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Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale

Studienausgabe in deutscher Sprache

1119
2014
978-3-8233-7904-1
978-3-8233-6904-2
Gunter Narr Verlag 
Peter Wunderli

Am 22. Februar 1913 verstarb Ferdinand de Saussure, gerade einmal 55-jährig. 1916 publizierten Charles Bally und Albert Sechehaye seinen Cours de linguistique générale auf der Basis von Studentenmitschriften seiner Vorlesungen und einigen wenigen handschriftlichen Notizen ihres Kollegen. 1931 erschien die deutsche Übersetzung von Herman Lommel. Obwohl 2001 zum dritten Mal aufgelegt, muss diese heute als hoffnungslos veraltet gelten: Die terminologischen Festlegungen sind oft unglücklich und irreführend, der Stil ist antiquiert, und natürlich berücksichtigt sie die intensive Saussure-Forschung der letzten Jahrzehnte ebenso wenig wie die seit den 50er Jahren entdeckten, z.T. umfangreichen Manuskripte. Dies macht eine Neuübersetzung nötig, die diese Mängel behebt und die entstandenen Lücken schließt. Die hier vorgelegte Neuübersetzung wird in einer zweisprachigen Ausgabe vorgestellt. Sie erlaubt einen ständigen Vergleich des deutschen Textes mit dem französischen Original, wobei dieses den (korrigierten) Text der kritischen Ausgabe von Rudolf Engler (1968) wiedergibt, der auch als Übersetzungsbasis dient. Zudem ist sie kommentiert: Eine Einleitung zu Leben und Werk Ferdinand de Saussures und eine Darstellung der Genese und der Rezeption des Cours bieten neue Zugänge zu diesem klassischen Text. Ergänzt wird der Text durch einen ausführlichen Kommentar zu den problematischen Stellen.

Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale Studienausgabe in deutscher Sprache Peter Wunderli Cours de linguistique générale Peter Wunderli Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale Studienausgabe in deutscher Sprache Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in the EU ISBN 978-3-8233-6904-2 Der QR-Code auf der hinteren Umschlagseite verweist auf unsere Homepage zum Buch, auf der sich auch der Index befindet. Inhalt 0. Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Biographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Der CLG und seine Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3. Zur Rezeption des CLG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4. Die deutsche Übersetzung des CLG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 5. Editionsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 6. Ausgewählte Sprachregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Vorworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Anhang: Prinzipien der Lautlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Erster Teil: Allgemeine Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Zweiter Teil: Synchronische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Dritter Teil: Diachronische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Anhänge zum zweiten und dritten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Vierter Teil: Geographische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Fünfter Teil: Fragen der retrospektiven Linguistik.Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Ergänzungen und Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 0. Vorwort 0.1 Zur zweisprachigen Ausgabe 2013 Die Frage, wozu denn hier eine deutsche Neuübersetzung der Vulgatafassung des Cours de linguistique générale vorgelegt wird, scheint sich aufzudrängen. Schließlich gibt es ja seit über 80 Jahren eine deutsche Fassung dieses «Jahrhunderttextes» in der Redaktion von Charles Bally und Albert Sechehaye 1 . Ebenso selbstverständlich wie diese Frage ist ihre Beantwortung: Die existierende Übersetzung ist unzulänglich und stellenweise schlicht unbrauchbar. Sie ist gekennzeichnet durch eine Fülle von übersetzerischen Mängeln, die zu einem nicht unerheblichen Teil auf der äußerst puristischen Grundhaltung des Übersetzers Herman Lommel, oft aber auch einfach auf einem Nichterfassen der Nuancen des französischen Textes beruhen. Dann ist sie v. a. hinsichtlich der spezifischen Terminologie Saussures schwach, oft fehlerhaft und immer wieder inkonsequent. Und schließlich kann der antiquierte, gestelzte und gequälte Stil heute niemandem mehr zugemutet werden. Aus all diesen Gründen hatte auch Rudolf Engler in den 80er Jahren mehrmals das Projekt einer neuen deutschen Übersetzung angesprochen, dieses aber leider nie ernsthaft in Angriff genommen. So weit, so gut. Aber weshalb soll man die Vulgata neu übersetzen? Der Text von Bally und Sechehaye steht ja schon seit langem als solcher ebenfalls in der Kritik, und die Arbeit der beiden Herausgeber-Autoren ist von verschiedenen Seiten von «nicht unproblematisch» bis «völlig verfehlt» eingestuft worden. Dabei fällt das Urteil bei Robert Godel, Rudolf Engler und Peter Wunderli moderat aus, und wenn auch punktuell Vorbehalte angebracht sind, wird im Großen und Ganzen die Leistung der beiden Schüler und Nachfolger Saussures als bewundernswürdig eingestuft. Rabiat und vernichtend ist dagegen die Kritik bei Ludwig Jäger, Hans-Werner Scharf und Annette Kaudé, die den Düsseldorfer Germanistenzirkel repräsentieren, an der Vulgata keinen guten Faden lassen und sich zum Ziel gesetzt haben, einen «authentischen Saussure» zu rekonstruieren. Halten wir bezüglich dieser Position fest: Auch der angeblich «authentische Saussure» ist eine Interpretation, genauso wie Bally und Sechehaye, später Robert Godel und Rudolf Engler, aber auch E. F. K. Koerner, Roy Harris u. a. m. Saussure interpretiert haben. Zudem haben die Quellen z. T. äußerst fragmentarischen Charakter, und es wird bei der angeblichen «Rekonstruktion» auch die Tatsache vernachlässigt, daß Saussures Denken einen ausgeprägt dynamischen Charakter hat und Texte vom Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts einen Entwicklungsstand repräsentieren, der keineswegs mit dem der Vorlesungen von 1907 - 1911 identisch ist, ja daß sich selbst innerhalb des Vorlesungszyklus erhebliche Veränderungen feststellen lassen. Einen «authentischen Saussure» gibt es im obigen Sinne nicht; man könnte höchstens von einer Abfolge von aufeinander aufbauenden «authetischen Saussures» sprechen - aber auch diese Rekonstruktionen wären wieder Interpretationen und mit allen Unwägbarkeiten von Interpretationen behaftet. 1 Wir verzichten hier auf bibliographische Angaben. Diese finden sich alle in den folgenden Teilen der Einleitung bzw. in der Bibliographie. Selbst wenn man zugesteht, daß die Vulgata eine von vielen möglichen Interpretationen ist, entwertet sie dies noch keineswegs, ja sie ist sogar eine in vielerlei Hinsicht privilegierte Interpretation. Dies gilt vor allem in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht: Bis gegen 1960 verlief die Saussure-Rezeption ausschließlich über die Vulgatafassung des CLG, und auch in den anschließenden Jahrzehnten spielte die Version von Bally/ Sechehaye weiterhin eine entscheidende Rolle; die Interpreten, die sich die Mühe machten, auf Godels Sources manuscrites oder sogar auf Englers Édition critique zurückzugreifen, bleiben eindeutig in der Minderzahl, und dies gilt letztlich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts 2 . Desweiteren gilt bis heute, daß es außer der Vulgata keinen anderen Text bzw. keine andere Version gibt, die Saussures Sicht der allgemeinen Sprachwissenschaft in all ihren Aspekten in ähnlich umfassender und kompakter Weise präsentiert. Zwar sind einzelne Vorlesungen oder Vorlesungsteile inzwischen zugänglich: Godel hat die Einleitung zum 2. Cours publiziert, Komatsu/ Wolf haben den 1. und 2. Cours vorgelegt, Komatsu/ Harris sowie Kaudé und Mejía die 3. Vorlesung - aber diese Publikationen vermitteln nur immer eine der von Saussure ins Auge gefaßten (möglichen) Perspektiven, denn jede dieser Lehrveranstaltungen ist anders angelegt, geht von einem anderen Blickpunkt aus und vermittelt eine andere Sicht auf den gesamten Fragenkomplex. Was die von Parret und Marchese publizierten Harvard-Manuskripte und die von Bouquet/ Engler zugänglich gemachten Orangerie- Manuskripte angeht, so ist ihre Bedeutung unbestritten, aber ebenso unbestreitbar ist, daß sie nur einzelne Aspekte und Komponenten von Saussures Sprach- und Sprachwissenschaftstheorie behandeln; überdies liegen diese Texte (ebenso wie die von Engler 1974 publizierten Notes) zeitlich erheblich vor den drei Vorlesungen. Zu all dem kommt noch ein weiterer, auf den ersten Blick vielleicht sekundärer Punkt, der in Wirklichkeit aber ganz zentral ist: Die erwähnten Publikationen von einzelnen Vorlesungen, von Vorlesungsteilen, von (unfertigen) Manuskripten usw. ebenso wie die Édition critique von Engler sind etwas für die Saussure-Spezialisten, aber ganz sicher nicht für Studenten oder den nur beiläufig linguistisch interessierten Normalleser. Für dieses breitere Publikum bleibt die Vulgata von Bally/ Sechehaye so etwas wie der saussuresche Referenztext, der zur Vermeidung von Fehlinterpretationen und Mißverständnissen allerdings mit erklärenden und kritischen Kommentaren versehen werden muß. Ein gutes Beispiel für eine derart «angereicherte» Vulgatafassung hat Tullio De Mauro mit seiner italienischen Übersetzung des Cours geliefert, deren Kommentarteil dann 1972 auch für die französische Neuausgabe des CLG in einer Übersetzung von Louis-Jean Calvet übernommen wurde. Aus heutiger Sicht drängt sich inzwischen allerdings eine Berücksichtigung und Einarbeitung der seither entdeckten Saussure-Texte in diesen Apparat auf. Ein weiteres Argument für eine neue deutsche Übersetzung des Vulgatatextes des Cours ist die Tatsache, daß die Französischkenntnisse innerhalb der scientific community stark rückläufig sind und daß es um sie heute noch deutlich schlechter bestellt ist als zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jh.s. Aus diesem Grunde hat Johannes Fehr 1997 die von ihm zusammengetragenen und thematisch geordneten Saussure-Texte ins Deutsche übertragen, und 2003 hat Ludwig Jäger eine (modifizierte) deutsche Ausgabe der von Simon Bouquet und Rudolf Engler 2002 publizierten Orangerie-Texte vorgelegt. Was für diese Texte gilt, gilt in noch weit stärkerem Ausmaß für den Vulgatatext, der dringend einer brauchbaren Übersetzung für das deutschsprachige Publikum bedarf. Da diese Ausgabe zudem zweisprachig (französischdeutsch) sein soll, hat der Leser (sofern des Französischen einigermaßen mächtig) die Möglichkeit, die Übersetzung zu kontrollieren und die (unausweichlichen) Interpretationen 2 Cf. hierzu auch S ECHEHAYE 1940: 1, C ALVET 1975: 53 - 55, v. a. aber H ARRIS 1987: VII ss. 8 0. Vorwort des Übersetzers zu erkennen; zudem erlaubt ihm diese Anlage, gegebenenfalls zu einer eigenen, abweichenden Interpretation zu gelangen. Gleichwohl werden gewisse Kreise fragen: Wozu denn eine deutsche Fassung? Es gibt doch für die des Französischen nicht Mächtigen nicht nur eine, sondern sogar zwei englische Übersetzungen, diejenige von Wade Baskin (1959) und die von Roy Harris (1983). Und des Englischen müßte doch heute jeder einigermaßen mächtig sein, ist es doch inzwischen so etwas wie die internationale Wissenschaftssprache geworden, die das Deutsche und das Französische weitgehend ins Abseits gedrängt hat. Und derartige Argumentationen sind nicht etwa konstruiert, wir sind vielmehr verschiedentlich mit ihnen konfrontiert worden! Einmal ganz abgesehen davon, daß die einseitige und extreme Privilegierung des Englischen als Wissenschaftssprache gerade im Bereich der neusprachlichen Philologien absurd ist und ein permanentes Ärgernis darstellt, gibt es im einzelnen auch noch eine Reihe von handfesteren Einwänden gegen einen Rückgriff auf die englischen Übersetzungen des CLG. Da ist zuerst einmal die Tatsache, daß die Englischkenntnisse bei Nicht-Anglisten sehr oft eher zweifelhaft sind; was sie für Englisch halten, ist in Wahrheit meist nichts anderes als ein englischbasiertes scientific pidgin. Dann darf nicht übersehen werden, daß die englischen Übersetzungen nicht in allen Punkten über jeden Zweifel erhaben sind. Allerdings muß das letztlich von jeder Übersetzung gesagt werden (auch von der unseren). Entscheidend ist vielmehr, daß es sich für den deutschen Leser um eine Fremdsprache handelt, deren Nuancen sehr oft nicht wirklich erfaßt werden. Arbeiten deutschsprachige Leser mit einer englischen Übersetzung der Vulgata, ist das Textverständis bzw. das Erfassen von Saussures Intentionen einer Mehrfachbrechung unterworfen: Die Umsetzungskette Französisch → Englisch → Deutsch ist ein permanenter Quell von Unschärfen und Mißverständnissen, und diesem Störfaktor ist zudem noch die Interpretationsarbeit von Bally/ Sechehaye vorgeschaltet, die man (in einem weiteren Sinne) ebenfalls als eine Übersetzung betrachten kann. So spricht letztlich eine ganze Menge für eine neue deutsche Übersetzung der Vulgata. So wie wir sie konzipiert haben, kann die zweitletzte der potentiellen Verzerrungsstufen vollständig eliminiert werden; und da unsere Ausgabe zweisprachig ist, kann die letzte Stufe zumindest als in erheblichem Ausmaß gepuffert gelten. * Die vorliegende Publikation war ursprünglich ein Gemeinschaftsprojekt mit Simone Roggenbuck, damals an der RWTH Aachen tätig, und der konzeptuelle Rahmen ist auch gemeinsam erarbeitet worden. Anfangs 2011 sah sich Simone Roggenbuck leider gezwungen, sich aus diesem Unternehmen zu verabschieden: Ein Karrierewechsel und der Rücktritt von ihrer Aachener Professur verunmöglichten ihr, die nötige Zeit in das Projekt zu investieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einen erheblichen Teil des französischen Textes übersetzt. In Aachen war der französische Text im wesentlichen eingescannt worden, und auch die Graphiken waren bereits eingearbeitet. Simone Roggenbuck überließ mir diesen Baustein im damaligen Zustand; ich brauchte ihn nur noch zu korrigieren und zu redigieren, sowie eine Reihe von wenig befriedigenden Graphiken zu ersetzen. Mein aufrichtiger Dank hierfür gebührt nicht nur meiner ursprünglichen Mitstreiterin, sondern auch ihren Aachener Mitarbeiterinnen Nana Paliani und Caroline Kutsch, die mit großem Einsatz und beeindruckender Sorgfalt die mühsame Arbeit des Einscannens in erstaunlich kurzer Zeit erledigt haben. Ein besonderer Dank gebührt auch meinem Freund Jakob Bachmann, der mit scharfem Blick und feinem Stilgefühl die deutsche Übersetzung Korrektur gelesen und mit zahlreichen Verbesserungsvorschlägen zur Glättung des Textes beigetragen hat. Noch viel umfassendere 0. Vorwort 9 Hilfe habe ich von Ricarda Liver erfahren, die das gesamte Manuskript durchgesehen und mit durch die jahrelange gemeinsame Herausgeberschaft der Vox Romanica geschärftem Blick Tippfehlern, Anakoluthen und Inkonsequenzen nachgespürt hat; vor allem verdanke ich ihr aber eine minutiöse Kontrolle der griechischen Zitate, Beispiele und Transliterationen. Ein besonderer Dank gebührt Gunter Narr für die großzügige Aufnahme dieser Publikation in sein Verlagsprogramm und seinen Mitarbeitern für die rasche und kompetente Drucklegung. Twann, den 1. Februar 2013 Peter Wunderli 0.2 Zur Studienausgabe von 2014 Ende 2013 war die zweisprachige Ausgabe meiner Neuübersetzung des Cours de linguistique générale praktisch schon ausverkauft, was zweifellos dafür spricht, daß sie einem echten Bedürfnis entsprach. Gleichzeitig mußten wir aber auch feststellen, daß das Käuferpublikum fast ausschließlich aus Bibliotheken und einer beschränkten Zahl von Spezialisten bestand - das studentische Publikum, das wir bei Inangriffnahme dieses Projekts zwar nicht ausschließlich, aber doch vordringlich im Blick hatten, blieb weitestgehend außen vor. Dies ist bei dem hohen Ladenpreis nicht weiter überraschend; dieser war dadurch zustande gekommen, daß der Schweizerische Nationalfonds eine Bezuschussung mit der in jeder Hinsicht inakzeptablen Begründung verweigerte, ich hätte nie eine Professur in der Schweiz gehabt. Der Amtsschimmel hat gewiehert . . . Autor und Verlag entschlossen sich vor diesem Hintergrund, eine «abgespeckte» Studienausgabe vorzulegen, bei der auf den französischsprachigen Teil und auf einen Online-Index verzichtet wurde. Dieser Entscheid läßt sich auch dadurch rechtfertigen, daß die zweisprachige Version nur für den relativ kleinen Teil des Lesepublikums relevant ist, der des Französischen mächtig und in der Lage ist, die Übersetzungsarbeit nachzuvollziehen - und gerade dies ist bei dem studentischen Lesepublikum nur ausnahmsweise der Fall. Und was den Index angeht: dieser ist ja über die in Bibiotheken vorhandene große Ausgabe zugänglich. Diese Umgestaltung der Ausgabe von 2013 erforderte allerdings eine gewisse Anpassungsarbeit v. a. in den Anmerkungen zum deutschen Text und im Kommentarteil: Alle direkten Verweise auf den französischen Textteil mußten überarbeitet und eigenständig gemacht werden, wobei wir uns allerdings bemühten, die Eingriffe möglichst klein zu halten. Des weiteren haben wir auch die bis zum gegenwärtigen Zeitpunk erschienen Rezensionen ausgewertet und - wo wir es für angezeigt hielten - in unseren Apparat eingearbeitet; natürlich sind sie auch in die Bibliographie eingegangen. Besonderen Dank verdient Hans-Jürgen Heringer, der bei der Arbeit an seinem Saussure- Buch bereits vor der Publikation auf unser Manuskript zugreifen konnte und uns seine dabei entstandenen Anmerkungen und Notizen zur Verfügung gestellt hat. Und - last but not least: Ganz herzlichen Dank an Gunter Narr und seine Mitarbeiter für die sorgfältige und rasche Erledigung dieser Neupublikation. Wir blicken nun auf eine rund vierzigjährige Zusammenarbeit zurück; auch dafür ganz herzlichen Dank. Twann, den 1. Mai 2014 Peter Wunderli 10 0. Vorwort 1. Einleitung 1. Biographische Skizze 1.0. Der Stand der biographischen Literatur zu Ferdinand de Saussure war jahrzehntelang wenig erfreulich. Er hat sich erst seit 2008 deutlich verbessert. Eine knappe, das Wesentlichste bietende Skizze findet sich bei S CHEERER 1980: 1 - 7 1 . Die umfassendste Darstellung war lange Zeit jedoch diejenige von D E M AURO 1968: 285 - 363, wenn sie auch zahlreiche wichtige Punkte aufgrund mangelnder Vorarbeiten oder zum Zeitpunkt der Publikation (1967) nicht zugänglicher Quellen aussparen muß; zudem fehlen auch einige Passagen nicht, wo De Mauro irrt oder eine fragwürdige Interpretation der Fakten vorschlägt. Dies ändert nichts an der Tatsache, daß seine Darstellung bis heute unverzichtbar geblieben ist. Lesenswerte Überblicke finden sich überdies bei M OUNIN 1968: 12 - 21 und K OERNER 1973: 20 - 36 2 . 1.0.1. Claudia Mejía hat eine umfassende Biographie Ferdinand de Saussures in Angriff genommen, von der 2008 der rund 400-seitige erste Band erschienen ist (M EJÍA 2008). Die Darstellung ist differenziert, auf das Peinlichste detailgetreu und stellt überdies eine Fülle von Dokumenten zur Verfügung, die bisher nicht oder zumindest nicht in gedruckter Form zugänglich waren. Die Darstellung beginnt bei den Vorfahren Saussures im 16. Jahrhundert und endet (vorläufig) bei Saussures Pariser Zeit. Hier stellt sich allerdings ein erstes Problem: Handelt es sich um den Anfang (1881) oder das Ende (1891) dieser Phase? Nach M EJÍA 2008: 268 würde die Darstellung im wesentlichen mit der Übersiedelung Saussures nach Paris enden, also 1880/ 81. Dies kann so aber nicht zutreffen, denn Saussures Beziehungen zu Michel Bréal werden schon in diesem Band bis ins letzte Detail untersucht, und auch andere Ereignisse seines Pariser Aufenthalts finden ausgedehnte Berücksichtigung, u. a. Saussures Werben um Noémie Mallet, das 1889 mit einem schmerzlichen Mißerfolg endete. Selbst wenn Mejía in Band 2 nochmals auf die Pariser Zeit zurückkommen sollte, kann keinesfalls gesagt werden, der 1. Band ende mit dem Jahr 1881. Diese in ihrer Anlage umfassende Biographie ist somit (noch) in hohem Maße unvollständig, fehlen doch die letzten 20 bis 30 Jahre von Saussures Leben. Dazu kommt als weiteres, daß sie in ihrer Konzeption kaum die Zustimmung der Mehrzahl der Linguisten finden wird. Stein des Anstoßes ist ihre geradezu penetrant psychoanalytische Anlage, die dazu führt, daß das hinterste und letzte Detail sowohl im Leben Ferdinands als auch in dem seiner Familienmitglieder psychoanalytisch ausgedeutet wird. Das ist vorab einmal nicht 1 Cf. ferner auch E RNST 2001: 293 - 302. - J OSEPH 2012 war bei Abschluß des Manuskripts noch nicht erschienen und konnte nicht mehr ausführlich berücksichtigt werden. 2 Auch Kapitel 1 des ersten Teils von B OUQUET 1997 (57 - 70) enthält zahlreiche biographische Informationen, die allerdings nur selten über die andern Darstellungen hinausgehen. jedermanns Sache und bringt zweitens für den Linguisten und die (Geschichte der) Linguistik in der Regel wenig. Ohne die ständigen Rückgriffe auf Freud und seine Nachfolger wäre diese Biographie zweifellos erheblich lesbarer und ihrem Gegenstand angemessener. Einen sehr guten biographischen Abriß enthält auch die Einführung von Ludwig Jäger (J ÄGER 2010: 25 - 75); die verschiedentlich angekündigte umfassende Saussure-Biographie Jägers und seiner Mitarbeiter ist dagegen (noch? ) nicht erschienen. 2012 schließlich erschien die monumentale, fast 800-seitige Saussure-Biographie von John E. Joseph (J OSEPH 2012). Trotz ihres beeindruckenden Umfangs kann sie nicht den Anspruch erheben, es sei nun das letzte Wort zu Saussures Leben und Werk gesagt; einerseits bringt sie tatsächlich eine Fülle von neuen Informationen (die allerdings im Detail manchmal ungenau sind), andererseits enthält sie aber auch vieles, was vollkommen überflüssig ist und in einer Lebensdarstellung des großen Linguisten nichts zu suchen hat. Wir können hier nicht auf Einzelheiten eingehen, verweisen aber auf die ausführliche Diskussion in W UNDERLI 2013 b. Biographische Sketches über Ferdinand de Saussure finden sich auch in Wikipedia. Die Texte unter den verschiedenen Sprachen (Französisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, Spanisch . . .) sind nicht identisch und von sehr unterschiedlicher Qualität. So ist z. B. die französische Version voll von Fehlern und unhaltbaren «Literaturleichen»; recht brauchbar ist die deutsche Version. 1.0.2. Die wichtigsten Quellen zur Saussures Biographie finden sich bei K OERNER 1972: 46 - 50 zusammengestellt. Weitere relevante Quellenangaben liefern S CHEERER 1980: 1 sowie C ANDAUX 1974/ 75: 7 - 12. Bei F EHR 1997: 533 - 50 findet sich eine sehr nützliche Auflistung von Daten. Ausgesprochen ergiebig sind auch die Nekrologe und Gedenkadressen, die nach Saussures Tod erschienen sind: Sie liefern eine Fülle von Einzelheiten und z. T. persönliche Erinnerungen, die jede biographische Darstellung in nicht unerheblichem Maße prägen. Die wichtigsten unter ihnen, die auch immer wieder zitiert werden, sind G AUTHIOT 1914, M EILLET 1913/ 14, M URET 1913 und S TREITBERG 1915. Von großer Bedeutung ist auch die Korrespondenz von Saussure mit einer Reihe von Zeitgenossen und Kollegen, wobei v. a. die Schreiben Saussures an seine Briefpartner erhalten sind; von den Anfragen und Antworten seiner Korrespondenten läßt sich in Saussures Nachlaß nur sehr wenig finden. Die Korrepondenz fängt mit einem Brief an Adolphe Pictet (vermutlich aus dem Jahr 1872) an, in dem er dem Nachbarn und Familienfreund sein (verunglücktes) Système général du langage vorlegt (C ANDAUX 1974/ 75). Des weiteren liegen Briefe vor: an Karl Brugmann (V ILLANI 1990 und M ARCHESE 2007), an William D. Whitney (J OSEPH 1988), an Gaston Paris (D ÉCIMO 1994), an Paul Boyer (D ÉCIMO 1994), an Jan Baudouin de Courtenay (S LIJUSAREVA 1970 - 72), an Casimir Jaunius (G ODEL 1973), an Wilhelm Streitberg (V ILLANI 1990), an Albert Sechehaye (M ARCHESE 2007), an Antoine Meillet (B ENVENISTE 1964 und B OUQUET 1986), an Charles Bally (A MACKER 1994, P ROSDOCIMI / M ARINETTI 1990, R EDARD 1982), an Max von Berchem (L OUCA 1974/ 75), an Michel Bréal (D ÉCIMO 1993: 52), an Giovanni Pascoli (N AVA 1968), ebenso wie einige wenige Briefe von Louis Havet, Johannes Baunack und Rudolf Kögel (R EDARD 1976); schließlich einige Schreiben von Otto Jesperson, A. Barth, Victor Henry, G. Maspéro, Antoine Meillet und Charles Bally (D ÉCIMO 1993 und A MACKER 1994). Das Interesse und die Aussagekraft dieser letztlich doch eher spärlichen Dokumente sind jedoch von ganz unterschiedlichem Gewicht und reichen von ‘ nichtssagend ’ bis zu ‘ absolut zentral ’ . Ein Dokument von herausragender Bedeutung sind die Souvenirs von Ferdinand de Saussure über seine Jugend und seine Studienzeit, die dieser 1903 für Wilhelm Streitberg verfaßt zu haben scheint (G ODEL 1960). Ob Streitberg diesen Text allerdings je zu sehen bekommen hat, ist nach G ODEL 1960: 12 fraglich. Überdies scheint es einen weiteren, heute 12 1. Einleitung verlorenen Text (oder Brief) gegeben zu haben, in dem Saussure eine eindrückliche Analyse seines Mémoire vornimmt, auf die sich Streitberg in seinem Nachruf (S TREITBERG 1915) ausdrücklich bezieht (G ODEL 1960: 12). 1.0.3. Von großer Bedeutung für die Formation von Saussures linguistischem Denken sind natürlich auch seine Zeitgenossen aus den unterschiedlichsten Disziplinen, ganz gleichgültig, ob er von ihnen nun zustimmend oder ablehnend Kenntnis nimmt. Auf diesen Aspekt wollen wir hier jedoch nicht näher eingehen, da er nur in einem sehr weiten Sinne biographisch relevant ist. Wichtige Hinweise zum Thema finden sich bei M OUNIN 1967: 211, M OUNIN 1968: 20ss., K OERNER 1973: 21 und D E M AURO 1968: 326ss. sowie in den inzwischen zahlreichen Geschichten der Sprachwissenschaft. 1.0.4. Es kann hier nicht darum gehen, eine umfassende, ja gar erschöpfende Biographie Ferdinand de Saussures vorzulegen, wie sie von Claudia Mejía, John E. Joseph und u. U. auch von Ludwig Jäger angestrebt wird. Vielmehr wollen wir eine Art biographische Skizze vorlegen, die die wichtigsten Fakten, Daten und Ereignisse in Saussures Leben zur Verfügung stellt und es so erlaubt, seine wissenschaftlichen Aktivitäten den Abschnitten und Stationen seines Lebensweges zuzuordnen. Was wir anstreben, ist eine Art reduzierte De Mauro- Darstellung bzw. eine aktualisierte Skizze à la Koerner (cf. D E M AURO 1968: 285 - 355, K OERNER 1973: 20 - 31). 1.1. Ferdinand de Saussure entstammt einer traditionsreichen Genfer Familie, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zur Elite der Stadt zählt. Ihre Wurzeln hat sie in Lothringen, wo ihr erster bekannter Vertreter, Mongin Schouel aus Saulxure-sur-Moselotte anfangs des 16. Jahrhunderts Großfalkner und Rat des Herzogs von Lothringen war 3 . Sein Sohn Antoine (1514 - 1569) übernahm später die Funktionen seines Vaters, geriet aber durch seinen Übertritt zum Calvinismus zunehmend in Schwierigkeiten. 1550 wurde er unter dem Vorwurf, den minderjährigen Herzog Karl mit protestantischem Gedankengut vertraut gemacht zu haben, eingekerkert, doch gelang ihm 1552 die Flucht mit seiner ganzen Familie. Nach Stationen in Neuchâtel, Straßburg und Lausanne fand er schließlich in Genf Zuflucht, wo er 1556 das Bürgerrecht erhielt. Von da an zählt die Familie zu den Stützen der Genfer Gesellschaft; sie spielt sowohl politisch wie auch wissenschaftlich-kulturell eine zentrale Rolle, wobei im letzteren Bereich v. a. vier Persönlichkeiten herausragen: - An erster Stelle wäre Nicolas de Saussure (1709 - 91) zu nennen, der als Advokat wirkte, gleichzeitig aber auch ein bedeutender, in ganz Europa bekannter Agronom war; für dieses Sachgebiet zählte er auch zu den profiliertesten Mitarbeitern der Encyclopédie von Diderot und D ’ Alembert. - Der mit Abstand berühmteste von Ferdinands Vorfahren ist zweifellos Horace-Bénédict de Saussure (1740 - 99), der mit seinem Nachfahren Ferdinand die fast unglaubliche Frühreife gemeinsam hat: Er war schon mit 22 Jahren Professor für Philosophie und Naturwissenschaften an der Genfer Akademie, der er 1774/ 75 auch als Rektor vorstand. Horace-Bénédict war in erster Linie Naturwissenschaftler, wobei für ihn Botanik, Mineralogie, Hydrologie und Geologie im Vordergrund standen; überdies spielten für ihn auch die Elektrizitätslehre und die Mechanik eine wichtige Rolle. Heute kennt man seinen Namen v. a. aufgrund einer alpinistischen Pioniertat, der (angeblichen) 3 Mongin ist der eigentliche (1. Vorname) von Ferdinand, den er aber nie benutzt zu haben scheint. 1. Einleitung 13 Erstbesteigung 4 des Mont-Blanc am 3. August 1787. Wissenschaftsgeschichtlich auch heute noch von Bedeutung sind seine Voyages dans les Alpes précédés d ’ un Essai sur l ’ histoire naturelle des environs de Genève, 4 vol., Neuchâtel/ Genève/ Paris 1779 - 96, eine wenig systematische Sammlung seiner vielfältigen wissenschaftlichen Erkenntnisse. - Beachtung verdient auch Albertine-Adrienne de Saussure (1766 - 1841), eine Tochter von Horace-Bénédict und Schwester von Nicolas-Theodore 5 ; sie stellt insofern eine Ausnahmeerscheinung in der Familie dar, als sie gegen die (männliche) Übermacht der Naturwissenschaftler die geisteswissenschaftlichen Disziplinen vertritt. Verheiratet mit Jacques Necker (Enkel des Ministers von Ludwig XVI . und berühmter Professor für Botanik in Genf), war sie nicht nur mit Mme de Staël, sondern auch mit den wichtigsten Persönlichkeiten des idealistischen und romantischen Deutschland befreundet. Aus diesem Beziehungsgeflecht heraus erklärt sich auch, daß sie August Wilhelm von Schlegels Über dramatische Kunst und Litteratur (1809 - 11) ins Französische übersetzte. Berühmt ist sie aber in erster Linie durch ihre pädagogische Schrift L ’ Éducation progressive (auch unter dem Namen Étude du cours de la vie bekannt) geworden (1828), der auch die Weihe einer Auszeichnung durch die Académie française zuteil wurde. - Zu erwähnen ist schließlich auch Albertine-Adriennes Bruder Nicolas-Théodore de Saussure (1767 - 1845), ebenfalls Professor an der Akademie von Genf für die Gebiete Mineralogie und Geologie; seine persönlichen Interessen galten aber vor allem der Chemie, der Physik und der Biologie. Berühmtheit erlangte er in erster Linie durch seine Arbeiten im Bereich der Chemie. Nach D E M AURO 1968: 287 wäre er der Großvater von Ferdinand, doch ist dies durch M EJÍA 2008: 48 korrigiert worden: Nicolas-Théodore hat keine direkten Nachkommen, der Grossvater von Ferdinand ist vielmehr dessen in jeder Hinsicht unbedeutender Bruder Alphonse Jean François. Nur schon dieser geraffte Überblick macht deutlich, daß in der Familie De Saussure die naturwissenschaftliche Tradition in hohem Maße dominant ist. Dies mag wesentlich dazu beigetragen haben, daß Ferdinands Vater Henri mit allen Mitteln versuchte, seinen Sohn in eine naturwissenschaftliche Karriere zu drängen und dieser nur mit erheblichen Schwierigkeiten das Studium seines bevorzugten Interessengebiets Sprachen schließlich durchsetzen konnte. In diesem Sinne hat der «vorgängige Andere» (M EJÍA 2008: 37) in Ferdinands Leben sicher eine gewichtige Rolle gespielt. 1.2. Der dritte Sohn von Horace-Bénédict, Alphonse Jean François, hat selbst zwei Söhne, Théodore und Henri (1829 - 1905). Letzterer steht ebenfalls in der überwiegend naturwissenschaftlichen Tradition der Familie und hat es als Zoologe und Entomologe zu einer gewissen Berühmtheit gebracht 6 . Am 25. Juli 1856 verlobte er sich mit der erst 19-jährigen Louise de 4 Auf diese Legende stößt man in der Literatur immer wieder; in Wirklichkeit liegen die Dinge anders. Horace-Bénédict war alpinistisch durchaus interessiert, allerdings v. a. mit wissenschaftlicher Zielsetzung. Deshalb setzte er 1786 eine Belohnung für die Erstbesteigung des Mont-Blanc aus; der Bergführer Jacques Balmat und der Arzt Michel Paccard erreichten dann den Gipfel am 8. August 1786. Im folgenden Jahr machte sich Horace-Bénédict mit Balmat auf den Weg und erreichte den Gipfel am 3. August 1787 - wir haben es also mit einer «Zweitbesteigung» zu tun, wobei diese allerdings aufgrund der durchgeführten Messungen, Experimente etc. erstmals einen gewissen wissenschaftlichen Charakter hatte. - Eine (wirkliche) Erstbesteigung geht aber gleichwohl auf das Konto von Horace-Bénédict: diejenige des Kleinen Matterhorns vom Theodulpass aus im Jahr 1792. 5 Cf. hierzu unten. 6 Zu Henri de Saussure und seiner (wissenschaftlichen) Bedeutung cf. J ÄGER 2010: 33ss. 14 1. Einleitung Pourtalès und heiratete sie wenig später (30. 9. 1856) 7 . Am 26. November 1857 wird der erste Sohn des Paares geboren, der auf den Namen Mongin-Ferdinand getauft wird 8 . Louise ist nicht nur eine sehr schöne, künstlerisch begabte Frau, sie ist auch von einer erstaunlichen Fruchtbarkeit, folgen doch auf Mongin-Ferdinand noch 8 weitere Kinder, 5 Brüder und 3 Schwestern. Die Brüder sind: Horace (*1859), Léopold (*1866), René (*1868), Louis (*1869) und Maximilien (*1873) 9 , die Schwestern Albertine (*1861), Dora (*1863) und Jeanne (*1869). Horace wird Maler und Photograph, Léopold macht zuerst eine Karriere als französischer Marineoffizier und wird später ein bedeutender Sinologe, René ist eigentlich Mathematiker, wird aber vor allem als engagierter Esperantist bekannt. Ferdinand scheint ein besonders enges Verhältnis zu den beiden direkt auf ihn folgenden Geschwistern, Horace und Albertine, gehabt zu haben. Interessant wäre natürlich auch ein Vergleich der linguistischen Ideen von Ferdinand und René; K OERNER 1973: 33 N3 hat eine entsprechende Untersuchung angekündigt, die unseres Wissens jedoch nie erschienen ist. Es ist aber wohl kein Zufall, daß im CLG das Esperanto verschiedentlich angesprochen wird. Die schulische Ausbildung von Ferdinand war traditionell klassisch ausgerichtet 10 und kopierte bis zu einem gewissen Grade diejenige seines Vaters Henri. Über die Anfänge seiner schulischen Bildung ist wenig bekannt, doch dürfte sie wohl im elterlichen Haus stattgefunden haben; immerhin attestieren ihm aber die Tagebücher seines Vaters schon in kindlichem Alter eine ungewöhnliche Wißbegier und v. a. eine stupende Lernfähigkeit. 1868 wurde er dann auf das damals europaweit bekannte, ja berühmte Internat Hofwil bei Münchenbuchsee (Bern) geschickt, das schon Henri besucht hatte; Ferdinand scheint dort aber eher unglücklich gewesen zu sein und wurde von seinem Vater im Frühjahr 1870 frühzeitig nach Genf zurückgeholt 11 . Ab Herbst dieses Jahres besuchte er dann das Institut Martine in Genf, wo er (nach Französisch, Deutsch, Englisch und Latein) unter der Anleitung seines Lehrers Millenet Griechisch zu lernen beginnt. 1872 halten ihn seine Eltern noch für nicht reif genug für das Gymnasium und schicken ihn während eines Jahres auf das Collège public in Genf - ein Jahr, das Ferdinand später in seinen Souvenirs als ein verlorenes bezeichnen wird (G ODEL 1960: 17). 1873 wird er dann als einer von drei Direktkandidaten ins Gymnase aufgenommen, das er 1875 mit höchsten Auszeichnungen verläßt. In dieser Zeit (1874) beginnt er mithilfe der Grammatik von Bopp selbständig Sanskrit zu lernen; gleichzeitig studiert er auch die Grundzüge der griechischen Etymologie von Georg Curtius. Während seiner ganzen Schulzeit war Ferdinand immer der Beste oder zumindest einer der Besten seiner Klasse; sein stupendes Wissen und seine beeindruckende Lernfähigkeit wurden immer wieder mit Preisen und Auszeichnungen honoriert. Aus dieser knappen Skizze von Ferdinands Schulzeit geht schon mit aller Deutlichkeit sein frühes Interesse für Sprachen und die Sprachwissenschaft hervor. Daneben hatte er von seiner Mutter Louise auch die künstlerische Ader geerbt und schrieb zahlreiche Gedichte und Prosastücke; überdies war er ein begabter Zeichner (M EJÍA 2008: 176ss.). Zum Leidwesen seines Vaters hielt er dagegen wenig von körperlichen Aktivitäten und Sport, sieht man einmal von seiner Leidenschaft für das Fischen und die Jagd ab (M EJÍA 2008: 155). Überraschen mag, daß er auch ein regelmässiger und begabter Spieler war; daß er Schach über 7 Zur Familie De Pourtalès und ihren preussischen Beziehungen und Verflechtungen cf. J ÄGER 2010: 32 s. 8 Mongin ist eine ostfranzösische Dialektform für Dominique und stellt wohl eine Reverenz an die lothringische Herkunft der Familie dar. 9 K OERNER 1973: 32 s. N3 kennt nur die ersten drei Brüder; die Schwestern werden nicht erwähnt. Für eine korrekte Darstellung cf. J ÄGER 2010: 208 N21. 10 Cf. D E M AURO 1968: 288ss., M EJÍA 2008: 54ss., 125ss. 11 Zu diesem Lebensabschnitt cf. v. a. J ÄGER 2010: 36 s. und 208 N22. 1. Einleitung 15 alles liebte, ist dabei weniger erstaunlich als seine Leidenschaft für Poker und verwandte Glücksspiele (M EJÍA 2008: 159). 1.3. Wie bereits erwähnt, fühlte sich Ferdinand de Saussure schon in seiner Gymnasialzeit von der Linguistik angezogen, ja fasziniert. Dieses Interesse war v. a. durch Adolphe Pictet geweckt worden, ein Freund der Familie und Nachbar in der Sommerresidenz in Maligny bei Versoix, dessen umfangreiche Studie Les origines indo-européennes damals große Beachtung fand und von dem Halbwüchsigen mit Begeisterung studiert wurde. Die Bewunderung für Pictet war derart nachhaltig, daß er drei Jahre nach dessen Tod und aus Anlaß der Neuauflage der Origines indo-européennes im Journal de Genève vom 17. April 1878 einen Würdigungsartikel veröffentlichte, den man schon fast panegyrisch nennen kann 12 . Die von Pictet ausgelöste Begeisterung regte Saussure auch zu einem ersten eigenen linguistischen Versuch an, dem Système général du langage (auch als Essai sur les langues erwähnt). Die Grundthese ist, daß alle Wörter aller Sprachen auf Wurzeln aus drei (teilweise auch zwei) Konsonanten zurückgeführt werden können 13 . Dieses noch in jeder Hinsicht unreife Produkt seiner Linguistikbegeisterung legte Saussure Pictet zur Begutachtung vor, der ihm auf diskret-väterliche Art den Kopf zurecht setzte und ihn vorerst von weiteren linguistischen Abenteuern abhielt. - Hinsichtlich der Datierung dieser Episode gibt es in der Literatur gewisse Widersprüche. Bally weist sie den Jahren 1874/ 75 zu, d. h. Saussure wäre 17 Jahre alt gewesen 14 . Dem steht Saussures eigene Aussage in den Souvenirs entgegen, der sie dem Jahr 1872 zuordnet; er wäre also knapp 15-jährig gewesen 15 . Diese Datierung wird von C ANDAUX 1974/ 75: 7 - 12 mit guten Argumenten gestützt. J OSEPH 2007: 155 - 60 dagegen weist den Essai wieder dem Jahr 1874 zu 16 . Trotz seiner Neigung zur Linguistik nimmt Ferdinand 1875/ 76 in Genf das Studium der Chemie und Physik auf - wie er selbst in seinen Souvenirs erklärt, auf Druck der Familie und v. a. seines Vaters, der die naturwissenschaftliche Tradition weiterpflegen wollte; daß er schließlich zugestimmt hat, mag aber auch noch eine Nachwirkung des Mißerfolgs seines linguistischen Erstlings bei Pictet gewesen sein. Allerdings zeigte er weder Eifer noch Begeisterung für seine Studienfächer und ließ sich nach der Aussage von Kommilitonen bei den einschlägigen Lehrveranstaltungen kaum sehen - mit der Folge, daß er (der Musterschüler par excellence! ) die Jahresabschlußprüfung nicht bestand. Statt sich mit Chemie und Physik herumzuquälen, besuchte er vielmehr Veranstaltungen in Theologie, Jurisprudenz, Philosophie und Kunstgeschichte, vor allem aber in klassischer Philologie. Die Linguistique comparée des wenig kompetenten und unbeliebten Joseph Wertheimer (den er 1906 gewissermaßen «beerben» sollte) mied er tunlichst, besuchte dafür die Linguistique indoeuropéenne des jungen Privatdozenten Louis Morel, der wiedergab, was er im Jahr zuvor bei Georg Curtius in Leipzig gehört hatte 17 . Nach diesem durch passiven Widerstand gezielt herbeigeführten Scheitern im naturwissenschaftlichen Bereich gab Henri seinen Widerstand gegen Ferdinands Studienwünsche auf: Er kann im Herbst 1876 nach Leipzig gehen und dort Linguistik bzw. Indogermanistik studieren. Der Gesinnungswandel Henris geht sogar so weit, daß er Ferdinand nach Leipzig 12 Cf. M EJÍA 2008: 136ss. 13 Cf. G ODEL 1960: 13, 17, D E M AURO 1968: 289. 14 Cf. B ALLY 1952: 148. 15 Cf. G ODEL 1960: 13, 17. 16 Der Text hatte Bally vorgelegen, war dann aber lange Zeit verschollen. Nach seiner Wiederentdeckung wurde er von D AVIS 1978 publiziert. 17 Cf. hierzu G ODEL 1960: 20, S TREITBERG 1966: 102, D E M AURO 1968: 290 s., M OUNIN 1968: 13s., K OERNER 1973: 21. 16 1. Einleitung begleitet - allerdings wohl nicht nur aus väterlicher Zuneigung, sondern auch in der Absicht, die Unterbringung und die Knüpfung der ersten Kontakte im Auge zu behalten. Warum fiel die Wahl auf Leipzig? Für Henri mag eine nicht unwichtige Rolle die Tatsache gespielt haben, daß eine Reihe von Genfer Freunden und Bekannten (Édouard Favre, Lucien, Raoul und Édmond Gautier) in Leipzig Theologie und Jura studierten 18 und so ein bescheidenes soziales Netz bereits existierte. Für Ferdinand dürfte dagegen wohl entscheidend gewesen sein, daß Leipzig die Hochburg der aufstrebenden Junggrammatiker war. Hier wirkten Georg Curtius (Vergleichende Grammatik, Altphilologie), Heinrich Hübschmann (Altpersisch), Hermann Osthoff (Sanskrit), August Leskien (Slawisch, Litauisch), Ernst Windisch (Altirisch), Wilhelm Braune (Germanistik) und Karl Brugmann (Indogermanistik), z. T. als Professoren, z. T. als junge Privatdozenten 19 . Ferdinand besuchte ihre Veranstaltungen mit sehr unterschiedlicher Intensität, u. a. wohl auch deshalb, weil er kein kleiner Student, sondern vielmehr ein Gesprächspartner auf Augenhöhe für diese Berühmtheiten und angehenden Berühmtheiten war. Unterbrochen wurde der bis 1880 dauernde Leipziger Aufenthalt für das Studienjahr 1878/ 79, während dem Saussure in Berlin bei Hermann Oldenberg (Sanskrit) und Heinrich Zimmer (Keltisch, Indisch) seine Kenntnisse in deren Spezialgebieten zu vertiefen suchte. Auf den Anfang der Zeit in Leipzig fällt die legendär gewordene Episode um die nasalis sonans 20 . Im «verlorenen» Schuljahr 1872, während dem Saussure das Collège public in Genf besuchen mußte, fielen ihm anläßlich einer Herodot-Lektüre gewisse paradigmatische Entsprechungen zwischen α und ν auf, die den Schluß nahelegten, daß die Formen mit α ursprünglich an der entsprecheden Stelle ein sonantisches (zwischen zwei Konsonanten stehendes) ν gehabt hätten: also (sonantisches) ν → α . Dies nahm er als evidente Gegebenheit zur Kenntnis (G ODEL 1960: 18). - Bei seiner Ankunft in Leipzig stattet Saussure Heinrich Hübschmann einen Antrittsbesuch ab, um sich für dessen als privatissime ankündigte Veranstaltung zum Altpersischen anzumelden. Von diesem zuhause freundlichst empfangen, fragte Hübschmann ihn beiläufig, was er denn von dem eben erschienen Artikel über die nasalis sonans von Brugmann halte, der in Leipzig das Tagesgespräch sei. Saussure verstand vorerst nur Bahnhof, und nachdem ihn Hübschmann kurz über Brugmanns These aufgeklärt hatte, meinte er, das sei doch nichts Aufregendes, das wisse er schon seit Jahren. Nachdem er sich dann Brugmanns Publikation beschafft hatte, mußte er feststellen, daß dieser gerade mit der Erkenntnis Furore machte, auf die er schon 1872 bei der Herodot-Lektüre gestoßen war (G ODEL 1960: 29 s.). Diese verpaßte Chance, Linguistikgeschichte zu schreiben, wurmte ihn noch 1903, als er seine Souvenirs für Wilhelm Streitberg zu Papier brachte (G ODEL 1960: 23 s.). Wie er schließlich mit einiger Bitterkeit feststellt, ist es ihm mit der Einführung des Analogieprinzips in die junggrammatische Doktrin ähnlich ergangen (G ODEL 1960: 24 s.). Saussure war ganz offensichtlich in linguistischer Hinsicht frühreif, denn er ist 1876 noch nicht einmal 20 Jahre alt (und 1872 gerade mal 15! ). Und auch an Selbstbewußtsein fehlte es ihm in dieser Hinsicht nicht, denn er hielt sich schon 1875 für würdig, Mitglied der vor kurzem gegründeten Société linguistique de Paris zu werden und reichte über die Vermittlung des Genfer Familienfreundes Léopold Favre und des Pariser Sanskritisten Abel Bergaigne ein entsprechendes Aufnahmegesuch ein. Und er wird in der Tat am 13. Mai 1876 in die SLP aufgenommen 21 . Er macht sich auch gleich daran, sich in diesem illustren Kreis zu profilieren. 18 Cf. D E M AURO 1968: 291, J ÄGER 2010: 42. 19 Cf. hierzu u. a. M EILLET 1951: 174 s., S TREITBERG 1966: 102, G ODEL 1960: 21s., D E M AURO 1968: 292s., M OUNIN 1968: 14s., K OERNER 1973: 22s., S CHEERER 1980: 2, J ÄGER 2010: 45 s. 20 Cf. M EILLET 1951: 175, G ODEL 1960: 13 s., 18 s., D E M AURO 1968: 292 s. 21 Cf. G ODEL 1960: 19, D E M AURO 1968: 291, M OUNIN 1968: 14, S CHEERER 1980: 3. 1. Einleitung 17 Am 13. Januar 1877 hält er einen ersten Vortrag über das indogermanische Suffix -T-, dann folgt ein Referat «Sur une classe de verbes latins en -eo», ein drittes mit dem Titel «La transformation latine de tt en ss suppose-t-elle un intermédiaire ts? », und schließlich noch die wohl wichtigste Arbeit aus dieser Frühphase seiner Forschungsaktivität, der «Essai d ’ une distinction des différents a indo-européens», vorgetragen am 21. Juli 1877 22 . Dieser letzte Text stellt eine noch viele Fragen offen lassende Vorstufe von Saussures Mémoire dar; er selbst ist sich des provisorischen Charakters seiner Darstellung durchaus bewußt und kündigt bereits eine umfassendere und vertiefte Untersuchung an. Saussure hat an seinem Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indoeuropéennes bis Sommer 1878 gearbeitet; erschienen ist dieses umfangreichste Werk seiner ganzen Karriere im Dezember 1878 in Leipzig, doch trägt es bereits die Jahrzahl 1879. Er ist gerade mal 21 Jahre alt und legt gleichwohl schon die Arbeit vor, die seine wissenschaftliche Anerkennung, ja seinen Ruhm dauerhaft begründen sollte 23 . Daß dies von den Meisten nicht nur als ungewöhnlich, sondern für unmöglich gehalten wurde, belegt die Anekdote mit dem Germanisten Friedrich Zahrnke, der Saussure 1880 in einem Gespräch gefragt haben soll, ob er denn mit dem berühmten Saussure, dem Verfasser des Mémoire, verwandt sei 24 . Die beste, gleichzeitig aber auch sehr gedrängte Zusammenfassung der von Saussure im Mémoire vertretenen These liefert M EILLET 1951: 176 25 : Toutes les alternances vocaliques qu ’ offrent les anciennes langues indo-européennes sont ramenées à celles d ’ une seule et même voyelle qui, tantôt a la forme e, tantôt la forme o, et tantôt manque tout à fait. Ce que l ’ on appelle les voyelles i et u, ce ne sont pas des voyelles proprement dites; ce sont les formes vocaliques de sonantes qui apparaissent ailleurs sous la forme soit de seconds éléments de diphtongues, soit de consonnes y et w; les voyelles i et u ne sont que des y et w voyelles, parallèles à r ̥ , l ̥ , n ̥ , m ̥ , en regard des consonnes r, l, n, m. Même les voyelles ā , ē , ō des types tels que ϊσταμι, τίθημι, δίδωμι du grec se ramènent au type général; tout se passe comme si elles étaient composées de e (alternant avec o, zéro) et d ’ un élément spécial, qui apparaît à l ’ état isolé, en sanskrit comme i, en latin comme ă , en grec ă , ε , ou ο , à savoir le type de skr. pitár-, gr. πατέρ- , lat. pater-. Le vocalisme indo-européen était ainsi réduit à un système rigoureux où toutes les alternances régulières employées dans les formes grammaticales trouvaient leur place naturelle, et qui s ’ impose par là même à l ’ esprit avec la clarté de l ’ évidence . . . Diese Theorie (und v. a. ihre weiteren Konsequenzen 26 ) fand unterschiedliche Aufnahme. Während Havet, Kruszewski, Möller und einige andere sie unmittelbar begeistert aufnahmen, blieben die Junggrammatiker in Leipzig ihr gegenüber reserviert, ja oft dezidiert ablehnend, und v. a. Osthoff erging sich in endlosen Polemiken gegen Saussure 27 . Dies hinderte allerdings keinen, Saussures Schrift für Detailfragen hemmungslos und ohne Nennung der Quelle zu plündern. Einen wirklichen Durchbruch erlebte Saussures Theorie erst mit der Ablautstudie von Hermann Hirt (H IRT 1900) und der Introduction von Meillet (M EILLET 1903). Als dann anfangs des 20. Jahrhunderts auch noch das Hethitische entdeckt und entziffert wurde und Jerzy Kury ł owicz Saussures «élément spécial» (A, seit Hermann Möller als schwa indoger- 22 Alle diese Arbeiten abgedruckt in B ALLY / G AUTIER 1922: 339ss. - Cf. auch K OERNER 1972: 51s. 23 Cf. auch D E M AURO 1968: 291ss., M OUNIN 1968: 15, S CHEERER 1980: 14ss., J ÄGER 2010: 46ss. 24 Cf. D E M AURO 1968: 294 s., D E M AURO 1972: II , S CHEERER 1980: 3. 