger/ Vanecek 1984: 62 ff., 186 f.). Dieser LIX ist die Summe aus durchschnittlicher Satzlänge (nach Wortzahl) und dem Prozentsatz von Wörtern mit über sechs Buchstaben. In einer späteren Grundschulstudie von Simone Charlotte van Zadelhoff wird LIX dann auch wieder eingesetzt (vgl. van Zadelhoff 2016: 173). Diese Lautlese-Studie erfüllt darüber hinaus einige der von Lauer-Schmaltz/ Rosebrock/ Gold in Auswertung ihrer eigenen Grundschuluntersuchung berührten Desiderata: Bezüglich der Textschwierigkeit und der Förderverfahren werden nun Differenzierung und Individualisierung angestrebt, sodass die Heterogenität der Lernenden auf der Primarstufe gebührende Beachtung zu finden scheint. Ein Teil der Studie besteht in der (nochmaligen) Erfolgskontrolle einer Einzelförderung, die dem Konzept von Franz-B. Wember (1999) zur Förderung des weiterführenden Lesens bei Schüler_innen mit Lernschwierigkeiten verpflichtet ist. Auf der Basis von Einzeldiagnostik werden für das Lautlesen Texte mit möglichst angemessenem Schwierigkeitsgrad ermittelt. Nach jeder der täglichen Übungseinheiten von maximal 15 Minuten erfolgt eine erneute Einzeldiagnose (Vgl. van Zadelhoff 2016: 109 ff.). Sie kann zum Messung von Textschwierigkeit: Wichtig für Lautleseverfahren auf der Primarstufe Lesbarkeitsindex LIX Differenzierung und Individualisierung auf der Primarstufe Einzelförderung 142 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="152"?> Austausch des bisherigen Lesetextes führen und so, auch dank ihrer Regelmäßigkeit, die von den einzelnen Kindern bewältigte Textmenge erweitern: Es sollen an das Leistungsvermögen des Kindes angepasste Kriterien festgelegt werden, bei dessen [sic! ] Erreichen ein Textwechsel vorgenommen wird. Durch das individuell festgelegte Kriterium, durch das ein Textwechsel nach vier oder fünf Wiederholungen durchgeführt wird, wird eine hohe Anzahl gelesener Texte erzielt. (van Zadelhoff 2016: 111) Mit Blick auf die Unterrichtsrealität weist van Zadelhoff aber auch auf den besonderen Anspruch hin, den die flexible Berücksichtigung persönlicher Lernstadien an die Lehrkraft stellt: Diese Art der Umsetzung der Leseförderung in der Organisationsform des Einzelunterrichts erfordert jedoch auf Seiten der Lehrperson eine hohe diagnostische Kompetenz, da diese individuell an das Schwierigkeitsniveau der Lernenden angepasste Lesetexte auswählen und diese im Verlauf der Förderung an das Leseniveau der Lernenden adaptieren muss. (van Zadelhoff 2016: 165) Die Stichprobe für diese 10-wöchige Einzelförderung umfasst 22 Kinder mit schwachen bis sehr schwachen Leseleistungen aus vierten Grundschulklassen, darunter 19 L2-Lernende (vgl. van Zadelhoff 2016: 111, 113). Als Ergebnis der Lautlese-Intervention wird eine mehrheitlich signifikante Erhöhung der Lesegeschwindigkeit und der Decodiergenauigkeit berichtet. Aus den Leistungssteigerungen in diesen beiden Teildimensionen der Leseflüssigkeit leitet van Zadelhoff die Annahme ab, dass als weitere Teildimension auch die Automatisierung des Decodierens vorangeschritten sein müsse. Nur etwa 45 % der Proband_innen zeigen indessen eine Weiterentwicklung der Vorlesefähigkeit als der vierten Teildimension der Leseflüssigkeit. Gleichwohl hat sich das Satzverständnis mehrheitlich signifikant verbessert. Die Effektstärken liegen insgesamt eher im mittleren Bereich bei etwa gleich großer Tendenz nach unten und nach oben (vgl. van Zadelhoff 2016: 125 f., 159-164). Ein zweiter Teil der Lautlese-Studie überprüft die Wirksamkeit kooperativer Lesepartnerschaften. Diese Unterrichtsform ist laut van Zadelhoff besser als die zuvor untersuchte Einzelförderung mit dem Schulalltag und dessen zeitlichen Beschränkungen vereinbar - insbesondere eingedenk des zu bewältigenden Auftrags der Inklusion gemäß UN-Behindertenrechtskonvention, also der Öffnung der allgemeinen Bildungseinrichtungen für Menschen mit Behinderung (vgl. van Zadelhoff 2016: 165). Der Ansatz der Einzelförderung wird mit der Entscheidung für kooperative Lesepartnerschaften aber nicht einfach aufgegeben, sondern in die neu entworfene Lehr- Lern-Umgebung integriert: Problematisierung von Einzelförderung Wirksamkeit der Einzelförderung Kooperative Lesepartnerschaften: Mit der schulischen Realität besser vereinbar als Einzelförderung Inklusion Integration von Einzelförderung in die kooperativen Lesepartnerschaften 143 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="153"?> Die Leseförderung in der Einzelförderung wird in das kooperative Lesen mit Lesepartnerschaften eingebunden und das bestehende Konzept mit notwendigen Adaptionen umgesetzt. (van Zadelhoff 2016: 166) Zum einen ergibt sich daraus eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen Einzelförderung und kooperativen Lesepartnerschaften (vgl. van Zadelhoff 2016: 169 f.): ▶ Ziel: Förderung von Leseflüssigkeit und Leseverstehen ▶ Anfangsdiagnose zur individuell abgestimmten Textauswahl aus einem Pool von Lesetexten mit unterschiedlicher Textschwierigkeit ▶ Intervention: dreimal wöchentlich für 20 Minuten mindestens viermaliges Lautlesen des gewählten Lesetextes ▶ Individuelle Diagnose Zum anderen erfährt das Einzelförderungskonzept für die im Klassenunterricht gepflegten kooperativen Lesepartnerschaften eine Reihe von Abwandlungen (vgl. van Zadelhoff 2016: 170 f.): ▶ Gleichzeitige Intervention in der gesamten Klasse während des Regelunterrichts ▶ Durchführung der Intervention durch paarweise kooperierende Schüler_innen ▶ Textauswahl durch die Schüler_innen selbst, ggf. angeleitet durch die Lehrkraft ▶ Erfüllung der Funktion eines Lesemodells durch das besser lesende Partnerkind ▶ Organisation der Intervention und Hilfestellung bei Bedarf durch die Lehrkraft Bei den kooperativen Lesepartnerschaften handelt es sich um Variante a) des Begleiteten Lautlesens (s. o.): Der Tutor hat während des Lesevorgangs die Aufgabe, den Leser zu begleiten, indem er den aktuellen Lesetext still mitliest. Er muss aufmerksam sein, auf mögliche Fehler des Tutanden achten und diese mit einer Wartezeit von drei Sekunden korrigieren, um dem Leser die Möglichkeit der Selbstverbesserung zu geben. Findet keine Selbstverbesserung statt, liest der Tutor das fehlerhaft erlesene Wort korrekt vor und fordert den Leser auf, dieses korrekt zu wiederholen. (van Zadelhoff 2016: 172) Die in der empirischen Grundschulstudie van Zadelhoffs (mit verwertbaren Resultaten) getestete Stichprobe für die 5-wöchige Förderung durch kooperative Lesepartnerschaften umfasst eine vierte Grundschulklasse mit 23 Kindern, darunter 11 L2-Lernenden, wobei aufgrund der ungeraden Ge- Gemeinsamkeiten zwischen Einzelförderung und kooperativen Lesepartnerschaften Abweichungen von Einzelförderung im Rahmen kooperativer Lesepartnerschaften Kooperative Lesepartnerschaften: Begleitetes Lautlesen Wirksamkeit der kooperativen Lesepartnerschaften 144 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="154"?> samtzahl der Viertklässler_innen ein Leseteam zu dritt arbeitet (vgl. van Zadelhoff 2016: 263, 328, auf der letztgenannten Seite abweichend hinsichtlich der Klassengröße). Als Ergebnis der Lautlese-Intervention wird eine mehrheitlich signifikante Erhöhung der Lesegeschwindigkeit bei den Tutand_innen, nicht aber bei den Tutor_innen und in der Gesamtstichprobe berichtet. Eine mehrheitliche Verbesserung der Decodiergenauigkeit zeigen die Tutand_innen offenbar nicht, auch wenn die Angaben hier widersprüchlich sind (vgl. van Zadelhoff 2016: 306, 329). Gleichwohl nimmt van Zadelhoff eine „beginnende Automatisierung“ (van Zadelhoff 2016: 329) bei den Tutand_innen an. Bei der Mehrheit aller Kinder ist zwar die Verbesserung des Satzverstehens signifikant, eine Weiterentwicklung der Vorlesefähigkeit lassen die Tutand_innen aber kaum erkennen. Die Effektstärken fallen bei den Tutand_innen mehrheitlich eher gering aus (vgl. van Zadelhoff 2016: 273 f., 306 f., 329 f.). Nur die - im Schulalltag nicht praktikable - umfassende Einzelförderung erbringt in der Studie van Zadelhoffs unter der Bedingung individueller Anpassung der Übungstexte fast durchgehend statistisch bedeutsame Lernzuwächse bei eher mittleren Effektstärken. Die - praxistauglicheren - kooperativen Lesepartnerschaften nach van Zadelhoff schneiden trotz individueller Beachtung der Textschwierigkeit schlechter ab und zeitigen geringere Effektstärken. Weder zu den kooperativen Lesepartnerschaften noch zur Einzelförderung hat van Zadelhoff Follow-up-Tests durchgeführt, welche die Nachhaltigkeit der Ergebnisse hätten überprüfen lassen. Das allgemeine lesedidaktische Ziel, schon auf der Primarstufe durch Lautleseverfahren der Leseschwäche vieler - insbesondere L2-lernender - Kinder und Jugendlicher systematisch und effektiv vorzubeugen, scheint mit den beiden bislang vorgestellten Grundschulstudien von van Zadelhoff (2016) und Lauer-Schmaltz (2014) noch nicht wirklich erreicht. Einen zusätzlichen Schritt in diese Richtung unternimmt indessen Elisabeth Kawohl (2015; vgl. Souvignier u. a. 2016) mit einer weiteren Grundschul-Lautlese-Studie , die zwar nicht auf Einzelförderung, aber noch einmal verstärkt auf Individualisierung setzt. Dabei passt sich im Lernverlauf nicht nur die Diagnostik, sondern im Anschluss daran auch die Instruktion mittels individualisierbaren Fördermaterials stets den persönlichen Entwicklungsständen der einzelnen Kinder an. Diese bearbeiten regelmäßig auch zur hier interessierenden Leseflüssigkeit internetgestützte, komfortabel auswertbare Tests und können deren Ergebnisse sowie ihren eigenen Lernfortschritt direkt anschließend in grafischer Form abrufen. Noch genauere Auskünfte über Lernstand und Lernentwicklung einzelner Schüler_innen und der Lerngruppe als ganzer bietet das Programm den Lehrpersonen. Diese Informationen nutzen sie (neben den Resultaten eines ganz Didaktische Überlegenheit der Einzelförderung Ziel: Prävention gegen Leseschwäche Verstärkte Individualisierung statt Einzelförderung Individualisierbares Fördermaterial Computergestützte Lernverlaufsdiagnostik 145 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="155"?> zu Beginn der Maßnahme durchgeführten Prätests) für leitfadengestützte Trainingsgespräche, in denen sie sich mit den Kindern auf individuelle Trainingspläne einigen. Darin werden die angemessene Trainingsmethode und der passende Schwierigkeitsgrad des entsprechenden Fördermaterials festgelegt. Zudem sieht der Trainingsplan eine eigenständige, aber klar vorstrukturierte Protokollführung durch die Lernenden über ihren objektiv messbaren Erfolg und ihre subjektive Wahrnehmung des Trainingsverlaufs vor. Auch diese Daten fließen neben der computergestützten Lernverlaufsdiagnostik in das nächste Trainingsgespräch ein, das die Lehrperson mit den einzelnen Schüler_innen sucht. Ergebnis dieses Gesprächs können ein Wechsel der Methode und des jeweiligen Materials, eine Veränderung der Schwierigkeitsstufe oder auch ein Austausch des in die Leseübungen eingebundenen Partnerkindes sein (vgl. Kawohl 2015: 163 ff., 170 f., 179 f.). Die hier geschilderte Unterrichtsgestaltung ist erfolgversprechender als eine Beschränkung nur auf Lernverlaufsdiagnostik oder nur auf die Anwendung des methodengebundenen individualisierbaren Fördermaterials (bei Beachtung der Prätest-Resultate). Laut Kawohl gibt es theoretische und empirische Evidenz dafür anzunehmen, dass eben eine Kombination aus Lernverlaufsdiagnostik und individualisierter Instruktion den wirkungsvollsten Förderansatz bietet (Kawohl 2015: 188). Die in Kombination mit der Lernverlaufsdiagnostik erfolgsträchtige Methode zur Steigerung der Leseflüssigkeit heißt „Lese-Sprinter“ (Kawohl 2015: 173) und stellt sich als eine - wie der Name schon verrät und entgegen Saunders-Smith’ obigem Appell - besonders auf Schnelligkeit angelegte Variante des Wiederholten Lautlesens bei Kooperation zweier gleichberechtigt die Rollen tauschender Kinder dar. Das Kind in der Rolle der Lehrperson oder, zur motivierenden Sport-Metaphorik passender, das „Trainer-Kind“ (Kawohl 2015: 174) markiert im eigenen Textexemplar die während des - eine Minute dauernden - Lese-Sprints aufgetretenen Verlesungen. In der Auswertung werden dann von den (durch die Zählung am Rand des Textblattes leicht zu ermittelnden) gelesenen Wörtern die Lesefehler abgezogen. Eine ermutigende Erhöhung des so errechneten Lesewerts tritt beim einzelnen Kind durch das wiederholte laute Lesen und auch das stille Mitlesen als Trainer_in für gewöhnlich rasch ein (vgl. Kawohl 2015: 173 ff.). Das verwendete Material sei hier veranschaulichend rekonstruiert, wobei um des Anregungscharakters für eigene Unterrichtsplanung willen gewisse Modifikationen vorgenommen werden. So wird in den hier nachgestalteten Abbildungen zum Ausdruck gebracht, dass nicht nur fiktionale Erzähltexte, sondern auch faktuale Texte als Übungsmaterial dienen können. Zudem wird die Möglichkeit der Wahl einer Schwierigkeitsstufe verdeutlicht. Darüber Individuelle Trainingspläne Lese-Sprint: Förderung der Leseflüssigkeit durch Wiederholtes Lautlesen Lese-Sprint: Fördermaterial 146 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="156"?> hinaus wird der eher kompetitive, also konkurrenzorientierte Begriff „Rennen“ (Kawohl 2015: 174 f.) durch den individuelleren ‚Sprint‘ ersetzt, da dieser Terminus einem Grundgedanken der Arbeitsform etwas besser entspricht; denn: „Besonders für leseschwache Schüler ist diese Methode motivierend, da sie ausschließlich mit sich selbst verglichen werden“ (Kawohl 2015: 175). Außerdem wird der erzielte Lesewert als Zahl der richtig gelesenen Wörter expliziert. Und schließlich wird der Versuch unternommen, auch für Grundschulkinder gedachtes Material mit geschlechtergerechter Sprache auszustatten (Abb. 3.9, Abb. 3.10): Abb. 3.9 Lese-Sprints: Übungstext mit Auswertungstabelle (nach Kawohl 2015: 174) Motivation durch Selbstvergleich 147 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="157"?> Abb. 3.10 Lese-Sprints: Ablaufkarte (nach Kawohl 2015: 175) Die Stichprobe der Lautlese-Studie von Kawohl, in der ähnliches Material wie in den obigen beiden Abbildungen (Abb. 3.9, Abb. 3.10) eingesetzt worden ist, umfasst 2.498 Kinder aus insgesamt 110 dritten und vierten Klassen. Der Studie liegt ein Vier-Gruppen-Prä-Post-Follow-up-Test-Design Wirksamkeit von Lernverlaufsdiagnostik und individualisierbarem Fördermaterial für Lese-Sprints 148 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="158"?> inclusive Kontrollgruppe zugrunde, das einer Gruppe die Lernverlaufsdiagnostik (= LVD), einer Gruppe das individualisierbare Fördermaterial (= FM) und einer Gruppe die Kombination aus LVD und FM zuweist. Die Maßnahmen erstrecken sich über etwa 10 Monate, also über ein Schuljahr, gefolgt vom Follow-up-Test Mitte des anschließenden Schuljahres (vgl. Kawohl 2015: 157 ff.). Erwartungsgemäß bewährt sich die Verbindung zwischen Lernverlaufsdiagnostik und individualisierbarem Fördermaterial als erfolgreichste Interventionsform. Eine nachhaltige signifikante Verbesserung ist nur unter dieser Kombinationsbedingung, allerdings auch nur bei der Leseflüssigkeit, nicht aber beim durch Lesestrategien geförderten Leseverstehen feststellbar. Die Effektstärken fallen insgesamt gering aus (vgl. Kawohl 2015: 284 f., 291 f., 332 f.). Sogar eine gesteigerte Individualisierung stellt offenbar für die Anwendung von Lautleseverfahren auf der Primarstufe lediglich schwache längerfristige Effekte sicher, zumindest, sofern die Förderung nicht im Einzelunterricht geschieht, wie ihn das durch kleinere Studien gestützte, von van Zadelhoff nochmals (ohne Follow-up-Test) geprüfte und bestätigte Konzept Wembers vorsieht. Zu einer entsprechenden Erkenntnis gelangt bereits eine 2011 durchgeführte (und 2014 als Buch publizierte) Studie, die sich am Rande auch der Erforschung der Wirksamkeit des Wiederholten Lautlesens widmet. Dabei wird hervorgehoben, dass die Effektstärke in der Regel deutlich ansteigt, sobald eine erwachsene Lehrperson statt eines Partnerkindes die Übung begleitet, sobald also die Bedingung einer Einzelförderung hergestellt ist (vgl. Munser-Kiefer 2014: 149 f.). Bezüglich eines mit den schulischen Zeit- und Personalressourcen eher vereinbaren Unterrichts scheint das Problem der Heterogenität innerhalb der betroffenen Altersgruppe jedenfalls selbst nach der methodisch avancierten Studie von Kawohl (2015) noch kaum bewältigt. Ein unterbelichteter Aspekt bleibt dabei die Unterschiedlichkeit der Spracherwerbsbiografien von Grundschulkindern. Daher auch mahnt Zeynep Kalkavan-Aydin bei der Präsentation von Schulstudien - nicht nur über Leseflüssigkeit - eine getrennte Dokumentation der Ergebnisse nach L1- und L2-Kindern an (vgl. Kalkavan 2012: 26 f.). Vorerst jedoch werden in einschlägigen Publikationen zur Förderung der Leseflüssigkeit L2-lernender Kinder auf der Primarstufe die gleichen Lautleseverfahren empfohlen wie für L1-Lernende und wie für Schüler_innen auf der Sekundarstufe I (vgl. Kalkavan 2012: 24-33; Niebuhr-Siebert/ Baake 2014: 255 f.). Einzelförderung wirksamer als verstärkte Individualisierung im Regelunterricht Lehrperson wirksamer als Partnerkind Unterschiedlichkeit der Grundschulkinder Unterschiedlichkeit der Spracherwerbsbiografien 149 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="159"?> Die hierarchiehohe Prozessebene: Lesestrategien Lesestrategien dienen der Förderung der globalen Kohärenzbildung auf der hierarchiehohen Prozessebene. Mit ihrer Hilfe erfassen also die Lernenden übergreifende inhaltliche Zusammenhänge in einem Text, indem sie dessen semantische Hinweise auswerten und zudem ihr eigenes relevantes Weltwissen nutzen. Im Zuge dieses Bemühens um globale Kohärenz gestalten sie ihr mentales Modell des Textgehaltes immer weiter aus (vgl. Rosebrock/ Nix 2015: 73 f.). Manche Schüler_innen entwickeln derartige Lesestrategien schon ab dem weiterführenden Lesen in der Grundschule und bedienen sich ihrer in zweckmäßiger Weise, ohne dessen weiter gewahr zu werden oder dafür einer Anleitung zu bedürfen. Viele Heranwachsende jedoch, insbesondere wenn sie in ihrem familiären Umfeld nicht mit Texten aller Art groß werden, benötigen systematische Instruktion, um sich ein Arsenal zunächst sehr bewusst und erst später automatisch und routiniert einzusetzender Lesestrategien anzulegen. Diese Zielgruppe kann und soll im Zuge des weiterführenden Lesens bereits auf der Primarstufe mit Lesestrategien vertraut gemacht werden, damit sie eine interaktive Balance herstellen lernt zwischen dem von der schriftlich fixierten Grafem-, Wort- und Satzgestalt ausgehenden, also bottom up voranschreitenden Synthetisieren des Textinhalts einerseits und dem auch vom Weltwissen, also top down unterstützten Erschließen lokaler und globaler Zusammenhänge andererseits: Für im Lesen fortgeschrittene Grundschulkinder ist die Unterscheidung zwischen einem eher synthetisierenden und einem eher hypothesenbildend-ratenden Vorgehen wichtig […]. Das erste stellt eine zu starke Belastung des Arbeitsgedächtnisses dar, das zweite vernachlässigt die Kontrollprozesse zur Sicherung der Sinnerwartung. Durch die Vermittlung von Lesestrategien […] kann das ausgeglichen werden, denn es kommt auf die Verbindung beider Vorgehensweisen an. (Dehn 2010: 143) Drei Arten kognitiver Lesestrategien werden unterschieden: Elaborationsstrategien ermöglichen die gedankliche Ausarbeitung des Gelesenen durch inhaltliche Klärung und Vergegenwärtigung unter Bezugnahme auf das eigene Weltwissen, die eigenen Interessen und die eigene Haltung. Die konkreten Vorgehensweisen, in denen Elaborationsstrategien Gestalt annehmen können, sind vielfältig: Frageroutinen, Kommentare, Paraphrasen, Illustrationen und Ähnliches mehr stehen zur Wahl. Ordnungsstrategien (oft weniger selbsterklärend ‚Organisationsstrategien‘ genannt) helfen dabei, die inhaltliche, argumentative und gliedernde Struktur des Textes zu erkennen. Sie können in Unterstreichungen, Zusammenfassungen, hierarchisierenden Aufzeichnungen der über- und untergeordneten Argumente, Extraktion Globale Kohärenzbildung Weltwissen Instruktion Leseverstehen: bottom up und top down Elaborationsstrategien Ordnungsstrategien 150 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="160"?> wesentlicher Aussagen durch Formulierung von Titeln oder Stichworten sowie vielen vergleichbaren Operationen bestehen. Wiederholungsstrategien dienen der Einprägung und dem besseren Verständnis des Gelesenen. Sie lassen sich als wiederholte Durchführung der oben vorgestellten Strategien, aber auch als nochmalige Lektüre des Textes, als dessen partielle Abschrift oder als sonstige Form der Textreproduktion realisieren. Zu den drei kognitiven Strategietypen treten noch metakognitive Strategien der Planung, Überwachung und Modifikation des jeweiligen Strategieeinsatzes hinzu. Ihren elaborativen Anfang kann die Auseinandersetzung mit einem zu lesenden Text schon vor dem eigentlichen Lektürebeginn nehmen. Vorabinformationen aus Titel, Einband und Inhaltsverzeichnis sind geeignet zur Aktivierung von Vorwissen und zur Erwartungsbildung. Die anschließende Textbegegnung erfährt durch die Bereitstellung entsprechender Verknüpfungsmöglichkeiten eine ebenfalls elaborative Bereicherung, und zwar oft auch dann, wenn sich die thematischen und kontextuellen Hypothesen überraschend widerlegt finden. (Tab. 3.11; vgl. Rosebrock/ Nix 2015: 80 ff.; Philipp 2015: 42 ff.). Vor dem Lesen Kognitive Lesestrategien Elaborationsstrategien Vorwissensaktivierung Erwartungsbildung Titel beachten Coverbild beachten Inhaltsverzeichnis beachten Bei und nach dem Lesen Kognitive Lesestrategien Metakognitive Lesestrategien Elaborationsstrategien Ordnungsstrategien Wiederholungsstrategien Planung Überwachung Modifikation Frageroutinen Kommentare Paraphrasen Illustrationen Textmarkierung Titelfindung Stichworte Abstract erneute Strategieanwendung Relektüre Abschrift Zum Einsatz von Lesestrategien in der Grundschule liegen zwar zahlreiche Handreichungen der Verlage vor, aber es mangelt hierzulande noch immer an empirischen Studien, die den Einsatz solcher Verfahren zweifelsfrei rechtfertigen würden. Diesem Desiderat sucht Meike Munser-Kiefer mit ihrer 2011 vorgelegten und als Buchpublikation (2014) zugänglichen Dissertation zu begegnen. Darin werden für Grundschulkinder der dritten Klassenstufe taugliche Lesestrategien vorgestellt und auf ihre Lernförderlichkeit hin untersucht. Hier sind einige dieser Strategien zunächst - gewisse Tab. 3.11 Lesestrategische Textlektüre Wiederholungsstrategien Metakognitive Strategien Vorwissen und Erwartung Lesestrategien für die Primarstufe 151 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="161"?> Abwandlungen vorausgesetzt - zur Veranschaulichung der obigen Typologie (Tab. 3.11) willkommen, bevor sodann über ihre Wirksamkeit berichtet wird. Die erste der Lesestrategien besteht in der Klärung von Wortbedeutungen. Sie ist gleichermaßen als Elaborationsstrategie den kognitiven Lesestrategien und als Funktion der Überwachung des eigenen Verstehensprozesses den metakognitiven Strategien zuzuordnen. Munser-Kiefer führt die konkrete Strategieanwendung in einzelnen, hier übersichtlicher strukturierten Schritten anhand eines kurzen, hier um der inhaltlichen Konsistenz und besseren Lesbarkeit willen umgeformten Textes vor (vgl. Abb. 3.11; Tab. 3.11; Munser- Kiefer 2014: 184). Abb. 3.11 Lesestrategische Textlektüre in der Grundschule: Kognitive Elaborationsstrategie und metakognitive Überwachung (nach Munser-Kiefer 2014: 184) Eine zweite der von Munser-Kiefer erprobten Lesestrategien besteht im Zusammenfassen. Sie ist als Ordnungsstrategie den kognitiven Lesestrategien zuzuordnen. Die folgende Darstellung des Strategieeinsatzes und das zu- Klärung von Wortbedeutungen Zusammenfassen 152 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="162"?> gehörige Textbeispiel sind wieder an Munser-Kiefer angelehnt, zur Klärung der wechselseitigen Bezüge und eingedenk der Progression im vorliegenden Lehrbuch aber jeweils umgestaltet (vgl. Abb. 3.12; Tab. 3.11; Munser-Kiefer 2014: 186 f.). Abb. 3.12 Lesestrategische Textlektüre in der Grundschule: Kognitive Ordnungsstrategie (nach Munser-Kiefer 2014: 186 f.) Eine dritte Lesestrategie wird in der hier ausgewerteten Studie als Vorhersagen bezeichnet. Sie entspricht der elaborativen Vorwissensaktivierung und Erwartungsbildung vor dem Lesen (vgl. Tab. 3.11), ist aber auch während des schon begonnenen Leseprozesses - innehaltend vor dem Weiterlesen - immer wieder ausführbar. Bei der von Munser-Kiefer gewählten, zusätzlich lesebegleitenden Anwendung wirkt das Vorhersagen auch dadurch elaborierend, dass die ihm dienliche Rekonstruktion des gerade erst angelesenen ‚Vorwissens‘ die inhaltliche Aufarbeitung der bereits rezipierten Textabschnitte mit sich bringt. Diese Vergegenwärtigung bisher aus dem Text gewonnener Informationen, verknüpft mit älterem Vorwissen aus dem Langzeitgedächtnis, ermöglicht das Vorhersagen überhaupt erst und berei- Vorhersagen 153 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="163"?> chert darüber hinaus in elaborativer Weise auch die weitere Lektüre (vgl. Abb. 3.13; Munser-Kiefer 2014: 188 f.). Lesestrategie Schritt Beispiel Vor dem Lesen Kognitive Lesestrategien Elaborationsstrategien Vorwissensaktivierung und Erwartungsbildung zum Vorhersagen Ich überlege, was ich zum Titel schon weiß. Vorwissen zu „Der Eisbär“: ▶ kalter Lebensraum ▶ weißes Fell Ich überlege, was der Titel erwarten lässt. Erwartung zu „Der Eisbär“: Informationen über ▶ Ernährung ▶ Größe Beim Lesen Kognitive Lesestrategie Elaborationsstrategie Vorwissensaktivierung und Erwartungsbildung zum Vorhersagen Ich überlege, wie der Text weitergehen könnte. Bisher: Informationen über ▶ Ernährung Zu erwarten: Informationen über ▶ Größe Ich überlege, wie der Text weitergehen könnte. Im letzten Abschnitt entgegen der Erwartung: Informationen über ▶ Klimawandel Zu erwarten: Informationen über ▶ Ernährung im erwärmten Lebensraum Die Anwendung der Lesestrategien zur Klärung von Wortbedeutungen, zum Zusammenfassen und zum Vorhersagen erbringt in der Studie von Munser- Kiefer (2014) bei mittlerer Effektstärke einen signifikanten Zugewinn an Leseverstehen im Umgang mit Sachtexten, nicht aber mit literarischen Texten. Zustande gekommen sind diese Ergebnisse unter der Bedingung des Reciprocal Teaching, also des wechselseitigen Lehrens durch Schüler_innen untereinander. Im Fall der hier herangezogenen Studie hat sich die Rolle der eigentlichen Lehrkraft sogar ganz auf eine klassenbezogene Anleitung ohne individualisierende Begleitung der mit dem Strategietraining beschäftigten Kleingruppen beschränkt. Munser-Kiefer selbst bewertet den (übrigens durch keinen Follow-up-Test geprüften) Erfolg des beschriebenen Vorgehens zurückhaltend und ohne einen Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit zu erheben (vgl. Munser-Kiefer 2014: 362 f., 384 f.). Insofern bleibt zu bedenken: „Je kleiner die Gruppe und je kompetenter Trainer [sic! ], desto größer ist der Effekt.“ (Munser-Kiefer 2014: 195) Für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, gilt dies sicherlich umso mehr. Zu deren Förderung empfehlen Sandra Niebuhr-Siebert und Heike Baake (2014) die Adaption und Transformation der üblichen Lesestrategien Abb. 3.13 Lesestrategische Textlektüre in der Grundschule: Vorwissensaktivierung und Erwartungsbildung vor dem (Weiter-)Lesen (nach Munser-Kiefer 2014: 188 f.) Wirksamkeit der für die Primarstufe vorgestellten Lesestrategien Reciprocal Teaching Keine individualisierende Begleitung durch die Lehrperson Bedeutsamkeit der Lehrperson und der Individualisierung - insbesondere für DaZ- Lernende 154 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="164"?