25 Für weitere, z. T. sehr ausführliche Zusammenfassungen und Diskussionen cf. S TREITBERG 1966: 103-07, D E M AURO 1968: 294 s. und v. a. S CHEERER 1980: 14-22. 26 Cf. dazu M EILLET 1951: 176s. und oben N23. 27 Cf. hierzu auch D E M AURO 1968: 295, K OERNER 1973: 24-26, S TREITBERG 1966: 105. 18 1. Einleitung manicum bezeichnet) mit dem hethitischen h identifizieren konnte 28 , war die Theorie auch noch faktisch abgestützt. Nach seinem Berliner Aufenthalt kehrt Saussure für das Wintersemester 1879/ 80 nach Leipzig zurück und bringt auch gleich seine Dissertation De l ’ emploi du génitif absolu en sanscrit mit. Das Doktorexamen findet im Februar 1880 statt und Saussure besteht es summa cum laude; die Dissertation erscheint im Jahr darauf (S AUSSURE 1881). Saussures Dissertation ist zuerst einmal eine enorme Fleißarbeit: Er sammelt in allen ihm zugänglichen Sanskrittexten die Belege für den absoluten Genitiv und ermittelt die jeweilige Funktion und Bedeutung dieser doch eher seltenen Konstruktion. Es ergibt sich daraus, daß der absolute Genitiv im Sanskrit durchaus einen spezifischen Anwendungsbereich hat, der sich auch gegenüber demjenigen des absoluten Lokativs abgrenzen läßt; Saussure arbeitet also (ähnlich wie im Mémoire) auch hier mit Oppositionen und Differenzen und hat somit nicht nur das Einzelphänomen, sondern das System im Blick. Allerdings war dies nicht das ursprüngliche Ziel der Arbeit. Vielmehr hatte Saussure eigentlich vor, den (gemeinsamen) Ursprung dieser syntaktisch-semantischen Erscheinungen zu rekonstruieren, genau wie er im Mémoire den gemeinsamen Ursprung lautlicher Phänomene rekonstruiert hatte. Und darin ist er letztlich gescheitert. Was uns als Dissertation vorliegt, ist eigentlich nur die Vorarbeit (evtl. ein Teil der Vorarbeit) für das, was er sich zum Ziel gesetzt hatte. Sowohl Saussures Zeitgenossen als auch die aktuelle Saussure-Rezeption äußern sich in der Regel enttäuscht über die Dissertation und betrachten sie als im Vergleich zum Mémoire unbedeutend 29 . Daß es ein Gefälle zwischen den beiden Arbeiten gibt, ist unbestreitbar. Deshalb die Dissertation als ein Produkt des Scheiterns abzutun, wie dies bei Mejía der Fall ist, scheint mir aber unangebracht, v. a. wenn dabei auch noch der Umfang (95 Seiten) ins Spiel gebracht wird. Man kann die Dinge nämlich auch ganz anders sehen. Eine Dissertation von rund hundert Seiten ist Ende des 19./ anfangs des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine durchaus respektable Arbeit, ja sie liegt eher schon über dem Üblichen. Und dann ist es auch absolut normal, daß deutsche Dissertationen zu dieser Zeit vor allem der Sammlung von Material und seiner elementaren Interpretation dienen. Ferdinand de Saussure hat sich in seiner Dissertation nur den Usanzen des deutschen Universitätswesens und insbesondere den Promotionsritualen angepaßt! Damit nähert sich die Leipziger Zeit ihrem Ende. Bevor Saussure Leipzig aber definitiv verläßt, scheint er noch die berühmte und in der Literatur umstrittene Reise nach Litauen unternommen zu haben. Mehrheitlich wird diese Reise auf Juni bis September 1880 angesetzt, darüber hinaus ist aber sehr wenig über besuchte Orte, untersuchte Themen usw. bekannt 30 . Ursprünglich mußte man sich in diesem Punkt auf die sehr summarischen Aussagen von Bally, Favre und Muret stützen (D E M AURO 1968: 298 s.); erst unter den 1996 in der Genfer Orangerie der Familie Saussure entdeckten Papieren fanden sich Zeugnisse, die die im Vordergrund stehenden thematischen Interessen (gesprochene Sprache, Lautung und Intonation) und einen Aufenthalt in der Gegend von Tilsit belegen (M EJÍA 2008: 233) 31 . Die Datierung dieser Reise auf das Jahr 1880 war lange unangefochten. 1963 meldete Georges Redard diesbezüglich jedoch Zweifel an und schlug vor, diese Reise um 1890 anzusetzen; Robert Godel folgte ihm in diesem Punkt v. a. aufgrund der Korrespondenz von 28 Cf. hierzu B EDR ˇ ICH 1915 und 1917; K URY Ł OWICZ 1935 (bes. 27-76). 29 Cf. z. B. M EILLET 1951: 177, K OERNER 1973: 26, S CHEERER 1980: 22s., M EJÍA 2008: 216 s., 222, 234 s. 30 Cf. D E M AURO 1968: 298, M OUNIN 1968: 15, R EDARD 1976: 149, S CHEERER 1980: 3 s., M EJÍA 2008: 232. 31 Cf. ferner J OSEPH 2007: 160ss. und J ÄGER 2010: 56 s., 214 s. N59; besonders aber P ETIT / M EJÍA 2008, die zahlreiche neue Details liefern und in einem Postscriptum die Entdeckung eines äußerst informativen Briefentwurfs an August Leskien erwähnen, der demnächst publiziert werden soll. 1. Einleitung 19 Saussure mit dem Kanonikus Casimir Jaunius im Jahre 1889 32 ; eine Rolle bei dieser Spätdatierung mag auch gespielt haben, daß Saussure 1888/ 89 eine Lehrveranstaltung zum Litauischen in Paris durchgeführt hat 33 , so daß um 1890 ein diesbezüglicher Interessenschwerpunkt zu liegen scheint. Doch später aufgetauchte Briefe veranlassen Redard dann dazu, sich ebenfalls für das Jahr 1880 auszusprechen 34 . Was veranlaßt nun Saussure aus wissenschaftlicher Sicht zu dieser Reise? Natürlich ist es das Litauische und seine Dialekte, aber diese Begründung ist noch zu pauschal. Entscheidend dürfte vielmehr gewesen sein, daß das Litauische eine besonders archaische indogermanische Sprache ist, deren älteste Texte dem 16. Jh. angehören und die erst im 17. Jh. die ersten Kodifizierungsversuche erlebt hat. Dazu kommt als weiterer Faktor, daß Saussure um diese Zeit eine methodische Wende vollzieht und (wo immer möglich) die schriftlichen Zeugnisse durch orale zu ersetzen versucht, sich also der gesprochenen, spontanen Sprache zuwendet 35 . Allerdings publiziert er vorläufig nichts zum Litauischen, und auch der Text eines Vortrags über die litauische Akzentsetzung in der SLP am 8. Juni 1889 bleibt vorerst unzugänglich. Wohl auf Drängen Bréals erscheint er schließlich 1894 in Band 8 der Mémoires, und im gleichen Jahr folgt noch eine Arbeit zur Morphologie des litauischen Nomens in den Indogermanischen Forschungen. 1896 kehrt Saussure dann im Anzeiger für indogermanische Sprach- und Altertumswissenschaft nochmals zur Akzentproblematik zurück 36 . Erstaunen muß allerdings, daß er sich in diesen Arbeiten ausschließlich auf schriftliche Quellen stützt und seine eigenen Erhebungen während der Litauenreise nicht zum Tragen kommen 37 . Dies hat zweifellos mit dem Einbruch des Publikationsrhythmus zu Beginn der Pariser Zeit zu tun. 1.4. Mit der definitiven Übersiedelung nach Paris Ende 1880 (November oder Dezember) beginnt für Saussure - nach Leipzig und Berlin - ein universitär und gesellschaftlich äußerst erfolgreicher Lebensabschnitt 38 . Er ist seit 1876 Mitglied der SLP, und abgesehen vom Mémoire und der Dissertation sind auch alle seine bisherigen Arbeiten in den Mémoires der SLP publiziert worden. So kann es denn auch nicht erstaunen, daß er vom Moment seiner Ankunft an im Institutionsleben der Société aktiv wird 39 . Dies tut er mit solchem Erfolg, daß er am 16. 12. 1882, gerade einmal 25-jährig, zum secrétaire adjoint der SLP ernannt wird und als solcher die Nachfolge von Louis Havet antritt; damit wird er de facto Redaktor der MSLP 40 . Anfänglich besucht er auch noch Lehrveranstaltungen an der École pratique des Hautes Études (EPHE), u. a. bei Michel Bréal, James Darmesteter, Abel Bergaigne und Louis Havet 41 . Havet war schon anläßlich der Publikation des Mémoire auf ihn aufmerksam geworden, und in Paris erkannte auch Bréal sofort seine Begabung und seine Qualitäten. Ständig auf der Suche nach jungen Talenten, die ihm als förderungswürdig erscheinen, überläßt er Saussure 32 Cf. hierzu D E M AURO 1972: 331 N6 (diese Fußnote findet sich nur in der französischen Übersetzung der Ausgabe von De Mauro). - Für die Korrespondenz mit Jaunius cf. G ODEL 1973: 13-22. 33 Cf. D E M AURO 1968: 298, M EJÍA 2008: 233. 34 Cf. R EDARD 1976, v. a. p. 149 s. - Cf. darüberhinaus v. a. J ÄGER 2010 56 s., 214 s. N59. 35 Cf. hierzu z. B. S CHEERER 1980: 3, M EJÍA 2008: 233ss. 36 Cf. S AUSSURE 1894a und 1894b, 1896. - Vgl. ferner S TREITBERG 1966: 108 s., M EJÍA 2008: 233. - Zu Saussures Notizen zum litauischen Akzent und ihrer Bedeutung für seine Sprach- und Sprachwissenschaftstheorie cf. jetzt auch J ÄGER 2010: 116ss. 37 Cf. hierzu K OERNER 1973: 26 s. 38 Cf. z. B. M EILLET 1951: 177, D E M AURO 1968: 301, M OUNIN 1968: 15, K OERNER 1973: 27 s., S CHEERER 1980: 3, J ÄGER 2010: 58ss. usw. 39 Cf. M EILLET 1951: 177, K OERNER 1973: 28. 40 Cf. z. B. M EILLET 1951: 178, D E M AURO 1968: 305, M OUNIN 1968: 16, S CHEERER 1980: 4. 41 Cf. D E M AURO 1968: 301, M OUNIN 1968: 15, K OERNER 1973: 28. 20 1. Einleitung im Herbst 1881 seine Lehrveranstaltung zur Grammaire comparée an der EPHE 42 . Am 30. 11. 1881 wird Saussure zum maître de conférences für Vergleichende Grammatik der germanischen Sprachen (und insbesondere des Gothischen und des Althochdeutschen) ernannt 43 ; am 5. 11. 1888 wird dann die Lehrbefugnis auf Grammaire comparée ohne jede Einschränkung erweitert 44 . Von 1881 bis zu seinem Weggang nach Genf im Jahre 1891 wirkte Saussure in Paris als außerordentlich erfolgreicher Universitätslehrer, der von seinen Hörern und Schülern ohne Ausnahme in höchsten Tönen gelobt wird 45 . Und zu diesen Schülern zählten eine Reihe von Wissenschaftlern, die eine erfolgreiche Universitätskarriere in den unterschiedlichsten Fachgebieten machen sollten: L. Duveau (der Saussures direkter Nachfolger an der EPHE wurde), G. Mohl, M. Grammont, P. Passy, A. Meillet, G. Dottin, P. Boyer, J. Psichari, F. Lot u. a. m. 46 . Die Aufnahme der Lehre in Paris stellt zweifellos eine bedeutende Zäsur in Saussures Leben dar. Und diese Zäsur macht sich auch anderweitig bemerkbar: Die Publikationen Saussures werden immer seltener und sind - mit wenigen Ausnahmen - meist nur noch kurze Miszellen. Diese Entwicklung führt gegen 1890 zu einer eigentlichen Publikationsphobie. Man hat viel über die Ursache dieser Entwicklung gerätselt und sie u. a. auch auf Saussures Akribie und seinen Perfektionismus zurückgeführt. Nach Claudia Mejía 47 liegt der Hauptgrund für das Versiegen des Publikationselans aber darin, daß es für Saussure einen gewissen Antagonismus zwischen Forschung und Lehre gibt und er sich entschieden hat, der Rolle des Lehrers den Vorrang zu geben. Nach dem fulminanten Start nimmt Saussures Leben in Paris einen eher ruhigen Verlauf. Erst gegen Ende dieser Lebensphase kommt es wieder zu wichtigen Ereignissen. So läßt sich Saussure für das akademische Jahr 1889/ 90 beurlauben, angeblich um aus gesundheitlichen Gründen ein Jahr in Genf zu verbringen 48 . Möglicherweise findet in dieser Zeit auch die umstrittene Reise nach Litauen statt, doch ist diese These inzwischen als recht unwahrscheinlich zu betrachten 49 . Während seiner Abwesenheit wird Saussure durch Antoine Meillet vertreten, der zwar nicht sein direkter Nachfolger an der EPHE werden wird, letztlich aber doch Saussures Erbe in Paris antritt. Das darauf folgende Jahr 1891 wird wieder zu einer Zäsur in Saussures Leben. Nach M EJÍA 2008: 117 hatte er schon 1889 beschlossen, Paris zu verlassen, und dieser Beschluß wird 1891 nun realisiert: Saussure kehrt nach Genf zurück und übernimmt dort ein Extraordinariat. Damit verzichtet er auf einen Lehrstuhl am Collège de France: Michel Bréal (erneut Bréal! ) bot ihm seine eigene chaire de grammaire comparée an, um ihn in Paris zu halten 50 . Die Enttäuschung in Paris muß groß gewesen sein; gleichwohl erhielt Saussure gewissermaßen als Abschiedsgeschenk das Croix de la légion d ’ honneur à titre étranger 51 . 42 Cf. M EILLET 1951: 177 s., D E M AURO 1968: 301, M OUNIN 1968: 15, K OERNER 1973: 28. 43 M EILLET 1951: 178, S TREITBERG 1966: 107, D E M AURO 1968: 301, M OUNIN 1968: 15, K OERNER 1973: 28, S CHEERER 1980: 4. 44 Cf. M EILLET 1951: 178, S TREITBERG 1966: 107, D E M AURO 1968: 302. 45 Cf. u. a. M EILLET 1951: 178 s., G AUTHIOT 1966: 88ss., M OUNIN 1968: 16, K OERNER 1973: 28, S CHEERER 1980: 4. 46 Cf. M EILLET 1951: 178, S TREITBERG 1966: 107, G AUTHIOT 1966: 88ss., D E M AURO 1968: 302ss., M OUNIN 1968: 16, K OERNER 1973: 28. 47 Cf. M EJÍA 2008: 236ss., 241 s. 48 Cf. G AUTHIOT 1966: 89, M OUNIN 1968: 16, J ÄGER 2010: 64. 49 Cf. hierzu oben. 50 Cf. M EJÍA 2008: 27, 117ss. 51 Cf. D E M AURO 1968: 310, K OERNER 1973: 28, S CHEERER 1980: 4. 1. Einleitung 21 Warum entscheidet sich Saussure für Genf und gegen Paris, für die Provinzstadt und gegen die Kapitale? Diese Frage hat die Saussure-Biographen immer wieder beschäftigt, und oft ist sie mit dem Nationalitätenargument beantwortet worden: Saussure hätte französischer Staatsbürger werden müssen um, in Paris zu bleiben 52 . Das ist insofern nicht richtig, als für den maître de conférences an der EPHE die Nationalität nie ein Problem war; sie wurde es erst für den (potentiellen) Lehrstuhlinhaber am Collège de France - und da hatte sich Saussure schon längst für die Rückkehr nach Genf entschieden 53 . Die Entscheidungsgründe sind also anderweitig zu suchen. Claudia Mejía hat sicher recht, wenn sie in Saussures gescheitertem Werben um Lucie Noémie Mallet einen wichtigen Faktor sieht 54 . Dazu kommt aber weiter - und sicher mit einem erheblichen Gewicht - , daß Saussures Familienbindungen extrem stark sind und bei allen (eher unterschwellig gebliebenen) Konflikten mit dem Vater Henri und der Mutter Louise in seinem Leben eine zentrale Rolle gespielt haben. Nachdem Ende der 80er Jahre die psychischen Probleme von Louise immer bedrohlicher, der Allgemeinzustand von Henri immer prekärer geworden waren und die ganze engere Familie sich in einem kritischen Zustand befand, bat Ferdinands Onkel Théodore diesen, nach Genf zurückzukehren; und um ihm diesen Entscheid schmackhafter zu machen, wollte er ihm die auf Horace-Bénédict zurückgehende Liegenschaft La Tertasse, gewissermaßen das Stammhaus der Familie, vererben 55 . Zu all dem kommt noch hinzu, daß Ferdinand de Saussure ein eingefleischter Genfer Aristokrat ist, der dem nachrevolutionären Frankreich und vor allem der 2. Republik nicht viel abgewinnen kann. Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch nach einer Rückkehr in sein angestammtes Milieu leicht nachzuvollziehen 56 . Dazu paßt auch, daß Ferdinand erst in Genf innerhalb seiner Kreise heiraten wird. Das Werben um Noémie Mallet in Paris steht dazu keineswegs im Widerspruch, hat doch Noémie aristokratische Wurzeln in der Westschweiz: Sie ist die Tochter von Anna de Rougemont, einer Cousine zweiten Grades seiner Mutter Louise de Pourtalès 57 . 1.5. Zum Wintersemester 1891 kehrt Saussure definitiv nach Genf zurück 58 , wo für ihn ein Extraordinariat für Histoire et comparaison des langues indo-européennes geschaffen worden war 59 . Diese außerordentliche Professur wurde dann 1896 in ein Ordinariat für Sanskrit und indogermanische Sprachen umgewandelt 60 . In Genf sollte Saussure auch heiraten 61 . Die 52 Cf. u. a. M OUNIN 1968: 16, K OERNER 1973: 28, S CHEERER 1980: 5. 53 Cf. M EJÍA 2008: 117. 54 Cf. M EJÍA 2008: 117, 268. 55 Cf. M EJÍA 2008: 118. - Nach J ÄGER 2010: 59, 67 soll die Rückkehr Ferdinands nach Genf allerdings v. a. von seinem Vater Henri betrieben worden sein, was im weiteren Familienkontext durchaus plausibel ist; möglicherweise war Théodore einfach von Henri vorgeschickt, um Abwehrreaktionen von Seiten Ferdinands zu vermeiden. 56 Cf. M EJÍA 2008: 118 s. 57 Cf. M EJÍA 2008: 268. 58 Cf. M EILLET 1951: 179, S TREITBERG 1966: 107, D E M AURO 1968: 310, M OUNIN 1968: 16, K OERNER 1973: 28, S CHEERER 1980: 4, F EHR 1997: 42s. 59 Cf. M OUNIN 1968: 16, K OERNER 1973: 29. - Der Text der (dreiteiligen) Antrittsvorlesung vom November 1891 stellt eines der ersten Dokumente zu Saussures Beschäftigung mit der Allgemeinen Sprachwissenschaft dar und ist uns erhalten geblieben; cf. E NGLER 1974: 3-14 (= N1.1, 1.2, 1.3 = 3283-85) bzw. S AUSSURE 2002: 143-73. Für eine deutsche Übersetzung cf. F EHR 1997: 240-73. 60 Cf. u. a. S TREITBERG 1966: 107, D E M AURO 1968: 310, M OUNIN 1968: 16, S CHEERER 1980: 5. 61 Cf. D E M AURO 1968: 313, J ÄGER 2010: 67. - Die Hochzeit fand am 18. 3. 1892 statt. 22 1. Einleitung Auserwählte, Marie Faesch, gehörte einer alten, urspünglich aus Basel stammenden 62 Familie an, in deren Besitz sich auch das Schloß von Vufflens (bei Morges) befand; mit ihr hatte er drei Kinder, Raymond, Jacques und André, der aber schon drei Monate nach seiner Geburt stirbt 63 . Über die angeblich nicht sonderlich harmonische Ehe gibt es zahlreiche Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt aber zweifelhaft ist. Fest steht auf jeden Fall, daß Marie den wissenschaftlichen Leistungen ihres Gatten großen Respekt zollte und nach seinem Tode die zahlreichen Nachrufe und Erinnerungsartikel sammelte und in einer (privaten) Gedenkschrift veröffentliche (D E S AUSSURE 1915). In Genf scheint Saussures Interesse für die Fragen der allgemeinen Sprachwissenschaft wieder neu geweckt worden zu sein, das in den späteren Pariser Jahren in den Hintergrund getreten war 64 . Möglicherweise lieferte hierzu die Publikation der Sprachwissenschaft von Georg von der Gabelentz (G ABELENTZ 1891) den Anstoß. Eine wichtige Rolle hat aber sicher auch das für Saussure in mancherlei Hinsicht bedeutende Jahr 1894 gespielt. Einmal stirbt in diesem Jahr der amerikanische Sanskritist und Sprachtheoretiker William Dwight Whitney, und Saussure wird vom Sekretär der American Philological Society gebeten, eine Würdigung Whitneys als Komparatist zu verfassen 65 . Diese Aufgabe hat Saussure auch mit Elan in Angriff genommen, den Beitrag aber nie fertiggestellt 66 . Dann findet in diesem Jahr in Genf der 10. Internationale Orientalistenkongreß statt, den Saussure mitorganisierte; und aus diesem Anlaß hielt er auch einen Vortrag über den Akzent im Litauischen, der sonst wohl nie fertiggestellt worden wäre (S AUSSURE 1896) 67 . Und schließlich gehört dem Jahr 1894 auch noch der berühmte, vom 4. Januar datierte Brief an Antoine Meillet an, in dem sich Saussure u. a. über die Inkonsistenz der linguistischen Terminologie beklagt 68 und auch von der Möglichkeit spricht, ein Buch über die Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft zu verfassen 69 . Die nächsten zehn Jahre in Genf sind - zumindest von außen gesehen - wenig ereignisreich, und Saussures Wirken scheint vor allem auf die Lehre fokussiert zu sein. Diesem Bereich gehört auch die nächste wichtige Zäsur an: 1906 übernimmt Ferdinand de Saussure die Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft von dem als Linguist vollkommen unbedeutenden Joseph Wertheimer, der sich 1905 von der Universität zurückgezogen hatte 70 . Aus diesem Anlaß wurde auch Saussures Lehrstuhl neu definiert, der von nun an «Linguistique générale et [. . .] histoire et comparaison des langues indo-européennes» hieß 71 . Die erste 62 Cf. hierzu Wikipedia (fr.) 2010, s. Marie Faesch. - Zum berühmten Johann Rudolf Faesch (1572 - 1659) cf. Schweizer Lexikon 2 (1992): 534. 63 Cf. J ÄGER 2010: 67. 64 Cf. K OERNER 1973: 29, 174-90. 65 Cf. G ODEL 1969: 32, K OERNER 1973: 29. 66 Die erhaltenen, umfangreichen Notizen und Entwürfe sind aber in die kritische Ausgabe des CLG von Rudolf Engler eingegangen (E NGLER 1974, N 10 [3297]); der zusammenhängende Text findet sich überdies in S AUSSURE 2002: 203-22. Für eine deutsche Übersetzung cf. F EHR 1997: 303ss. - Zu Saussures Haltung gegenüber Whitney cf. auch J ÄGER 2010: 94ss. 67 Cf. hierzu auch M EILLET 1951: 180, 181 s., G ODEL 1969: 31, K OERNER 1973: 30. 68 Zu Saussures Ringen mit der traditionellen Terminologie cf. N 13 (3300) und N13 a (3301), E NGLER 1974: 29; für deutsche Übersetzungen dieser Texte cf. F EHR 1997: 342ss. 69 Für den Brief cf. B ENVENISTE 1964: 95, G ODEL 1969: 31s. - Cf. ferner M OUNIN 1968: 18, K OERNER 1973: 30, 31, S CHEERER 1980: 6 s.; J ÄGER 2010: 92 s. - Für die erhaltenen Notizen zu diesem Projekt cf. E NGLER 1974: 21, 26-29 (N 9.1, 9.2, 9.3, 11, 12); für den zusammenhängenden Text cf. S AUSSURE 2002: 197- 203, und für eine (zusammenhängende) deutsche Übersetzung dieser Texte cf. F EHR 1997: 296ss., 329ss. 70 Cf. hierzu D E M AURO 1968: 291, 319. 71 Cf. S TREITBERG 1966: 107, D E M AURO 1968: 319, 322ss., M OUNIN 1968: 16, S CHEERER 1980: 6. 1. Einleitung 23 Vorlesungsreihe zur Allgemeinen Sprachwissenschaft hielt Saussure ab Januar 1907, die zweite 1908/ 09 und die dritte 1910/ 11 72 . Die Beschäftigung mit dem zusätzlichen Lehrbereich war zu diesem Zeitpunkt für Saussure allerdings keineswegs neu; nach seinen eigenen Aussagen in Gesprächen mit Albert Riedlinger und Léopold Gautier hat er sich mit diesen Fragen v. a. vor 1900 auseinandergesetzt 73 . Als weitere wichtige Ereignisse in diesem letzten Lebensabschnitt müssen drei Ehrungen erwähnt werden. Am 14. Juli 1908 wurde ihm aus Anlaß seines (längst verflossenen) 50. Geburtstags eine Festschrift übereicht 74 , die u. a. Beiträge von Ch. Bally, M. Niedermann, A. Meilllet, J. Wackernagel, A. Sechehaye, A. Ernout, R. Thurneysen, M. Grammont, E. Schwyzer, J. Vendryès usw. enthielt und von der hohen Wertschätzung Saussures in den verschiedensten sprachwissenschaftlichen Unterdisziplinen zeugte 75 . - 1909 wird Saussure zum Mitglied der Dänischen Akademie der Wissenschaften ernannt (D E M AURO 1968: 325), und am 16. Dezember 1910 schließlich erfolgt seine Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, eine Ehrung, über die er sich zwar gefreut zu haben scheint, die ihn aber wegen der damit verbundenen Formalitäten auch verunsicherte und beunruhigte, wie ein Brief an Max von Berchem bezeugt 76 . Schon ab 1880/ 81 hatte sich Saussures Publikationsrhythmus deutlich verlangsamt, und v. a. legte er keine größeren Arbeiten mehr vor. In Genf kommt dann sein Publikationsdrang fast ganz zum Erliegen und er liefert fast nur noch Beiträge zu Festschriften und Kongressen, bei denen er glaubt, jemandem gegenüber eine Bringschuld zu haben 77 . Sonst scheint er sich - wie bereits in Paris - vorwiegend auf die Lehre konzentriert zu haben. Neben dem Sanskrit, das er jedes Jahr anbietet, ist das von ihm abgedeckte Programm von einer geradezu erdrückenden Fülle und Breite und reicht hin bis zur historischen Grammatik des Deutschen und Englischen, der Sprachgeographie, der Phonologie des Gegenwartsfranzösischen und der französischen Verslehre 78 . Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß Saussures Interessenbereich sich nicht auf die Linguistik beschränkt, ja er ihrer vielleicht zu einem gewissen Grade sogar etwas überdrüssig geworden ist und (in für die Indogermanisten der Zeit typischer Manier) dazu neigt, in den literarischen bzw. mythologischen Bereich auszuweichen 79 . Diese latente Disposition ist u. U. dadurch aktiviert worden, daß er im Sommersemester den Germanisten Émile Redard vertreten mußte und dies mit einer Veranstaltung über die Nibelungen tat 80 . Neben den Nibelungen hat er sich auch intensiver mit dem Tristan, mit Theseus und mit Orion befaßt, 72 Cf. hierzu unten. - Nach L INDA 2001: 167 und J ÄGER 2010: 73 hat Saussure aber auch 1907/ 08 über allgemeine Sprachwissenschaft gelesen (die Namen der Hörer sind bekannt, cf. L INDA 2001: 175). Und da Saussure aufgrund seiner Lehrstuhlbeschreibung verpflichtet war, jedes Jahr eine entsprechende Veranstaltung anzubieten, vermutet L INDA 2001: 173, daß es auch 1909/ 10 und 1911/ 12 einen Cours de linguistique générale gegeben hat. Für diese Annahme gibt es aber keine Beweise oder Zeugnisse. 73 Cf. G ODEL 1969: 29ss., D E M AURO 1968: 322. 74 Cf. M EILLET 1951: 179, D E M AURO 1968: 325, M OUNIN 1968: 16 und v. a. L OUCA 1974/ 75: 17, 29. 75 Cf. Mélanges linguistiques offerts à M. Ferdinand de Saussure, Paris 1908 (Collection linguistique publiée par la SLP, t. 11). - Für eine Besprechung von M AURICE G RAMMONT cf. RLaR 55 (1912): 387 - 89. 76 Cf. L OUCA 1974/ 75: 32 s., ferner D E M AURO 1968: 325. 77 Cf. D E M AURO 1968: 313-15, M OUNIN 1968: 17-19, K OERNER 1973: 30. 78 Cf. hierfür v. a. G ODEL 1969: 24ss. - Ferner D E MAURO 1968: 310 s., K OERNER 1973: 30 s., S CHEERER 1980: 5 s. 79 Cf. D E M AURO 1968314 s., M OUNIN 1968: 18, K OERNER 1973: 31. 80 Cf. G ODEL 1969: 25. - Diese Aufgabe hat dann wohl zu einem Vortrag vor der Société d ’ histoire et d ’ archéologie in Genf am 15. 12. 1904 geführt: «Les Burgonds et la langue burgonde en pays romand»; cf. G ODEL 1969: 25 s., K OERNER 1972: 56 (Nr. 102), 24 1. Einleitung und dies hat letztlich auch zu (unpublizierten) theoretischen Reflexionen über die mythischen und legendären Gegebenheiten und Mechanismen im Rahmen einer allgemeinen Semiologie geführt 81 . Eine gewisse Nähe zur Legendenthematik hat auch Saussures Beschäftigung mit dem (altlateinischen) saturnischen Vers, dessen Geheimnisse er zu lüften versucht. Und von hier war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der fast obsessionellen Suche nach Anagrammen (Hypogrammen, Paragrammen. . .) in der lateinischen, mittel- und neulateinischen Dichtung von Ennius bis Giovanni Pascoli 82 . Auch diese Forschungsansätze und -interessen sind zu Saussures Lebzeiten unpubliziert geblieben (ebenso wie die Reflexionen zu den Legenden und zur allgemeinen Sprachwissenschaft); erst postum sind sie bekannt geworden, der Cours anfangs, der Rest erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1.6. Im Sommersemester 1912 erkrankt Ferdiand de Saussure so schwer, daß er seine Lehrveranstatlungen abbrechen muß. Er beantragt eine Beurlaubung krankheitshalber, die ihm auch gewährt wird, nachdem der Dekan sich überzeugt hat, daß seine stimmlichen Probleme eine Fortführung des Unterrichts verunmöglichen (M EJÍA 2008: 26). Saussure zieht sich auf den Familienbesitz der Faesch in Vufflens zurück, ist aber immer noch voller Projekte: Er plant, das Frühjahr 1913 in Südfrankreich zu verbringen, und er beginnt (evtl. unter dem Einfluß seines Bruders Léopold) Chinesisch zu lernen. Sein Zustand verschlechtert sich im Laufe des Winters aber zusehends; er stirbt, für sein Umfeld völlig unerwartet, am Abend des 22. Februar 1913 (D E M AURO 1968: 325). Die Gründe für seinen frühen Tod (er ist gerade einmal 55 Jahre alt) sind bis heute ungeklärt und werden es vielleicht auch für immer bleiben wenn stimmt, was er in einem späten Brief an seine Frau Marie schreibt: nämlich daß die Ärzte nichts Abnormales bei ihm feststellen können (M EJÍA 2008: 26). Sicher ist, daß er einer «maladie longue et pénible» erliegt (M EJÍA 2008: 25). Alles weitere um seinen Tod sind (z. T. bösartige) Gerüchte, wie sie in einem solchen Fall geradezu pilzartig aus dem Boden schießen. Die verbreitetsten sind 83 : - Saussure wäre an einer Leberzirrhose gestorben, die auf einen übermäßigen Alkoholgenuß seit seiner Jugend zurückgehen soll; in späteren Jahren sei er ein notorischer Trinker gewesen, der z. T. sogar seine Bücher verscherbelt habe, um sich Alkohol zu beschaffen. Dies ist alles nicht bewiesen und paßt auch nicht zu den körperlichen Verfallserscheinungen, die ihm Nahestehende beschreiben; überdies sind seine geistigen Fähigkeiten in keiner Weise beeinträchtigt. - Saussure soll einer syphilitischen Erkrankung erlegen sein, die er sich bei Bordellbesuchen in Marseille oder Paris, evtl. auch in Genf zugezogen hätte. Daß Bordellbesuche in besseren Kreisen damals nichts Ungewöhnliches waren, ist unbestritten; aber es gibt keine Zeugnisse, daß Ferdinand den Umgang mit Dirnen praktiziert habe, und ebensowenig läßt sich ihm eheliche Untreue nachweisen. - Nach einem weiteren Gerücht wäre Saussure an einem Kehlkopfkrebs gestorben. Dies paßt vielleicht noch am Besten zu den beschriebenen Symptomen, v. a. zu seinen stimmlichen Problemen und dem rapiden köperlichen Verfall. Zudem ist bekannt, daß er Zeit seines Lebens ein starker Raucher war und auch seit früher Jugend immer wieder an Erkrankungen der Atemwege litt. Seine Rede soll überdies immer wieder durch ein 81 Cf. hierzu A VALLE 1972 a: 163-79, 1972 b, 1973: 59-128; M ARINETTI / M ELI 1986; W UNDERLI 1981: 37ss. 82 Cf. - neben D E M AURO 1968: 315s., K OERNER 1973: 31, S CHEERER 1980: 6 - v. a. S TAROBINSKI 1971, W UNDERLI 1972 und 2004: 174-85, B RAVO 2011. 83 Cf. für das Folgende v. a. M EJÍA 2008: 25ss. 1. Einleitung 25 leichtes Hüsteln unterbrochen gewesen sein. Und man könnte als weiteres Indiz hinzufügen, daß auch seine beiden Söhne später an Krebs gestorben sind. Aber auch in diesem Fall fehlen irgendwelche schlüssigen Beweise. Und wenn die Todesursache tatsächlich ein Krebsleiden war, warum sollte die Familie dann den Schleier des Schweigens darüber ziehen? - Nach einer letzten Hypothese soll Ferdinand de Saussure an einer schweren und äußerst schmerzhaften Arteriosklerose gestorben sein. Aber wenn dem so wäre, warum kommt denn sein Tod so unerwartet? Und auch in diesem Fall scheint ein Verschleierungsmotiv nicht gegeben zu sein. Auch wenn eine Krebserkrankung noch am wahrscheinlichsten ist, muß festgehalten werden, daß die Frage nach dem Grund für Ferdinands frühen Tod weiterhin unbeantwortet bleibt. Auch der vage Hinweis bei J ÄGER 2010: 74, Claude de Saussure habe ihm noch einen «anderen» Grund genannt, bringt uns nicht weiter. Saussure ist am Ende seines Lebens so etwas wie die graue Eminenz der Indogermanistik, hochgeschätzt und verehrt in der scientific community; von seinen übrigen Interessenbereichen dagegen (Legenden, Anagramme, allgemeine Sprachwissenschaft) wissen nur einige wenige Eingeweihte. 2. Der CLG und seine Quellen 2.0. Als Ferdinand de Saussure am 22. Februar 1913 starb, hatte er nichts publiziert, was man als spezifischen Beitrag zur Allgemeinen Sprachwissenschaft bezeichnen könnte 84 . Sicher werden in seinen Schriften da und dort Fragen angesprochen, die Berührungspunkte mit der linguistique générale darstellen, aber von der jeweiligen Leitthematik sind alle seine zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeiten der Indogermanistik zuzurechnen: das Mémoire, die Dissertation, die - zusammen mit den beiden Monographien - später im Recueil vereinten Aufsätze 85 . Man kann auch nicht behaupten, die Allgemeine Sprachwissenschaft sei ein von Saussure bevorzugtes Reflexionsgebiet gewesen, mit dem er sich während seines ganzen Lebens auseinandergesetzt hätte (ohne aber etwas zu veröffentlichen), ganz im Gegenteil. Wie Rudolf Engler zu Recht unterstreicht, wird in Saussures berühmtem Brief an Antoine Meillet vom 4. Januar 1894 sogar so etwas wie eine Abneigung gegen die Allgemeine Sprachwissenschaft deutlich 86 : . . . je suis bien dégoûté de tout cela 87 , et de la difficulté qu ’ il y a en général à écrire seulement dix lignes ayant le sens commun en matière de faits de langage . . . C ’ est en dernière analyse seulement le côté pittoresque d ’ une langue, celui qui fait qu ’ elle diffère de toutes les autres comme appartenant à un certain peuple ayant certaines origines, c ’ est ce côté presque ethnographique qui conserve pour moi un intérêt: et précisément, je n ’ ai plus le plaisir de pouvoir me livrer à cette étude sans arrière-pensée et de jouir du fait particulier tenant à un milieu particulier. 84 Für die Gründe von Saussures Publikationsabstinenz cf. F EHR 1997: 39ss. und unten. 85 Cf. S AUSSURE 1879, S AUSSURE 1881, B ALLY / G AUTIER 1922. - Cf. hierzu auch E NGLER 1967: 14s. und E NGLER 1968: IX . 86 Cf. E NGLER 1959: 120, F EHR 1997: 17. - Zu Saussures Vorliebe für die historischen, pittoresken, ethnographischen Aspekte der Sprache cf. auch J ÄGER 2010: 92 s. 87 D. h. von der Intonationsproblematik im Litauischen. 26 1. Einleitung Sans <cesse>, cette ineptie de la terminologie courante, la nécessité de la réformer, et de montrer pour cela quelle espèce d ’ objet est la langue en général, vient gâter mon plaisir historique, quoique je n ’ aie pas de plus cher v œ u que de ne pas avoir à m ’ occuper de la langue en général. Cela finira malgré moi par un livre où, sans enthousiasme, j ’ expliquerai pourquoi il n ’ y a pas un seul terme employé en linguistique auquel j ’ accorde un sens quelconque. Et ce n ’ est qu ’ après cela, je l ’ avoue, que je pourrai reprendre mon travail au point où je l ’ avais laissé. (G ODEL 1969: 31 = B ENVENISTE 1964: 95) 88 Deutlicher kann man wohl nicht ausdrücken, was Saussure wirklich interessiert und was für ihn letztlich nur lästige Propädeutika sind. Mit diesen Fragen scheint er sich vor allem vor 1900 beschäftigt zu haben, was er auch in zwei Gesprächen mit Riedlinger (1909) und Gautier (1911) selbst bestätigt 89 ; später traten dann (neben dem Sanskrit und der Indogermanistik im allgemeinen) für ihn andere Themen in den Vordergrund: die germanische Mythologie, die germanischen Sprachen, das Chinesische . . . Überdies darf nicht vergessen werden, daß für Saussure nach 1881 die Lehre vor der Forschung absolute Priorität hatte 90 . Dies führte dazu, daß bei Saussures Tod nur einige wenige Eingeweihte Kenntnis von seinen Ideen bezüglich der Allgemeinen Sprachwissenschaft hatten (E NGLER 1968: IX ) - und dies trotz der drei Genfer Vorlesungen zum Thema; aber die Hörerzahlen waren auch nicht sonderlich beeindruckend: 5 oder 6 im Jahr 1907, 11 oder 12 im 2. Cours (1908/ 09) und 12 im 3. Cours (1910 - 11) 91 . Unter diesen Studenten gab es allerdings einige besonders interessierte und engagierte wie Albert Riedlinger, Léopold Gautier, Émile Constantin usw., und diese versuchten Saussure dazu zu bewegen, seine Gedanken zur Allgemeinen Sprachwissenschaft zu publizieren. Obwohl Saussure 1894 an eine solche Publikation gedacht hatte 92 , lehnte er dies in seinem Gespräch mit Riedlinger 1909 ausdrücklich ab: L ’ introduction que M. de Saussure a faite jusqu ’ ici dans son cours de linguistique générale n ’ est qu ’ une causerie. Si le cours avait suivi, elle aurait dû être tout autre. M. de Saussure traitera cette année les langues indo-européennes et les problèmes qu ’ elles posent. Ce sera une préparation pour un cours philosophique de linguistique. M. de Saussure ne se refuse pas catégoriquement à l ’ essayer dans deux ans; ce sera aux élèves, je pense, à l ’ y décider. Quant à un livre sur ce sujet, on ne peut y songer: il doit, dit M. de Saussure, donner la pensée définitive de son auteur. (G ODEL 1969: 30) 93 Es besteht kein Zweifel daran, daß Saussure seine Überlegungen zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1909 noch für unausgereift hielt, und ähnlich äußert er sich zwei Jahre später in einem Gespräch mit Gautier: (Je lui avais demandé s ’ il avait rédigé ses idées sur ces sujets.) - Oui, j ’ ai des notes mais perdues dans des monceaux, aussi ne saurais-je les retrouver. (J ’ avais insinué qu ’ il devrait faire paraître quelque chose sur ces sujets.) - Ce serait absurde de recommencer de longues recherches pour la publication, quand j ’ ai là (il fait un geste) tant et tant de travaux impubliés. (G ODEL 1969: 30) 88 Für in diesem Zusammenhang und zu diesem Zeitpunkt entstandene Notizen für ein Buch über die Allgemeine Sprachwissenschaft cf. auch S AUSSURE 2002: 197 - 203. 89 Cf. G ODEL 1969: 30s., W UNDERLI 1972: 73. - Ferner E NGLER 1959: 120, D E M AURO 1972: 353. 90 Cf. G ODEL 1969: 24, M EJÍA 2008: 236ss., 241 s. 91 Cf. G ODEL 1958/ 59: 16, K OERNER 1973: 221 N14. 92 Cf. oben den Brief an Meillet. 93 Cf. auch E NGLER 1968: IX , D E M AURO 1972: 7, F EHR 1997: 34ss., 39ss., J ÄGER 2010: 164ss. 1. Einleitung 27 Angesichts solcher Aussagen muß man sich schon fragen, wo Bally und Sechehaye den Mut zur Publikation des CLG hernahmen 94 . 2.1. Nach Saussures Tod beschlossen Charles Bally (1865 - 1947) und Albert Sechehaye (1870 - 1946), Saussures Überlegungen zur Allgemeinen Sprachwissenschaft einem breiteren linguistisch interessierten Publikum zugänglich zu machen. Sie waren beide 1913 bereits gestandene Forscher, die auf eine Reihe eigener Publikationen zurückblicken konnten 95 , u. a. Bally auf seinen Précis de stylistique (1905), den Traité de stylistique française (1909) und die 1. Auflage von Le langage et la vie (1913), Sechehaye auf das bedeutende (und allgemein verkannte) Programme et méthodes de la linguistique théorique (1908). Beide hatten Saussures drei Vorlesungen zur Allgemeinen Sprachwissenschaft nicht selbst gehört, waren aber mit seinen Ideen aufgrund intensiver Kontakte und zahlreicher Gespräche durchaus vertraut. Die beiden hatten gehofft, in Saussures nachgelassenen Papieren wesentliche Entwürfe zur Allgemeinen Sprachwissenschaft zu finden. Die ihnen von Marie de Saussure zur Verfügung gestellten Dokumente waren aber in jeder Hinsicht enttäuschend, enthielten sie doch nur einige wenige Bruchstücke und Fragmente 96 . Auch Notizen zu den drei Vorlesungen (1907, 1908/ 09, 1910/ 11) fehlten fast vollständig, denn Saussure hatte die Gewohnheit, seine Brouillons nach getaner Arbeit mehr oder weniger regelmässig zu vernichten 97 . Bally und Sechehaye mußten deshalb einen anderen Weg suchen und entschlossen sich, ihre Darstellung von Saussures Sicht der Allgemeinen Sprachwissenschaft aufgrund der Studentenskripte zu den drei Vorlesungen zu erarbeiten 98 . Dies mag auf den ersten Blick als ein problematischer Weg erscheinen, denn Vorlesungsmitschriften von Studenten sind in der Regel recht unzuverlässige Quellen - dies weiß jeder, der seine eigenen Skripte einmal sorgfältig überprüft hat. Im Falle von Saussures Cours de linguistique générale erweisen sich derartige Vorbehalte aber als weitgehend unbegründet. Saussure hatte das Glück, unter seinen Hörern mehrere sehr gute, ja sogar einige herausragende Studenten zu haben (Riedlinger, Gautier, Dégallier, dann aber v. a. Constantin), die äußerst extensiv und zuverlässig mitprotokollierten. Einer von ihnen (Caille) hielt den 1. Cours sogar in einem Stenogramm fest. Zudem standen zu jeder Vorlesung mehrere Skripte zur Verfügung, die man miteinander abgleichen und so viele Ungenauigkeiten und Fehler neutralisieren konnte. Damit sind aber bei weitem noch nicht alle Schwierigkeiten eliminiert. Eine der gravierendsten ist die Tatsache, daß die drei Vorlesungen inhaltlich sehr unterschiedlich angelegt sind und überdies drei verschiedene Entwicklungsstufen von Saussures Überlegungen repräsentieren 99 . Im 1. Cours (1907) befaßt sich Saussure zuerst einmal mit der Lautphysiologie (phonologie), um sich dann den diachronischen Fragestellungen zuzuwenden: Lautwandel und analogischer Wandel, Beziehung zwischen den vom Sprecher synchronisch wahrgenommenen Einheiten und den Wurzeln, Suffixen und andern Einheiten der historischen Grammatik, der Volksetymologie und den Rekonstruktionsproblemen. Der 2. Cours (1908/ 09) dagegen ist ganz anders angelegt: Saussure geht gleich zu Beginn das zentrale Problem der Beziehung zwischen Zeichentheorie und Sprachtheorie an und gibt eine 94 Die beiden oben angeführten Textstellen zeigen mit aller Deutlichkeit, daß K AUDÉ 2006: 3 falsch liegt, wenn sie den 3. Cours als «endgültige Vorlesung» und als «Saussures letztes Wort» betrachtet. 95 Cf. D E M AURO 1972: 8, K OERNER 1973: 214 und v. a. E NGLER 1987: 141. 96 Diese sind dann als Fasc. 4 in die kritische Ausgabe eingegangen (E NGLER 1974; cf. auch D E M AURO 1972: V , 7). 97 Cf. D E M AURO 1972: 8, K OERNER 1973: 215. 98 Cf. G ODEL 1969: 15-17, 132, E NGLER 1968: IX , D E M AURO 1972: V , 8, K OERNER 1973: 214, F EHR 1997: 27ss. 99 Für das Folgende cf. v. a. D E M AURO 1972: 353 s., K OERNER 1973: 215, J ÄGER 2010: 166ss.; sehr ausführlich G ODEL 1969: 53-92 und M EJÍA 1998: 4ss., 29ss. 28 1. Einleitung Reihe von grundlegenden Definitionen: System, Einheit, Identität, sprachlicher Wert. Aus diesen Vorgaben leitet er dann die Existenz von zwei verschiedenen Arten von Linguistik ab, der synchronischen und der diachronischen, deren Hauptprobleme anschließend skizziert werden. Damit liefert er seine erste Überblicksdarstellung der Allgemeinen Sprachwissenschaft 100 . Der Rest der zweiten Vorlesung liefert dann einen Überblick über die Indogermanistik, der als Basis für philosophische Reflexionen über die Linguistik dienen soll. Der 3. Cours (1910/ 11) versucht schließlich das induktive Vorgehen in der ersten Vorlesung mit dem deduktiven Ansatz der zweiten zu verbinden. Saussure befaßt sich zuerst mit les langues qua Gegenstand der diachronischen Linguistik und der externen Sprachwissenschaft: historische Aspekte, Sprachgeographie, das Verhältnis zwischen Schrift und Lautung, die Gliederung der Sprachfamilien usw. werden behandelt. Anschließend wendet er sich dann la langue, den allgemeinen Sprachprinzipien und der synchronischen Linguistik, zu. Zu der einleitend ins Auge gefaßten Behandlung der exercice de la faculté du langage chez les individus, d. h. der linguistique de la parole, ist es leider nicht mehr gekommen. Für ihr Publikationsprojekt standen Bally und Sechehaye die folgenden Studentenskripte zur Verfügung 101 : 1. Cours (I, 1907): Albert Riedlinger Louis Caille (Stenogramm mit Randnotizen) 2. Cours (II, 1908/ 09): Albert Riedlinger Léopold Gautier François Bouchardy 102 3. Cours (III, 1910/ 11): Georges Dégallier Francis Joseph Mme Albert Sechehaye Überdies soll Riedlinger bei seiner Kollation von Cours II auch noch ein Skript von Paul Regard benutzt haben, das inzwischen aber verschollen ist und so von Engler nicht in die kritische Ausgabe integriert werden konnte 103 . Diese Studentenskripte wurden dann punktuell noch durch andere Quellen (autographe Notizen und weitere Studentenskripte) ergänzt oder korrigiert; die wichtigsten von ihnen sind die folgenden: - die notes personnelles bzw. inédites (in der kritischen Ausgabe N Phonologie und N 1 - 24) 104 ; - Morphologie (1909/ 10; Albert Riedlinger); - Phonétique (1909/ 10; Albert Riedlinger); - Étymologie grecque et latine (1910/ 11; Louis Brütsch) 105 ; - die Stenogramme Charles Ballys von drei Vorträgen aus dem Jahr 1897 zur Silbentheorie 106 ; 100 Diese Darstellung ist von Robert Godel in kohärenter Form aufgrund der Studentenskripte publiziert worden (cf. G ODEL 1957 a). 101 Cf. hierzu G ODEL 1969: 15ss., E NGLER 1959: 122, E NGLER 1968: XI s. 102 Nach D E M AURO 1972: 8 N6 hätten die Herausgeber das Skript von Bouchardy nicht benutzt. Eine Bestätigung dieser Aussage haben wir nicht gefunden. 103 Cf. hierzu G ODEL 1969: 130, D E M AURO 1972: 8; cf. auch R EGARD 1919 (Introduction). 104 Cf. G ODEL 1954: 49-61, G ODEL 1960: 5-11, G ODEL 1969: 12-15, 36-53, E NGLER 1968: XII , F EHR 1997: 37, J ÄGER 2010: 169. 105 Cf. G ODEL 1969: 17, E NGLER 1968: XI , D E M AURO 1972: 8 und N7. 106 Cf. G ODEL 1969: 95. 1. Einleitung 29 - die Protokolle eines Gespräches mit Albert Riedlinger (1909) und von vier Unterhaltungen mit Léopold Gautier (1910/ 11) 107 . Andere Quellen, die erst später wiederentdeckt wurden und z. T. von herausragender Bedeutung und Qualität sind, standen dagegen den Herausgebern (noch) nicht zur Verfügung. Es handelt sich um die folgenden Texte: - die Vorlesungsskripte des 2. und 3. Cours von Émile Constantin, die besonders ausführlich sind und alle andern Mitschriften weit hinter sich lassen 108 ; - die Mitschrift des 2. Cours von Charles Patois 109 ; - die sogenannten Harvard-Manuskripte, die die Houghton-Library 1967 auf Initiative von Roman Jakobson von Raymond de Saussure erwarb 110 ; - die sogenannten Orangerie-Manuskripte, die 1996 im Anwesen der Familie De Saussure in Genf entdeckt wurden 111 . Die Manuskripte zu den germanischen und indogermanischen Legenden, die Analysen des saturnischen Verses, die Anagramm-Versuche usw. interessieren im Zusammenhang mit dem CLG nicht direkt. 2.2. Bally und Sechehaye versuchen nicht, eine der drei Vorlesungen oder gar alle drei soweit wie möglich in ihrem Wortlaut und ihrer Struktur wiederzugeben; sie setzen sich vielmehr zum Ziel, eine Synthese von Saussures Gedanken zur Allgemeinen Sprachwissenschaft zu liefern 112 . Zur Vorbereitung dieser Synthese wurden zuerst einmal die Skripte der drei Vorlesungen kollationiert. Die Vorlesungen I und II übernahm Albert Riedlinger, dessen große Verdienste von Godel auch angemessen gewürdigt werden 113 ; die Vorlesung III übernahm Albert Sechehaye, der am 27. 12. 1913 festhält, diese propädeutische Arbeit beendet zu haben 114 . Damit war aber erst ein Anfang gemacht und die eigentliche Synthesearbeit blieb noch zu leisten. Als Basis für den Wortlaut des Textes diente in erster Linie der 3. Cours in der Fassung von Dégallier 115 ; diese wurde angereichert und verbessert aufgrund der Skripte von Joseph und Mme Sechehaye und des weiteren ergänzt durch die Inhalte von Cours I und II. Die Anordnung bzw. Organisation des Stoffes ist aber weder diejenige von Cours III noch die von Cours I oder II; sie wurde von den Herausgebern nach eigenen Vorstellungen neu «erfunden» 116 und stammt im wesentlichen von Sechehaye, der - anders als Bally - für sich in 107 Cf. G ODEL 1969: 17, 29s. 108 Cf. G ODEL 1958/ 59: 23-32, E NGLER 1967: 114 s., D E M AURO 1972: 8. - Da den Herausgebern unbekannt, will Godel sie in der kritischen Ausgabe des CLG nicht berücksichtigt sehen (G ODEL 1958/ 59: 25). Engler ist ihm in diesem Punkt jedoch nicht gefolgt; die Qualität der Notizen und die Tatsache, daß sie in einer Fülle von Fällen die Interpretationen von Bally und Sechehaye stützen, ließen sie ihm als unverzichtbar erscheinen. 109 Cf. K OMATSU / W OLF 1997, v. a. p. 110 - 67. 110 Cf. J AKOBSON 1969, P ARRET 1993 und 1994, M ARCHESE 1995. 111 Cf. B OUQUET / E NGLER 2002, J ÄGER 2003, A MACKER 2011. 112 Cf. v. a. E NGLER 1959: 119, 121 s., D E M AURO 1972: 9, K OERNER 1973: 216; besonders ausführlich zur Arbeit der Herausgeber cf. V ALLINI 1979: 76ss., 90ss. 113 Cf. G ODEL 1969: 96, D E M AURO 1972: 8, K OERNER 1973: 216. 114 Cf. G ODEL 1969: 96, D E M AURO 1972: 8, K OERNER 1973: 216. 115 Cf. G ODEL 1969: 72-92, 98, D E M AURO 1972: 9, 406 N12. 116 Cf. G ODEL 1969: 98ss. (mit zahlreichen Beispielen), 135, D E M AURO 1972: 406 N12, K AUDÉ 2006: 23ss., J ÄGER 2010: 166ss. 30 1. Einleitung Anspruch nimmt, den CLG in seiner Publikationsfassung maßgeblich geprägt und Saussures Linguistik in einen umfassenderen systematischen Rahmen eingebettet zu haben 117 . Bally und Sechehaye haben ihre Redaktionsprinzipien nirgends expliziert; aufgrund der minutiösen Analysen von Robert Godel in seinen Sources manuscrites läßt sich das Wesentlichste aber rekonstruieren 118 : - Die beiden Herausgeber übernehmen jeweils die Bearbeitung derjenigen Teile, mit denen sie vom Inhalt her besser vertraut sind. Bei Meinungsverschiedenheiten setzt sich in der Regel Sechehaye durch 119 . Trotz dieser «Arbeitsteilung» muß das Endprodukt als das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit angesehen werden, zu dem beide stehen können. - Für die dem Cours III entsprechenden Teile liefert das Skript von Dégallier die Basis; für die dem Cours I und II entnommenen Teile liefern die jeweiligen Mitschriften von Riedlinger (I R und II R) die Grundlage 120 . - Die in den Vorlesungen nicht behandelten, von den Herausgebern hinzugefügten Teile basieren für die Etymologie auf der Mitschrift von Louis Brütsch, für die «Phonologie» auf Ballys Stenogramm der drei Vorträge aus dem Jahr 1897 121 . - Inhaltliche und argumentative Lücken in den Basisquellen werden von den Herausgebern mit eigenen, Saussures Denken nachempfundenen Textsegmenten geschlossen 122 . - Die Studentenskripte lieferten keinen Text, den man einfach tel quel hätte publizieren können. Wie das bei solchen Mitschriften üblich ist, waren sie voll von Anakoluthen, unvollständigen Sätzen usw., und über weite Strecken hatten sie oft auch nur stichwortartigen Charakter. Bally und Sechehaye sahen sich deshalb gezwungen, ihre Quellen zu paraphrasieren und zu einem wohlgeformten Text umzuarbeiten 123 . - Saussures Terminologie in den Vorlesungen ist über weite Strecken inkohärent. Das hat verschiedene Gründe. Einmal wollte er seine Studenten nicht terminologisch überfordern, sondern möglichst nahe bei den gängigen, ihnen bekannten Termini bleiben. Zum andern hielt er seine eigenen terminologischen Innovationen noch für vorläufig und nicht ausgereift. Am innovativsten ist er im 3. Cours, und an diesem orientieren sich Bally und Sechehaye auch bevorzugt, ohne allerdings frühere Entwicklungsstufen ganz zu eliminieren. G ODEL 1969: 112ss. macht dies an Fällen wie signe, signifiant, signifié (neben image acoustique/ auditive und concept/ idée) oder phonème/ phonologie/ phonique/ phonation (neben acoustique/ linguistique usw.) deutlich. Gerade diese Zögerlichkeit ist verantwortlich für viele verbissene Diskussionen um das richtige Verständnis von Saussures Ausführungen. Andererseits kann man Bally und Sechehaye aber auch vorhalten, sie hätten allzu oft Saussures eigenes Zögern, seine eigene Unsicherheit in terminologischer Hinsicht einfach weggebügelt und im Hinblick auf den Cours III nivelliert - und dies, obwohl keineswegs feststeht, daß die dort favorisierten Lösungen wirklich definitiven Charakter haben. Dazu kommt noch, daß keineswegs sicher ist, daß die beiden Herausgeber Saussure immer richtig 117 Cf. E NGLER 1987: 141 s., 152, 156, D E M AURO 1972: V . 118 Die Ergebnisse von G ODEL 1957 b/ 1969 werden durch die kritische Ausgabe von Rudolf Engler (E NGLER 1968) vollumfänglich bestätigt. 119 Cf. G ODEL 1969: 97s. 120 Cf. G ODEL 1969: 100ss. 121 Cf. G ODEL 1969: 95. 122 Cf. G ODEL 1969: 95s., K OERNER 1973: 216 und N16. 123 Cf. Bally/ Sechehaye in D E M AURO 1972: 8 s. 1. Einleitung 31 verstanden haben und ihre terminologischen Entscheidungen so in jedem Fall gerechtfertigt sind 124 . Daraus ergibt sich schließlich eine Fülle von Interpretationsproblemen, von denen eine ganze Reihe von Godel ausführlich diskutiert wird 125 : analogie, identité 126 , langue/ parole, phonème/ phonologie/ phonétique, phrase/ syntagme, entité/ signe/ unité/ terme, langue/ système de valeur usw. Trotz dieser Probleme ist aber Godel zuzustimmen, wenn er unterstreicht, daß die Entscheidungen von Bally und Sechehaye in der Regel durchaus nachvollziehbar und vertretbar sind 127 . 2.3. Man kann nicht behaupten, der CLG habe bei seiner Publikation im Jahr 1916 wie eine Bombe eingeschlagen 128 ; vielmehr war das Echo anfänglich bescheiden und erreichte erst mit der zweiten und dritten Auflage größere Dimensionen. Auch waren die Reaktionen der scientific community zuerst einmal eher verhalten bis kritisch, wovon u. a. Rezensionen wie diejenigen von Karl Jaberg und Hugo Schuchardt zeugen 129 . Trotz diesem eher zögerlichen Anfang wurde bereits 1922 eine zweite, 1931 eine dritte Auflage nötig. Die zweite Auflage erhält eine neue Paginierung und es werden einige Korrekturen vorgenommen, die aber nirgends den Inhalt entscheidend verändern; die Modifikationen in der dritten Auflage sind (bei gleicher Paginierung) unerheblich. Alle späteren Auflagen sind unveränderte Nachdrucke der dritten 130 . Schon relativ früh setzte auch eine rege Übersetzungstätigkeit ein, die bis heute andauert und so belegt, daß der CLG nach wie vor von großer Aktualität ist und auch durch die kritische Ausgabe und die Publikation der einzelnen Vorlesungen seine Bedeutung nicht verloren hat. Es sind erschienen 131 : - 1928 japanisch (unter dem Titel Gengogaku genron), übersetzt von H. Kobayashi (Tokyo; 2 1940, 3 1941, 4 1950 und weitere Nachdrucke) - 1931 deutsch, übersetzt von H. Lommel (Berlin/ Leipzig; 2 1967, 3 2001) - 1933 russisch, übersetzt von H. M. Suxotin (Moskau) - 1945 spanisch, übersetzt von A. Alonso (Buenos Aires; 2 1955, 3 1959, 4 1961, 5 1967 usw.) - 1959 englisch, übersetzt von W. Baskin (New York/ London; 2 1966 New York/ Toronto/ London und weitere Nachdrucke) - 1961 polnisch, übersetzt von Kr. Kasprzyk (Warschau) 124 Cf. hierzu D E M AURO 1972: V , K OERNER 1973: 217, E NGLER 1987: 152; äußerst kritisch v. a. J ÄGER 1975, J ÄGER 2010. - Auch L INDA 2001: 19ss. gibt eine Liste von unglücklichen Eingriffen der Herausgeber. 125 Cf. G ODEL 1969: 130ss. 126 Cf. hierzu auch W UNDERLI 1995. 127 Cf. G ODEL 1969: 9; ähnlich E NGLER 1959: 121, D E M AURO 1972: V ; eine Lanze für die Arbeit von Bally und Sechehaye brechen auch V ALLINI 1979: 70 und T HILO 1989: 56ss. - Anderer Meinung ist K OERNER 1973: 218, ganz abgesehen von J ÄGER 1975, J ÄGER 2010 und K AUDÉ 2006. Geradezu vernichtend ist das Urteil von B OUQUET 2010: 31ss. der den CLG nicht nur als Fälschung bezeichnet, sondern auch G ODEL 1957b und E NGLER 1968/ 1974 u. a. m. scharf kritisiert, weil sie bei allen Ausstellungen im Detail der Vulgatafassung im Prinzip eben doch zugestimmt und deren Struktur akzeptiert hätten. Ähnlich bereits B OUQUET 1997: I ss. und passim, wo die Vulgatafassung auch noch als Palimpsest der wirklichen Saussure-Texte (Autographe und Vorlesungsmitschriften [? ]) bezeichnet wird. 128 Cf. auch E NGLER 1968: IX . 129 Cf. J ABERG 1916, S CHUCHARDT 1917. 130 Cf. hierzu G ODEL 1969: 120 s., D E M AURO 1972: 366, E NGLER 1967: 113. 131 Für das Folgende cf. v. a. D E M AURO 1968: 334s., 1972: 366 s., K OERNER 1972: 62ss., E NGLER 1976-97; zu den chinesischen Übersetzungen cf. R OMAGNOLI 2007. 32 1. Einleitung - 1967 italienisch, übersetzt von T. de Mauro (Bari; 2 1968, 3 1970, 4 1972 und weitere Nachdrucke) - 1967 ungarisch, übersetzt von E. B. Lörinczy (Budapest) - 1969 serbokroatisch, übersetzt von S. Mati ć (Belgrad) - 1970 schwedisch, übersetzt von A. Löfqvist (Staffanstorp) - 1971 portugiesisch, übersetzt von J. V. Adrag-o (Lisboa; 2 1976) - 1972 japanische Neuübersetzung von H. Kobayashi (Tokyo) unter neuem Titel (Ippan Gengogaku) und mit umfangreichem Apparat - 1973 vietnamesisch, übersetzt von Hoàng Phê (Hanoi) - 1975 koreanisch, übersetzt von Oh Won-Gyo (Taegu [Süd-Korea]) - 1976 neue japanische Übersetzung von Kimio Yamanouchi der «kritischen» Ausgabe von De Mauro (Tokyo); Text nicht identisch mit Kobayashi 1972 - 1976 türkisch, übersetzt von B. Vardar (Türk Dilkurumu Yay ı mlarí) - 1977 albanisch, übersetzt von R. Ismajli (Pristina) - 1977 russisch, übersetzt von H. M. Suxotin (1933) und durchgesehen von A. A. Xolodovic ˇ (Moskau) - 1979 griechisch, übersetzt von F. D. Apostolopoulos (Athen) - 1980 chinesisch, übersetzt von Gao Mingkai (Peking; 2 1983 und weitere Nachdrucke) - 1980 neue spanische Übersetzung von Mauro Armiño (Madrid) - 1983 neue englische Übersetzung von R. Harris (London; zahlreiche weitere Auflagen und Nachdrucke) - 1983 litauische Teilübersetzung von F. Sosi ū ras (Vilnius) - 1985 arabische Übersetzung von (? ) (Tripolis) - 1998 rumänisch, übersetzt von Irima Izverna-Tarabac auf der Basis der «kritischen» Ausgabe von De Mauro (Ia ş i) - 2001 neue chinesische Übersetzung von Pei Wen (Nanjing) 132 Natürlich ist die Existenz einer Übersetzung in den verschiedenen Ländern einer Rezeption des Saussureschen Gedankengutes in hohem Maße förderlich, aber sie stellt keineswegs eine unabdingbare Voraussetzung dar, wie die kurzgefaßte Rezeptionsgeschichte von De Mauro zeigt 133 . Andererseits ist die Existenz einer Übersetzung noch lange kein Garant für eine breite Rezeption. Dies zeigt besonders schön die deutsche Übersetzung von Hermann Lommel, die vorerst einmal über Jahrzehnte weitgehend wirkungslos blieb und erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein größeres Echo auslöste. Die politischen Verhältnisse in Deutschland haben an dieser langen Mißachtung sicher einen erheblichen Anteil, erklären sie aber allein nicht hinreichend 134 . Vielmehr dürfte auch ein im Vergleich zur Situation in der Schweiz und in Frankreich vollkommen anderes (linguistisches) Forschungsklima eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Dies wird bestätigt durch die Tatsache, daß die russische und die spanische Übersetzung ein ähnliches Schicksal erlitten haben, und man fragt sich, ob Saussures Sicht der Sprache nicht essentiell inkompatibel mit einem totalitären Umfeld ist. 2.4. Trotz gewissen Startschwierigkeiten ist der CLG in der Fassung von Bally und Sechehaye letztlich ein großer Erfolg geworden, der bis heute anhält. Dies hat allerdings dazu geführt, daß Ballys und Sechehayes Aufarbeitung von Saussures Vorlesungen oft mit dessen authen- 132 Es ist durchaus möglich, daß weitere Übersetzungen existieren, die wir aber leider bibliographisch nicht erfassen konnten. 133 Cf. D E M AURO 1968: 335ss., 1972: 368ss. 134 Cf. hierzu K OERNER 1973: 12. 1. Einleitung 33 tischem Gedankengut gleichgesetzt wurde 135 . Auch wenn man den beiden Herausgebern größte Gewissenhaftigkeit und einen bewundernswerten Willen zur unverfälschten Wiedergabe der Gedanken Saussures bescheinigen kann, führt nichts an der Feststellung vorbei, daß der Text des CLG eine Saussure-Interpretation von Bally und Sechehaye ist 136 und nicht ein gewissermaßen photographisches Abbild von Saussures originaler Gedankenwelt 137 . Diese Feststellung gilt auch für unsere eigenen Saussure-Studien, sie gilt für sämtliche Übersetzungen, und sie trifft auch zu für Jägers Anspruch, den «authentischen Saussure» erkannt und gefunden zu haben 138 , ebenso wie für Bouquets Versuch, aus Saussure einen Philosophen zu machen, dem es nur um Epistemologie und Metaphysik der Linguistik geht 139 . Und letztlich muß man noch weiter gehen: Auch die Studentenskripte sind bereits eine (wenn auch minimale) Interpretation von Saussures Ausführungen, so daß als authentische Dokumente eigentlich nur die (unfertigen) Autographe verbleiben. Robert Godel hat mit seinen Sources manuscrites den Versuch unternommen, die Saussure-Interpretation von Bally und Sechehaye vom Saussure ihrer Quellen zu trennen, und dieser Versuch wurde von Rudolf Engler mit seiner kritischen Ausgabe fortgeführt 140 . Nach Saussures Tod, d. h. von 1913 - 16, ging es darum, Saussures Denken in eine homogene Form zu bringen, ihm eine Buchform zu 135 Cf. E NGLER 1968: IX . 136 Cf. hierfür auch V ALLINI 1979: 71ss., ferner J ÄGER 2010: 164ss. 137 Cf. W UNDERLI 1982: 123, L INDA 2001: 23. 138 J ÄGER 1975, wie auch seine späteren Arbeiten zu Saussure, insbesondere J ÄGER 2010. - Ähnlich kritisch äußert sich auch K AUDÉ 2006: 3 s. Allerdings irrt sie sich gründlichst, wenn sie im 3. Cours den «authentischen» Saussure sehen will, denn es handelt sich nach Saussures eigenen Worten um eine didaktische Vereinfachung. Daß der 3. Cours keinen endgültigen Charakter haben kann, belegt K AUDÉ 2006: 12ss. selbst mit ihren Beispielen für Saussures Zögerlichkeiten. - Kritisch zu solchen «Authentizitätsansprüchen» T HILO 1989: 59, N ORMAND 2004: 15. Abzulehnen ist auch Jägers Annahme von drei bzw. vier verschiedenen Saussures (cf. J ÄGER 2010: 9ss.); cf. hierzu auch B RONCKART et al. 2010: 11, R ASTIER 2010: 319ss. - B OUQUET 2010: 31ss. (so auch schon B OUQUET 1997: I ss. u. passim) geht in eine ähnliche Richtung, indem er den CLG (Vulgata) als apokryph bezeichnet und einen gefälschten und einen authentischen Saussure unterscheidet. Die Behauptung, daß Meillet, Regard und Riedlinger von allem Anfang gegen das Projekt von Bally und Sechehaye gewesen seien, trifft so nur für Regard zu. Meillet hatte ursprünglich eine andere Konzeption, die er aber aufgab, als das Projekt von Bally/ Sechehaye konkrete Formen annahm. Was Riedlinger angeht, so hat er ja massiv an der Vulgata mitgearbeitet und ist erst später auf Distanz gegangen. Dies hat aber sehr persönliche Gründe. Wie er mir in einem Gespräch im Sommer 1970 mitteilte, hatte er sich mit Bally und Sechehaye völlig überworfen, weil diese ihn ursprünglich als gleichberechtigten Mitherausgeber «angeworben» hatten, um ihn dann kurz vor Erscheinen des Cours zum collaborateur herabzustufen. Diese Geringschätzung seiner Skripte und seiner großen Kollationsarbeit hat er nie verwunden. - Zur Authentizitätsfrage cf. auch T RABANT 2005: 111-24 und K IM 2010: 79ss. 139 Cf. B OUQUET 1997: I - VII , 356ss. (und passim), nach dem Saussure in seinen Überlegungen zur Allgemeinen Sprachwissenschaft drei Ziele verfolgt: 1. er will eine Epistemologie der vergleichenden Grammatik aufdecken, 2. er will eine linguistische Metaphysik schaffen, und 3. ist sein finales Ziel eine programmatische Epistemologie der Sprachwissenschaft. Diese philosophische Orientierung von Saussures Suche wäre von Bally und Sechehaye in der Vulgatafassung systematisch weggebügelt worden (B OUQUET 1997: 67, 81 u. passim), eine Behauptung, die schlicht unhaltbar ist. - Es kommt weiter dazu, daß Saussure seine Genfer Vorlesungen ganz offensichtlich nicht als sprachphilosophisch betrachtet. In der Unterhaltung mit Riedlinger vom 1. Januar 1909 erklärt er, er könnte vielleicht in zwei Jahren versuchen, eine sprachphilosophische Vorlesung zu halten (cf. G ODEL 1969: 30); er betrachtet also die Einleitung zum 2. Cours (cf. G ODEL 1957a) nicht als Sprachphilosophie. Und in der Unterhaltung mit Gautier vom 6. Mai 1911 lehnt er es ab, seine sprachphilosophische Sicht darzulegen (cf. G ODEL 1969: 30), obwohl er am 25. April mit seinen Ausführungen über le langage/ la langue (das Sprachpänomen und das Sprachsystem) begonnen hat; auch in diesem Fall liegt für ihn also noch keine Sprachphilosophie vor. 140 Cf. G ODEL 1957b/ 1969, E NGLER 1968, 1974. 34 1. Einleitung geben 141 . Heute dagegen hat sich der Fokus des Interesses verschoben: Im Vordergrund steht jetzt die Auswertung der Variationen, der Zögerlichkeiten, der Fort- und Rückschritte, kurz: der lebendige Saussure 142 . Das bedeutet nun allerdings keineswegs, daß der CLG in der Fassung von Bally und Sechehaye einfach musealen Charakter hätte und kein Interesse mehr beanspruchen könnte. Es geht auch keineswegs darum, aufgrund der Quellentexte die Arbeit der beiden Herausgeber zu verbessern und zu korrigieren. Der Text des CLG, der sogenannte Vulgatatext, hat die Geschichte und Entwicklung der Linguistik seit 1916 in entscheidender Weise geprägt, und dieser Einfluß hat Bestand und wird auch weiterhin Bestand haben; er läßt sich nicht zurückbuchstabieren, ganz gleichgültig, ob und wo die Herausgeber Saussures Gedankengänge richtig oder falsch interpretiert haben 143 . Die kritische Ausgabe des Cours de linguistique générale ist so in erster Linie ein Dokument aus dem Bereich der Geschichte der Sprachwissenschaft, das die mühsame Arbeit und beeindruckende Leistung von Bally und Sechehaye nachvollziehbar und transparent macht. Gleichzeitig zeigt sie aber auch Punkte und Möglichkeiten auf, wo und wie die Entwicklung anders hätte verlaufen können und z. T. auch anders verlaufen ist. Ein Musterbeispiel hierfür ist die Phonologie der Prager Schule und v. a. von Trubetzkoy 144 , die deutlich von dem abweicht, was Saussure unter phonologie verstand, gleichwohl aber eine konsequente Weiterentwicklung seines Denkens darstellt. Die Darstellung in der Édition critique erfolgt jeweils auf Doppelseiten und in sechs Spalten, die folgende Funktionen haben 145 : - Spalte 1 liefert den Text der Vulgatafassung von 1916; Änderungen in der zweiten (1922) und dritten Auflage (1931) werden in Anmerkungen berücksichtigt. Abweichende Seitenzahlen zwischen der 1. und der 2./ 3. Auflage werden in runden Klammern vermerkt. Der fortlaufende Text ist in 3281 Sequenzen gegliedert, deren Ordnungszahl zu Beginn jeder Einheit durch eine hochgestellte Ziffer angegeben wird. Die Sequenzierung beruht auf inhaltlichen und quellenbedingten Gegebenheiten. 141 Cf. E NGLER 1967: 121 s. 142 Cf. E NGLER 1968: X . - Das heißt nun allerdings keineswegs, daß man mit J ÄGER 2010: 9ss. «verschiedene Saussures» annehmen muß: den Vater des Strukturalismus (CLG), den «authentischen» Sausssure der handschriftlichen Notizen, den Indogermanisten und Komparatisten, den Saussure der Legenden und Anagramme. Einmal vernachlässigt Jäger die Chronologie der Texte: Die Notes liegen mit wenigen Ausnahmen weit vor den drei Vorlesungen, und in diesem Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat sich Saussures Denken entwickelt. Dann darf man den Theoretiker Saussure nicht dem Indogermanisten und Komparatisten Saussure gegenüberstellen: Der Theoretiker ist vielmehr sein eigener Anwender. Schließlich steht der Saussure der Legenden und Anagramme auch nicht im Widerspruch zum Linguisten; vielmehr versucht er hier seine in der Linguistik gewonnenen semiologischen Erkenntnisse auf andere semiologische Bereiche zu übertragen (cf. hierzu auch W UNDERLI 1972). - Überdies muß unterstrichen werden, daß der Komparatist, Indogermanist, Sprachgeograph usw. Saussure im Cours keineswegs fehlt; Bally und Sechehaye haben ihn überhaupt nicht unterschlagen, vielmehr hat ihn die strukturalistische Rezeption schlicht ignoriert. 143 Cf. auch G AUGER / O ESTERREICHER / W INDISCH 1980: 46 s., T HILO 1989: 19, 55, N ORMAND 2004: 13 und v. a. V ALLINI 1979: 69ss. 144 Cf. z. B. T RUBETZKOY 1958. 145 Cf. auch E NGLER 1968: XI s. und insbesondere E NGLER 1967, wo nicht nur ausgewählte Passagen der Édition critique kommentiert werden, sondern auch gleichzeitig eine Einführung in die Benutzung der EC geliefert wird. - Wie auch gegenüber Bally und Sechehaye ist die Kritik an Engler bei K AUDÉ 2006: 34ss., 54 s. maßlos und über weite Strecken vollkommen unangebracht. 1. Einleitung 35 - Die Spalten 2 - 4 geben die von den Herausgebern benutzten Studentenskripte für die entsprechende Passage wieder (für Cours III z. B. Dégallier, Mme Sechehaye, Joseph) 146 . Dabei kann es sich gegebenenfalls auch um Auszüge zum selben Thema aus verschiedenen Vorlesungen handeln. Am Anfang jeder Einheit steht ein Verweis auf die vorhergehende Sequenz im betreffenden Studentenskript, am Ende einer auf die nachfolgende - es sei denn, der Text läuft ohne Zäsur weiter. - Spalte 5 gibt den Text der Aufzeichnungen von Constantin wieder (Cours II und III), die erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurden. Sie sind v. a. deshalb von großer Bedeutung, weil sie den mit Abstand besten Text liefern und Constantin seine eigenen Notizen mit den Skripten von verschiedenen Kommilitonen abgeglichen und Korrekturen und Ergänzungen angebracht hat. - Spalte 6 schließlich ist den persönlichen Notizen Saussures vorbehalten (soweit es denn zum betreffenden Thema welche gibt); es werden jedoch nur die thematisch passenden Stellen berücksichtigt 147 . Dort, wo es nötig und aufgrund der (defizienten) Quellenlage möglich ist, kann der Text der jeweiligen Note auch in die 5. oder gar 4. Spalte nach links hinübergezogen werden. Ganz anders ist Fasz. 4 (Band 2) der Édition critique aufgebaut (E NGLER 1974). Hier erstreckt sich der Text nicht über zwei, sondern nur über eine Seite, die aber jeweils zweispaltig aufgebaut ist. Der Text umfaßt die N Phonologie sowie die Notes 1 - 24, die in der Sequenznumerierung an Band 1 anschließen (d. h. die Sequenzen 3282 - 3347). Es werden aber nur die Textteile wiedergegeben, die nicht schon in Band 1 verwertet wurden. Um eine Rekonstruktion des fortlaufenden Textes zu ermöglichen, wird in Fasz. 4 an den Schnittstellen jeweils ein Verweis auf die entsprechende Sequenz/ die entsprechenden Sequenzen in Band 1 eingefügt. 148 Die kritische Ausgabe erweist sich so für den Benutzer als ein oft mühsames Puzzle-Spiel. Sie ermöglicht aber gleichwohl nicht nur den Vergleich der Vulgatafassung mit den jeweiligen Quellen, sondern auch die Rekonstruktion des fortlaufenden Textes sowohl der einzelnen Studentenskripte als auch der persönlichen Notizen Saussures. Und gerade diese Rekonstruktionen sind es, die Bedeutung und Tragweite der Eingriffe der Herausgeber am deutlichsten in den Blick treten lassen, führen sie doch oft zu vollkommen anderen Kontextualisierungen von Kernaussagen als in der Vulgatafassung. Bei allem Interpretations- und Auswertungspotential von Englers Édition critique muß eines ausdrücklich bedauert werden: Diese monumentale Ausgabe von Saussures CLG und der ihm zugrunde liegenden Quellen ist nie abgeschlossen worden: Die angekündigten Indices sind nicht erschienen 149 . Als äußerst nützlicher, leider aber keineswegs ausreichender Ersatz hierfür kann das Lexique de la terminologie saussurienne gelten 150 . 146 Dies gilt auch für das nach De Mauro von den Herausgebern nicht berücksichtigte Skript von Bouchardy. Nicht eingebracht werden konnten dagegen die verschollenen Aufzeichnungen von Regard, die aber in die Kollation von Riedlinger eingegangen sind. 147 Cf. hierzu auch unten zu Fasz. 4 der kritischen Ausgabe. 148 Die zusammenhängenden Texte der von Engler in der EC verwendeten Notes finden sich jetzt in S AUSSURE 2002: 137ss. 149 Cf. E NGLER 1968: X und 1974: IX ; E NGLER 1967: 113 N1 kündigt ihr Erscheinen sogar ausdrücklich für 1969 an. 150 E NGLER 1968 b. - Das Lexique macht deutlich, daß Engler 1968 das nötige Material für die Indices bereits zusammengetragen hatte. Warum es unveröffentlicht geblieben ist, wollte er nie erklären. Eine geradezu saussuresche Art von Perfektionismus mag hierbei eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. 36 1. Einleitung 2.5. Da der CLG eine Interpretation von Saussure durch Bally und Sechehaye ist, entstand schon früh das Bedürfnis, diese Fremdeinflüsse zu minimieren. So veröffentliche Robert Godel bereits 1957 die Introduction zu Cours II aufgrund der Studentenskripte als fortlaufenden Text ohne Zerstückelung, Verschiebungen usw. 151 . In eine ähnliche Richtung hat Eisuke Komatsu in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts gearbeitet: 1993 veröffentlichte er den Text von Cours I und Cours III nach den Skripten von Riedlinger bzw. Constantin, und im gleichen Jahr erschien der Text des Cours III nochmals mit einer englischen Übersetzung von Roy Harris. 1996 folgte der Cours I nach Riedlinger mit einer englischen Übersetzung von George Wolf, 1997 schließlich der Cours II nach Riedlinger und Patois mit den jeweiligen Übersetzungen von Wolf 152 . 2006 folgte dann noch die editorisch interessante Ausgabe des 3. Cours von K AUDÉ . In einer synoptischen Darstellung liefert sie die Skripte von Constantin, Dégallier, Marguerite Sechehaye und Joseph, die dann in einer deutschen Übersetzung synthetisiert werden 153 . Im gleichen Jahr (allerdings noch unter der Jahrzahl 2005) erschien auch noch eine sich auf das Skript von Émile Constantin beschränkende Ausgabe des 3. Cours, die im wesentlichen von Claudia Mejía betreut worden ist 154 . So sind heute alle drei Vorlesungen als fortlaufende Texte ohne Brechung und Interpretation durch Bally/ Sechehaye zugänglich; die Brechung durch die protokollierenden Hörer bzw. Studenten bleibt allerdings bestehen. 3. Zur Rezeption des CLG 3.0. Man kann nicht behaupten, der Cours de linguistique générale sei bei seinem Erscheinen gleich ein großer Erfolg gewesen, ja die ersten Jahrzehnte nach seinem Erscheinen waren v. a. durch Unverständnis und Mißverständnisse geprägt 155 . Gleichwohl ist er für die damaligen Verhältnisse überdurchschnittlich oft rezensiert worden. Für die 1. Auflage sind die folgenden Besprechungen bekannt 156 : G AUTIER 1916, H ARTMANN / B OETTICHER 1916 157 , J ABERG 1916 (1937), M EILLET 1916, N IEDERMANN 1916, O LTRAMARE 1916, R ONJAT 1916, W ACKERNAGEL 1916, B OURDON 1917, G RAMMONT 1917, J ESPERSEN 1917, M EILLET 1917, S CHUCHARDT 1917, S ECHEHAYE 1917, T ERRACINI 1919, L OMMEL 1921. 151 Cf. G ODEL 1957 a. - Cf. auch K AUDÉ 2006: 23ss., 31ss., die mit ihrer maßlosen Kritik aber weit über das Ziel hinausschießt. 152 Cf. K OMATSU 1993, K OMATSU / H ARRIS 1993, K OMATSU / W OLF 1996 und K OMATSU / W OLF 1997. 153 Bedauerlich ist allerdings, daß die Synthese nur in Deutsch geleistet wird, und nicht zuerst eine französische Integration der vier Skripte versucht wird. - «Authentisch» ist diese Synthese aber ebensowenig wie diejenige von Bally und Sechehaye; sie muß vielmehr als interpretativ gelten. Zudem ist sie auch noch mit übersetzerischen Mängeln behaftet wie z. B. der Verwendung von Sprache sowohl für langage als auch für langue (sowohl alltagssprachlich als auch linguistischterminologisch). 154 M EJÍA 2005a, 2005 b. - Die Publikation ist bibliographisch etwas schwer zu erfassen, da im gleichen Block von CFS 25 (2005) [erschienen 2006] auch noch persönliche Notizen von Saussure zum 3. Cours publiziert werden, für die Daniele Gambarara im wesentlichen zuständig gewesen zu sein scheint. 155 Cf. hierzu auch A MACKER 1975: 16ss. 156 Cf. hierzu D E M AURO 1968: 334 bzw. 1972: 366, I ORDAN / B AHNER 1962: 342 s. bzw. I ORDAN / O RR / P OSNER 1970: 295, T HILO 1989: 122ss. - Die Liste bei Iordan/ Bahner bzw. Iordan/ Orr/ Posner enthält allerdings nicht nur Rezensionen, sondern auch anderweitige Würdigungen, Stellungnahmen, Kritiken usw. 157 Cf. hierzu T HILO 1989: 131 s. und N544. 1. Einleitung 37 Die Anzahl von 16 Rezensionen für die Erstauflage ist auf den ersten Blick beachtlich, v. a. auch, wenn man das damalige Publikations- und Rezensionswesen in Rechnung stellt und weiter beachtet, daß man sich 1916 mitten im Ersten Weltkrieg befindet, der die Arbeit der scientific community in erheblichem Maße beeinträchtigt hat. Bei näherem Zusehen stellt man aber ein deutliches Ungleichgewicht bezüglich der Herkunft der Besprechungen fest: Die überwiegende Zahl stammt aus der Schweiz oder aus dem französischen Bekanntenkreis von Saussure. Eine Ausnahme machen in dieser Hinsicht nur Jespersen, Hartmann/ Boetticher, Lommel, Schuchardt und Terracini, und von diesen sind nur deren zwei aus Deutschland im engeren Sinne. Auffällig an diesem Tableau ist weiterhin, daß sechs der Ankündigungen in (nichtwissenschaftlichen) Tages- und Wochenzeitungen erschienen sind. So kann denn doch festgestellt werden, daß die Breitenwirkung der Erstauflage im wissenschaftlichen Bereich keineswegs umwerfend, gleichwohl aber beachtlich war. Normalerweise werden Zweitauflagen oder Nachdrucke kaum rezensiert, es sei denn, es handelt sich um tiefgreifende Umarbeitungen, die einen erheblichen Anteil an Neuem bringen. Dem Cours de linguistique générale kommt auch in dieser Hinsicht eine Sonderstellung zu, wird die nur minimal veränderte zweite Auflage von 1922 doch immerhin achtmal besprochen: H ERMANN 1922, A BEGG 1923, G RÉGOIRE 1923, M AROUZEAU 1923, U HLENBECK 1923, L OMMEL 1924, B LOOMFIELD 1924, G OMBOCZ 1925. Dies muss sicher mit der Tatsache in Zusammenhang gebracht werden, daß zu Beginn der Zwanzigerjahre des 20. Jh.s die internationale Breitenwirkung des Cours einsetzt und v. a. die Linguistenzirkel in Kopenhagen und Prag immer wieder auf seine Bedeutung hinweisen. Ein weiterer Rezeptionsschub wird dann durch den 1. Internationalen Linguistenkongreß in Den Haag im Jahre 1928 ausgelöst. 3.1. Es ist hier nicht der Ort, die ganze Rezeptionsgeschichte des CLG aufzurollen, zumal es bei De Mauro und Jäger ausführliche Darstellungen zu diesem Problemkreis gibt 158 . Vielmehr wollen wir uns angesichts der Tatsache, daß es hier um eine (neue) deutsche Übersetzung des französischen Textes geht, auf Deutschland bzw. den deutschen Sprachraum beschränken. Mit dieser Fragestellung hat sich v. a. T HILO 1989 ausführlich befaßt. Dabei gilt es vorauszuschicken, daß in diesem enger gezogenen Rahmen die Schweiz aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit einen Sonderfall darstellt 159 . Vor allem die Romandie ist aufgrund ihrer Orientierung nach Frankreich und des Wirkens von Saussure in Genf ein bevorzugter Rezeptionsraum: Bally und Sechehaye haben nach 1916 bis zu ihrem Lebensende dafür gesorgt, daß die Auseinandersetzung mit Saussures Lehre immer auf der Tagesordnung blieb, und ihre Nachfolger Henri Frei, André Burger, Robert Godel ebenso wie Félix Kahn haben diese Tradition weitergeführt. Auch unter Luis Prieto blieb die Beschäftigung mit Saussure rege. Dafür stehen nicht nur Namen wie René Amacker, Daniele Gambarara, Claudia Mejía Quijano u. a. m., sondern v. a. der Cercle Ferdinand de Saussure, die von ihm betreute Zeitschrift Cahiers Ferdinand de Saussure und die affilierte Reihe Publications du Cercle Ferdinand de Saussure. In der deutschsprachigen Schweiz wurde die Saussurerezeption schon 1916 durch Karl Jaberg eingeleitet, der auch später immer wieder auf Saussure zurückkam; auch sein Nachfolger Siegfried Heinimann hielt diese Tradition aufrecht. Einen Sonderfall stellt sein Berner Kollege Georges Redard als in Bern tätiger Romand dar, der sich ebenfalls und immer wieder mit Saussures Werk beschäftigte. Und von Bern aus strahlte dessen Lehre 158 Cf. D E M AURO 1968: 334-47, D E M AURO 1972: 366-80, J ÄGER 2010: 9ss. - Cf. überdies D E M AURO 1968/ 1972 N16, sowie N ORMAND 2004: 105ss. und B ADIR 2001: 10 s. 159 Für bibliographische Hinweise zu den im folgenden genannten Namen cf. K OERNER 1972, die sechs Folgen von Rudolf Englers Bibliographie saussurienne (CFS 30: 99-138, 31: 279-306, 33: 79-145, 40: 131-200, 43: 149-275, 50: 247-95) sowie den Index général der CFS, der als Beiheft zu Band 60 (2007) erschienen ist. 38 1. Einleitung auf die übrige deutschsprachige Schweiz aus. Aus der jüngeren Vergangenheit wäre v. a. der Berner Romanist Rudolf Engler zu nennen, dem wir die monumentale Édition critique des Cours und zahlreiche weitere Arbeiten zu Saussure verdanken, sowie dessen Schülerin Anne- Marguerite Frýba-Reber. Und zu guter Letzt und in aller Unbescheidenheit: der Schreibende. 3.2. Doch kehren wir zur Saussure-Rezeption in Deutschland (im engeren Sinne) zurück. Auch heute ist die Meinung noch weit verbreitet, der CLG sei in Deutschland bis nach dem Zweiten Weltkrieg kaum beachtet worden; diese angebliche Spätrezeption wird unterschiedlich begründet 160 : der Zeitgeist und insbesondere die nationalsozialistische Ideologie, die aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg resultierende Frankreichfeindlichkeit, das Festhalten der deutschen Linguistik an der junggrammatischen Doktrin, die zeitweilige Vorherrschaft der idealistischen Neuphilologie, der Neohumboldtianismus der Weisgerberschule, usw. T HILO 1989 (v. a. p. 115ss.) hat diesem Irrglauben den Kampf angesagt und eindrücklich gezeigt, daß er jeglicher Grundlage entbehrt (wenn sich auch der Umfang der Rezeption nicht mit den Verhältnissen in der Schweiz oder in Frankreich vergleichen läßt). Daß man Saussure einfach nicht zur Kenntnis genommen hätte, wird schon dadurch widerlegt, daß es immerhin drei Rezensionen gibt, die man Deutschland zurechnen kann: H ARTMANN / B OETTICHER 1916, S CHUCHARDT 1917, L OMMEL 1921 161 . Und die zweite Auflage des Cours wird immerhin noch zweimal in deutschen Publikationsorganen besprochen (H ERMANN 1922, L OMMEL 1924) 162 . Allerdings ist T HILO 1989: 132 Recht zu geben, wenn er darauf hinweist, daß Rezension nicht einfach mit Rezeption gleichgesetzt werden darf. Daß es aber eine frühe deutsche Rezeption gegeben hat, wird dadurch belegt, daß der Cours bereits ab 1919 in (deutschen) Handbüchern und Einführungen erscheint; T HILO 1989: 134 führt hierfür E TTMAYER 1919, M EYER -L ÜBKE 1920 163 , H ATZFELD 1921 und G ÜNTERT 1925 an. Und da es sich hierbei weitgehend um durchaus anspruchsvolle Werke handelt, ist das Gewicht dieser Zeugnisse ein beachtliches. Daß das Rezeptionsklima für den Cours gar nicht so schlecht war, wie immer wieder behauptet wird, ergibt sich auch daraus, daß bereits 1931 die deutsche Übersetzung von Herman Lommel erscheint 164 . Es ist die zweite Übersetzung überhaupt nach derjenigen ins Japanische von Hideo Kobayashi (1928); die zahlreichen weiteren Übersetzungen in andere Sprachen folgen z. T. erheblich später, so z. B. die erste englische erst 1959, die erste italienische gar erst 1967. Diesem Faktum wird dann oft entgegengehalten, daß der Verkaufserfolg dieser Publikation mehr als bescheiden gewesen und deshalb erst 1967 eine zweite Auflage notwendig gewesen sei - eine Behauptung, die nach Thilo vom Verlag 160 Cf. hierzu T HILO 1989: 136ss. 161 Obwohl in Graz lebend, kann Schuchardt hier mitgezählt werden: Er stammt aus Deutschland und veröffentlicht seine Stellungnahme auch in einem deutschen Publikationsorgan (Literaturblatt für germanische und romanische Philologie). - Anders verhält es sich mit J ABERG 1916, N IEDERMANN 1916 und W ACKERNAGEL 1916: Diese Besprechungen erscheinen in Schweizer Tageszeitungen, ihre Autoren sind Schweizer und lehren in der Schweiz; sie können deshalb nicht Deutschland zugerechnet werden. 162 Auch in diesem Fall ist A BEGG 1923 als Schweizer Publikation nicht mitzuberücksichtigen. 163 Wilhelm Meyer-Lübke ist zwar Schweizer, hat in Zürich studiert und ist dort auch (ehrenhalber) habilitiert worden. Als Professor gewirkt hat er aber ausschließlich in Österreich und Deutschland: 1887 - 1890 in Jena, 1890 - 1915 in Wien und ab 1915 in Bonn. Man darf ihn deshalb wohl zu Recht der deutschen Universitätslandschaft zurechnen. 164 L OMMEL 1931. - Cf. auch T HILO 1989: 117ss. - Für Rezensionen der Lommelschen Übersetzung cf. H ERMANN 1931b, I PSEN 1931/ 32, M ERIGGI 1931, R OHLFS 1931, W EISGERBER 1931/ 32; A MMANN 1934 a, 1934 b. 1. Einleitung 39 nicht bestätigt werden konnte. Allerdings kann nicht geleugnet werden, daß auch eine Übersetzung noch nicht unbedingt eine ernsthafte Rezeption garantiert. Aber es hat tatsächlich seit Beginn der 30er Jahre eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Cours in Deutschland stattgefunden, die weit über den «oberflächlichen» Bereich von Rezensionen und Erwähnung in Überblicksdarstellungen hinausgeht 165 . Eingeleitet wird diese Phase 1931 durch Walther von Wartburg, der als Schweizer in Leipzig lehrt und seine Überlegungen zum Ineinandergreifen von deskriptiver und historischer Sprachwissenschaft (Synchronie und Diachronie) vor der Leipziger Akademie vorträgt (W ARTBURG 1931). Wartburg geht es vor allem darum, die scharfe Trennung von Synchronie und Diachronie infrage zu stellen und ihre gegenseitige Interdependenz herauszustellen. Auf Wartburg folgt dann 1934 Karl Bühler, der zwar in Wien lehrt, seine Sprachtheorie aber in Jena publiziert. Bühler greift in seiner auch heute noch beeindruckenden Darstellung immer wieder auf Saussure zurück und diskutiert v. a. die Unterscheidung von langue und parole kritisch; auch die Begriffe langage und faculté de langage werden einer sorgfältigen Analyse unterzogen. Ergebnis der Auseinandersetzung ist im wesentlichen der Ersatz von Saussures Dichotomie langue/ parole durch ein vierteiliges Modell: Sprechhandlung/ Sprachwerk/ Sprechakt/ Sprachgebilde (B ÜHLER 1934). Vorangegangen war dieser Darstellung eine vorbereitende Diskussion in der Axiomatik der Sprachwissenschaften, in der Saussure ebenfalls immer wieder herangezogen wird (B ÜHLER 1933). Im Jahr 1934 erschien auch ein rezeptionsgeschichtlich wichtiger Aufsatz von Hermann Ammann, dem Autor der in den 20er und 30er Jahren viel beachteten Abhandlung Die menschliche Rede, in dem er u. a. für eine synchronische Sprachwissenschaft eintritt (A MMANN 1934) 166 . Und dem gleichen Jahr gehört der nicht weniger bedeutende Aufsatz von Ernst Otto zu den «Grundfragen der Linguistik» an, der über weite Strecken ebenfalls eine Auseinandersetzung mit Saussure ist (O TTO 1934). Bereits 1931 war der Aufsatz von Eduard Hermann Der heutige Stand der Sprachwissenschaft erschienen, der ebenso als Zeugnis für die Saussure- Rezeption gelten kann wie Hermanns Rezension der Lommelschen Übersetzung des Cours (H ERMANN 1931a, 1931b). Auch die Lommel-Rezensionen von Weisgerber und Ipsen stehen für eine durchaus empathische Saussure-Rezeption, die v. a. den Synchronie-Begriff herausstellt, und dieser spielt auch eine zentrale Rolle in Jost Triers Habilitationsschrift Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes von 1931 167 . Auch nach 1933 fehlt es nicht an verstreuten Hinweisen auf Saussure und seinen Cours, wenn es sich auch kaum je um tiefergehende Auseinandersetzungen mit dessen Auffassungen handelt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme waren nicht-völkische Sprachauffassungen nicht mehr opportun, und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschärfte die Situation noch erheblich. Allerdings erscheint 1941 nochmals ein großer Aufsatz, der zeigt, daß man sich in den vorhergehenden Jahrzehnten auch in Deutschland durchaus vertieft mit Saussure beschäftigt hat. Gleichzeitig legt aber Karl Roggers «Kritischer Versuch über Saussure ’ s Cours général» (sic! ) in seiner überwiegend negativen Haltung Zeugnis dafür ab, daß Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts eine unvoreingenommene und ideologiefreie Auseinandersetzung mit den Ansichten des großen Genfers in der deutschen Sprachwissenschaft nicht mehr möglich war; daran ändern auch einige lobende «Zückerchen» nichts, die wohldosiert über das ganze Pamphlet verteilt sind. 165 Cf. hierzu auch T HILO 1989: 135 s., 161ss. 166 Cf. hierzu auch T HILO 1989: 135, 160. 167 Cf. W EISGERBER 1931/ 32, I PSEN 1931/ 32, T RIER 1931. - Cf. ferner auch noch T RIER 1934. 40 1. Einleitung 3.3. Der Zweite Weltkrieg wird in Deutschland zu einer Zäsur hinsichtlich der Saussure- Rezeption. In den Kriegsjahren selbst kommt sie praktisch zum Erliegen, und auch nach Kriegsende ist es keineswegs so, daß man einfach an die Situation vor dem Nationalsozialismus hätte anknüpfen können. Einmal braucht es relativ lange, bis der deutsche Forschungsbetrieb wieder reibungslos funktioniert, und dann gerät die deutsche Sprachinhaltsforschung um Weisgerber, Trier, Porzig usw., die die Saussure-Rezeption in der Germanistik maßgeblich mitgetragen hatte, zunehmend unter Druck aufgrund ihrer Verflechtung mit völkisch-rassistischem Gedankengut. So dauerte es dann bis weit in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, bis man sich wieder einigermaßen unbelastet Saussure zuwenden und Ludwig Jäger seine Idee der Rekonstruktion eines authentischen, v. a. in der Nachfolge von Humboldt stehenden Saussure lancieren konnte (J ÄGER 1975) 168 . Diese Forschungsrichtung wird von ihm und anderen zum «Düsseldorfer Kreis» gehörenden Germanisten bis heute weiterverfolgt 169 . 3.4. In Frankreich und in der Schweiz dagegen verlief die Entwicklung ganz anders und v. a. ohne Unterbruch. Charakteristisch für die französische Saussure-Rezeption ist v. a., daß sie weit über den linguistischen Bereich hinausgriff und in Bereiche wie Literaturwissenschaft, Philosophie, Anthropologie, Ethnologie, Psychologie usw. eindrang. Ohne ins Detail gehen zu wollen, seien hier nur ein paar Namen genannt: Jacques Lacan, Roland Bartes, Jacques Derrida, Michel Foucault, Julia Kristeva, Claude Lévi-Strauss, Paul Ricoeur, usw. Eine derartige Breitenwirkung hat Saussures Lehre sonst nirgendwo gehabt. In der Schweiz konzentrierte sich die Saussure-Rezeption in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, auf Genf, d. h. auf die Schüler Saussures sowie auf seine (geistigen) Enkel und Urenkel 170 . Einen neuen Impuls brachte dann 1957 die Publikation von Robert Godels Les sources manuscrites du Cours de linguistique générale de F. de Saussure (G ODEL 1957b/ 1969), dessen grundlegende Analysen letztlich die Basis für Rudolf Englers monumentale Édition critique des Cours bilden (E NGLER 1968, 1974). 3.5. Obwohl auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten der Cours in Genf und in der Schweiz im allgemeinen gewichtig in der Diskussion blieb, führte die Entdeckung bisher unbekannter oder einfach vernachlässigter Texte und Manuskripte Saussures zu einer teilweisen Neuorientierung und v. a. Ausweitung der Auseinandersetzung. Da waren zuerst einmal die Texte, Notizen und Materialsammlungen zum saturnischen Vers und zu den Anagrammen (v. a. in der lateinischen Dichtung), die in der Literaturwissenschaft Aufsehen erregten und deren Bekanntmachung v. a. mit dem Namen von Jean Starobinski verknüpft ist 171 . In die gleiche Richtung wirkten auch Saussures Überlegungen zu den germanischen und indogermanischen Legenden 172 . Das nächste wichtige Ereignis war dann 1969 der Aufsatz von Roman Jakobson über Saussures Untersuchungen zum Phonem, die sich unter den von der Houghton Library in Harvard erworbenen Saussure-Manuskripten befanden 173 . Schließlich wurden 1996 noch weitere bisher unbekannte Manuskripte Saussures in der 168 Cf. jetzt auch J ÄGER 2010, v. a. p. 98ss. - Neuerdings stellt auch L A F AUCI 2011 Saussure dezidiert in die Humboldtnachfolge, ja sieht im CLG gewissermaßen die Vollendung dessen, was Humboldt initiiert hat. 169 Cf. v. a. J ÄGER 2010. 170 Cf. auch oben, 3.1. 171 Cf. insbesondere S TAROBINSKI 1971 und W UNDERLI 1972. 172 Cf. A VALLE 1972a, 1972 b, 1973; ferner M ARINETTI / M ELI 1986. 173 Cf. J AKOBSON 1969. - Für die Veröffentlichung der Texte cf. P ARRET 1993, 1994, M ARCHESE 1995. 1. Einleitung 41 Orangerie des Genfer Wohnsitzes der Familie entdeckt, die für die Saussure-Exegese von zentraler Bedeutung sind 174 . Die Saussure-Rezeption hat sich also noch lange nicht erschöpft. Saussures Gedankengut ist lebendiger denn je. 4. Die deutsche Übersetzung des CLG 4.0. Die deutsche Übersetzung des Cours de linguistique générale von Hermann Lommel erscheint 1931 unter dem Titel Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (L OMMEL 1931) 175 . Sie basierte auf der zweiten, gegenüber der ersten weitestgehend unveränderten Ausgabe des CLG und ist die zweite Übersetzung der Darstellung von Saussures Ideen durch Bally und Sechehaye überhaupt; ihr geht nur die japanische Übersetzung von Hideo Kobayashi voran (K OBAYASHI 1928). Auf die erste Auflage der deutschen Übersetzung folgt 1967 eine zweite, ergänzt durch ein Nachwort von Peter von Polenz und mit einem Register von Hans-Jürgen Heringer. Eine dritte Auflage folgt 2001, in der das Nachwort von Peter von Polenz durch einen Text von Peter Ernst ersetzt wird. Der deutsche Text von 1931 bleibt auch in den weiteren Auflagen unverändert, und auch offensichtliche Fehler werden nicht korrigiert. Dies ist von Rudolf Engler in seiner Besprechung der zweiten Auflage zu Recht scharf kritisiert worden (E NGLER 1967) 176 . An der deutschen Übersetzung fällt auf Anhieb ein schwerwiegender Eingriff in die Titelformulierung auf: Der Hinweis auf die Tatsache, dass es sich um eine Vorlesung bzw. um Vorlesungen handelt, wird unterdrückt und an seine Stelle tritt mit «Grundfragen» eine Formulierung, die eine monographisch-sprachphilosophische Abhandlung suggeriert. Dieser verzerrende Eingriff ist zweifellos bis heute für viele Mißverständnisse in der (v. a. deutschen) Saussure-Rezeption verantwortlich und lieferte den Nährboden für zahlreiche geradezu beckmesserische Kritiken, die eventuell bei einer hochwissenschaftlichen Monographie, keinesfalls aber bei einer Vorlesung berechtigt sind. Lommel selbst begründet die Notwendigkeit einer deutschen Übersetzung damit, daß Saussure (bzw. seine Herausgeber) eine «eigentümliche Ausdrucksweise» pflegten, die zu «terminologischen Besonderheiten» neige (L OMMEL 1931: V ). Daß im Cours eine eigene Terminologie entwickelt wird, ist natürlich unbestritten, nur wird diese Terminologie schrittweise eingeführt und jeweils erklärt und definiert. Was aber die «eigentümliche Ausdrucksweise» soll, ist vollkommen uneinsichtig, denn der Stil des Textes ist in französischer Weise kursorisch, locker und praktisch immer leicht verständlich. Dagegen wird das entscheidende Argument nirgends erwähnt: Mit wenigen Ausnahmen können die Deutschen eben nicht genug Französisch, und dies gilt nicht nur für die 30er Jahre, sondern auch heute nachwievor und sogar in noch weit größerem Ausmaß. Zudem muß gesagt werden, daß Lommel mit seiner Übersetzung bei weitem nicht alle Verständnisprobleme ausräumt, sondern durch problematische Lösungen zahlreiche neue schafft 177 . Weiter muß angemerkt werden, daß Lommel behauptet, er wolle in seiner Übersetzung möglichst orginalgetreu sein (L OMMEL 1932: v). Dies war er aber schon bei der Wiedergabe des 174 Cf. B OUQUET / E NGLER 2002, J ÄGER 2003, A MACKER 2011. 175 Wie Lommel auf p. VI erwähnt, ist die Publikation nur aufgrund einer finanziellen Unterstützung durch die Familie De Saussure zustande gekommen. 176 Cf. E NGLER 1967: 198, sowie K AUDÉ 2006: 46. 177 Cf. hierzu auch unten. 42 1. Einleitung Titels nicht, und er ist es auch in der Übersetzung selbst nicht: Er behält zwar über weite Strecken die französischen Beispiele von Saussure bei; wenn sie ihm aber wenig signifikant bzw. «beliebig» zu sein scheinen, ersetzt er sie bedenkenlos und stillschweigend durch (nicht immer adäquate) deutsche. Er ist so letztlich inkonsequent und öffnet der Willkür die Tür mehr als nur einen Spalt. 