> (Niebuhr-Siebert/ Baake 2014: 178, 255). Die Autorinnen weisen auf ein noch in Entwicklung befindliches Projekt unter maßgeblicher Beteiligung von Frank Hellmich und Sandra Niebuhr-Siebert hin, welches in binnendifferenzierender, tendenziell individualisierender Weise die Vermittlung von Vorwissensaktivierung, weiteren Elaborationsstrategien, Wiederholungsstrategien, Ordnungsstrategien und metakognitiven Strategien zu verbinden verspricht mit der - bereits in den letzten Absätzen von Kapitel 8 als für den Zweitspracherwerb essenziell herausgestrichenen - Wortschatz- und Grammatikarbeit (vgl. Niebuhr-Siebert/ Baake 2014: 254; Hellmich/ Niebuhr-Siebert 2014). Das Projekt wurde schon 2010 mit dem Forschungspreis der Universität Paderborn ausgezeichnet und lässt ob seiner langen Erarbeitungszeit auf einen fundierten Beitrag zur zweitsprachlichen Leseförderung auf der Primarstufe hoffen. Aber auch wenn diese Hoffnung sich nicht durch eine entsprechende Publikation erfüllen sollte, lohnt zumindest als Anregung für problembewusstes schulisches Handeln doch eine etwas genauere, an die Begriffe dieses Lehrbuchs anschließende Erläuterung des Vorhabens. Eingeleitet sei diese mit einem Zitat, das den schon skizzierten Anspruch der Initiator_innen nochmals pointiert zusammenfasst: Die von uns konzipierte Lerneinheit ist dadurch gekennzeichnet, dass die Förderung von Lesestrategien und Wortschatzkompetenz nicht nebeneinander oder nacheinander, sondern vielmehr aufeinander bezogen realisiert wird. Dabei kommen Formen innerer Differenzierung zur Anwendung. So werden Texte und Aufgabenstellungen mit variierenden Komplexitätsniveaus angeboten. Auf diese Weise kann es gelingen, die Lerneinheit in ein Unterrichtssetting zu integrieren, in dem Schülerinnen und Schüler heterogene Lern- und Sprachkompetenzen aufweisen. (Hellmich/ Niebuhr-Siebert 2014: 288) Bei dieser „Lerneinheit“ handelt es sich mithin um ein „wortschatzbasiertes Lesestrategietraining“ (Hellmich/ Niebuhr-Siebert 2014: 287). Es ist auf die dritte sowie vierte Grundschulklasse zugeschnitten und soll die mehrheitlich in ihrer Lesekompetenz beeinträchtigten Kinder mit Migrationshintergrund erreichen. Dabei spricht die Wortschatzerweiterung per se hierarchieniedrige und die jeweils mit ihr verknüpfte Lesestrategie zugleich hierarchiehöhere Prozesse des Lesens an (vgl. Hellmich/ Niebuhr-Siebert 2014: 287 f.). Beispielsweise trägt die hierarchiehoch anzusetzende Vorwissensaktivierung als Elaborationsstrategie zur Klärung von Wortbedeutungen bei, indem sie lebensweltliche Erfahrungen oder auch vertraute Superstrukturen (Textsortenmuster) vergegenwärtigt, die für die klärungsbedürftigen Wörter in ihrem jeweiligen textuellen Zusammenhang bedeutungsbestimmend wirken. Oder die Anreicherung des Wortschatzes wird mittels Aktivierung grammatischen Vorwissens über Komposition und Derivation (Ableitung) DaZ-Förderung: Verbindung von Lesestrategien mit Wortschatz- und Grammatikarbeit DaZ-Förderung: Wortschatzerweiterung auf hierarchieniedriger Prozessebene - Lesestrategien auf hierarchiehoher Prozessebene 155 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="165"?> angestrebt, zwei Wortbildungsformen, die in Kapitel 4 als Errungenschaften des frühen Erstwie Zweitspracherwerbs erwähnt sind. In der oben vorgestellten lesestrategischen Textlektüre fand sich bereits ein hier wieder passendes Beispiel für die lernförderliche Besinnung auf die „Wortbausteine“ des Kompositums „Erd-Kruste“ (Abb. 3.11). Auch die Versteh- und Merkbarkeit des Wortes ‚Kind-heit‘ erhöht sich, sobald es als Ableitung aus ‚Kind‘ erkannt ist. Neben dieser morphematischen Elaborationsstrategie kann ebenso eine Wiederholungsstrategie neue Wörter behalten helfen. Obwohl L2-Lernende Wortbedeutungen immer wieder klären und speichern müssen, laufen sie beim Erlesen eines Textes Gefahr, den roten Faden zu verlieren. Damit dies nicht geschieht, wenden die am Lernprogramm teilnehmenden Kinder als metakognitive Strategie der Überwachung verschiedene, im Fortgang der textuellen Darstellung orientierende Ordnungsstrategien an, wie Textmarkierung, Stichwortformulierung und Zusammenfassung (vgl. Hellmich/ Niebuhr-Siebert 2014: 290 f.). Die Komplexität des wortschatzbasierten Lesestrategietrainings ist mit dieser kurzen, exemplarischen Skizze sicher nicht erschöpft. Deutlich dürfte aber geworden sein, dass seine Vertreter_innen eine Verbindung hierarchiehoher mit hierarchieniedrigen Teilprozessen intendieren und der Heterogenität der Lernenden auf der Primarstufe durch Differenzierung gerecht zu werden suchen. Damit ist zumindest eine auf die besonderen Bedürfnisse der zweisprachigen Grundschulkinder - und nicht nur dieser - zielende Forschungsrichtung eingeschlagen, wenn auch noch ein Großteil des Weges zu bewältigen sein mag. Subjektebene und Soziale Ebene: Vielleseverfahren und Leseanimation Dem älteren Verständnis von Leseförderung, wie es Bettina Hurrelmann in den 1990er Jahren - damals in Abgrenzung von Leseförderung für Leseschwächere insbesondere im Anfangsunterricht - als innovativ vertreten hat (vgl. Hurrelmann 1994: 17), kommen die sogenannten Vielleseverfahren und mehr noch die Verfahren der Leseanimation nahe. Beide methodischen Ausrichtungen entspringen einem gleichermaßen sprach- und literaturdidaktischen Anliegen, sehen als Lerngegenstände aber in erster Linie fiktionale Erzähltexte vor. Im Mehrebenen-Modell des Lesens sprechen sie traditionell am ehesten die Subjektebene und die Soziale Ebene an. Sie sind als Teilbereiche der Leseförderung, wie sie heute verstanden wird, ab dem weiterführenden Lesen auf der Primarstufe und bis in die Sekundarstufe I hinein durchführbar. Das Viellesen wird meist als Wahlpflichtmaßnahme in den Regelunterricht eingeplant: Die Schüler_innen müssen während eines bestimmten Zeitabschnitts still für sich lesen. Welche Lektüre sie - üblicherweise aus Viellesen im Regelunterricht 156 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="166"?> einem vorgehaltenen Angebot - wählen, bleibt (von Jugendschutzaspekten abgesehen) ihnen selbst überlassen, auch hinsichtlich der bevorzugten literarischen Qualität. Das Gelesene wird über diesen selbstbestimmten, individuellen Zugang der einzelnen Kinder (und Jugendlichen) hinaus nicht im Unterricht thematisiert. Als wünschenswert gilt nämlich ein von jeglichen schultypischen Arbeitsaufträgen entlasteter Freiraum zu autonomer Lektüre. Didaktisch motiviert ist der Einsatz von Vielleseverfahren zuweilen durch die empirisch schwer belegbare Vermutung, sie förderten hierarchieniedere und -höhere Prozesse des Lesens. Dies mag im tatsächlich gegebenen Fall nicht zuletzt von der Subjektebene herrühren, also durch eine Stützung des Selbstkonzepts als Leser_in und eine damit einhergehende Motivationssteigerung bedingt sein (vgl. Rosebrock/ Nix 2015: 57 ff.). Manchen Ansätzen der Leseförderung folgend, wird das Viellesen zumindest teilweise aus der Unterrichtszeit hinausverlagert und durch quantitativ ausgerichtete Wettbewerbsszenarien forciert, an deren didaktischer Sinnhaftigkeit durchaus gezweifelt werden darf; denn mehr Bücher oder „Buch-Kilometer“ bewältigen zu wollen als die Lesekonkurrenz, kann auf Kosten der Vertiefung und des Lesegenusses gehen. Mit (nachholender) Literarisierung hätte eine solche Lektürepraxis dann wenig zu tun. Einem allzu eiligen und somit allzu oberflächlichen Durchlesen der Bücher oder gar der Vortäuschung allzu zahlreicher Leseaktivitäten sollen freilich Kontrollen vorbeugen. Diese erfordern dann aber doch wieder die Verknüpfung der Lektüre mit Arbeitsaufträgen - zur Bewertung oder inhaltlichen Rekapitulation des Gelesenen - und mit sonstigen Rechenschaftsbeziehungsweise Testleistungen (vgl. Rosebrock/ Nix 2015: 58, 60 f.). Bezogen auf die Primarstufe erweist sich auch für das Viellesen wieder einmal individualisierende Begleitung durch die Lehrperson als eine Erfolgsbedingung (vgl. Rosebrock/ Nix 2015: 68), die im Schulalltag nach aller Erfahrung nicht so ohne weiteres realisierbar ist. Wie eine entsprechende Modifikation des Vielleseverfahrens dennoch in der Grundschule implementiert werden kann, haben D. Ray Reutzel, Cindy D. Jones, Parker C. Fawson und John A. Smith auf der dritten Klassenstufe US-amerikanischer Elementary Schools empirisch erprobt (vgl. Reutzel u. a. 2008). Das herkömmliche Viellesen, auf Englisch Sustained Silent Reading (SSR), anhaltendes Stilllesen, ist im Bericht des National Reading Panel (NRP) der USA, herausgegeben im Jahr 2000 vom National Institute of Child Health and Human Development (NICHD), als nicht von nachweisbarer Wirksamkeit verworfen worden. Daher ersetzen es die genannten Forscher_innen versuchsweise durch das Scaffolded Silent Reading (ScSR), also durch individuell gestütztes stilles Viellesen. In der vom Forschungsteam vorgefundenen schulischen Praxis wird zum Zeitpunkt der Studie bereits ein anderes Viellesen im Wettbewerb Wirksamkeit des Viellesens: Bedeutung individueller Begleitung durch die Lehrperson Ersetzung unwirksamen Viellesens in den USA Scaffolded Silent Reading 157 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="167"?> Ersatzverfahren angewandt, nämlich das Guided Repeated Oral Reading with Feedback (GROR), sprich geführtes wiederholtes Lautlesen mit Rückmeldung. Die zwischen GROR und ScSR vergleichende einjährige Studie ohne Follow-up-Test, auf deren Resultate weiter unten Bezug genommen wird, ist insofern experimentell (und nicht nur quasi-experimentell), als sie auf Randomisierung beruht, das heißt auf zufälliger, nicht durch den Klassenverband vorgegebener Verteilung der in diesem Fall 72 Versuchspersonen auf die Experimentalgruppen. ScSR ist auf den Ausgleich der Schwächen von SSR angelegt. So sieht das neue Verfahren nun eine Interaktion zwischen Lehrperson und Kind vor, was gemäß SSR entfällt. Auch stellt ScSR die Leseaktivität der Lernenden in den Stilllesephasen sicher, während SSR keine entsprechende Gewähr bietet. Zudem bleibt bei ScSR die dem Lesevermögen angemessene Textauswahl nicht mehr den Kindern allein überantwortet (vgl. Reutzel u. a. 2008: 194 ff., 200, 202). Die Mängel von SSR lassen sich wie folgt resümieren: In summary, the implementation of SSR in elementary classrooms has been sharply criticized for a lack of teacher guidance about how students can select appropriately challenging texts to read; poor control of the time allocated for reading practice; little or no teacher interaction with students around reading texts; no feedback to students about the quality and quantity of their reading; and no student accountability, purposes, or goals for the time spent in reading practice. (Reutzel u. a. 2008: 195) Zusammengefasst ist die Durchführung von SSR in Grundschulklassen scharf kritisiert worden für einen Mangel an Anleitung durch die Lehrperson dabei, wie Schüler_innen angemessen schwierige Texte zum Lesen wählen können; für eine schwache Kontrolle der für Lesepraxis zugewiesenen Zeit; für geringe oder fehlende Interaktion der Lehrperson mit Schüler_innen über das Lesen von Texten; für fehlende Rückmeldung an Schüler_innen über die Qualität und Quantität ihres Lesens; und für fehlende Rechenschaftspflichten, Absichten oder Ziele der Schüler_innen bezüglich der mit Lesepraxis verbrachten Zeit. [Übers. v. TJ] Das als Alternative zu SSR 20 Minuten täglich durchgeführte ScSR ▶ vermittelt und begleitet eine gezielte Strategieanwendung zur Buchauswahl; ▶ überträgt den Schüler_innen eine Rechenschaftspflicht für die Abdeckung eines breiten Spektrums an Textgenres; ▶ integriert für 4-5 Schüler_innen pro Tag 5-minütige individuelle Lesekonferenzen, die Lautlesen, Austausch über das Gelesene, Beantwortung von Fragen der Lehrperson dazu, eine Zielbestimmung für die noch Guided Repeated Oral Reading with Feedback Verbesserungen gegenüber herkömmlichem Viellesen 158 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="168"?> benötigte Lesezeit und die Festlegung auf eine Form der Lektüreauswertung umfassen; ▶ zielt nicht nur (wie SSR) auf Lesemotivation, sondern darüber hinaus auch auf Leseflüssigkeit und Leseverstehen. Zur Identifikation eines Buches mit passendem Schwierigkeitsgrad erwerben die Lernenden eine 3-Finger-Strategie: Ab drei ihnen unbekannten Wörtern auf einer Seite ist die Lektüre getrost zu beenden - sofern das betroffene Kind nicht ein besonderes Interesse an ihrer Fortsetzung hat (vgl. Reutzel u. a. 2008: 196, 198 ff.). Im Folgenden sei (angehenden) Grundschullehrkräften eine genauere Anleitung zur unterrichtlichen Vermittlung von Buchauswahl-Strategien zur Verfügung gestellt (Abb. 3.14): Ziel: Die Kinder lernen die Ordnung von Büchern verschiedener Schwierigkeitsstufen in der Klassenbibliothek kennen sowie die 3-Finger-Strategie zur Einschätzung von Textschwierigkeit. Benötigtes Zubehör: ▶ Verschiedene farbige Punkte für die Buchumschläge ▶ Verschiedene farbige Bücherkisten ▶ Ein Poster mit den Namen der Kinder und den Markierungsfarben für Bücher auf ihren individuellen, eigenständig beherrschten Schwierigkeitsstufen ▶ Ein Poster über die 3-Finger-Strategie zur Einschätzung der Schwierigkeit eines Buches Schritte der Vermittlung: 1. Vorbereitung: Sagen Sie den Kindern, dass sie bald Bücher aus der Klassenbibliothek zum Lesen aussuchen dürfen, dass sie aber vorher lernen müssen, wie diese Bibliothek geordnet ist, damit ihnen die Buchauswahl leichter fällt. Stellen Sie den Kindern für den aktuellen Tag in Aussicht, dass sie lernen, wie die Bücher in der Klassenbibliothek nach unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen sortiert sind. 2. Einführung: Lassen Sie die Kinder mit dem Blick auf die Klassenbibliothek sitzen. Zeigen Sie ihnen das Poster mit ihren Namen und den von ihnen bereits eigenständig beherrschten Schwierigkeitsstufen. Jede Schwierigkeitsstufe ist auf dem Poster durch eine bestimmte Farbe angezeigt, die an den Bücherkisten und den darin enthaltenen Büchern wiederzufinden ist. Führen Sie vor, wie Sie, wenn Sie ein (von Ihnen namentlich benanntes) Kind aus der Klasse wären, auf dem Poster zu Ihrem Namen die Farbe der passenden Schwierigkeitsstufe nachsehen könnten. Dann zeigen Sie, wo dieselbe Farbe an den Bücherkisten in den Bibliotheksregalen wiederkehrt. Anschließend weisen Sie darauf hin, dass Abb. 3.14 Anleitung zur Vermittlung von Buchauswahl-Strategien auf der Primarstufe (nach Reutzel u. a. 2008: 199) Buchauswahl nach Textschwierigkeit Vermittlung von Buchauswahl-Strate- 159 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="169"?> auf den Büchern innerhalb der jeweiligen Bücherkiste Punkte in derselben Farbe angebracht sind. Erinnern Sie daran, dass ein Buch aus dem vereinbarten Genre-Kreis zu wählen ist. Demonstrieren Sie beispielhaft, wie Sie das Genre einer Biografie, etwa über eine bestimmte (den Kindern bekannte und wichtige) Persönlichkeit, aus einer Bücherkiste auswählen. Als Nächstes lenken Sie die Aufmerksamkeit der Kinder auf das Poster über die 3-Finger-Strategie zur Einschätzung der Schwierigkeit eines Buches. Spielen Sie die Anwendung dieser Strategie modellhaft vor. Lesen Sie dafür laut eine Seite aus der zuvor gewählten Biografie und heben Sie für jedes ‚unbekannte‘ Wort einen Finger. Nach dreimaligem Fingerheben zeigen Sie die Alternative auf, entweder ein anderes Buch mit der gleichen Farbmarkierung auszusuchen oder die Lehrperson um Zuweisung einer leichter zu bewältigenden Schwierigkeitsstufe zu bitten. 3. Umsetzung: Modellieren Sie die strategische Auswahl angemessen schwieriger Bücher nun unter Beteiligung von einem oder zwei Kindern im Rollenspiel. Nehmen Sie dabei Ihre Unterstützung nach und nach zurück. Kündigen Sie den Kindern an, dass Sie ihnen nacheinander die Chance geben werden, ihre Fähigkeit zur Buchauswahl unter Beweis zu stellen. Nur wenn sie zeigen, dass sie zugehört und die Lektion verstanden haben, werden sie die Klassenbibliothek in Zukunft eigenständig nutzen dürfen. Beobachtung: Überwachen Sie bei jedem Kind die gewählten Schwierigkeitsstufen und die Fähigkeit zur Anwendung der 3-Finger-Strategie. Der bei der Buchauswahl zu berücksichtigende Genre-Kreis fiktionaler und faktualer Texte lässt sich für die Arbeit im Unterricht ebenfalls veranschaulichen (Abb. 3.15). Auf dem Genre-Kreis können die Kinder abzeichnen, welche Felder sie mit ihrer Lektüre bereits abgedeckt haben. Wer alle Genres berücksichtigt hat, erhält ein neues Blatt und beginnt einen weiteren Lektüredurchgang. Hintergrund solcher über die Vorgabe passender Schwierigkeitsstufen hinausgehender Steuerung der Buchauswahl durch Verpflichtung auf Genre-Variation ist die empirische Erkenntnis der Förderlichkeit eines derart erweiterten Lesehorizontes für die Souveränität bei der Lektürewahl, aber auch für Leseflüssigkeit und Leseverstehen (vgl. Reutzel u. a. 2008: 196, 198). Die Evaluation von ScSR hinsichtlich der Förderung von Leseflüssigkeit und Leseverstehen ergibt allerdings im Vergleich mit GROR, dem geführten wiederholten Lautlesen mit Rückmeldung, Gleichrangigkeit beider Verfahren. Das neu entwickelte Vielleseverfahren ScSR hat sich mithin entgegen der Hoffnung seiner Vertreter_innen Reutzel u. a. nicht als GROR überlegen erwiesen. ScSR bietet aber eine gleichwertige, schon um der Abwechslung Genre-Vielfalt bei der Buchauswahl Wirksamkeit der Ersatzverfahren für das herkömmliche Vielleseverfahren 160 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="170"?> willen zu begrüßende Alternative (vgl. Reutzel u. a. 2008: 202, 205). Erfolgsmomente beider Unterrichtsformen mögen im Bemühen um Individualisierung der Lernbedingungen und um kompetente Begleitung der Kinder liegen. Im Gegensatz zum Viellesen hat die damit freilich verwandte Leseanimation keine ähnlich innovativen Impulse aus der empirischen Forschung erhalten, wie sie in ScSR zum Tragen kommen. Viele typische Maßnahmen der Animation zum Lesen, beispielsweise die Veranstaltung von Lesenächten oder anderen Lese-Events in der Schule, das Vorlesen durch Lehrpersonen, die Einrichtung von Leseecken und Klassenbibliotheken in den Unterrichtsräumen oder die Bekanntmachung der Schüler_innen mit Buchhandlungen und öffentlichen Bibliotheken als Institutionen der Distribution (Verteilung) von Büchern, entziehen sich bislang weitgehend einer experimentellen Wirksamkeitsprüfung (vgl. Rosebrock/ Nix 2015: 121). Abb. 3.15 Genre-Kreis für die Primarstufe (nach Reutzel u. a. 2008: 198) Leseanimation: ungeklärte Wirksam- 161 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="171"?> Die Befürwortung von Leseanimation beruht daher neben begrenzten Fallbeispielen vor allem auf dem von Hoffnung getragenen Analogieschluss, was in der familialen Lesesozialisation und Literarisierung des Vorschulkindes idealerweise gelinge, könne die Schule buch- und bildungsfern aufwachsenden Kindern per nachholender Kompensation zumindest partiell auch ermöglichen (vgl. Bertschi-Kaufmann 2007: 166 f.). Dass gerade diesen benachteiligten oder auch den zweisprachigen Schüler_innen nicht selten die auf der Prozessebene zu erwerbenden Grundvoraussetzungen für das didaktisch erwünschte Lesevergnügen fehlen, nämlich die Fähigkeiten der Grafem-, Wort- und Satzerkennung sowie der lokalen und globalen Kohärenzbildung, droht dabei aus dem Blick zu geraten. Aber auch auf der Subjekt- und Sozialen Ebene, die schulische Leseanimation in erster Linie fokussiert, sind Kinder ohne eine vorhergegangene familiale Lesesozialisation nur bedingt ansprechbar. Leseanimation für sich genommen kommt also den ohnehin privilegierten Kindern auf allen Ebenen entgegen, während sie als Instrument basaler Leseförderung unzureichend bleibt (vgl. Rosebrock/ Nix 2015: 112 f.). Sie ist daher ergänzend und bedarfsgerecht einzusetzen, je nachdem, ob ein spezifisches Leseflüssigkeitstraining beziehungsweise ein Vielleseverfahren wie ScSR eine animierende Rahmung erfordert oder ob es dem Motivationsverlust eigentlich lesestarker Kinder vorzubeugen und entgegenzuwirken gilt. Wenn solch ein gezieltes und nach Möglichkeit individualisierendes Vorgehen eingebettet ist in eine schulische Lesekultur, die vielfältige Lektüren bereithält und Gelegenheiten zur Anschlusskommunikation bietet, spielt Leseanimation eine ihr gebührende, nicht sozial desintegrative Rolle. Übungen 1. Beschreiben und erläutern Sie das Mehrebenen-Modell des Lesens in seinen wesentlichen Zügen. 2. Beschreiben Sie das jeweilige Vorgehen beim Einsatz verschiedener Lautleseverfahren zur Leseförderung. 3. Auf welche Aspekte im Mehrebenen-Modell des Lesens zielen Lautleseverfahren in erster Linie? 4. Erklären Sie den Begriff ‚Leseflüssigkeit‘ unter Berücksichtigung aller dazugehörigen Teildimensionen. 5. Reflektieren Sie den Einsatz von Lautleseverfahren in der Grundschule unter Beachtung empirischer und didaktischer Gesichtspunkte. 6. Beschreiben Sie die jeweiligen Ausrichtungen der verschiedenen Lesestrategien und passende Vorgehensweisen bei ihrer Anwendung. 7. Auf welchen Aspekt im Mehrebenen-Modell des Lesens zielen Lesestrategien in erster Linie? Leseanimation als Kompensationversuch Fehlende Voraussetzungen für Leseanimation Förderung der stärkeren Schüler_innen durch Leseanimation Gezielte und individuelle Leseanimation Schulische Lesekultur 162 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="172"?> 8. Reflektieren Sie den Einsatz von Lesestrategien in der Grundschule unter Beachtung empirischer und didaktischer Gesichtspunkte. 9. Wie können Lesestrategien der DaZ-Förderung gerecht werden? 10. Beschreiben Sie das herkömmliche Vielleseverfahren im Deutschunterricht und beurteilen Sie seine Wirksamkeit. 11. Welcher Ebene im Mehrebenen-Modell des Lesens ordnen Sie das herkömmliche Vielleseverfahren in erster Linie zu? Begründen Sie Ihre Zuordnung. 12. Warum wurde in den USA das herkömmliche Vielleseverfahren ersetzt? Beschreiben Sie ein neues Vielleseverfahren in seinen wesentlichen Zügen. 13. Nennen Sie Verfahren der Leseanimation. 14. Auf welche beiden Ebenen im Mehrebenen-Modell des Lesens zielt die Leseanimation in erster Linie? 15. Unter welchen Voraussetzungen profitieren Kinder von der Leseanimation? 16. Überlegen Sie, was der folgende, auszugsweise wiedergegebene Test messen könnte: […] Textbeispiel (Aus: Lehmann u. a. 1997) 163 Themenblock 3 Leseförderung - Primarstufe <?page no="173"?> 17. Recherchieren Sie, welche Lesetests für die Grundschule es noch gibt und was diese jeweils messen. Verwendete und weiterführende Literatur Bamberger, Richard, Erich Vanecek (1984): Lesen - Verstehen - Lernen - Schreiben. Die Schwierigkeitsstufen von Texten in deutscher Sprache. Wien: Jugend und Volk. Bertschi-Kaufmann, Andrea (2007): Offene Formen der Leseförderung. In: Dies. (Hg.): Lesekompetenz - Leseleistung - Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer. S. 165-175. Björnsson, Carl Hugo (1968): Lesbarkeit durch Lix. Stockholm: Pedagogiskt Centrum. 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Aber wie die Leseförderung insgesamt ist Leseanimation doch vorrangig an der kindlichen Rezeption medial grafischer Kommunikate als solcher interessiert. Die mit dem grafischen Medium verbundene Multimodalität untersucht indessen ein aus dem angloamerikanischen Raum stammender, aber noch kaum in Deutschland eingeführter Ansatz der kognitiven Rezeptionsforschung: die Dual-Coding-Theorie (DCT) mit ihren didaktischen, auch Schriftspracherwerb, Leseverstehen und Lesestrategien umfassenden Implikationen. Multimodalität des grafischen Mediums besteht in der Anregung oder Beanspruchung verschiedener Sinnesbereiche durch Lesen und Vorlesen. Dies betrifft zum einen die visuelle (im Falle von Blindenschrift die taktile) Decodierung von Schrift als solcher sowie das Hörverstehen in Vorlesesituationen. Zum anderen sind es visuelle, taktile, akustische, olfaktorische (dem Riechen zugehörige), gustatorische (geschmackliche), aber auch motorische (das Bewegungsgefühl betreffende) und affektive Vorstellungen oder Empfindungen, die bei der Rezeption geweckt werden können. Das Modell der dualen Codierung Die DCT wurde von Allan Paivio begründet und danach stetig auf ihre Stimmigkeit, Anwendbarkeit und Vereinbarkeit mit anderen Theorien hin empirisch überprüft, später vor allem in enger Kooperation mit Mark Sadoski. Dieser arbeitet bis heute an der Profilierung der DCT in den Feldern der Textverstehensforschung und der - auch auf fiktionale Literatur bezogenen - Lesedidaktik (vgl. Paivio 1986; Sadoski/ Paivio 2013; Sadoski 2018). Das Lesen medial grafischer Texte modelliert die DCT als ein mentales Geschehen, welches von den schriftsprachlichen Impulsen angeregt wird, die sich visuell (oder im Fall von Blindenschrift taktil) mitteilen. Diese sensorische Rezeption aktiviert im Langzeitgedächtnis gespeicherte mentale Repräsentationen verbalsprachlicher Elemente, die sogenannten Logogens. Sie repräsentieren Buchstaben, Grafeme, Morpheme, Wörter, Sätze oder (kürzere) Texte. Analog zur Verarbeitung grafischer Impulse berücksichtigt Kognitive Leseforschung Definition Begründer und Vertreter der Dual- Coding-Theorie Schriftrezeption im Modell der DCT Rezeption gesprochener Sprache im Modell der DCT 167 Themenblock 3 Die Dual-Coding-Theorie <?page no="177"?> das DCT-Modell auch die medial fonische Sprachrezeption. Diese aktiviert im Langzeitgedächtnis solche Logogens, die Foneme, Sprechsilben sowie die Aussprache von Wörtern, Sätzen und (kürzeren) Texten abgespeichert haben - zusammen mit den jeweiligen motorischen Ablaufmustern der Sprachproduktion. Fonisch-motorische und grafische Logogens sind miteinander je nach Grafem-Fonem-Zuordnung und Orthografie einer Sprache variabel assoziiert und konstituieren bei Automatisierung von häufigen Assoziationen auch das mentale Lexikon (vgl. Sadoski u. a. 2012: 470 f.). Auf diese Weise erklärt die DCT zudem die zur Leseflüssigkeit beitragende automatische Decodierung. Die Ausführungen über Lautleseverfahren und Leseflüssigkeit im obigen Kapitel 10 beruhen auf ebendiesem Zusammenhang, der erstmals im sogenannten LaBerge-Samuels-Modell hergestellt worden ist. Darin haben David LaBerge und S. Jay Samuels bereits 1974 ihre Theorie automatischer Informationsverarbeitung beim Lesen und einer damit einhergehenden Freisetzung kognitiver Kapazitäten für das Leseverstehen vorgelegt (vgl. LaBerge/ Samuels 1974; Samuels 2004). Das hierauf basierende Verfahren des Wiederholten Lautlesens geht maßgeblich auf Samuels zurück (vgl. Samuels 1979). Diese gesamte in den Bereichen Schriftspracherwerb und Lesedidaktik einflussreiche Theoriebildung greifen Sadoski/ McTigue/ Paivio (2012) auf, um im Rahmen der DCT die Prozesse des Lesens vom Decodieren bis zur Konstruktion multimodaler mentaler Modelle zu beschreiben und zu erklären (vgl. Sadoski/ Paivio 2013: 103-110). Dass es sich bei der DCT um eine Theorie der dualen Codierung handelt, wird allerdings erst erkennbar, wenn zusätzlich zur assoziativen Struktur aus Logogens, welche grafische, fonische, taktile und motorische Materialisierungsformen von Verbalsprache repräsentieren, eine zweite assoziative Struktur in den Blick rückt. Diese fixiert nicht-verbale, von lebensweltlichen Objekten, Geschehnissen und Situationen ausgehende Stimuli als visuelle, akustische, taktile, motorische, olfaktorische, gustatorische und sogar affektive Imagens im Langzeitgedächtnis. Zwischen semantisch konkreten Logogens aus dem verbalen Speichersystem und Imagens aus dem nonverbalen System entstehen referenzielle Verbindungen; denn Konkreta sind nicht nur imstande, gleich den Abstrakta Assoziationen mit synonymen Logogens zu bilden, sondern ihre Verständlichkeit wird noch durch die Aktivierung passender Imagens als gespeicherter Referenten aus der außersprachlichen Erfahrungswelt verstärkt. Abstrakta dagegen können lediglich über den Umweg der Assoziation mit einem bedeutungsnahen konkreten Logogen, das sodann ein Imagen aktivieren kann, mit dem nonverbalen System in - mittelbare - referenzielle Verbindung treten. Aktivierte Imagens verstärken ihrerseits dann wieder die Regsamkeit des jeweiligen sie aktivierenden Logogens oder machen noch weitere, aber ausschließlich kontextuell DCT: Forschung zur Leseflüssigkeit Ursprung des Wiederholten Lautlesens Duale Codierung: Logogens und Imagens Konkrete Logogens Abstrakte Logogens Wechselwirkung zwischen Logogens und Imagens 168 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="178"?> passende Logogens rege. Es wirken also nicht nur die - im Falle der Sprachrezeption gleichwohl initialen - Logogens auf die Imagens ein, sondern zwischen beiden Codierungssystemen, dem verbalen und dem nonverbalen, kommt, ausgelöst durch die Logogens, eine Wechselwirkung in Gang, im Schaubild (Abb. 3.16) gekennzeichnet durch Doppelpfeile. Einfache Pfeile hingegen stellen Wirkungen in einer einzigen Richtung dar, Rechtecke stehen für Logogens und Kreise für Imagens (vgl. Abb. 3.16; Tab. 3.12; Jesch 2016; Sadoski u. a. 2012: 471 f.). Abb. 3.16 Dual-Coding- Theorie (nach Sadoski/ Paivio 2013: 48) Die Multimodalität des sämtliche Sinnessysteme berücksichtigenden DCT- Modells (vgl. Abb. 3.16) kommt sowohl im verbalen System der Logogens als auch im nonverbalen System der Imagens zur Geltung. Besonders deutlich geht dies aus der Tabelle 3.12 hervor. Multimodalität des DCT-Modells 169 Themenblock 3 Die Dual-Coding-Theorie <?page no="179"?