4.1. Die erste Auflage der Lommelschen Übersetzung wird insgesamt sechsmal besprochen: A MMANN 1934 178 , H ERMANN 1931 b, I PSEN 1931/ 32, M ERIGGI 1931, R OHLFS 1931, W EISGERBER 1931/ 32 und O TTO 1934. Im allgemeinen sind die Stellungnahmen recht positiv, doch betrifft dies mehr den Inhalt und die Tatsache, daß jetzt eine deutsche Version des Cours vorliegt; zur Übersetzung selbst bzw. zu Leistung und Fehlleistungen des Übersetzers findet sich dagegen sehr wenig. Im einzelnen kann man folgendes festhalten: - A MMANNN 1934a: 304 betont v. a. die Probleme, die sich bei der Übersetzung von Saussures Terminologie ergeben (langage/ langue/ parole, signe/ signifié/ signifiant usw.). Weiter unterstreicht er, daß Lommel mehr Wert auf die «gewissenhafte Treue in der Wiedergabe der Gedanken» lege (was nur bedingt richtig ist) als «auf vollendete Glätte des deutschen Ausdrucks»; deshalb treffe man «hin und wieder auf sprachliche Anstöße». Dies ist erstmals ein dezenter Hinweis auf die stilistischen Mängel der Übersetzung. Es folgt dann eine Liste von Einzelkorrekturen, die aber recht zufälligen Charakter haben; ein systematischer Vergleich mit dem französischen Original fehlt. - Während A MMANN 1934a sich vordringlich mit der deutschen Übersetzung des Cours befaßt, ist A MMANN 1934b eine (z. T. kritische) Auseinandersetzung mit Saussures Gedankengut (allerdings auf der Basis von Lommels Übersetzung). Er geht ausführlich auf die Unterscheidung langage/ langue/ parole, den Zeichenbegriff, den Wertbegriff, das Arbitraritätsprinzip, die relative Motivation und die Trennung von Synchronie und Diachronie ein; auch Sprachwandel und Ausdifferenzierung im Raum werden ausführlich gewürdigt. Sowohl die Dichotomie langue/ parole als auch die Unterscheidung von Synchronie und Diachronie fallen nach Ammann bei Saussure viel zu radikal aus; die Annahme von Übergängen zwischen den beiden einander jeweils gegenüberstehenden Bereichen würde sich aufdrängen. Hinsichtlich des image acoustique bemängelt er die Nichtberücksichtigung einer motorischen Komponente (A MMANN 1934b: 261 s., 265, 269 s.). Auch das Arbitraritätsprinzip ist ihm zu radikal gefaßt, und der Wert von Münzen wäre keineswegs vollkommen arbiträr (263 s.). Der Wandel würde nicht nur einzelne Systemeinheiten betreffen; vielmehr muß nach Ammann auch die Entwicklung des Systems der Diachronie zugewiesen werden (268 s.). Und typisch für den Zeitgeist: Ammann behauptet gegen Saussure eine Beziehung zwischen Sprache und Rasse (271). Im Großen und Ganzen eine nicht unkritische, aber durchaus freundliche Besprechung. - Ähnlich wie A MMANN 1934b ist auch O TTO 1934 eher ein Rezensionsartikel zu Saussures Cours als eine Besprechung von Lommels Übersetzung, und wie im Falle von Ammann ist der Ton freundlich, wenn auch nicht unkritisch; z. T. überschneiden sich auch die Kritikpunkte mit Ammann. Otto betont, daß die Sprachfähigkeit dem langage zuzuordnen sei und nicht der langue (180), womit er bei Saussure allerdings offene Türen einrennt; ähnlich verhält es sich mit seinem Hinweis darauf, daß der parole auch sozialer Charakter zukomme (180 s.), und daß der Satz der parole zuzuordnen sei (181). Besonders nach Kritik ruft für ihn allerdings Saussures stiefmütterliche Behandlung der Rede (180, 182): Für Otto ist die Sprechwissenschaft gleichrangig neben die 178 Die Besprechung von Ammann ist irgendwie gespalten, man könnte auch sagen schizophren: Sie besteht aus einer Kurzbesprechung und einem Besprechungsartikel (A MMANN 1934a und 1934b). 1. Einleitung 43 Sprachwissenschaft zu stellen. Mit Ammann stimmt Otto v. a. überein, wenn er in der Diachronie nicht nur den Wandel einzelner Systemeinheiten untersucht wissen will, sondern auch den sprachlichen (179, 192 s.) Strukturwandel; Diachronie ist für ihn v. a. historische Strukturlehre (die er Idiomatik nennt) und deren Ergebnis (d. h. der synchronische Zustand) jeweils die Basis für die Wahlakte in der Sprechhandlung liefert und die im Rahmen einer Stillehre (Rhetorik, Stilisitk) zu untersuchen sind 179 . - H ERMANN 1931b: 1388-90 begründet die Notwendigkeit einer deutschen Übersetzung des Cours wie Lommel mit der eigentümlichen Ausdrucksweise und den terminologischen Besonderheiten des Textes; Lommel attestiert er eine sich «sehr glatt lesende» Übersetzung (was man nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen kann). Kritisiert wird, daß der Übersetzer überholte Lehrmeinungen nicht kommentiert und offensichtliche Fehler im Beispielmaterial nicht korrigiert habe. - R OHLFS 1931: 153 verdient die Bezeichnung Beprechung wohl kaum; sie ist bestenfalls eine Kurzanzeige, z. T. ein abgeschriebener Waschzettel. Dies hindert Rohlfs allerdings nicht, sich lobend zu Saussure zu äußern; über die Übersetzung schweigt er sich aus. - Die Besprechung von M ERIGGI 1931: 616s. dagegen ist des Lobes voll für die Leistung des Übersetzers, der alle Schwierigkeiten der Übertragung souverän gemeistert haben soll. Hat Meriggi den Text wirklich gelesen? Andererseits fragt er sich, ob denn eine Übersetzung überhaupt nötig sei: Französisch sei schließlich eine internationale Wissenschaftssprache, und überdies seien Saussures Ansichten so «eigenartig», daß sich das Werk keinesfalls als «Einleitung in die Sprachwissenschaft» eigne. Eine Besprechung, die es meisterlich versteht, in jedem ihrer Urteile gründlich daneben zu liegen. - Von ganz anderem Zuschnitt ist die kurze Besprechung von I PSEN 1931/ 32: 349ss. Für Ipsen gibt es keinen Zweifel an der Bedeutung des Cours v. a. für die neuere französische Linguistik; allerdings ist deren (und Saussures) Einordnung als positivistisch wohl als kritische Distanzierung zu verstehen, und Gleiches gilt auch für den Hinweis auf die Verwurzelung im (französischen) philosophischen Denken des 18. Jahrhunderts. Was Lommels Übersetzung angeht, so attestiert ihm Ipsen zwar ein redliches Bemühen um Treue zum Original, aber ihm fehle «die gleiche philosophische Kultur des Denkens, die entsprechende Schärfe, Gezieltheit, Konstruktivität der Begriffe»; man müsse sich vielmehr fragen, ob die französische Denkform des Originals überhaupt ins Deutsche übertragbar sei. Auf jeden Fall bleibe für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Saussure ein Zugriff auf den französischen Text unverzichtbar. - W EISGERBER 1931/ 32: 248 s. lobt zuerst eine Reihe von Theoremen Saussures (Systemcharakter der Sprache, zweiseitiges Zeichen usw.), in denen ein deutlicher Einfluß Humboldts sichtbar werde; distanzierter ist sein Urteil über das Arbitraritätsprinzip. Hinsichtlich der Übersetzung unterstreicht er die Probleme mit der Fachterminologie und kritisiert v. a. die Wiedergabe von psychique und von langage/ langue/ parole. Diese Trias möchte er überdies durch eine Vierteilung faculté de langage/ langage/ langue/ parole ersetzen 180 . Auf die Übersetzung selbst und ihren Stil geht Weisgerber nicht weiter ein. 4.2. Eine umfassendere und vertiefte Übersetzungskritik findet sich erst bei K AUDÉ 2006: 37ss. Dabei gilt es vorauszuschicken, daß Kaudé die «Vulgatafassung» des CLG von Bally und Sechehaye in Bausch und Bogen ablehnt und in ihrer radikalen Editionskritik ganz auf der Linie von Jäger liegt 181 . Aus ihrer Sicht hätten die Herausgeber den Aufbau des Cours in 179 Diese Kritik wird auch in O TTO 1954 bzw. 1965 wieder aufgenommen, cf. dort v. a. p. 43-50, 62, 65. 180 Anders O TTO 1934: 180, der die faculté de langage dem langage zuordnet. - Zum Problem der faculté de langage cf. W UNDERLI 1981: 72ss., T HILO 1989: 70ss. 181 Cf. J ÄGER 1975 (und auch J ÄGER 2010), K AUDÉ 2006: 22ss. 44 1. Einleitung unsinniger Weise umgearbeitet und die Inhalte in leichtfertiger und willkürlicher Weise vollkommen verzerrt dargestellt; diese Mißgriffe wären dann in der Rezeption unkritisch verarbeitet und tradiert worden. In diese in vielerlei Hinsicht maßlose Kritik wird dann auch gleich noch die Édition critique von Engler 182 mit einbezogen, da sie die Quellen in der Abfolge der Vulgata präsentiert; damit würde die verzerrte Wiedergabe von Saussures Lehrmeinung in unverantwortlicher Weise perpetuiert 183 . Obwohl Editionskritik und Übersetzungskritik an sich voneinander unabhängig sind, kann man vor diesem Hintergrund kaum eine positive Bewertung der Lommelschen Übersetzung erwarten. Und in der Tat fällt denn die Übersetzungskritik in ähnlicher Weise rabiat aus: Für Kaudé ist die aktuelle deutsche Fassung schlicht unzulänglich (K AUDÉ 2006: 40). Dieses harte Urteil wird mit einer Fülle von Beispielen gestützt, von denen viele in der Tat echte Ärgernisse darstellen; es fehlen aber auch Fälle nicht, wo die Kritik überzogen und maßlos erscheint und so die Rundumschlagmentalität gegenüber Bally und Sechehaye wieder aufnimmt. Gewissermaßen im Zentrum der Kritik an Lommel steht die Wiedergabe der Saussureschen Trias langage/ langue/ parole, die Lommel mit menschliche Rede/ Sprache/ Sprechen in den Griff zu bekommen versucht. Wir haben hier zumindest einen Versuch, die drei verschiedenen französischen Termini unterschiedlich wiederzugeben. Allerdings muß gesagt werden, daß Lommel in dieser Hinsicht nicht immer vollkommen konsequent ist und sich v. a. bei langage und langue ärgerliche Überschneidungen ergeben. Problematisch erscheint überdies die Wiedergabe von langage mit menschliche Rede, denn der langage-Begriff bei Saussure schließt sowohl die langue als auch die parole mit ein. Dies ist aber im Falle von menschliche Rede schwer nachvollziehbar, denn Rede ist eine gängige Alternative für Lommels Sprechen. Und schließlich ist auch noch darauf hinzuweisen, daß hier zwei weiteren, gewissermaßen mit dem Problemkreis assoziierten Begriffen, nämlich faculté de langage und discours, überhaupt nicht Rechnung getragen wird. Daß es sich hier um eine echte Crux der Übersetzung handelt, zeigt sehr schön Kaudés Aufstellung der unterschiedlichen Lösungen, die von verschiedenen Forschern vorgeschlagen wurden (K AUDÉ 2006: 39), und die wir hier in leicht modifizierter From wiedergeben 184 : langage langue parole L OMMEL 1931 menschliche Rede Sprache Sprechen J ABERG 1916 sprachliche Gesamttätigkeit Linguistik der Sprache Rede O TTO 1934 Sprache Sprachtum Sprechakt T RUBETZKOY 1939 Sprache Sprachgebilde Sprechakt P ORZIG 1950 Sprache Sprachbesitz Gespräch, wirkliches Sprechen G IPPER 1963 185 Sprach(fähigkeit) (Mutter-)/ (Einzel-) Sprache Sprech(akt) 182 E NGLER 1968 und 1974. 183 Cf. K AUDÉ 2006: 34ss. 184 Zur Problematik der Übersetzung von langage/ langue/ parole in den verschiedensten Sprachen cf. auch ausführlich D E M AURO 1968/ 1972 N68. 185 Die von Gipper vorgeschlagene Lösung ist mit Abstand die unzulänglichste. Wenn er langage mit Sprachfähigkeit wiedergibt, vermischt er langage und faculté de langage (cf. hierzu W UNDERLI 1981ss.; unverständlich die Zustimmung von T HILO 1989: 70ss.). Die Wiedergabe von langue mit Mutter-/ 1. Einleitung 45 Keiner dieser Vorschläge vermag vollkommen zu überzeugen, und jeder von ihnen weist eine Schwachstelle auf: Bei Lommel ist es - wie bereits erwähnt - die menschliche Rede, bei Jaberg die Linguistik der Sprache, bei Otto das Sprachtum, bei Gipper die Sprachfähigkeit und die Mutter-/ Einzelsprache. Mit Porzig könnte man vielleicht leben, wenn da nicht die unglückliche Wiedergabe von parole wäre; Sprechen allein würde durchaus reichen. Auf den ersten Blick akzeptabel scheint Trubetzkoys Vorschlag zu sein. Seine Verwendung von Sprachgebilde und Sprechakt erinnert an Karl Bühler - aber bei Bühler sind die beiden Ausdrücke Teil eines vierteiligen Modells: Sprechhandlung (individuell/ konkret [= parole]), Sprachwerk (sozial/ konkret) 186 , Sprechakt (individuell/ abstrakt) 187 , Sprachgebilde (sozial/ abstrakt [= langue] 188 . Was Trubetzkoy als Sprechakt bezeichnet, ist bei Bühler gerade die Sprechhandlung 189 . Und da Trubetzkoys Anlehnung an Bühler naheliegend und evident ist 190 , müßte sein Terminologievorschlag entsprechend modifiziert werden, um wirklich adäquat zu sein. Eine Trias Sprache/ Sprachgebilde/ Sprechhandlung für langage/ langue/ parole wäre eine durchaus saubere Lösung; sie hat allerdings den Nachteil, daß sie sich nicht durchgesetzt hat, ungebräuchlich und schwerfällig ist. Kaudés Lösung des Problems vermag nicht zu überzeugen (K AUDÉ 2006: 49ss.). Sie übersetzt parole mit Sprechen, langage und langue dagegen beide mit Sprache (K AUDÉ 2006: 49ss.). Natürlich ist sie sich der Problematik dieser Konzession an das Deutsche bzw. das Fehlen eines dritten Terminus im Deutschen bewußt und versucht sie dadurch zu entschärfen, daß sie jeweils in Klammern die Entsprechung im französischen Text (langue bzw. langage) angibt. Doch dies ist leider keine Lösung des Problems, denn Kaudé übersieht oder übergeht (wie die meisten Interpreten und Kritiker), daß es bei Saussure zwei verschiedene Verwendungsweisen der drei Ausdrücke gibt, nämlich einerseits als wissenschaftliche, wohldefinierte Termini, und andererseits als alltagssprachliche Einheiten, deren Bedeutungsspektren in hohem Maße überlappen 191 . Damit ist für den Leser letztlich nichts geklärt, und er muß selbst interpretieren, denn in zahlreichen Fällen ist nicht ohne weiteres ersichtlich, welche der beiden Verwendungsweisen vorliegt. Und in dieser Hinsicht sollte sich der Herausgeber/ Übersetzer nicht vor seiner interpretatorischen Verpflichtung und Verantwortung drücken. Aus diesem Grunde werden wir selbst uns im Bereich der wissenschaftlichen Terminologie an folgende Regelung halten: langage ‘ Sprache ’ , faculté de langage ‘ Sprachfähigkeit ’ , langue ‘ Sprachsystem ’ , parole ‘ Rede ’ . Im alltagssprachlichen Bereich wird nicht zwischen langage und langue differenziert und beide werden mit ‘ Sprache ’ wiedergegeben. Ob wissenschaftlicher oder alltäglicher Sprachgebrauch vorliegt, ergibt sich jeweils aus dem Kontext und der Entsprechung im französischen Paralleltext. Desweiteren wirft K AUDÉ 2006: 41ss. Lommel (zurecht) eine Fülle von übersetzerischen Fehlleistungen vor, die einerseits auf Überdifferenzierungen, andererseits auf der Verwischung von Unterschieden beruhen und die ihren Ursprung oft in einem fast schon manischen Sprachpurismus haben, der selbst im Deutschen gut etablierte Fremdwörter um jeden Preis zu vermeiden sucht. Hier nur einige Beispiele: empreinte und impression werden unterschiedslos mit ‘ Eindruck ’ wiedergegeben; cerveau erscheint sowohl als ‘ Gehirn ’ als auch Einzelsprache ist deshalb inadäquat, weil hier der wissenschaftliche Terminus durch den Alltagsgebrauch ersetzt wird. Für Sprechakt cf. unten. 186 Das gewissermaßen petrifizierte Ergebnis von Sprechhandlungen, d. h. Texte, Sprichwörter, geflügelte Worte usw. 187 Hier könnte der Bogen von Bühler zur Sprechakttehorie von Austin und Searle geschlagen werden. 188 Cf. B ÜHLER 1934: 48ss. 189 Entsprechendes gilt auch für die Verwendung von Sprechakt bei Otto und Gipper. 190 Schließlich gehören ja beide zum Prager Kreis! 191 Cf. hierzu E NGLER 1968b s. v. 46 1. Einleitung (abartig) als ‘ Gehör ’ [evtl. Satzfehler? ]; manifestation wird bald mit ‘ Äußerung ’ , bald mit ‘ Auswirkung ’ wiedergegeben; fait wird sowohl mit ‘ Verhältnis ’ , ‘ Erscheinung ’ , ‘ Faktum ’ , ‘ Zustand ’ als auch ‘ Tatsache ’ übersetzt; réduire wird mit ‘ zurückführen ’ wiedergegeben, complexe mit ‘ zusammengesetzt ’ , établi mit ‘ feststehend ’ und actuel mit ‘ gegenwärtig ’ ; homogène erscheint als ‘ gleichartig ’ , substance als ‘ Masse ’ , phénomène als ‘ Erscheinung ’ und gens als ‘ Sprachgenossen ’ (! ); usw. Kaudés Kritik ist in einzelnen Fällen vielleicht etwas beckmesserisch, aber im Großen und Ganzen ist sie durchaus berechtigt, denn die meisten der angesprochenen Übersetzungslösungen rufen im Kontext beim (heutigen) Leser schlicht ungläubiges Kopfschütteln hervor. Viel bedenklicher als die vorhergehenden Fälle sind jedoch diejenigen, die den terminologischen Kernbestand von Saussures Sprach- und Sprachwissenschaftskonzeption betreffen (K AUDÉ 2006: 44ss.): identité wird mit ‘ Gleichheit ’ übersetzt, entité mit ‘ Tatsache ’ , signifié mit ‘ Bezeichnetes ’ (! ! ), valeur zwar manchmal korrekt mit ‘ Wert ’ , dann aber auch (unannehmbar) mit ‘ Geltung ’ , die organes vocaux sind bald ‘ Sprechorgane ’ , bald ‘ Stimmorgane ’ , und matière de langage wird mit ‘ sprachliche Dinge ’ (! ! ) wiedergegeben; usw 192 . Angesichts solcher Mängel kann man Kaudé nur beipflichten, wenn sie eine vollständige Neuübersetzung des Cours fordert; allerdings sollte diese eine Neuübersetzung der Vulgata sein und nicht eine solche des rekonstruierten Textes der 3. Vorlesung, denn im Rahmen der Wirkungsgeschichte des CLG geht es zuerst einmal darum, den Text von Bally/ Sechehaye in einer akzeptablen deutschen Form zur Verfügung zu stellen. Kaudé kritisiert aber nicht nur Bally/ Sechehaye und Lommel, auch die kritische Ausgabe des CLG von Engler (E NGLER 1968, 1974) findet vor ihren Augen keine Gnade. Ihr Hauptvorwurf ist, daß Engler überhaupt die Vorgabe von Ballys und Sechehayes Vulgatatext akzeptiert und seine Darstellung der Quellen an diesem orientiert hat (K AUDÉ 2006: 34ss.). Zwar stellt sie die Qualität dieser monumentalen Editionsleistung nicht prinzipiell in Frage, ja sie bescheinigt der Edition abschließend sogar Vertrauenswürdigkeit (K AUDÉ 2006: 64). Aber vorher kann sie es sich nicht verkneifen, unerhebliche Details als schwere Vergehen anzuschwärzen, obwohl diese für den Text und das Textverständnis nichts bringen (K AUDÉ 2006: 54ss.). Und gleiches gilt für die Fälle, wo Engler Zeichnungen bzw. Skizzen in den Studentenskripten «willkürlich» verändert haben soll (K AUDÉ 2006: 61ss.) 193 . - Anders verhält es sich mit einem längeren Textstück in den Notizen von Dégallier und Constantin sowie einer Skizze von Marguerite Sechehaye (alles Einheit 2121), die aus unerfindlichen Gründen in der Édition critique nicht berücksichtigt wurden (K AUDÉ 2006: 58ss.). 4.3. Aus unserer Sicht kann man im wesentlichen der Kritik von Kaudé zustimmen: Es gibt bei Lommel eine Fülle von übersetzerischen Fehlleistungen und Ungeschicklichkeiten; besonders schwach ist seine Wiedergabe des Originals im terminologischen Bereich, der überdies durch zahlreiche Inkonsequenzen gekennzeichnet ist. Dazu kommt noch ein Punkt, den Kaudé nicht anspricht: Der deutsche Text ist stilistisch schwerfällig, wirkt oft gedrechselt, verschroben und antiquiert. Er kann in seinem skurrilen Duktus heute niemandem mehr zugemutet werden und ruft bei bei der Lektüre mit Studenten immer wieder höhnisches Gelächter 192 Nicht berechtigt scheint mir Kaudés Kritik an der Wiedergabe von langage des enfants mit ‘ Kindersprache ’ (K AUDÉ 2006: 45); hier ist langage nicht fachterminologisch, sondern alltagssprachlich verwendet und somit korrekt umgesetzt. 193 Daß die Vorlagen modifiziert wurden, ist unbestritten, aber willkürlich sind die Änderungen insofern nicht, als in keinem dieser Fälle die Aussage bzw. Aussagekraft des Textes in Mitleidenschaft gezogen wird - es geht einzig und allein um eine bessere/ einfachere Darstellbarkeit im Druck. 1. Einleitung 47 hervor. Dieses negative Urteil soll mit einem kurzen Ausschnitt gerechtfertigt werden, den wir im französischen Original, in Lommels Fassung und in unserer eigenen Neuübersetzung wiedergeben: CLG 1931: 25 (= E NGLER 1968a: 31 s.) 156 Mais qu ’ est-ce que la langue? 157 Pour nous elle ne se confond pas avec le langage; elle n ’ en est qu ’ une partie déterminée, essentielle, il est vrai. 158 C ’ est à la fois un produit social 159 de la faculté du langage 160 et un ensemble de conventions nécessaires, adoptées par le corps social pour permettre l ’ exercice de cette faculté chez les individus. 161 Pris dans son tout, le langage est multiforme et hétéroclite; à cheval sur plusieurs domaines, à la fois physique, physiologique et psychique, il appartient encore au domaine individuel et au domaine social; il ne se laisse classer dans aucune catégorie des faits humains, parce qu ’ on ne sait comment dégager son unité. 162 La langue, au contraire, est un tout en soi et un principe de classification. Dès que nous lui donnons la première place parmi les faits de langage, nous introduisons un ordre naturel dans un ensemble qui ne se prête à aucune autre classification. 163 A ce principe de classification on pourrait objecter que l ’ exercice du langage repose sur une faculté que nous tenons de la nature, tandis que la langue est une chose acquise et conventionnelle, qui devrait être subordonnée à l ’ instinct naturel au lieu d ’ avoir le pas sur lui. Lommel 1931 (2001): 11 Was aber ist die Sprache? Für uns fließt sie keineswegs mit der menschlichen Rede zusammen; sie ist nur ein bestimmter, allerdings wesentlicher Teil davon. Sie ist zu gleicher Zeit ein soziales Produkt der Fähigkeit zur menschlichen Rede und ein Ineinandergreifen notwendiger Konventionen, welche die soziale Körperschaft getroffen hat, um die Ausübung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen. Die menschliche Rede, als Ganzes genommen, ist vielförmig und ungleichartig; verschiedenen Gebieten zugehörig, zugleich physisch, psychisch und physiologisch, gehört sie außerdem noch sowohl dem individuellen wie dem sozialen Gebiet an; sie läßt sich keiner Kategorie der menschlichen Verhältnisse einordnen, weil man nicht weiß, wie ihre Einheit abzuleiten sei. Die Sprache dagegen ist ein Ganzes in sich und ein Prinzip der Klassifikation. In dem Augenblick, da wir ihr den ersten Platz unter den Tatsachen der menschlichen Rede einräumen, bringen wir eine natürliche Ordnung in eine Gesamtheit, die keine andere Klassifikation gestattet. Gegen dieses Klassifikationsprinzip könnte man einwenden, daß die Ausführung der menschlichen Rede auf einer Fähigkeit beruht, die wir von Natur haben, während die Sprache etwas Erworbenes und Konventionelles ist, was der natürlichen Veranlagung untergeordnet werden müßte anstatt ihr übergeordnet zu werden. Unsere Neuübersetzung: 156 Aber was ist das Sprachsystem? 157 Aus unserer Sicht darf es nicht mit der Sprache [schlechthin] verwechselt werden; es ist nur ein gewisser, allerdings wesentlicher Teil der Sprache. 158 Es ist gleichzeitig ein soziales Produkt 159 der Sprachfähigkeit 160 und ein Komplex von notwendigen Konventionen, die die Gemeinschaft akzeptiert hat um die Nutzung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen. 161 In ihrer Gesamtheit ist die Sprache vielgestaltig und heterogen; sie wurzelt gleichzeitig in verschiedenen Bereichen, dem physischen, dem physiologischen und dem psychischen, sie gehört weiter sowohl dem individuellen als auch dem sozialen Sektor an; sie läßt sich [als Ganzes] keiner 48 1. Einleitung der Kategorien menschlicher Gegebenheiten zuordnen, denn man weiß nicht, wie man ihre Einheit erfassen könnte. 162 Das Sprachsystem dagegen bildet für sich genommen eine Einheit und ist ein Klassifikationsinstrument. Sobald wir ihm den ersten Platz unter den sprachlichen Gegebenheiten zuweisen, führen wir eine natürliche Ordnung in einen Komplex ein, der sich jeder anderen Klassifikation entzieht. 163 Gegen dieses Klassifikationsprinzip könnte man anführen, daß die Sprachverwendung auf einer naturgegebenen Fähigkeit beruht, während das Sprachsystem etwas Erworbenes und Konventionelles ist, das den natürlichen Veranlagungen nicht übergeordnet werden darf, sondern ihnen untergeordnet werden muß. Zur Verdeutlichung unserer Vorbehalte haben wir im Lommelschen Text die problematischen und ungeschickten Übersetzungen unterstrichen. In ihrer Kritik an Bally und Sechehaye folgt Kaudé im wesentlichen J ÄGER 1975 194 ; zu der mangelhaften Qualität der Lommelschen Übersetzung dagegen sagt Jäger nichts. Und mit einigem Erstaunen stellt man fest, daß er sowohl 1975 als auch noch 2010 den Vulgatatext nach Lommel zitiert, während er alle andern Saussure-Texte 195 selbst übersetzt bzw. übersetzen läßt. Und mit noch größerem Erstaunen stellt man fest, daß auch F EHR 1997 trotz seiner unbestrittenen Französischkompetenz ebenso verfährt. Diese Inkonsequenz erstaunt umso mehr, als beiden eigentlich die Mängel der Lommelschen Fassung bewußt sein mußten. Angesichts dieser Situation haben wir uns entschlossen, endlich eine deutsche Neuübersetzung der Vulgatafassung des Cours de linguistique générale vorzulegen. Und da sich 2013 der Todestag Ferdinand de Saussures, 2016 das Erscheinen des CLG zum hundertsten Mal jährten bzw. jähren, soll sie eine Referenz an die Adresse des Meisters und an diejenige seiner beiden Nachfolger sein. 5. Editionsprinzipien Für unsere deutsche Studienausgabe der Vulgatafassung des CLG nach Bally/ Sechehaye gelten die folgenden Regelungen: 1. Wie in der Édition critique von Rudolf Engler (E NGLER 1968) verwenden wir für den Vulgatatext die Fassung der Originalausgabe des CLG von 1916. 2. Die wenigen Veränderungen in der 2. und 3. Ausgabe (1922 bzw. 1931) werden wie bei Engler in einer Fußnote zum französischen Text berücksichtigt. Wenn wir ausnahmsweise für die Übersetzung dem Text der 2. oder 3. Auflage folgen, wird dies in einer Anmerkung vermerkt. 3. Wir übernehmen Englers Segmentierung bzw. Sequenzierung. Minimale Verschiebungen der Sequenzgrenzen können durch die unterschiedliche syntaktische Struktur in der Ausgangs- und der Zielsprache bedingt sein. Es wird eine Gliederung angestrebt, die so wenig wie möglich von derjenigen der französischen Vorlage abweicht. 4. Die Sequenzziffern stehen im Fließtext, und zwar jeweils vor der jeweiligen Sequenz. Sie sind hochgestellt und in Petit; sie sind durch ein Spatium vom vorhergehenden Text getrennt; der nachfolgende Text schließt direkt an. 194 Cf. jetzt auch J ÄGER 2010. 195 Es handelt sich v. a. um die Notes (cf. E NGLER 1974 bzw. [in durchgängiger Form] S AUSSURE 2002: 137ss.), die Harvard- und die Orangerie-Manuskripte. 1. Einleitung 49 5. Die Angaben bei Engler zum Seitenwechsel in der 1. und 2. Ausgabe der Vulgata werden nicht übernommen; die Sequenzierung Englers ist vollkommen ausreichend zur Orientierung. 6. Die Fußnoten zum Text umfassen einerseits die (übersetzten) Fußnoten der Vulgata (Ziffern hochgestellt, in Petit, freistehend, in runden Klammern), andererseits meine Bemerkungen zu Übersetzungsproblemen (Ziffern hochgestellt, in Petit, direkt an den Vorkontext angeschlossen). Beide Typen sind in einer durchgehenden Numerierung zusammengefaßt. 7. Übersetzungsbedingte Ergänzungen/ Beifügungen im deutschen Text stehen wie in der Textphilologie üblich in eckigen Klammern. 8. Interpretationshilfen, erklärende und kritische Kommentare werden als Endnoten zum Text gegeben. Die Ziffern sind hochgestellt, in Petit und direkt an den Vorkontext anschließend; um sie von den Fußnoten zu unterscheiden, sind sie von einem Asterisk gefolgt. 9. In den Endnoten finden sich einerseits Kommentare zu einzelnen Stellen, Problemen usw., andererseits aber auch nur Verweise auf die Sekundärliteratur, wo entsprechende Fragen diskutiert werden. Aus Platzgründen konnten die entsprechenden (oft auch widersprüchlichen) Stellungnahmen nicht alle im Detail dargestellt werden; eine ausführliche Behandlung hätte jeden Rahmen der Ausgabe gesprengt. Überdies ist es auch nicht die Absicht dieses Apparats, für alle Fragen eine eigene Lösung anzubieten; vielmehr sollen die Literaturhinweise den Leser (auch) zu einer eigenen Auseinandersetzung mit den Problemen, Meinungen, Interpretationen, Kontroversen usw. hinführen. 10. Die Gliederung in Abschnitte/ Absätze entspricht derjenigen in der Édition critique von Engler bzw. derjenigen in der Vulgatafassung von 1916. Bei Abweichungen folgen wir der Vulgata. Ein neuer Absatz ist durch einen Einzug gekennzeichnet. 11. Probleme bereiten die phonetischen Umschriften. Saussure hat seine eigene «Mischung», die sich mit keinem der gängigen Systeme deckt. Oft sind die Umschriften auch unsystematisch, nur punktuell gültig, und in zahlreichen Fällen haben wir eher eine Art Transliteration aufgrund des normalen Alphabets. Eine Übersetzung in API wäre vielleicht wünschenswert, stellt aber einen sehr weit gehenden Eingriff dar; zudem gibt es zahlreiche Unsicherheiten hinsichtlich der Interpretation von Saussures Notationen. Wir haben uns deshalb dazu entschlossen, Saussures Umschriften beizubehalten. Dies gilt insbesondere auch für den Anhang Prinzipien der Lautlehre, wo Saussure für Phoneme (phonologische Ebene) Majuskeln, für Phonien (phonetische Ebene) dagegen Minuskeln verwendet. 12. Fehlende oder falsche Akzente bei griechischen Beispielen/ Zitaten im Text von 1916 bzw. in dessen Wiedergabe bei Engler werden stillschweigend korrigiert. Davon abgesehen behalten wir die Schreibweisen des CLG bei. Dies gilt insbesondere auch für Saussures Transliterationen, die sich in der Regel an den Gegebenheiten der französischen Orthographie orientieren, d. h. u steht für / y/ , ou für / u/ , usw. 13. Querverweise innerhalb des Textes sind nicht mehr seitenbezogen (wie im Originaltext und in der Édition critique), sondern werden durch die Angabe der Sequenzen nach Engler ersetzt. Dies erlaubt vom Seitenumbruch unabhängige Angaben. 14. Die Bibliographie findet sich am Ende unserer Ausgabe und umfaßt sowohl die in der Einleitung wie im Kommentarteil zitierte Literatur. Sie will keine vollständige Saussure- Bibliographie sein, sondern einzig die erwähnten Arbeiten dokumentieren. 15. Im Text (Einleitung, Fußnoten) selbst werden Literaturangaben in verkürzter Form nach dem Muster «A UTORNAME Jahrzahl: Seitenzahl» gegeben, also z. B. S TAROBINSKI 1971: 25 oder W ARTBURG 1931: 26. 16. Aufgelöst werden die verkürzten Literaturangaben in der Bibliographie folgendermaßen: 50 1. Einleitung Monographien: S TAROBINSKI , J EAN 1971: Les mots sous les mots. Les anagrammes de Ferdinand de Saussure, Paris Aufsätze: W ARTBURG , W ALTHER VON 1931: «Das Ineinandergreifen von deskriptiver und historischer Sprachwissenschaft«, BVSAW 83/ 1: 1-23 Rezensionen werden folgendermaßen zitiert: Rohlfs, Gerhard 1931: *Lommel 1931, ASNS 86: 153 wobei L OMMEL 1931 seinerseits aufgelöst wird als: L OMMEL , H ERMAN (ed.) 1931: F ERDINAND DE S AUSSURE , Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin ( 2 1967, 3 2001) 17. Unsere Studienausgabe kennt aus Kostengründen keinen Index im traditionellen Sinn. Wir verweisen hierfür auf die zweisprachige Ausgabe. 6. Ausgewählte Sprachregelungen Die folgende Liste enthält die wichtigsten Festlegungen für die Übersetzungspraxis sowohl bezüglich der Fachtermini als auch von terminologienahen Ausdrücken der Allgemeinsprache. Fachtermini werden kursiviert wiedergegeben, allgemeinsprachliche Ausdrücke sind recte. Unterschiedliche Übersetzungslösungen mit nicht-identischer Bedeutung werden durch ein Semikolon voneinander getrennt. acoustique akustisch; meistens aber auditiv arbitraire (n. m.) Arbitrarität arbitraire (adj.) arbiträr articulation Gliederung; Artikulation changement Wandel, Wechsel, Veränderung collectivité Gemeinschaft concept Inhalt; Konzept consentement Akzeptanz, Zustimmung, Übereinkunft convention Konvention conventionnel konventionell diachronie (n. f.) Diachronie, Sprachentwicklung; diachronische Sprachwissenschaft diachronique (n. m.) Diachronie diachronique (adj.) diachronisch, die Diachronie betreffend distinct verschieden, konturiert, abgegrenzt domaine individuel individueller Bereich/ Sektor domaine social sozialer Bereich/ Sektor élaborer generieren, produzieren ensemble (n. m.) Komplex; Ganzheit entité Einheit, Entität état de langue Sprachzustand, Synchronie faculté de/ du langage Sprachfähigkeit fait diachronique diachronische(s) Erscheinung/ Ereignis fait linguistique Sprachphänomen, sprachliche Gegebenheit 1. Einleitung 51 faits humains menschliche Gegebenheiten fait social soziale Gegebenheit/ Einbettung forme Form histoire Geschichte; Diachronie image acoustique Lautbild, lautliches Abbild instinct naturel natürliche Veranlagung immutabilité Unveränderlichkeit, Stabilität intermédiaire (n. m.) Mittler langage Sprache (= langue + parole) langage Sprache (undifferenziert; = langue) langue Sprachsystem 196 Langue Phänomen Sprache, Sprachphänomen langue Sprache (undifferenziert = langage) matière Stoff (Gegenstand), Materie matière phonique Lautmaterial, lautliche Materie moyen phonique matériel lautlich-materielles Medium mutabilité Veränderlichkeit, Wandelbarkeit objet Gegenstand, Objekt pensée Denken (~ dynamisch, unstrukturiert); Gedanken (~ statisch, strukturiert) phonème Laut, Phonie; Phonem phonétique historische Lautlehre; Phonetik (= Lautphysiologie) phonologie Lautphysiologie; Phonologie produit social soziales Produkt/ Ergebnis principe de classification Klassifikationsinstrument sémantique Semantik (historische Bedeutungslehre) signe Zeichen signifiant Signifikant signifiant Bedeutungsträger; Bedeutung signifié Signifikat signifié Bedeutung, Inhalt son Laut statique den Sprachzustand betreffend, synchronisch statique statisch substance Substanz, Materie synchronie (n. f.) Synchronie, Sprachzustand; synchronische Sprachwissenschaft synchronique (n. m.) Synchronie, Sprachzustand; synchronische Sprachwissenschaft synchronique (adj.) synchronisch, die Synchronie betreffend système de valeurs Wertsystem, System von Werten terme Einheit, Term terrain limitrophe Grenzbereich/ -gebiet tranche acoustique Lautsegment valeur Wert idée de valeur Wertbegriff unité (konkrete) Einheit 196 Cf. hierzu unten, N9 zu Einheit 320. 52 1. Einleitung 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Vorwort zur ersten Auflage Wir haben Ferdinand de Saussure oft über die Mängel der Prinzipien und Methoden der Linguistik klagen gehört, in deren Rahmen er groß geworden ist, und während seinem ganzen Leben hat er hartnäckig nach den Leitideen gesucht, die sein Denken durch dieses Chaos führen könnten. Aber erst 1906, als er die Nachfolge von Joseph Wertheimer an der Universität Genf antrat, konnte er seine eigenen Ideen bekannt machen, die während langen Jahren gereift waren. Er hielt drei Vorlesungen über Allgemeine Sprachwissenschaft, 1906 - 1907, 1908 - 1909 und 1910 - 1911. Allerdings zwangen ihn die Vorgaben des Studienprogramms, die Hälfte jeder dieser Veranstaltungen den indogermanischen Sprachen, ihrer Geschichte und ihrer Beschreibung zu widmen; der wesentliche Teil seines Themas erfuhr dadurch eine erhebliche Begrenzung. Alle, die das Glück hatten, an diesem fruchtbaren Unterricht teilzunehmen, haben [immer] beklagt, daß daraus kein Buch entstanden sei. Nach dem Tod Saussures hatten wir gehofft, in den Manuskripten, die Mme de Saussure uns freundlicherweise zur Verfügung stellte, ein getreues oder zumindest hinreichendes Abbild seiner genialen Vorlesungen zu finden; wir hatten die Möglichkeit einer Publikation im Visier, die auf einer einfachen Überarbeitung seiner persönlichen Notizen in Verbindung mit den Aufzeichnungen der Studenten beruhen sollte. Wir wurden arg enttäuscht. Wir fanden nichts oder fast nichts, was den Notizheften seiner Schüler entsprach; Ferdinand de Saussure vernichtete seine flüchtigen Entwürfe, in denen er seine Ausführungen von Fall zu Fall skizzierte, regelmäßig! Die Schubladen seines Schreibtisches lieferten uns einzig ältere Aufzeichnungen 1 *, die sicher nicht ohne Wert sind, aber die unmöglich zu verwerten und mit dem Stoff der drei Vorlesungen zu kombinieren waren. Diese Feststellung enttäuschte uns umso mehr, als berufliche Verpflichtungen uns fast vollständig daran gehindert hatten, selbst von seinen letzten Vorlesungen zu profitieren, die in der Karriere von Ferdinand de Saussure eine ebenso herausragende Etappe darstellen wie die schon weit zurückliegende, in der das Mémoire über die Vokale erschienen war. Wir sahen uns so gezwungen, auf die Notizen zurückzugreifen, die die Studenten während der drei Vorlesungsreihen gemacht hatten und die sie uns zur Verfügung stellten. Weitgehend vollständige Aufzeichnungen bekamen wir für die ersten beiden Vorlesungen von Louis Caille, Léopold Gautier, Paul Regard und Albert Riedlinger; für die dritte Vorlesung - die wichtigste - von Mme Albert Sechehaye sowie von George Dégallier und Francis Joseph. Louis Brütsch verdanken wir Aufzeichnungen zu einem speziellen Thema. Allen gebührt unser aufrichtiger Dank. 2 * Ebenso haben wir Jules Ronjat, dem bedeutenden Romanisten, herzlich zu danken, der die Freundlichkeit hatte, unser Manuskript vor der Drucklegung durchzusehen und dessen Anmerkungen für uns sehr wertvoll waren. Wie war mit diesem Material umzugehen? 3 * Ein erster kritischer Arbeitsschritt war unverzichtbar. Es galt, für jede Vorlesung und für jede Einzelheit der Vorlesung alle Versionen zu vergleichen und so die Gedanken [des Autors] nachzuvollziehen, von denen wir nur über (manchmal widersprüchliche) Echos verfügten. Für die ersten beiden Vorlesungen konnten wir auf die Mitarbeit von Albert Riedlinger zählen, einem der Schüler, der den Gedankengängen seines Lehrers mit dem größten Interesse gefolgt war; seine Mitwirkung in dieser Arbeitsphase war uns außerordentlich hilfreich. Für die dritte Vorlesung hat einer von uns, Albert Sechehaye, die gleiche minuziöse Arbeit des Kollationierens und Selektierens übernommen. Und weiter? Die Form des mündlichen Unterrichts, der oft im Gegensatz zur Buchform steht, hat uns die größten Schwierigkeiten bereitet. Überdies war Ferdinand de Saussure einer dieser Menschen, die sich ohne Unterlaß erneuern; sein Denken entwickelte sich in alle Richtungen weiter ohne dabei in Widerspruch zu sich selbst zu geraten. Alles in seiner ursprünglichen Form zu veröffentlichen war unmöglich; die in einem freien Vortrag unvermeidlichen Wiederholungen, die Überschneidungen, die variierenden Formulierungen hätten einer derartigen Publikation ein seltsames Aussehen verliehen. Sich auf eine Vorlesung beschränken - aber welche? Zudem hätte das bedeutet, das Buch um all die Reichtümer zu bringen, die in den beiden andern Vorlesungen reichlich vorhanden sind. Selbst die dritte Vorlesung, die am weitesten entwickelte, hätte für sich allein kein vollständiges Bild der Theorien und Methoden von Ferdinand de Saussure vermitteln können. Man hat uns auch nahegelegt, einzelne besonders bedeutende Texte in unveränderter Form wiederzugeben. Diese Idee gefiel uns zunächst, aber es zeigte sich bald, daß sie Saussures Denken nicht gerecht würde, da so nur Fragmente einer Konstruktion vorgelegt würden, deren Wert erst in ihrer Ganzheit deutlich wird. Wir haben uns [schließlich] zu einer Lösung entschlossen, die kühner, aber, wie wir denken, auch angemessener ist: Wir versuchen eine Rekonstruktion, eine Synthese, auf der Basis des dritten Cours, wobei wir auf alle Materialien zurückgreifen, über die wir verfügen, einschließlich der persönlichen Notizen von Ferdinand de Saussure. Es handelt sich also um eine Nachschöpfung, die umso schwieriger war, als sie vollkommen objektiv sein sollte. Es galt, jedem Punkt, jedem einzelnen Gedanken auf den Grund zu gehen und zu versuchen, ihn in seiner definitiven Form zu sehen, befreit von den Variationen und inhärenten Schwankungen des mündlichen Vortrags, ihn dann in sein natürliches Umfeld einzubetten und alle Teile in einer Ordnung dazubieten, die den Intentionen des Autors entsprach, und dies selbst dort, wo diese eher erraten werden mußten als offensichtlich waren. 4 * Aus diesem Anpassungs- und Rekonstruktionsprozeß ist das Buch entstanden, das wir nun - nicht ohne Bedenken - der scientific community und allen Freunden der Linguistik vorlegen. Unsere Leitidee war es, ein organisches Ganzes zu schaffen und nichts zu unterlassen, was zu diesem ganzheitlichen Eindruck beitragen könnte. Aber vielleicht setzen wir uns gerade dadurch einer doppelten Kritik aus. Einmal kann man uns vorwerfen, daß dieses Ganze unvollständig sei. Ferdinand de Saussure hat nie den Anspruch erhoben, in seiner Lehre alle Teile der Linguistik aufzugreifen und alle gleichermaßen zu beleuchten; sachlich war er dazu gar nicht in der Lage. Sein Anliegen war vielmehr ein ganz anderes. Geleitet von einigen fundamentalen Prinzipien persönlicher Art, die man überall in seinem Werk wiederfindet und die die Basis dieses ebenso engen wie vielgestaltigen Gewebes bilden, dringt er in die Tiefe vor und geht nur dort in die Breite, wo diese Prinzipien eine besonders überzeugende Anwendung finden, oder auch dort, wo sie mit einer Theorie in Konflikt geraten, die sie erschüttern könnte. So erklärt sich, daß gewisse Bereiche kaum gestreift werden, z. B. die Semantik. Wir glauben nicht, daß diese Lücken der Gesamtarchitektur schaden. Das Fehlen einer «Linguistik der Rede» ist gravierender. 5 * Eine solche war den Hörern der dritten Vorlesung versprochen worden, und dieser Darstellung wäre ohne Zweifel ein Ehrenplatz unter den nachfolgenden 54 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft zugekommen; wir wissen nur zu gut, warum dieses Versprechen nicht gehalten werden konnte. Wir mußten uns darauf beschränken, die flüchtigen Andeutungen zu diesem kaum skizzierten Vorhaben zu sammeln und sie an ihrem ihnen naturgemäß zukommenden Platz einzufügen; mehr konnten wir nicht tun. Umgekehrt wird man uns vielleicht tadeln, daß wir Ausführungen aufgenommen haben, die schon vor Ferdinand de Saussure unbestritten waren. In einer so weitgespannten Darstellung kann nicht alles neu sein; aber wenn schon bekannte Einsichten nötig sind für das Verständnis des Ganzen, kann man uns dann vorwerfen, sie nicht weggelassen zu haben? So enthält das Kapitel über den Lautwandel Dinge, die schon früher und vielleicht in endgültigerer Form gesagt worden sind; aber einmal davon abgesehen, daß dieser Teil viele orginelle und wertvolle Einzelheiten enthält, zeigt eine auch nur oberflächliche Lektüre, was andererseits ein Weglassen für Folgen gehabt hätte für das Verständnis der Prinzipien, auf welchen Ferdinand de Saussure sein System einer statischen Linguistik gründet. Wir sind uns der Verantwortung bewußt, die wir gegenüber der Kritik und [vor allem] gegenüber dem Autor übernehmen, der vielleicht der Veröffentlichung dieser Seiten nicht zugestimmt hätte. Diese Verantwortung übernehmen wir voll und ganz, und wir tragen sie allein. Wird die Kritik in der Lage sein, zwischen dem Lehrer und seinen Interpreten zu unterscheiden? Wir wären ihr dankbar, wenn ihre Prügel uns treffen würden, denn es wäre ungerecht, wenn davon ein Andenken beschädigt würde, das uns teuer ist. Genf, Juli 1915 Charles Bally, Albert Sechehaye Vorwort zur zweiten Auflage Diese zweite Auflage bringt keine wesentliche Veränderung gegenüber dem Text der ersten. Die Herausgeber haben sich auf Detailverändungen beschränkt, die den Text an einigen Stellen klarer und präziser machen. Ch.B., A. S. Vorwort zur dritten Auflage Abgesehen von einigen Detailkorrekturen ist diese Auflage identisch mit der vorhergehenden. Ch.B., A. S. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 55 1 Einleitung 2 Kapitel 1 Ein Blick auf die Geschichte der Linguistik 3 Die Wissenschaft, die sich um die sprachlichen Phänomene entwickelt hat, hat drei aufeinander folgende Phasen durchlaufen bevor sie erkannte, welches ihr eigentlicher und einziger Gegenstand ist 6 *. 4 Man hat mit dem begonnen, was man «Grammatik» nannte. 5 Diese Untersuchungen, die von den Griechen eingeleitet und vor allem von den Franzosen weitergeführt wurden, 6 basieren auf der Logik und entbehren jedes wissenschaftlichen und objektiven Zugriffs auf die Sprache selbst; 7 ihr einziges Ziel ist es, Regeln zu entwickeln die erlauben, die korrekten von den fehlerhaften Formen zu unterscheiden; es handelt sich um eine normative Disziplin, die weit von der reinen Beobachtung entfernt ist und die einen gezwungenermaßen begrenzten Blickwinkel hat. 8 Anschließend trat die Philologie auf den Plan. 9 Schon in Alexandrien existierte eine «philologische» Schule, doch bezieht sich diese Bezeichnung vor allem auf die wissenschaftliche Bewegung, die von Friedrich August Wolf ab 1777 7 * begründet wurde und die bis heute weiterlebt. 10 Die Sprache ist nicht der einzige Gegenstand der Philologie, 11 der es vor allem um die Etablierung, Interpretation und Kommentierung der Texte geht; diese erste Zielsetzung bringt sie dazu, sich auch mit der Geschichte der Literatur, der Sitten, der Institutionen usw. zu befassen; 12 [dabei] setzt sie überall ihre eigene Methode ein, diejenige der Kritik. 13 Dort, wo sie sich mit eigentlich linguistischen Fragestellungen befaßt, geht es ihr in erster Linie darum, Texte aus verschiedenen Epochen zu vergleichen, die spezifische Sprache jedes Autors zu bestimmen, die in einer archaischen und dunklen Sprache verfaßten Inschriften zu entziffern und zu erklären. 14 Ohne Zweifel haben diese Untersuchungen die historische Sprachwissenschaft vorbereitet: 15 Die Arbeiten von Ritschl über Plautus können linguistisch genannt werden. 16 Aber die philologische Kritik weist einen entscheidenden Mangel auf: Sie orientiert sich zu sklavisch an der geschriebenen Sprache und vernachlässigt die lebendige Sprache; überdies befaßt sie sich fast ausschließlich mit der griechischen und lateinischen Antike. 8 * 17 Die dritte Phase begann, als man erkannte, daß man die Sprachen untereinander vergleichen kann. Das war der Beginn der komparativen Philologie oder «vergleichenden Grammatik». 9 * 18 1816 untersuchte Franz Bopp 10 * in seiner Schrift Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache . . . die Beziehungen zwischen dem Sanskrit einerseits, dem Germanischen, Griechischen, Lateinischen usw. andererseits. 19 Bopp war nicht der erste, dem diese Ähnlichkeiten auffielen und der daraus schloß, daß diese Sprachen ein und derselben Familie angehören müssen. 20 Das war schon vor ihm geschehen, 21 vor allem durch den englischen Orientalisten William Jones ( † 1794); 22 aber einige isolierte Aussagen beweisen noch nicht, daß man im Jahre 1816 die Bedeutung und Tragweite dieser Erkenntnis allgemein verstanden hätte. 23 Bopp kommt somit nicht das Verdienst zu, erkannt zu haben, daß das Sanskrit mit gewissen europäischen und asiatischen Sprachen verwandt ist, 24 aber er hat erkannt, daß die Beziehungen zwischen verwandten Sprachen den Gegenstand einer selbständigen Wissenschaft abgeben konnten. 25 Eine Sprache im Lichte einer anderen betrachten, die Formen der einen durch die Formen der anderen erklären, das war es, was noch nicht gemacht worden war. 56 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 26 Es ist fraglich, ob Bopp seine Wissenschaft ohne die Entdeckung des Sanskrit hätte entwickeln können - auf jeden Fall nicht so schnell. 27 Indem dieses als dritter Zeuge neben das Griechische und das Latein trat, entstand eine breitere und solidere Untersuchungsbasis; 28 dieser Zugewinn wurde noch verstärkt durch den glücklichen Umstand, daß das Sanskrit außerordentlich günstige Bedingungen liefert für die Erklärung des Verglichenen. 29 Hierfür ein Beispiel. Wenn man sich das Paradigma von lat. genus (genus, generis, genere, genera, generum usw.) vornimmt, sowie dasjenige von gr. génos (génos, géneos, géneï, génea, gené ō n usw.), so sagen diese beiden Serien nichts aus, ganz gleichgültig, ob man sie isoliert betrachtet oder sie miteinander vergleicht. 30 Das ändert sich schlagartig, sobald man die entsprechende Reihe im Sanskrit dazustellt ( ɡ ́ anas, ɡ ́ anasas, ɡ ́ anasi, ɡ ́ anassu, ɡ ́ anas ā m usw.). Es genügt ein kurzer Blick um die Beziehungen zu erkennen, die zwischen dem griechischen und dem lateinischen Paradigma bestehen. 