> Modalität Verbales System der Logogens: Mentale Repräsentation von … Nonverbales System der Imagens: Mentale Repräsentation von … visuell sichtbarer Schriftsprache sichtbaren Gegenständen akustisch hörbarer Sprache Geräuschen taktil tastbarer Schriftsprache (Blindenschrift) Tasteindrücken motorisch Sprachartikulation Bewegungsmustern gustatorisch Geschmackseindrücken olfaktorisch Geruchseindrücken affektiv Affekten Didaktische Implikationen Sadoski, ehemals selbst als Lehrer an der Schule tätig und heute Professor im „Department of Teaching, Learning, and Culture“ an der Texas A&M University, unterbreitet im Rahmen seiner kognitionswissenschaftlich und empirisch fundierten Lesedidaktik verschiedene methodische Vorschläge für die unterrichtsbezogene Anwendung der DCT (vgl. dazu und zum vorliegenden Kapitel Jesch/ Staiger 2016). Lektürebegleitende imaginative Visualisierung empfiehlt Sadoski - unter Berufung auf den Begriff des mentalen Modells - als bewährte verständnisfördernde Methode, die entweder mit dem Einsatz von Bildern kombiniert werden kann oder sich auf die Anleitung zur Verbalisierung innerer Bilder beschränkt (vgl. Sadoski 2004: 105 f.). Zum Text passende Illustrationen, eingesetzt gemäß der ersten Verfahrensvariante, lassen sich dabei auch anderen, inhaltlich vom Text abweichenden Bildern gegenüberstellen (vgl. Sadoski 2004: 128). Die zweite Verfahrensvariante ausschließlich interner Visualisierung stützt sich hingegen nicht auf präpariertes Übungsmaterial und Bildvorlagen, sondern auf imaginationsfreundliche, aber nicht bebilderte Textauszüge vor allem aus Werken der Kinderliteratur. Die Lernenden werden instruiert, zum Gelesenen innere Vorstellungen zu bilden und diese der Lehrperson anfangs auch zu schildern, um sich dann jedoch in ihrer imaginativen Lesepraxis immer mehr zu verselbständigen (vgl. Sadoski 2004: 105 f.). Der zu imaginierende literarische Text darf - den Erkenntnissen der Lesesozialisationsforschung folgend - um der motivierenden Wirkung vor allem auf jüngere Schulkinder willen von der Lehrperson durchaus vorgelesen, den Lernenden also auch anders als durch eigenes Lesen erstmals bekannt werden. Im Sinne der DCT ist dieses Vorleseerlebnis mit der ausdrücklichen Anregung verbunden, zum Gehörten innere Bilder zu erzeugen und sich über dieselben in wiederkehrenden Vorlesepausen mit Tab. 3.12 Multimodalität der Dual-Coding- Theorie (nach Sadoski/ Paivio 2004: 1330 f.; Sadoski u. a. 20212: 470 ff.) Lesedidaktik im Rahmen der DCT Äußere und innere Visualisierung beim Lesen Äußere und innere Visualisierung beim Vorlesen 170 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="180"?> den anderen zuhörenden Kindern auszutauschen. Der Auftrag, die inneren Bilder zeichnend zu Papier zu bringen und so die gehörte Geschichte vielleicht sogar zu illustrieren, dient ebenfalls der Kommunikation über verschiedene Textwahrnehmungen und der Aktivierung nicht nur des verbalsprachlichen, sondern eben auch des nonverbalen, in diesem Falle visuellen Codes (vgl. Sadoski 2004: 128 f.). Die im Unterricht gezielt angeleitete Visualisierung unterstützt, aus Sadoskis und Paivios empirisch begründeter Perspektive, das Erinnern und Verstehen von Erzähltexten sowie insbesondere die Inferenzbildung und das Monitoring, also die metakognitive Selbstkontrolle. Leseanfänger_innen sollten allerdings aufgrund ihrer Beanspruchung durch hierarchieniedrige Decodierungs-Prozesse immer erst nach dem für sie noch mühsamen Erlesen der Wörter und Sätze zur Visualisierung angeregt werden (vgl. Sadoski/ Paivio 2001: 180). Inferenzbildung findet beim Textlesen statt. Eine Inferenz ist die Ergänzung im Text angedeuteter, aber nicht ausdrücklich mitgeteilter Information aus dem Weltwissen. Monitoring ist metakognitive Selbstkontrolle bei Lese- und Lernprozessen. Metakognition ist dabei die gedankliche Wahrnehmung der eigenen gedanklichen Vorgänge. Älteren Kindern vorgegebene externe Visualisierungen zu Texten unterstützen zwar das Behalten und Verstehen des Gelesenen, aber hinsichtlich der Erinnerungsleistung nicht in ebenso effektvoller Weise wie selbst erzeugte, interne Visualisierungen. Die Kombination beider Visualisierungsformen wiederum steigert die Leistung insgesamt noch einmal in besonderem Maße über die jeweiligen Einzelergebnisse hinaus (vgl. Gambrell/ Jawitz 1993; Sadoski/ Paivio 2001: 182). In einer gesonderten Monografie legt Sadoski (2004) sein auf der DCT beruhendes lesedidaktisches Konzept vor, in welchem er unterscheidet zwischen Lernprogramm-, Lehrperson- und Lesenden-Orientierung. Diese 3 didaktisch-methodischen Grundausrichtungen des Lese- und Literaturunterrichts kombiniert er in einer 9 Felder umfassenden Matrix jeweils mit den 3 Fähigkeiten („skills“) des Decodierens, des Verstehens und der Reaktion auf das Gelesene (vgl. Tab. 3.13). Effekte von Visualisierung Definition Definition Matrix didaktischmethodischer Grundausrichtungen im Rahmen der DCT 171 Themenblock 3 Die Dual-Coding-Theorie <?page no="181"?> Decodieren Verstehen Reagieren Lernprogramm- Orientierung Lehrperson- Orientierung Lesenden- Orientierung Die Kombinationen zwischen geförderten Fähigkeiten und Unterrichtsorientierungen betonen entweder eher einen auf Fähigkeiten zielenden Ansatz („skills approach“; vgl. Tab. 3.14) oder einen ganzheitlichen, die Kontrolle stärker den Lernenden bzw. den Lehrpersonen als einem vorgefertigten Lernprogramm überlassenden Ansatz („holistic approach“; vgl. Tab. 3.15). Decodieren X X (X) Verstehen X (X) Reagieren (X) Lernprogramm- Orientierung Lehrperson- Orientierung Lesenden- Orientierung Decodieren (X) Verstehen (X) X Reagieren (X) X X Lernprogramm- Orientierung Lehrperson- Orientierung Lesenden- Orientierung Der Ganzheitliche Ansatz geht aus von der Reaktion auf das Gelesene und dem Textverstehen, kann aber von dort aus auch das Decodieren berühren. Umgekehrt verfährt der überwiegend instruktionalistische Fähigkeiten- Ansatz (vgl. Tab. 3.14) (vgl. Sadoski 2004: 92-97). Der Visualisierung im Lese- und Literaturunterricht schreibt Sadoski Züge beider Ansätze zu: „This method has much in common with both skills and holistic approaches, and may be seen as a bridge between them.“ (Sadoski 2004: 105) - In deutscher Übersetzung [TJ]: „Diese Methode hat viel gemeinsam mit beiden, dem Fähigkeiten- und dem ganzheitlichen Ansatz, und sie kann als eine Brücke zwischen ihnen gelten.“ Einerseits erlaubt die spontane interne Visualisierung des Geschehens und der Situationen etwa in einem Erzähltext eine ausgeprägte Kontrolle des Lernprozesses durch die lesenden Schüler_innen, die dabei in ganzheitlicher Weise mit ihrer Lektüre-Reaktion und dem Textverstehen beschäftigt sind. Andererseits steht die angeleitete interne Visualisierung eher unter der Tab. 3.13 Matrix didaktischmethodischer Grundausrichtungen (nach Sadoski 2004: 93) Tab. 3.14 Fähigkeiten-Ansatz (nach Sadoski 2004: 95) Tab. 3.15 Ganzheitlicher Ansatz (nach Sadoski 2004: 96) Fähigkeiten-Ansatz versus Ganzheitlicher Ansatz Visualisierung: Brücke zwischen Fähigkeiten-Ansatz und Ganzheitlichem Ansatz 172 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="182"?> Kontrolle der Lehrperson oder eines Lernprogramms und dient der gezielten Förderung der Verstehensfähigkeit, wodurch sie sich als instruktionalistischer Fähigkeiten-Ansatz ausweist (vgl. Sadoski 2004: 105). Ein umfassendes instruktionalistisches Lernprogramm zur lektürebegleitenden Visualisierung, das Eingang gefunden hat in den schulischen Leseunterricht, stammt von Nanci Bell (2007; vgl. Sadoski/ Willson 2006). Es folgt einer Progression bezüglich der Länge des vorgelegten Sprachmaterials, das von einzelnen Wörtern über Sätze und Absätze bis hin zu ganzen Erzähltexten fortschreitet. Dabei gelangen auch vorgegebene externe Visualisierungen mit Vorbildcharakter für die Visualisierungen der Lernenden zum Einsatz. Ein alternatives instruktionalistisches Verfahren geht ausschließlich von nicht-illustrierten, dafür aber möglichst konkreten und hierdurch - wie bei der Einführung in das Modell der dualen Codierung erläutert - leicht visualisierbaren Erzähltexten aus. Die Anleitung durch die Lehrperson besteht hier in der Aufforderung zum internen Visualisieren, in der Vorführung dieses Vorgangs und in der Rückmeldung auf von den Lernenden beschriebene Vorstellungsbilder. Ziel ist die Verselbständigung der Schüler_innen bei der Anwendung der Visualisierungsstrategie (vgl. Sadoski 2004: 105 f.; Sadoski 2008: 42). Die erwähnte Brückenfunktion der Visualisierungsstrategie prädestiniert sie laut Sadoski für die Integration in einen dritten Ansatz, den Ausbalancierten Ansatz („balanced approach“) zwischen instruktionalistischem Fähigkeiten-Ansatz und Ganzheitlichem Ansatz. Angeleitete interne Visualisierung während des Vorlesens durch die Lehrperson kann unterstützt werden durch externe Muster-Visualisierungen und deren Unterscheidung von unangemessenen Illustrationen. Die Lernenden selbst wiederum können unter weitgehender eigener Kontrolle ihre internen Visualisierungen auf Papier festhalten und so den rezipierten Text illustrieren. Interne Visualisierung kann zudem auf Anregung der Lehrperson in ein noch weiter angereichertes inneres Nacherleben einer gehörten Geschichte überführt werden (vgl. Sadoski 2004: 128 f.). Soll Visualisierung verstärkt auch im deutschen Literatur- und Sprachunterricht etabliert werden, so bietet sich eine Orientierung an Sadoski und Paivio sowie insgesamt an der empirisch fundierten Unterrichtspraxis im anglofonen Raum an (Bell 2007; Gambrell/ Koskinen 2002; Block 2004; Cooper 2003). Vielen angloamerikanischen Ansätzen gemeinsame Charakteristika hat Erich Hartmann (2006: 80-100) herausgearbeitet. Verbreitet ist ihm zufolge ein prozessuales unterrichtliches Vorgehen in fünf Phasen: 1. Visualisieren von Objekten, Begriffen und Orten 2. Geführtes Visualisieren von Objekten und Szenen 3. Geführtes Visualisieren von Vorgängen und Handlungen Beispiele für Lernprogramme zur Visualisierung Zwischen Fähigkeiten-Ansatz und Ganzheitlichem Ansatz: Ausbalancierter Ansatz Verstärkte Einführung von Visualisierung in Deutschland Unterrichtsprozedur in fünf Phasen 173 Themenblock 3 Die Dual-Coding-Theorie <?page no="183"?> 4. Visualisieren von Texten in Hörsituationen 5. Visualisieren von Texten in Lesesituationen In der ersten Phase werden die Kinder zur genauen Wahrnehmung von realen Gegenständen und später auch von Abbildungen aufgefordert, die sie daraufhin bei geschlossenen Augen intern visualisieren sollen. Diese bildlichen Vorstellungen vergleichen sie dann wieder mit dem ursprünglichen Anschauungsobjekt. Es folgt in einem weiteren Schritt die interne Visualisierung konkreter Nomen. Die hierzu imaginierten Bilder werden von den Kindern beschrieben oder gemalt und dabei einander gegenübergestellt. Ist die Fähigkeit zur Aufzeichnung von Vorstellungsbildern erworben, können die Kinder auch ihnen bekannte Orte intern visualisieren und auf Papier wiedergeben, um diese Darstellung schließlich mit der Wirklichkeit abzugleichen. In der zweiten Phase üben die Kinder, ihre internen Visualisierungen nach mündlichen Vorgaben der Lehrperson zu modifizieren, also beispielsweise farblich oder in der räumlichen Ausrichtung an die gehörte Beschreibung anzupassen. In der dritten Phase werden die Kinder an die interne Visualisierung von Prozessen herangeführt, die Veränderungen und Bewegungen mit sich bringen. Dazu sollen die Lernenden zunächst eine statische Vorstellung eines bestimmten Objekts bilden. Daran anschließend werden sie dazu angeleitet, dieses Objekt in einer vorgegebenen Weise vor ihrem inneren Auge in Bewegung zu setzen. Beispielsweise können sie ein zunächst parkendes Auto in einer ‚Kopfkino-Vorführung‘ eine Straße entlangfahren lassen. In der vierten Phase kommen einfache bildhafte Texte zum Einsatz, die an das Vorwissen der Kinder anknüpfen. Zunächst sollen sich die Lernenden einen kurzen Textauszug, der ihnen vorgelesen wird, bei geschlossenen Augen bildlich vorstellen. Anschließend erhalten die Kinder Gelegenheit, ihre Vorstellungsbilder zu schildern oder zeichnerisch festzuhalten. Es folgt ein Austausch mit der Lehrperson, welcher der positiven Verstärkung der Schüler_innen bezüglich ihrer Visualisierungsleistungen dient. Diese Rückmeldephasen verkürzen sich bei der Fortsetzung des abschnittweisen Vorlesens nach und nach. Zugleich verlängern sich die vorgelesenen Texteinheiten bis hin zu vollständigen Texten. In der fünften Phase visualisieren die Kinder während des eigenständigen Lesens oder danach. Anfangs werden hierfür konkrete und dabei zunächst vom Hören schon bekannte oder auch illustrierte Lesetexte verwendet. Wieder verlängern sich die Textabschnitte allmählich. Die Lehrperson kann den Schüler_innen den Vorgang der Visualisierung zusätzlich durch sogenanntes Lautes Denken vorführen. Erste Phase: Visualisieren von Objekten, Begriffen und Orten Zweite Phase: Geführtes Visualisieren von Objekten und Szenen Dritte Phase: Geführtes Visualisieren von Vorgängen und Handlungen Vierte Phase: Visualisieren von Texten in Hörsituationen Fünfte Phase: Visualisieren von Texten in Lesesituationen 174 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="184"?> Lautes Denken ist ein Verfahren in Didaktik und empirischer Forschung, das Gedankengänge hörbar macht. Die laut denkende Person spricht ihre Überlegungen während des Denkvorgangs laut aus, sodass andere aus dem kognitiven Vorgang lernen oder ihn erforschen können. In Zeichnungen oder Beschreibungen halten die Kinder ihre Vorstellungsbilder fest, in denen sich zugleich ihr Leseverstehen ausdrückt. Die Lehrperson kann diesem Leseverstehen entsprechende Unterstützung und Förderung leisten. Gelingt den Lernenden schließlich die Visualisierung konkreter Lesetexte, werden ihnen abstrakte Texte angeboten. Diese stellen erhöhte Anforderungen an die Visualisierungsfähigkeit. Daher bedürfen die Schüler_innen besonderer Verfahren der Konkretisierung solcher abstrakten Lesetexte. Die soeben dargestellte, von verschiedenen Forscher_innen im Kern vertretene Prozedur geht nicht zuletzt auf die theoretischen Anregungen seitens der DCT zurück. Verglichen mit der hier umrissenen lesedidaktischen Theorie, Empirie und Praxis, wie sie in der angloamerikanischen Forschung und Unterrichtskultur seit Jahrzehnten entwickelt werden, ist die deutschdidaktische Szene noch eher wenig affiziert von dualer Codierung und Visualisierung. Im Folgenden sollen aber einige hiesige Positionen zu diesem Gegenstandsbereich angesprochen und teilweise dem Diskurs der DCT gegenübergestellt werden. In deutschdidaktischer Tradition anknüpfend an die literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik und den philosophischen Konstruktivismus , führt jüngst Ulf Abraham nochmals aus, wie die Unbestimmtheitsstellen literarischer Texte durch innere Bilder der Lesenden aufzufüllen seien: Textverstehen, rezeptionsästhetisch oder noch radikaler konstruktivistisch gedacht, ist nicht ‚Informationsentnahme‘ (nicht einmal bei sog. Sachtexten! ), sondern Aufbau eines Weltentwurfs mit Hilfe der Textpartitur. (Abraham 2014: 391) Rezeptionsästhetik ist eine literaturtheoretische Richtung, in der die Aktivität des Lesens hervorgehoben wird. Diese erst verhelfe dem Text zu seiner Verwirklichung. Der philosophische Konstruktivismus fasst menschliches Erkennen als kognitive Konstruktion auf und nicht als bloße Wahrnehmung schon gegebener Wirklichkeit. Bezogen auf Literatur bedeutet diese Auffassung, dass Leser_innen Inhalte selbst konstruieren und nicht einfach dem Text entnehmen. Definition Deutschdidaktische Positionen zur DCT Rezeptionsästhetische und konstruktivistische Deutschdidaktik Definition Definition 175 Themenblock 3 Die Dual-Coding-Theorie <?page no="185"?> In Abrahams oben zitierter Äußerung klingt mehr noch als die verbreitete Skepsis der deutschen Literaturdidaktik gegenüber dem Begriff der Information (vgl. Abraham 2003: 213 f.; Bräuer 2002: 27 f.) die Zurückweisung einer Vorstellung von Textlektüre als bloßer Entnahme schon gegebener Inhalte an. Abraham betont, erst beim Lesen aktiv erzeugte bildliche Vorstellungen ermöglichten ein tieferes, nicht nur oberflächliches Textverständnis, ja seien gar Voraussetzung der Kohärenzbildung (vgl. Abraham 2014: 391, 398, 399). Beim thematischen Übergang seiner Ausführungen vom sprachlich evozierten Vorstellungsbild zum symbolischen, metaphorischen oder allgorischen Sprachbild bemängelt Abraham die schwache rezeptionsästhetische und konstruktivistische Reflektiertheit der eher sprachsubstanzialistischen fachwissenschaftlichen Terminologie. Sprachsubstanzialismus: Wird etwas substanzialistisch aufgefasst, so wird es als ein Ding mit eigener Beschaffenheit aufgefasst. Sprachsubstanzialismus verdinglicht die Sprache zu einer Substanz mit bestimmten Eigenschaften, die von den Kommunizierenden und der Kommunikationssituation unabhängig sind. Abrahams Auffassung nach „ist die literaturwissenschaftlich gängige Rede von der Bildlichkeit der Texte weder rezeptionsästhetisch noch konstruktivistisch befriedigend“; denn: „Metaphorisch zu sein, ist keine Eigenschaft von Wörtern, sondern von Äußerungen. Indem diese vollzogen und verstanden werden, entstehen Bilder“ (Abraham 2014: 392 [Hervorh. i. Orig.]). Kaum behandelt wird von Abraham der häufige Fall eines Sprachbildes, das für Nichtbildliches, Abstraktes steht. Sadoski hingegen sucht nicht zuletzt diese sprachbildliche Funktion in die DCT einzuordnen: Images […] stand for often-unstated ideas that may embody the theme of a poem. […] even if the words are forgotten, the images remain in memory as thematically meaningful mental pegs. Images are central to metaphors, and metaphors on both local and global scales are central to the meaning of poetry. In short, the separate but unified contributions of the verbal and nonverbal codes as postulated in DCT may be what poetry is all about. (Sadoski 2003: 80 f.) Bildliche Vorstellungen […] stehen für oft ungenannte Ideen, die das Thema eines Gedichts ausdrücken können. […] sogar wenn die Worte vergessen sind, bleiben die bildlichen Vorstellungen als thematisch bedeutungsvolle mentale Aufhänger im Gedächtnis. Bildliche Vorstellungen sind zentral für Metaphern, und Metaphern von lokaler wie auch globaler Reichweite sind zentral für die Bedeutung von Dichtung. Kurzum, die getrennten, aber vereinten Aktive Bildkonstruktion beim Lesen Definition Die Metapher in rezeptionsästhetischer und konstruktivistischer Deutschdidaktik Die Metapher in der DCT 176 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="186"?> Beiträge des verbalen und des nonverbalen Codes, wie in der DCT vorausgesetzt, mögen das sein, worum es in der Dichtung überhaupt geht. [Übers. v. TJ] Hiernach wären es die verbalsprachlich induzierten internen Visualisierungen, die als metaphorische Bilder den Verlust des Wortlauts aus dem Gedächtnis überdauern und so die in ihnen versinnbildlichten abstrakten Grundgedanken eines literarischen Textes in der Erinnerung verankern. Bei der Lektüre vielschichtigerer Literatur jedoch ist es laut Sadoski wichtig, deren wenn auch wortgebundene Metaphern nicht allzu wörtlich zu nehmen. Was komplexe literarische Sprache mitzuteilen hat, enthüllt sich nicht sogleich in ihrer wortgetreuen Bildhaftigkeit: That is, we must not take the imagery too literally at risk of losing the meaning and force of the words. If the appreciation of poetry resides in the willing suspension of disbelief [Coleridge 1817; TJ], it resides in the willing suspension of literal belief as well. (Sadoski 2003: 81 [Hervorh. TJ]) Das heißt, wir dürfen die Metaphorik nicht zu wörtlich nehmen und so riskieren, die Bedeutung und Kraft der Worte zu verlieren. Wenn die Würdigung von Dichtung in der willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit liegt, dann liegt sie auch in der willentlichen Aussetzung der Wortgläubigkeit.“ [Übers. v. TJ] Ein Beispiel dafür, wie in einem Text die von ihm hervorgerufenen Vorstellungsbilder zugleich durch das Sprachmaterial dementiert werden, führt Sadoski anhand des Widerspruchs zwischen jenen internen Visualisierungen und dem Metrum eines Gedichtes vor, das vermeintlich ein abenteuerliches Leben auf See - als Sinnbild für ein freies, selbstbestimmtes Dasein - ausmalt: In short, this poem isn’t about going to sea, it’s about not going to sea. It’s about the forces within us that hold us back from living out our dreams. But the effect is nowhere achieved literally. It is all implied in the disharmony between the visual imagery and the auditory meter of the lines, a play of nonverbal and verbal codes off each other for rhetorical and poetic effect. (Sadoski 2003: 82) Kurz gesagt, dieses Gedicht handelt nicht von der Seefahrt, es handelt davon, nicht zur See zu fahren. Sein Thema sind die Kräfte in uns, die uns davon abhalten, unsere Träume auszuleben. Aber der Eindruck wird nirgends wörtlich erzeugt. Alles ist impliziert in der Disharmonie zwischen den visuellen Vorstellungsbildern und dem akustischen Metrum der Verse, ein gegenseitiges Ausspielen von nonverbalen und verbalen Codes um des rhetorischen und poetischen Effekts willen. [Übers. v. TJ] 177 Themenblock 3 Die Dual-Coding-Theorie <?page no="187"?> Sadoski richtet also im Umgang mit Literatur und insbesondere Lyrik seine Aufmerksamkeit im Sinne der doppelten, verbalen und nonverbalen Codierung auf die vom textuellen Wortlaut angeregte interne Visualisierung im Zusammenspiel mit der fonischen Sprachkunst (vgl. Sadoski 2003: 82; 1992). Eine tiefere Befassung der deutschen Literaturdidaktik mit diesem auch empirisch fundierten Ansatz erschiene durchaus hilfreich. So böte sich Abraham Gelegenheit zur Überprüfung seines Zwischen-Fazits: „Metaphern […] vermitteln sicherlich zwischen Kognition und Sprache; aber die Rolle visueller oder anderer Imagination dabei ist ungeklärt.“ (Abraham 2014: 392) Antworten auf diese Frage verfolgt Abraham bis zum Jahr 1998: Wie aus (manchen) Wörtern Bilder werden, war in den 1980er- und 1990er- Jahren Gegenstand einer (kognitions-)psychologischen Forschung, um die es seither ein wenig still geworden ist. (Abraham 2014: 392 [Hervorh. i. Orig.]) Diese Stille wird in der Deutschdidaktik aus der Distanz zur Forschung über verbale und nonverbale Codierung wahrgenommen. So berücksichtigt Abraham die DCT auf der Basis eines Aufsatzes von James Clark und Allan Paivio aus dem Jahre 1987 (Clark/ Paivio 1987), leider ohne dabei auf die zentralen Konzepte der Theorie einzugehen. Über den Ertrag der didaktischen Visualisierungsforschung urteilt er ausgehend eben von 1987: „Seither hat es in dieser Sache wohl weniger einen Erkenntnisals einen Verwertungszuwachs gegeben“ (Abraham 2014: 393). Als Beleg führt er die oben schon referierte, methodenorientierte Publikation von Hartmann (2006) an, welche den gegenwärtigen Forschungsstand der DCT aber nicht in Gänze widerspiegelt. Das Abraham vor allem interessierende Thema der Metapher verfolgt er dann nicht unter Einbezug der Visualisierungsforschung; denn: „Lebendiger ist die literaturwissenschaftliche und -didaktische Diskussion um die Theorie der Metapher und ‚uneigentliche Bedeutung‘.“ (Abraham 2014: 393) Gemeint ist eine hierzulande geführte Diskussion ohne Bezüge zur dualen Codierung. Einige Vertreter_innen der deutschen Lese- und Literaturdidaktik haben indessen relativ früh punktuelle Verbindungen zur DCT hergestellt, so Heiner Willenberg innerhalb seiner „Einführung in die Neuropsychologie des Textverstehens“ (vgl. Willenberg 1999: 83, 200) oder Jürgen Grzesik in seinem Buch „Textverstehen lernen und lehren“ (vgl. Grzesik 1990: 82). Unabhängig von der DCT beziehen beide Autoren schon immer die internationale Textverstehensforschung in ihre Publikationen ein und bedenken in theoretisch wie empirisch fundierter Weise den Aspekt der Visualisierung auch im Zusammenhang mit Lesestrategien (vgl. Willenberg 1999: 74-116; Grzesik 1990: 80-104, 108-120, 234-247, 254-264, 383-387). Berücksichtigt sind dabei besonders durch Grzesik auch Rezeptionsästhetik Die Metapher in der DCT - von Interesse für die Deutschdidaktik Punktuelle Verbindungen der Deutschdidaktik zur DCT 178 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="188"?> und Konstruktivismus (vgl. Grzesik 1990: 37-44). Im Rahmen seiner aktualisierten Lesestrategien plädiert Grzesik zudem für die Anfertigung externer Visualisierungen: Was explizit oder implizit durch Textsemantik dargestellt worden ist, wird jetzt visuell repräsentiert. Das ist eine zusätzliche mediale Objektivierung mit der Funktion der Veranschaulichung. (Grzesik 2005: 371, vgl. 371 f.) Wie Grzesik an dieser Stelle mit veranschaulichender Visualisierung letztlich eine elaborative Lesestrategie vorschlägt, so sieht die Deutschdidaktik auch sonst zuweilen das Verfahren der Visualisierung als Bestandteil von Elaborationsstrategien vor, meist freilich ohne in ihrer Modellbildung der Dual- Coding-Theorie irgendwelche Beachtung zu schenken: Elaborierende Lesetechniken […] Textstellen oder Textabläufe visualisieren: als mentale Beschreibung (‚Versuche, Dir [sic! ] den zeitlichen Ablauf der geschilderten Ereignisse bildlich vorzustellen‘; ‚Stelle Dir [sic! ] den im Text beschriebenen Gegenstand so genau wie möglich vor‘) und/ oder als graphische Illustration (‚Zeichne den im Text beschriebenen Gegenstand auf‘; ‚Gebe [sic! ] den Ablauf des Textes in Form einer Bildergeschichte wieder‘) (Rosebrock/ Nix 2015: 82 [Hervorh. i. Orig.]; vgl. Jesch/ Staiger 2016: 69). Frühe Impulse aus der Theorie der dualen Codierung aufgenommen und in andere Richtungen weiterentwickelt hat die Multimedia-Learning-Forschung, deren maßgeblicher Akteur Richard E. Mayer die DCT noch in jüngerer Zeit rezipiert (vgl. Mayer 2014; Mayer/ Sims 1994). Den von Mayer (2001, 2009, 2014) verfolgten multimedialen Ansatz unterstützen umgekehrt auch Sadoski und Paivio (vgl. 2013: 116 f.), sodass sie insgesamt zu der Einschätzung gelangen: „imagery […] has impressive consequences for comprehending text either alone or together with pictures and multimedia“ (Sadoski/ Paivio 2001: 184) - übersetzt [TJ]: „innere Vorstellungsbildung […] hat beeindruckende Konsequenzen für das Textverstehen, entweder alleine oder zusammen mit Bildern und Multimedia“. Die DCTumfasst dabei von ihrem Anspruch her mehr Sinnesmodalitäten als die Multimedia-Learning-Theorie, nämlich sämtliche sinnlich-körperlichen Anteile des Textverstehens (vgl. Sadoski 2008: 39 f.): „DCT is currently the only empirically established, fully embodied theory of reading comprehension.“ (Sadoski 2008: 40) - Zu Deutsch [TJ]: „Die DCT ist derzeit die einzige empirisch fundierte, vollauf verkörperlichte Theorie des Leseverstehens.“ Auch in einer jüngeren Publikation hebt Sadoski die - didaktisch bedeutsame - Körperlichkeit der Leseerfahrung wieder hervor (vgl. Sadoski 2018). Dem Würfel der Deutschdidaktik lässt sich diese Multimodalität der Dual-Coding-Theorie vor allem von fonischem und grafischem Medium Visualisierung als Elaborationsstrategie Multimedia-Learning und DCT Sinnesmodalitäten des Textverstehens - gemäß DCT Körperlichkeit des Textverstehens - gemäß DCT Multimodalität im Würfel der Deutschdidaktik 179 Themenblock 3 Die Dual-Coding-Theorie <?page no="189"?> ausgehend zuordnen, auch wenn beispielsweise Illustrationen die von den verbalen Texten wachgerufenen internen Visualisierungen unterstützen und intensivieren (Abb. 3.17). Abb. 3.17 Zuordnung der Multimodalität gemäß DCT zur multimedialen Kompetenz-Systematik der Deutschdidaktik (blau = Wirkungsbereich der Multimodalität) 180 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="190"?