31 Nehmen wir vorläufig einmal an, ɡ ́ anas repräsentiere den ursprünglichen Zustand, denn dies erleichtert die Erklärung. Man stellt fest, daß ein s in den gr. Formen géne(s)os usw. immer dann ausgefallen sein muß, wenn es sich zwischen zwei Vokalen befand. 32 Dann stellt man fest, daß unter den gleichen Bedingungen s im Lateinischen zu r wird. 33 Schließlich ergibt sich aus grammatischer Sicht, daß das Sanskritparadigma den Stamm hervorhebt, 34 der einer exakt ausgrenzbaren und festen Einheit entspricht ( ɡ ́ anas-). 35 Das Lateinische und das Griechische haben nur in ihren Anfängen einen Zustand gekannt, der dem des Sanskrit entspricht. 36 Das Sanskrit wirkt hier also erhellend, weil es alle indogermanischen s-Laute bewahrt hat. 37 Allerdings trifft es zu, daß es in anderen Bereichen die Charakteristika des Prototyps weniger gut überliefert; so hat es z. B. den Vokalismus vollkommen umgekrempelt. 38 Aber im allgemeinen sind die im Sanskrit erhaltenen ursprünglichen Elemente für die Forschung außerordentlich hilfreich; der Zufall hat aus ihm eine Sprache gemacht, die sich hervorragend dazu eignet, in einer Vielzahl von Fällen die anderen Sprachen zu erhellen. 39 Von den Anfängen an machten sich neben Bopp andere bedeutende Linguisten bemerkbar: Jacob Grimm, der Begründer der germanistischen Studien (seine Deutsche Grammatik erschien zwischen 1822 und 1836); 40 August Friedrich Pott, dessen Etymologische Forschungen den Sprachwissenschaftlern eine Fülle von Materialien zur Verfügung gestellt haben; 41 Adalbert Kuhn, dessen Arbeiten sowohl die Linguistik als auch die Vergleichende Mythologie betrafen; die Indologen Theodor Benfey und Theodor Aufrecht; usw. 42 Unter den letzten Vertretern dieser Schule sind schließlich insbesondere Max Müller, Georg Curtius 43 und August Schleicher zu nennen. 44 Alle drei haben auf unterschiedliche Weise Bedeutendes für die Komparatistik geleistet. 45 Max Müller hat sie durch seine brillanten Causerien populär gemacht 46 (Lectures on the Science of Language, 1861); 47 aber er hat dabei die Gewissenhaftigkeit nicht gerade übertrieben. 48 Georg Curtius, ein bedeutender Philologe, 49 ist vor allem durch seine Grundzüge der griechischen Etymologie ( 5 1879) bekannt geworden; 50 er ist einer der ersten, der die Vergleichende Grammatik mit der traditionellen Philologie versöhnt hat. 51 Diese hatte die Fortschritte der neuen Disziplin mit Mißtrauen verfolgt, und dieses Mißtrauen war ein gegenseitiges geworden. 52 August Schleicher schließlich 53 ist der erste, der versucht hat, die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen zusammenzuführen. 54 Sein Compendium der Grammatik der indogermanischen Sprachen (1861) ist eine Art Synthese der durch Bopp begründeten Wissenschaft. 55 Dieses Buch, das lange Zeit hervorragende Dienste geleistet hat, liefert - besser als jedes andere - einen Überblick über diese komparatistische Schule, die die erste Phase der Indogermanistik ausmacht. 11 * 56 Aber dieser Schule, der das unbestreitbare Verdienst zukommt, ein neues und fruchtbares Forschungsfeld eröffnet zu haben, ist es nie gelungen, eine wirkliche Sprachwissenschaft zu schaffen. 57 Sie hat sich nie bemüht, die Natur ihres Forschungsgegenstandes 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 57 herauszuarbeiten. 58 Ohne diesen grundlegenden Schritt ist nun aber keine Wissenschaft in der Lage, sich eine Methodik zu geben. 59 Der erste Fehler, der alle weiteren schon im Keim enthält, ist, daß die Vergleichende Grammatik bei ihren (übrigens auf die indogermanischen Sprachen beschränkten) Untersuchungen sich nie gefragt hat, worauf sich ihre Gegenüberstellungen eigentlich bezogen, was die Beziehungen, die sie entdeckte, eigentlich bedeuteten. 60 Sie war auschließlich vergleichend statt historisch zu sein. 61 Zweifellos ist der Vergleich die notwendige Bedingung für jede historische Rekonstruktion; aber für sich allein erlaubt er noch keine Schlüsse. 62 Und Schlußfolgerungen waren diesen Komparatisten auch deshalb verwehrt, weil sie die Entwicklung von zwei Sprachen so sahen wie ein Naturforscher das Wachstum von zwei Pflanzen begreift. 63 Schleicher z. B., der uns immer wieder auffordert, vom Indogermanischen auszugehen und so in einem gewissen Sinn sehr historisch zu denken scheint, zögert nicht, zu sagen, im Griechischen seien e und o zwei «Stufen» des Vokalismus. 64 Dies kommt daher, weil das Sanskrit ein System von Vokalalternanzen kennt, das diese Idee der «Stufen» nahelegt. 65 Schleicher nimmt nun an, daß diese [Stufen] in jeder Sprache getrennt und parallel durchlaufen werden müssen, 66 so wie Pflanzen der gleichen Spezies unabhängig voneinander die gleichen Entwicklungsstufen durchlaufen. 67 So sieht er im griechischen o eine Verstärkungsstufe von e, genauso wie er im ā des Sanskrit eine Verstärkung von ă sieht. 68 In Wirklichkeit handelt es sich um eine indogermanische Alternanz, die sich in unterschiedlicher Weise im Griechischen und im Sanskrit spiegelt, 69 ohne daß es irgend eine notwendige Entsprechung zwischen den grammatikalischen Konsequenzen in der einen und andern dieser Sprachen gäbe (cf. 2419ss.). 70 Diese ausschließlich komparatistische Methode zieht eine ganze Reihe von irrigen Auffassungen nach sich, denen nichts in der Wirklichkeit entspricht und die den wirklichen Gegebenheiten jeder Sprache fremd sind. 71 Man betrachtete die Sprache als einen Bereich für sich, als [eine Art] viertes Reich der Natur; das hatte Gedankengänge zur Folge, die in jeder anderen Wissenschaft Verwunderung hervorgerufen hätten. 72 Heute kann man nicht acht bis zehn Zeilen lesen, die in jener Epoche verfaßt wurden, ohne durch die Absurdität der Gedankengänge und die zu ihrer Rechtfertigung verwendete Terminologie verblüfft zu werden. 73 Aber aus methodologischer Sicht ist es nicht ohne Nutzen, diese Fehlleistungen zur Kenntnis zu nehmen: 74 Die Fehler einer in ihren Kinderschuhen steckenden Wissenschaft sind das vergrößerte Abbild der Fehler, die die Individuen bei ihren ersten wissenschaftlichen Untersuchungen begehen, und wir werden im Laufe unserer Ausführungen Gelegenheit haben, auf zahlreiche [derartige Fehlleistungen] hinzuweisen. 12 * 75 Erst gegen 1870 kam man auf die Idee sich zu fragen, welches die [wirklichen] Lebensbedingungen der Sprachen sind. 76 Da erkannte man, daß die Entsprechungen zwischen ihnen nur einer der Aspekte des Sprachphänomens sind, und daß der Vergleich nur ein Mittel, nur eine Methode ist, um die Fakten zu rekonstruieren. 77 Die wirkliche Linguistik, die der Komparatistik den Platz zuwies, der ihr zukommt, ging aus dem Studium der romanischen und germanischen Sprachen hervor. Die romanistischen Studien, eingeleitet durch Friedrich Diez - seine Grammatik der romanischen Sprachen erschien zwischen 1836 und 1843 - , trugen maßgeblich dazu bei, die Linguistik ihrem eigentlichen Gegenstand näher zu bringen. 78 Dies ist darauf zurückzuführen, daß sich die Romanisten in einer gegenüber den Indogermanisten privilegierten Situation befanden: 79 Man kannte das Latein, den Vorläufer der romanischen Sprachen, 80 und man verfügte über eine Fülle von Zeugnissen, die es erlaubten, die Entwicklung der Idiome in all ihren Einzelheiten nachzuvollziehen. 81 Diese beiden Umstände schränkten den Spielraum für Spekulationen ein und gaben der Forschungsrichtung eine besonders realistische Orientierung. 82 Die Germanisten 58 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft befanden sich in einer ähnlichen Situation: 83 Zwar ist das Urgermanische nicht direkt bezeugt, 83 aber die Geschichte der darauf zurückgehenden Sprachen läßt sich mit Hilfe zahlreicher Dokumente durch viele Jahrhunderte hindurch nachvollziehen. 84 So sind auch die Germanisten, die viel näher an der Wirklichkeit waren, zu ganz andern Auffassungen gelangt als die ersten Indogermanisten. 86 [Eine Neuorientierung der Linguistik] wurde durch den Amerikaner William D. Whitney, den Verfasser von The Life and Growth of Language (1875), eingeleitet. 1 88 Wenig später bildete sich eine neue Schule, diejenige der Junggrammatiker, 89 deren führende Köpfe alles Deutsche waren: 90 Karl Brugmann, Hermann Osthoff, die Germanisten Wilhelm Braune, Eduard Sievers, Hermann Paul, der Slawist August Leskien, usw. 91 Ihr Verdienst war es, die Ergebnisse der Komparatistik mit einer historischen Perspektive zu verbinden 92 und so die Fakten in eine natürliche Ordnung zu bringen. 93 Ihnen ist es zu verdanken, daß man in der Sprache nun nicht mehr einen Organismus sah, der sich aus sich selbst heraus entwickelt, sondern vielmehr das Produkt des Kollektivgeistes der Sprachgruppen. 94 Gleichzeitig erkannte man, wie falsch und ungenügend die Auffassungen der Philologie und der Vergleichenden Grammatik waren ( 2 ). 95 Gleichwohl - und wie groß auch die Verdienste dieser Schule sein mögen - kann man nicht behaupten, sie habe den ganzen Fragenkomplex erhellt, und auch heute noch harren die Grundprobleme der Allgemeinen Sprachwissenschaft einer Lösung. 13 * 102 Kapitel 2 Stoff 14 * und Aufgaben der Linguistik: Ihre Beziehungen zu den Nachbarwissenschaften 15 * 103 Der Stoff der Linguistik besteht 104 zuerst einmal aus allen Erscheinungen der menschlichen Sprache, [ganz gleichgültig] ob es sich nun um wilde Völker oder um zivilisierte Nationen handele, um archaische, klassische oder dekadente Epochen, wobei man für jede Epoche nicht nur der korrekten und der «schönen» Sprache Rechnung tragen muß, sondern vielmehr allen Ausdrucksformen. 105 Und dies ist nicht alles: Da die Sprache sich meist der [direkten] Beobachtung entzieht, muß der Linguist auch die schriftlichen Texte mitberücksichtigen, da nur sie ihm frühere oder weit entfernte Idiome zugänglich machen können. 106 Die Aufgaben der Linguistik sind: 107 a) die Beschreibung und die Geschichte aller Sprachen zu liefern, die ihr zugänglich sind, was darauf hinausläuft, die Geschichte der Sprachfamilien zu schreiben und, soweit möglich, die Ausgangssprache jeder Familie zu rekonstruieren; 1 Wir modifizieren hier den Text der Vulgata, der die Quellen schlecht wiedergibt (cf. E NGLER 1968: 16); unsere Neuformulierung beruht auf den Einheiten 86 und 87 bei II R 159 s. ( 2 ) 96 Die neue Schule, die sich stärker an die Wirklichkeit hielt, erklärte der Terminologie der Komparatisten den Krieg, und insbesondere ihren unlogischen Metaphern. 97 Seither getraut man sich nicht mehr zu sagen: «die Sprache tut dies oder das», noch spricht man vom «Leben der Sprache», usw., 98 denn die Sprache ist keine Entität und sie existiert nur in den sprechenden Subjekten. 99 Man sollte allerdings nicht übertreiben; 100 es genügt, sich zu verständigen. Es gibt gewisse bildhafte Ausdrücke, auf die man nicht verzichten kann. 101 Wenn man verlangt, daß nur Ausdrücke verwendet werden, die einer sprachlichen Realität entsprechen, kommt dies der Behauptung gleich, diese Realitäten seien für uns ohne Geheimnisse. Wir sind weit davon entfernt; wir werden deshalb nicht zögern, gelegentlich Ausdrücke zu verwenden, die seinerzeit kritisiert wurden. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 59 108 b) die Kräfte zu erforschen, die ständig und überall in allen Sprachen am Werk sind, und die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln, auf die man alle speziellen Erscheinungen der Sprachgeschichte zurückführen kann; 109 c) sich selbst abzugrenzen und zu definieren. 110 Die Linguistik unterhält enge Beziehungen zu anderen Wissenschaften, die bald Informationen von ihr übernehmen, bald ihr welche liefern. Die Grenzen, die sie von diesen Wissenschaften trennen, sind nicht immer deutlich sichtbar. 111 So muß z. B. die Linguistik streng von der Ethnographie und der Urgeschichte unterschieden werden, wo die Sprache nur als Dokument eine Rolle spielt. Ebenso [muß sie] von der Anthropologie [abgegrenzt werden], die den Menschen nur qua Gattung untersucht, während die Sprache ein soziales Phänomen ist. Aber muß man sie deswegen schon als Teil der Soziologie ansehen? Welche Beziehungen bestehen zwischen der Linguistik und der Sozialpsychologie? Eigentlich ist in der Sprache alles Psychologie, einschließlich der materiellen und mechanischen Erscheinungen wie z. B. die Lautveränderungen; und wenn die Linguistik der Sozialpsychologie so wertvolle Informationen liefert, ist sie dann nicht ein Teil derselben? 112 Fragen über Fragen, die wir hier nur streifen um sie später wieder aufzunehmen. 113 Die Beziehungen der Linguistik zur Physiologie sind weniger schwierig zu entwirren: Die Beziehung ist einseitig in dem Sinne, daß die Untersuchung der Sprachen Informationen von der Lautphysiologie braucht, dieser aber keine liefert. 114 Jedenfalls ist eine Verwechslung zwischen den beiden Disziplinen nicht möglich: 115 Wie wir sehen werden, hat das Wesentliche der Sprache nichts zu tun mit dem lautlichen Charakter des sprachlichen Zeichens. 116 Was die Philologie angeht, so haben wir bereits Stellung bezogen: Sie ist grundsätzlich verschieden von der Linguistik, und dies trotz der Kontaktpunkte zwischen den beiden Wissenschaften und der gegenseitigen Hilfestellungen, die sie sich leisten. 117 Und was ist schließlich der Nutzen der Linguistik? Nur wenige haben davon klare Vorstellungen, und es ist hier nicht der Ort, dies zu klären. 118 Aber es ist offensichtlich, daß die linguistischen Fragestellungen alle die interessieren, die mit Texten zu tun haben, d. h. Historiker, Philologen usw. Noch offensichtlicher ist ihre Bedeutung für die Kultur im allgemeinen: Im Leben der Individuen und der Gesellschaften ist die Sprache ein wichtigerer Faktor als jeder andere. Es wäre nicht vertretbar, wenn ihre Untersuchung die Angelegenheit einiger weniger Spezialisten bliebe; 119 in der Tat beschäftigt sich jedermann mehr oder weniger mit ihr; aber - paradoxe Konsequenz des Interesses, das man ihr entgegenbringt - 120 es gibt keinen Bereich, der mehr absurde Ideen, Vorurteile, Hirngespinste und Fiktionen hervorgebracht hätte. Aus psychologischer Sicht dürfen diese Fehlleistungen nicht vernachlässigt werden; Aufgabe des Linguisten aber ist es vor allem, sie aufzudecken und möglichst nachhaltig zu beseitigen. 121 Kapitel 3 Der Gegenstand 16 * der Linguistik 122 § 1. - Die Sprache; ihre Defininition 17 * 123 Was ist, in umfassender und konkreter Hinsicht, der Gegenstand der Linguistik? Diese Frage ist besonders schwierig [zu beantworten]; 124 wir werden später sehen, warum; wir beschränken uns hier darauf, diese Schwierigkeit zu beschreiben. 60 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 125 Andere Wissenschaften arbeiten aufgrund von im vornherein gegebenen Gegenständen, die man dann unter verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen kann. 126 In unserem Untersuchungsbereich [gibt es] nichts Vergleichbares. 18 * Jemand spricht das französische Wort nu aus. Ein oberflächlicher Betrachter könnte versucht sein, darin ein konkretes linguistisches Untersuchungsobjekt zu sehen. 128 Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß hier je nach dem gewählten Gesichtspunkt drei oder vier vollkommen unterschiedliche Dinge vorliegen: 128 als Laut[folge], als Ausdruck einer Idee, 129 als Entsprechung zu lat. n ū dum, usw. 130 Der Gegenstand ist keineswegs vor dem Gesichtspunkt da, 131 vielmehr ist es der Gesichtspunkt, der den Gegenstand schafft; 132 überdies sagt uns nichts im vornherein, daß eine dieser Betrachtungsweisen den andern vorangeht oder ihnen übergeordnet ist. 19 * 133 Dazu kommt noch - unabhängig von der gewählten Betrachtungsweise - , daß das Sprachphänomen immer zwei Seiten zeigt, die sich entsprechen und von denen die eine nur dank der anderen Gültigkeit hat. Zum Beispiel 20 *: 134 1. Die Silben, die man artikuliert, sind über das Ohr wahrgenommene auditive Eindrücke, aber die Laute existieren nicht ohne die Lautorgane; 135 demzufolge existiert ein n nur aufgrund der Entsprechung dieser beiden Komponenten. 136 Man kann deshalb die Sprache nicht auf den Laut reduzieren, noch den Laut von der oralen Artikulation trennen; umgekehrt kann man die Bewegungen der Lautorgane nicht beschreiben, wenn man vom auditiven Eindruck abstrahiert (cf. 710 ss.). 137 2. Aber nehmen wir einmal an, der Laut sei etwas Einfaches. Ist er es dann, der die Sprache ausmacht? Nein, er ist nur ein Werkzeug des Gedankens und existiert für sich allein genommen nicht. 138 Und hier ergibt sich eine neue und problemträchtige Duplizität: 139 Der Laut, eine komplexe auditiv-stimmliche Einheit, bildet seinerseits mit der Idee eine komplexe physiologisch-mentale Einheit. 140 Und das ist noch nicht alles: 141 3. Die Sprache hat eine individuelle und eine soziale Seite, 142 und man kann die eine nicht ohne die andere konzipieren. Überdies: 143 4. Zu jedem Zeitpunkt impliziert sie gleichzeitig ein etabliertes System und eine Entwicklung; sie ist immer sowohl eine aktuelle Institution als auch ein Produkt der Vergangenheit. 144 Auf den ersten Blick scheint es sehr einfach zu sein, zwischen diesem System und seiner Geschichte zu unterscheiden, zwischen dem, was es ist, und dem, was es war; in Wirklichkeit ist die Beziehung zwischen den beiden Dingen derart eng, daß man Mühe hat, sie auseinander zu halten. 145 Sollte das Problem einfacher zu lösen sein, wenn man das Sprachphänomen in seinen Anfängen betrachtete, 146 wenn man z. B. damit anfinge, die Sprache der Kinder zu untersuchen? 147 Nein, denn es ist eine völlig irrige Annahme zu glauben, in Sachen Sprache würde sich das Problem der Anfänge 148 von demjenigen der permanenten Bedingungen unterscheiden; man kommt aus dem Teufelskreis nicht heraus. 149 Von welcher Seite her man das Problem auch immer angeht, nirgends stoßen wir auf den Gegenstand der Linguistik als ein Ganzes; überall begegnen wir dem gleichen Dilemma: 150 Entweder befassen wir uns nur mit einer Seite jedes Problems und laufen dabei Gefahr, die oben erwähnten Dualitäten zu übersehen; 151 oder aber wir untersuchen die Sprache gleichzeitig von mehreren Seiten her, und dann erscheint uns das Objekt Sprache als ein wirrer Haufen von heterogenen Dingen ohne [inneren] Zusammenhang. 152 Geht man auf diese Weise vor, öffnet man verschiedenen Wissenschaften Tür und Tor - der Psychologie, der Anthropologie, der normativen Grammatik, der Philologie, usw. - , die wir streng von der Linguistik unterscheiden, aber die aufgrund einer fehlerhaften Methode die Sprache als einen ihrer Untersuchungsgegenstände reklamieren könnten. 153 Nach unserer Auffassung gibt es nur eine Lösung für all diese Schwierigkeiten: 154 Man muß sich von allem Anfang an auf den Boden des Sprachsystems stellen und dieses zur Bezugsgröße für alle anderen Erscheinungsformen der Sprache machen. 155 In der Tat scheint einzig das 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 61 Sprachsystem unter all den Dualitäten eine unabhängige Definition zuzulassen und dem Geist einen befriedigenden Ausgangspunkt zu liefern. 156 Aber was ist das Sprachsystem? 21 * 157 Aus unserer Sicht darf es nicht mit der Sprache [schlechthin] verwechselt werden; es ist nur ein gewisser, allerdings wesentlicher Teil der Sprache. 158 Es ist gleichzeitig ein soziales Produkt 159 der Sprachfähigkeit 160 und ein Komplex von notwendigen Konventionen, die die Gemeinschaft akzeptiert hat, um die Nutzung dieser Fähigkeit durch die Individuen zu ermöglichen 22 *. 161 In ihrer Gesamtheit ist die Sprache vielgestaltig und heterogen; sie wurzelt gleichzeitig in verschiedenen Bereichen, dem physischen, dem physiologischen und dem psychischen, sie gehört weiter sowohl dem individuellen als auch dem sozialen Sektor an; sie läßt sich [als Ganzes] keiner der Kategorien menschlicher Gegebenheiten zuordnen, denn man weiß nicht, wie man ihre Einheit erfassen könnte. 162 Das Sprachsystem dagegen bildet für sich genommen eine Einheit und ist ein Klassifikationsinstrument. Sobald wir ihm den ersten Platz unter den sprachlichen Gegebenheiten zuweisen, führen wir eine natürliche Ordnung in einen Komplex ein, der sich jeder anderen Klassifikation entzieht. 23 * 163 Gegen dieses Klassifikationsprinzip könnte man einwenden, daß die Sprachverwendung auf einer naturgegebenen Fähigkeit beruht, während das Sprachsystem etwas Erworbenes und Konventionelles ist, das den natürlichen Veranlagungen nicht übergeordnet werden darf, sondern ihnen untergeordnet ist. 164 Darauf läßt sich Folgendes entgegnen. 165 Zuerst einmal ist nicht bewiesen, daß die Sprachfunktion, so wie sie sich darbietet, wenn wir sprechen, vollkommen natürlich ist, d. h. daß unser Sprechapparat in gleicher Weise zum Sprechen geschaffen ist wie unsere Beine für das Gehen. 24 * Die Linguisten sind weit davon entfernt, sich in dieser Hinsicht einig zu sein. 166 So ist es für Whitney, 167 der in der Sprache eine soziale Institution wie alle andern sieht, 168 nur Zufall und reine Bequemlichkeit, daß wir uns des Sprechapparats als Instrument der Sprache bedienen: 169 Die Menschen hätten ebenso gut die Gestik wählen und statt der Lautbilder visuelle Bilder nutzen können. 25 * 170 Zweifellos ist diese These zu radikal; die Sprache ist nicht eine soziale Institution, die in jeder Hinsicht mit den andern vergleichbar wäre (cf. 1225ss. und 1261ss.); 171 überdies geht Whitney zu weit, wenn er sagt, unsere Wahl sei rein zufällig auf die Sprechorgane gefallen; 172 sie waren in gewisser Weise durchaus von der Natur dazu prädestiniert. 173 Aber bezüglich des Kerns der Aussage scheint uns der amerikanische Linguist Recht zu haben: 174 Das Sprachsystem ist eine Konvention, 175 und die Natur des Zeichens, auf das man sich geeinigt hat, ist unerheblich. 176 Die Frage der Sprechwerkzeuge ist somit sekundärer Natur für das Sprachproblem. 177 Eine bestimmte Definition dessen, was man gegliederte Sprache nennt, könnte diese Überlegungen bestätigen. 178 Im Lateinischen bedeutet articulus ‘ Glied, Teil, Untereinheit in einer Folge von Dingen ’ ; 179 hinsichtlich der Sprache kann Gliederung entweder die Unterteilung der Redekette in Silben bedeuten, 180 oder aber die Unterteilung der Meinungskette in Bedeutungseinheiten; in diesem Sinne spricht man im Deutschen von gegliederter Sprache. 181 Ausgehend von dieser zweiten Definition könnte man sagen, daß es nicht die gesprochene Sprache ist, die dem Menschen von Natur aus eignet, sondern vielmehr die Fähigkeit, eine Sprache zu schaffen, d. h. ein System unterschiedlicher Zeichen, die unterschiedlichen Inhalten entsprechen. 26 * 182 Broca hat endeckt, daß die Sprechfähigkeit in der dritten Windung des linken Vorderhirns lokalisiert ist; man hat sich auch auf diese Erkenntnis gestützt, um der Sprache einen natürlichen Charakter zuzuweisen. 183 Aber wir wissen, daß diese Lokalisierung für alles gilt, was mit der Sprache zu tun hat, einschließlich der Schrift; 184 und diese Feststellungen, in Verbindung mit den Beobachtungen, die man über die verschiedenen Formen von auf 62 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Verletzung dieser Gehirnbereiche beruhender Aphasie gemacht hat, sprechen dafür: 185 1. daß die verschiedenen Störungen der mündlichen Sprache in hunderterlei Art mit denen 186 der geschriebenen Sprache verzahnt sind; 187 2. daß in allen Fällen von Aphasie oder Agraphie das, was beschädigt ist, weniger die Fähigkeit ist, diesen oder jenen Laut auszusprechen oder dieses oder jenes Schriftzeichen zu schreiben, als vielmehr die Möglichkeit, auf die Zeichen einer geregelten Sprache - mit welchen Mitteln auch immer - zuzugreifen. 188 All dies führt uns zur Annahme, daß es eine dem Funktionieren der verschiedenen Organe übergeordnete allgemeine Fähigkeit gibt, 189 die für die Zeichen zuständig ist; dies wäre die Sprachfähigkeit an sich. 190 Und so gelangen wir zum gleichen Schluß wie oben. 191 Um dem Sprachsystem den ersten Platz bei der Untersuchung der sprachlichen Erscheinungen zuzuweisen, kann man schließlich das Argument ins Feld führen, 192 daß die (natürliche oder nicht natürliche) Fähigkeit, Wörter auszusprechen, sich nur umsetzen läßt mit Hilfe des von der Gemeinschaft geschaffenen und zur Verfügung gestellten Instruments; es ist deshalb keineswegs unsinnig zu sagen, das Sprachsystem mache die Einheit der Sprache aus. 193 § 2. - Die Stellung des Sprachsystems innerhalb der sprachlichen Gegebenheiten 27 * 194 Um innerhalb des Gesamtkomplexes der Sprache den Bereich zu finden, der dem Sprachsystem entspricht, 195 muß man vom individuellen Akt ausgehen, der es erlaubt, den kommunikativen Kreislauf zu rekonstruieren. Dieser Akt setzt mindestens zwei Individuen voraus; dies ist das geforderte Minimum für einen vollständigen Kreislauf. 196 Wir nehmen also zwei Personen A und B an, die sich unterhalten: 197 Der Ausgangspunkt des Kreislaufes liegt im Hirn des einen Beteiligten, zum Beispiel A, wo die Gegebenheiten des Bewußtseins, die wir Konzepte nennen wollen, mit den sprachlichen Zeichen oder Lautbildern, die zu ihrer Wiedergabe dienen, assoziiert sind. Nehmen wir an, daß ein gegebenes Konzept im Hirn ein entsprechendes Lautbild evoziert; dabei handelt es sich um ein rein psychisches Phänomen, dem seinerseits ein physiologischer Prozeß folgt: das Hirn übermittelt den Lautbildungsorganen einen Impuls, der mit dem Lautbild korreliert. Dann pflanzen sich die Schallwellen vom Mund von A zum Ohr von B fort; dies ist ein rein physikalischer Prozeß. Anschließend setzt sich der Kreislauf in B in umgekehrter Reihenfolge fort: vom Ohr zum Hirn physiologische Übertragung des Lautbildes; im Hirn psychische 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 63 Assoziation dieses Lautbildes mit dem entsprechenden Konzept. Wenn B seinerseits spricht, folgt dieser neue Akt - vom Hirn von B zu demjenigen von A - dem genau gleichen Pfad wie der erste und durchläuft nacheinander dieselben Phasen. Wir stellen dies folgendermaßen dar: 3 198 199 Diese Analyse beansprucht keine Vollständigkeit; 200 man könnte weiter noch isolieren: die rein akustische Wahrnehmung, die Identifikation dieser Wahrnehmung mit dem latenten Lautbild, 201 das Abbild der Muskelbewegung bei der Phonation, usw. 202 Wir haben nur den Elementen Rechnung getragen, die wir für entscheidend hielten; 203 dafür gestattet unser Schema auf Anhieb, 204 die physikalischen Teile (Schallwellen) 205 von den physiologischen (Phonation und Audition) 206 und den psychischen (Lautbilder und Konzepte) zu unterscheiden. Es ist in der Tat entscheidend festzuhalten, daß das Lautbild nicht mit dem Laut an sich zusammenfällt, und daß es gleichermaßen psychisch ist wie das mit ihm assoziierte Konzept. 207 Der von uns dargestellte Kreislauf läßt sich überdies unterteilen: 208 a) in einen äußeren Teil (Schallwellen, die vom Mund zum Ohr gehen) und einen inneren Teil, der den ganzen Rest umfaßt; 209 b) in einen psychischen und einen nicht-psychischen Teil, wobei der zweite sowohl die physiologischen Komponenten umfaßt, deren Sitz die Organe sind, als auch die physikalischen Anteile, die außerhalb des Individuums liegen; 210 c) in einen aktiven und einen passiven Teil; aktiv ist alles, was vom Assoziationszentrum eines der Sprecher zum Ohr des anderen geht, und passiv alles, was vom Ohr des letzeren zu seinem Assoziationszentrum geht; 28 * 211 schließlich kann man im psychischen, im Hirn lokalisierten Teil alles, was aktiv ist (c → i), exekutiv, und alles, was passiv ist (i → c), rezeptiv nennen. 212 Es kommt weiter eine 213 Assoziations- und 214 eine Koordinationsfähigkeit dazu, die relevant wird, sobald es nicht mehr um isolierte Zeichen geht; 215 es ist diese Fähigkeit, der die Hauptrolle bei der Organisation der Sprache 216 als System zukommt (cf. 1978ss.). 29 * 217 Um diese Rolle richtig zu verstehen, ist es allerdings unverzichtbar, den individuellen Akt zu verlassen, der nur eine Art Embryo des Sprachphänomens ist, 218 und sich dem sozialen Aspekt zuzuwenden. 30 * 219 Zwischen allen Individuen, die durch die Sprache miteinander verbunden sind, 220 bildet sich so etwas wie ein Mittelwert heraus: 221 Sie verwenden - sicherlich nicht genau, aber doch annähernd - 222 die gleichen Zeichen 4 in Verbindung mit den gleichen Konzepten. 223 Wo liegt der Ursprung dieser sozialen Kristallisation? 224 Welcher Teil des Kreislaufs ist hier betroffen? Denn es ist wahrscheinlich, daß nicht alle gleichermaßen involviert sind. 3 acoustic ist in acoustique zu korrigieren. - acoustique = auditiv; concept = Konzept; image acoustique = Lautbild; audition = Hören; phonation = Lauterzeugung. 4 Signe/ Zeichen ist hier im alltagssprachlichen Sinn verwendet und steht für signifiant/ Signifikant. 64 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 225 Der physikalische Teil kann im vornherein ausgeschlossen werden. 226 Wenn wir eine Sprache hören, die wir nicht kennen, nehmen wir sehr wohl die Laute wahr, aber aufgrund unseres Unverständnisses bleiben wir vom sozialen Ereignis ausgeschlossen. 31 * 227 Auch der psychische Teil ist nicht vollumfänglich involviert: 228 Die exekutive Komponente spielt keine Rolle, denn die Ausführung ist nie Sache der Masse; sie ist immer individuell, und das Individuum verfügt immer über sie; wir nennen sie [im folgenden] die Rede. 229 Aufgrund des Funktionierens der rezeptiven und koordinativen Fähigkeiten bilden sich bei den Sprechern Erinnerungsspuren, die dahin tendieren, bei allen gleich zu sein. 230 Wie muß man sich dieses soziale Produkt vorstellen, 231 damit das Sprachsystem als vom ganzen Rest losgelöst erscheint? 232 Wenn es uns gelänge, die Summe der Lautbilder zu erfassen, 233 die bei allen Individuen gespeichert sind, 234 kämen wir dem sozialen Band, das dem Sprachsystem zugrunde liegt, sehr nahe. 235 Es handelt sich um einen Erinnerungsschatz, 236 der aufgrund der Sprechpraxis in allen Sprechern der gleichen Sprachgemeinschaft niedergelegt ist, 237 ein virtuell existierendes grammatikalisches System 238 in jedem Hirn, 239 oder genauer: in den Hirnen einer Gemeinschaft von Individuen; 240 denn das Sprachsystem ist in keinem Indiviuum vollständig, es existiert in vollkommener Form nur in der Masse. 241 Indem man das Sprachsystem von der Rede trennt, unterscheidet man gleichzeitig: 1. 242 das, was sozial ist, von dem, was individuellen Charakter hat; 243 das, was wesentlich ist, von dem, was nebensächlichen und mehr oder weniger zufälligen Charakter hat. 32 * 244 Das Sprachsystem ist keine Funktion des Sprechers, 245 es ist ein Produkt, das das Individuum passiv aufnimmt; es setzt nie eine Vorüberlegung voraus, und die Reflexion spielt in ihm nur bei der Klassifikationsaktivität eine Rolle, von der 1978ss. die Rede sein wird. 33 * 246 Die Rede dagegen ist ein individueller Willens- und Intelligenzakt, in dem es zu unterscheiden gilt: 247 1. die Kombinationen, mit deren Hilfe der Sprecher den Code des Sprachsystems nutzt, um sein eigenes Denken zum Ausdruck zu bringen; 2. den psychophysischen Mechanismus, der ihm die Äußerung dieser Kombinationen ermöglicht. 34 * 248 Es ist zu beachten, daß wir hier Dinge und nicht Wörter definiert haben; die getroffenen Unterscheidungen haben somit nichts zu befürchten von gewissen mehrdeutigen Termini, die von einer zur anderen Sprache nicht deckungsgleich sind. 249 So bedeutet im Deutschen Sprache sowohl ‘ langue ’ als auch ‘ langage ’ ; Rede entspricht annähernd parole, aber ergänzt dieses durch die Sonderbedeutung ‘ discours ’ . Im Lateinischen bedeutet sermo sowohl ‘ langage ’ als auch ‘ parole ’ , während lingua die ‘ langue ’ bezeichnet, usw. 5 250 Kein Wort entspricht genau einem der oben definierten Begriffe; gerade aus diesem Grunde ist jede auf einem Wort basierte Definition hinfällig; es ist eine schlechte Methode, von den Wörtern auszugehen, um die Dinge zu definieren. 35 * 251 Resümieren wir die wesentlichen Merkmale des Sprachsystems: 252 1. Es ist eine wohldefinierte Größe im heterogenen Ganzen der sprachlichen Gegebenheiten. Man kann es im Redekreislauf an dem spezifischen Ort lokalisieren, wo das Lautbild mit dem Konzept assoziiert wird. Es ist der soziale Teil der Sprache, 253 außerhalb des Individuums liegend, das es von sich aus weder schaffen noch verändern kann; 254 es existiert nur dank einer Art Vertrag unter den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft. 255 Andererseits muß das Individuum eine Art Lehre durchlaufen, um sein Funktionieren kennenzulernen; das Kind erlernt es nur nach und nach 36 *. 256 Es ist so sehr eine eigene Größe, daß ein Mensch, der 5 Wenn man versucht, die Bedeutungsangaben für die deutschen und lateinischen Termini zu übersetzen, entsteht ein vollkommen schiefer Text; wir behalten deshalb die französischen Termini bei, die im Kontext ja erklärt sind. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 65 die Sprechfähigkeit verloren hat, weiterhin über das Sprachsystem verfügt, sofern er die Lautzeichen, die er hört, noch versteht. 257 2. Das von der Rede verschiedene Sprachsystem ist ein Objekt, das man für sich untersuchen kann. 258 Wir sprechen die toten Sprachen nicht mehr, aber wir können uns noch sehr wohl ihren sprachlichen Mechanismus aneignen. 259 Die Wissenschaft vom Sprachsystem kann nicht nur auf die anderen Komponenten der Sprache verzichten, sie ist überhaupt nur möglich, wenn diese nicht mit ihr vermengt werden. 260 3. Während die Sprache als Ganzes heterogen ist, ist das so abgegrenzte Sprachsystem homogen: Es ist ein Zeichensystem 37 *, 261 dessen Wesen auf der Verbindung des Sinns mit dem Lautbild beruht, 262 und in dem die beiden Teile des Zeichens gleichermaßen psychischer Natur sind. 263 4. Das Sprachsystem ist - nicht weniger als die Rede - ein konkretes Objekt, und dies ist ein großer Vorteil für die [wissenschaftliche] Untersuchung. Obwohl in ihrem Wesen psychischer Natur, sind die sprachlichen Zeichen keine Abstraktionen; 264 die durch den kollektiven Konsens sanktionierten Verbindungen, 265 deren Gesamtheit das Sprachsystem ausmacht, sind Realitäten, die ihren Sitz im Hirn haben. 38 * 266 Überdies sind die Zeichen des Sprachsystems gewissermaßen faßbar; mit der Schrift kann man sie in konventionellen Bildern festhalten, während es unmöglich wäre, die Sprechakte in all ihren Details zu photographieren 39 *; die lautliche Realisierung eines noch so kleinen Wortes umfaßt eine endlose Zahl von Muskelbewegungen, die außerordentlich schwer zu erkennen und wiederzugeben sind. Im Sprachsystem dagegen haben wir es nur mit dem Lautbild zu tun, und dieses läßt sich in ein dauerhaftes visuelles Bild überführen. 267 Denn wenn man von dieser Vielzahl von Bewegungen absieht, die notwendig sind, um es in der Rede zu verwirklichen, 268 besteht - wie wir sehen werden - jedes Lautbild nur aus einer begrenzten Anzahl von Elementen oder Phonemen, die ihrerseits durch eine entsprechende Anzahl von Schriftzeichen dargestellt werden können 40 *. 269 Diese Möglichkeit, das Sprachsystem betreffende Dinge festzuhalten, macht aus einem Wörterbuch und einer Grammatik sein getreues Abbild, denn das Sprachsystem ist ein Lager von Lautbildern, und die Schrift liefert die faßbare Form dieser Bilder. 270 § 3. - Der Platz des Sprachsystems unter den menschlichen Institutionen. Die Semiologie 41 * 271 Diese Charakteristika führen zur Entdeckung eines weiteren, noch wichtigeren Merkmals. Das dergestalt innerhalb der Gesamtheit der sprachlichen Erscheinungen isolierte Sprachsystem läßt sich unter den Erscheinungen der menschlichen Institutionen klassieren, während dies für die Sprache im allgmeinen nicht der Fall ist. 272 Wir haben gesehen, daß das Sprachsystem eine soziale Insitution ist; 273 aber es unterscheidet sich aufgrund mehrerer Züge von anderen Institutionen wie den politischen, den juristischen, usw. 274 Um seine besondere Natur zu verstehen, muß man auf eine neue Kategorie von Fakten zurückgreifen. 275 Die Sprache 6 ist ein Zeichensystem 276 zum Ausdruck von Ideen, 277 und als solches ist sie mit der Schrift vergleichbar 42 *, 278 mit dem Taubstummenalphabet, 279 den symbolischen Riten, 280 den Höflichkeitsformen, 281 den militärischen Signalen, usw. usw. 282 Sie ist einfach nur das wichtigste unter diesen Systemen. 43 * 283 Man kann somit eine Wissenschaft konzipieren, die das Leben der Zeichen 284 im Kontext des sozialen Lebens untersucht; 285 sie würde einen Teil der Sozialpsychologie darstellen, 286 und 6 Gemeint ist das Sprachsystem (langue), und nicht die Sprache im allgemeinen (langage). 66 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft folglich der Psychologie im allgemeinen; wir nennen sie Semiologie ( 7 ) 287 (von griechisch s ē meîon ‘ Zeichen ’ ). 288 Sie würde uns lehren, woraus Zeichen bestehen und welchen Gesetzen sie unterliegen. 289 Weil sie noch nicht existiert, kann man nicht vorhersagen, was sie sein wird; aber sie hat ein Existenzrecht, und ihr Platz [im Wissenschaftsgefüge] ist vorgegeben. 290 Die Linguistik ist ein Teil dieser allgemeinen Wissenschaft, 291 und die Gesetze, die die Semiologie finden wird, werden auf die Linguistik anwendbar sein; diese wird so einem wohldefinierten Bereich der Humanwissenschaften verbunden sein. 294 Es ist Sache des Psychologen, den genauen Platz der Semiologie zu bestimmen ( 8 ); 295 Aufgabe des Linguisten ist es festzustellen, was aus der Sprache ein besonderes System im Rahmen der Semiologie macht. 296 Wir werden auf die Frage zurückkommen; hier halten wir nur eines fest: Wenn wir der Linguistik erstmals einen eigenen Platz unter den Wissenschaften zuweisen konnten, so nur deshalb, weil wir sie der Semiologie zugeordnet haben. 298 Warum ist die Semiologie noch nicht als autonome Wissenschaft anerkannt, die ihren eigenen Gegenstand hat? 299 Weil wir uns im Kreise drehen: Einerseits ist nichts wie die Sprache geeigneter, um die Natur der Semiologie zu verstehen; aber um das Problem angemessen zu stellen, müßte man das Sprachsystem für sich allein untersuchen; 300 bis anhin ist man es aber immer in Funktion von etwas anderem, von anderen Standpunkten her angegangen. 301 Da ist zuerst einmal die oberflächliche Auffassung des breiten Publikums, 302 das in der Sprache nur eine Nomenklatur sieht (cf. 1085ss.), 303 was jede Untersuchung ihrer wahren Natur verunmöglicht. 44 * 304 Dann gibt es den Standpunkt des Psychologen, 305 der das Funktionieren des Zeichens beim Individuum untersucht; 306 das ist der einfachste Weg, 307 aber er führt nicht über die individuelle Ausführung hinaus und stößt nicht bis zum Zeichen selbst vor, 308 das von Natur aus sozial ist. 309 Oder aber man erkennt zwar, daß das Zeichen als soziales Phänomen untersucht werden muß, aber man berücksichtigt 310 nur diejenigen Züge der Sprache, die sie mit anderen Institutionen verbinden, diejenigen, die mehr oder weniger von unserem Willen abhängen; 311 und auf diese Weise verfehlt man das Ziel, indem man die Eigenschaften vernachläßigt, die nur den semiologischen Systemen im allgemeinen und der Sprache im besonderen eignen. 312 Denn das Zeichen entzieht sich immer in gewisser Weise dem Willen des Einzelnen und demjenigen der Gemeinschaft, und gerade dies ist seine grundlegende Eigenschaft; aber es ist auch diejenige, die auf den ersten Blick am wenigsten deutlich hervortritt. 313 Dieser Wesenszug tritt nur in der Sprache deutlich zutage, dort aber gerade in den Dingen, die man am seltensten untersucht; 314 dies hat zur Folge, daß man die Notwendigkeit oder den besonderen Nutzen einer semiologischen Wissenschaft kaum sieht. 315 Für uns dagegen ist das linguistische Problem vor allem ein semiologisches, und alle unsere Überlegungen gewinnen ihre Bedeutung aus dieser Tatsache. Wenn man die wahre Natur der Sprache entdecken will, muß man sie zuerst in dem angehen, was sie mit allen andern Systemen gleicher Ordnung gemeinsam hat; 316 und sprachliche Faktoren, die auf den ersten Blick als sehr wichtig erscheinen (wie z. B. das Funktionieren der Sprechwerkzeuge), sind nur in zweiter Linie in Betracht zu ziehen, wenn sie nur dazu dienen, die Sprache von den andern Systemen zu unterscheiden. 317 Auf diese Weise wird man nicht nur das sprachliche Problem klären; 318 indem ( 7 ) 292 Man muß sich hüten, die Semiologie mit der Semantik zu verwechseln, die den Bedeutungswandel untersucht, 293 und von der Ferdinand de Saussure keine systematische Darstellung gegeben hat; aber man findet das grundlegende Prinzip 1246ss. formuliert. (Ed.) - Die Semantik wird hier von den Herausgebern auf ihren historischen Aspekt eingeschränkt, genau wie Saussure dies auch mit dem Begriff phonétique/ Phonetik tut. Cf. hierzu W UNDERLI 1981: 11ss. ( 8 ) 297 Cf. A DRIEN N AVILLE , Classification des sciences, 2. Auflage, p. 104. (Ed.) 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 67 man die Riten, die Bräuche usw. als Zeichen betrachtet, werden diese in einem ganz anderen Licht erscheinen, 319 und man wird das Bedürfnis verspüren, sie in die Semiologie einzubringen und sie mithilfe der Gesetze dieser Wissenschaft zu erklären. 320 Kapitel 4 Linguistik des Sprachsystems 9 und Linguistik der Rede 45 * 321 Indem wir der Wissenschaft vom Sprachsystem den ihr zukommenden Platz innerhalb der Gesamtheit der sprachlichen Untersuchungen zugewiesen haben, 322 haben wir auch gleichzeitig die Linguistik als Ganzes positioniert. 323 Alle andern Elemente der Sprache, 324 die die Rede ausmachen, 325 ordnen sich wie von selbst dieser ersten Disziplin unter, 326 und dank dieser Unterordnung finden alle Teile der Linguistik ihren natürlichen Platz. 327 Betrachten wir z. B. die Erzeugung der für die Rede notwendigen Laute: Die Sprechorgane liegen ebenso außerhalb des Sprachsystems wie die elektrischen Apparate, die zur Transkription des Morsealphabets dienen, mit diesem Alphabet direkt nichts zu tun haben; 328 und die Lauterzeugung, d. h. die Ausführung der Lautbilder, 329 betrifft das System selbst nicht im geringsten. 330 In dieser Hinsicht kann man das Sprachsystem mit einer Symphonie vergleichen, deren Realität unabhängig von der Art und Weise ist, wie sie aufgeführt wird; 331 die Fehler, die die Musiker möglicherweise beim Spielen machen, beschädigen diese Realität in keiner Weise. 332 Dieser Trennung von Lauterzeugung und Sprachsystem wird man möglicherweise mit dem Hinweis auf den Lautwandel begegnen, auf die Veränderungen der Laute, die ihren Ursprung in der Rede haben, 333 und die einen so tiefgreifenden Einfluß auf das Schicksal des Sprachsystems selbst haben. 334 Sind wir tatsächlich berechtigt zu behaupten, das Sprachsystem existiere unabhängig vom Phänomen [des Wandels]? 335 Ja, denn diese Erscheinungen betreffen nur die materielle Substanz der Wörter. 336 Wenn sie die Sprache als Zeichensystem in Mitleidenschaft ziehen, dann nur indirekt durch die daraus resultierende Veränderung der Interpretation; dieses Phänomen hat aber nichts Phonetisches an sich (cf. 1397ss.). 337 Es mag interessant sein, nach den Gründen für diese Veränderungen zu suchen, und das Studium der Laute kann uns dabei helfen; 338 aber das ist nicht das Entscheidende: Für die Wissenschaft vom Sprachsystem genügt es immer, die Lautveränderungen festzustellen und ihre Folgen abzuschätzen. 339 Und was wir zur Lauterzeugung gesagt haben, gilt auch für alle andern Teile der Rede. Die Aktivitäten des Sprechers müssen in einer Vielzahl von Disziplinen untersucht werden, die nur aufgrund ihrer Beziehung zum Sprachsystem mit der Linguistik zu tun haben. 340 Das Studium der Sprache umfaßt somit zwei Teile; der eine, der wesentliche, hat das Sprachsystem zum Gegenstand, das essentiell sozial und unabhängig vom Individuum ist; dieser Arbeitsbereich ist rein psychischer Natur. Der andere, sekundäre, hat den individuellen Teil der Sprache zum Gegenstand, d. h. die Rede einschließlich der Lauterzeugung; dieser Arbeitsbereich ist psychophysischer Natur. 341 Zweifellos 342 sind diese beiden Untersuchungsgegenstände eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig: 343 Das Sprachsystem ist nötig, damit die Rede verständlich ist 344 und alle ihre Effekte erzielen kann. 345 Andererseits ist die Rede nötig, damit das Sprachsystem sich herausbilden kann. 346 Historisch gesehen hat die Rede immer Vorrang. 347 Wie 9 H ARRIS 1983: 18 und 1987: 33 übersetzt langue hier (und passim) mit language structure, was im wesentlichen unserem Sprachsystem entspricht. 68 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft käme man dazu, eine Idee einem Lautbild zuzuordnen, 348 wenn man nicht vorher diese Verbindung in einem Sprechakt wahrgenommen hätte? 349 Andererseits erlernen wir unsere Muttersprache, indem wir andere sprechen hören; sie verfestigt sich in unserem Hirn nur aufgrund unzähliger Erfahrungen. 350 Und schließlich ist es die Rede, die für die Entwicklung des Sprachsystems verantwortlich ist: Es sind die beim Hören anderer aufgenommenen Eindrücke, die unsere Sprachgewohnheiten verändern. 351 Es gibt somit eine Interdependenz von Sprachsystem und Rede; ersteres ist gleichzeitig sowohl das Instrument als auch das Produkt der letzteren 10 . Aber all dies hindert die beiden nicht, zwei vollkommen unterschiedliche Dinge zu sein. 352 Das Sprachsystem existiert in der Gemeinschaft in der Form einer Summe von Eindrücken, die in jedem Hirn niedergelegt sind, ähnlich einem Wörterbuch, dessen identische Exemplare unter den Individuen [einer Sprachgemeinschaft] verteilt sind (cf. 229ss.). 353 Es ist somit etwas, das in jedem von ihnen ist, gleichzeitig aber allen gemeinsam gehört und sich dem Willen jedes dieser Besitzer entzieht. 354 Diese Seinsform des Sprachsystems kann durch die folgende Formel dargestellt werden: 1 + 1 + 1 + 1 . . . = I (kollektives Modell) 355 Auf welche Weise ist nun die Rede in dieser Gemeinschaft präsent? Sie ist die Summe all dessen, was die Leute sagen, und umfaßt: 356 a) die individuellen Kombinationen, die vom Willen der Sprecher abhängig sind, 357 b) die ebenfalls willentlichen Phonationsakte, die für die Ausführung dieser Kombinationen nötig sind. 46 * 358 Es gibt somit nichts Kollektives in der Rede; 359 die Realisierungen sind individuell und momentan. 360 Hier gibt es nichts weiter als die Summe der Einzelfälle nach der Formel: 361 (1 + 1' + 1'' + 1''' . . .). 362 Aus all diesen Gründen wäre es absurd, Sprachsystem und Rede unter ein- und demselben Gesichtspunkt vereinigen zu wollen. 363 Die alles umschließende Gesamtheit der Sprache ist nicht faßbar, weil sie nicht homogen ist, 364 während die vorgeschlagene Unterscheidung und Hierarchie alles klärt. 365 Dies ist die erste Gabelung, auf die man stößt, wenn man versucht, eine Theorie der Sprache zu entwickeln. 366 Man muß sich zwischen den beiden Wegen entscheiden, denn es ist unmöglich, beide gleichzeitig zu beschreiten; sie können nur getrennt verfolgt werden. 367 Zur Not kann man den beiden Disziplinen den Namen Linguistik belassen und von einer Linguistik der Rede sprechen 47 *. 368 Aber man darf sie nicht mit der eigentlichen Linguistik vermengen, deren einziges Objekt das Sprachsystem ist. 369 Wir befassen uns im folgenden ausschließlich mit der letzteren 11 , 370 und wenn wir im Laufe unserer Ausführungen um der Klarheit willen auf das Studium der Rede zurückgreifen müssen, werden wir uns bemühen, die Grenzen zwischen den beiden Bereichen nie zu verwischen. 10 Die Einheit 351 stammt von den Herausgebern (cf. E NGLER 1968: 57). Sie macht im Gesamtzusammenhang aber nur Sinn, wenn man im frz. Text celle-ci mit langue, celle-là mit parole identifiziert (und damit gegen die Regeln der Anaphorik verstößt). L OMMEL 1931: 23 übersetzt mit dieses (Sprechen) und jener (Sprache) und behält damit den Fehler der Vorlage bei. Dieser Fehler wurde von den Herausgebern in der 2. Aufl. korrigiert. 11 In der ersten Auflage steht fälschlicherweise première; ab 2. Auflage in dernière korrigiert. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 69 371 Kapitel 5 Interne und externe Aspekte der Linguistik 12, 48 * 372 Unsere Definition des Sprachsystems verlangt, daß wir alles von ihm fernhalten, was ihm bzw. seinem Organismus 13 fremd ist, 374 d. h. alles, was man mit dem Terminus «externe Linguistik» bezeichnet. Diese Linguistik befaßt sich gleichwohl mit wichtigen Dingen, und man denkt in erster Linie an diese, wenn man die Untersuchung der Sprache in Angriff nimmt. 49 * 375 Es handelt sich zunächst einmal um alle Punkte, die die Linguistik 376 mit der Ethnologie verbinden, 377 alle Beziehungen, die zwischen der Geschichte einer Sprache und derjenigen einer Rasse oder einer Zivilisation bestehen können. 378 Diese beiden Arten von Geschichte durchdringen sich und unterhalten enge Beziehungen zueinander. 379 Dies erinnert etwas an die Entsprechungen, die wir zwischen den eigentlichen Sprachphänomenen festgestellt haben (cf. 133ss.) 14 . 380 Die Sitten einer Nation wirken auf die Sprache zurück, und umgekehrt ist es in hohem Maße die Sprache, die eine Nation ausmacht. 15 381 An zweiter Stelle wären die Beziehungen zu erwähnen, die zwischen der Sprache und der politischen Geschichte existieren. 382 Große historische Ereignisse wie z. B. die römische Eroberung haben unkalkulierbare Folgen für eine Fülle von sprachlichen Fakten gehabt. 383 Die Kolonisierung, die nichts anderes als eine Form der Eroberung ist, bringt eine Sprache in andere Umfelder, was Veränderungen in dieser Sprache nach sich zieht. 384 Man könnte in diesem Zusammenhang alle möglichen Ereignisse zitieren. So hat Norwegen bei seiner politischen Vereinigung mit Dänemark das Dänische übernommen; allerdings versuchen die Norweger heute, sich diesem sprachlichen Einfluß zu entziehen. 385 Die Innenpolitik der Staaten ist nicht weniger wichtig für das Leben der Sprachen; 386 gewisse Regierungssysteme, wie das schweizerische, lassen die Koexistenz mehrerer Idiome zu; 387 andere, wie das französische, streben nach sprachlicher Einheit. 388 Eine hochentwickelte Zivilisation begünstigt die Entwicklung von gewissen Sondersprachen (Rechtssprache, wissenschaftliche Terminologien, usw.). 389 Dies führt uns zu einem dritten Punkt: die Beziehungen der Sprache zu den unterschiedlichsten Institutionen wie Kirche, Schule usw. 390 Diese sind ihrerseits eng verbunden mit der Entwicklung der Literatur einer Sprache, ein Phänomen von noch umfassenderer Bedeutung, da es untrennbar mit der politischen Geschichte verknüpft ist. 391 Die Literatursprache greift in allen Richtungen über die Grenzen hinaus, die die Literatur ihr vorzugeben scheint; man denke nur an den Einfluß der Salons, des Hofes, der Akademien. Andererseits wirft sie die schwierige Frage des Konfliktes zwischen ihr und den lokalen Dialekten auf (cf. 12 Der Titel, den Bally und Sechehaye für dieses Kapitel gewählt haben (Éléments internes et éléments externes de la langue), ist recht unglücklich; langue sollte durch linguistique ersetzt werden (was wir in der Übersetzung nachholen). - Cf. hierzu auch D E M AURO 1972: 428 N82 und L OMMEL 1931: 24. H ARRIS 1987: 37 (ebenso 1983: 21) behält den Titel der Herausgeber bei (wobei er langue durchaus adäquat mit language übersetzt, diskutiert dann aber im Folgetext die Titelwahl. 13 Wir behalten den bedenklichen Terminus Organismus bei, da er durch die Quellen gesichert ist; das ändert nichts daran, daß er in gefährlicher Weise an die Sprachauffassung von Schleicher erinnert. 14 Die Einheit 379 stammt von den Herausgebern. Ihr Sinn ist mir nicht wirklich klar, und auch der Verweis auf die Einheiten 133ss. (p. 23. der 1. Aufl.) trägt kaum etwas zur Erhellung bei. 15 Der Terminus nation an dieser Stelle ist problematisch, denn eine Nation kann verschiedene Sprachgruppen umfassen. Nation kommt in den Quellen nirgends vor, in denen nur von peuple, race, Slaves die Rede ist (E NGLER 1968: 60). Der Eingriff der Herausgeber ist unglücklich. L OMMEL 1931: 24 übersetzt einmal mit Nation, einmal mit Volk. Wäre Volk nur nicht nationalsozialistisch belastet . . . - Für eine korrekte Sicht der Dinge cf. unten, Einheit 2887. 70 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2909 ss.); 392 der Linguist muß überdies die gegenseitigen Beziehungen von Buchsprache und Umgangssprache untersuchen, denn jede Literatursprache qua Kulturprodukt tendiert dazu, ihren Existenzbereich von der natürlichen Sphäre, derjenigen der gesprochenen Sprache, abzulösen. 393 Schließlich gehört auch alles, was die geographische Ausdehnung der Sprachen und die dialektale Zergliederung betrifft, zum Bereich der externen Linguistik. 394 Zweifellos ist gerade dies der Punkt, wo die Unterscheidung von externer und interner Linguistik am schwierigsten nachzuvollziehen scheint, 395 ist doch der geographische Aspekt auf das engste mit der Existenz jeder Sprache verknüpft; und gleichwohl beeinflußt er in Wirklichkeit die innere Struktur 16 des Idioms nicht. 396 Man hat behauptet, es sei vollkommen unmöglich, alle diese Aspekte von der Untersuchung des Sprachsystems zu trennen. 397 Dieser Gesichtspunkt hat vor allem dominiert, seit man sich vordringlich mit den «Realia» befaßt hat. 398 Wenn die Pflanze in ihrem inneren Organisatien durch externe Faktoren wie Bodenbeschaffenheit, Klima usw. beeinflußt wird, muß dann nicht auch der grammatikalische Organismus 17 stets von den externen Faktoren des Sprachwandels abhängen? 399 Es scheint schwierig zu sein, die technischen Termini 400 und die zahllosen Entlehnungen in der Sprache zu erklären, 401 ohne ihre Herkunft in Betracht zu ziehen. 402 Ist es möglich, die natürliche, organische Entwicklung eines Idioms von seinen künstlichen, auf externe Faktoren zurückgehenden und demzufolge unorganischen Formen zu trennen? Sieht man nicht ständig, wie sich eine Gemeinsprache neben den lokalen Dialekten entwickelt? 403 Wir denken, daß das Studium der externen Sprachphänomene äußerst fruchtbar ist; aber es ist falsch zu sagen, daß man ohne sie die interne sprachlichen Struktur 18 nicht erkunden könne. 404 Nehmen wir als Beispiel die Übernahme von Fremdwörtern. 405 Man kann zuerst einmal feststellen, daß dies keineswegs ein konstantes Element im Leben einer Sprache ist. 406 Es gibt in gewissen abgelegenen Tälern Dialekte, die so gut wie nie einen künstlichen, von außen gekommenen Terminus übernommen haben. 407 Soll man nun sagen, diese Idiome stünden außerhalb der normalen Lebensbedingungen der Sprache und seien nicht in der Lage, ein Bild derselben zu vermitteln? Muß man sie als Mißbildungen untersuchen, weil sie keine Sprachmischung erfahren haben? 408 Vor allem aber: Das entlehnte Wort zählt nicht mehr als solches, sobald es im Rahmen des Systems untersucht wird; es existiert nur durch seine Beziehung und seine Oppositon zu den mit ihm assoziierten Wörtern, und dies gleichberechtigt mit jedem autochthonen Zeichen. Es gilt ganz allgmein, daß es nie unerläßlich ist, die Umstände zu kennen, in deren Rahmen sich eine Sprache entwickelt hat. 409 Von gewissen Sprachen wie z. B. dem Zend oder dem Paläoslawischen weiß man nicht einmal, welche Völker sie gesprochen haben; aber dieses Nichtwissen behindert uns bei der Untersuchung ihrer inneren Struktur nicht im geringsten, 410 und es verunmöglicht uns auch nicht festzustellen, welche Veränderung sie erfahren haben. 411 Auf jeden Fall drängt sich die Trennung der beiden Betrachtungsweisen auf, und je sorgfältiger man sie beachtet, umso besser. 412 Der beste Beweis hierfür ist die Tatsache, daß jede [der beiden Betrachtungsweisen] ihre eigene Methode entwickelt hat. 413 Die externe Linguistik kann Einzelheit auf Einzelheit anhäufen ohne sich dabei in den Schraubstock eines Systems eingespannt zu fühlen. 414 So 16 Ich ersetzte hier organisme des französischen Textes durch Struktur, obwohl der Ausdruck durch die Quellen gesichert ist; innerer Organismus ruft nicht nur die gleichen Bedenken hervor wie im Falle von Einheit 372, die Formulierung ist überdies auch noch pleonastisch. 17 Zu Organismus cf. die Einheiten 372 und 395. 18 Zum Ersatz von organisme durch Struktur cf. N16 zu Einheit 395. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 71 kann z. B. jeder Autor die Fakten nach eigenem Gutdünken anordnen, die für die Ausbreitung einer Sprache über ihr ursprüngliches Gebiet hinaus relevant sind. 415 Wenn man die Faktoren sucht, die zur Herausbildung einer Schriftsprache gegenüber den Dialekten geführt haben, kann man sich immer mit der einfachen Aufzählung begnügen; 416 und wenn man sie in eine mehr oder weniger systematische Ordnung bringt, so einzig um der Klarheit willen. 417 Die Dinge liegen ganz anders bei der internen Linguistik: Sie läßt keine beliebige Anordnung zu; die Sprache ist ein System, das nur seine eigene Ordnung kennt. 418 Ein Vergleich mit dem Schachspiel soll dies verdeutlichen. 419 In diesem Fall ist es relativ einfach zu unterscheiden, was extern und was intern ist: 420 Die Tatsache, daß es von Persien nach Europa gekommen ist, gehört zum externen Bereich; interner [Natur] dagegen ist alles, was das System und die Regeln betrifft. 421 Wenn ich die Holzfiguren durch Elfenbeinfiguren ersetze, läßt diese Veränderung das System unberührt; aber wenn ich die Zahl der Figuren erhöhe oder vermindere, so beeinflußt dieser Eingriff die «Grammatik» des Spiels zutiefst. 422 Gleichwohl erfordern derartige Unterscheidungen eine gewisse Aufmerksamkeit. 423 Man wird sich in jedem Fall die Frage stellen müssen, welcher Natur das betreffende Phänomen ist, und man wird bei ihrer Beantwortung die folgende Regel beachten: 424 Intern ist alles, was das System mehr oder weniger stark verändert. 425 Kapitel 6 Wiedergabe der Sprache 19 durch die Schrift 50 * 426 § 1. - Notwendigkeit einer Untersuchung dieses Problems 427 Der konkrete Gegenstand unserer Untersuchung ist somit das soziale Produkt, das im Hirn jedes Einzhelnen niedergelegt ist, d. h. das Sprachsystem. Aber dieses Produkt unterscheidet sich in Abhängigkeit von den Sprechergruppen: 428 Was uns gegeben ist, das sind die Sprachen. 429 Der Linguist ist verpflichtet, eine möglichst große Zahl von ihnen zu kennen, damit er aus ihrer Betrachtung und ihrem Vergleich erschließen kann, was sie an Universellem enthalten. 430 Nun kennen wir sie aber meistens nur aufgrund schriftlicher Zeugnisse. 431 Selbst bei unserer Muttersprache sind wir ständig auf Dokumente angewiesen. 432 Wenn es sich um ein Idiom handelt, das in einiger Entfernung gesprochen wird, ist die Notwendigkeit eines Rückgriffs auf schriftliche Zeugnisse noch größer; 433 und am größten ist sie bei nicht mehr gesprochenen Sprachen. 434 Um in allen Fällen über direkte Dokumente zu verfügen, hätte man schon immer das tun müssen, was man gegenwärtig in Wien 435 und Paris macht: 436 eine Sammlung von phonographischen Aufnahmen für alle Sprachen [anlegen]. 437 Und selbst dann müßte man noch auf die Schrift zurückgreifen, um den andern die so festgehaltenen Texte bekanntzumachen 20 . 438 Obwohl die Schrift dem internen System fremd ist, 439 erweist es sich als unmöglich, auf ein Verfahren zu verzichten, mit dessen Hilfe die Sprache ständig dargestellt wird; 440 es ist nötig, seinen Nutzen, seine Mängel und seine Gefahren zu kennen. 19 Langue im französischen Text meint hier nicht das Sprachsystem, sondern ist Äquivalent von langage/ langue im alltagssprachlichen Sinn. Wir übrsetzen deshalb mit Sprache. Cf. auch H ARRIS 1983: 24 und 1987: 41, der language verwendet. 20 Die in Einheit 437 gemachte Einschränkung ist heute aufgrund der technischen Entwicklung überholt; sie könnte im Prinzip getilgt werden. 72 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 441 § 2. - Prestige der Schrift; Gründe für ihren Einfluß auf die gesprochene Form 442 Sprache und Schrift sind zwei unterschiedliche Zeichensysteme; 443 die einzige Existenzberechtigung des zweiten ist es, das erste darzustellen 51 *. 444 Der Gegenstand der Linguistik definiert sich nicht über die Kombination von geschriebenem und gesprochenem Wort; 445 vielmehr ist einzig das letztere ihr Objekt. 446 Aber das geschriebene Wort vermischt sich so sehr mit dem gesprochenen Wort, dessen Abbild es ist, daß es schließlich die Hauptrolle übernimmt; 449 man weist so dem Abbild des lautlichen Zeichens ebensoviel oder gar noch mehr Gewicht zu wie diesem Zeichen selbst. Das ist, als ob man glaubte, um jemanden zu erkennen, sei es besser, sein Photo anzusehen als sein Gesicht. 450 Dieser Irrtum hat zu allen Zeiten existiert, und die gängigen Meinungen, die man über die Sprache verbreitet, sind dadurch geprägt. So glaubt man allgemein, ein Idiom verändere sich rascher, wenn es keine Schrifttradition gebe; 451 das ist grundfalsch. Die Schrift kann sehr wohl unter gewissen Bedingungen die sprachlichen Veränderungen verzögern, aber umgekehrt wird die Bewahrung der Sprache durch das Fehlen der Schrift keineswegs gefährdet. 452 Das Litauische, das heute noch in Ostpreussen und einem Teil Rußlands gesprochen wird, ist aufgrund schriftlicher Dokumente erst seit 1540 bezeugt; 453 aber zu diesem spätern Zeitpunkt liefert es uns ein getreueres Abbild des Indogermanischen als das Latein des 3. Jahrhunderts v. Chr. 454 Dies allein genügt um zu zeigen, wie unabhängig die Sprache 21 von der Schrift ist. 455 Gewisse sehr subtile sprachliche Gegebenheiten sind ohne die Stütze irgendwelcher Aufzeichnungen erhalten geblieben. 456 In der ganzen Periode des Althochdeutschen hat man t ō ten, fuolen und st ō zen geschrieben, während gegen Ende des 12. Jahrhunderts die Graphien töten, füelen auftauchen gegenüber st ō zen, das unverändert bleibt. 437 Woher kommt dieser Unterschied? Überall, wo er auftritt, gab es ursprünglich ein y in der folgenden Silbe. Das Protogermanische hatte also *daupyan, *f ō lyan, aber *stautan. 458 An der Schwelle zur literarischen Epoche, d. h. gegen 800, schwächt sich dieses y so weit ab, 459 daß die Schrift sich seiner während drei Jahrhunderten nicht mehr erinnert. 460 Gleichwohl hatte es in der Aussprache eine leichte Spur hinterlassen, 461 und gegen 1180 taucht es, wie oben gezeigt, auf wunderbare Weise in der Form des Umlauts wieder auf! 462 So wurde diese Nuance in der Aussprache ohne Unterstützung durch die Schrift exakt überliefert. 463 Die Sprache kennt somit eine orale Tradition, die unabhängig von der Schrift und deutlich stabiler ist. 464 Aber das Prestige der schriftlichen Form hindert uns, dies zu sehen. 465 Die ersten Linguisten haben sich in dieser Hinsicht getäuscht, 466 ebenso wie vor ihnen die Humanisten. 467 Selbst Bopp unterscheidet nicht sauber zwischen dem Buchstaben und dem Laut; 468 wenn man ihn liest, gewinnt man den Eindruck, eine Sprache lasse sich nicht von ihrem Alphabet trennen. 469 Seine unmittelbaren Nachfolger sind in die gleiche Falle getappt. 470 Die Graphie th für die Frikative þ 471 hat Grimm zu der Annahme veranlaßt, 472 daß es sich nicht nur um einen Doppellaut, sondern überdies um eine aspirierte Okklusive handele. 473 Daher rührt der Platz, den er ihr in seinem Lautverschiebungsgesetz zuweist (cf. 2262). 474 Selbst heute noch verwechseln gebildete Leute die Sprache immer wieder mit ihrer Orthographie; sagte nicht Gaston Deschamps von Berthelot, «er habe das Französische vor dem Ruin bewahrt», weil er sich der Orthographiereform widersetzt hatte? 52 * 475 Aber wie erklärt sich dieses Prestige der Schrift? 476 1. Zunächst macht uns das graphische Abbild der Wörter den Eindruck eines beständigen und soliden Objekts, 477 das besser als der Laut geeignet ist, die Einheit der Sprache durch den Lauf der Zeit hindurch zu bewahren. 478 Diese Verbindung mag noch so ober- 21 Evtl. das Sprachsystem? Eher nicht; cf. auch unten Einheit 463. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 73 flächlich sein 479 und nur eine künstliche Einheit schaffen, 480 sie ist viel leichter zu fassen als das natürliche und einzig wirkliche Band, dasjenige des Lautes. 481 2. Bei den meisten Individuen sind die visuellen Einrücke klarer und dauerhafter als die akustischen; 482 deshalb bevorzugen sie auch die ersteren. Darum dominiert auch letztlich das graphische Abbild auf Kosten des Lautes. 483 3. Die Literatursprache verstärkt schließlich noch die unverdiente Bedeutung der Schrift. 484 Sie hat ihre Wörterbücher und ihre Grammatiken; in der Schule unterichtet man nach dem Buch und durch das Buch; 485 die Sprache erscheint als durch einen Kodex geregelt, und dieser Kodex ist selbst eine schriftlich fixierte Regel, 486 die einem strengen Gesetz unterworfen ist: der Orthographie. All dies verschafft der Schrift eine vorrangige Bedeutung. 487 Schließlich vergißt man, daß man zu sprechen lernt bevor man zu schreiben lernt, und die natürliche Beziehung wird auf den Kopf gestellt. 488 4. Wenn es schließlich einen Widerspruch zwischen der Sprache und der Orthographie gibt, so ist die Debatte für alle schwer zu entscheiden außer für den Linguisten. 489 Aber da dieser nichts zu sagen hat, behält unglücklicherweise regelmäßig die geschriebene Form die Oberhand, denn jede Lösung, die sich auf sie beruft, erscheint als die einfachere. 490 Die Schrift maßt sich auf diese Weise eine Bedeutung an, auf die sie nicht das geringste Anrecht hat. 491 § 3. - Die Schriftsysteme 492 Es gibt nur zwei Schriftsysteme: 493 1. das ideographische System, in dem das Wort durch ein einziges Zeichen wiedergegeben wird und das mit den Lauten, aus denen es zusammengesetzt ist, nichts zu tun hat. Dieses Zeichen bezieht sich auf das Wort als Ganzes und damit, indirekt, auf die Idee, die dieses zum Ausdruck bringt. 494 Das klassische Beispiel für dieses System ist die chinesische Schrift. 495 2. das Schriftsystem, das allgemein «phonetisch» 22 genannt wird, und das versucht, die Abfolge der Laute im Wort wiederzugeben. 496 Die phonetischen Schriften sind bald silbisch, 497 bald alphabetisch, 498 d. h. auf den irreduktiblen Elementen der Rede basierend. 499 Die ideographischen Schriften nehmen übrigens leicht Mischcharakter an: 500 Gewisse Ideogramme verlieren ihren ursprünglichen Wert und geben schließlich nur noch isolierte Laute wieder. 53 * 501 Wir haben gesagt, das geschriebene Wort tendiere dazu, in unserem Geist an die Stelle des gesprochenen Wortes zu treten. Dies gilt für beide Schriftsysteme, 502 aber die Tendenz ist bei dem ersten der beiden ausgeprägter. 503 Für den Chinesen 504 sind das Ideogramm und das gesprochene Wort gleichrangige Repräsentanten der Idee; 505 für ihn ist die Schrift eine zweite Sprache, 506 und wenn im Gespräch zwei gesprochene Wörter gleich lauten, kann es vorkommen, daß er auf das geschriebene Wort zurückgreift, um sein Denken zu erklären. 507 Aber diese Austauschbarkeit hat - gerade weil sie absoluten Charakter haben kann - nicht die gleichen ärgerlichen Konsequenzen wie in unserem Schriftsystem; 508 die chinesischen Wörter verschiedener Dialekte, die ein und dieselbe Idee wiedergeben, werden problemlos durch das gleiche graphische Zeichen wiedergegeben. 509 Wir beschränken unsere Darstellung auf das phonetische System, und insbesondere auf dasjenige, das heute im Gebrauch ist und dessen Prototyp das griechische Alphabet ist. 510 Zu dem Zeitpunkt, wo ein solches Alphabet entsteht, gibt es die sprachlichen Verhältnisse auf recht rationale Art und Weise wieder, es sei denn, es handele sich um ein entlehntes 22 Phonetisch ist hier nicht in der sonst bei Saussure üblichen Bedeutung ‘ die historische Lautlehre betreffend ’ zu verstehen. Cf. auch unten, Einheit 509. 74 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft und damit von Inkonsequenzen belastetes Alphabet. 511 In logischer Hinsicht ist das griechische Alphabet besonders beachtenswert, wie wir 727ss. sehen werden. 512 Aber diese Harmonie von Graphie und Aussprache ist nicht von Dauer. Warum? Dem wollen wir nun nachgehen. 513 § 4. - Gründe für die Diskrepanz zwischen Graphie und Aussprache 514 Diese Gründe sind zahlreich; wir werden nur die wichtigsten berücksichtigen. 515 Zuerst einmal entwickelt sich die Sprache ständig, während die Schrift zur Immobilität tendiert. Dies hat zur Folge, daß die Graphie zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr dem entspricht, was sie wiedergeben sollte. 516 Eine Schreibung, die zu einem gegebenen Zeitpunkt konsequent war, erweist sich ein Jahrhundert später als absurd. 517 Während einer gewissen Zeit modifiziert man das graphische Zeichen, um es den Ausspracheveränderungen anzupassen, dann verzichtet man darauf. 518 Genau das ist mit französisch oi geschehen: man sprach: man schrieb: im 11. Jh. . . . . . . . . . 1. rei, lei rei, lei im 13. Jh. . . . . . . . . . 2. roi, loi roi, loi im 16. Jh. . . . . . . . . . 3. roè, loè roi, loi im 19. Jh. . . . . . . . . . 4. rwa, lwa roi, loi 510 Man hat also bis zur zweiten Epoche [in der Schreibung] den Ausspracheveränderungen Rechnung getragen; bis dahin entspricht eine Etappe in der Sprachgeschichte einer Etappe in der Geschichte der Graphie. 520 Aber ab dem 16. Jahrhundert ist die Schrift unverändert geblieben, während die Sprache sich weiterentwickelte, 521 und von diesem Moment an gibt es eine ständig zunehmende Diskrepanz zwischen ihr und der Orthographie 23 . 522 Und da man fortfuhr, nicht zusammenpassende Dinge miteinander zu verbinden, hat diese Praxis auch Rückwirkungen auf das Schriftsystem selbst gehabt: 523 Die Graphie oi hat einen Wert angenommen, der ihren Komponenten fremd ist. 524 Man könnte die Beispiele unbegrenzt vermehren. 525 Warum schreibt man mais und fait, was wir mè und fè aussprechen? 526 Warum hat c im Französischen oft den Wert von s? Ganz einfach, weil wir Graphien beibehalten haben, für die es keine Existenzberechtigung mehr gibt. 527 Diese Erscheinung findet sich zu allen Zeiten: 528 Gegenwärtig wandelt sich unser mouilliertes l zu Jod; wir sagen éveyer, mouyer, ebenso wie essuyer, nettoyer; aber wir schreiben weiterhin éveiller, mouiller. 529 Ein anderer Grund für die Diskrepanz von Graphie und Aussprache: 530 Wenn ein Volk sein Alphabet von einem anderen entlehnt, 531 kommt es oft vor, daß die Möglichkeiten des graphischen Systems wenig geeignet sind für seine neue Funktion; man ist gezwungen, auf gewisse Tricks zurückzugreifen. So bedient man sich z. B. zweier Buchstaben um einen einzigen Laut wiederzugeben. 532 Dies ist z. B. der Fall für das þ (stimmlose dentale Frikative) der germanischen Sprachen: 533 Da das lateinische Alphabet kein Zeichen für seine Wiedergabe kannte, 534 griff man zu th. 535 Der Merowingerkönig Chilperich versuchte zwar, den lateinischen 23 Anders als in den Einheiten 474, 485, 488 u. passim ist hier der Ausdruck orthographe/ Orthographie problematisch, denn vor dem 17. Jh. (Gründung der Académie française) kann man nur von Graphie, nicht aber von Orthographie sprechen. In den Quellen fehlt denn auch der Terminus zu Recht; es ist immer von écriture die Rede. Eine Korrektur Orthographie → Schrift ließe sich durchaus vertreten. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 75 Buchstaben ein besonderes Zeichen für diesen Laut beizufügen, aber ohne Erfolg: 536 Der Gebrauch hat th sanktioniert. 537 Das mittelalterliche Englisch kannte ein geschlossenes e (z. B. in sed ‘ Saat ’ ) und ein offenes e (z. B. in led ‘ führen ’ ). Da das Alphabet keine unterschiedlichen Zeichen für die Wiedergabe dieser beiden Laute kannte, griff man zu den Schreibungen seed und lead. 538 Im Französischen griff man für die Wiedergabe des Zischlautes š zu der Zeichenverbindung ch, usw., usw. 539 Weiter kommt noch die Fixierung auf die Etymologie dazu; 540 in gewissen Epochen war sie geradezu dominant, so z. B. in der Renaissance. 541 Oft war es sogar eine falsche Etymologie, die die Schreibung bedingte. 542 So hat man ein d in unser Wort poids eingebracht, weil man es von lateinisch pondus herleitete; in Wirklichkeit kommt es von pensum. 543 Aber es spielt letztlich keine Rolle, ob das Prinzip richtig oder falsch angewendet wird: Das Prinzip der etymologisierenden Schreibung ist per se falsch. 544 In andern Fällen entzieht sich die Ursache unserer Kenntnis; gewisse Kuriositäten lassen sich nicht einmal aufgrund der Etymologie entschuldigen. 545 Warum hat man im Deutschen thun anstelle von tun geschrieben? 546 Man hat dahingehend argumentiert, daß das h die Aspiration des Konsonanten repräsentiere; aber dann hätte man es überall einführen müssen, wo eine Aspiration vorkommt, 547 und in einer großen Zahl von Wörtern ist dies nie der Fall gewesen (Tugend, Tisch usw.). 548 § 5. - Folgen der Diskrepanz 549 Es würde zu weit führen, eine Klassifikation der inkonsequenten Schreibungen zu erstellen. 550 Eine der schädlichsten [Erscheinungen] ist die Vielzahl der Darstellungen für ein und denselben Laut. 551 So finden wir für ž im Französischen: j, g, ge (joli, geler, geai); 552 für z: z und s; 553 für s: s, c, ç und t (nation), ss (chasser), sc (acquiescer), sç (aquiesçant), x (dix); 554 für k: c, qu, k, ch, cqu (acquérir). 555 Umgekehrt werden mehrere [lautliche] Werte durch das gleiche [graphische] Zeichen wiedergegeben: So kann t sowohl für t als auch für s stehen, g sowohl für g als auch für ž , usw. 556 Weiter gilt es, auf die «indirekten Graphien» hinzuweisen. 557 Im Deutschen gibt es in Wörtern wie Zettel, Teller usw. keine Doppelkonsonanten, und gleichwohl schreibt man tt, ll nur um anzuzeigen, daß der vorangehende Vokal kurz und offen ist. 558 Aufgrund einer ähnlichen Fehlleistung fügt das Englische ein auslautendes stummes e an, um die Längung des vorhergehenden Vokals anzuzeigen; man vergleiche made (ausgesprochen m ē d) und mad (ausgesprochen m ă d) 24 . Dieses e, das in Wirklichkeit nur die einzige vorhandene Silbe betrifft, hat für das Auge eine zweite Silbe geschaffen. 559 Diese unlogischen Graphien entsprechen wenigstens noch irgendetwas Sprachlichem, aber andere sind vollkommen sinnlos. 560 Das heutige Französisch kennt keine Doppelkonsonanten, außer in archaischen Futurformen wie mourrai, courrai; trotzdem wimmelt unsere Orthographie 25 von durch nichts gerechtfertigten Konsonantendoppelungen (bourru, sottise, souffrir, usw.). 561 Es kommt auch vor, daß die Schreibung nicht festgelegt ist und die nach einer Regel suchende Schrift zögert; 562 das führt zu schwankenden Schreibungen, die für die Bemühun- 24 Wir behalten die phonetischen Transkriptionen des CLG (alle Auflagen; ebenso E NGLER 1968) bei, obwohl sie eigentlich durch [m ē i d] und [m ε ̆ d] zu ersetzen wären. Die unglücklichen Umschriften gehen auf Bally/ Sechehaye zurück; die Quellen sprechen nur vom Quantitätsunterschied, Mme Sechehaye von einem Qualitätsunterschied. - Eigenartigerweise ist noch nirgends auf diese Schwachstelle hingewiesen worden. 25 Auch hier fehlt in den Quellen der Ausdruck orthographe; sie haben écriture. Cf. N23 zu 521. 76 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft gen verschiedener Epochen um die Widergabe der Laute stehen. 563 So stellen im Althochdeutschen th, dh, d in ertha, erdha, erda oder thr ī , dhr ī , dr ī das gleiche Lautelement dar; es fragt sich nur, welches. Aufgrund der Schrift läßt sich dies nicht erschließen. 565 Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, daß man angesichts zweier Schreibungen für eine einzige Form nicht immer entscheiden kann, ob es sich tatsächlich um zwei verschiedene Aussprachen handelt. 566 Die Dokumente benachbarter Dialekte notieren das gleiche Wort die einen asca, die andern ascha; 567 wenn es sich um die gleichen Laute handelt, haben wir einen Fall von schwankender Orthographie 26 ; wenn nicht, dann ist der Unterschied phonologischer und dialektaler Natur, 568 wie in den griechischen Formen paíz ō , paízd ō , paídd ō . 569 Oder aber es handelt sich um zwei aufeinanderfolgende Epochen; man begegnet im Englischen zuerst hwat, hweel usw., dann what, wheel usw.; 570 haben wir es mit einer Änderung der Graphie oder mit einem Lautwandel zu tun? 571 Das offensichtliche Ergebnis von all dem ist, daß die Schrift den Blick auf die Sprache verschleiert; 572 sie ist keine Einkleidung, sondern eine Verkleidung. 573 Das erkennt man leicht aufgrund der Orthographie 27 des französischen Wortes oiseau, wo nicht ein einziger Laut des gesprochenen Wortes (waz ọ ) mit dem ihm zukommenden Zeichen wiedergegeben wird; da bleibt nichts vom Abbild der Sprache. 574 Ein anderes Resultat ist die Tatsache, daß je weniger die Schrift das wiedergibt, was sie wiedergeben sollte, 575 umso mehr sich die Tendenz verstärkt, sie als Grundlage zu nehmen; 576 die Grammatiker versteifen sich darauf, die Aufmerksamkeit auf die geschriebene Form zu lenken. 577 Psychologisch ist das leicht zu verstehen, aber es hat ärgerliche Folgen. 578 Der Gebrauch, den man von den Wörtern aussprechen und Aussprache macht, ist eine Sanktionierung dieses Mißbrauchs und stellt das richtige und wirkliche Verhältnis zwischen Schrift und Sprache auf den Kopf. 579 Wenn man sagt, man müsse einen Buchstaben auf diese oder jene Weise aussprechen, 580 nimmt man das Abbild für das Modell. 581 Damit oi als wa ausgesprochen werden könnte, müßte es für sich selbst existieren. In Wirklichkeit ist es wa, das oi geschrieben wird. 582 Um diese Absurdität zu erklären, fügt man bei, daß es sich in diesem Fall um eine außergewöhnliche Aussprache von o und i handele; 583 und das ist erneut eine fehlerhafte Formulierung, weil sie eine Abhängigkeit der Sprache von der geschriebenen Form unterstellt. 584 Man tut so, als ob man sich gegen die Schrift vergehe, als ob das graphische Zeichen die Norm darstelle. 585 Diese Fehlleistungen machen sich bis in die grammatikalischen Regeln hinein bemerkbar, 586 z. B. in derjenigen, die das h im Französischen betrifft. 587 Es gibt Wörter mit vokalischem Anlaut ohne Aspiration, die aber ein [graphisches] h bekommen haben aufgrund der Erinnerung an ihre lateinische Form; so z. B. homme (früher ome) wegen homo. 588 Aber es gibt auch andere, die aus dem Germanischen stammen, und deren h wirklich ausgesprochen wurde: hache, hareng, honte usw. 589 Solange die Aspiration existierte, unterlagen diese Wörter den die Anlautkonsonanten betreffenden Gesetzen; man sagte deu haches, le hareng, 590 während gemäß den Gesetzen für die vokalisch anlautenden Wörter deu-z-ommes, l ’ omme ausgesprochen wurde. 591 Zu diesem Zeitpunkt war die Regel: «Vor aspiriertem h gibt es keine Liaison und keine Elision» noch korrekt. 592 Heute aber ist diese Formulierung ohne jeden Sinn; das aspirierte h gibt es nicht mehr, es sei denn, man gebe diesen Namen dem eigenartigen Ding, das kein Laut ist, aber vor dem man keine Liaison und keine Elision macht. 593 Das ist schlicht ein circulus vitiosus, und das h ist nichts weiter als eine auf der Schrift beruhende Fiktion. 26 Die Einheit 567 stammt zum größten Teil von den Herausgebern; orthographe kommt in den Quellen nicht vor. Graphie wäre angemessener. 27 Auch hier fehlt orthographe in den Quellen. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 77 594 Das, was die Aussprache eines Wortes bedingt, ist nicht seine Orthographie 28 , sondern seine Geschichte. Seine Form zu einem gegebenen Zeitpunkt stellt einen Moment seiner Entwicklung dar, 595 die es durchlaufen muß, und die durch präzise Gesetze geregelt ist. Jede Etappe läßt sich aufgrund der ihr vorangehenden festlegen 29 . 596 Das Einzige, dem man Rechnung tragen muß und das man am häufigsten vergißt, ist die Herkunft des Wortes, 597 seine Etymologie. 598 Der Name der Stadt Auch ist in phonetischer Umschrift ọš . 599 Das ist der einzige Fall, wo das ch der französischen Orthographie 30 den Laut š am Wortende wiedergibt. 600 Es ist keine Erklärung, wenn man sagt: ch am Wortende wird nur in diesem Wort š ausgesprochen. 601 Die einzige [berechtigte] Frage ist, wie lateinisch Auscii im Laufe seiner Entwicklung zu ọš werden konnte; 602 die Orthographie 31 ist belanglos. 603 Muß man gageure mit ö oder mit ü aussprechen? 604 Die Einen antworten: ga ž ör, denn heure wird ör ausgesprochen. Die Andern sagen: nein, sondern ga ž ür, denn ge entspricht ž , z. B. in geôle. 605 Die Debatte ist überflüssig. Die wirkliche Frage ist etymologischer Natur: gageure ist von gager abgeleitet wie tournure von tourner; sie gehören zum gleichen Ableitungstyp; nur ga ž ür läßt sich rechtfertigen; 606 ga ž ör ist eine Aussprache, die einzig auf der Zweideutigkeit der schriftlichen Fixierung beruht. 607 Aber die Tyrannei des Buchstabens geht noch weiter; durch seine Herrschaft über die Massen beeinflußt er letztlich die Sprache und modifiziert sie. 608 Das kommt [allerdings] nur in hochliterarischen Idiomen vor, in denen das schriftliche Dokument eine bedeutende Rolle spielt. 609 Dann kann das visuelle Abbild eine fehlerhafte Aussprache bedingen; es handelt sich hierbei eigentlich um eine pathologische Erscheinung. 610 Dies findet sich oft im Französischen. 611 Für den Familiennamen Lefèvre (von lateinisch faber) gab es zwei Graphien, die eine populär und einfach, [eben] Lefèvre, die andere gelehrt und etymologisierend, Lefèbvre. 612 Aufgrund der Austauschbarkeit von v und u in der alten Schrift wurde Lefèbvre als Lefébure gelesen, mit einem b, das nie wirklich in dem Namen existiert hat, und einem u, das auf einer Doppeldeutigkeit beruhte. 613 Heute wird nun diese Form tatsächlich so ausgesprochen. 54 * 614 Es ist wahrscheinlich, daß derartige Verstümmelungen immer häufiger werden, und daß man immer öfter unnötige Buchstaben aussprechen wird. 615 In Paris sagt man bereits: sept femmes mit t; 616 Darmesteter sieht den Tag kommen, wo man sogar die beiden Endkonsonanten in vingt aussprechen wird, ein wirkliches Monstrum der Orthographie 32 . 617 Diese lautlichen Deformationen gehören nun tatsächlich dem Sprachsystem an, 618 aber sie sind nicht das Ergebnis seines natürlichen Funktionierens; sie beruhen vielmehr auf einem ihm fremden Faktor. 619 Die Linguistik muß sie in einer Isolierstation unter Beobachtung stellen: es handelt sich um Fälle von Mißbildung. 28 Auch hier fehlt orthographe in den Quellen; im deutschen Text wäre Schreibung angemessener. 29 Die (frz.) Formulierung ist eigenartig, doch ist sie durch die Quellen gedeckt: Chaque étape peut être fixée par celle qui précède. Gemeint ist wohl ‘ jede Etappe ist durch die vorangehende bedingt ’ o. ä. 30 Orthographe mag hier angemesen erscheinen, fehlt aber in den Quellen, die den Sachverhalt mithilfe des Verbs prononcer (ch se prononce š ) wiedergeben. 31 Auch hier fehlt orthographe in den Quellen: sie haben écriture. 32 Erneut fehlt orthographe in den Quellen; Joseph schreibt monstruosités de langage, die andern haben nichts entsprechendes. 78 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 620 Kapitel 7 Die Lautlehre 33, 55 * 621 § 1. - Definition 622 Wenn man als Gedankenexperiment die Schrift eliminiert, so läuft derjenige, dem man dieses faßbare Abbild geraubt hat, Gefahr, nur noch eine ungeformte Masse wahrzunehmen, mit der er nichts anfangen kann. 623 Er befindet sich in einer Situation wie derjenige, der Schwimmen lernt, und dem man seinen Schwimmgürtel weggenommen hat. 624 Man müßte das Künstliche sofort durch das Natürliche ersetzen; aber dies ist unmöglich solange man nicht die Laute der Sprache untersucht hat; denn losgelöst von ihrer graphischen Wiedergabe sind sie nur noch schwammige Vorstellungen, denen man die - wenn auch trügerische - Krücke der Schrift vorzieht. 625 So sind denn auch die ersten Sprachwissenschaftler, die noch keine Ahnung von der Lautphysiologie hatten, ständig in diese Fallen getappt; 626 auf den Buchstaben zu verzichten bedeutete für sie den Boden unter den Füßen zu verlieren; für uns ist dies ein erster Schritt in Richtung Wahrheit; 627 denn es ist die Untersuchung der Laute selbst, die uns die Hilfe liefert, die wir benötigen. 628 Die heutigen Linguisten haben es endlich begriffen; 629 durch die Übernahme von Forschungsergebnissen, die von anderen (Physiologen, Gesangstheoretikern usw.) erarbeitet wurden, haben sie der Linguistik eine Hilfswissenschaft zur Seite gestellt, die sie von der Bindung an das geschriebene Wort befreit hat. 630 Die Lautphysiologie (dt. auch 631 Sprachphysiologie) 632 wird oft «Phonetik» ( 633 frz. phonétique, engl. phonetics) genannt. 634 Dieser Terminus scheint uns inadäquat zu sein; 635 wir ersetzen ihn durch Phonologie. 636 Denn Phonetik hat zuerst die Lautentwicklung bezeichnet und soll es auch weiterhin tun; man darf nicht unter ein und demselben Namen zwei vollkommen unterschiedliche Forschungsbereiche zusammenfassen. 56 * 637 Die Phonetik ist eine historische Wissenschaft; 638 sie untersucht Ereignisse, Veränderungen und bewegt sich auf der Zeitachse. 57 * 639 Die Phonologie liegt außerhalb der Zeit, denn der Artikulationsmechanismus bleibt immer derselbe. 58 * 640 Aber diese beiden Forschungsbereiche fallen nicht nur nicht zusammen, sie stehen auch nicht in Opposition zueinander. 641 Der erste ist ein unverzichtbarer Teil der Sprachwissenschaft; 642 die Phonologie dagegen - es muß wiederholt werden - ist nur eine Hilfswissenschaft, die nur auf Redeebene von Bedeutung ist (cf. 327ss.). 643 In der Tat ist schwer einzusehen, wozu die Artikulationsbewegungen gut sein sollten ohne das Sprachsystem; 644 aber sie machen dieses nicht aus, und wenn man alle Artikulationsbewegungen erklärt hat, die nötig sind, um jeden einzelnen auditiven 34 Eindruck zu bewirken, hat man nicht das Geringste für die Erhellung des Sprachproblems geleistet. 645 Die Sprache ist ein System, das auf der psychischen Opposition dieser auditiven Eindrücke gründet, 646 ähnlich wie ein Wandteppich ein Kunstwerk ist, das auf der visuellen Opposition der verschiedenfarbigen Fäden beruht; 647 was für die Analyse zählt, ist das Spiel dieser Gegensätze, und nicht die Verfahren, mit deren Hilfe man die Farben erhalten hat. 33 Zum Problem der Übersetzung von phonologie usw. cf. unten, Einheiten 630 - 639 sowie im Anhang die N38 zu Einheit 710. - H ARRIS 1983: 32ss. und 1987: 46ss. übersetzt sinngemäß mit physiological phonetics, wobei allerdings das Substantiv im Widerspruch zu Saussures Sprachgebrauch steht; cf. unten 635ss. zu phonétique sowie N38 zu Einheit 710. 34 Zur Übersetzung von acoustique mit auditiv cf. N38 zu Einheit 710. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 79 648 Für den Entwurf eines phonologischen Systems verweisen wir auf den Anhang, 710ss.; hier geht es nur darum zu ermitteln, welche Hilfe die Linguistik von dieser Disziplin erwarten kann, um den Verblendungen der Schrift zu entgehen. 649 § 2. - Die Lautschrift 650 Der Linguist verlangt in erster Linie nach einem Darstellungsmittel für die artikulierten Laute, das jede Mehrdeutigkeit ausschließt. 651 In der Tat sind schon unzählige Transkriptionssysteme vorgeschlagen worden. 59 * 652 Was sind die Prinzipien einer brauchbaren phonologischen Umschrift? Sie muss darnach trachten, jedes Element der Redekette durch ein einziges Zeichen wiederzugeben. 653 Dieser Forderung wird nicht immer Rechnung getragen: So gebrauchen z. B. die englischen Phonologen, denen es mehr um Klassifikation als um Analyse geht, für gewisse Laute zwei oder gar drei Buchstaben. 60 * 654 Überdies sollte die Unterscheidung zwischen explosiven und implosiven Lauten konsequent durchgehalten werden, wie wir zeigen werden (cf. 909 ss.). 655 Ist es nötig, die gängige Orthographie durch ein phonologisches Alphabet zu ersetzen? 656 Diese interessante Frage kann hier nur gestreift werden; 657 unserer Meinung nach sollte die phonologische Umschrift einzig von den Linguisten benutzt werden. Einmal: wie sollte man Engländer, Deutsche, Franzosen usw. dazu bringen, ein einheitliches System zu übernehmen? 658 Überdies liefe ein auf alle Sprachen anwendbares System Gefahr, mit diakritischen Zeichen überlastet zu werden; und selbst wenn man vom trostlosen Aussehen einer Seite eines solchen Textes absieht, ist es offensichtlich, daß unter dem Zwang zur Präzisierung diese Schrift gerade das verdunkeln würde, was sie eigentlich erhellen will, und so den Leser nur verwirren würde. 659 Diese Mängel würden nicht durch ausreichende Vorteile aufgewogen. 660 Außerhalb der Wissenschaft ist die phonologische Genauigkeit nicht sehr wünschenswert. 661 Dann gibt es da noch die Frage der Lektüre. 662 Wir lesen auf zwei Arten: Das neue oder unbekannte Wort wird Buchstaben für Buchstaben entziffert; das geläufige und vertraute Wort dagegen wird auf einen Blick erfaßt, unabhängig von den Buchstaben, die es ausmachen; das Bild dieses Wortes hat für uns einen ideographischen Wert. 663 Hier kommt die traditionelle Orthographie zu ihrem Recht: sie ist hilfreich um tant und temps, - et, est und ait, - du und dû, - il devait und ils devaient usw. zu unterscheiden. 664 Wir hoffen nur, daß die gängige Schreibweise von ihren schlimmsten Absurditäten befreit wird; 665 wenn im Sprachunterrricht ein phonologisches Alphabet nützlich sein kann, [spricht dies noch lange nicht] für eine Verallgemeinerung seines Gebrauchs. 666 § 3. - Kritik der Aussagekraft der Schrift 667 Es ist somit ein Irrtum zu glauben, das Wichtigste sei eine Orthographiereform, nachdem man den irreführenden Charakter der Schrift erkannt hat. 668 Der wesentliche Dienst, den uns die Phonologie erweist, ist der, daß sie uns erlaubt, gewisse Versichtsmaßnahmen zu ergreifen gegenüber dieser schriftlichen Form, über die wir gehen müssen, um zum Sprachsystem zu gelangen. 669 Das Zeugnis der Schrift ist nur von Relevanz, wenn es interpretiert wird. 670 In jedem einzelnen Fall muß man zuerst das Lautsystem des untersuchten Idioms ermitteln, d. h. das Inventar der Laute, die es verwendet; 671 denn jede Sprache arbeitet mit einer bestimmten Anzahl von hinreichend differenzierten Phonemen. 672 Dieses System ist die einzige Realität [im Lautbereich], die den Linguisten interessiert. Die graphischen Zeichen liefern davon nur ein Abbild, dessen Angemessenheit es zu ermitteln gilt. 673 Die Schwierigkeit 80 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft dieser Bestimmung variiert von Idiom zu Idiom und in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen. 674 Wenn es sich um eine der Vergangenheit angehörende Sprache handelt, bleiben uns nur indirekte Zeugnisse; welches sind dann die brauchbaren Quellen um das phonologische System zu ermitteln? 675 1. Zuerst einmal äußere Hinweise, und vor allem das Zeugnis von Zeitgenossen, die die Laute und die Aussprache ihrer Zeit beschrieben haben. 676 So haben uns die französischen Grammatiker des 16. und 17. Jahrhunderts - insbesondere diejenigen, die den Ausländern Kenntnisse vermitteln wollten - viele wertvolle Hinweise hinterlassen. 677 Aber diese Informationsquelle ist wenig verläßlich, weil diese Autoren über keine phonologische Methode verfügen. 678 In ihren Beschreibungen verwenden sie Zufallstermini, und dies ohne jede wissenschaftliche Stringenz. 679 Ihre Zeugnisse müssen so ihrerseits wieder interpretiert werden. 680 So liefern die Namen, die sie den Lauten geben, oft nur zweideutige Informationen: Die griechischen Grammatiker bezeichneten die stimmhaften Verschlusslaute (wie b, d, g) als «mittlere» Konsonanten (mésai), die stimmlosen (wie p, t, k) dagegen als ps ī laí, was im Latein mit tenu ē s übersetzt wurde. 681 2. Man kommt zu verläßlicheren Informationen, wenn man diese erste Art von Angaben mit internen Indizien kombiniert; wir gruppieren diese in zwei Kategorien: 682 a) Hinweise, die sich aus der Regelmäßigkeit der Lautentwicklung ergeben. 683 Wenn es darum geht, den Wert eines Buchstabens zu bestimmen, ist es wichtig zu wissen, was der Laut, den er repräsentiert, in einer vergangenen Epoche war. 684 Sein gegenwärtiger Wert ist das Resultat einer Entwicklung, die es erlaubt, gewisse Hypothesen im vornherein auszuschließen. 685 So wissen wir z. B. nicht genau, was der Wert von ç im Sanskrit war, aber da es auf das indogermanische palatale k zurückgeht, schränkt dies das Feld der möglichen Annahmen erheblich ein. 686 Wenn man außer dem Ausgangspunkt auch noch die Parallelentwicklung ähnlicher Laute der gleichen Sprache in der gleichen Epoche kennt, kann man einen proportionalen Analogieschluß ziehen. 687 Im Zend wird das, was dem indogermanischen tr entspricht, im Anlaut þr und im Inlaut dr geschrieben, während das, was [idg.] pr entspricht, immer mit fr wiedergegeben wird; die beiden Entwicklungen müssen parallel verlaufen sein; dr muß deshalb konsequent þr gelesen werden, denn f ist eine stimmlose Frikative und nicht eine stimmhafte Okklusive (cf. 836) 35 . 688 Das Problem ist natürlich einfacher [zu lösen,] wenn es darum geht, eine Aussprache festzulegen, die zwischen einem bekannten Ausgangspunkt und einem bekannten Endpunkt liegt. 689 Das französische au (z. B. in sauter) muß im Mittelalter ein Diphthong gewesen sein, denn es liegt zwischen einem älteren al und dem ọ des Modernfranzösischen; und wenn man auf anderem Wege erfährt, daß zu einem gegebenen Zeitpunkt der Diphthong au noch existierte, steht fest, daß er auch in der vorangehenden Epoche existierte. 61 * 690 Wir wissen nicht genau, was das ʒ in einem althochdeutschen Wort wie wa ʒ er repräsentiert; aber die Bezugspunkte sind einerseits das ältere water, andererseits die moderne Form wasser. Dieses ʒ muß somit ein Laut sein, der zwischen t und s liegt; wir können jede Hypothese verwerfen, die nicht mit dem t oder dem s vereinbar wäre; es ist z. B. unmöglich anzunehmen, es habe einen Palatal wiedergegeben, denn zwischen zwei dentalen Artikulationen kann man nur einen Dental postulieren. 62 * 691 b) Zeitgenössische Hinweise. Sie können von mehreren Arten sein. 35 Die Einheit 687 existiert nur in der 1. Auflage; auch L OMMEL 1931: 41 berücksichtigt sie nicht. - Cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N109. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 81 692 So [existieren] z. B. Unterschiede in der Graphie: 693 Man findet zu einem gewissen Zeitpunkt des Althochdeutschen die Verschriftungen wazer, zehan, ezam, aber nie wacer, cehan etc. Wenn man andererseits auch esan und essan, waser und wasser etc. begegnet, dann muß man daraus schließen, daß dieses z einen dem s sehr nahen Lautwert hatte, aber recht verschieden von dem war, was zur gleichen Zeit mit c wiedergegeben wurde. 