> Der didaktische Würfel ist multimedial, da in ihm vielfältige Medienangebote berücksichtigt sind, die sich aus jeweils unterschiedlichen Zeichensystemen konstituieren, nicht nur - wie bei der Dual-Coding-Theorie - aus verbalsprachlichen grafischen und fonischen Zeichen (beide mental gespeichert als Logogens). Zu den grafischen und fonischen Zeichen hinzu kommen im didaktischen Würfel akustische und visuelle Zeichensysteme, also die ‚Sprachen‘ von Hörund/ oder Bild-Medien. Die Zuordnung der Multimodalität gemäß Dual-Coding-Theorie kann sich indessen nur auf die medial fonische und grafische Verbalsprache beziehen, dies aber für die Rolle sowohl der Produktion als auch der Rezeption. Das fonische Medium als solches ist verbunden mit der akustischen und (produktiv-)motorischen Sinnesmodalität, das grafische Medium als solches mit der visuellen und im Falle der Blindenschrift (rezeptiv-) taktilen Modalität. Inhaltlich konkrete Verbalzeichen können direkt, inhaltlich abstrakte indirekt jeweils passende Imagens aktivieren, die der visuellen, akustischen, taktilen, motorischen, gustatorischen, olfaktorischen oder affektiven Modalität angehören. Die Multimodalität wirkt so letztlich in alle Kompetenzbausteine des didaktischen Würfels hinein, wenngleich verbale Distanzkommunikation einen höheren Abstraktionsgrad aufweist als verbale Nähekommunikation. Didaktische Konsequenzen aus der DCT sind ausschließlich für den Umgang mit verbalsprachlichen Texten zu ziehen, primär im grafischen Medium und in der Rolle der Rezeption; denn die DCT begreift sich als „Theorie des Leseverstehens“. Als solche aber beansprucht sie, alle Sinnesmodalitäten einschließlich der Affekte einzubeziehen, sprich: „vollauf verkörperlicht“ zu sein. Inzwischen schließt die empirische lesedidaktische Forschung zur dualen Codierung auch die motorische Begleitung der Textrezeption ein (vgl. Sadoski 2018: 344). Insgesamt bietet die DCT dem Deutschunterricht eine theoretische Legitimationsbasis dafür an, die Lektüre faktualer wie fiktionaler Texte - je konkreter diese sind, desto leichter - unter Beteiligung sämtlicher inhaltlich aufgerufenen Sinnesbereiche wie in einer Simulation zu gestalten (vgl. Sadoski 2018: 336). Nicht nur interne und externe Visualisierungen dürfen mithin zum tieferen Verständnis beispielsweise einer Beschreibung mittelalterlichen Marktlebens erzeugt oder wahrgenommen werden (Abb. 3.18): Multimedialität des didaktischen Würfels Multimodalität des didaktischen Würfels DCT als sinnlichkörperliche Rezeptionstheorie Leseverstehen als multimodale Simulation 181 Themenblock 3 Die Dual-Coding-Theorie <?page no="191"?> Markttreiben im Mittelalter Ein bunter Umzug aus Marktleuten bewegt sich durch die Stadt. Mehr als zehn Dutzend Handwerker, Händler und Spielleute schlagen ihre Zelte und Buden auf. Des Morgens ertönt die Fanfare des Stadtbläsers, es gilt die Marktstände zu öffnen. Und alsbald hält auch die hohe Obrigkeit Einzug auf der Marktbühne - begleitet von den Stadtpfeifern und anderen Spielleuten. Ein Bote verliest die Marktordnung, und der Bürgermeister eröffnet den Markt - der Handel und Wandel möge beginnen. Schon hört man das Hämmern des Schmiedes klingen, fleißig gehen die Handwerker vor dem staunenden Volk ihrem harten Tagwerk nach. Überall tönen die Rufe der Händler, die bis aus dem fernen Orient angereist sind, um ihre Ware zum Kauf anzubieten. An den Gaststätten und Garbrätereien drängt sich hungriges und durstiges Volk, es duftet nach Gebratenem, Gesottenem, Geröstetem. Aus einer anderen Richtung riecht es nach flüssigem Wachs, Schafwolle und feuchtem Leder. In der Bäckerei geht eine Ladung Brotlaibe in den Ofen, und ein paar Schritte weiter wird Seegras gebündelt und versponnen. Das Volk und weitgereiste Gäste toben vor Begeisterung, wenn bei Einbruch der Dämmerung der Markt im Licht von hunderten von Kerzen und Fackeln erstrahlt und die Spielleute sich sammeln zum Musizieren … Der Ruf des Nachtwächters: „Löscht die Lichter, und gehabt euch wohl! “ bereitet dem Treiben nächtens ein Ende, jedoch ist am nächsten Tag ja auch noch Markt … Vielmehr ließen sich gemäß der konkreten Semantik des kleinen faktualen Textes (Abb. 3.18) sämtliche Sinnesmodalitäten extern wie intern anregen: außer der visuellen die motorische und affektive, die akustische, olfaktorische, gustatorische, taktile. Es darf folglich analog dem geschilderten Markttreiben gebacken und gekocht, gegessen und getrunken, Musik gespielt und gehört, gerufen, gehämmert, Wachs geschmolzen, Leder befeuchtet, (See-)Gras gebündelt werden, und im Dunkeln dürfen Lichter, vielleicht gar unter freiem Himmel Fackeln entzündet werden. All dies mag begleitet sein von äußerer und innerer Bewegung im szenischen Spiel. Möglich wären zumindest methodische Anschlüsse an die Hördidaktik (Wermke 2010) und die eigentlich literaturbezogenen Ansätze der Theaterdidaktik (vgl. Scheller 1998; Paule 2010) sowie der Handlungs- und Produktionsorientierung (Haas 1984, 1997; Spinner 2010). Abb. 3.18 Faktuales Textbeispiel für eine multimodale Lektüre im Deutschunterricht (nach Medienwerkstatt Wissenskarten) Mögliche Anschlüsse multimodaler Text- Simulation an die Deutschdidaktik 182 Primarstufe und was daraus folgt - schulstufenübergreifende Modelle <?page no="192"?> Übungen 1. Beschreiben und erläutern Sie das Modell der dualen Codierung in seinen wesentlichen Zügen. 2. Welche didaktische Relevanz haben interne und externe Visualisierung beim Lesen? 3. Erläutern Sie nach Sadoski den Fähigkeiten-Ansatz, den Ganzheitlichen Ansatz und den Ausbalancierten Ansatz der Lesedidaktik. Ordnen Sie die Visualisierung begründet dem Ausbalancierten Ansatz zu. 4. Beschreiben Sie die fünf Phasen der Visualisierung im Leseunterricht. 5. Erklären Sie den Unterschied zwischen der Multimedialität und der Multimodalität des deutschdidaktischen Würfelmodells. 6. Begründen Sie unter Bezugnahme auf die Dual-Coding-Theorie das Vorgehen der Lehrperson in der hier wiedergegebenen Unterrichtsphase. Gehen Sie dabei auch auf die verschiedenen Sinnesmodalitäten (einschließlich der affektiven) ein, die durch die dargestellte Übung angesprochen werden. Die Erklärungen der Lehrperson und ihr Lautes Denken sind nachfolgend kursiv, die vorgelesenen Passagen hingegen fett gedruckt: Ich werde euch den Anfang einer Geschichte über einen Wüstenmann vorlesen und danach die Bilder beschreiben, die ich mir über das Gelesene in meiner Vorstellung mache. Die Lehrperson liest den Textabschnitt zuerst ganz vor. Danach liest sie ihn schrittweise noch einmal vor und macht sich dazu laut Gedanken über ihre bildhaften Vorstellungen während des Lesens. Ihr explizites Modellieren beginnt mit der Überschrift: Der Titel der Geschichte lautet ‚Der Wüstenmann‘ (hält einen Moment inne, um ein mentales Bild zu erzeugen). Ich habe ein Bild im Kopf, wie die Wüste aussehen könnte, in der die Geschichte spielt: Es ist sehr heiß. Weit und breit gibt es nur Sand und Dünen, fast keine Vegetation ist zu sehen. Dem alten Mann war heiß, und er war todmüde. Sein langes weißes Gewand flatterte im trockenen Wüstenwind. Ich sehe einen sehr alten Mann. Er trägt ein langes weißes Gewand, das im Wind flattert. Er wischte sich über die Augen, als er sich mühsam eine weitere Düne hinaufzuschleppen begann. Ein endloses Meer von Sand umgab ihn. Ich kann sehen, was den alten Mann umgibt: Kilometer um Kilometer heiße Wüste. Vielleicht wischt er sich die Augen, weil er müde ist und genug hat. Textbeispiel (nach Hartmann 2006: 94) 183 Themenblock 3 Die Dual-Coding-Theorie <?page no="193"?> Die Sonne brannte unerbittlich auf ihn nieder. Aber er wollte nicht aufgeben, denn er wusste, dass das Lager nahe war (Ende Textabschnitt). Ich kann den Gesichtsausdruck des Alten genau sehen. Ein Ausdruck von Beharrlichkeit liegt auf seinem Gesicht. Er ist fest entschlossen, das Lager zu erreichen. Die Lehrperson beendet ihr explizites Modellieren folgendermaßen: Die Bilder, die ich mir zu diesem Abschnitt im Kopf gemacht habe, haben mir geholfen, die Geschichte besser zu verstehen. Das bildhafte Vorstellen ist eine Strategie, die gute Leserinnen und Leser oft anwenden. Auch ihr könnt das Visualisieren erlernen und einsetzen, um beim Lesen besser verstehen zu können. Verwendete und weiterführende Literatur Abraham, Ulf (2003): Lese- und Schreibstrategien im themazentrierten Deutschunterricht. Zu einer Didaktik selbstgesteuerten und zielbewussten Umgangs mit Texten. 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Darüber hinaus verlangen die verschiedenen Schulfächer von den Lernenden einen Ausbau der Fachsprache, die ebenfalls die alltagssprachlichen Mittel übersteigt und nicht nur für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache eine beachtliche Hürde darstellen kann. Zu deren Überwindung tragen Konzepte eines sprachsensiblen, den Erwerb der Fachsprache gezielt unterstützenden Fachunterrichts bei. Die den Schüler_innen besonders ab der Sekundarstufe abverlangten sprachlichen Entwicklungsleistungen fallen in die Phase der Adoleszenz mit ihren kognitiven Fortschritten und weiteren Besonderheiten, die im Rahmen des schon bekannten integrativen Modells der Lese- und literarischen Sozialisation beleuchtet werden. Das letzte Kapitel greift wieder auf das Mehrebenen-Modell des Lesens zurück, nun mit Bezug auf die Sekundarstufe I und II. Dabei wird durch die Auseinandersetzung mit Kompetenzorientierung und Bildungsstandards der Bogen zurück zur kritischen Reflexion am Beginn des Buches geschlagen. Überblick 189 Themenblock 4 <?page no="199"?> 12 Voranschreitende Distanzkommunikation - Bildungssprache und Fachsprache im Blick Die didaktisch-methodisch herausfordernde Heterogenität der Lernenden auf der Primarstufe wird in einem mehrgliedrigen Schulsystem, wie es in Deutschland trotz verschiedenster Reformansätze immer noch besteht, durch weiterführende Schulformen unterschiedlichen Niveaus beantwortet. Welche Kinder meist nach dem vierten Schuljahr eine Hauptschule, eine Realschule, eine diese beiden Schulformen in sich vereinende Schule mit bzw. ohne Option auf Hochschulreife oder aber das Gymnasium besuchen, entscheidet nicht zuletzt die frühe Entwicklung der Literalität und Literarität in Familie und Kindergarten einerseits sowie in der Grundschule andererseits (vgl. Michalak u. a. 2015: 51). Eine wichtige Rolle für die folgenträchtige Weichenstellung auf dem schulischen Bildungsweg, die das Kind auf das Gleis einer mehr oder weniger anspruchsvollen weiterführenden Schule lenkt, spielt außerdem die jeweilige Familiensprache. Ist diese hierzulande nicht Deutsch, so besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass - ähnlich wie in bildungsfernen deutschstämmigen Milieus - die Fähigkeit zu fonischer oder grafischer konzeptioneller Distanzkommunikation im Deutschen bei Schuleintritt wie am Ende der Grundschulzeit noch nicht angebahnt oder in altersgemäßem Ausmaß erworben ist. Bislang nämlich wird die Schule ihrem Auftrag, Kompensation für die biografisch bedingte Benachteiligung vieler Kinder zu leisten, nicht hinreichend gerecht. Zu selbstverständlich erscheinen den Lehrpersonen oft die Formen der Distanzkommunikation als Gegenstand positiver Bewertung, wo sie bereits beherrscht werden, nicht aber als Gegenstand der Förderung, wo sie noch nicht angeeignet sind (vgl. Michalak u. a. 2015: 51 f.): Bildungsungleichheit und Bildungsbenachteiligung entstehen somit in der Schule auf dreierlei Art und Weise: 1. Der Gebrauch der Bildungssprache wird nicht explizit thematisiert, sodass die SchülerInnen gar nicht wissen, dass sie ein anderes sprachliches Register verwenden sollen als jenes, das ihnen im Alltag zur Verfügung steht. 2. Bildungssprachliche Fähigkeiten werden nicht explizit vermittelt. Die SchülerInnen erhalten prinzipiell weder im Deutschnoch im anderen Fachunterricht Lerngelegenheiten, bildungssprachliche Fähigkeiten zu erwerben. 3. Bildungssprachliche Fähigkeiten werden trotz der unfairen Bedingungen in 1. und 2. einfach vorausgesetzt und darüber hinaus sogar benotet. (Michalak u. a. 2015: 51 f.) Mehrgliedriges Schulsystem Übergang zur Sekundarstufe: Voraussetzungen in Vorschulzeit und Grundschule Literalität und Literarität Familiensprache Konzeptionelle Distanzkommunikation 190 Sekundarstufe <?page no="200"?> Das Zitat bringt Begriffe ins Spiel, die offenbar bedeutsam sind für die Formen der Sprachverwendung im schulischen Rahmen. Verschiedene, funktional divergente Sprech- und Schreibweisen, sogenannte „Register“, stehen da allem Anschein nach zur Auswahl. Von den Lehrpersonen meist unausgesprochen, gilt es für die Schüler_innen offenkundig „Alltagssprache“ (Michalak u. a. 2015: 50) zu vermeiden und „Bildungssprache“ zu gebrauchen. Dass Letztere dem kommunikativen Distanz-Konzept verpflichtet ist, wurde in der Hinführung zum Zitat bereits deutlich. Damit ist über das Register Bildungssprache aber noch nicht alles gesagt. Es bleibt hinzuzufügen, dass dieses Sprachregister gezogen werden sollte, sobald in Bildungszusammenhängen nicht alltägliche Wissensbestände zu übermitteln oder erarbeiten sind. Bildungssprache ist indessen nicht etwa mit - beispielsweise literaturwissenschaftlicher, historiologischer oder biologischer - Fachsprache gleichzusetzen, sondern sie schlägt Brücken zwischen verschiedenen Fächern auch in der Schule, gewährleistet einen bildungsnahen Diskurs jenseits jeder Fachspezifik und bietet sich als Bindeglied zwischen Fachsprache und Alltagssprache an. Dafür knüpft sie durchaus an alltagssprachliche Mittel an, löst sich sodann aber von deren kommunikativem Nähe-Konzept. Zugleich nimmt die Bildungssprache bei Bedarf auch fachliche Aspekte auf (vgl. Michalak u. a. 2015: 50 ff.). Zur Unterscheidung zwischen der distanzkonzeptionellen Bildungsbeziehungsweise Fachsprache auf der einen Seite und der vom Konzept der Nähe bestimmten Alltagssprache auf der anderen Seite ist in deutschdidaktischen Zusammenhängen noch eine weitere Terminologie geläufig, die hier ebenfalls kurz eingeführt sei: „BICS“ - „basic interpersonal communicative skills“ - nennt Jim Cummins die grundlegenden Fähigkeiten zur Alltagskommunikation; als „CALP“ - „cognitive/ academic language proficiency“ - bezeichnet er die Beherrschung bildungs- und fachsprachlicher Mittel (Cummins 1984a: 11). Cummins hat dieses gegensätzliche Begriffspaar insbesondere im Hinblick auf den Förderbedarf zweisprachiger Schüler_innen entwickelt, die CALP in der L2 lange nach BICS erwerben (vgl. Cummins 1984a: 11 f.). Ihm erscheint die dichotome Terminologie aber einer Ergänzung, wenn nicht Ersetzung, bedürftig - durch die Aspekte eines höheren oder geringeren kognitiven Anspruchs an kommunikative Äußerungen und ihrer mehr oder weniger starken Situationseinbindung (vgl. Cummins 1984a: 12). BICS wäre somit dem Bereich stärker situationsabhängiger und kognitiv weniger anspruchsvoller Kommunikation zuzuordnen. CALP hingegen wird benötigt für situationsunabhängige und kognitiv beanspruchende Kommunikation (vgl. Cummins 1984b: 74). Hier gelangt Cummins letztlich zur Unterscheidung zwischen den Konzepten der Nähe und Distanz, wie sie im vorliegenden Lehrbuch der Einschätzung kom- Sprachliche Register Register Bildungssprache Register Fachsprache Register Alltagssprache Unterscheidung zwischen konzeptioneller Distanz- und Nähekommunikation Zweitspracherwerb 191 Themenblock 4 Voranschreitende Distanzkommunikation <?page no="201"?> munikativer Anforderungen zugrunde liegen. Da seine von ihm selbst in der akademischen Debatte relativierte BICS-CALP-Kontrastierung indessen der Fachsprachendidaktik als bedeutsam gilt, sei sie in eine Übersicht (Abb. 4.1) über schulische Sprachregister und deren Beziehungen zueinander mit aufgenommen: Abb. 4.1 Sprachregister in der Schule Zur Erläuterung von Abb. 4.1: Die Bildungssprache knüpft an die Alltagssprache an (symbolisiert durch den geraden vertikalen Pfeil). Zudem stellt die Bildungssprache Verbindungen zwischen verschiedenen Fachsprachen her (symbolisiert durch den gebogenen Pfeil und die Unterbögen). Darüber hinaus verbindet sich die Bildungssprache selbst mit den Fachsprachen (symbolisiert durch den großen oberen Bogen). Zugleich besteht die Bildungssprache parallel zu den verschiedenen Fachsprachen (symbolisiert durch den geraden waagerechten Pfeil). Die mittels des Schaubildes (Abb. 4.1) noch einmal in ihren wechselseitigen Relationen sowie unter Zuordnung der Befähigungsmuster BICS und CALP illustrierten Register der Alltagssprache, der Bildungssprache und der Fachsprache lassen sich auch im didaktischen Würfel verorten (Abb. 4.2 und Abb. 4.3). Das alltagssprachliche Register, das manchen Schüler_innen noch auf der Sekundarstufe I als einziges zugänglich ist, beeinflusst neben der fonischen auch die grafische Produktion und engt zudem die Spannweite der rezipierbaren fonischen wie grafischen Kommunikate ein (vgl. Abb. 4.2). Mit anderen Worten: Wer ausschließlich über die Alltagssprache verfügt, redet und schreibt nicht nur entsprechend, sondern kann darüber hinaus anderen als konzeptionell nähesprachlichen Gesprächsbeiträgen und Schrifttexten kaum folgen. L2-Lernende sind von diesen Einschränkungen in der Regel während eines längeren Abschnitts ihrer Schullaufbahn betroffen als L1- Lernende. Es bedarf sprachbewusster und gezielter Förderung im Deutsch- und sonstigen Fachunterricht, damit solch eine Benachteiligung von Kin- Grenzen der Alltagssprache 192 Sekundarstufe <?page no="202"?> dern und Jugendlichen mit nicht-deutscher Erstsprache und/ oder aus bildungsfernen Herkunftsmilieus besser als bislang ausgeglichen werden kann. Dafür ist der Aufbau bildungs- und fachsprachlicher Fähigkeiten sowohl der Produktion als auch der Rezeption medial fonischer und grafischer Kommunikate (vgl. Abb. 4.3) schrittweise und sprachsensibel zu unterstützen. Die dem Distanzkonzept zugehörige Hälfte des didaktischen Würfels mit ihren vier Kompetenzelementen (Abb. 4.3) veranschaulicht die Zielstellung, auf die sich ein sprachsensibler Fachunterricht zwecks Ergänzung der meist bereits gegebenen alltagssprachlichen Befähigung auszurichten hat. Verschiedene didaktische Ansätze stehen hierfür zur Verfügung, von denen einer im nächsten Abschnitt dieses Kapitels ausführlicher, einige andere aber sofort in aller Kürze vorgestellt seien: ▶ DFU (= Deutschsprachiger Fach-Unterricht) ist Fachunterricht in deutscher Sprache für Deutsch als Fremdsprache Lernende an deutschen Auslandsschulen. DFU vermittelt fachliche Inhalte sowie fachsprachliche Begriffe und Strukturen auf Deutsch (vgl. Leisen 2015 ff.). Das Konzept ist insofern nicht einschlägig für den Unterricht innerhalb Deutschlands, der Schüler_innen mit Deutsch als Zweitsprache gerecht werden soll. DFU Abb. 4.2 Alltagssprache (BICS): Medial fonische und grafische konzeptionelle Nähekommunikation in der Rolle der Produktion und Rezeption (blau = Alltagssprache BICS) Förderung von Bildungs- und Fachsprache Sprachsensibler Fachunterricht 193 Themenblock 4 Voranschreitende Distanzkommunikation <?page no="203"?> lässt sich aber verbinden mit einem sprachsensiblen Fachunterricht, der L2-Lernende und sprachlich schwache L1-Lernende gleichermaßen fördert (vgl. Leisen 2013 a; 2013 b). ▶ Das 3-Phasen-Modell gliedert sich in ▷ Aktivierung von Vorwissen, ▷ rezeptive und produktive Arbeit an distanzkonzeptionellen Texten, ▷ transformierende Arbeit an distanzkonzeptionellen Texten (vgl. Schmölzer-Eibinger 2011; 2015). Die Anwendung des Modells ist nicht notwendig auf L2-Lernende begrenzt. ▶ SPRAAK (= Sprachregister angemessen anwenden können) konzentriert sich auf die Förderung der Situationseinschätzung und passenden Registerwahl sowie -aneignung (vgl. Michalak 2010; 2012). Der Ansatz ist geeignet für sprachlich schwache L2- und L1-Lernende. Scaffolding Ein weiteres Verfahren, das zur Heranführung an Bildungs- und Fachsprache beitragen kann, das sogenannte Scaffolding, soll hier in seinen aufschlussreichen Grundgedanken etwas mehr Aufmerksamkeit erfahren. Es geht zurück auf Pauline Gibbons’ Forschung zum Erwerb der Zweitsprache Englisch und deren fachsprachlicher Strukturen (vgl. Gibbons 2002; 2015; Abb. 4.3 Bildungs- und Fachsprache (CALP): Medial fonische und grafische konzeptionelle Distanzkommunikation in der Rolle der Produktion und Rezeption (blau = Bildungs- und Fachsprache (CALP) Scaffolding als Verfahren im sprachsensiblen Fachunterricht Bildungs- und Fachspracherwerb in der Zweitsprache 194 Sekundarstufe <?page no="204"?> 2006). Wie die bildungssprachliche Entwicklung spätestens in den ersten Schuljahren einsetzen sollte, so ist auch Scaffolding schon in der Grundschule am Platze (vgl. Quehl/ Trapp 2013), und es behält seine Berechtigung bis in die Sekundarstufe hinein. In einer australischen Primary School - anders als in Deutschland eine Kindergartenklasse und sechs weitere Schuljahre umfassend - hat Gibbons eine empirische Studie mit L2-Lernenden zur didaktisch-methodisch fundierten Erleichterung des Übergangs von der Alltagszur Bildungs- und Fachsprache durchgeführt. Dabei setzt sie - wortgleich mit Jerome Bruner in seiner analogen Darstellung des kindlichen Erstspracherwerbs - eben auf ein „‚Gerüst‘“ (Gibbons 2006: 282; vgl. Bruner 1977: 829, 838), englisch ‚scaffolding‘ oder „‚scaffold‘“ (Gibbons 1998: 110). Wie ein Elternteil seinem Kleinkind, so errichtet die Lehrperson den Schüler_innen ein Gerüst in medial fonischer Form, auf das diese sich - während ihrer allmählichen Verselbständigung immer weniger - stützen. Die so erworbenen fachsprachlichen Muster fließen nachweislich auch in die medial grafische Produktion der Lernenden ein (vgl. Gibbons 2006: 287). Wie genau ein solcher verbaler ‚Gerüstbau‘, ein Scaffolding, in einem tendenziell symmetrisch gestalteten Interaktionsrahmen ähnlich dem Eltern-Kind-Dialog beim Erstspracherwerb (vgl. Gibbons 2006: 273 ff., 277, 282-287) vonstattengehen kann, dokumentiert Gibbons mithilfe von Gesprächstranskripten. Diese entstammen Phase 2 eines Unterrichts für L2- Lernende, der in Phase 1 die gruppenweise Durchführung von jeweils besonders gestalteten Experimenten mit dem Phänomen der magnetischen Abstoßung ermöglicht hat (vgl. Gibbons 2006: 276 f.). Die Arbeitsgruppen, die sich hierbei intern über ihr spezielles Experiment mündlich ausgetauscht haben, um sich auf dessen Beschreibung und Erklärung vor der gesamten Klasse und der Lehrperson vorzubereiten, sind nun vor ebendiese Aufgabe gestellt: Von der Lehrerin geleitetes Gespräch zu Beginn Lehrerin: (Macht klar, dass die Phase des Berichtens beginnt.) Was sind einige der Wörter, die wir benutzen werden? (Die Kinder rufen und geben als Wörter an: ‚Magnet‘, ‚anziehen‘, ‚Metall‘, ‚Nordpol‘, ‚Südpol‘.) Lehrerin: Ich gebe euch nun ein anderes Wort für das, was Joseph versucht hat, zu sagen … ein mehr wissenschaftliches Wort und das ist, wenn etwas nicht anzieht … ein paar von euch haben gesagt, es drückt weg .. oder rutscht weg … so statt zu sagen, der Magnet drückt weg . ich nenne euch ein neues Wort … abstoßen (gesprochen mit Betonung) … es bedeutet eigentlich, von einem wegdrücken Scaffolding: Zweitspracherwerb analog zum Erstspracherwerb Scaffolding in Anwendung: Gesprächstranskripte Textbeispiel (Aus: Gibbons 2006: 278 f.) 195 Themenblock 4 Voranschreitende Distanzkommunikation <?page no="205"?> (demonstriert es mit ihrem Arm) wir benutzen also Wörter wie … (Die Kinder geben wieder Wörter zum Thema an und nennen dabei auch ‚abstoßen‘.) Lehrerin in der Interaktion mit einer Schülerin […] Lehrerin: Versuch ihnen zu sagen, was du gelernt hast … okay. (zu Hannah) ja? Hannah: ähm äh, ich hab gelernt, dass ähm wenn man einen Magneten … (Lachen von Hannah und anderen Kindern, als das Mädchen eine Erklärung versucht, ohne die Hände zu benutzen) wenn ich lege, wenn man legt … wenn man einen Magneten … oben auf einen Magneten legt … und der Nordpol Pole sind ……. (Pause von 7 Sekunden, Hannah hat deutlich Probleme auszudrücken, was sie sagen möchte) Lehrerin: ja, ja, du machst das gut … man legt einen Magneten oben auf einen anderen … Hannah: und und die Nordpole sind zusammen äh ähm der Magnet … stößt den Magneten äh … der Magnet und der andere Magnet … so als ob er in der Luft schwimmt? Lehrerin: ich finde, das ist sehr gut gesagt … sehr gut … willst du etwas hinzufügen, Charlene? (Die Lehrerin fordert zu anderen Beiträgen auf und kehrt dann zu Hannah zurück. Sie bittet Hannah, zuerst das Experiment den anderen Kindern zu zeigen, und fordert sie anschließend auf, es noch einmal zu erklären.) […] Lehrerin: Hört jetzt zu .. nun, Hannah, erkläre es noch einmal … in Ordnung, Hannah … aufgepasst jetzt (sie stellt die Aufmerksamkeit der Klasse wieder her) … hört noch einmal auf ihre Erklärung Hannah: die zwei Nordpole lehnen zusammen und der Magnet unten stößt den Magneten oben ab, sodass der Magnet oben so … in der Luft schwimmt Lehrerin: sodass sich diese zwei Magnete gegenseitig abstoßen und … guck dir die Kraft dabei an“ (. = Pause von maximal einer Sekunde; .. = ca. 2 Sekunden Pause usw.; Hervorh. i. Orig.; markierte Vervollständigungen der Syntax gegenüber der tatsächlichen mündlichen Ausdrucksweise wurden entfernt; es bleibt jedoch darauf hinzuweisen, dass die Schülerin die Syntax der Zweitsprache beherrscht) Einleitend aktiviert die Lehrerin den im Unterricht über Magnetismus schon vermittelten fachsprachlichen Wortschatz und erweitert diesen dann durch Gesprächsverlauf 196 Sekundarstufe <?page no="206"?> das Verb ‚abstoßen‘. Erst das anschließende Scaffolding jedoch ermöglicht den Lernenden nach und nach den aktiven Gebrauch der neuen Fachvokabel. Die zunächst in Alltagssprache verarbeitete experimentelle Erfahrung magnetischer Abstoßung erleichtert diesen fachsprachlichen Fortschritt zusätzlich noch erheblich: Daraus folgt, dass es einer Lehrerin in diesem Kontext möglich ist, Strukturen und Wörter zu verwenden, die jenseits dessen liegen, was die Schüler/ innen verstanden hätten, wenn sie nicht zuerst die Erfahrungen in den Kleingruppen gemacht und diese nicht als Grundlage für die sprachliche Interaktion und Interpretation zur Verfügung gehabt hätten. (Gibbons 2006: 282) Dass im exemplarischen Gespräch mit der Schülerin Hannah jeglicher gestikulierende Einsatz der Hände per Vereinbarung unterbunden ist, verdeutlicht das an die konkrete Erfahrung anknüpfende Lehr-/ Lernziel einer gleichwohl situationsentbundenen Distanzsprache, die sämtliche verstehensnotwendigen Kontextinformationen verbal expliziert. Wesentlich zur Bewältigung dieser hohen Anforderung ist, dass Hannah, als Berichtende gewürdigt, Raum für ihre Artikulationsversuche erhält, diese - nach Interaktionspause und Experimentwiederholung - fortsetzen und dann auch vollenden darf. Die Lehrerin geht in Augenhöhe kooperativ auf Hannahs Darstellung ein, um diese abschließend fachlich und sprachlich noch weiter zu präzisieren. Erkennbar wird die wiederkehrende Grundstruktur des Scaffolding, wie sie auch aus folgendem Zitat hervorgeht: Initiierung: die Lehrerin bittet die Schülerin, die Initiative zu übernehmen; Antwort: die Schülerin führt die Bedeutungen ein; Feedback: die Lehrerin formt die Bedeutungen der Schülerin noch einmal in neue Formulierungen eines angemessenen Registers um. (Gibbons 2006: 283) Gibbons’ Forschungsansatz gründet nicht zuletzt auf den Erkenntnissen des Psychologen Lev Semënovič Vygotskij, der sich bereits 1934 in seinem Werk „Denken und Sprechen“ mit der Frage auseinandersetzt, wie das Schulkind, das ja zunächst vor allem über „Alltagsbegriffe“ verfügt, „wissenschaftliche Begriffe“ erwirbt (Vygotskij [1934] 2002: 251; vgl. Gibbons 2006: 284). Als hierfür förderlich betont Vygotskij die „Zusammenarbeit“ (Vygotskij 2002: 327) zwischen einer erwachsenen Person und dem Kind. Werde dieses bei der Aneignung von Fachbegriffen begleitet, so zeige es Fortschritte, die ihm, auf sich allein gestellt, versagt geblieben wären. Unter der Bedingung der Zusammenarbeit - bei der aktualisierend auch an das von Gibbons geschilderte Scaffolding gedacht werden darf - erschließe sich das Kind seine zuvor bloß latenten, unausgereiften Potenziale. Über diese hinaus allerdings gelangt es auch bei der besten Unterstützung nicht; denn nur innerhalb Konkrete Vorerfahrung Sprachliche Ablösung von der Situation der Vorerfahrung Grundstruktur des Scaffolding Eine psychologische Grundlage des Scaffolding Zone der nächsten Entwicklung 197 Themenblock 4 Voranschreitende Distanzkommunikation <?page no="207"?> „seiner Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotskij 2002: 329) kann es fachliche und fachsprachliche Lernzuwächse erzielen (vgl. Vygotskij 2002: 326 ff.). Laut Gibbons führt das Scaffolding in diese Zone der nächsten Entwicklung hinein (vgl. Gibbons 2006: 284), auch im Bereich der distanzkonzeptionell-grafischen Produktion, die den Schüler_innen abschließend während Phase 3 des hier geschilderten Unterrichts abverlangt wird. Bildungs- und fachsprachliches Schreiben also erfährt eine Förderung durch medial fonische Kommunikation in den Rollen der Produktion und Rezeption, sofern dabei im Scaffolding-Verfahren distanzkonzeptionelle Begriffe und Strukturen erarbeitet werden. Die symmetrische Beteiligung der Schülerin Hannah an einem solchen ihre Bildungs- und Fachsprache stärkenden Gespräch mit der Lehrerin erbringt den folgenden bis auf die Rechtschreibung von „Styropor“, auf Englisch „polystyrene“, eigenständig erstellten Eintrag ins Lerntagebuch (vgl. Gibbons 2006: 287). Zum Beleg der erreichten Textualität und Fachsprachlichkeit ist ihm die ursprüngliche englische Version angefügt: Ich fand es sehr interessant, dass, wenn man wenigsten [sic! ] acht Eisstiele in ein Stück Styropor steckte und dann einen Magneten mit dem Nord- und Südpol in das Oval legte und einen anderen Magneten mit dem Nord- und Südpol darauf, der Magnet unten den Magneten oben abstößt und der Magnet oben so aussieht, als ob er in der Luft schwimmt. (Gibbons 2006: 280) I found it very interesting that when you stuck at least 8 paddle pop sticks in a piece of polystyrene, and then put a magnet with the North and South pole in the oval and put another magnet with the North and South pole on top, the magnet on the bottom will repel the magnet on the top and the magnet on the top would look like it is floating in the air. (Gibbons 1998: 108) Aber auch die bloße Rezeption des Scaffolding zwischen Hannah und der Lehrerin durch eine Mitschülerin unterstützt deren fachsprachlichen Schreibprozess und erweist sich als prägend für die gewählten Formulierungen (vgl. Gibbons 2006: 287), die im Anschluss an die deutsche Fassung auch wieder durch die englische Vorlage dokumentiert seien: Das Ding, das aus Styropor gemacht ist mit Eisstielen, eine Gruppe legte einen Magneten, der nach Norden zeigte, und einen anderen Magneten darauf, der auch nach Norden zeigte, und sie stießen sich gegenseitig ab. Es sah aus, als ob der obere Magnet oben in der Luft schwamm. (Gibbons 2006: 280) The thing made out of polystyrene with paddle pop sticks, one group put one magnet facing north and another magnet on top facing north as well and they Bildungs- und fachsprachliches Schreiben Lernerfolg auch durch Zuhören beim Scaffolding 198 Sekundarstufe <?page no="208"?> repelled each other. It looked like the top magnet was floating up in the air. (Gibbons 1998: 108) Die hier bislang vorgestellte Form des Scaffolding heißt genauer „Mikro- Scaffolding“, weil sie in die Mikrostruktur des Unterrichts, also in die Interaktion zwischen Lehrpersonen und Lernenden, einzubinden ist. Voraussetzung für die konkrete Unterrichtskommunikation ist das „Makro- Scaffolding“, das sich aus folgenden drei Bestandteilen zusammensetzt (Kniffka/ Roelcke 2016: 115; vgl. Kniffka 2015: 229-234): ▶ Material-/ Bedarfsanalyse bezüglich des sprachlichen Anspruchs der einzusetzenden Fachtexte ▶ Lernstandsanalyse ▶ Unterrichtsplanung Makro- und Mikro-Scaffolding versprechen vereint eine erhöhte Qualität und Lernförderlichkeit des Fachunterrichs für L2-Lernende. Das Verfahren ist aber auch aufwendig und voraussetzungsreich, insofern es eingehender Unterrichtsvorbereitung, verlangsamter Progression im Stoff und einer besonderen sprachdidaktischen sowie linguistischen Qualifikation der Lehrpersonen bedarf. Gabriele Kniffka, eine führende Vertreterin des Scaffolding-Ansatzes im deutschsprachigen Raum und daher keiner überzogenen Skepsis verdächtig, weist auf entsprechende Probleme und Herausforderungen hin. Aus ihrer Sicht „zeitigt ein Fachunterricht, der Scaffolding integriert, Konsequenzen“: Zunächst erfordert er deutlich mehr Zeit als ein traditioneller Unterricht, da er in kleineren Schritten voranschreitet und zeitintensivere Arbeitsformen einsetzt als ein traditioneller Fachunterricht. Fachlehrer können dadurch in einen Interessenskonflikt geraten: Sollen Unterrichtsinhalte, die auf dem Lehrplan stehen, zugunsten von Spracharbeit gekürzt werden oder entfallen? […] Ein anderer zu berücksichtigender Aspekt sind die Wissensbestände, über die ein Fachlehrer verfügen muss, um einen Scaffolding-Unterricht konzipieren und durchführen zu können. Erforderlich sind, neben dem fachspezifischen Wissen, Kenntnisse in der Sprachwissenschaft, vor allem mit Bezug auf Fachsprache und Deutsch als Zweitsprache. […] Auch muss ein Fachlehrer wissen, wie der fachsprachliche Bedarf ermittelt wird, welche (fach)sprachlichen Besonderheiten für eine konkrete Unterrichtseinheit besonders relevant sind. Dazu kommen Diagnosefähigkeiten, die es ihm erlauben, den Sprachstand seiner Schülerinnen und Schüler einzuschätzen (Kniffka 2015: 234 f.). Mikro-Scaffolding Makro-Scaffolding Verbindung von Makro- und Mikro- Scaffolding: eine Herausforderung 199 Themenblock 4 Voranschreitende Distanzkommunikation <?page no="209"?> Kniffka plädiert für die Einführung des Scaffolding-Konzepts in allen Fächern einer Schule, damit einzelne Lehrkräfte nicht mit der anspruchsvollen Aufgabe alleingelassen sind und der angestrebte Lernerfolg sprachlich schwacher L1- und L2-Lernender nicht gefährdet wird (vgl. Kniffka 2015: 235). Dabei eröffnet sich wieder eine Alternative, wie sie sich ganz ähnlich bereits am Ende von Kapitel 8 über den Schriftspracherwerb aufgetan hat: Sollten die förderbedürftigen Schüler_innen unter der Voraussetzung einer angemessenen Binnendifferenzierung in den Regelunterricht einbezogen werden, oder sollten sie durch zusätzlichen, separaten Unterricht nach dem Scaffolding-Prinzip erst die Befähigung zur Teilnahme am Regelunterricht erlangen? Wie auch immer diese Frage entschieden wird, das Ziel, allen L1wie L2-Lernenden Zugang zu Bildungs- und Fachsprache zu verschaffen, ist im Blick zu behalten und im Rahmen des integrativen Modells der Lese- und literarischen Sozialisation auch und gerade auf dem höchsten Plateau der Adoleszenz weiterzuverfolgen. Übungen 1. Erläutern Sie die Begriffe ‚Bildungssprache‘, ‚Fachsprache ‘ und ‚Alltagssprache‘. Setzen Sie sie in Beziehung zu ‚BICS‘ (‚basic interpersonal communicative skills‘) und ‚CALP‘ (‚cognitive/ academic language proficiency‘). 2. Wie unterscheiden sich L1- und L2-Lernende in der Regel beim Erwerb von BICS und CALP? 3. Ordnen Sie BICS und CALP jeweils konzeptioneller Distanz- oder Nähekommunikation zu. 4. Welches Ziel verfolgt sprachsensibler Fachunterricht? 5. Nennen Sie Ansätze eines sprachsensiblen Fachunterrichts. 6. Wie unterstützt Scaffolding den Zweitspracherwerb im Fachunterricht? Beziehen Sie die hierfür grundlegende Gesprächsstruktur zwischen Lehrperson und Schüler_in in Ihre Darstellung ein. 7. Unterscheiden Sie Mikro- und Makro-Scaffolding voneinander. 8. Erklären Sie sich, ausgehend von Ihrem Wissen über sprachsensiblen Fachunterricht und Scaffolding, das nachstehende Schaubild einschließlich der dort eingetragenen Stichworte. Fächerübergreifender Einsatz von Scaffolding Bildungs- und fachsprachliche Förderung: innerhalb oder außerhalb des Regelunterrichts? �� 200 Sekundarstufe <?page no="210"?> Verwendete und weiterführende Literatur Bruner, Jerome S. (1977): Wie das Kind lernt, sich sprachlich zu verständigen. In: Zeitschrift für Pädagogik 23. S. 829-845. Cummins, Jim (1984 a): Wanted: A theoretical framework for relating language proficiency to academic achievement among bilingual students. In: Charlene Rivera (Hg.): Language proficiency and academic achievement. Clevedon: Multilingual Matters Ltd. S. 2-19. Cummins, Jim (1984 b): Language proficiency and academic achievement revisited: A response. In: Charlene Rivera (Hg.): Language proficiency and academic achievement. Clevedon: Multilingual Matters Ltd. S. 71-76. Gibbons, Pauline (1998): Classroom talk and the learning of new registers in a second language. In: Language and Education 12 H. 2. S. 99-118. Gibbons, Pauline (2002): Scaffolding language, scaffolding learning. Teaching second language learners in the mainstream classroom. Portsmouth, NH: Heinemann. Gibbons, Pauline (2006): Unterrichtsgespräche und das Erlernen neuer Register in der Zweitsprache. In: Paul Mecheril, Thomas Quehl (Hg.): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster: Waxmann. S. 269-290. Gibbons, Pauline (2015): Scaffolding language, scaffolding learning. Teaching English language learners in the mainstream classroom. 2. Aufl. Portsmouth, NH: Heinemann. Textbeispiel (Aus: Leisen 2010: 76) 201 Themenblock 4 Voranschreitende Distanzkommunikation <?page no="211"?> Kniffka, Gabriele (2015): Scaffolding - Möglichkeiten, im Fachunterricht sprachliche Kompetenzen zu vermitteln. In: Magdalena Michalak, Michaela Kuchenreuther (Hg.): Grundlagen der Sprachdidaktik Deutsch als Zweitsprache. 3. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. S. 221-237. Kniffka, Gabriele, Thorsten Roelcke (2016): Fachsprachenvermittlung im Unterricht. Paderborn: Schöningh. Leisen, Josef (2010): Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Grundlagenwissen, Anregungen und Beispiele für die Unterstützung von sprachschwachen Lernern und Lernern mit Zuwanderungsgeschichte beim Sprechen, Lesen, Schreiben und Üben im Fach. Bonn: Varus. Leisen, Josef (2013 a) (Hg.): Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Grundlagenwissen, Anregungen und Beispiele für die Unterstützung von sprachschwachen Lernern und Lernern mit Zuwanderungsgeschichte beim Sprechen, Lesen, Schreiben und Üben im Fach. Grundlagenteil. Stuttgart: Klett Sprachen. Leisen, Josef (2013 b) (Hg.): Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Grundlagenwissen, Anregungen und Beispiele für die Unterstützung von sprachschwachen Lernern und Lernern mit Zuwanderungsgeschichte beim Sprechen, Lesen, Schreiben und Üben im Fach. Praxismaterialien. Stuttgart: Klett Sprachen. Leisen, Josef (2015 ff.) (Hg.): Methoden- Handbuch deutschsprachiger Fachunterricht (DFU). Goch: Pagina. [seit 1999 stetig aktualisierte Loseblattsammlung] Michalak, Magdalena (2010): Der Registerbegriff und seine Relevanz für die Sprachförderung von DaZ-Lernenden. In: Hans-Jürgen Krumm, Paul R. Portmann-Tselikas (Hg.): Schwerpunkt: Lesen. Prozesse, Kompetenzen, Förderung. Innsbruck: Studien-Verlag. S. 41-53. Michalak, Magdalena (2012): Der Gebrauch von Sprachregistern und ihre Vermittlung als Grundlage für die DaZ- Förderung. In: Udo Ohm, Christiane Bongartz (Hg.): Soziokulturelle und psycholinguistische Untersuchungen zum Zweitspracherwerb. Ansätze zur Verbindung zweier Forschungsparadigmen. Frankfurt/ M.: Lang. S. 67-88. Michalak, Magdalena, Valerie Lemke, Marius Goeke (2015): Sprache im Fachunterricht. Eine Einführung in Deutsch als Zweitsprache und sprachbewussten Unterricht. Tübingen: Narr. Quehl, Thomas, Ulrike Trapp (2013): Sprachbildung im Sachunterricht der Grundschule. Mit dem Scaffolding-Konzept unterwegs zur Bildungssprache. Münster: Waxmann. Vygotskij, Lev Semënovič (2002): Denken und Sprechen. Psychologische Untersuchungen. [Erstersch. 1934] Weinheim: Beltz. Schmölzer-Eibinger, Sabine (2011): Lernen in der Zweitsprache. Grundlagen und Verfahren der Förderung von Textkompetenz in mehrsprachigen Klassen. 2. Aufl. Tübingen: Narr. Schmölzer-Eibinger, Sabine (2015): Interaktion und kooperatives Schreiben in mehrsprachigen Klassen. In: Magdalena Michalak, Michaela Kuchenreuther (Hg.): Grundlagen der Sprachdidaktik Deutsch als Zweitsprache. 3. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. S. 176-195. 202 Sekundarstufe <?page no="212"?> 13 Ein integratives Modell der Lese- und literarischen Sozialisation - Adoleszenz Auf dem letzten in der literalen und literarischen Entwicklung zu erreichenden Plateau kommt es zur Konsolidierung schon vorhandener - auch bildungs- und fachsprachlicher - Kompetenzen und zu deren Ausdifferenzierung im privaten, schulischen oder beruflichen Rahmen. Denn die Adoleszenz zeitigt von ihrem Beginn in der Pubertät an wichtige kognitive und psychische Entwicklungsschritte. Das abstrakte Denken und darüber hinaus die soziale Perspektivenübernahme, die mit einem Wandel identifikatorischer Muster beispielsweise nach Schön einhergeht (Kap. 9), fallen nun zunehmend leichter. Als Ausdruck dieser intellektuellen und emotionalen Reifung bringt die Adoleszenz eine Hinwendung zu den (außerfamilialen) anderen, die meist freilich innerhalb der eigenen Altersgruppe gesucht werden, und zu bislang fremden historischen und kulturellen Interessenssphären mit sich: Erst in dieser Entwicklungsphase scheint eine reflektierte Erfahrung von Fremdheit möglich zu sein, von der die eigene Identitätsarbeit und Weltorientierung des Subjekts profitiert (Garbe u.a 2006: 141). Dass eine Auseinandersetzung mit dem Fremden sogar schon vor der Adoleszenz anzutreffen sei, betont Volker Frederking anlässlich seiner Erläuterung eines identitätsorientierten Literaturunterrichts: Schließlich gibt es Beispiele, dass dies im Ansatz sehr wohl bereits im Literaturunterricht der Primar- und frühen Sekundarstufe I möglich ist, wie ein realisiertes und dokumentiertes Unterrichtsmodell zu einem identitätsorientierten Umgang mit ‚Ben liebt Anna‘ für die 4. bzw. 5. Klasse zeigt (Frederking 2010: 438). Mit dem Übergang zur Adoleszenz jedenfalls scheint allmählich das Fremde und Andere gegenüber dem Eigenen, dem Ich an Bedeutung zu gewinnen. Nach dem womöglich krisenhaften Ende der ich-bezogenen Kindheitslektüre (Kap. 6) verändert sich im Falle einer Transformation des kindlichen Lesemodus (Kap. 6) und einer daher fortgesetzten Lektüre fiktionaler Literatur die Form der Identifikation beim Lesen. Laut Schön nehmen in der frühen, pubertären Adoleszenz die jungen Lesenden nicht mehr wie in der Kindheit per Substitution als ihr eigenes Ich an der erzählten Welt teil (Kap. 9), sondern sie versetzen sich nun in der Identifikationsform der Projektion stärker hinein in die fiktiven anderen. Allerdings nehmen sie dabei ihre eigenen Wünsche nach Grandiosität und Handlungsmächtigkeit mit und erfüllen sich diese in identifikatorischer Verschmelzung mit einer heroischen Figur: Plateau der Konsolidierung und Ausdifferenzierung Intellektuelle und emotionale Reifung Hinwendung zu den anderen und zum Fremden Wandel der Identifikation beim Lesen Identifikationsform Projektion nach Schön 203 Themenblock 4 Lese- und literarische Sozialisation - Adoleszenz <?page no="213"?> Projektion kann als typisches Rezeptionsmuster der Pubertät und Nachpubertät gelten als der Zeit, in der vielleicht die Diskrepanz zwischen Handlungsbedürfnissen und realen Handlungsmöglichkeiten am größten ist. (Schön 1990: 258) Davon, dass die Heranwachsenden sich auf Fremdes einließen, kann hierbei noch nicht eigentlich die Rede sein. Doch nicht nur weil sich die von Schön angesprochene Diskrepanz zwischen Handlungswunsch und tatsächlichem Handlungsspielraum in der späten Adoleszenz aufgrund des altersbedingten Autonomiegewinns verringert, sondern auch weil bei älteren Jugendlichen die kognitiv-emotionale Entwicklung noch weiter vorangeschritten und im Zuge dessen die „Fähigkeit zur Empathie“ gewachsen ist, wird die Projektion schließlich durch die für Fremdes, für „Alterität“, offenere Identifikationsform der Empathie abgelöst (Garbe u.a 2006: 143 [Hervorh. i. Orig.]; vgl. Schön 1990: 258). Die fiktiven anderen werden nun nicht mehr bloß als „Hohlform“, als „ ‚leere Hülsen‘ “ (Schön 1990: 258, 264) für die Bedürfnisse des Ich benutzt, sondern das Fremde als solches wird - immer nur versuchsweise - nachempfunden und erfahren: Während Projektion die Empfindung dessen zur Folge hat, was wir selbst in der Position eines anderen fühlen würden, besteht Empathie in der Empfindung jener Emotion, die die andere Person fühlt. So ist abgekürzt von Empathie auch als ‚Affekt-Übernahme‘ zu sprechen, doch ist die Aktivität selbst kein rein affektives Handeln. Denn an ihrem Beginn steht […] eine Interpretation […]. Damit ist bereits gesagt, daß Empathie nicht die Übernahme des objektiven Zustandes eines anderen ist; sondern […] eine Konstruktionsaktivität […]. In dieser Aktivität ist, anders als bei der Projektion, Fremderfahrung möglich; Empathie ist für die Erfahrung fremder innerer Zustände Voraussetzung (Schön 1990: 261 f.). Bedingung einer in dieser Weise empathischen Literaturrezeption ist eine spätadoleszente sekundäre literarische Initiation, die ermöglicht, dass die Jugendlichen Literatur-Lesende bleiben, und somit verhindert, dass sie zu Nicht- oder Wenig-Lesenden beziehungsweise zu reinen Sach- und Fachbuch- Lesenden werden (Kap. 6). Die für den Identifikationstyp Empathie geeigneten Literatur-Lesemodi ab der Spät-Adoleszenz sind das Partizipatorische Lesen, das unter anderem Bezüge zwischen Fiktion und eigener Lebenswirklichkeit herstellt, und das Ästhetische Lesen mit seiner Sensibilität für literarästhetische Feinheiten etwa einer komplexen Charakterzeichnung. Letzterer bedarf es, damit sich den Lesenden überhaupt eine Gelegenheit für Empathie bietet: Empathie als Rezeptionsmuster setzt auf Seiten des Textes voraus, daß die Empathie-Figuren entsprechend als Charaktere ausgearbeitet, keine bloßen Identifikationsform Empathie nach Schön Lesemodi der Identifikationsform Empathie 204 Sekundarstufe <?page no="214"?> Funktions- oder Rollenträger sind. Das heißt […], daß psychologisch etc. nicht ausgearbeitete Figuren, wie sie etwa in der Trivialliteratur […] vorkommen, nur Substitution und Projektion zulassen und nicht für Empathie geeignet sind. (Schön 1990: 264) Die nach dem Ende der Lesekindheit oft einsetzende pubertäre Triviallektüre (vgl. Garbe u. a. 2006: 144 f.) fördert daher als Form lesebegleitender Identifikation auch textseitig zunächst einmal allenfalls die Projektion, noch nicht aber die Empathie. Erst diese jedoch bewirkt eine lesende Beschäftigung mit dem Fremden, wie sie auf dem Plateau der Adoleszenz dem idealiter zu erreichenden Entwicklungsziel diskursiver Literarität gerecht wird: Als prototypischer Kern der erwartbaren literarischen Kompetenzen in der Adoleszenz lässt sich die Fähigkeit definieren, im Medium literarisch-fiktionaler […] Texte fremde Perspektiven, Schicksale und Welten zu erkunden und diese reflexiv auf das eigene Leben und die eigene Weltdeutung zu beziehen. […] Wir nennen dies die Entfaltung einer diskursiven Literarität. (Garbe u. a. 2006: 143 [Hervorh. i. Orig.]) Einen Einblick in die faktische literarische Sozialisation, für die Garbe u. a. (2006) mit ihrem Optimalmodell didaktische Maßstäbe zu setzen hoffen (Kap. 7), gewähren zwei methodisch analoge qualitative Studien über spätadoleszente Gymnasialabsolvent_innen. Die jüngere der beiden Studien konzentriert sich auf L2-Lernende mit türkischem Migrationshintergrund (Jakubanis 2015), die ältere auf L1-Lernende (Dawidowski 2009). Matthias Jakubanis legt eine Bilanz vor, die keine Hinweise gibt auf diskursive Literarität, auf irgendeine Form der Identifikation, geschweige denn die der Empathie, oder auf subjektiv bedeutsame Lesemodi: In Übereinstimmung mit Dawidowskis Studie kann zunächst festgestellt werden, dass ästhetische, lustbetonte, identifikatorische Formen der Auseinandersetzung mit Literatur in beiden Untersuchungen kaum nachweisbar sind. (Jakubanis 2015: 241) Die demgegenüber wünschenswerte diskursive Literarität intensiviert gemäß Garbe u. a. (2006) nicht nur die Beziehung zu fiktionalen Texten, sondern fördert auch die allgemeine Literalität durch eingehende Rezeption faktualer, „theoretisch-diskursiver Texte“ über die in der späten Adoleszenz wichtig gewordenen Interessensgebiete: „Fiktionale und nicht-fiktionale Texte werden somit als Medium der Identitätsbildung und Weltorientierung erschlossen“ (Garbe u. a. 2006: 143). Nicht zuletzt dank dieser engagierten Lektüre verfestigt und routinisiert sich die funktionale Literalität noch weiter, die schon ab der Pubertät die ganz alltäglichen und die auf der weiterführenden Schule erhobenen Anfor- Diskursive Literarität Ideale und reale literarische Sozialisation Funktionale Literalität 205 Themenblock 4 Lese- und literarische Sozialisation - Adoleszenz <?page no="215"?> derungen an die Lese- und Schreibfähigkeit immer versierter erfüllen hilft. Hierfür werden Lesestrategien und das Monitoring, sprich die metakognitive Selbstkontrolle beim Lesen und Lernen, stärker ausgebaut: Durch diese prinzipielle Bedeutung, die dem Lesen und Schreiben für das schulische Lernen und damit auch für den Schulerfolg zuzumessen ist, kommen neben Lesestrategien im engeren Sinne zunehmend metakognitive Strategien zum Tragen. (Garbe u. a. 2006: 142) Innerhalb des integrativen Modells der Lese- und literarischen Sozialisation nimmt sich das Adoleszenz-Plateau der literalen und literarischen Entwicklung, wie es hier bislang beschrieben wurde, in grafischer, blau unterlegter Darstellung folgendermaßen aus (Abb. 4.4): Abb. 4.4 Plateaus der literalen und literarischen Entwicklung (nach Garbe u. a. 2006: 129) Die für das Plateau der Konsolidierung/ Ausdifferenzierung - bei einer günstig verlaufenden Lese- und literarischen Sozialisation - zu erhoffenden Fähigkeiten und Entwicklungsleistungen in den drei Bereichen Emotion/ Motivation, Kognition und Anschlusskommunikation/ Reflexion sind in einem Kompetenzprofil der Adoleszenz überblicksweise zusammengestellt (Tab. 4.1). 206 Sekundarstufe <?page no="216"?> Emotion/ Motivation Kognition Anschlusskommunikation/ Reflexion Fähigkeit zur Projektion als pubertärer Form der Identifikation bei der Literaturrezeption Hinwendung zu den (außerfamilialen) anderen, meist Gleichaltrigen Hinwendung zum (historisch und kulturell) Fremden Empathiefähigkeit Fähigkeit zu empathischer Fremderfahrung als spätadoleszenter Form der Identifikation bei der Literaturrezeption Fähigkeit zu flexibler Nutzung diverser Lesemodi Entwicklung von abstraktem Denken Ausbau von Lesestrategien und metakognitiver Selbstkontrolle (Monitoring) Verfestigung und Routinisierung funktionaler Literalität Fähigkeit zur Wahl und Kombination fiktionaler und faktualer Genres Konsolidierung und Ausdifferenzierung von Bildungs- und Fachsprache Soziale Perspektivenübernahme Diskursive Literarität unter Einschluss diskursiver faktualer Texte Fähigkeit zur Auseinandersetzung (unter Gleichaltrigen) mit subjektiv bedeutsamem Textgehalt Übungen 1. Erläutern Sie das Plateau der Konsolidierung und Ausdifferenzierung im integrativen Modell der Lese- und literarischen Sozialisation. 2. Welche Formen der Identifikation bei der Lektüre literarischer Texte werden Jugendlichen auf Sekundarstufe I und II seitens der Leseforschung zugeschrieben? Verwendete und weiterführende Literatur Dawidowski, Christian (2009): Literarische Bildung in der heutigen Mediengesellschaft. Eine empirische Studie zur kultursoziologischen Leseforschung. Frankfurt/ M.: Lang. Frederking, Volker (2010): Identitätsorientierter Literaturunterricht. In: Volker Frederking, Axel Krommer, Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts Bd. 2. Literatur- und Mediendidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. S. 414-451. Garbe, Christine, Karl Holle, Maria von Salisch (2006): Entwicklung und Curriculum: Grundlagen einer Sequenzierung von Lehr-/ Lernzielen im Bereich des (literarischen) Lesens. In: Norbert Groeben, Bettina Hurrelmann (Hg.): Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik. Ein Weiterbildungsprogramm. Weinheim: Juventa. S. 115-154. Jakubanis, Matthias (2015): Literarische Bildung und Migration. Eine empirische Studie zu Lesesozialisationsprozessen Tab. 4.1 Literales/ literarisches Kompetenzprofil auf dem Plateau der Konsolidierung/ Ausdifferenzierung �� 207 Themenblock 4 Lese- und literarische Sozialisation - Adoleszenz <?page no="217"?> bei Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund. Frankfurt/ M.: Lang. Schön, Erich (1990): Die Entwicklung literarischer Rezeptionskompetenz. Ergebnisse einer Untersuchung zum Lesen bei Kindern und Jugendlichen. In: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft = SPIEL 9 H. 2. S. 229-276. 208 Sekundarstufe <?page no="218"?> 14 Leseförderung nach dem Mehrebenen-Modell des Lesens - Sekundarstufe I und II Nachdem das Mehrebenen-Modell des Lesens nach Rosebrock/ Nix (Kap. 10) zunächst so weit als möglich für die Leseförderung auf der Primarstufe ausgewertet worden ist, soll es nun ganz auf die Sekundarstufe bezogen werden. Die mit den Ebenen des Modells verknüpften schulstufenübergreifend gültigen Basiskenntnisse über Leseflüssigkeit, Lautleseverfahren, Lesestrategien, Vielleseverfahren oder Leseanimation sind dabei je nach Bedarf in Kapitel 10 nochmals nachzulesen. Hierarchieniedrige Prozessebene und Subjektebene: Lautleseverfahren und Vielleseverfahren auf der Sekundarstufe I Auf der Sekundarstufe I setzt sich die Zielgruppe für Lautleseverfahren in erster Linie aus denjenigen Schüler_innen zusammen, die auf der Primarstufe keine Leseflüssigkeit haben ausbilden können und infolgedessen im Leseverstehen stark beeinträchtigt sind. Im Falle eines entsprechend gegliederten Schulsystems finden sie sich in der Hauptschule wieder. Ein beachtlicher Teil von ihnen sind L2-Lernende: Vor allem für die Hauptschulen muss ein ‚Leseproblem‘ konstatiert werden: Mehr als die Hälfte ihrer Schülerinnen und Schüler gehört der von PISA definierten ‚Risikogruppe‘ schwacher Leser an. Verbunden damit gibt es auch ein Leseproblem bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund - sie sind unter den Leseschwachen überproportional häufig vertreten und ohnehin an Hauptschulen überrepräsentiert (Gold u. a. 2010: 59). Die Auswertung der Prätestdaten einer (in Kap. 10 bereits erwähnten) Hauptschulstudie von Cornelia Rosebrock u. a. (2010) mit ursprünglich 527 zwölfjährigen Sechstklässler_innen ergibt auf der Grundlage der für die Regressionsanalyse des Textverstehens verwertbaren Daten von nur noch 160 L1-Lernenden und nur noch 271 L2-Lernenden: „Es ist vor allem die Leseflüssigkeit, die für das verstehende Lesen schwacher Leser von besonderer Bedeutung ist.“ (Gold u. a. 2010: 70; vgl. 65 ff.). Für die L2-Kinder - knapp 63 %der reduzierten Stichprobe - gilt dies in gesteigertem Maße: „Bei den DaZ-Kindern kommt der Leseflüssigkeit ein noch größeres Einflussgewicht zu als bei den muttersprachlich deutschen Schülern.“ (Gold u. a. 2010: 69). Die Präsentation der eigentlichen Studie stellt dann allerdings - Kalkavans obige Kritik an solch einem Vorgehen in Erinnerung rufend (vgl. Kalkavan 2012: 27; Kap. 10) - keine Differenzierung zwischen den Ergebnissen der L1- und der L2-Lernenden in den Vordergrund; denn: „Kinder Zielgruppe für Lautleseverfahren auf Sekundarstufe I Anteil DaZ-Lernender an der Gruppe der Leseschwachen Hauptschulstudie 209 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="219"?> mit und ohne Migrationshintergrund profitierten in gleicher Weise von der Förderung“ (Rosebrock u. a. 2010: 46 Fn. 3). Hauptziel der durch die anglofone Forschung angeregten Studie ist es, im deutschen Sprachraum Verfahren zur Förderung der Leseflüssigkeit und des Textverstehens bei Hauptschüler_innen zu evaluieren. Das hierfür festgelegte Vorgehen sei kurz geschildert: Nach dem schon erwähnten Prätest wurden innerhalb eines Schulhalbjahres ein Lautleseverfahren und ein Vielleseverfahren in jeweils einer eigenen Treatmentgruppe wöchentlich dreimal 15-20 Minuten lang eingesetzt. Parallel erhielt eine Kontrollgruppe regulären Deutschunterricht. Im Anschluss an diese Interventions- und Kontrollgruppenphase wurde zum Halbjahresende ein Posttest durchgeführt. Das nächste Schulhalbjahr über fand dann durchgehend - wie zuvor schon in der Kontrollgruppe - der übliche Deutschunterricht ohne die auf ihre Wirksamkeit zu prüfenden besonderen Fördermaßnahmen statt. Auf diese vier Monate herkömmlichen Unterrichts folgte schließlich ein Follow-up-Test, der die - für den Erfolg der Interventionen letztlich ausschlaggebenden - nachhaltigen Effekte ermitteln sollte (vgl. Rosebrock u. a. 2010: 43). Abbildung 4.5 ist der beschriebene Untersuchungsablauf nochmals zu entnehmen, ergänzt um Angaben zu den Umfängen der Teilstichproben, die Abb. 4.5 Untersuchungsplan: Hauptschulstudie von Rosebrock u. a. (2010: 39) Lautleseverfahren Wiederholtem Lautlesen Begleitetem Lautlesen Lautlese-Tandems Ablauf der Hauptschulstudie 210 Sekundarstufe <?page no="220"?