694 Wenn man später Schreibungen wie wacer etc. findet, dann beweist dies, daß die beiden Lautungen, die ursprünglich sehr verschieden waren, mehr oder weniger zusammengefallen sind. 695 Die poetischen Texte sind wertvolle Dokumente für die Kenntnis der Aussprache: 696 Je nachdem, ob die Versifikation auf der Silbenzählung, der Quantität 697 oder der Übereinstimmung der Laute (Alliteration, Assonanz, Reim) beruht, 698 liefern uns diese Zeugnisse Informationen zu diesen verschiedenen Punkten. 699 Wenn das Griechische gewisse Langvokale auf graphischer Ebene unterscheidet (z. B. ō , das ω geschrieben wird), für andere dagegen auf diese Präzisierung verzichtet, dann muß man bei den Dichtern nach Auskünften über die Quantität von a, i und u suchen. 700 Im Altfranzösischen erlaubt es der Reim festzustellen, bis zu welchem Zeitpunkt z. B. die Auslautkonsonanten von gras und faz (lat. faci ō ‘ je fais ’ ) unterschieden wurden, und von wann an sie sich einander annäherten und zusammengefallen sind. 701 Reim und Assonanz zeigen uns weiter, daß im Altfranzösischen das auf ein lateinisches a zurückgehende e (z. B. père aus patrem, tel aus talem, mer aus mare) eine von den anderen e vollkommen verschiedene Lautung hatte. Nie reimen oder assonieren diese Wörter mit elle (aus illa), vert (aus viridem), belle (aus bella) usw. usw. 702 Zum Schluß gilt es noch die Schreibung von aus einer fremden Sprache entlehnten Wörtern ( 36 ), die Wortspiele, die Kalauer ( 37 ) usw. zu erwähnen. 705 Alle diese Informationsverfahren helfen uns bis zu einem gewissen Grade, das phonologische System einer Epoche zu erkennen und das Zeugnis der Schrift zu korrigieren ohne auf dieses zu verzichten. 706 Wenn es sich um eine lebende Sprache handelt, 707 besteht die einzige angemessene Methode darin: a) das Lautsystem zu ermitteln so wie es sich aufgrund direkter Beobachtung ergibt; b) diesem das System der Zeichen gegenüberzustellen, die dazu dienen, die Laute - wenn auch unvollkommen - wiederzugeben. 708 Viele Grammatiker halten noch an der alten, oben kritisierten Methode fest, die darin besteht zu sagen, wie jeder Buchstabe ausgesprochen wird in der Sprache, die sie beschreiben wollen. Auf diese Weise ist es unmöglich, das phonologische System einer Sprache sauber darzustellen. 709 Es ist jedoch unbestritten, daß man in diesem Bereich schon große Fortschritte gemacht hat, und daß die Lautphysiologen viel zur Reform unserer Vorstellungen von Schrift und Orthographie beigetragen haben. ( 36 ) 703 So informiert uns gothisch kawtsjo über die Aussprache von cautio in spätlateinischer Zeit. (Ed.) [ - Ab der 2. Aufl. ist diese Einheit in den Haupttext integriert; die Kennzeichnung «(Ed.)» wird einfach getilgt.] ( 37 ) 704 Die Aussprache rwè für roi ist für das Ende des 18. Jh.s durch folgende Anekdote bezeugt, die Nyrop, Grammaire historique de la langue française, I 2 , p. 174 zitiert: Vor dem Revolutionstribunal wird eine Frau gefragt, ob sie nicht vor Zeugen gesagt habe, es brauche einen roi (König); sie antwortet, sie habe nicht von einem König gesprochen wie Capet oder irgend ein anderer, sondern von einem rouet-maître, einem Spinnrad. (Ed.) [ - Ab der 2. Aufl. ist diese Einheit in den Haupttext integriert; die Kennzeichnung «(Ed.)» wird einfach getilgt.] 82 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 710 Anhang: Prinzipien der Lautlehre 38, 63 * 711 Kapitel 1 Die phonologischen Einheiten 712 § 1. - Defintion des Phonems ( 39 ) 64 * 714 Viele Phonologen befassen sich fast ausschließlich mit dem Phonationsakt, d. h. mit der Erzeugung der Laute durch die Organe (Larynx, Mund usw.) 715 und vernachlässigen die auditive Seite. Dies ist kein korrektes Vorgehen: 716 Nicht nur ist uns der Höreindruck ebenso direkt gegeben wie das motorische Organbild, vielmehr ist er es, der die natürliche Grundlage jeder Theorie bildet. 717 Die auditiven Gegebenheiten spielen schon unbewußt eine Rolle, wenn man das Problem der phonologischen Einheiten angeht; es ist dank des Ohrs, daß wir wissen, was ein b, ein t usw. ist. 718 Wenn man mithilfe eines Films alle Bewegungen des Mundes und der Larynx bei der Realisierung einer Lautkette reproduzieren könnte, wäre es unmöglich, Abgrenzungen innerhalb dieser Folge von Artikulationsbewegungen zu ermitteln; man weiß nicht, wo ein Laut beginnt, wo der andere aufhört. 719 Wie kann man ohne den auditiven Eindruck behaupten, daß es z. B. in f ā l drei Einheiten gibt, und nicht zwei oder vier? 720 Aber in der gehörten Redekette kann man unmittelbar wahrnehmen, ob ein Laut mit sich selbst identisch bleibt oder nicht; 721 solange man den Eindruck von etwas Homogenem hat, handelt es sich um einen einzigen Laut. 722 Was zählt, ist auch nicht die Dauer in Achtel- oder Sechzehntelnoten (cf. f ā l und f ă l), sondern die Beschaffenheit des Eindrucks. 723 Die auditive Kette gliedert sich nicht in gleich lange, 724 sondern in homogene Einheiten, 725 die durch die Einheitlichkeit des Eindruckes charakterisiert sind, 726 und genau dies ist der natürliche Ausgangspunkt der phonologischen Analyse. 65 * 38 In diesem Anhang stellen sich die Übersetzungsprobleme, die schon in Kapitel 7 der Einleitung aufgetreten waren, in verschärfter Form. Für Saussure ist phonologie nicht das, was man heute darunter versteht, sondern Lautphysiologie oder einfach Lautlehre. Das gilt entsprechend auch für phonologique, phonologiste usw. Nur in Ausnahmefällen entsteht im Kontext praktisch eine Bedeutungsidentität mit dem modernen Gebrauch. Da ein Ersatz von Saussures Terminologie zu endlosen Problemen und Widersprüchen führt, behalten wir sie in der Regel (wie im vorhergehenden Kapitel 7 der Einleitung) bei und greifen nur in Ausnahmefällen zu Lautphysiologie etc. - Phonetik kann nicht verwendet werden, da Saussure diesen Terminus im Cours ausdrücklich auf die historische Lautlehre beschränkt. Ein ähnliches Problem stellt sich bei acoustique/ akustisch. Saussure bezeichnet damit das, was man heute auditiv nennt; für das rein physikalische Phänomen hat er im Cours keinen spezifischen Terminus. Wir übersetzen acoustique in der Regel mit auditiv. - Cf. hierzu auch D E M AURO 1968/ 1972 N113. - Anders liegen die Dinge in den Harvard-Manuskripten, wo die phonétique (= Lautphysiologie! ) als acoustico-physico-physiologique beschrieben wird; cf. P ARRET 1993: 200. ( 39 ) 713 Für diesen Teil konnten wir das Stenogramm von drei Vorträgen benutzen, die F. de Saussure 1897 über die Theorie der Silbe gehalten hat und wo er auch auf die allgemeinen Prinzipien des ersten Kapitels eingeht; überdies bezieht sich ein großer Teil seiner persönlichen Notizen auf die Phonologie; in zahlreichen Punkten erhellen und ergänzen sie die Ausführungen von Cours 1 und 3. (Ed.) - Die Einheit 713 steht in allen Ausgaben des Cours am Anfang von § 1 des Anhangs, und dies gilt auch für die kritische Ausgabe von E NGLER . Dies widerspricht jedoch dem üblichen Verfahren von Bally und Sechehaye, die ihre Anmerkungen, Ergänzungen und Kommentare in Fußnoten unterbringen. L OMMEL 1931: 44 hat deshalb aus 713 eine Anmerkung gemacht; wir folgen ihm in diesem Punkt. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 83 727 In dieser Hinsicht verdient das ursprüngliche griechische Alphabet unsere Bewunderung. 728 Jeder einfache Laut wird dort durch ein einziges graphisches Zeichen wiedergegeben, 729 und umgekehrt entspricht jedes Zeichen einem einfachen Laut, und zwar immer dem gleichen. 730 Dies ist eine geniale Erfindung, die die Römer übernommen haben. 731 In der Wiedergabe des Wortes bárbaros ‘ Barbar ’ |B|A|P|B|A|P|O| Σ | entspricht jeder Buchstabe einer homogenen Einheit; in der obenstehenden Graphik stellt die horzontale Linie die Lautkette dar, die vertikalen Striche symbolisieren den Übergang von einem Laut zum andern. 732 Im ursprünglichen griechischen Alphabet findet man keine komplexen Graphien wie unser ch für / š / , und keine Doppeldarstellungen für einen einzigen Laut wie c und s fürc / s/ , ebensowenig wie ein einfaches Zeichen für einen zusammengesetzten Laut wie x für / ks/ . 733 Dieses für eine gute Lautschrift notwendige und ausreichende Prinzip haben die Griechen fast vollumfänglich realisiert ( 40 ). 741 Die andern Völker haben dieses Prinzip nicht erkannt, 742 und ihre Alphabete zerlegen die Redekette nicht in homogene auditive Sequenzen. 743 Die Zyprioten z. B. haben sich mit komplexeren Einheiten vom Typus pa, ti, ko usw. zufriedengegeben; man nennt diese Notierung silbisch; diese Bezeichnung ist etwas ungenau, denn die Silbe kann auch nach andern Mustern gebildet werden wie z. B. pak, tra usw. 744 Die Semiten ihrerseits haben nur die Konsonanten festgehalten; 745 ein Wort wie bárbaros wäre von ihnen BRBRS geschrieben worden. 746 Die Abgrenzung der Laute in der Redekette kann somit nur auf dem auditiven Eindruck beruhen; aber was ihre Beschreibung angeht, so liegen die Dinge anders. Sie kann nur auf der Basis des Artikulationsaktes realisiert werden, 747 denn die auditiven Einheiten in ihrer jeweiligen Kette sind nicht analysierbar. 66 * 748 Man muß auf die Folge der Artikulationsbewegungen rekurrieren; 749 dann stellt man fest, daß einem gleichen Laut ein gleicher Akt entspricht: b (auditives Moment) = b' (artikulatorisches Moment). 750 Die primären Einheiten, die man erhält, wenn man die Redekette zerlegt, 752 bestehen aus b und b'; man nennt sie Phoneme: das Phonem ist die Summe der auditiven Eindrücke und der Artikulationsbewegungen, der gehörten und der gesprochenen Einheit, denn die eine bedingt die andere; 753 es ist somit bereits eine komplexe Einheit, 754 die einen Fuß in jeder der beiden Ketten hat. 755 Die Elemente, die man vorerst durch die Analyse der Redekette erhält, sind eine Art Ringe dieser Kette, nicht weiter reduzierbare Einheiten, die man nicht losgelöst von dem Zeitabschnitt, den sie einnehmen, betrachten kann. 756 So ist ein Komplex wie ta immer ein Moment plus ein Moment, ein Fragment von einer gewissen Ausdehnung plus ein anderes Fragment. 757 Dagegen kann das nicht weiter reduzierbare Fragment t für sich allein genommen, gewissermaßen in abstracto, unabhängig von der Zeit betrachtet werden. ( 40 ) 734 Es ist wahr, daß man 735 Χ, Θ, Φ für kh, th, ph schreibt; ΦΕΡΩ gibt phér ō wieder; aber dies ist eine spätere Neuerung; die archaischen Inschriften notieren ΚΗΑΡΙΣ und nicht ΧΑΡΙΣ . 736 Die gleichen Inschriften kennen zwei Zeichen für / k/ , das kappa und das koppa, 737 aber hier ist die Sachlage eine andere: es ging darum, zwei wirkliche Aussprachevarianten wiederzugeben, denn das / k/ war das eine Mal palatal, das andere velar; 738 überdies ist das koppa später aufgegeben worden. 739 Weiter, und das ist gravierender, geben die ursprünglichen griechischen und lateinischen Inschriften oft einen doppelten Konsonanten durch einen einfachen Buchstaben wieder; so ist z. B. das lateinische Wort fuisse einfach FUISE geschrieben worden; ein Regelverstoß, denn das doppelte s markiert, wie wir sehen werden, zwei Einheiten, 740 die nicht homogen sind und die verschiedene Höreindrücke bewirken; aber der Irrtum ist entschuldbar, denn die beiden Laute haben, ohne zusammenzufallen, gemeinsame Züge (cf. 910ss.). 84 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 758 Man kann von t im allgemeinen sprechen, wie von der Gattung T (wir bezeichnen die Gattungen mit Majuskeln), von i wie von der Gattung I, indem man sich nur auf den distinktiven Charakter bezieht, ohne sich um all das zu kümmern, was von der Abfolge auf der Zeitachse abhängt. 759 Gleichermaßen kann ein musikalischer Komplex do, re, mi nur als konkrete Reihung in der Zeit behandelt werden; aber wenn ich eines seiner nicht weiter reduzierbaren Elemente nehme, kann ich es in abstracto betrachten. 760 Wenn man eine genügende Anzahl von Redeketten aus verschiedenen Sprachen untersucht hat, lernt man die Elemente kennen, derer sie sich bedienen und man kann sie klassieren; man stellt dann fest, daß - wenn man die unerheblichen auditiven Nuancen ausschließt - die Zahl der gegebenen Einheiten nicht unbegrenzt ist. 761 Man findet die Liste und ausführliche Beschreibung in Spezialuntersuchungen ( 41 ); hier möchten wir zeigen, auf welchen verbindlichen und sehr einfachen Prinzipien jede Klassifikation dieser Art gründet. 763 Aber zuerst einige Worte 764 zum Stimmapparat, 765 zu den Bewegungsmöglichkeiten der Organe 766 und zur Rolle dieser Organe bei der Lauterzeugung. 767 § 2. - Der Stimmapparat und sein Funktionieren ( 42 ) 769 1. Für die Beschreibung des Stimmapparats beschränken wir uns auf eine schematische Darstellung, in der A die Nasenhöhle, B die Mundhöhle, C die Larynx bezeichnet, wobei letztere die Glottis ε zwischen den beiden Stimmbändern enthält: ( 41 ) 762 Cf. S IEVERS , Grundzüge der Phonetik, 5. Aufl. 1902; J ESPERSEN , Lehrbuch der Phonetik, 2. Aufl. 1913; R OUDET , Éléments de phonétique générale, 1910. (Ed.) - D E M AURO 1968/ 1972 N116 weist darauf hin, daß diese Ergänzung der Herausgeber die wirklichen Präferenzen Saussures nicht richtig wiedergeben; diese lägen vielmehr bei Wilhelm Vi ё tor und Paul Passy. ( 42 ) 768 Die etwas summarische Darstellung von F. de Saussure ist nach dem Lehrbuch der Phonetik von O. Jespersen ergänzt worden, dem wir auch das Prinzip entnommen haben, nach dem weiter unten die Formeln für die Phoneme aufgestellt werden. Aber es handelt sich um reine Formalien, um Detailfragen, und der Leser wird feststellen, daß diese Eingriffe die Gedanken von F. de Saussure nirgends beeinträchtigen. (Ed.) 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 85 770 Im Munde sind im wesentlichen die folgenden Teile zu unterscheiden: die Lippen a und α die Zunge β - γ (wobei β die Spitze und γ den ganzen Rest bezeichnet), die oberen Zähne d, der Gaumen, der einen harten, unbeweglichen Vorderteil f - h und einen weichen, beweglichen Hinterteil, das Gaumensegel i umfaßt, und schließlich das Halszäpfchen δ . 771 Die griechischen Buchstaben bezeichnen die bei der Artikulation aktiven Organe, die lateinischen Buchstaben die passiven Teile. 772 Die Glottis ε , die durch zwei parallel verlaufende Muskeln oder Stimmbänder gebildet wird, öffnet sich durch ihr Auseinandertreten und schließt sich durch ihr Zusammenrücken. 773 Ihr vollständiger Verschluß spielt praktisch keine Rolle 67 *; was ihre Öffnung angeht, so kann sie sowohl weit als auch eng sein. 774 Im ersten Fall strömt die Luft ungehindert aus, die Stimmbänder vibrieren nicht; im zweiten Fall erzeugt die ausströmende Luft sonore Schwingungen. 775 Es gibt keine weiteren Alternativen bei der normalen Lauterzeugung. 776 Die Nasenhöhle ist eine vollkommen unbewegliche Komponente; der Durchtritt der Luft kann durch das Anheben des Halszäpfchens δ verhindert werden, weiter nichts; sie funktioniert wie eine offene bzw. geschlossene Tür. 777 Was die Mundhöhle angeht, so bietet sie eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten: Man kann die Länge des Kanals mithilfe der Lippen vergrößern, die Backen aufblasen oder einziehen, die Höhle verengen oder gar verschließen durch die Vielzahl der Bewegungsmöglichkeiten von Lippen und Zunge. 778 Die Rolle dieser Organe für die Lautproduktion steht in direktem Zusammenhang mit ihrer Beweglichkeit: Einförmigkeit der Funktion bei Larynx und Nasenhöhle, Vielfalt der Funktionen bei der Mundhöhle. 779 Die aus der Lunge gepreßte Luft strömt zuerst durch die Glottis, wo durch das Zusammenrücken der Stimmbänder möglicherweise ein laryngaler Laut erzeugt wird. 780 Aber es ist nicht die Kehlkopfaktivität, die für den lautlichen Variantenreichtum verantwortlich ist, der es erlaubt, die Sprachlaute zu unterscheiden und zu klassieren; 781 in dieser Hinsicht ist der laryngale Laut einförmig. In der direkten Wahrnehmung, so, wie er die Glottis verläßt, erscheint er uns in seiner Qualität mehr oder weniger konstant. 782 Die Nasenhöhle dient einzig als Resonanzraum für die Stimmbandschwingungen, die sie durchqueren; sie spielt also ebenfalls keine Rolle für die Lauterzeugung. 783 Die Mundhöhle dagegen kumuliert die Funktionen von Lauterzeuger und Resonanzraum. 784 Wenn die Glottis weit offen ist, wird keine laryngale Schwingung erzeugt, und der Laut, den man wahrnimmt, tritt einfach so aus der Mundhöhle aus (wir überlassen es den Physikern zu entscheiden, ob es sich um einen Laut oder einfach um ein Geräusch handelt). 785 Wenn dagegen die Annäherung der Stimmbänder die Glottis vibrieren läßt, dann spielt der Mund die Hauptrolle bei der Veränderung des laryngalen Lautes. 786 Die Faktoren, die bei der Lautproduktion eine Rolle spielen können, sind somit: die Expiration, die Mundraumartikulation, die Stimmbandschwingungen und die nasale Resonanz. 787 Aber das Aufzählen der Produktionsfaktoren eines Lautes ist noch keine Bestimmung der unterscheidenden Züge der Phoneme. 788 Um diese zu klassieren, ist es weniger wichtig zu wissen, woraus sie bestehen, als vielmehr, was die einen von den anderen unterscheidet. 789 So kann ein negativer Faktor für die Klassifikation wichtiger sein als ein positiver. 790 Die Expiration z. B., ein positives Element, das aber in jedem Phonationsakt vorhanden ist, hat keinen differenzierenden Wert; wogegen das Fehlen der nasalen Resonanz, ein negativer Faktor, ebenso wie ihr Vorhandensein dazu dient, Phoneme zu charakterisieren. 791 Das Wesentliche ist somit, daß zwei von den oben erwähnten Faktoren konstant, notwendig und ausreichend für die Lautproduktion sind: 86 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft a) die Expiration, b) die Mundraumartikulation, während die beiden anderen fehlen oder mit den ersten beiden kumuliert werden können: c) die Stimmbandschwingungen, d) die nasale Resonanz. 792 Andererseits wissen wir bereits, daß a, c und d einförmig sind, 793 während b eine Fülle von Varianten umfaßt. 794 Überdies muß festgehalten werden, daß ein Phonem identifiziert ist, wenn man den Phonationsakt bestimmt hat, und daß man umgekehrt alle Phonemarten bestimmt hat, wenn man alle Phonationsakte identifiziert hat. 795 Diese nun - das zeigt unsere Klassifikation der Faktoren, die bei der Lautproduktion eine Rolle spielen - werden nur über die drei letzten Kriterien ausdifferenziert. 796 Es gilt somit für jedes Phonem festzuhalten: welches seine Mundraumartikulation ist, ob ein laryngaler Laut beteiligt ist (~) oder nicht ([]), ob es eine nasale Resonanz enthält (. . .) oder nicht ([]). 797 Wenn eines dieser drei Elemente nicht bestimmt ist, ist die Identifikation unvollständig; sobald aber alle drei bekannt sind, bestimmen ihre verschiedenen Kombinationen alle wesentlichen Typen von Phonationsakten. 798 So ergibt sich das folgende Schema der möglichen Variationen: 43 799 Die Kolonne I bezeichnet die stimmlosen Orallaute, Kolonne II die stimmhaften Orallaute, Kolonne III die stimmlosen Nasallaute, Kolonne IV die stimmhaften Nasallaute. 800 Aber eine Unbekannte gibt es weiterhin: die Natur der Mundraumartikulation; es gilt deshalb, die möglichen Variationen zu bestimmen. 43 Schema nach E NGLER 1968: 112 (kritische Ausgabe). - expiration = Expiration; articulation buccale = Mundraumartikulation. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 87 801 § 3. - Klassifikation der Laute nach ihrer Mundraumartikulation 802 Man klassiert im allgemeinen die Laute nach ihrem Artikulationsort. Unser Ausgangspunkt ist ein anderer. Welches auch immer der Artikulationsort ist, er zeigt immer eine bestimmte 803 Öffnung, d. h. einen bestimmten Öffnungsgrad zwischen zwei Extremen: dem vollständigen Verschluß und der maximalen Öffnung. 804 Auf dieser Basis und von der minimalen Öffnung zur maximalen Öffnung fortschreitend 805 werden die Laute sieben Kategorien zugeordnet, die durch die Ziffern 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6 charakterisiert sind. 806 Nur innerhalb jeder dieser Kategorien weisen wir die Phoneme verschiedenen Untergruppen zu nach dem ihnen eigenen Artikulationsort. 807 Wir halten uns dabei an die gängige Terminologie, 808 obwohl diese in verschiedenerlei Hinsicht unangemessen oder unkorrekt ist: 809 Termini wie Gutturale, 810 Palatale, 811 Dentale, 812 Liquide usw. 813 sind mehr oder weniger unlogisch. 814 Es wäre angebrachter, den Gaumen in eine bestimmte Anzahl von Zonen aufzuteilen, so daß man - immer unter Einbezug der Zungenartikulation - in jedem Fall sagen könnte, gegenüber welchem Punkt sich die stärkste Verengung befindet. 815 Wir bedienen uns dieser Idee und geben in Verbindung mit den Buchstaben in Schema 769 jede Artikulation durch eine Formel wieder, in der die Ziffer für den Öffnungsgrad zwischen dem griechischen Buchstaben für das aktive Organ (links) und dem lateinischen Buchstaben für das passive Organ (rechts) steht. So bedeutet β 0 e, daß unter dem Öffnungsgrad, der einem vollständigen Verschluß entspricht, die Zungenspitze β die Alveolen der oberen Zahnreihe e berührt. 816 Schließlich unterscheiden sich innerhalb jeder Artikulation die verschiedenen Phonemtypen durch Zusatzphänomene wie Laryngallaut und Nasalresonanz, deren Fehlen oder Vorhandensein ein Differenzierungskriterium darstellt. 817 Nach diesen Prinzipien werden wir die Laute klassieren 44 . 818 Es handelt sich um ein rein rationales Klassifikationsschema; man darf also nicht erwarten, in ihm komplexe und spezielle Phoneme zu finden, wie wichtig ihre praktische Bedeutung auch immer sein mag, so z. B. die aspirierten Konsonanten (ph, dh usw.), die Affrikaten (ts, d ž , pf usw.), die mouillierten Konsonanten, die schwachen Vokale ( ə oder stummes e), oder umgekehrt einfache Laute, die jeder praktischen Bedeutung entbehren und keine Rolle als ausdifferenzierte Phoneme spielen 45 . 819 A. - Öffnungsgrad null: Okklusive. 820 Diese Klasse umfaßt alle Phoneme, die man durch einen vollständigen, wenn auch kurzfristigen Verschluß des Munddurchgangs erhält. 821 Es ist nicht nötig zu untersuchen, ob der Laut im Moment der Bildung oder der Lösung des Verschlusses gebildet wird; de facto kann er auf beide Weisen produziert werden (cf. 910ss.). 822 Nach dem Artikulationsort unterscheidet man drei Haupttypen von Okklusiven: den labialen Typ (p, b, m), den dentalen Typ (t, d, n), den guttural genannten Typ (k, g, ń ). 823 Der erste wird mit den beiden Lippen artikuliert; beim zweiten berührt die Spitze der Zunge den vorderen Teil des Gaumens; beim dritten tritt der Zungenrücken in Kontakt mit dem hinteren Teil des Gaumens. 824 In vielen Sprachen, insbesondere im Indogermanischen, unterscheidet man deutlich zwischen zwei gutturalen Artikulationen, die eine palatal im Bereich f - h, die andere velar im 44 Die von Saussure im Folgenden verwendeten lautlichen Umschriften stellen insofern ein Problem dar, als sie heute vollkommen ungebräuchlich sind (und es z. T. auch schon zu Zeiten der Publikation des Cours waren). Wir verzichten jedoch auf eine Übertragung in API, da in einer Reihe von Fällen die Entsprechungen zweifelhaft sind. 45 Wir vertauschen hier phonèmes/ sons des frz. Textes und übersetzen Laute/ Phoneme, da Phoneme an der ersten Stelle absolut störend ist. 88 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Bereich i. Anderweitig, z. B. im Französischen, vernachlässigt man diesen Unterschied und das Ohr setzt ein hinteres k, wie in court, einem vorderen k, wie in qui, gleich. 825 Die folgende Tabelle liefert die Formeln für die verschiedenen Phoneme: 46 826 Die Nasale m, n, ń sind eigentlich nasalisierte stimmhafte Verschlußlaute; 827 wenn man amba ausspricht, hebt sich das Halszäpfchen um den Nasenkanal zu verschließen in dem Moment, wo man von m zu b übergeht. 828 Theoretisch kennt jeder Typus auch einen Nasal ohne Glottisschwingungen, d. h. einen stimmlosen Nasal; so existiert in den skandinavischen Sprachen ein stimmloses m nach einem stimmlosen Konsonanten; man findet entsprechende Beispiele auch im Französischen, aber die Sprecher sehen darin kein differentielles Element. 829 Die Nasale stehen in der Tabelle in runden Klammern; denn obwohl ihre Artikulation einen vollständigen Verschluß des Mundes impliziert, verleiht ihnen die Öffnung des Nasenkanals einen höheren Öffnungscharakter (cf. Klasse C). 830 B. - Öffnungsgrad 1: Frikative und Spiranten, 831 charakterisiert durch einen unvollständigen Verschluß der Mundhöhle, der den Austritt von Luft erlaubt. 832 Der Terminus Spirante ist sehr allgemein; derjenige von Frikative sagt nichts über den Schließungsgrad aus, evoziert aber den Eindruck einer Reibung, die durch das Austreten der Luft entsteht (lat. fric ā re). 833 In dieser Kategorie kann man sich nicht mehr mit drei Typen begnügen wie in der vorhergehenden. 834 Zuerst einmal sind die eigentlichen Labiale (die den Verschlußlauten p und b entsprechen) äußerst selten; wir berücksichtigen sie nicht 47 ; normalerweise werden sie durch Labiodentale ersetzt, die über eine Annäherung der Unterlippe an die oberen Zähne erzeugt werden (f und v im Französischen). 835 Die Dentale zerfallen in mehrere Varietäten je nach der Form, die die Zungenspitze bei der Bildung der Verengung annimmt; ohne auf die Einzelheiten einzugehen, bezeichnen wir die verschiedenen Formen der Zungenspitze mit β , β’ und β’’ . Bei den Lauten, die den Gaumen betreffen, unterscheidet das Ohr im allgemeinen zwischen einer vorderen (Palatale) und einer hinteren Artikulation (Velare) ( 48 ). 49 46 Graphik nach E NGLER 1968: 116. - labiales, dentales, gutturales = Labiale, Dentale, Gutturale. 47 Dieser Ausschluß mag für viele Sprachen gerechtfertigt sein; für andere wie z. B. das Spanische ist er aber voreilig. ( 48 ) 837 Getreu seiner vereinfachenden Darstellungsweise hat F. de Saussure es nicht für nötig erachtet, die gleiche Unterscheidung bei der Klasse A zu machen, und dies trotz der großen Bedeutung der beiden Serien K 1 und K 2 im Indogermanischen. Dieser Verzicht ist gewollt. (Ed.) 49 Graphik nach E NGLER 1968: 118. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 89 836 þ = englisch th in thing đ = englisch th in the (king) 50 s = französisch s in si z = französisch s in rose š = französisch ch in chant ž = französisch g in génie χ’ = deutsch ch in ich 51 γ’ = norddeutsch g in liegen χ = deutsch ch in Bach γ = norddeutsch g in Tage 838 Gibt es unter den Frikativen etwas, das dem n, dem m, dem ń bei den Okklusiven entspricht, d. h. ein nasales v, ein nasales z, usw.? 839 Das kann man sich leicht vorstellen; so hört man z. B. ein nasales v in frz. inventer; aber im allgemeinen ist der frikative Nasal kein im Sprachbewußtsein verankerter Laut. 840 C. - Öffnungsgrad 2: Nasale (cf. oben, 829). 841 D. - Öffnungsgrad 3: 842 Liquide. 843 Zwei Artikulationsarten gehören zu dieser Klasse: 844 1) Die laterale Artikulation: Die Zunge berührt den vorderen Teil des Gaumens, läßt aber rechts und links eine Öffnung; diese Konstellation wird in unseren Formeln mit l bezeichnet. 845 Je nach dem Artikulationsort unterscheidet man ein dentales l, ein palatales oder mouilliertes ľ und ein gutturales oder velares ł . 846 Fast in allen Sprachen sind diese Phoneme 847 in gleicher Weise stimmhaft wie b, z usw. 848 Gleichwohl ist eine stimmlose Realisierung nicht unmöglich; sie existiert sogar im Französischen, wo ein l nach einem stimmlosen Konsonanten ohne den Laryngalton ausgesprochen wird (z. B. in pluie im Gegensatz zu bleu); 849 aber uns fehlt das Bewußtsein dieses Unterschieds. 50 2. Aufl. then. 51 2. Aufl. x' anstelle von χ '. 90 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 850 Es ist nicht nötig, auf das nasale l einzugehen, da es sehr selten ist und nicht ausdifferenziert wird; gleichwohl existiert es, v. a. nach einem Nasal (z. B. in frz. branlant). 851 2) Die Vibrationsartikulation: die Zunge nähert sich dem Palatum weniger stark an als bei l, aber sie vibriert, übrigens mit einer variablen Anzahl von Zungenschlägen (Zeichen v in unseren Formeln); dadurch erzielt man einen Öffnungsgrad, der demjenigen der Laterallaute entspricht. 852 Diese Vibration kann auf zwei unterschiedliche Weisen erzielt werden: vorn, mit der Zungenspitze, die die Alveolen berührt (das sogenannte «gerollte» r des Französischen), oder hinten, mit dem hinteren Teil der Zunge (Zäpfchen-r). 853 Hinsichtlich der stimmlosen und der nasalisierten Vibranten kann man das Gleiche sagen wie bezüglich der Laterallaute. 52 854 855 Nach dem Öffnungsgrad 3 betreten wir einen anderen Bereich: 856 Wir gehen von den Konsonanten zu den Vokalen über. 857 Bis jetzt haben wir diese Unterscheidung noch nicht angesprochen, 858 denn der Phonationsprozeß bleibt der gleiche. Die Formel für einen Vokal ist in jeder Hinsicht mit derjenigen für einen stimmhaften Konsonanten vergleichbar. 859 Hinsichtlich der Mundraumartikulation erübrigt sich jede Unterscheidung. 860 Einzig der auditive Effekt ist ein anderer. 861 Nach dem Überschreiten eines gewissen Öffnungsgrades funktioniert der Mundraum in erster Linie als Resonanzkörper. 862 Der Klang des Laryngaltons kommt voll zum Tragen und die Mundraumgeräusche schwinden. Je mehr der Mund sich schließt, umso stärker wird der Laryngalton gedämpft; je mehr er sich öffnet, umso stärker veringern sich die Geräusche. Dies hat zur Folge, daß bei den Vokalen der Ton - auf vollkommen mechanische Weise - dominiert. 863 E. - Öffnungsgrad 4: i u ü. 864 Anders als die übrigen Vokale weisen diese Laute noch einen beachtlichen Schließungsgrad auf, der nahe bei demjenigen der Konsonanten liegt. 385 Dies führt zu Konsequenzen, die sich später verdeutlichen werden und die den Namen Halbvokale, den man im allgemeinen diesen Phonemen gibt, rechtfertigen. 366 i wird mit gespreizten Lippen (Zeichen - ) mit einer vorderen Artikulation, u mit gerundeten Lippen (Zeichen 0 ) mit einer hinteren Artikulation, ü mit der Lippenstellung von u und der Artikulation von i ausgesprochen. 367 Wie alle Vokale kennen i u ü nasalisierte Formen; aber sie sind selten und wir können sie übergehen. 368 Es muß festgehalten werden, daß die Laute, die in der französischen Orthographie in und un geschrieben werden, anderer Natur sind (cf. unten). 869 Gibt es ein stimmloses i, d. h. eine Realisierung ohne Laryngalton? 870 Die gleiche Frage stellt sich für u und ü und für alle Vokale. Diese Laute, die den stimmlosen Konsonanten entsprechen würden, existieren, aber sie dürfen nicht mit den geflüsterten Vokalen verwechselt werden, die mit schlaffen Stimmbändern realisiert werden. 871 Man kann die stimmlosen Vokale mit den vor ihnen ausgesprochenen aspirierten h-Lauten gleichsetzen; so hört man in hi zuerst ein i ohne Vibration, dann ein normales i. 53 52 Graphik nach E NGLER 1968: 121. 53 Graphik nach E NGLER 1968: 123. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 91 872 873 F. - Öffnungsgrad 5: e o ö, deren Artikulation derjenigen von i bzw. u und ü entspricht. 874 Die nasalisierten Vokale sind häufig ( ẽ õ ö ̃ , z. B. in frz. pin, pont, brun). 875 Die stimmlosen Formen entsprechen dem aspirierten h von he ho hö). 876 N. B. - Viele Sprachen unterscheiden hier mehrere Öffnungsgrade; so hat das Französische mindestens zwei Reihen, die eine wird geschlossen genannt ẹ ọ ö ̣ (z. B. in dé, dos, deux), die andere heißt offen ę ǫ ö ̨ (z. B. in mer, mort, meurt). 54 877 878 G. - Öffnungsgrad 6: a, maximale Öffnung; 879 diese Artikulation kennt eine nasalisierte Form -, die in Wirklichkeit etwas geschlossener ist (z. B. in grand), sowie eine stimmlose Realisierung, das h in ha. 55, 68 * 880 54 Graphik nach E NGLER 1968: 124. 55 Graphik nach E NGLER 1968: 124. 92 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 881 Kapitel 2 Das Phonem in der Redekette 69 * 882 § 1. - Von der Notwendigkeit, die Laute in der Redekette zu untersuchen 70 * 883 Man findet in den speziellen Abhandlungen und vor allem in den Werken der englischen Phonetiker 56 minutiöse Untersuchungen der Sprachlaute. 71 * 884 Reichen sie aus, damit die Phonologie ihrer Aufgabe als Hilfswissenschaft der Linguistik Genüge tun kann? Die Masse der angehäuften Details hat für sich selbst genommen keinen Wert; allein ihre Synthese zählt. Der Linguist braucht keineswegs ein mit allen Wassern gewaschener Phonologe zu sein; 885 er möchte nur, daß man ihm eine gewisse Menge von Informationen liefert, die er für die Untersuchung der Sprache benötigt. 886 In einem Punkt ist die Methode dieser Phonologie besonders mangelhaft; 887 sie vergißt nur allzu oft, daß es in einer Sprache nicht nur Laute, sondern Folgen von gesprochenen Lauten gibt; sie richtet fast ihre ganze Aufmerksamkeit auf die isolierten Phoneme 57 . 888 Aber es sind nicht sie, die für uns zuerst einmal gegeben sind; vielmehr bietet sich die Silbe viel unmittelbarer an als die Laute, die sie ausmachen. 889 Wir haben gesehen, daß gewisse archaische Schriften auf den silbischen Einheiten basieren; erst später ist man zum Alphabetsystem übergegangen. 890 Überdies ist es nie die einfache Einheit, die in der Linguistik Probleme bereitet: Wenn z. B. zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Sprache jedes a zu o wird, so hat das keine Folgen; man kann sich darauf beschränken, das Phänomen festzustellen ohne zu versuchen, es phonologisch 58 zu erklären. 891 Die Wissenschaft von den Lauten wird erst bedeutsam, wenn zwei oder mehr Laute in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zueinander treten, denn es gibt eine Begrenzung der Variationsmöglichkeiten des einen in Abhängigkeit von der Variation des andern; nur schon das Vorhandensein von zwei Elementen schafft eine Beziehung und eine Regel, und das ist grundsätzlich verschieden von einer Tatsachenfeststellung. 892 Bei der Erforschung der phonologischen Prinzipien ist es somit widersinnig, wenn die Wissenschaft ihrer Vorliebe für die isolierten Laute folgt. 893 Es braucht nur zwei Phoneme, um bereits nicht mehr zu wissen, woran man ist. 894 So sind althochdeutsch hagl, balg, wagn, lang, donr, dorn später zu hagal, balg, wagan, lang, donnar, dorn geworden; in Abhängigkeit von der Natur und der Reihenfolge in der Gruppe ist somit das Resultat unterschiedlich: Das eine Mal entsteht ein Vokal zwischen zwei Konsonanten, das andere Mal bleibt die Gruppe kompakt. 895 Aber wie soll man das Gesetz formulieren? 896 Worauf beruht der Unterschied? Zweifellos auf den Konsonantengruppen (gl, lg, gn usw.), die in diesen Wörtern enthalten sind. 897 Es ist klar, daß sie aus einem Okklusiv und einem Liquid oder einem Nasal bestehen, der im einen Fall vorangeht, im anderen folgt; aber was ergibt sich daraus? 898 Solange man annimmt, g und n seien homogene Einheiten, kann man nicht verstehen, warum die Folge g-n andere Resultate zeitigen sollte als n-g. 899 Neben der Phonologie der Typen gibt es somit eine Wissenschaft, die von den binären Gruppen und der Abfolge der Phoneme ausgeht, und das ist etwas ganz anderes. 900 Bei der 56 Wir verwenden hier den Ausdruck Phonetiker, da er auch im CLG und in den Quellen steht; gemeint sind (in Saussures Terminologie) die Lautphysiologen. 57 Wir folgen hier (ebenso wie Engler und Lommel) dem Text der 1. Aufl. Der Text der 2. Aufl. wäre zu übersetzen mit: «sie widmet ihren gegenseitigen Beziehungen noch nicht genügend Aufmerksamkeit». 58 Hier wäre u. U. der Ausdruck phonetisch (im historischen Sinn Saussures) angemessen. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 93 Untersuchung der Einzellaute reicht es, die Stellung der Organe festzustellen; die auditive Qualität des Phonems steht nicht zur Debatte; sie wird durch das Ohr bestimmt. Was die Artikulation angeht, so ist man vollkommen 59 frei, sie nach eigenem Gutdünken zu gestalten. 901 Aber sobald es darum geht, zwei kombinierte Laute auszusprechen, sind die Dinge weniger einfach; man ist gezwungen, einem möglichen Unterschied zwischen angestrebtem und erzieltem Effekt Rechnung zu tragen; es steht nicht immer in unserer Macht, das auszusprechen, was wir aussprechen wollten. 902 Die Freiheit, phonologische Einheiten zu kombinieren, wird durch die eingeschränkte Verbindungsmöglichkeit der Artikulationsbewegungen begrenzt. 903 Um zu verstehen, was innerhalb der Gruppen passiert, muß eine Phonologie entwickelt werden, in der die Gruppen wie algebraische Gleichungen betrachtet werden; eine binäre Gruppe impliziert eine gewisse Zahl von mechanischen und auditiven Komponenten, die sich gegenseitig bedingen; wenn eine verändert wird, hat diese Veränderung notwendige Rückwirkungen auf die andern, die kalkulierbar sind. 904 Wenn etwas im Phänomen der Lautproduktion einen universalen Charakter hat, der allen räumlichen Unterschieden der Phoneme übergeordnet ist, dann ist es ohne jeden Zweifel diese regelhafte Mechanik, von der soeben die Rede war. 905 Daraus ergibt sich die Bedeutung der Gruppenphonologie für die allgemeine Sprachwissenschaft. 906 Während man sich normalerweise darauf beschränkt, die Regeln für die Artikulation aller Laute, aller variablen und akzidentellen Elemente der Sprachen zu formulieren, umschreibt diese kombinatorische Phonologie die Möglichkeiten der interdependenten Phoneme und legt ihre konstanten Relationen fest. 907 So führt der Fall von hagl, balg usw. (cf. 894ss.) zu der viel diskutierten Frage der indogermanischen Sonanten; und das ist gerade der Bereich, wo man am wenigsten auf eine derart konzipierte Phonologie verzichten kann, denn die Silbengliederung ist sozusagen der einzige Faktor, der in ihr vom Anfang bis zum Ende im Spiel ist. 908 Das ist nicht das einzige Problem, das mit dieser Methode zu lösen ist; aber eines ist sicher: Es ist praktisch unmöglich, das Problem der Sonanten zu diskutieren ohne eine genaue Kenntnis der Gesetze, die die Kombination von Phonemen regeln. 72 * 909 § 2. - Implosion und Explosion 73 * 910 Wir gehen von einer grundlegenden Beobachtung aus: 911 Wenn man eine Gruppe wie appa ausspricht, dann nimmt man einen Unterschied zwischen den beiden p wahr: Das erste entspricht einer Schließung, das zweite einer Öffnung. 912 Diese beiden Gehöreindrücke sind hinreichend ähnlich, daß man die Folge pp durch ein einziges p wiedergegeben hat (cf. 734 - 40 [=N(40)]). 913 Aber es ist gerade dieser Unterschied, der es uns erlaubt, 915 die beiden p von appa (a > p < pa) 914 mithilfe von Sonderzeichen ( > < ) 915 zu unterscheiden und sie [auch dort] entsprechend zu kennzeichnen, wo sie in der Redekette nicht direkt aufeinander folgen (cf. a > pta, at < pa) 60 . 916 Die gleiche Unterscheidung kann man auch jenseits der Okklusiven machen 917 und sie auf die Frikativen (a > f < fa), die Nasale (a > m < ma), auf die Liquide (a > l < la) übertragen, ja letztlich auf sämtliche Phoneme bis hin zu den Vokalen (a > o < oa usw., mit Ausnahme von a). 59 Sowohl der frz. Text als auch die (getreue) dt. Übersetzung sind nicht unproblematisch: Von «vollkommener Freiheit» kann nur in dem engen Rahmen die Rede sein, den die auditive Identifikation setzt. 60 Die kleinen Pfeilchen müßten eigentlich über den entsprechenden Phonemen/ Lauten stehen. Dies ist mit den uns zur Verfügung stehenden technischen Mitteln nicht möglich, weshalb wir sie vor das jeweilige Zeichen setzen. 94 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 918 Man hat die Schließung Implosion, die Öffnung Explosion genannt; ein p heißt implosiv ( > p) oder explosiv ( < p). 919 Im gleichen Sinne kann man von schließenden und öffnenden Lauten sprechen. 920 Zweifellos kann man in einer Gruppe wie appa neben der Implosion und der Explosion auch eine Ruhezeit feststellen, während der der Verschluß ad libitum andauert; 921 und wenn es sich um ein Phonem von größerem Öffnungsgrad handelt wie in der Gruppe alla, ist es die Hervorbringung des Lautes selbst, die sich während der Unbeweglichkeit der Organe fortsetzt. 922 Ganz allgemein gibt es in jeder Redekette solche Zwischenphasen, die wir Halte- oder Ruhephasen nennen. 923 Aber sie können den implosiven Artikulationen zugerechnet werden, 924 denn ihr Effekt ist der gleiche; 925 im Folgenden tragen wir nur den Implosionen und den Explosionen Rechnung ( 61 ). 932 Diese Methode, die in einer umfassenden Abhandlung der Phonologie 62 nicht statthaft wäre, ist in einer Darstellung durchaus gerechtfertigt, die versucht, das Phänomen der Silbenbildung in seinen wesentlichen Zügen in einem möglichst einfachen Schema zu erfassen. Wir beanspruchen nicht, auf diese Weise alle Schwierigkeiten zu lösen, die die Silbengliederung der Redekette aufwirft, aber wir hoffen, wenigstens eine rationale Basis für die Untersuchung des Problems zu liefern. 933 Noch eine Bemerkung. Man darf die Schließungs- und Öffnungsbewegungen, die für die Lautemission nötig sind, nicht mit den verschiedenen Öffnungsgraden dieser Laute verwechseln. 934 Jedes Phonem kann sowohl implosiv als auch explosiv sein; 935 aber es trifft zu, daß der Öffnungsgrad die Implosion und die Explosion beeinflußt, und zwar dergestalt, daß die Unterscheidung der beiden Bewegungen immer undeutlicher wird je größer der Öffnungsgrad des jeweiligen Lautes ist. 936 So ist der Unterschied bei i u ü noch deutlich wahrnehmbar; in a > i < ia ist es durchaus möglich, ein schließendes und ein öffnendes i zu erkennen; desgleichen unterscheidet man in a > u < ua, a > ü < üa den implosiven Laut deutlich vom nachfolgenden explosiven, und zwar dergestalt, daß die Schrift - entgegen ihrem sonstigen Verfahren - manchmal diesen Unterschied kennzeichnet; das englische w, das deutsche j und oft das französische y (in yeux usw.) stehen für öffnende Laute ( < u, < i) im Gegensatz zu u und i, die für > u und > i verwendet werden. 937 Aber beim nächsthöheren Öffnungsgrad (e und o) sind Implosion und Explosion, die zwar theoretisch konzipierbar bleiben (cf. a > e < ea, a > o < oa), in der Praxis kaum mehr zu unterscheiden. 938 Beim höchsten Öffnungsgrad schließlich, bei a, gibt es - wie wir gesehen haben - weder Implosion noch Explosion, denn die extreme Öffnung dieses Lautes verwischt jeden Unterschied dieser Art. 939 Wir müssen somit unser Inventar der Phoneme (außer für a) doppeln, was folgende Liste der nicht weiter reduzierbaren Einheiten ergibt: ( 61 ) 926 Dies ist einer der diskutabelsten Punkte der Theorie. 927 Um möglichen Einwänden zuvorzukommen, kann man darauf hinweisen, daß jede Halteartikulation, wie z. B. diejenige eines f, das Resultat von zwei Kräften ist: 1. dem Druck der Luft gegen die Wandungen, die ihr entgegenstehen, und 2. dem Widerstand der Wandungen, die sich zusammenziehen um ein Gleichgewicht zu diesem Druck zu schaffen. 928 Die Haltephase ist somit nichts anderes als eine fortgesetzte Implosion. 929 Aus diesem Grunde produziert eine von einer Haltephase gefolgte Implosion über die ganze Dauer einen einheitlichen (auditiven] Effekt. 930 Aus diesem Grunde ist es nicht ungerechtfertigt, die beiden Artikulationsarten in einer mechanisch-auditiven Einheit zusammenzufassen. 931 Die Explosion dagegen steht in Opposition zur Verbindung der beiden: sie ist per definitionem eine Spannungslösung; cf. auch § 6. - Einheit 929: Wir folgen hier dem Text der 1. und 2. Aufl.; die 3. Aufl. hat anstelle von implosion irrtümlicherweise impulsion. 62 Phonologie ist hier im Rahmen von Saussures Terminologie als Phonetik (im heute üblichen Sinn) zu verstehen. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 95 > p < p, usw. > f < f, usw. > m < m, usw. > r < r, usw. > i < y, usw. > e < e, usw. a 940 Es liegt uns fern, die in der Schrift gebräuchlichen Unterscheidungen (y w) aufzugeben, wir behalten sie vielmehr feinsäuberlich bei; die Rechtfertigung dieses Standpunkts findet sich weiter unten in § 7. 941 Wir haben hiermit zum ersten Mal den abstraktiven Bereich verlassen; zum ersten Mal tauchen konkrete, nicht weiter zerlegbare Elemente auf, die einen Platz und ein Zeitsegment in der Redekette einnehmen; 942 man kann sagen, daß P nichts anderes war als eine abstrakte Einheit, die auf den gemeinsamen Zügen von > p und < p beruhte, denn nur diesen begegnet man in der Wirklichkeit, ebenso wie B P M 63 in einer abstraktiven Einheit zusammenführbar sind, den Labialen. 943 Man spricht von P wie man von einer zoologischen Gattung spricht; es gibt männliche und weibliche Exemplare, aber es gibt kein ideales Exemplar für die Gattung. 944 Es sind diese abstraktiven Einheiten, die wir bisher unterschieden und klassiert haben; aber es erwies sich als notwendig, weiter vorzudringen und bis zur konkreten Einheit vorzustoßen. 945 Es war ein großer Fehler der Phonologie, diese Abstraktionen als reale Einheiten zu betrachten ohne die Definition der Einheit genauer zu überprüfen. 946 Das griechische Alphabet hatte es geschafft, diese abstraktiven Elemente zu unterscheiden, und die Analyse, die das voraussetzt, war - wir haben es gesagt - eine beachtenswerte Leistung; aber die Analyse war gleichwohl unvollständig und machte auf einer betimmten Stufe halt. 947 In der Tat, was ist ein p ohne weitere Spezifikation? Betrachtet man es in der Zeit, als Glied der Redekette, so kann es weder spezifisch < p noch > p sein, und noch weniger > p < p, denn diese Gruppe ist eindeutig zerlegbar; und betrachtet man es losgelöst von Zeit und Redekette, dann ist es nichts weiter als ein Etwas ohne Eigenexistenz, mit dem man nichts anfangen kann. 948 Was ist für sich genommen eine Gruppe wie l + g? Zwei Abstraktionen können auch zusammen keinen Moment auf der Zeitachse ergeben. 949 Etwas ganz anderes ist es, wenn man von > l > k, von < l < k, von > l < k, von < l > k spricht und so wirkliche Redeelemente miteinander verbindet. 950 Es wird so deutlich, daß es nur zweier Elemente bedarf, um die traditionelle Phonologie in Schwierigkeiten zu stürzen, womit bewiesen ist, daß man nicht mit abstrakten phonologischen Einheiten arbeiten kann, wie sie es tut. 951 Man hat die Theorie vertreten, daß es in jedem einfachen Phonem in der Redekette, z. B. p in pa oder apa) nacheinander eine Implosion und eine Explosion gibt (a >< pa) 64 . 952 Zweifellos muß jeder Öffnung eine Schließung vorausgehen; 953 noch ein anderes Beispiel: Wenn ich > r < p artikuliere, muß ich nach der Verschlußbildung von r mit dem Halszäpfchen ein explosives r artikulieren, während sich an den Lippen der Verschluß für das p bildet. 954 Aber um diesen Einwand zu entkräften genügt es, unseren Standpunkt zu präzisieren. 955 In unserer Untersuchung des Phonationsaktes tragen wir nur den differentiellen Elementen Rechnung, die für das Ohr auffallen und in der Lage sind, eine Abgrenzung der auditiven Einheiten in der Redekette zu leisten. 956 Nur diese auditiv-motorischen Einheiten kommen in 63 Wir folgen hier der 2./ 3. Aufl. 64 Sowohl das Implosionsauch als das Explosionszeichen beziehen sich hier auf p. Die Darstellung in der ersten Auflage ist korrekt (ebenso wie die bei E NGLER 1968 einigermaßen korrekt ist), diejenige in der 2. und 3. Auflage dagegen irreführend. 