> jeweils einer der beiden Untersuchungsbedingungen beziehungsweise der Kontrollbedingung zugeordnet sind. Hier soll die Aufmerksamkeit zunächst einmal dem in der Lautlese-Studie erprobten Lautleseverfahren gelten. Gewählt wurde dafür eine Kombination aus Wiederholtem Lautlesen und Begleitetem Lautlesen in Lautlese-Tandems (Kap. 10): Ein etwas besser lesender Schüler las als Lesemodell zusammen mit einem Mitschüler gegebene Texte wiederholt synchron (halb-)laut vor. Der schwächere Leser sollte sich am Lesefluss des Tutors orientieren und Lesefehler verbessern. (Rosebrock u. a. 2010: 37) Der Motivation der Proband_innen dient eine Sportmetaphorik, wie sie ähnlich bereits aus Kapitel 10 bekannt ist, wobei jetzt, anders als oben bei Kawohl, dem „Trainer“-Kind statt eines Sprinters oder einer Sprinterin ein „Sportler“ anvertraut ist: Für die ‚Lautlese-Tandems‘ bestand die Rahmenhandlung in einer Benennung der Schülerpaare als ‚Trainer‘ und ‚Sportler‘: Denn wie ein guter Trainer muss auch ein ‚Lesetrainer‘ seinen ‚Lesesportler‘ fördern, seine Stärken erkennen und ihm helfen, seine Schwächen zu überwinden, damit das Team erfolgreich ist. (Rosebrock u. a. 2010: 43) Dass in der Studie als Motivationshilfe eine regelmäßige Rückmeldung über die Geschwindigkeitssteigerung beim ‚Lesesport‘eingeplant ist, wird bereits oben in Kapitel 10 deutlich. Ebenso wird dort auf die langfristig sich einstellende Schwächung oder Stagnation der Lesemotivation und des Leseselbstkonzepts hingewiesen. Immerhin ist aber im Posttest direkt nach der Interventionsphase mit ihren regelmäßigen Feedbacks ein signifikanter förderlicher Effekt auf das Selbstkonzept als Leser_in verzeichnet. Ein bedeutsamer Motivationszuwachs ist jedoch auch schon zu dem Zeitpunkt nicht feststellbar. Erklärungsversuche der Forschungsgruppe insbesondere bezüglich der für die Subjektebene ungünstigen Ergebnisse des späteren Follow-up-Tests werden in Kapitel 10 referiert. Sie bieten als Begründung zum einen das nach der Fördermaßnahme fehlende Feedback zur Erhöhung des Lesetempos an. Zum anderen verweisen sie auf die in der Sekundarstufe I laut pädagogischer Psychologie ohnehin abnehmende Affinität zum Lesen. Diese Argumentation sei jetzt etwas genauer wiedergegeben, als es im obigen, vordringlich der Primarstufe gewidmeten Kapitel 10 angebracht schien: in der frühen Sekundarstufe ist ein […] deutliches kontinuierliches Absinken der motivationalen Komponenten des Lesens bei Schüler(innen) aller Schulformen zu beobachten (Rosebrock u. a. 2010: 48 f.). Lautleseverfahren in der Hauptschulstudie: Lautlese- Tandems Motivierende Sportmetaphorik Hauptschulstudie: Auswirkungen der Lautlese-Tandems auf die Subjektebene Abnehmende Lesemotivation auf der Sekundarstufe I 211 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="221"?> Sogar für die gesamte Sekundarstufe hat inzwischen Mahling (2016) diesen stetigen Verlust an Lesefreude festgestellt und daher das auf einen eher diskontinuierlichen Motivationseinbruch nach Kindheitsende hindeutende Krisenparadigma der bisherigen Leseautobiografieforschung in Frage gestellt (Kap. 6). Eingedenk der in der erforschten Altersgruppe üblicherweise schwindenden Leseneigung werten es die Initiator_innen der hier beleuchteten Hauptschulstudie als Verdienst des angewandten Lautleseverfahrens, dass wenigstens im Posttest die Lesemotivation, obschon nicht in signifikantem Ausmaß, und das Leseselbstkonzept bessere Werte erhalten als unter der Kontrollbedingung: „Das Förderverfahren der ‚Lautlese-Tandems‘ konterkariert […] diesen generellen Abwärtstrend bei Motivation und Selbstkonzept.“ (Rosebrock u. a. 2010: 49) Umgekehrt zeigt sich in der frühen Sekundarstufe aber auch ein allgemeiner Aufwärtstrend der Lesefähigkeit, sodass gilt: „Die Entwicklung von Lesemotivation und -kompetenz verläuft in diesem Zeitraum generell gegenläufig“ (Rosebrock u. a. 2010: 49). Das Lautleseverfahren muss deshalb, soll es sich als der Kontrollbedingung überlegen erweisen, den erwartbaren Zugewinn der Kontrollgruppe an Leseflüssigkeit und Textverständnis noch signifikant übertreffen. Dass dies ausnahmslos gelungen ist, beweisen die sowohl im Posttest als auch im Follow-up-Test ermittelten Ergebnisse der Hauptschulstudie bei mittleren und hohen Effektstärken (vgl. Rosebrock u. a. 2010: 43 ff., 48 f.). Wie dies genauer auf Klassenstufe 5 oder 6 gelingen kann, und zwar in Hauptschule und Gymnasium gleichermaßen, führt Nadine Zimmer (2014) mit konkreten Hinweisen zur Leseförderung durch Lautlese-Tandems aus, wobei sie auch den Aspekt der Textschwierigkeit berührt und einen Bezug zum Lesbarkeitsindex LIX herstellt (vgl. Zimmer 2014: 40; oben Kap. 10). Ansätze zur Individualisierung, wie sie in Kapitel 10 als wichtig für die Primarstufe herausgestellt worden sind, lässt Zimmer dabei kaum erkennen - wohl weil sie auf der Sekundarstufe eher verzichtbar sind. Gemäß Cornelia Rosebrock und Heike Wirthwein (2014) ist die Förderung der Leseflüssigkeit, vor allem mittels Lautleseverfahren, für Leseschwache bis zum Hauptschulabschluss (Klasse 9) beziehungsweise bis zum Mittleren Schulabschluss (Klasse 10) angezeigt. Für viele lesestärkere Kinder ist die Verbesserung der Leseflüssigkeit, wenngleich nicht immer durch Lautlesen, bis zum Ende der sechsten Klasse wichtig (vgl. Rosebrock/ Wirthwein 2014: 35 f.). Denn auch sie haben zu Beginn der Sekundarstufe den Übergang vom ‚learning to read‘ zum ‚reading to learn‘ noch nicht abgeschlossen - auch sie lesen Texte generell noch langsamer[,] als sie sprechen können, und sie lesen schwierige Texte u. U. stockend, fehlerhaft und ohne begleitendes ausreichendes Verstehen. Noch am Zunehmende Lesefähigkeit auf der Sekundarstufe I Hauptschulstudie: Auswirkungen der Lautlese-Tandems auf die Prozessebene Lautlese-Tandems auf der Sekundarstufe I in Hauptschule und Gymnasium 212 Sekundarstufe <?page no="222"?> Ende der sechsten Jahrgangstufe [sic! ] sollte bei der Anforderung, anspruchsvolle Texte wie Aufgabenstellungen, Lehrtexte in Schulbüchern oder lange Texte im Literaturunterricht verstehend zu lesen, diesem weiterhin andauernden Entwicklungsprozess der Automatisierung lesedidaktisch Rechnung getragen werden beispielsweise durch das Einräumen von ausreichend individueller Lesezeit, damit der Text wiederholt gelesen werden kann, und durch Unterstützungsroutinen wie etwa das (halb)laute Lesen aller Schülerinnen und Schüler in Paaren. (Rosebrock/ Wirthwein 2014: 36) Hier wird vorstellbar, wie eine noch nicht voll ausgebildete Leseflüssigkeit ihren Förderbedarf sogar in den anspruchsvolleren Schulformen zu erkennen gibt und diagnostizieren hilft. Es klingt aber auch an, wie die Leseflüssigkeit angesichts der erhöhten Ansprüche insbesondere des Gymnasiums gesteigert werden kann. Die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Sekundarstufe I enthalten allerdings den Begriff und didaktisch relevanten Sachverhalt der auf der hierarchieniedrigen Prozessebene angesiedelten Leseflüssigkeit noch nicht, zumal sie vor der entsprechenden Debatte in der Deutschdidaktik verabschiedet worden sind. Sie stellen lediglich die nicht spezifizierte Anforderung, flüssig zu lesen (vgl. Rosebrock/ Wirthwein 2014: 36). Für die Zukunft indes wünschen Rosebrock u. a. (2010) eine noch genauere didaktische Erforschung der Leseflüssigkeit in Bezug auf die deutsche Sprache und schließlich eine curriculare Verankerung dieser Lese-Teilkompetenz auf der Sekundarstufe I (vgl. Rosebrock u. a. 2010: 47, 53 f.). Auf der wissenschaftspropädeutischen Sekundarstufe II hingegen sollte sich das Problem der Leseflüssigkeit nicht mehr stellen und sind Lautleseverfahren folglich unangebracht (Kap. 1). Das in der oben vorgestellten Hauptschulstudie geprüfte Vielleseverfahren nach dem in Kapitel 10 bereits problematisierten Muster des Sustained Silent Reading (SSR), mit dort ebenfalls schon hinterfragtem kompetitivem Ansporn bezüglich der Lesequantität, hat für die Leseflüssigkeit, das Textverständnis, die Lesemotivation und das Leseselbstkonzept keinerlei signifikante Effekte erbracht (vgl. Rosebrock u. a. 2010: 36 f., 42 f., 45 f.; Rieckmann 2010). Eine sehr differenzierte und aspektreiche Studie über ein Vielleseprojekt auf der Sekundarstufe I mit teilweise positiven Resultaten bei Lesegeschwindigkeit und Textverstehen legt Juliane Dube (2014) vor. Auf der Sekundarstufe II verlieren dann Vielleseverfahren noch deutlich an Relevanz, weshalb sie im entsprechenden Abschnitt dieses Buches auch keine Erwähnung mehr finden werden. Für die Sekundarstufe lässt sich zudem den Ausführungen über Leseanimation in Kapitel 10 wenig hinzufügen, sodass an dieser Stelle nochmals auf die dortigen Basisinformationen verwiesen sei. Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Sekundarstufe I: flüssiges Lesen Hauptschulstudie: Auswirkungen des Vielleseverfahrens 213 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="223"?> Die hierarchiehohe Prozessebene: Lesestrategien auf der Sekundarstufe I Dass Lesestrategien die Herstellung globaler Kohärenz unterstützen und somit auf der hierarchiehohen Prozessebene wirksam sind, ist ein wenig ausführlicher schon Kapitel 10 zu entnehmen. Dort werden außerdem - etwas umfassender als in dieser Reminiszenz - die wesentlichen kognitiven und metakognitiven Strategietypen vorgestellt. Dazu gehören: ▶ Elaborationsstrategien zur mentalen Ausarbeitung des Textinhalts, z. B. mittels Fragen, Paraphrasen oder Visualisierungen ▶ Elaborative Vorwissensaktivierung und Erwartungsbildung vor dem Lesen oder lesebegleitend, z. B. mittels Beachtung von Titel, Cover und Inhaltsverzeichnis oder von Zwischenüberschriften und bisherigem Text ▶ Ordnungsstrategien (oft eher vage als ‚Organisationsstrategien‘ bezeichnet) zur Erfassung der Textstruktur, z. B. mittels Unterstreichen, Zusammenfassen oder Überschriftenformulierung ▶ Metakognitive Strategien zur Planung, Überwachung und Korrektur des Strategiegebrauchs Anknüpfend an diese Strategiekenntnisse soll nun mit Blick auf die frühe Sekundarstufe I exemplarisch ein lesestrategischer Ansatz für die 5. und 6. Klasse vorgeführt werden: das Programm der „Textdetektive“ von Andreas Gold, Judith Mokhlesgerami, Katja Rühl, Stephanie Schreblowski und Elmar Souvignier. Gold und Souvignier erläutern dieses Fördermodell bezüglich seines kognitiven und metakognitiven Strategiearsenals genauer in Abgrenzung zu anderen, abgeleiteten Versionen für Förderschule und Primarstufe, für Fortgeschrittene auf erhöhtem Niveau sowie für den Englischunterricht und zweisprachigen Fachunterricht (vgl. Gold/ Souvignier 2012: 174 f.; Gold u. a. 2004; Gold u. a. 2005): In der Basisversion ‚Wir werden Textdetektive‘ werden insgesamt sieben Lesestrategien (Detektivmethoden) vermittelt; und zwar zwei elaborative, zwei ordnende und drei metakognitive (Gold/ Souvignier 2012: 175 f.). Welche Strategiekonkretisierungen hierfür im Einzelnen gewählt wurden, zeigt Tabelle 4.2. Die Elaborationsstrategie Überschrift beachten dient der Vorwissensaktivierung und Erwartungsbildung vor der eigentlichen Textlektüre. Wie in Kapitel 10 bereits ausgeführt, hilft solch ein erster Schritt bei der elaborativen Verarbeitung des im Anschluss Gelesenen. Dass eine Visualisierungsstrategie wie Sich etwas bildlich vorstellen ebenfalls zu den Elaborationsstrategien gehört, insofern sie dem Verstandenen mehr Tiefe und einen größeren Reichtum an lebensweltlich-sinnlichen Bezügen verleiht, wurde bereits im obigen Kapitel 11 zur didaktischen Relevanz der Dual-Coding-Theorie Lesestrategie-Programm „Textdetektive“ für Klasse 5 und 6 Kognitive Strategien 214 Sekundarstufe <?page no="224"?> erkennbar. Ähnlich erfüllen auch die Lesestrategien Wichtiges unterstreichen und Wichtiges zusammenfassen als Ordnungsstrategien die ebendiesem Strategietyp weiter oben schon zugewiesene Funktion, die Erschließung des gedanklichen Textaufbaus mit der ihm eigenen Schwerpunktsetzung zu erleichtern (Kap. 10). Hinzuzufügen wäre der Aspekt der besseren Merkbarkeit des Lesetextes, die aus dessen gewichtender und reduktiver Gliederung oder Zusammenfassung resultiert. Ebendeshalb heißen die Ordnungsstrategien für die jungen ‚Textdetektive‘ „Behaltensmethoden“ (Gold u. a. 2004: 24, 48, 87; vgl. Gold/ Souvignier 2012: 176). Die soeben erläuterten kognitiven Strategien der ‚textdetektivischen‘ Ermittlungstätigkeit sollen während ihrer Anwendung mithilfe metakognitiver Strategien überwacht werden: Sind die bislang beschriebenen kognitiven Strategien quasi die konkreten Handlungsanweisungen zum Umgang mit Texten, so kommt den metakognitiven Strategien sowohl für das Ordnen als auch für das Elaborieren eine wichtige Kontroll- und Regulationsfunktion zu. (Gold 2007: 52 [Hervorh. i. Orig.]) Die metakognitive Kontrolle übernehmen die ‚Textdetektive‘ durch das Prüfen, ob Hauptgedanken erinnert werden und durch das Prüfen, ob alles verstanden wurde. Erfordern Verständnisprobleme den Umgang mit Textschwierigkeiten, so erfährt die bisherige kognitive Strategieanwendung eine Regulation durch Neu-Planung und Modifikation. Diese Umsteuerung im Lesevorgang folgt einer eingespielten, textnahen Prozedur: „Für den Umgang mit Textschwierigkeiten ist entscheidend, dass eine Problemstelle markiert und eine allgemeine Routine zur Problemlösung eingeübt wird.“ (Gold/ Souvignier 2012: 176 [Hervorh. i. Orig.]). Hierbei handelt es sich um eine Frageroutine, auf die nach dem bewussten Innehalten im Lesefluss und dem Anstreichen des unverstandenen Textelements zurückzugreifen ist: Bei Textschwierigkeiten soll man das Lesen unterbrechen und die betreffende Stelle markieren. Anschließend stellt man sich vier Fragen: ▶ Was ist das Problem? Kognitive Strategien Elaborationsstrategien Ordnungsstrategien ▶ Überschrift beachten ▶ Sich etwas bildlich vorstellen ▶ Wichtiges unterstreichen ▶ Wichtiges zusammenfassen Metakognitive Strategien ▶ Prüfen, ob alles verstanden wurde ▶ Umgang mit Textschwierigkeiten ▶ Prüfen, ob Hauptgedanken erinnert werden Tab. 4.2 Strategiearsenal der Textdetektive (nach Gold/ Souvignier 2012: 175) Metakognitive Strategien 215 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="225"?> ▶ Welche Lösung gibt es für das Problem? ▶ Was ist die beste Lösung? ▶ Ist das Problem damit gelöst? (Gold u. a. 2004: 32) Lösungsmöglichkeiten bei fehlender Wortkenntnis, etwa die textinterne Erschließung der Wortbedeutung, oder bei empfundener Inkohärenz, etwa die Überprüfung des Textzusammenhangs, werden im Zuge des Strategietrainings entwickelt und sind nicht alternativlos vorgegeben (vgl. Gold u. a. 2004: 32). Erforderlich für die metakognitive Planung, Beobachtung und Steuerung des eigenen Leseprozesses ist die Fähigkeit zu kognitiver Selbstregulation durch eigenständige Auswahl der jeweils geeigneten Problembehandlung und Lesestrategie. Ein von den Lernenden mit Unterstützung selbst erstellter Leseplan (Abb. 4.6) kann für solche strategischen Entscheidungen während des Lesens die passenden „Detektivmethoden“ (Gold/ Souvignier 2012: 175) bereithalten. Vor Lesebeginn leitet er die Strategiewahl an und nach dem Lesen hilft er bei der retrospektiven Evaluation des erzielten Leseerfolgs (vgl. Gold/ Souvignier 2012: 176). Vor Lesebeginn Was ist mein Ziel? Welche Methoden setze ich ein, um es zu erreichen? Während des Lesens Ich wende ausgesuchte Detektivmethoden an - zum Beispiel: Detektivmethode 1: Überschrift beachten Detektivmethode 2: Bildlich vorstellen Detektivmethode 3: Umgang mit Textschwierigkeiten Detektivmethode 4: Verstehen überprüfen Detektivmethode 5: Wichtiges unterstreichen Detektivmethode 6: Wichtiges zusammenfassen Detektivmethode 7: Behalten überprüfen Nach dem Lesen Habe ich mein Ziel erreicht? Wenn nicht, wie kann ich es beim nächsten Mal erreichen? Das für die Schüler_innen direkt gedachte Arbeitsmaterial ist etwas anders aufbereitet. Der Leseplan wird ihnen im Arbeitsheft unausgefüllt vorgelegt (Abb. 4.7). Im Lehrermanual findet die Lehrperson das ausgefüllte Lösungsblatt für den eigenen Gebrauch sowie eine entsprechende Folie (Abb. 4.8) zur Ergebnissicherung im Unterricht. Abb. 4.6 Leseplan der Textdetektive (nach Gold/ Souvignier 2012: 177; Gold u. a. 2005: 74, 99) Kognitive Selbstregulation 216 Sekundarstufe <?page no="226"?> Abb. 4.7 Arbeitsblatt zum Leseplan der Textdetektive (Gold u. a. 2005: 44) 217 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="227"?> Abb. 4.8 Lösungsblatt zum Leseplan der Textdetektive (nach Gold u. a. 2004: 74, 99) kognitiven Selbstregulation Planung Überwachung Modifikation auswahl handhabung So werden den ‚Textdetektiven‘ weitere, gezielte Strategien zur kognitiven Selbstregulation an die Hand gegeben. Indem die Lernenden vor Beginn der eigentlichen Textuntersuchung ihre Zielsetzung klären, erleichtern sie sich die Wahl der geeigneten Lesestrategien. Sie üben dabei die metakognitive Planung des Leseprozesses ein. Die Selbstbefragung nach dem (vorläufigen) Abschluss der Lektürearbeit ruft die anfängliche Zielsetzung in Erinnerung und gewährleistet die nötige Erfolgskontrolle. Ergibt diese metakognitive 218 Sekundarstufe <?page no="228"?> Routine der Überwachung, dass das Ziel (teilweise) verfehlt wurde, hält die dafür vorgesehene Strategiefrage zur metakognitiv gesteuerten Modifikation der zuvor getroffenen Strategieauswahl oder aber der bisherigen Strategiehandhabung an. Im Lehrermanual heißt es erläuternd: Der Leseplan strukturiert den Prozess des Lesens und Lernens aus Texten in drei Phasen. Indem die Schülerinnen und Schüler den Strategieeinsatz selbstständig planen, überwachen und die Zielerreichung überprüfen, erwerben sie metakognitive Kompetenzen. (Gold u. a. 2004: 74) Wie beim Lesestrategietraining generell soll sich auch bei der Ausrichtung am Leseplan allmählich eine selbstgängige Routine einstellen, die mit wachsender Unabhängigkeit von den äußeren Hilfskonstruktionen und mit deren Verinnerlichung einhergeht: Mit fortschreitender Übung und bei zunehmender Automatisierung des kompetent strategischen Lesens kann die zunächst ‚starre‘ Orientierung am Leseplan natürlich wieder gelockert werden. (Gold/ Souvignier 2012: 177) Während die bislang eingeführten Strategien für sich genommen auf die - vor allem hierarchiehöhere - Prozessebene des Mehrebenen-Modells abgestimmt sind und gemeinsam zur Stärkung der kognitiven Selbstregulation beitragen, berücksichtigt ihre motivierende Einbettung in die Detektivmetaphorik, verbunden mit einem abwechslungsreichen Angebot fiktionaler und faktualer Texte, durchaus auch die Subjektebene. Diese erfährt jedoch eine noch ausdrücklichere Würdigung durch den ersten, der motivationalen Selbstregulation gewidmeten Teil des Förderprogramms. Dort wird den Lernenden auf spielerische, teilweise vom Lesen noch ganz unabhängige Weise nahegebracht, wie sie sich erreichbare, aber nicht unterfordernde Ziele setzen können, sodass sich bei angemessenem, von ihnen selbst zu beurteilendem Bemühen echte Erfolgserlebnisse einstellen können. Diese Selbstwirksamkeitserfahrungen sollen sie motivieren, sich später auch auf die textbezogene ‚Detektivarbeit‘ mit der dazugehörigen eigenständigen Zielerfassung und Erfolgskontrolle einzulassen (vgl. Gold/ Souvignier 2012: 177 f.). Das hier vorgestellte Leseförderprogramm für ‚Textdetektive‘ auf Klassenstufe 5 und 6 ist empirisch mehrfach erprobt worden. Eine nachhaltige Verbesserung des Leseverstehens - auf die es letztlich ja stärker ankommt als auf die in allen Schulformen erreichte Erweiterung der bloßen Strategiekenntnis - ist bei mittlerer Effektstärke ausschließlich für das Gymnasium zu konstatieren. Dies offenbart wohl den Voraussetzungsreichtum des Programms: „Wir werden Textdetektive“ - das können in vollem Umfang offenbar nur die ohnehin schon lesestärkeren Schüler_innen der frühen Sekundarstufe I von sich behaupten: Prozessebene Subjektebene Motivationale Selbstregulation Auswirkung des Lesestrategie-Programms „Textdetektive“ auf die Prozessebene 219 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="229"?> Bei der Betrachtung fällt auf, dass sich vor allem in den Gymnasialklassen, also bei den vergleichsweise leistungsfähigeren Schülerinnen und Schülern, nachhaltige Effekte auf das Textverstehen zeigen, während die Transfereffekte auf das Leseverständnis bei den eher leistungsschwächeren ausbleiben. Das spricht dafür, dass das Programm für diese Schülerinnen und Schüler im Anspruchsniveau zu hoch angesetzt war. (Gold/ Souvignier 2012: 183; vgl. 182 f.) Nicht nur für die frühe Sekundarstufe I, der das hier geschilderte Konzept der „Textdetektive“ zugedacht ist, sondern auch für die höheren Klassen der Mittelstufe werden Möglichkeiten der Lesestrategievermittlung erforscht, so nach dem Ansatz „LEKOLEMO“ für die siebte und achte Klasse (vgl. Souvignier u. a. 2007; Meyer 2009). Das Programm LEKOLEMO ist für 7. Klassen (Gymnasium, Realschule, Gesamtschule) konzipiert worden, d. h. für Schülerinnen und Schüler, die älter sind als die der Textdetektive. Bei der Entwicklung wurde das Material zudem so gestaltet, dass es sich auch für den Einsatz in 8. Hauptschulklassen eignen soll. (Souvignier u. a. 2007: 70) LEKOLEMO zielt anders als „Wir werden Textdetektive“ ausschließlich auf das Verstehen faktualer, medial zum Teil grafischer, zum Teil grafischvisueller Texte. Mit anderen Worten: Den Schüler_innen werden sowohl rein schriftsprachliche Informationsmaterialien als auch beschriftete Visualisierungen vorgelegt. Bei der Kategorisierung des Textmaterials steht allerdings nicht deren Medialität, sondern die Gegenüberstellung kontinuierlicher Texte in fortlaufenden Schriftzeilen einerseits und diskontinuierlicher Texte mit unterbrochenem Textfluss und oft visuellen Elementen andererseits im Vordergrund. Die - nicht bloß zwischen Kontinuität und Diskontinuität bestehende - Unterschiedlichkeit der eingesetzten Textsorten soll von den Lernenden erfasst und bei der Rezeption berücksichtigt werden. Hier kommt zum Tragen, was im Mehrebenen-Modell des Lesens auf der hierarchiehohen Prozessebene als Superstruktur-Erkennung erscheint (Kap. 10). Im LEKOLEMO-Unterricht tritt jedoch nur ein einziges kontinuierliches „Textformat“ auf: die sogenannte „Darlegung“, die ein Themengebiet in seinen Aspekten und Zusammenhängen erläutert. Die von LEKOLEMO genutzten diskontinuierlichen „Textformate“ sind hingegen vielfältiger: Sie umfassen Listen, Tabellen, Schaubilder, Diagramme und Landkarten (vgl. Souvignier u. a. 2007: 70, 75 ff.). In seiner kognitiven Dimension, innerhalb des Mehrebenen-Modells insgesamt auf der Prozessebene zu verorten, beruht LEKOLEMO auf dem Lesekompetenzmodell der PISA-Studien, das drei empirisch geprüfte Operationen der Textrezeption unterscheidet, nämlich: Lesestrategie-Programm „LEKOLEMO“ für Klasse 7 und 8 Lesestrategie-Programm „LEKOLEMO“: Konzentration auf Sachtextverstehen LEKOLEMO kognitiv: Anbindung an Prozessebene und PISA- Kompetenzmodell 220 Sekundarstufe <?page no="230"?> 1. das Ermitteln einzelner lokaler, mehr oder weniger klar herausgehobener Informationen 2. das auf globale Kohärenzbildung ausgerichtete Interpretieren 3. das Reflektieren und Bewerten von Textgehalt wie -gestalt. Die im Rahmen von LEKOLEMO gestellten Aufgaben sind jeweils auf eine dieser drei Anforderungen zugeschnitten. Dafür gelangen an die Ermittlungsarbeit der „Textdetektive“ gemahnende Lesestrategien zur Anwendung (Abb. 4.9). (Vgl. Artelt u. a. 2001: 82 f., 89; Souvignier u. a. 2007: 70, 72 f., 73 f.). Lesestrategien Bevor ich den Text lese … Was fällt mir zur Überschrift ein? Was weiß ich über dieses Thema? Was erwarte ich von dem Text? Was interessiert mich an diesem Thema? Während ich den Text lese … Wichtiges unterstreichen! Habe ich alles verstanden? Falls nicht: Was genau habe ich nicht verstanden (einzelne Worte oder Zusammenhänge)? Kann ich jemanden fragen? Kann ich es in einem Lexikon nachschlagen? Tabellen und Grafiken beachten! Nachdem ich den Text gelesen habe… Wichtiges zusammenfassen! Wichtige Informationen in eigene Worte fassen! Was war mir neu? Zusätzlich zu seiner bislang beschriebenen kognitiven Orientierung bezieht der LEKOLEMO-Lehrgang auch die aus dem Mehrebenen-Modell bekannte Subjektebene ein, insofern er als weiteres wesentliches Moment die Förderung der Lesemotivation vorsieht. Diese doppelte Ausrichtung des Ansatzes auf kognitive Lesekompetenz und auf subjektive Lesemotivation drückt sich bereits in seiner Namensgebung aus, welche die beiden Aspekte Abb. 4.9 Lesefahrplan in LEKOLEMO (nach Souvignier u. a. 2007: 74) LEKOLEMO motivational und kommunikativ: Anbindung an Subjektebene und Soziale Ebene 221 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="231"?> zum Kurzwort LEKOLEMO verschmilzt. Die so in den Kernbereich des Förderprogramms gerückte Lesemotivation soll gestärkt werden, indem die Jugendlichen ▶ Gelegenheit zur Selbstwahrnehmung als autonom und sachkompetent erhalten, ▶ aus ihrer Sicht relevante Textinhalte wählen dürfen und ▶ auf der - im Mehrebenen-Modell beschriebenen - Sozialen Ebene Rückhalt und Austausch innerhalb der Kleingruppenarbeit finden (vgl. Souvignier u. a. 2007: 79 f.). Zwei in der Realschule auf Klassenstufe 7 durchgeführte empirische Studien im Prätest-Posttest-Design mit je einer Trainingsklasse und einer Kontrollklasse haben allerdings im einen Fall einen „möglicherweise durch das intensive Üben der Lesestrategien in den Kleingruppen bedingt[en]“ Motivationsmangel, im anderen Fall einen Motivationsgewinn nur für die Jungen ergeben. Eine Steigerung der Lesekompetenz zeigte sich in beiden Studien, in der zweiten aber ausschließlich bei den Mädchen. Es fanden keine Follow-up-Tests zur Überprüfung der Nachhaltigkeit der in den Posttests festgestellten Effekte statt (vgl. Souvignier u. a. 2007: 83 f.). Ein anderer Forschungsbericht über diese erste LEKOLEMO-Erprobungsphase konstatiert - sogar noch kritischer - das Ausbleiben jeglicher förderlichen Auswirkung auf Lesemotivation und Lesekompetenz (vgl. Meyer 2009: 65ff). An der nötigen Weiterentwicklung des LEKOLEMO-Projekts versucht sich Stefanie Meyer (2009) in einer wesentlich umfangreicheren Studie einschließlich Follow-up-Testung, gelangt aber gleichfalls noch nicht zum erhofften Ziel: „Wie die Analysen zeigten, konnten durch das Lesetraining nur tendenzielle, aber keine signifikanten Effekte auf die Lesekompetenz erzielt werden.“ (Meyer 2009: 129). Darüber hinaus ist zu bilanzieren, dass zwar „die intrinsische Lesemotivation nachweislich beeinflusst werden konnte“, dass aber „diese Ergebnisse nur eine sehr geringe Effektstärke aufweisen“ (Meyer 2009: 135). In der Konsequenz verweist Meyer auf weiteren Änderungsbedarf: Aufgrund der umfangreichen Untersuchung gibt es einige Hinweise zur Verbesserung und Optimierung des Trainings - sowohl hinsichtlich methodischer als auch inhaltlicher Aspekte. (Meyer 2009: 138 f.) Unter den von Meyer unterbreiteten vielfältigen Ideen für eine problembewusste Modifikation des LEKOLEMO-Programms findet sich keine, die auf die besonderen Rezeptionserfordernisse der medialen Visualität verwendeter diskontinuierlicher Texte bezogen wäre. Auch schon von Beginn der LEKOLEMO-Entwicklung an mangelt es an Verknüpfungen mit der Er- Auswirkungen von LEKOLEMO auf Subjektebene und Prozessebene Verbesserungs- und Forschungsbedarf im Anschluss an LEKOLEMO Vernachlässigung der visuellen Medialität 222 Sekundarstufe <?page no="232"?> forschung des Bildverstehens, obwohl ein mit kognitionspsychologischen Basis-Annahmen der PISA-Studien - weniger mit der Dual-Coding-Theorie - kompatibler Anfang bereits gemacht ist: Laut Wolfgang Schnotz und Stephan Dutke nämlich könnte eine systematischere Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstands zum Text-, Bild- und Diagrammverstehen Vorteile für die Planung und Realisierung geeigneter didaktischer Maßnahmen zur Förderung der Lesekompetenz bieten (Schnotz/ Dutke 2004: 98). Das bildliche Vorstellen hingegen spielt in Meyers Studie - anders als in der oben geschilderten frühen Version von LEKOLEMO und ähnlich wie bei den „Textdetektiven“ - wieder eine Rolle als Lesestrategie. Für die sogar vordringliche, schulstufenübergreifende Nutzung der visuellen Modalität spricht in der anglofonen Lesestrategie-Forschung breite empirische Evidenz, die auch im Einklang mit der Dual-Coding-Theorie steht (Kap. 11). Die hierarchiehohe Prozessebene: Lesestrategien auf der Sekundarstufe II Elaboratives bildliches Vorstellen generell und die strategische Rezeption diskontinuierlicher, medial visueller Texte sind auch wieder auf der Sekundarstufe II Bestandteile des Deutschunterrichts. Für das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) haben die Deutschdidaktikerinnen Juliane Köster und Iris Winkler unter Mitarbeit von Christian Becker, Désirée Burba und Angelika Kienzle eine mehrteilige Lernaufgabe zu einem Kurvendiagramm (Abb. 4.10) entwickelt (vgl. Köster/ Winkler 2015: 154-165). Die Aufgabenkonstruktion zur Erschließung dieses Diagramms bezieht sich auf den strategieorientierten Kompetenzbereich „Lesen“ der Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (vgl. KMK 2012) und soll gezielt drei ausgewählte Kompetenzen umsetzen: Lesen Die Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, selbstständig Strategien und Techniken zur Erschließung von linearen und nichtlinearen Texten unterschiedlicher medialer Form anzuwenden und zu reflektieren. […] Die Schülerinnen und Schüler können ▶ den komplexen Zusammenhang zwischen Teilaspekten und dem Textganzen erschließen […] ▶ Verstehensbarrieren identifizieren […] Ergänzung der visuellen Modalität Diagramm-Verstehen: Kompetenzbereich „Lesen“ 223 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="233"?> ▶ Kontextwissen heranziehen, um Verstehensbarrieren zu überwinden (KMK 2012: 19 [Hervorh. i. Orig.]). Die erste der hier aufgeführten Kompetenzen, nämlich „den komplexen Zusammenhang zwischen Teilaspekten und dem Textganzen erschließen“ zu können, liegt im Mehrebenen-Modell des Lesens auf der hierarchiehohen Ebene kognitiver Prozesse, da sie zur dort angesiedelten Herstellung globaler Kohärenz befähigt. Sie fällt folglich in den Zuständigkeitsbereich der - didaktisch auch auf der gymnasialen Oberstufe noch in Betracht kommenden - Lesestrategien. Insbesondere Elaborationsstrategien ermöglichen es den Jugendlichen, dass sie „Kontextwissen heranziehen, um Verstehensbarrieren zu überwinden“, und somit die dritte, oben von den Bildungsstandards vorgesehene Kompetenz erwerben. Vorher freilich hilft die zweite zitierte Kompetenz überhaupt erst die „Verstehensbarrieren identifizieren“, also eine metakognitive Leistung erbringen, die durch eine metakognitive Strategie Abb. 4.10 „Kurven - Nichts als Kurven? “ Verstehensbarrieren bei diskontinuierlichen Texten. Schülermaterial 1: Diagramm zur Wortzahl pro Satz in verschiedenen Texten (dtv-Atlas Deutsche Sprache 1978. S. 116) Globale Kohärenzbildung auf der hierarchiehohen Prozessebene Lesestrategien 224 Sekundarstufe <?page no="234"?> erleichtert wird. Der hierfür angebrachte Umgang mit Textschwierigkeiten setzt auch schon dem voranstehenden Abschnitt über die Sekundarstufe I zufolge mit der Problembenennung ein. Die dann angezeigte Lösungssuche führt im hier aktuellen Zusammenhang zur Anwendung eben der geeigneten Elaborationsstrategien. Mit ihrer Unterstützung gilt es einige durch das Kurvendiagramm (Abb. 4.10) errichtete „Verstehensbarrieren“ zu meistern: Verstehensbarrieren sind textseitig bedingt durch ▶ die rein grafische Darstellung statt kontinuierlich verbaler Darstellung, ▶ die Verkürzung der grafischen Darstellung (hier: Verkürzung des Kurvenverlaufs ‚Film-Dialog‘) und ▶ die fehlende Erklärung des Zusammenhangs zwischen den Kurven untereinander und zwischen den Achsen und Kurven, sodass diese vom Leser hergestellt werden muss. (Köster/ Winkler 2015: 155 [Hervorh. i. Orig.]) Aber auch die mit dem Diagramm befassten Schüler_innen selbst bringen vermutlich manche Verständnishemmnisse mit: Leserseitig sind die Verstehensbarrieren bedingt durch ▶ fehlendes Diagrammwissen bzw. mathematisches Wissen (z. B. Bedeutung von Prozentzahlen, Streubreite oder Mittelwerten) und fehlende Erfahrung in der Nutzung dieses Wissens für Gegenstände des Deutschunterrichts, ▶ unzureichende medienspezifische Kenntnisse und ▶ lexikalische und syntaktische Unsicherheiten bei der Verbalisierung von diagrammspezifischen Merkmalen und Zusammenhängen.(Köster/ Winkler 2015: 155 [Hervorh. i. Orig.]) Eine (nicht erschöpfende) Ausdeutung des Diagramms (Abb. 4.10) soll nun Hinweise bieten, wie oben bezeichnete Barrieren zu nehmen wären und auf welche Ziele der Unterricht zusteuern könnte: Nach unterschiedlicher Farbgebung, Struktur und Beschriftung sind die fünf Kurven ebenso vielen verschiedenen textuellen Medienangeboten beziehungsweise Medienangebotstypen zugeordnet. Medial grafisch sind darunter zwei bekannte Tageszeitungen, eine bestimmte wissenschaftliche Enzyklopädie und nicht näher bezeichnete „Verwaltungstexte“. Hinzu kommt fünftens die medial fonisch-visuelle (im Drehbuch grafische) Textsorte „Film-Dialog“, ohne dass das Spektrum der ausgewerteten Filme mitgeteilt würde. Auf der x-Achse ist in Dreier-Intervallen aufsteigend die innerhalb der Medienangebote messbare Zahl an Wörtern pro Satz eingetragen. Die y-Achse gibt Prozentwerte der Sätze an und ist von den noch ablesbaren 20 % an bis 36,9 % verlängert zu denken, wie ein entsprechender Eintrag an der Kurve des Film-Dialogs kenntlich macht. Maximale und minimale Werte in den Kurvenverläufen geben darüber Schwierigkeiten beim Diagramm-Verstehen Didaktische Schritte zum Diagramm- Verstehen Sachanalyse des Diagramms 225 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="235"?> Auskunft, welche Satzlängen jeweils am häufigsten und am seltensten vorkommen. Die bei steilem Kurvenverlauf geringe und bei flacherem Verlauf höhere Streubreite zeigt die Variabilität der Satzlängen in den einzelnen Medienangeboten. Insgesamt ist dem Kurvendiagramm bei Bildung globaler Kohärenz aus unverbundenen Textdetails, also bei elaborativer Füllung vielfacher Leerstellen, Nachstehendes zu entnehmen: ▶ Film-Dialog und Bild-Zeitung weisen überwiegend kurze Sätze auf und verfügen über eine geringe Variationsbreite der Satzlängen. ▶ In den Verwaltungstexten, in Rowohlts Deutscher Enzyklopädie und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), verglichen mit Film-Dialog und Bild-Zeitung, wechselt die Satzlänge deutlich stärker innerhalb eines sehr viel breiteren Spektrums, sind die häufigsten Satzlängen etwas umfangreicher und finden sich, wenn auch bei abnehmender Häufigkeit, sogar um ein Vielfaches längere Sätze. ▶ Da kurze Sätze konzeptioneller Nähekommunikation entsprechen, lange und damit auch komplexe Sätze aber Indizien konzeptioneller Distanzkommunikation sind, lassen sich Film-Dialog (ob nun medial fonischvisuell oder, im Drehbuch, grafisch) und Bild-Zeitung eher dem kommunikativen Konzept der Nähe, Verwaltungstexte, wissenschaftliche Texte sowie die FAZ hingegen eher dem Konzept der Distanz zuordnen. (Vgl. Köster/ Winkler 2015: 155 f., 161-165) Zur Ermittlung solcher Ergebnisse wenden die Lernenden, angeregt durch die hinführenden Teilaufgaben, folgende konkreten Strategien an, die im Hinblick auf weitere Diagramme hilfreich sein können [: ] […] ▶ Diagramm lesen, ▶ Einzelelemente beschreiben, ▶ benennen, was problematisch ist, ▶ eine Überschrift finden, ▶ Hypothesen zur Bedeutung des im Diagramm Gezeigten formulieren, ▶ Vergleichsaspekte finden […], ▶ Elemente zueinander in Beziehung setzen und ▶ [vorgegebene; TJ] Bedeutungshypothesen überprüfen. (Köster/ Winkler 2015: 165) Die hierarchieniedrigen Leistungen einer deskriptiven Bestandsaufnahme der verschiedenen Diagramm-Elemente werden hier nicht genauer beleuchtet, so unverzichtbar sie für die - erst im eigentlichen Sinne lesestrategisch anzugehenden - hierarchiehöheren Rezeptionsvorgänge sind. Ebenso wird Kognitive, lesestrategische Operationen beim Diagramm- Verstehen Abschluss der Sachanalyse: Interpretation des Diagramms Didaktisch-methodische Analyse: Zielsetzung und konkrete Lesestrategien 226 Sekundarstufe <?page no="236"?> auf die gänzlich aufgabengebundene Überprüfung vorgegebener Hypothesen nicht weiter eingegangen. Aus den voranstehenden Strategieformulierungen aufgegriffen werden vielmehr nur die auf hierarchiehohem Niveau verallgemeinerbaren, transfertauglichen Operationen - die Problembenennung, das Vergleichen, das Beziehungstiften, die Hypothesenbildung und die Titelformulierung. Diese strategischen Handlungen auf dem Weg zur globalen Kohärenzbildung sind hier (abweichend von der oben zitierten Aufzählung) in die dargestellte oder nahegelegte Reihenfolge ihrer Ausführung im Rahmen der aufgabengestützen Diagramm-Erschließung gebracht. Vergleichen, Beziehungstiften, Hypothesenbildung und Titelformulierung dienen der anreichernden Ausgestaltung, „Koordinierung und Verknüpfung unterschiedlicher Informationen“ und gehören insofern durchgehend dem kognitiven Strategietyp der Elaborationsstrategien an (Köster/ Winkler 2015: 157). Problembenennung wiederum unterstützt als metakognitive Strategie jene inhaltliche Elaboration. Dagegen sind bei der strategischen und aufgabengeleiteten Erarbeitung eines angemessenen Diagramm-Verständnisses keine reduktiven Ordnungsstrategien vorgesehen: „Charakteristisch für diese Aufgabe ist, dass es nicht um Reduktion von Komplexität geht“ (Köster/ Winkler 2015: 157). Die Problembenennung ist eine konkrete metakognitive Substrategie, die bei Bedarf nach der gleichfalls metakognitiven Verstehensprüfung als Teil des Umgangs mit Textschwierigkeiten einsetzt. Bezogen auf das hier behandelte Kurvendiagramm kann sie auf die obigen Verstehensbarrieren hinweisen. Eine zu diesem Strategiegebrauch anregende Aufgabe wäre: „Lesen Sie das Diagramm und notieren Sie, was Sie verstanden haben und was Ihnen das Verstehen erschwert hat.“ (Köster/ Winkler 2015: 157). An Aufgabenbearbeitung und Strategieanwendung vorherrschend beteiligte Kompetenzfacetten aus dem didaktischen Würfel sind der Umgang mit einem visuellen und auch grafischen Medium, und zwar in der Rolle sowohl der Rezeption als auch der Produktion und auf dem Niveau konzeptioneller Distanz-Kommunikate. Das Vergleichen ist eine kognitive Elaborationsstrategie, die auf Schlussfolgerungen (Inferenzen) über Ähnlichkeiten und Unterschiede der im Diagramm nicht ausdrücklich zueinander ins Verhältnis gesetzten Kurven und auf daraus abgeleiteten „Vergleichsaspekten“ basiert: Die Ermittlung der Vergleichsaspekte erfordert Inferenzbildung (Verbalisierung der Gemeinsamkeiten der Kurven), da im Diagramm die Zusammenhänge zwischen den Kurven nicht explizit genannt werden, sondern vom Leser hergestellt werden müssen. (Köster/ Winkler 2015: 160) Elaborationsstrategien Metakognitive Strategie Metakognitive Strategie Problembenennung Elaborationsstrategie Vergleichen 227 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="237"?> Eine zu diesem Strategiegebrauch anregende Aufgabe wäre: Vergleichen Sie den Verlauf der einzelnen Kurven miteinander: a) Benennen Sie zuerst mindestens zwei, maximal drei Vergleichsaspekte. b) Dokumentieren Sie die Ergebnisse Ihres Vergleichs in folgender Tabelle. Medien Vergleich Bild-Zeitung Film-Dialog Verwaltungstexte Frankfurter Allgemeine Zeitung Wissenschaftlicher Text Aspekt 1 Aspekt 2 Aspekt 3 Die vorherrschend beteiligten Kompetenzfacetten aus dem didaktischen Würfel entsprechen denjenigen bei der Problembenennung: Gefordert ist medial visuelle und grafische Distanzkommunikation in den Rollen der Rezeption und Produktion. Das Beziehungstiften ist wiederum eine kognitive Elaborationsstrategie, die Bezüge zwischen den (verglichenen) Elementen des Diagramms (schriftlich) ausarbeiten und so der „nächsten - die komplexen Zusammenhänge thematisierenden - Teilaufgabe“ genügen hilft: „Es muss deutlich werden, was die Vergleichsaspekte und deren Ausprägung bei den Kurven aussagen sollen.“ Dafür ist es förderlich, „die Ergebnisse des Vergleichs schrittweise zu verbalisieren“. Eine zu diesem Strategiegebrauch anregende Aufgabe wäre: „Fassen Sie Ihre Ergebnisse in einem kurzen Fazit zusammen.“ (Köster/ Winkler 2015: 162; vgl. 159). Die vorherrschend beteiligten Kompetenzfacetten aus dem didaktischen Würfel entsprechen abermals denjenigen bei der Problembenennung: Gefordert ist medial visuelle und grafische Distanzkommunikation in den Rollen der Rezeption und Produktion. Die Hypothesenbildung ist auch wieder eine kognitive Elaborationsstrategie, die unter Einbezug von Vorwissen versuchsweise Sinnzuschreibungen an das Kurvendiagramm vornehmen lässt: Damit die Schülerinnen und Schüler die Relevanz dieses Diagramms erkennen, müssen Vermutungen darüber angestellt werden, welche Bedeutung und Funktion die Satzlänge haben kann. (Köster/ Winkler 2015: 159) Beispielsweise erlaubt das - auch schon auf der Oberstufe vermittelbare - Wissen darum, dass konzeptionelle Nähesprache zu kurzen, konzeptionelle Distanzsprache hingegen zu langen, komplexen Sätzen tendiert, mit Blick auf die unterschiedlichen Satzlängen der in den Kurvenverläufen ausgewerteten Medienangebote folgende Hypothese: Film-Dialog und Bild-Zeitung sind Abb. 4.11 Aufgabe zur Strategie Vergleichen (nach Köster/ Winkler 2015: 161) Elaborationsstrategie Beziehungstiften Elaborationsstrategie Hypothesenbildung 228 Sekundarstufe <?page no="238"?> nähesprachlich, bürokratische und wissenschaftliche Texte sowie FAZ- Artikel sind distanzsprachlich strukturiert (vgl. Köster/ Winkler 2015: 156, 161-165). Eine zu diesem Strategiegebrauch anregende Aufgabe wäre: „Erklären Sie, welche Funktionen die Kurven […] für die Aussage des Diagramms haben.“ (Köster/ Winkler 2015: 164). Die vorherrschend beteiligten Kompetenzfacetten aus dem didaktischen Würfel entsprechen auch in diesem Fall denjenigen bei der Problembenennung: Gefordert ist medial visuelle und grafische Distanzkommunikation in den Rollen der Rezeption und Produktion. Die Titelformulierung verlangt als weitere Elaborationsstrategie die Abstraktionsleistung der elaborativen Füllung einer zentralen Leerstelle im Diagramm und setzt dafür eine bereits vollzogene globale Kohärenzbildung voraus: Es fehlt die Überschrift […]. Im Unterrichtsverlauf bietet es sich jedoch an, eine Überschrift für das Diagramm zu entwickeln, denn mit diesem Schritt werden die Schülerinnen und Schüler zu einer prägnanten Benennung des Themas aufgefordert. Da es hierfür notwendig ist, die Aussageabsicht des Diagramms zu durchschauen, werden hohe Anforderungen an das Abstraktionsvermögen gestellt. (Köster/ Winkler 2015: 160) Eine zu diesem Strategiegebrauch anregende Aufgabe wäre: ‚Formulieren Sie einen Titel für das Diagramm.‘ Die vorherrschend beteiligten Kompetenzfacetten aus dem didaktischen Würfel entsprechen nochmals denjenigen bei der Problembenennung: Gefordert ist medial visuelle und grafische Distanzkommunikation in den Rollen der Rezeption und Produktion. Für alle hier betrachteten Strategien und Lernaufgaben - für Problembenennung, Vergleichen, Beziehungstiften, Hypothesenbildung und Titelformulierung mit den jeweils hinführenden Arbeitsaufträgen - sind also gleichermaßen die unten im Würfel der Deutschdidaktik markierten Kompetenzelemente erforderlich (Abb. 4.12). Bei der Diagramm-Rezeption kommt aber gelegentlich auch elaborative Vorstellungsbildung ins Spiel, nämlich durch Aktivierung der visuellen Modalität über die Erfassung der mediengebundenen Zeichen hinaus. Insofern ist Vorstellungsbildung als rein „gedanklich“ zu vollziehender Akt nicht gänzlich erfasst, wie gegen die folgende, sonst zutreffende Aussage zum Kurvendiagramm (Abb. 4.10) einzuwenden wäre: Die Verkürzung der grafischen Darstellung bei der y-Achse setzt Vorstellungsbildung voraus, denn die Markierungen von 20 % bis 36,9 % müssen gedanklich rekonstruiert werden. (Köster/ Winkler 2015: 160 [Hervorh. TJ]) Elaborationsstrategie Titelformulierung Visuelle Modalität beim Diagramm- Verstehen auf der Sekundarstufe II 229 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="239"?> Nicht etwa nur rechnerisch indessen, sondern zusätzlich auch vor dem inneren Auge gilt es die verkürzte Kurve und die y-Achse nach oben zu verlängern (vgl. Köster/ Winkler 2015: 155). Wie in diesem Themenblock über die Sekundarstufe II bereits einleitend angemerkt, bewahrt also auch auf dieser höchsten Schulstufe noch die Elaborationsstrategie des bildlichen Vorstellens ihre Berechtigung - nicht zuletzt für die Lektüre fiktionaler Texe, um die es nun gehen soll. Karlheinz Fingerhut verteidigt in seinen literaturdidaktischen Überlegungen über einen kompetenzorientierten Oberstufenunterricht, der die imaginativen Anteile des Fiktionserlebens zu vernachlässigen drohe, interne Visualisierung unter der - eigentlich nicht unabdingbaren - Voraussetzung ihrer produktionsorientierten Externalisierung (vgl. Fingerhut 2016a: 49 f.): Die bildliche Konkretisierung von Vorstellungsbildern, die bei der Lektüre entstehen, könnte das Textverständnis aber auch befördern, dann nämlich, wenn Leser die Kompetenz besäßen, ‚produktiv‘ - also zum Beispiel malend - auf ihre aus der Lektüre stammenden Empfindungen zu reagieren. (Fingerhut 2016a: 52) Welche externen Visualisierungen hierbei im Einzelnen entstehen, hängt auch von den innerhalb des jeweiligen kulturellen Umfelds in multimedialer Abb. 4.12 Lesestrategien und strategiefördernde Lernaufgaben zum Diagramm-Verstehen (blau = am Diagramm-Verstehen beteiligte Kompetenzelemente) Visuelle Modalität beim Literaturverstehen auf der Sekundarstufe II Visuelle Medialität beim Literaturverstehen auf der Sekundarstufe II 230 Sekundarstufe <?page no="240"?> Zirkulation befindlichen Verbildlichungen literarischer Texte ab - von ihren Covers, Illustrationen, Comic- oder Graphic-Novel-Adaptionen, Verfilmungen, Dramatisierungen -, ja sogar von kursierenden Bildern ohne jeden definierten Bezug zur gerade aktuellen fiktionalen Lektüre: „Es erscheint fraglich, ob ein solcher Prozess in einem Kompetenzmodell abgebildet werden kann.“ (Fingerhut 2016a: 53). Ungeachtet dessen schlägt Fingerhut (2016 b) eine auf ebensolches Bildmaterial gestützte literaturdidaktische Elaborationsstrategie vor, eine „ ‚Methode‘ “, „wie man von den ‚Materialien‘, die man zunächst kaum versteht, zu einer Deutung kommt, die dem bisher Unverstandenen einen Sinn zuschreibt“ (Fingerhut 2016b: 107). In Anwendung dieser elaborativen Methode verknüpfen Oberstufenschüler_innen zwei kulturell etablierte Bilder von Paul Klee durch „spekulative, nichtsdestoweniger interessante Zusammenhangsherstellung“ (Fingerhut 2016b: 102) mit dem Erzähltext „Erstes Leid“ von Franz Kafka. Da diese kurze Geschichte nicht zu den bekanntesten aus Kafkas Schaffen zählt, sei sie hier in Gänze wiedergegeben: Franz Kafka: Erstes Leid (1922) Ein Trapezkünstler - bekanntlich ist diese hoch in den Kuppeln der großen Varietébühnen ausgeübte Kunst eine der schwierigsten unter allen, Menschen erreichbaren - hatte, zuerst nur aus dem Streben nach Vervollkommnung, später auch aus tyrannisch gewordener Gewohnheit sein Leben derart eingerichtet, daß er, so lange er im gleichen Unternehmen arbeitete, Tag und Nacht auf dem Trapeze blieb. Allen seinen, übrigens sehr geringen Bedürfnissen wurde durch einander ablösende Diener entsprochen, welche unten wachten[,] und alles, was oben benötigt wurde, in eigens konstruierten Gefäßen hinauf- und hinabgezogen. Besondere Schwierigkeiten für die Umwelt ergaben sich aus dieser Lebensweise nicht; nur während der sonstigen Programmnummern war es ein wenig störend, daß er, wie sich nicht verbergen ließ, oben geblieben war und daß, trotzdem er sich in solchen Zeiten meist ruhig verhielt, hie und da ein Blick aus dem Publikum zu ihm abirrte. Doch verziehen ihm dies die Direktionen, weil er ein außerordentlicher, unersetzlicher Künstler war. Auch sah man natürlich ein, daß er nicht aus Mutwillen so lebte, und eigentlich nur so sich in dauernder Übung erhalten, nur so seine Kunst in ihrer Vollkommenheit bewahren konnte. Doch war es oben auch sonst gesund, und wenn in der wärmeren Jahreszeit in der ganzen Runde der Wölbung die Seitenfenster aufgeklappt wurden und mit der frischen Luft die Sonne mächtig in den dämmernden Raum eindrang, dann war es dort sogar schön. Freilich, sein menschlicher Verkehr war eingeschränkt, nur manchmal kletterte auf der Strickleiter ein Turnerkollege zu ihm hinauf, dann saßen sie beide auf dem Trapez, lehnten rechts und links an den Bildgestützte literaturdidaktische Elaborationsstrategie Textbeispiel (Aus: Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt/ M.: Fischer 1970. S. 155 ff.) 231 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="241"?> Haltestricken und plauderten, oder es verbesserten Bauarbeiter das Dach und wechselten einige Worte mit ihm durch ein offenes Fenster, oder es überprüfte der Feuerwehrmann die Notbeleuchtung auf der obersten Galerie und rief ihm etwas Respektvolles, aber wenig Verständliches zu. Sonst blieb es um ihn still; nachdenklich sah nur manchmal irgendein Angestellter, der sich etwa am Nachmittag in das leere Theater verirrte, in die dem Blick sich fast entziehende Höhe empor, wo der Trapezkünstler, ohne wissen zu können, daß jemand ihn beobachtete, seine Künste trieb oder ruhte. So hätte der Trapezkünstler ungestört leben können, wären nicht die unvermeidlichen Reisen von Ort zu Ort gewesen, die ihm äußerst lästig waren. Zwar sorgte der Impresario dafür, daß der Trapezkünstler von jeder unnötigen Verlängerung seiner Leiden verschont blieb: für die Fahrten in den Städten benützte man Rennautomobile, mit denen man, womöglich in der Nacht oder in den frühesten Morgenstunden, durch die menschenleeren Straßen mit letzter Geschwindigkeit jagte, aber freilich zu langsam für des Trapezkünstlers Sehnsucht; im Eisenbahnzug war ein ganzes Kupee bestellt, in welchem der Trapezkünstler, zwar in kläglichem, aber doch irgendeinem Ersatz seiner sonstigen Lebensweise die Fahrt oben im Gepäcknetz zubrachte; im nächsten Gastspielort war im Theater lange vor der Ankunft des Trapezkünstlers das Trapez schon an seiner Stelle, auch waren alle zum Theaterraum führenden Türen weit geöffnet, alle Gänge freigehalten - aber es waren doch immer die schönsten Augenblicke im Leben des Impresario, wenn der Trapezkünstler dann den Fuß auf die Strickleiter setzte und im Nu, endlich, wieder oben an seinem Trapeze hing. So viele Reisen nun auch schon dem Impresario geglückt waren, jede neue war ihm doch wieder peinlich, denn die Reisen waren, von allem anderen abgesehen, für die Nerven des Trapezkünstlers jedenfalls zerstörend. So fuhren sie wieder einmal miteinander, der Trapezkünstler lag im Gepäcknetz und träumte, der Impresario lehnte in der Fensterecke gegenüber und las ein Buch, da redete ihn der Trapezkünstler leise an. Der Impresario war gleich zu seinen Diensten. Der Trapezkünstler sagte, die Lippen beißend, er müsse jetzt für sein Turnen, statt des bisherigen einen, immer zwei Trapeze haben, zwei Trapeze einander gegenüber. Der Impresario war damit sofort einverstanden. Der Trapezkünstler aber, so als wolle er es zeigen, daß hier die Zustimmung des Impresario ebenso bedeutungslos sei, wie es etwa sein Widerspruch wäre, sagte, daß er nun niemals mehr und unter keinen Umständen nur auf einem Trapez turnen werde. Unter der Vorstellung, daß es vielleicht doch einmal geschehen könnte, schien er zu schaudern. Der Impresario erklärte, zögernd und beobachtend, nochmals sein volles Einverständnis, zwei Trapeze seien besser als eines, auch sonst sei diese neue 232 Sekundarstufe <?page no="242"?> Einrichtung vorteilhaft, sie mache die Produktion abwechslungsreicher. Da fing der Trapezkünstler plötzlich zu weinen an. Tief erschrocken sprang der Impresario auf und fragte, was denn geschehen sei, und da er keine Antwort bekam, stieg er auf die Bank, streichelte ihn und drückte sein Gesicht an das eigene, so daß er auch von des Trapezkünstlers Tränen überflossen wurde. Aber erst nach vielen Fragen und Schmeichelworten sagte der Trapezkünstler schluchzend: „Nur diese eine Stange in den Händen - wie kann ich denn leben! “ Nun war es dem Impresario schon leichter, den Trapezkünstler zu trösten; er versprach, gleich aus der nächsten Station an den nächsten Gastspielort wegen des zweiten Trapezes zu telegraphieren; machte sich Vorwürfe, daß er den Trapezkünstler so lange Zeit nur auf einem Trapez hatte arbeiten lassen, und dankte ihm und lobte ihn sehr, daß er endlich auf den Fehler aufmerksam gemacht hatte. So gelang es dem Impresario, den Trapezkünstler langsam zu beruhigen, und er konnte wieder zurück in seine Ecke gehen. Er selbst aber war nicht beruhigt, mit schwerer Sorge betrachtete er heimlich über das Buch hinweg den Trapezkünstler. Wenn ihn einmal solche Gedanken zu quälen begannen, konnten sie je gänzlich aufhören? Mußten sie sich nicht immerfort steigern? Waren sie nicht existenzbedrohend? Und wirklich glaubte der Impresario zu sehn, wie jetzt im scheinbar ruhigen Schlaf, in welchen das Weinen geendet hatte, die ersten Falten auf des Trapezkünstlers glatter Kinderstirn sich einzuzeichnen begannen. Die sehr bedacht vor kunst- und geistesgeschichtlichem Hintergrund für die Strategieanwendung ausgewählten Bilder von Paul Klee sind „Die Zwitscher- Maschine“ (Abb. 4.13) und „Der Seiltänzer“ (Abb. 4.14; vgl. Fingerhut 2016b: 102-106). Kafkas Kurzgeschichte und Klees Bilder werden ergänzt durch eine zur beschriebenen Elaborationsstrategie hinführende Aufgabenstellung, die den Lernenden bereits inhaltliche Ansatzpunkte bietet: Aufgabe zur Entwicklung einer kulturgeschichtlichen Deutungshypothese In Kafkas Erzählung „Erstes Leid“ steht der Satz: „Nach vielen Fragen und Schmeichelworten sagte der Trapezkünstler schluchzend: ‚Nur diese eine Stange in den Händen - wie kann ich denn leben! ‘“ Klees mechanische Vögel balancieren auf einer schwankenden Kurbel, sein Seiltänzer hält eine überlange Balancierstange in den Händen. Diese scheinbar nebensächlichen Details in Text und Bildern könnten Metaphern für die Probleme sein, denen sich der moderne Künstler gegenübergestellt sieht. Suchen Sie nach Ähnlichkeiten und „übersetzen“ Sie die Bilder (Stangen, Kurbeln) in eine mögliche „Bedeutung“.(Fingerhut 2016b: 107 [Hervorh. i. Orig.]) Bildauswahl Aufgabe zur bildgestützten Elaborationsstrategie 233 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="243"?> Abb. 4.13 Paul Klee: Die Zwitscher-Maschine (1922) Abb. 4.14 Paul Klee: Der Seiltänzer (1923) 234 Sekundarstufe <?page no="244"?> Solch eine „spekulative Zusammenhangsherstellung“ umfasst verknüpfende Rezeption im engeren Sinne, aber auch vergleichendes Schreiben und mündlichen Austausch über Texte und Bilder, jeweils unter Einbezug kulturhistorischen Wissens (vgl. Fingerhut 2016b: 108). Fingerhut erblickt in derartigen elaborativen Verfahrensweisen Mittel zum wenigstens tendenziellen Erwerb der von den Bildungsstandards - etwas realitätsfern - für die Allgemeine Hochschulreife auf ‚grundlegendem Niveau‘ vorgegebenen Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit Literatur, die dem übergeordneten Kompetenzbereich „Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen“ angehören (vgl. Fingerhut 2016b: 108): Die Schülerinnen und Schüler können […] ▶ die besondere ästhetische Qualität eines literarischen Produktes aufgrund eines breit angelegten literarischen Vorwissens erfassen und ihre Befunde in das Textverständnis einbeziehen ▶ diachrone und synchrone Zusammenhänge zwischen literarischen Texten ermitteln und Bezüge zu weiteren Kontexten herstellen […] ▶ literarische Texte auf der Basis von nachvollziehbaren, sachlich fundierten Kriterien bewerten und dabei auch textexterne Bezüge wie Produktions-, Rezeptions- und Wirkungsbedingungen berücksichtigen (KMK 2012: 20 f.). Weitere, ebenfalls verständnisfördernde Umgangsweisen mit literarischen Texten, etwa mit Kafkas „Erstes Leid“, bestehen im Einsatz der Wiederholungsstrategie des am Originalwortlaut angelehnten Nacherzählens, der Elaborationsstrategie des sprachlich selbständigeren Paraphrasierens und der Ordnungsstrategie des reduktiven Zusammenfassens. Werden die so entstandenen Texte dann im wechselseitigen Abgleich und mit Blick auf die literarische Vorlage ausgewertet, so dienen sie der metakognitiven Verstehensprüfung, dem Erkennen und Hinterfragen der jeweils eigenen Aussparungen und Schwerpunktsetzungen: Diese nämlich „zeigen […] etwas an über die Bedeutung, die der/ die Schreibende den einzelnen Details zumisst“. So vernachlässigt der eine „die skurrilen Elemente der Erzählung wie die Reise im Gepäcknetz des Zugabteils und die Tränen, unter denen der Wunsch nach dem zweiten Trapez geäußert“ wird, während die andere ihnen besondere Aufmerksamkeit widmet (Fingerhut 2016b: 109; vgl. zu den Lesestrategien Kap. 10). Die hier vorgestellten Literatur-Lesestrategien für die Sekundarstufe II müssten, um den Bildungsstandards ‚auf erhöhtem Niveau‘ Genüge zu tun, bei den Lernenden Folgendes bewirken: Teilleistungen der bildgestützten Elaborationsstrategie Bildungsstandards für die Sekundarstufe II - auf grundlegendem Niveau Weitere Literatur- Lesestrategien Bildungsstandards für die Sekundarstufe II - auf erhöhtem Niveau 235 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="245"?> Die Schülerinnen und Schüler können […] ▶ in ihre Erörterung der in literarischen Werken enthaltenen Herausforderungen und Fremdheitserfahrungen geistes-, kultur- und sozialgeschichtliche Entwicklungen einbeziehen ▶ ihre literarischen Wertungen differenziert begründen und dabei auf ihr [gegenüber dem ‚grundlegenden Niveau‘; TJ] größeres und komplexeres Kontextwissen zurückgreifen (KMK 2012: 21). Dass derartige Erfolge durch strategie- und kompetenzorientierte Aufgaben im Literaturunterricht der Oberstufe sicherzustellen wären, lässt Fingerhuts eigener Erfahrungsbericht kaum hoffen. Sein bilanzierendes Diktum über die Bildungsstandards schließt denn auch an deren kritische Betrachtung zu Beginn dieses Buches nahtlos an und soll hier als Schlusswort dienen: Ich muss feststellen: Die Formulierungen der KMK-Standards sind keine Regel-, sondern Maximalstandards. Sie zu erreichen können Lehrende sich vornehmen, zu behaupten, sie würden allgemein erreicht, ist - didaktische Hochstapelei. (Fingerhut 2016b: 111) Übungen 1. Für welche Schüler_innen auf der Sekundarstufe I sind Lautleseverfahren in erster Linie angebracht? 2. Bis zu welchen Klassenstufen sollte die Leseflüssigkeit leseschwacher und lesestärkerer Kinder gefördert werden? Welche Methoden kommen hierfür jeweils in Frage? 3. Reflektieren Sie unter empirischen und didaktischen Aspekten die Wirkung von Lautleseverfahren auf Lesemotivation und Leseselbstkonzept. 4. Welche Funktionen erfüllt im Lesestrategie-Programm „Wir werden Textdetektive“ ein Leseplan? 5. Welche Schüler_innen der frühen Sekundarstufe I profitieren auf der Prozessebene vom Lesestrategie-Programm „Wir werden Textdetektive“? 6. Inwiefern zielt das Lesestrategie-Programm „Wir werden Textdetektive“ auch auf die Subjektebene im Mehrebenen-Modell des Lesens? 7. Geben Sie Beispiele dafür, welche Rolle visuelle Medialität und Modalität im lesestrategischen Deutschunterricht der Sekundarstufe II spielen können. 8. Reflektieren Sie die Angemessenheit der Bildungsstandards für die Sekundarstufe II bezogen auf die Rezeption faktualer und fiktionaler Texte. 9. Ordnen Sie die Elaborationsstrategie der lesenden, betrachtenden, schreibenden und mündlich beratenden Herstellung von Zusammenhängen Überforderung durch Maximalstandards �� 236 Sekundarstufe <?page no="246"?> zwischen Gemälden und fiktionaler Literatur begründet in das deutschdidaktische Würfelmodell ein. Markieren Sie auch die beteiligten Sinnesmodalitäten, die anders als in der DCT nicht nur an das grafische und fonische Medium gebunden sein müssen. In der Grafik mitberücksichtigt ist zudem die in der rezeptiv orientierten DCT ausgeblendete Schreibmotorik (ob nun von Tastatur oder Stift herrührend). 237 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="247"?> Verwendete und weiterführende Literatur Artelt, Cordula, Petra Stanat, Wolfgang Schneider u. a. (2001): Lesekompetenz: Testkonzeption und Ergebnisse. In: Jürgen Baumert, Eckhard Klieme, Michael Neubrand u. a. = Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Dube, Juliane (2014): „Ich kann jetzt besser lesen“. Konzeptionierung, Transfer und Evaluation eines Recreational Reading Programs in der Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. Fingerhut, Karlheinz (2016 a): Franz Kafka: „Die Verwandlung“ im kompetenzorientierten Literaturunterricht. In: Günter Graf, Urban Büchel, Karlheinz Fingerhut u. a.: Facetten eines kompetenzorientierten Literaturunterrichts in der Sekundarstufe II. Am Beispiel aktueller Pflichtlektüren des Zentralabiturs. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. S. 49-84. Fingerhut, Karheinz (2016 b): Franz Kafkas „Erstes Leid“ im kompetenzorientierten Literaturunterricht. In: Günter Graf, Urban Büchel, Karlheinz Fingerhut u. a.: Facetten eines kompetenzorientierten Literaturunterrichts in der Sekundarstufe II. Am Beispiel aktueller Pflichtlektüren des Zentralabiturs. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. S. 85-112. Frickel, Daniela, Clemens Kammler, Gerhard Rupp (2012) (Hg.): Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Perspektiven und Probleme. Freiburg/ Br.: Fillibach. Gold, Andreas (2007): Lesen kann man lernen. Lesestrategien für das 5. und 6. Schuljahr. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Gold, Andreas, Judith Mokhlesgerami, Katja Rühl u. a. (2004): Wir werden Textdetektive. Lehrermanual. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Gold, Andreas, Judith Mokhlesgerami, Katja Rühl u. a. (2005): Wir werden Textdetektive. Arbeitsheft. 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Gold, Andreas, Elmar Souvignier (2012): Texte besser verstehen und behalten - die Methoden der Text- und Lesedetektive. In: Maik Philipp, Anita Schilcher (Hg.): Selbstreguliertes Lesen. Ein Überblick über wirksame Leseförderansätze. Seelze: Kallmeyer Klett. Gold, Andreas, Daniel Nix, Carola Rieckmann u. a. (2010): Bedingungen des Textverstehens bei leseschwachen Zwölfjährigen mit und ohne Zuwanderungshintergrund. In: Didaktik Deutsch 16 H. 28. S. 59-74. Graf, Günter (2014) (Hg.): Theorie und Praxis des kompetenzorientierten Deutschunterrichts. Am Beispiel von Sprach-, Schreib- und literarischer Kompetenz. Unterrichtspraktische Bausteine zu den Jahrgangsstufen 5-13. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. Kalkavan, Zeynep (2012): Lesen und Textverstehen in der Zweitsprache. Berlin: Cornelsen. KMK = Kultusministerkonferenz (2012): Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife. http: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18-Bildungsstandards- Deutsch-Abi.pdf (19.09.2017). 238 Sekundarstufe <?page no="248"?> Köster, Juliane, Iris Winkler (2015): Lesen. In: Michael Becker-Mrotzek, Michael Kämper-van den Boogaart, Juliane Köster, Petra Stanat, Gabriele Gippner, unter Mitarbeit von Michaela Mörs, Lars Hoffmann (Hg.): Bildungsstandards aktuell: Deutsch in der Sekundarstufe II. Braunschweig: Bildungshaus Schulbuchverlage, Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). S. 120-175. Mahling, Marina (2016): Lesepraxis von Kindern und Jugendlichen. Die Bedeutung von Familie, Schule und Peers für die Beschaffung und Nutzung von Lesestoffen. Berlin: de Gruyter. Meyer, Stefanie (2009): Entwicklung und Evaluation eines Trainings zur Förderung der Lesekompetenz und Lesemotivation (LekoLemo) für die Sekundarstufe I. Bielefeld: Universität Bielefeld. Rieckmann, Carola (2010): Leseförderung in sechsten Hauptschulklassen. Zur Wirksamkeit eines Vielleseverfahrens. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. Rosebrock, Cornelia, Carola Rieckmann, Daniel Nix u. a. (2010): Förderung der Leseflüssigkeit bei leseschwachen Zwölfjährigen. In: Didaktik Deutsch 16 H. 28. S. 33-58. Rosebrock, Cornelia, Heike Wirthwein (2014): Standardorientierung im Lese- und Literaturunterricht der Sekundarstufe I. Mit Aufgabenbeispielen von Bernhard Rank, Daniel Scherf, Kaspar H. Spinner, Julia Starz, Nadine Zimmer und den Autorinnen. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. Schnotz, Wolfgang, Stephan Dutke (2004): Kognitionspsychologische Grundlagen der Lesekompetenz: Mehrebenenverarbeitung anhand multipler Informationsquellen. In: Ulrich Schiefele, Cordula Artelt, Wolfgang Schneider u. a. (Hg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: VS. S. 61-99. Souvignier, Elmar, Lilian Streblow, Manfred Holodynski u. a. (2007): LEKOLEMO - Ein Programm zur Förderung von Lesekompetenz und Lesemotivation. In: Meike Landmann, Bernhard Schmitz (Hg.): Selbstregulation erfolgreich fördern. Praxisnahe Trainingsprogramme für effektives Lernen. Stuttgart: Kohlhammer. S. 70-88. Zimmer, Nadine (2014): Aufgabenbeispiel: Lesen kooperativ üben (5./ 6. Klasse). In: Cornelia Rosebrock, Heike Wirthwein: Standardorientierung im Lese- und Literaturunterricht der Sekundarstufe I. Mit Aufgabenbeispielen von Bernhard Rank, Daniel Scherf, Kaspar H. Spinner, Julia Starz, Nadine Zimmer und den Autorinnen. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. S. 36- 41. 239 Themenblock 4 Leseförderung - Sekundarstufe I und II <?page no="250"?> Nachwort Dieses Nachwort knüpft an ein Schlusswort von Karlheinz Fingerhut an: Am Ende des letzten Kapitels in diesem Lehrbuch verwahrt sich das 2018 verstorbene Urgestein der Deutschdidaktik gegen „didaktische Hochstapelei“. Eine Verführung zu solchem Betrug sieht Fingerhut von den Maximalforderungen der Bildungsstandards ausgehen. Etwas von der hier erkennbaren Urteils- und Kritikfähigkeit haben sich hoffentlich auch die Studierenden während der Lektüre dieser Einführung erwerben können. Mut zur Mündigkeit nicht nur bezüglich bildungspolitischer Vorgaben, sondern auch bezüglich interner didaktikwissenschaftlicher Positionen und Debatten hat sie vermitteln wollen. Die verschiedenen didaktischen Modelle, auf die sie sich durchgehend stützt, können dabei durch ihre wiederkehrende und zugleich flexible Systematik als Instrumente gedanklicher Verselbständigung dienen. Solche Eigenständigkeit ist wichtig für das weitere Studium und später auch für den Beruf als Lehrkraft an der Schule. Den Überblick, den dieses Lehrbuch vor allem über Basiskenntnisse bietet, gilt es bezüglich der medial vielfältigen Gegenstände des Deutschunterrichts aus fachlicher wie didaktischer Sicht zu ergänzen und zu vertiefen. Dafür bedarf es weiterführender fachwissenschaftlicher und didaktikwissenschaftlicher Lektüre, die von den Literaturangaben in dieser Einführung ausgehen kann. Sie sollte aber auch den Anregungen in den besuchten Lehrveranstaltungen und nicht zuletzt eigenen Recherchen in den Beständen und Datenbanken der Hochschulbibliotheken folgen. Diese halten in der Regel auch die wichtigen Didaktikzeitschriften aktuell und gut zugänglich bereit. Insgesamt kommt es darauf an, die Entwicklungen der relevanten Forschungszweige stets zu beobachten und sich im Studium sowie über das Studium hinaus auf dem Laufenden zu halten. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf intellektuell wache Lehrpersonen, insbesondere, wenn ihnen ein bildungsfernes Elternhaus nicht die Impulse hat geben können, von denen die Gleichaltrigen aus bildungsnahen Elternhäusern so sehr profitieren. 241 Nachwort <?page no="252"?> Abkürzungen BICS basic interpersonal communicative skills CALP cognitive/ academic language proficiency DaF Deutsch als Fremdsprache DaZ Deutsch als Zweitsprache DCT Dual-Coding-Theorie DFU Deutschsprachiger Fach-Unterricht EPA Einheitliche Prüfungsanforderungen des Abiturs FM Fördermaterial GKS Groß- und Kleinschreibung GPK Grafem-Fonem-Korrespondenz GROR Guided Repeated Oral Reading with Feedback GZS Getrennt- und Zusammenschreibung IGLU Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchungen IPA International Phonetic Alphabet IQB Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen KMK Kultusministerkonferenz L1 Erstsprache L2 Zweitsprache LIX Lesbarkeitsindex LRS Lese-Rechtschreib-Schwäche LVD Lernverlaufsdiagnostik NICHD National Institute of Child Health and Human Development NRP National Reading Panel OECD Organisation for Economic Co-operation and Development PISA Programme for International Student Assessment ScSR Scaffolded Silent Reading SPRAAK Sprachregister angemessen anwenden können SSR Sustained Silent Reading 243 Abkürzungen <?page no="254"?> Sachregister 3-Finger-Strategie 159 3-Phasen-Modell 194 affektiv 45, 128, 167 f., 181 f. akustisch VIII, 26, 28, 32, 79, 82, 91, 103, 126, 167 f., 177, 181 f. Akzentmodell 99 f., 102, 104 Allgemeine Hochschulreife 3 f., 15, 28, 113, 223, 235 Allofone 94 Alltagserzählung 43 f. Alltagssprache 191-193, 197 alphabetisch 89 f., 93-97, 104, 115, 117, 119, 122, 135 f. amtliches Regelwerk (ARW) Rechtschreibung 99, 106 analytisch-synthetisch 114 Anfangsunterricht 104, 122, 156 Anschlusskommunikation 65, 81 f., 132, 162, 206 Artikelfähigkeit 107-110 Artikelprobe 107 Attribuierbarkeit 107-109 Ausbalancierter Ansatz 173 Automatisierung 96, 126, 136 f., 139, 141, 143, 145, 168, 213, 219 Autor_instanz 68-71 basic interpersonal communicative skills (BICS) 191-193 Begleitetes Lautlesen 138-140, 144, 211 BICS s. basic interpersonal communicative skills (BICS) Bildungssprache 122, 190-192 Bildungsstandards 3-11, VIII, 15 f., 20, 27-29, 77, 213, 223 f., 235 f. Binnendifferenzierung 118, 200 bottom up 150 Buchauswahl-Strategien 159 CALP 191 f., 194 Curriculum 9, 111, 132 DaZ s. Deutsch als Zweitsprache DCT s. Dual-Coding- Theorie (DCT) Decodiergenauigkeit 135-137, 140, 143, 145 Dehnungs-<h> 98 Deutsch als Erstsprache 40 Deutsch als Fremdsprache s. DaF Deutsch als Zweitsprache VII, 2, 40, 120-122, 154 f., 193, 199, 209 Deutschsprachiger Fach-Unterricht (DFU) 193 Diagnose 114, 118 f., 121, 137 f., 144 f. Diagramm-Verstehen 223, 225 f., 229 f. didaktisch-methodische Analyse 226 diskontinuierliche Texte 220, 222, 224 Distanzkommunikation 26, 28 f., 32, 79, 83, 112 f., 122, 181, 190, 194, 226, 228 f. Distanzsprache 17-19, 21, 27, 197, 228 f. Dual-Coding-Theorie (DCT) 167-171, 175-181, 214, 223 Einfachheit 48 Einwortphase 38 Einzeldiagnose 142 Einzelförderung 142-145, 149 Einzelunterricht 143, 149 245 Sachregister <?page no="255"?> Elaborationsstrategien 150, 152, 155 f., 179, 214, 224, 227-231, 233, 235 Empathie 204 f. empirische Forschung 6, 10 empirische Operationalisierung 10 Entwicklungsplateau 78, 80 Entwicklungspsychologie 75, 77 Episodenkette 48-52 Erstsprache 40 f., 122, 193 Erstspracherwerb 40 f., 195 Erwartungsbildung 151, 153 f., 214 Erwartungsbruch 47 f., 53, 82 Erzählen VII, 41, 43-45, 48, 52, 59, 82, 126 erzählendes Ich 44, 68, 70 f. erzählerische Unzuverlässigkeit 68 f. Erzählerwerb 44, 79 Erzählinstanz 49, 68 f. Erzähl-Schema 46 erzähltes Ich 44, 68, 70 f. Erzählwürdigkeit 47 f. Expertise 5 f., 9 Expertise Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards 5 externe Visualisierung 171, 173, 179, 181, 230 Fachsprache 121, 190-192, 194 f., 198-200 Fachsprachendidaktik 192 fachsprachlich 122, 191, 193-200, 203 Fähigkeiten-Ansatz 172 f. faktual 68, 81, 121, 130, 146, 160, 181 f., 205, 219 f. Familiensprache 121, 190 Fast-Mapping 39 Fibel 104, 122 Fibellehrgang 103, 122 figurale Perspektive 44 fiktional 43 f., 47, 52, 60 f., 65, 68, 81 f., 88, 121, 128, 130, 146, 156, 160, 167, 181, 203, 205, 219, 230 f. fiktionale Literatur 60, 68 Fiktionsbewusstsein 43, 82 Fonem-Inventar 94 Fonetik 38, 91 fonetische Notation 91 fonisch 18, 21, 26, 28, 32, 79, 82, 91, 126, 168, 178 f., 181, 190, 192 Fonologie 38, 91 fonologisch 38, 79, 91, 97, 104, 122 fonologische Bewusstheit 38, 79, 122 fonologische Notation 91 Förderung 66, 112, 114, 118, 121 f., 135-138, 142-144, 146, 149 f., 154 f., 160, 162, 173, 175, 190, 192, 194, 198, 200, 210, 212 f., 221, 223 Förderunterricht 122 Ganzheitlicher Ansatz 172 f. Gelenkschreibung 99 Genre-Kreis 160 f. Geschichte 44-48, 52, 171, 173, 231 Getrennt- und Zusammenschreibung 105 f. GKS s. Groß- und Kleinschreibung globale Kohärenz 134, 150, 162, 214, 221, 224, 226 f., 229 GPK-Regeln 95 Grafem-Fonem-Korrespondenz 93-95 Grafem-Inventar 93 f. grafematische Notation 91 grafisch 18, 21, 26, 29-32, 79, 82, 91, 98, 112, 126, 167 f., 179, 181, 190, 192-194, 198, 206, 220, 225-229 Grammatik 94, 121 f. Grammatikerwerb 39 f. grammatisch 122 GROR s. Guided Repeated Oral Reading with Feedback (GROR) 246 Sachregister <?page no="256"?> Groß- und Kleinschreibung 105, 110 f. Großschreibung 105 f., 108-111 Grundschule VII, 45, 59, 66, 81, 104, 110, 114, 122, 134, 139-141, 150-154, 157, 190, 195 Grundschulzeit 44, 59, 71, 78, 102, 104, 126, 141, 190 Grundstruktur des Scaffolding 197 Guided Repeated Oral Reading with Feedback (GROR) 158, 160 gustatorisch 167 f., 181 f. GZS s. Getrennt- und Zusammenschreibung Handlungs- und Produktionsorientierung 182 Handlungsschema 52 Handlungsstruktur 45, 49 Hauptschulabschluss 212 Heuristik 126 f., 130, 132 hierarchiehohe Prozesse 134 f. hierarchiehohe Prozessebene 150, 155, 214, 220, 223 f. hierarchieniedrige Prozesse 133-135, 139 hierarchieniedrige Prozessebene 135, 139, 155, 209, 213 Hördidaktik 182 Identifikation 127-129, 203, 205 Identitätsorientierter Literaturunterricht 203 Imagen 168 f., 181 Imagination 178 Individualisierung 141 f., 145, 149, 154, 161, 212 Inferenz 171, 227 Inferenzbildung 171, 227 Information 48, 171, 176 Inklusion 143 Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) 223 Instruktion 145 f., 150 instruktionalistisch 172 f. integrativ 21, 30 f., 75, 77, 121, 126, 132, 200, 203, 206 International Phonetic Alphabet (IPA) 91 Internationale Grundschul-Lese-Untersuchungen (IGLU) 120 interne Visualisierung 170-174, 177 f., 180, 230 intonatorisch 104 Introjektion 128 Kinderbuch 59, 66 Kinderlektüre 71, 126 Kinderliteratur 44, 52, 59, 170 Klassenlautlesen 140 f. KMK s. Kultusministerkonferenz (KMK) Ko-Konstruktion 75 Kognitionspsychologie 47 kognitive Lesestrategien 150, 152 kognitive Selbstregulation 216, 218 f. Komik 52 Kommunikationsmodell 68 Kompetenz 2-4, 6-11, 27 f., 30, 80 f., 83, 121, 128, 131, 143, 180, 203, 205, 219, 223 f., 230 Kompetenz-Definition 8 Kompetenzbegriff 8 Kompetenzbereiche 3 f., 9, 11, 16 f., 20, 26-29, 31, 113, 223, 235 Kompetenzentwicklung 9 Kompetenzerwerb 9, 77, 80, 121 Kompetenzmodell 6, 9, 220, 231 Kompetenzprofil auf dem Plateau der Emergenz/ Interpersonalität 82 f. Kompetenzprofil auf dem Plateau der Heuristik/ Autonomisierung 139 247 Sachregister <?page no="257"?> Kompetenzprofil auf dem Plateau der Konsolidierung/ Ausdifferenzierung 207 Kompetenzstufen 11 Kompetenzstufenmodell 10 f. Konsonantenverdoppelung 98-100, 102-104 Konstruktivismus 175 f., 179 kontinuierliche Texte 220 Konzept 4, 18, 26 f., 32, 79, 82 f., 112 f., 136, 142, 191, 226 Konzept der Distanz 82, 226 Konzept der Nähe 32, 82, 113, 191, 226 konzeptionelle Mündlichkeit 18-21 konzeptionelle Schriftlichkeit 19, 21 kooperative Lesepartnerschaften 143-145 Kultusministerkonferenz (KMK) 3, 6, 10 L1 40 f., 120 f., 149, 192, 194, 200, 205, 209 L2 40, 120-122, 143-145, 149, 156, 191 f., 194 f., 199 f., 205, 209 LaBerge-Samuels-Modell 168 Lautes Denken 174 f. Lautlese-Studie 140, 142 f., 145, 148, 211 Lautlese-Tandem 139, 141, 211 f. Lautlesen 137-140, 142, 144, 158, 160, 212 Lautleseverfahren 135, 138, 140-142, 145, 149, 168, 209-213 Leerstellen 69, 226, 229 LEKOLEMO 220-223 Lektüreautobiografie 63, 67 Lernpsychologie 11 Lernverlaufsdiagnostik 145 f., 148 f. Lernwörter 117 f. Lesbarkeitsindex LIX 142, 212 Leseanimation 156, 161 f., 167, 209, 213 Leseautobiografie 59, 62-71 Leseautobiografieforschung 59, 62, 132, 212 lesebezogenes Selbstkonzept 133, 140 Lesebiografie 75 Lesebiografieforschung 77, 127 Lesedidaktik 142, 167 f., 170 Lesefahrplan 221 Leseflüssigkeit 135-138, 140 f., 143-146, 149, 159 f., 168, 209 f., 212 f. Leseförderung 2, VIII, 131, 134, 143 f., 155-157, 162, 167, 209, 212 Lesegeschwindigkeit 137 f., 140, 143, 145, 213 Leseklima 65, 71, 75 Lesekompetenz 67, 70 f., 81 f., 121, 133, 135, 155, 221-223 Lesekompetenzmodell 220 Lesekrise 59-62 Lesemodi 61 f., 204 f. Lesemotivation 140, 159, 211-213, 221 f. Lesen 4, 30 f., 43, 59, 61 f., 64 f., 67, 69-72, 79, 81, 88, 96, 98, 106, 109, 117, 120 f., 127-129, 132 f., 136 f., 139 f., 144, 146, 150, 153 f., 158, 161, 167 f., 170, 176, 203 f., 206, 209, 211, 213-216, 219, 223 Leseplan 216-219 Lese-Rechtschreib- Schwäche 121 Lese-Rechtschreib- Schwierigkeiten 121 Leseselbstkonzept 140, 211-213 Lesesozialisation 59-62, 64, 75 f., 114, 162 Lesesozialisationsforschung 59, 65, 77, 170 Lesesozialisationsinstanz 62 Lese-Sprinter 146 Lesestrategien 70, 149-155, 167, 178 f., 248 Sachregister <?page no="258"?> 206, 209, 214-216, 218-224, 226, 230, 235 Leseverstehen 135, 141, 144, 149 f., 154, 159 f., 165, 167 f., 175, 179, 181, 209, 219 f. lexikalisch 104-106, 109 f., 122 Literacy 8 Literalität 78 f., 127, 190, 205 literarische Kommunikation 43, 53 literarische Sozialisation 45, 59, 65, 70 f., 78, 205 Literarisierung 43 f., 126, 157, 162 Literarität 79, 127, 190, 205 LIX s. Lesbarkeitsindex Logogen 167-169, 181 logografemisch 79, 88-91, 93, 96, 117 f. lokale Kohärenz 134, 137 LRS s. Lese-Rechtschreib-Schwäche Makro-Scaffolding 199 Makrostruktur 134 Matrix didaktisch-methodischer Grundausrichtungen 171 f. Maximalstandards 6, 236 medial fonisch 48, 91, 168, 181, 193-195, 198, 225 f. medial grafisch 88, 113, 167, 195, 225 medial mündlich 16, 18 f. medial schriftlich 16 medial visuell 222 f., 228 f. Medialität VIII, 220, 222, 230 Medium 18, 21, 26-28, 32, 44, 66, 82, 112, 126, 167, 179, 181, 205, 227 Mehrebenen-Modell des Lesens 131-134, 156, 209, 220, 224 Mehrsprachigkeit 88, 121 mentales Lexikon 97, 118, 138 f., 168 mentales Modell 133, 150, 168, 170 Metakognition 171 metakognitive Selbstkontrolle 171, 206 metakognitive Strategien 151 f., 155 f., 206, 214 f., 224, 227 metakognitive Verstehensprüfung 227, 235 Metapher 176-178, 233 Metaphorik 128, 146, 177 metaphorisch 177 Metrum 177 Migrationshintergrund 40 f., 121, 141, 155, 205, 209 f. Mikro-Scaffolding 199 Mindeststandards 5 f. Mittlerer Schulabschluss 4, 7, 212 Modalität 181, 223, 229 f. Modell der literalen und literarischen Entwicklung 80 Modelle der Stilisierung von Leseautobiografien 66, 70 f. Monitoring 171, 206 morphematisch 96 f., 101, 104, 156 morphematische Bewusstheit 96 Morphemkonstanz 96, 101 Morphemtypen 96 motivationale Selbstregulation 219 motorisch 167 f., 181 f. Multimedia-Learning 179 multimedial 27, 45, 179-181, 230 Multimedialität 26, 181 multimodal 167 f., 181 f. Multimodalität 167, 169 f., 179-181 Nähekommunikation 19, 26, 28, 83, 181, 191, 193, 226 Nähesprache 18, 228 Narration 46 narrativ 46-48, 52, 62, 167 narratologisch 67-69 narratoriale Perspektive 44 249 Sachregister <?page no="259"?> National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) 157 National Reading Panel (NRP) 157 Nominalgruppe 108 Nominalphrase 106-108, 110 f., 137, 139 Oberstufe 3 f., 132, 224, 228, 236 OECD 8 olfaktorisch 167 f., 181 f. Ordnungsstrategien 150, 152 f., 155 f., 214 f., 227, 235 Organisationsstrategien 150, 214 orthografisch 89 f., 96-98, 104, 109, 112, 114 f., 122 phrasiertes Lesen 137 PISA 6, 8, VIII, 209, 220, 223 Plateau der Emergenz und Interpersonalität 78, 132 Plateau der Heuristik und Autonomisierung 126, 130, 132 Plateau der Konsolidierung und Ausdifferenzierung 203, 206 Plateaus der literalen und literarischen Entwicklung 79 f., 127, 206 primäre literarische Initiation 59, 66 Primarstufe 2, VII, 28 f., 31, 38, 59, 83, 87, 110-112, 114, 120-122, 126, 131 f., 135-137, 139-142, 145, 149-151, 154-157, 159, 161, 167, 190, 209, 211 f., 214 Produktion 26, 28 f., 38-40, 47, 79, 88-90, 113, 126, 181, 192-195, 198, 227-229 Projektion 203-205 Prosodie 103, 122, 137, 139 Prozessebene 133-135, 162, 212, 214, 219 f., 222 Psychometrie 11 Randomisierung 158 Rechtschreiben 117, 121 Rechtschreibrahmen Baden-Württemberg 104 Reciprocal Teaching 154 Reduktionssilbe 99, 103 f. Reduktionsvokal 99 Referierbarkeit 108 f., 111 Regelstandards 5 f. Regelunterricht 121 f., 144, 149, 156, 200 Register 113, 190-192 Rezeption VIII, 26, 28, 31 f., 38, 40, 47, 65, 70, 81, 88-90, 113, 126, 167, 181, 193 f., 198, 205, 220, 223, 227-229, 235 Rezeptionsästhetik 175, 178 rezeptionsästhetisch 175 f. Rolle 26 f., 32, 88, 90, 113, 181, 193 f., 198, 227-229 Sachanalyse 225 f. satzinitiale Großschreibung 105, 107 satzinterne Großschreibung 106-108 Scaffolded Silent Reading (ScSR) 157 f., 160-162 Scaffolding 194 f., 197-200 Schärfungsschreibung 98, 103 f. Schema 46-48, 52, 96 Schema einer Geschichte 47 Schematheorie 47 Schreibsilbe 97 f. Schriftsprache 2, 93, 103, 112, 114, 127, 136 Schriftspracherwerb 38, 59, 79, 83, 88-91, 93-96, 102, 112-115, 117 f., 120, 122, 126 f., 132, 135-137, 167 f., 200 Schulgrammatik 105 schulische Lesekultur 162 Schwa-Laut 99 250 Sachregister <?page no="260"?> ScSR s. Scaffolded Silent Reading (ScSR) sekundäre literarische Initiation 61, 204 Sekundarstufe 2 f., VII, 4, 28 f., 31, 59-61, 80, 83, 104, 132, 134 f., 140, 149, 156, 189 f., 192, 195, 203, 209, 211-214, 219 f., 223, 225, 229 f., 235 Sekundarstufe I 2 f., VII, 28 f., 31, 59, 104, 132, 134 f., 140, 149, 156, 192, 203, 209, 211-214, 219 f., 225 Sekundarstufe II 3 f., 29, 31, 60 f., 213, 223, 229 f., 235 Selbstkonzept als Leser_in 133, 135, 140, 157, 211 Selbstkonzept als Leser_in oder Nicht- Leser_in 133 Sequenz 48, 51 f. Sichtwörter 117 f. Sichtwortschatz 97, 136, 138 f. silbenanalytisch 103 f. Silbenanalytische Methode 97, 103 Silbengelenk 98 f. Silbengelenkmodell 99-104 silbenöffnendes <h> 98 f. silbenschließendes <h> 98 Silbentrennung 99 silbisch 97-99, 102-104 Simulation 181 f. Sinnesmodalitäten VIII, 179, 181 f. Soziale Ebene 132 f., 156, 162, 221 f. Sozialisationsinstanzen 59, 78 SPRAAK (= Sprachregister angemessen anwenden können) 194 Sprachbewusstheit 24, 126 Sprache der Distanz 17 f. Sprache der Nähe 17 f. Spracherwerbsforschung 38, 77, 121 Sprachregister 191 f., 194 sprachsensibler Fachunterricht 121, 193 f. sprachwissenschaftliche Notationen 91 f., 94, 97 Sprechsilbe 98 SSR s. Sustained Silent Reading (SSR) Standards 4, 6, 9-11, 29, 236 Strukturalismus 48 strukturalistische Literaturwissenschaft 48 Subjektebene 132 f., 135, 140, 156 f., 209, 211, 219, 221 f. substanzialistisch 176 Substitution 128, 203, 205 Superstrukturen 134, 155, 220 Sustained Silent Reading (SSR) 157-159, 213 syntaktisch 39-41, 104-111 szenisches Spiel 182 taktil 167 f., 181 f. temporale Permutation 48 Textbegriff 26 Textdetektive 214-221, 223, 225 Textreferenz 109 Textschwierigkeit 142, 144 f., 159, 212 Textstrategien 134 textual 104, 109-111 Textverständnis 176, 212 f., 230, 235 Textverstehen 81, 134, 136 f., 139, 141, 172, 175, 178 f., 213, 220 Theaterdidaktik 182 top down 150 Treppengedicht 110 f. Unbestimmtheitsstellen 175 Verbzweitstellung 39-41 Versprachlichungsstrategien 19-21 Viellesen 156 f., 161 Vielleseverfahren 156 f., 160, 162, 209 f., 213 Visualisierung 27, 170-175, 178 f., 214, 220 Visualisierung in fünf Phasen 173 251 Sachregister <?page no="261"?> visuell VIII, 26, 29-32, 79, 82, 88, 126, 167 f., 171, 177-179, 181 f., 220, 222 f., 225-227, 229 Vorlesefähigkeit 137-139, 143, 145 Vorlesegespräch 43 f., 132 Vorlesen 59, 65 f., 82, 126, 136-139, 161, 167, 170 Vorschulzeit VII, 37, 59, 66, 69-71, 83, 132, 190 Vorstellungsbildung 179, 229 Vorwissen 133, 151, 153, 155, 174, 194, 228, 235 Vorwissensaktivierung 153-155, 214 weiterführendes Lesen 126, 142, 150, 156 Weltwissen 150, 171 Wiederholtes Lautlesen 138-140, 146, 149, 168, 211 Wiederholungsstrategien 151, 155 f., 235 Wortlesen 96 f., 115-117 Wortschatz 39, 94, 121 f., 155, 196 Wortschatzkiste 111 f. Wortschatzspurt 39 Würfel der Deutschdidaktik 27-31, 88, 91, 112, 179, 181, 192 f., 227-229 Zone der nächsten Entwicklung 197 f. Zweisprachigkeit 121 Zweitsprache 40, 48, 120, 122, 194, 196 Zweitspracherwerb 2, 38, 40, 45, 48, 91, 155, 191, 195 Zwei-Wege-Modell 96 f., 117 f. 252 Sachregister <?page no="262"?> Rechtsnachweise Abb. 1.5: Knapp, Werner, Cordula Löffler, Claudia Osburg, Kristina Singer (2011): Sprechen, schreiben und verstehen. Sprachförderung in der Primarstufe. Seelze: Klett/ Kallmeyer, S. 20. © 2010 Friedrich Verlag Abb. 1.6: Günther, Hartmut (1997): Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Heiko Balhorn, Heide Niemann (Hg.): Sprachen werden Schrift. Mündlichkeit - Schriftlichkeit - Mehrsprachigkeit. Lengwil am Bodensee: Libelle. S. 64-73, hier S. 66. © Harmut Günther Abb. 2.4: Hurrelmann, Bettina, Susanne Becker, lrmgard Nickel-Bacon (2006): Lesekindheiten. Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel. Weinheim: Juventa, S. 24. © 2005 Juventa in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel Abb. 3.3: Ossner, Jakob (2008): Sprachdidaktik Deutsch. Eine Einführung für Studierende. 2. Aufl. Paderborn: Schöningh UTB, S. 244. © 2008 Schöningh Abb. 4.5: Rosebrock, Cornelia, Carola Rieckmann, Daniel Nix u. a. (2010): Förderung der Leseflüssigkeit bei leseschwachen Zwölfjährigen. In: Didaktik Deutsch 16 H. 28. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 33-58, hier S. 39. © 2010 Schneider Verlag Hohengehren Abb. 4.7: Gold, Andreas, Judith Mokhlesgerami, Katja Rühl u. a. (2005): Wir werden Textdetektive. Arbeitsheft. 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 44. © 2005 Vandenhoeck & Ruprecht Textbeispiel, S. 24: Boie, Kirsten (2009): Ich ganz cool. Hamburg: Oetinger, S. 8 f. © Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2009 Textbeispiel, S. 33: Ideen Deutsch. Sprach- und Lesebuch. 5. Jahrgangsstufe. Braunschweig: Schroedel 2009, S. 79. © 2009 Westermann Gruppe 253 <?page no="263"?> Textbeispiel, S. 35 f.: Aufgabengestaltung aus: Praxis. Sprache & Literatur 10 Gymnasium. Braunschweig: Westermann 2009, S. 190 f. © Westermann Gruppe. Erzählung aus: Thomas Bernhard (2003): Der Geldbriefträger. In: ders., Werke in 22 Bänden. Band 14. Erzählungen. Kurzprosa. Herausgegeben von Martin Huber, Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 208. © dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003. Textbeispiel, S. 73 unten: Garbe, Christine, Maik Philipp, Nele Ohlsen (2009): Lesesozialisation. Ein Arbeitsbuch für Lehramtsstudierende. Paderborn: Schöningh, S. 233. © 2009 Schöningh Textbeispiel, S. 201: Leisen, Josef (2010): Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Grundlagenwissen, Anregungen und Beispiele für die Unterstützung von sprachschwachen Lernern und Lernern mit Zuwanderungsgeschichte beim Sprechen, Lesen, Schreiben und Üben im Fach. Bonn: Varus, S. 76. © Josef Leisen 254 Rechtsnachweise