96 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Betracht; 957 so ist die Artikulation des explosiven r, die diejenige des explosiven p 65 begleitet, für uns inexistent, denn sie produziert keinen wahrnehmbaren Laut, oder zumindest zählt sie nicht in der Phonemkette. 958 Dies ist ein wesentlicher Punkt, den man verinnerlicht haben muß, um die folgenden Ausführungen zu verstehen. 959 § 3. - Die verschiedenen Kombinationen von Explosion und Implosion in der Redekette 960 Sehen wir nun, was die Abfolge von Explosionen und Implosionen in den vier theoretisch möglichen Konstellationen für Konsequenzen hat: 1. < > , 2. > < , 3. < < , 4. > > . 961 1. Explosiv-implosive Gruppe ( < > ). Man kann immer und ohne die Redekette zu unterbrechen zwei Phoneme miteinander verbinden, von denen das eine explosiv und das andere implosiv ist. Beispielsweise: < k > r, < k > i, < y > m, usw. (cf. Sanskrit < k > rta-, französisch < k > it ẹ ‘ quitter ’ , indogermanisch < y > mto-, usw.). 962 Es liegt auf der Hand, daß gewisse Kombinationen wie z. B. < k > t usw. keinen auditiven Effekt bewirken, der eine Realisierung in der Praxis nahelegen würde, aber das bedeutet nicht, daß nach der Artikulation eines öffnenden k die Organe nicht in der nötigen Position wären, um an irgend einem Punkt zu einer Schließung überzugehen. Diese beiden Phonationsphasen können aufeinander folgen ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen. 963 2. Implosiv-explosive Gruppe ( > < ). Unter den gleichen Bedingungen und mit den gleichen Einschränkungen gibt es kein Hindernis, zwei Phoneme miteinander zu verbinden, von denen das erst implosiv und das zweite explosiv ist; so z. B. > i < m, > k < t, usw. (cf. griechisch haîma, französisch actif usw.). 964 Es besteht kein Zweifel, daß die beiden Artikulationsmomente nicht so natürlich aufeinander folgen wie im vorhergehenden Fall. 965 Der Unterschied zwischen einer Implosion an erster Stelle und einer Explosion an erster Stelle ist der, daß die Explosion, die zu einer neutralen Mundstellung tendiert, den nachfolgenden Moment in keiner Weise präjudiziert, während die Implosion eine spezifische Stellung schafft, die nicht als Ausgangspunkt für jede beliebige Explosion dienen kann. 966 Es braucht deshalb immer eine gewisse Anpassungsbewegung, die dazu dient, die erforderliche Organstellung für die Artikulation des zweiten Phonems einzunehmen; so müssen z. B. während der Ausführung des s in einer Gruppe > s < p die Lippen geschlossen werden, um das explosive p vorzubereiten. 967 Aber die Erfahrung zeigt, daß diese Anpassungsbewegung nichts Erhebliches zur Folge hat außer einem dieser flüchtigen Laute, denen wir nicht Rechnung zu tragen brauchen und die in keinem Fall die Lautabfolge in der Kette beeinträchtigen. 968 3. Explosive Kette ( < < ). Es ist möglich, zwei Explosionen nacheinander zu produzieren; 969 aber wenn die zweite ein Phonem von einem geringeren oder bestenfalls gleichen Öffnungsgrad betrifft, hat man nicht den auditiven Eindruck einer Einheit, wie wir ihn im umgekehrten Fall finden und den auch die beiden vorhergehenden Fälle zeigten. < p < k läßt sich aussprechen ( < p < ka), aber diese Laute bilden keine Kette, weil die Typen P und K den gleichen Öffnungsgrad aufweisen. 970 Man erhielte diese unnatürliche Aussprache etwa dann, wenn man die Artikulation nach dem ersten a von cha- < p < ka abbrechen würde ( 66 ). 971 Im Gegensatz dazu macht < p < r einen Eindruck von Kontinuität (cf. prix); auch < r < y bereitet keine Schwierigkeiten (cf. rien). 972 Warum? Weil im Moment der ersten Explosion die Organe die für die Ausführung der zweiten Explosion notwendige Position bereits einnehmen 65 Ich folge hier der 3. Aufl. ( 66 ) 975 Es ist unbestritten, daß gewisse Gruppen dieser Kategorie in gewissen Sprachen durchaus gebräuchlich sind (z. B. anlautendes kt im Griechischen; cf. ktein ō ); obwohl leicht auszusprechen, bilden sie aber keine auditive Einheit (cf. die folgende N). (Ed.) 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 97 konnten ohne den auditiven Effekt der ersten zu beeinträchtigen; während man z. B. in prix das p ausspricht, befinden sich die Organe bereits in der Stellung für r. 973 Aber es ist unmöglich, die umgekehrte Abfolge < r < p als kontinuierliche Kette zu realisieren; nicht etwa, daß es mechanisch unmöglich wäre, die Position von < p zur gleichen Zeit einzunehmen, zu der man das öffnende < r artikuliert, sondern weil die Bewegung dieses < r, das auf den geringeren Öffnungsgrad von < p trifft, nicht wahrgenommen werden kann. 974 Wenn man also < r < p hörbar machen will, muß man hierfür zweimal ansetzen, was zur Folge hat, daß die Emission unterbrochen wird. 976 Eine kontinuierliche Explosivkette kann mehr als zwei Elemente umfassen unter der Voraussetzung, daß man jedesmal von einem geringeren zu einem größeren Öffnungsgrad vorrückt (z. B. < k < r < wa). 977 Wenn man von gewissen Sonderfällen absieht, auf die wir hier nicht eingehen können ( 67 ), kann man sagen, daß die Zahl der möglichen [direkt aufeinander folgenden] Explosionen ihre natürliche Begrenzung findet in der Zahl der Öffnungsgrade, die man in der Praxis unterscheiden kann. 983 4. Implosive Kette ( > > ) 74 * unterliegt dem gegenteiligen Gesetz. Solange ein Phonem offener ist als das folgende hat man den Eindruck von Kontinuität (z. B. > i > r, > r > t); wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, wenn das folgende Phonem offener oder von gleichem Öffnungsgrad ist wie das vorhergehende, bleibt die Realisierung zwar möglich, aber der Eindruck der Kontinuität fehlt: so eignet > s > r in > a > s > rta der gleiche Charakter wie der Gruppe < p < k 68 in cha-pka (cf. oben, 968 - 70). 984 Das Phänomen ist vollkommen parallel zu dem, das wir in der explosiven Kette gefunden haben: In > r > t hebt das > t die Explosion von > r wegen seines geringeren Öffnungsgrades auf; oder wenn man eine Kette nimmt, deren beide Phoneme nicht am gleichen Ort artikuliert werden, wie z. B. > r > m, so hebt das > m die Explosion von > r zwar nicht auf, aber - und das läuft auf das Gleiche hinaus - es überdeckt seine Explosion vollkommen aufgrund seiner geschlosseneren Artikulation. 985 Wenn nicht, so unterbricht die flüchtige, mechanisch unverzichtbare Explosion die Redekette wie beim umgekehrten Fall > m > r. 986 Man kann überdies feststellen, daß die implosive Kette, genau wie die explosive, mehr als zwei Elemente umfassen kann unter der Bedingung, daß jedes einen höheren Öffnungsgrad aufweist als das nachfolgende (cf. > a > r > s > t). 987 Wir lassen nun die Brüche in den Ketten beiseite und betrachten die normale, kontinuierliche Kette, die man «physiologisch» nennen könnte; sie findet sich z. B. im französischen Wort particulièrement bzw. [in Lautschrift] < p > a > r < t > i < k > ü < l < y > e > r < m > -. 988 Sie besteht aus einer Abfolge von abgestuften explosiven und implosiven Gliedern, die einer Sequenz von Öffnungen und Schliessungen der Mundorgane entsprechen. 989 Die so definierte normale Kette gibt zu den folgenden Feststellungen Anlaß, die von zentraler Bedeutung sind. ( 67 ) 978 Wir berücksichtigen hier - in gewollter Vereinfachung - nur den Öffnungsgrad des Phonems und ziehen weder den Artikulationsort noch den spezifischen Charakter der Artikulation in Betracht (ob es sich um einen stimmlosen oder einen stimmhaften Laut, eine Vibrante oder einen Lateral usw. handelt). 975 Die Schlußfolgerungen aufgrund des singulären Kriteriums des Öffnungsgrades können deshalb nicht ausnahmslos auf alle in der Realität vorkommenden Fälle übertragen werden. 980 So können in einer Gruppe wie trya die drei ersten Elemente kaum ohne Unterbrechung der Kette ausgesprochen werden: < t < r < y > a (es sei denn, das < y verschmelze mit dem < r, indem es dieses palatalisiert); gleichwohl bilden die drei Elemente try eine perfekte explosive Kette (cf. überdies 1072 bezüglich meurtrier usw.); im Gegensatz dazu bereitet trwa keine Schwierigkeiten. 981 Wir verweisen noch auf Ketten wie pmla usw., wo es sehr schwierig ist, den Nasal nicht auf implosive Art auszusprechen ( < p > m < l > a). 982 Diese Abweichungen treten v. a. bei der Explosion auf, die von Natur aus ein momentanes Phänomen ist, das keine Verzögerung duldet. (Ed.) 68 Ich behalte die Version der 1. Aufl. bei; die Korrektur zu > p > k in der 2. Aufl. ist ein Irrtum. 98 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 990 § 4. - Silbengrenze und vokalischer Punkt 991 Wenn man in einer Lautkette von einer Implosion zu einer Explosion übergeht ( > < ), entsteht ein besonderer Effekt, der das Merkmal einer Silbengrenze ist, z. B. in > i < k von particulièrement. 992 Diese regelmäßige Koinzidenz einer mechanischen Bedingung mit einem bestimmten auditiven Effekt verleiht der implosiv-explosiven Gruppe einen eigenen Status im phonologischen Bereich: Ihre Charakteristik bleibt immer die gleiche, gleichgültig auf welchen Lauttypen sie beruht; sie bildet eine Gattung, die ebenso viele Typen umfaßt wie es mögliche Phonemkombinationen gibt. 993 Die Silbengrenze kann unter bestimmten Bedingungen an verschiedenen Stellen ein und derselben Phonemfolge liegen, je nachdem ob man mehr oder weniger schnell von der Implosion zur Explosion übergeht. 994 So findet sich z. B. in ardra kein Bruch in der Kette, gleichgültig, ob man in > a > r < d < r > a oder in > a > r > d < r > a gliedert, denn > a > r > d, eine implosive Kette, ist ebenso gut abgestuft wie die explosive Kette < d < r. Ebenso verhält es sich bei ülye in particulièrement ( > ü < l < y > e oder > ü > l < y > e). 995 Als Zweites ist festzuhalten, daß an der Stelle, wo man von einer Ruhephase zu einer ersten Implosion übergeht ( > ), z. B. in > art von artiste, oder von einer Explosion zu einer Implosion ( < > ), wie z. B. in < p > art von particulièrement, der betreffende Implosivlaut sich von allen benachbarten Lauten durch einen spezifischen Effekt, 996 den Vokaleffekt, unterscheidet. Dieser hängt keineswegs vom größeren Öffnungsgrad des Lautes a ab, denn in < p > rt bewirkt > r ihn ebenso; 997 er ist ein Merkmal der ersten Implosion, unabhängig von ihrem phonologischen Typ, d. h. von ihrem Öffnungsgrad; es spielt auch keine Rolle, ob sie auf eine Pause oder eine Explosion folgt. Der Laut, der diesen Eindruck durch seinen Status als erste Implosive bewirkt, 998 kann vokalischer Punkt genannt werden. 999 Man hat dieser Einheit auch den Namen Sonante gegeben und alle vorhergehenden und nachfolgenden Laute Kon-Sonanten genannt. 1000 Die Termini Vokal und Konsonant bezeichnen, wie wir 855ss. gesehen haben, unterschiedliche Gattungen; Sonanten und Kon-Sonanten dagegen bezeichnen unterschiedliche Funktionen in der Silbe 69 . 1001 Diese doppelte Terminologie erlaubt es, eine Konfusion zu vermeiden, die lange Zeit üblich war. 1002 Der Typus I ist sowohl in fidèle als auch in pied der gleiche: Es handelt sich um einen Vokal; aber er ist Sonante in fidèle und Kon-Sonante in pied. Die Analyse zeigt, daß Sonanten immer implosiver Natur sind, die Kon-Sonanten dagegen können sowohl implosiv (z. B. > i in englisch bo > i, geschrieben boy) als auch explosiv sein (z. B. < y in französisch < p < y > e, geschrieben pied 70 ). Das bestätigt nur die zwischen den beiden Kategorien gemachte Unterscheidung. 1003 Es ist in der Tat richtig, daß e o a regelmäßig Sonanten sind; aber dies ist nichts weiter als eine Koinzidenz: Da sie einen größeren Öffnungsgrad aufweisen als alle anderen Laute, stehen sie immer am Anfang einer implosiven Kette. 1004 Umgekehrt sind die Okklusivlaute, die einen minimalen Öffnungsgrad aufweisen, immer Kon-Sonanten. 1005 In der Praxis sind es die Phoneme mit den Öffnungsgraden 2, 3 und 4 (Nasale, Liquide, Halbvokale), die sowohl die eine wie die andere Rolle spielen können, je nach ihrer Umgebung und der Art ihrer Artikulation. 75 * 69 Hier ergibt sich ein Übersetzungsproblem, denn sowohl fr. consonate als auch consonne müßte im Deutschen mit Konsonant übersetzt werden. Wir geben deshalb die silbischen Funktionen mit Sonant und Kon-Sonant wieder. - L OMMEL 1931: 67 s. führt an dieser Stelle einen längeren Exkurs zu silbisch/ unsilbisch in den Haupttext ein, der durch nichts in der Vulgata und in den Quellen gedeckt ist. 70 Es ist vollommen uneinsichtig, warum die Herausgeber bei boy in der Umschrift i, bei pied dagegen y verwenden; gestützt wird dies durch die Quelle (I.R 1.42) nicht. - Wir behalten trotz dieses Vorbehalts die Darstellung in den drei Ausgaben der Vulgata und bei E NGLER 1968 bei. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 99 1006 § 5. - Kritik der Silbentheorien 1007 Das Ohr nimmt in jeder Redekette die Gliederung in Silben wahr, und in jeder Silbe eine Sonante. 1008 Diese beiden Fakten sind bekannt, aber man kann sich fragen, welches ihre Existenzberechtigung ist. Man hat verschiedene Erklärungen vorgeschlagen: 1009 1. Da man festgestellt hat, daß gewisse Phoneme sonorer sind als andere, hat man versucht, die Silbe über die Sonorität der Phoneme zu begründen. 1010 Nur: Warum begründen dann hochsonore Phoneme wie i und u nicht zwingend eine Silbe? 1011 Und dann: Wo liegt die Grenze der Sonorität, wenn Frikative wie s den Silbenkern bilden können, z. B. in pst? 1012 Wenn es nur um die relative Sonorität von in direktem Kontakt stehenden Lauten geht, wie erklären sich dann Gruppen wie < w > l (z. B. indogermanisch *wlkos ‘ Wolf ’ ), wo es das am wenigsten sonore Element ist, das den Kern der Silbe ausmacht? 1012 2. Eduard Sievers hat als erster festgestellt, daß ein als Vokal klassierter Laut nicht zwingend den Eindruck eines Vokals macht (wir haben gesehen, daß z. B. y und w nichts anderes als i und u sind); aber wenn man fragt, was dieser Doppelfunktion oder diesem gedoppelten auditiven Effekt (denn ‘ Funktion ’ bedeutet nichts anderes) zugrunde liegt, erhält man zur Antwort: Ein bestimmter Laut hat eine bestimmte Funktion je nachdem er den «Silbenakzent» trägt oder nicht. 1014 Das ist nun aber eindeutig zirkulär: 1015 Entweder ich bin vollkommen frei, in allen Fällen den Silbenakzent, der die Sonanten begründet, nach Lust und Laune zu verteilen, aber dann gibt es keinen Grund, ihn «silbisch» und nicht einfach «sonantisch» zu nennen. Oder aber, wenn der Ausdruck «silbischer Akzent» Sinn machen soll, dann offensichtlich nur, wenn er auf den Gesetzen der Silbenbildung beruht. 1016 Nur: Man liefert uns diese Gesetze nicht, ja man gibt dieser sonantischen Qualität sogar den Namen silbenbildend, wie wenn ihrerseits die Silbenbildung von diesem Akzent abhängen würde. 1017 Es ist offensichtlich, worin sich unsere Methode von den beiden vorhergehenden unterscheidet: Durch die Analyse der Silbe, so wie sie uns in der Redekette entgegentritt, sind wir zu der nicht weiter reduzierbaren Einheit gekommen, dem öffnenden und dem schließenden Laut, und über die Kombination dieser Einheiten sind wir zur Definition der Silbengrenze und des vokalischen Punktes gelangt. 1018 Wir wissen von nun an, unter welchen physiologischen Bedingungen diese auditiven Effekte auftreten. 1019 Die oben kritisierten Theorien schlagen den umgekehrten Weg ein: Man nimmt isolierte phonologische Einheiten, und von diesen versucht man die Silbengrenze und den Platz der Sonante abzuleiten. 1020 Nimmt man nun eine beliebige Abfolge von Phonemen, so mag es eine Artikulationsart geben, die natürlicher oder bequemer ist als eine andere; aber die Möglichkeit, zwischen öffnenden und schließenden Artikulationen zu wählen, besteht in hohem Maße weiterhin, und von dieser Wahl, und nicht direkt von den phonologischen Typen, hängt letztlich die Silbengliederung ab. 1021 Sicherlich beantwortet diese Theorie nicht alle Fragen und löst nicht alle Probleme. 1022 So ist z. B. der häufig auftretende Hiatus nichts anderes als eine unterbrochene implosive Kette - je nachdem willentlich oder nicht: z. B. > i- > a (in il cria) oder > a- > i (in ébahi). 1023 Er tritt besonders leicht bei phonologischen Einheiten von großem Öffnungsgrad auf. 1024 Es gibt auch den Fall der unterbrochenen explosiven Ketten, die - obwohl nicht abgestuft - gleichberechtigt mit den normalen Gruppen in die Lautkette eintreten; wir haben diesen Fall 975 (N(66)) im Zusammenhang mit griechisch kteín ō angesprochen. 1025 Oder noch ein anderes Beispiel, die Gruppe pzta: Normalerweise kann sie nur < p > z < t > a ausgesprochen werden und muß somit zwei Silben umfassen; und sie hat sie in der Tat auch, wenn man den Laryngalton von z deutlich hörbar macht. Wenn aber das z entsonorisiert wird, da es eines der 100 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Phoneme ist, die nur eine geringe Öffnung verlangen, hat der Gegensatz zwischen z und a zur Folge, daß man nur noch eine Silbe wahrnimmt und so etwas wie < p < z < t > a hört. 1026 In allen Fällen dieser Art kann eine willentliche und absichtliche Intervention eine Veränderung bewirken, können die physiologischen Gegebenheiten umgedreht werden; es ist oft schwierig genau zu sagen, welches Gewicht jedem der beiden Faktoren zukommt. 1027 Aber wie dem auch immer sei, die Lautrealisierung setzt eine Abfolge von Implosionen und Explosionen voraus, und dies ist die Grundbedingung für die Silbenbildung. 1028 § 6. - Dauer der Implosion und der Explosion 1029 Wenn man die Silbe über das Spiel von Explosionen und Implosionen erklärt, gelangt man zwingend zu einer wichtigen Beobachtung, die nichts anderes als die Generalisierung einer metrischen Gegebenheit ist. 1030 Man unterscheidet in den griechischen und lateinischen Wörtern zwei Arten von Längen, die natürlichen (m ā ter) und die positionsbedingten (f ā ctus). 1031 Warum erscheint fac in factus als lang? Man antwortet: Wegen der Gruppe ct. 1032 Aber wenn dies durch die Gruppe an sich bedingt wäre, dann müßte jede beliebige Silbe, die mit zwei Konsonanten beginnt, von langer Quantität sein; dem ist aber nicht so (cf. cl ĭ ens usw.). 76 * 1033 Der wirkliche Grund ist, daß die Explosion 1034 und die Implosion sich grundlegend verschieden verhalten im Hinblick auf die Dauer. Die erste 1035 läuft immer so schnell ab, daß sie für das Ohr eine unfaßbare Größe bleibt; 1036 aus diesem Grunde kann sie nie einen vokalischen Eindruck machen. 1037 Nur die Implosion kann wahrgenommen werden; von daher der Eindruck, daß man länger auf dem Vokal verharrt, mit dem sie beginnt. 1038 Andererseits weiß man, daß die Vokale, die vor einer aus Okklusive oder Frikative + Liquid gebildeten Gruppe stehen, auf zwei unterschiedliche Weisen behandelt werden können: in patrem kann das a lang oder kurz sein, 1039 und das hängt vom gleichen Prinzip ab. In der Tat sind < t < r und > t < r gleichermaßen aussprechbar; 1040 bei der ersten Aussprache kann das a kurz bleiben; die zweite dagegen hat eine lange Silbe 71 zur Folge. 1041 Diese Doppelbehandlung des a ist in einem Wort wie factus nicht möglich, denn nur > c < t ist aussprechbar, nicht aber < c < t. 1042 § 7. - Die Phoneme des vierten Öffnungsgrades. Der Diphthong. Fragen der Graphie 1043 Schließlich geben auch die Phoneme des vierten Öffnungsgrades Anlaß zu einigen Bemerkungen. 1044 Wir haben 936, 940 gesehen, daß - anders als bei den andern Lauten - der Gebrauch eine doppelte Graphie sanktioniert hat (w = < u, u = > u; y = < i, i = > i). 1045 Dies rührt daher, daß man in Gruppen wie aiya, auwa den durch < und > gekennzeichneten Unterschied besser wahrnimmt als sonst irgendwo; > i und > u vermitteln eindeutig den Eindruck von Vokalen, < i und < u denjenigen von Konsonanten ( 72 ). 1046 Ohne eine Erklärung liefern zu wollen, stellen wir fest, daß konsonantisches i nie in schließender Form auftritt. 1047 So gibt es kein ai, dessen > i den gleichen Eindruck macht wie das y in aiya (man vergleiche englisch boy mit französische pied); es ist also aufgrund der Stellung, daß y ein Konsonant und i ein Vokal ist, denn diese Varianten der Gattung I können nicht überall gleichermaßen auftreten. 1048 Die gleichen Bemerkungen gelten für u und w, ü und ẅ . 71 Konsequenter wäre Vokal; aber Silbe der Vorlage läßt sich rechtfertigen. ( 72 ) 1049 Man darf diese Einheit des vierten Öffnungsgrades [ < i] nicht mit der «weichen« palatalen Frikativen (liegen im Norddeutschen) verwechseln. 1050 Dieser phonologische Typus gehört zu den Konsonanten und verfügt über alle konsonantischen Merkmale. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 101 1051 Dies bringt auch Licht in die Frage des Diphthongs. 1052 Es handelt sich hierbei um nichts anderes als um einen Sonderfall der implosiven Kette; die Gruppen > a > rta und > a > uta verlaufen vollkommen parallel; es gibt in ihnen nur einen Unterschied in bezug auf den Öffnungsgrad des zweiten Elements: Ein Diphthong ist eine implosive Kette von zwei Phonemen, von denen das zweite relativ offen ist, so daß ein spezieller auditiver Effekt entsteht; man könnte sagen, daß die Sonante sich im zweiten Element der Gruppe fortsetzt. 1053 Umgekehrt unterscheidet sich eine Gruppe wie < t < ya in nichts von einer Gruppe wie < t < ra, außer was den Öffnungsgrad des letzten Explosivlautes angeht. 1054 Das läuft darauf hinaus zu sagen, daß das, was die Phonologen steigende Diphthonge nennen, keine Diphthonge sind, sondern explosiv-implosive Gruppen, deren erstes Element relativ offen ist, aber ohne daß sich daraus aus auditiver Sicht irgend ein besonderer Effekt ergäbe ( < t < y > a). 1055 Was die Gruppen vom Typ > uo, > ia mit Akzent auf dem > u bzw. > i angeht, denen man in gewissen deutschen Dialekten begegnet (cf. buob, liab), so sind auch das nur falsche Diphthonge, die nicht den Eindruck einer Einheit machen wie > o > u, > a > i usw.; man kann > u > o nicht als Implosiv + Implosiv aussprechen, ohne die Kette aufzubrechen, es sei denn, ein Kunstgriff verleihe dieser Gruppe eine Einheit, die ihr von Natur aus nicht zukommt. 1056 Diese Definition des Diphthongs, die ihn auf das allgemeine Prinzip der implosiven Kette zurückführt, zeigt, daß er nicht etwas Abartiges ist, das keinen Platz unter den phonologischen Phänomenen hat. 1057 Es ist unnötig, dafür eine eigene Kategorie zu schaffen. 1058 Sein spezifischer Charakter ist in Wirklichkeit ohne Interesse und hat keine Bedeutung: Es ist nicht das Ende der Sonante, das es zu bestimmen gilt, sondern vielmehr ihren Anfang. 1059 Eduard Sievers 77 * und viele Linguisten unterscheiden in der Umschrift i, u, ü, r ̥ , n ̥ usw. und i ̯ , u ̯ , ü ̯ , r, n usw. (i ̯ = «unsilbisches» i, i = «silbisches» i), und sie schreiben mirta, mai ̯ rta, mi ̯ arta, während wir mirta, mairta, myarta schreiben. 1060 Da man festgestellt hatte, daß i und y zum gleichen phonologischen Typus gehören, wollte man vor allem das gleiche generische Zeichen verwenden (alles immer vor dem Hintergrund der Idee, daß die Lautkette aus aneinandergereihten Einheiten bestehe! ). 1061 Aber diese Notierung, die zwar auf dem Zeugnis des Ohres beruht, 1062 widerspricht dem gesunden Menschenverstand und verdeckt gerade die wesentliche Unterscheidung, die es festzuhalten gilt. 1063 Sie hat zur Folge, 1. daß man öffnendes i, u (= y, w) und schließendes i, u vermischt; man kann so z. B. keinen Unterschied zwischen newo und neuo machen; 2. daß man umgekehrt schließendes i, u gewissermaßen zweiteilt (cf. mirta und mairta). 1064 Hier einige Beispiele für die Mängel dieser Umschrift. Nehmen wir altgriechisch dwís und dusí, und andererseits rhéw ō und rheûma: Diese beiden Oppositionen entstehen unter den genau gleichen phonologischen Bedingungen und werden normalerweise durch die gleiche graphische Opposition wiedergegeben: Je nachdem ob auf u ein offeneres oder weniger offenes Phonem folgt, wird es als öffnend (w) oder schließend (u) notiert. Wenn man aber du ̯ is, dusi, rheu ̯ ō , rheu ̯ ma schreibt, ist alles verwischt. 1065 Ebenso sind im Indogermanischen die beiden Reihen m ā ter, m ā trai, m ā teres, m ā trsu und s ū neu, s ū newai, s ū newes, s ū nusu vollkommen parallel was die unterschiedliche Behandlung von r einerseits, u andererseits angeht. In der zweiten tritt wenigstens die Opposition von Implosion und Explosion in der Schrift deutlich zutage, während er in der hier kritisierten Umschrift (s ū neu ̯ , s ū neu ̯ ai, s ū neu ̯ es, s ū nusu) verdunkelt wird. 1066 Nicht nur sollte man die gebräuchlichen Unterscheidungen zwischen öffnenden und schließenden Lauten beibehalten (u : w usw.), man sollte diese vielmehr auf das ganze System ausdehnen und z. B. m ā ter, m ā t ρ ai, m ā te ρ es, m ā trsu schreiben; dann würde die Silbenstruktur deutlich hervortreten; die vokalischen Punkte und die Silbengrenzen würden sich von selbst ergeben. 102 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1067 Anmerkung der Herausgeber. - Diese Theorien erhellen verschiedene Probleme, von denen F. de Saussure in seinen Vorlesungen einige behandelt hat. Wir geben dafür einige Beispiele. 1068 1. Eduard Sievers zitiert beritn ̥ nn ̥ n (deutsch berittenen) als typisches Beispiel dafür, daß der gleiche Laut alternativ zweimal die Funktion einer Sonante und zweimal die eines Konsonanten haben kann (in Wirklichkeit hat er nur einmal konsonantische Funktion und es ist beritn ̥ nn ̥ zu schreiben; aber das ist unwichtig). 1069 Kein Beispiel ist schlagender um zu zeigen, daß Laut und Typ nicht synonym sind. 1070 Wenn man auf dem gleichen n verharren würde, d. h. auf der Implosion und der Haltephase, erhielte man in der Tat nur eine einzige lange Silbe. 1071 Um einen Wechsel zwischen sonatischem und kon-sonatischem n zu schaffen, muß man auf die Implosion (erstes n) eine Explosion (zweites n) folgen lassen, und dann die Implosion wieder aufnehmen (drittes n). Weil den beiden Implosionen keine weitere vorangeht, haben sie sonantischen Charakter. 1072 2. In den französischen Wörtern vom Typus meurtrier, ouvrier usw. bildeten die Endungen -trier, -vrier ursprünglich nur eine einzige Silbe (ganz unabhängig von ihrer Aussprache, cf. 980 [N(67)]). 1073 Später ist man dazu übergegangen, sie zweisilbig auszusprechen (meur-tri-er, mit oder ohne Hiatus, d. h. - < t < r > i > e oder - < t < r > i < y > e). 1074 Die Veränderung ist realisiert worden nicht indem man einen «Silbenakzent» auf das Element i gesetzt hat, sondern durch die Umwandlung der explosiven in eine implosive Artikulation. 1075 Das Volk sagt ouvérier anstelle von ouvrier: ein durchaus vergleichbares Phänomen, nur ist es in diesem Fall das zweite Element statt des dritten, dessen Artikulation sich verändert und das zur Sonante wird: uv < r < y > e → uv > r < y > e. 1076 Später hat sich ein e vor dem sonantischen r entwickelt. 1077 3. Wir erwähnen weiter den bekannten Fall des prothetischen Vokals vor von einem Konsonanten gefolgtem s im Französischen: lateinisch sc ū tum → isc ū tum → französisch escu, écu. Die Gruppe < s < k ist eine gebrochene Kette, wie wir 968ss. gesehen haben; > s < k ist natürlicher. 1078 Aber dieses implosive s muß den vokalischen Punkt bilden, wenn es sich am Anfang der Sequenz befindet oder das vorhergehende Wort mit einem Konsonanten von geringem Öffnungsgrad endet. Das prothetische i bzw. e leistet nichts weiter als diese sonantische Qualität zu unterstreichen; jeder wenig auffällige phonologische Zug hat die Tendenz, übertrieben markiert zu werden, wenn es darum geht, ihn zu bewahren. 1079 Wir finden die gleiche Erscheinung im Fall von esclandre und in den volkstümlichen Aussprachen esquelette, estatue. Und wir begegnen ihr erneut in der vulgären Aussprache der Präposition de, die man ed transkribiert: un œ il ed tanche. Durch eine Synkope ist de tanche zu d ’ tanche geworden; aber um in dieser Position wahrnehmbar zu bleiben, muß das d implosiv sein: > d < tanche, und dann entwickelt sich vor ihm ein Vokal wie in den vorhergehenden Fällen. 1080 4. Es ist kaum nötig auf die Frage der indogermanischen Sonanten zurückzukommen und sich z. B. zu fragen, warum althochdeutsch hagl zu hagal geworden ist, während balg keine Veränderung erfahren hat. Das l dieses letzten Wortes, zweites Element einer implosiven Kette (b > a > l > g), funktioniert als Kon-Sonante und es gibt keinen Anlaß zu einem Funktionswechsel. Dagegen kam dem ebenfalls implosiven l von hagl die Rolle des vokalischen Punktes zu. 1081 Als Sonante konnte es vor sich einen Vokal von größerer Öffnung entwickeln (ein a, wenn man dem Zeugnis der Graphie glauben darf). Allerdings hat er sich im Laufe der Zeit abgeschwächt, denn heute spricht man Hagel von neuem h > a < g > l aus. Es ist übrigens genau dies, was den Unterschied in der Aussprache dieses Wortes und derjenigen von französisch aigle ausmacht; das l ist implosiv im germanischen Wort und explosiv im französischen, wo ihm ein «stummes» finales e folgt ( > e < g < l ə ). 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 103 1082 Erster Teil: Allgemeine Prinzipien 1083 Kapitel 1 Die Natur des sprachlichen Zeichens 78 * 1084 § 1. - Zeichen, Signifikant, Signifikat 1085 Für gewisse Leute ist die Sprache von ihrem Wesen her nichts weiter als eine Nomenklatur, 1086 d. h. eine Liste von Termini, die ebenso vielen Dingen entsprechen. 79 * 1087 Zum Beispiel: 1088 Diese Auffassung ist in mancherlei Hinsicht anfechtbar. 1089 Sie setzt vorgefertigte Ideen voraus, die schon vor den Wörtern existieren (cf. hierzu weiter unten, 1819ss.); 1090 sie sagt uns nicht, ob der Name lautlicher [d. h. physischer] oder psychischer Natur ist, denn arbor kann sowohl das eine als auch das andere sein; 1091 überdies suggeriert sie, daß die Verbindung zwischen dem Namen und der Sache eine ganz einfache Angelegenheit sei, was weit davon entfernt ist zuzutreffen. 1092 Dennoch kann uns diese simplizistische Sicht der Wahrheit näherbringen, 1093 denn sie zeigt uns, daß die sprachliche Einheit etwas Zweiseitiges ist, das auf der Inbezugsetzung von zwei Elementen beruht. 1094 Wir haben 198ss. im Zusammenhang mit dem Redekreislauf gesehen, daß beide Elemente, die das sprachliche Zeichen ausmachen, psychischer Natur sind und in unserem Hirn durch das assoziative Band miteinander verknüpft sind. Wir wollen nun diesen Aspekt vertiefen. 1095 Das sprachliche Zeichen verbindet nicht eine Sache und einen Namen miteinander, sondern ein Konzept und ein Lautbild ( 73 ) 80 *. 1096 Das letztere ist nicht etwa der materielle ( 73 ) 1097 Der Ausdruck Lautbild [oder akustisches [d. h. auditives] Abbild] mag vielleicht als allzu eng erscheinen, denn neben der Darstellung der Laute eines Wortes gibt es auch noch diejenige seiner Artikulation, das Abbild der Muskelbewegungen beim Lautgebungsakt. 1098 Aber für Ferdinand de Saussure ist das Sprachsystem vor allem eine Ablage, etwas von außen Empfangenes (cf. 229ss.). Das Lautbild ist vor allem die natürliche Wiedergabe des Wortes qua Gegebenheit der virtuellen Sprache, ungeachtet jeder Realisation in der Rede. 1099 Der motorische Aspekt kann somit als stillschweigend 104 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Laut, der rein physischen Charakter hat, sondern der psychische Abdruck dieses Lautes, die Darstellung, die uns das Zeugnis unserer Sinne liefert; es ist sensorischer Natur, und wenn wir es manchmal «materiell» nennen, so nur in diesem Sinne und im Gegensatz zum andern Element dieser assoziativen Verbindung, dem Konzept, das allgemein abstrakter ist. 81 * 1100 Der psychische Charakter unserer Lautbilder wird gut sichtbar, wenn wir unsere eigene Sprache beobachten. 1101 Ohne die Lippen oder die Zunge zu bewegen, können wir mit uns selbst sprechen oder uns rein mental einen Verstext rezitieren. 1102 Gerade weil die Wörter unserer Sprache Lautbilder sind, sollte man nicht von den «Phonemen» sprechen, aus denen sie bestehen 74 . 1104 Dieser Ausdruck impliziert die Idee einer lautgebenden Aktivität und verträgt sich nur mit dem gesprochenen Wort, mit der Realisierung des inneren Abbildes in der Rede. 1105 Wenn man von den Lauten und den Silben eines Wortes spricht, vermeidet man dieses Mißverständnis, vorausgesetzt man vergißt nicht, daß es sich um das Lautbild handelt 75 . 1106 Das sprachliche Zeichen ist somit eine zweiseitige psychische Einheit, die graphisch folgendermaßen dargestellt werden kann: 76 1107 1108 Diese beiden Elemente sind auf das engste miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. 1109 Gleichgültig, ob wir nun die Bedeutung von lateinisch arbor suchen oder das Wort, durch das das Lateinische das Konzept ‘ Baum ’ wiedergibt, es ist klar, daß nur die Verbindungen 77 1110 miteingeschlossen angesehen werden oder auf jeden Fall als nur eine untergeordnete Stellung gegenüber dem Lautbild einnehmend. (Ed.) 74 Wir haben es hier mit einer außerordentlich problematischen Passage zu tun und geben nur unter Vorbehalt phonème mit Phonem wieder; der Text der Vulgata ist aber im wesentlichen durch die Quellen gesichert; Saussure verwendet Phonem hier im Sinne von Phonie = konkreter Laut; zur Doppeldeutigkeit von Phonem cf. auch E NGLER 1968 b s. v. 75 Inwiefern son und syllabe in diesem Zusammenhang geeignetere Ausdrücke sein sollen als phonème, ist nicht ersichtlich; entsprechend problematisch ist die Übersetzung mit Laut und Silbe. Aber auch hier ist der Vulgatatext durch die Quellen gesichert. 76 concept = Konzept; image acoustique = Lautbild. 77 arbre = Baum. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 105 1110 a uns als realitätskonform erscheinen, und wir verwerfen jede andere Verbindung, die man sich noch vorstellen könnte. 1111 Diese Definition wirft ein wichtiges terminologisches Problem auf. 1112 Wir nennen die Verbindung von Konzpt und Lautbild ein Zeichen; 1113 aber im alltäglichen Gebrauch bezeichnet dieser Ausdruck in der Regel das Lautbild für sich allein, z. B. ein Wort (arbor usw.). 1114 Man vergißt dabei, daß, wenn arbor Zeichen genannt wird, dies nur insofern richtig ist, als es Träger des Konzeptes ‘ Baum ’ ist; die Vorstellung des sensorischen Teils schließt somit diejenige des Ganzen mit ein. 1115 Die Ambiguität würde verschwinden, wenn man die drei involvierten Begriffe mit Namen belegen würde, die sich gegenseitig evozieren und gleichwohl zueinander in Opposition stehen. 1116 Wir schlagen vor, das Wort Zeichen (signum, signe) für die Bezeichnung des Ganzen beizubehalten, 1117 und Konzept und Lautbild durch Signifikat (signifié) bzw. Signifikant (signifiant) zu ersetzen 78 . 1118 Die beiden letzten Ausdrücke haben den Vorteil, sowohl die Opposition, die sie voneinander trennt, als auch den Gegensatz hinsichtlich des Ganzen, von dem sie ein Teil sind, zu kennzeichnen. 1119 Was Zeichen (signe) angeht, so geben wir uns damit zufrieden, denn es gibt nichts in der gängigen Sprache, wodurch wir es ersetzen könnten. 82 * 1120 Das so definierte sprachliche Zeichen hat zwei herausragende Charakteristika. Indem wir sie diskutieren, legen wir auch die Prinzipien für jede Untersuchung dieser Art fest. 1121 § 2. - Erstes Prinzip: die Arbitrarität des Zeichens 83 * 1122 Das Band zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat ist arbiträr, und weil wir unter einem Zeichen die Gesamtheit dessen verstehen, was sich aus der Assoziation eines Signifikanten und eines Signifikats ergibt, können wir auch einfach sagen: 1123 Das sprachliche Zeichen ist arbiträr. 1124 Die Idee von ‘ s œ ur ’ ( ‘ Schwester ’ ) ist durch keine innere Beziehung an die Lautfolge s-ö-r gebunden, die ihr als Signifkant dient; sie könnte auch durch irgendeine andere wiedergegeben werden; das beweisen schon die Unterschiede zwischen den Sprachen und selbst die Existenz von verschiedenen Sprachen: Das Signifikat ‘ b œ uf ’ ( ‘ Ochse ’ ) hat auf der einen Seite der Sprachgrenze b-ö-f zum Signifikanten, auf der anderen o-k-s. 1125 Das Prinzip der Arbitrarität des Zeichens wird von niemandem bestritten; aber es ist oft leichter, eine Wahrheit zu entdecken, als ihr den ihr gebührenden Platz zuzuweisen. 1126 Das oben vorgestellte Prinzip dominiert die ganze Linguistik des Sprachsystems; 1127 seine Konsequenzen sind endlos. Es trifft zu, daß sich nicht alle auf den ersten Blick mit gleicher Deutlichkeit offenbaren; oft entdeckt man sie erst nach langen Umwegen und mit ihnen die herausragende Bedeutung des Prinzips. 1128 Eine Bemerkung nebenbei: Wenn die Semiologie etabliert sein wird, wird sie sich fragen müssen, ob die auf vollkommen natürlichen Zeichen beruhenden Ausdrucksweisen - wie z. B. die Pantomime - 1129 ihr zuzurechnen sind. Angenommen, sie integriert sie, so wird ihr primäres Untersuchungsobjekt gleichwohl die Gesamtheit der auf der Arbitrarität des Zeichens beruhenden Systeme sein. 1130 Denn tatsächlich gründet jedes von einer Gesellschaft akzeptierte Ausdrucksmittel im Prinzip auf einer kollektiven Gewohnheit oder - was auf das Gleiche hinausläuft - auf einer Konvention. 1131 Die Zeichen der Höflichkeit, denen oft eine gewisse natürliche Expressivität eignet (man denke nur an den Chinesen, der seinen Kaiser 78 Der von Saussure angestrebte Dreiklang signe - signifié - signifiant läßt sich in der Übersetzung leider nicht aufrecht erhalten, es sei denn, man würde für Zeichen auf den kruden Latinismus Signum zurückgreifen. 106 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft begrüßt, indem er sich neunmal auf die Erde wirft), sind deswegen nicht weniger durch eine Regel bestimmt. 1132 Es ist diese Regel, die ihre Anwendung erzwingt, nicht der ihnen innewohnende Wert. 1133 Man kann deshalb sagen, daß die vollkommen arbiträren Zeichen das Ideal der Semiologie besser realisieren als die andern; deshalb ist auch die Sprache, das komplexeste und verbreitetste aller Ausdruckssysteme, das charakteristischste von allen; 1134 in diesem Sinne kann die Linguistik das allgemeine Muster jeder Semiologie abgeben, obwohl die Sprache nur eines unter ihren verschiedenen Systemen ist. 1135 Man hat das Wort Symbol für das sprachliche Zeichen verwendet, oder genauer für das, was wir den Signifikanten nennen. 1136 Es ist schwierig, dies zu akzeptieren, und zwar gerade wegen unseres ersten Prinzips. 1137 Das Symbol ist dadurch gekennzeichnet, daß es nie vollkommen arbiträr ist; es ist nicht leer, es gibt immer den Rest eines natürlichen Bandes zwischen Signifikant und Signifikat. 1138 Das Symbol für die Justiz, die Waage, könnte nicht durch irgendetwas anderes, z. B. einen Wagen, ersetzt werden. 84 * 1139 Auch das Wort arbiträr erfordert eine Bemerkung. 1140 Es darf nicht zu der Auffassung verleiten, der Signifikant unterliege der freien Wahl des Sprechers ( 1141 wir werden weiter unten sehen, daß es nicht in der Macht des Individuums liegt, irgendetwas an einem Zeichen zu ändern, das sich einmal in einer Sprachgemeinschaft etabliert hat); 1142 wir wollen damit sagen, daß er unmotiviert ist, 1143 d. h. arbiträr hinsichtlich des Signifikats, 1144 zu dem es keinen natürlichen Anknüpfungspunkt 1145 in der Realität gibt. 85 * 1146 Gehen wir zum Schluß noch auf zwei Einwände ein, die gegen dieses erste Prinzip erhoben werden könnten: 1147 1. Man könnte sich auf die Onomatopoetika berufen um zu beweisen, daß die Wahl des Signifikanten nicht immer völlig arbiträr ist. 1148 Aber diese sind nie organische Elemente eines Sprachsystems. 86 * 1149 Ihre Zahl ist überdies weniger groß, als man allgemein glaubt. 1150 Wörter wie fouet ‘ Peitsche ’ oder glas ‘ Totenglocke ’ können für gewisse Ohren einen suggestiven Klang haben; aber um zu erkennen, daß ihnen diese Charakteristik nicht seit ihrem Ursprung eignet, genügt es, auf ihre lateinischen Wurzeln zurückzugreifen (fouet leitet sich von f ā gus ‘ Buche ’ her, glas = classicum); 1151 die Qualität ihrer Lautung, oder eher die, die man ihnen andichtet, ist das zufällige Resultat der Lautentwicklung. 1152 Was die wirklichen Onomatopöien angeht ( 1153 diejenigen vom Typus glou-glou, tic-tac usw.), 1154 so sind sie nicht nur wenig zahlreich, 1155 auch ihre Wahl ist bereits bis einem gewissen Grade arbiträr, denn sie sind nur die approximative und bereits halbwegs konventionalisierte Imitation gewisser Geräusche (man vergleiche französisch ouaoua und deutsch wauwau). 1156 Dazu kommt noch, daß sie, einmal in das Sprachsystem eingeführt, den gleichen phonetischen, morphologischen usw. Entwicklungen unterworfen sind wie die andern Wörter ( 1157 cf. französisch pigeon, aus vulgärlateinisch p ī pi ō , das seinerseits von einer Onomatopöie abstammt). 1158 Hier haben wir den offenkundigen Beweis, daß sie etwas von ihrem ursprünglichen Charakter verloren und sich dem normalen sprachlichen Zeichen angenähert haben, das unmotiviert ist. 1159 2. Die Ausrufe, die den Onomatopöien sehr nahe stehen, geben zu entsprechenden Bemerkungen Anlaß und sind auch nicht weiter gefährlich für unsere These. 1160 Man ist versucht, in ihnen spontane Ausdrücke der Realität zu sehen, die gewissermaßen von der Natur diktiert sind. 1161 Aber bei den meisten kann man widerlegen, daß ein notwendiges Band zwischen Signifikat und Signifikant bestehe. 1162 Es genügt, zwei Sprachen in dieser Hinsicht miteinander zu vergleichen, um zu sehen, wie sehr diese Ausdrücke von der einen zur andern variieren (z. B. entspricht dem französischen aïe! deutsch au! ). 1163 Man weiß überdies, daß viele Ausrufe ursprünglich Wörter mit einer spezifischen Bedeutung waren (cf. diable! , mordieu! = mort Dieu, usw.). 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 107 1164 Zusammenfassend kann man sagen, daß die Onomatopöien und die Ausrufe von zweitrangiger Bedeutung sind und ihr Ursprung im symbolischen Bereich zum Teil zweifelhaft ist. 1165 § 3. - Zweites Prinzip: Der lineare Charakter des Signifikanten 87 * 1166 Der Signifikant, der auditiver Natur ist, entfaltet sich ausschließlich in der Zeit und hat die Eigenschaften, die ihm die Zeit mitgibt: a) Er stellt eine Dauer dar, und b) diese Dauer ist in einer einzigen Dimension meßbar: 1167 Sie ist eine Linie. 1168 Dieses Prinzip ist evident, aber es scheint, daß man seine Äußerung immer vernachläßigt hat, zweifellos weil man es für zu banal hielt; es ist gleichwohl fundamental und seine Konsequenzen sind schwer absehbar; seine Bedeutung entspricht derjenigen des ersten Gesetzes. 1169 Der ganze Mechanismus der Sprache hängt von ihm ab (cf. 2060). 1170 Anders als die visuellen Signifikanten (Flaggensignale der Schiffahrt usw.), die gleichzeitig Modifikationen in mehreren Dimensionen zulassen, verfügen die lautlichen Signifikanten nur über die Linie der Zeit; ihre Elemente erscheinen eines nach dem andern und bilden eine Kette. 1171 Diese Eigenschaft wird offensichtlich sobald man sie mithilfe der Schrift darstellt und die zeitliche Abfolge durch die räumliche Linie der graphischen Zeichen ersetzt. 1172 In gewissen Fällen ist dies allerdings nicht evident. 1173 Wenn ich z. B. eine Silbe betone, entsteht der Eindruck, daß ich verschiedene Bedeutungselemente an ein und demselben Punkt kumuliere. 1174 Aber das ist eine Illusion 88 *; die Silbe und ihr Akzent stellen nur einen einzigen Phonationsakt dar; es gibt keinen Dualismus innerhalb dieses Aktes, sondern nur unterschiedliche Oppositionen zu der Umgebung (cf. hierzu 2087). 89 * 1175 Kapitel 2 Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit des Zeichens 90 * 1176 § 1. - Unveränderlichkeit 1177 Wenn der Signifikant einerseits hinsichtlich der Idee, die er wiedergibt, als frei gewählt erscheint, so ist er andererseits hinsichtlich der Sprachgemeinschaft, die ihn verwendet, nicht frei: Er ist aufgezwungen. 1178 Die soziale Masse wird nicht konsultiert, und der Signifikant, den die Sprache gewählt hat, könnte nicht durch einen andern ersetzt werden. 1179 Diese Tatsache, die einen Widerspruch einzuschließen scheint, könnte in familiärer Sprache die carte forcée genannt werden. 1180 Man sagt zur Sprache: «Wähle! », aber man fügt gleichzeitig bei: «Du nimmst dieses Zeichen und kein anderes». 1181 Nicht nur das Individuum ist außerstande, selbst wenn es dies wollte, die getroffene Wahl wie auch immer zu verändern, selbst die Masse hat keinen Zugriff auch nur auf ein einziges Wort; sie ist der Sprache unterworfen so wie sie ist. 91 * 1182 Die Sprache kann somit nicht mehr einem einfachen Abkommen gleichgesetzt werden, 1183 und es ist gerade in dieser Hinsicht, daß sich die Untersuchung des sprachlichen Zeichens als besondners interessant erweist; denn wenn man zeigen will, daß das von einer Gemeinschaft angenommene Gesetz etwas ist, das man erduldet, und nicht eine Regel, der man aus freien Stücken zustimmt, dann ist es gerade die Sprache, die hierfür den überzeugendsten Beweis liefert. 1184 Wir wollen nun sehen, 1185 wie es dem sprachlichen Zeichen gelingt, sich unserem Willen zu entziehen, 1186 und anschließend werden wir die wesentlichen Schlußfolgerungen ziehen, die sich daraus ergeben. 108 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1187 In jeder beliebigen Epoche, und wie weit wir auch zurückgehen, erscheint die Sprache immer als das Erbe der vorhergehenden Epoche. 1188 Einen Akt, durch den zu einem bestimmten Zeitpunkt die Namen den Dingen zugewiesen worden wären, durch den ein Abkommen geschlossen worden wäre zwischen den Konzepten und den Lautbildern - diesen Akt können wir uns zwar vorstellen, aber er ist nie festgestellt worden. 1189 Die Vorstellung, daß die Ereignisse so hätten ablaufen können, wird uns durch unsere lebhafte Wahrnehmung der Arbitrarität des Zeichens nahegelegt 1190 Tatsächlich kennt keine Gesellschaft und hat nie eine Gesellschaft die Sprache anders gekannt denn als Erbe der vorhergehenden Generationen und als unverändert zu übernehmendes Produkt. 1191 Aus diesem Grund hat die Frage nach dem Ursprung der Sprache nicht die Bedeutung, die man ihr normalerweise zuweist. Es handelt sich dabei nicht einmal um eine Frage, die man stellen sollte; der einzig wirkliche Gegenstand der Linguistik ist das normale und geregelte Leben eines bereits bestehenden Idioms. 1192 Ein gegebener Sprachzustand ist immer das Ergebnis von historischen Faktoren, und es sind diese Faktoren, die klar machen, warum das Zeichen unveränderlich ist, d. h. warum es jeder willkürlichen Ersetzung widersteht. 92 * 1193 Aber zu sagen, die Sprache sei ein Erbe, erklärt nichts, wenn man nicht weitergeht. 1194 Kann man nicht von einem Moment auf den andern existierende und ererbte Gesetze verändern? 1195 Dieser Einwand veranlaßt uns dazu, die Sprache in ihrem sozialen Rahmen zu betrachten und die Frage so zu stellen, wie man sie für die andern sozialen Institutionen stellen würde. 1196 Wie werden diese überliefert? Dies ist die allgemeinste Form der Frage, und sie schließt diejenige nach der Unveränderlichkeit mit ein. 1197 Man muß zuerst einmal den größeren oder geringeren Freiheitsgrad abschätzen, den die andern Institutionen genießen; man wird feststellen, daß es für jede von ihnen ein unterschiedliches Gleichgewicht zwischen auferlegter Tradition und Gestaltungsfreiheit der Gesellschaft gibt. 1198 Dann wird man festzustellen versuchen, warum in einer gegebenen Kategorie die Faktoren des ersten Typs mehr oder weniger mächtig sind als die des zweiten. 1199 Und wenn man dann auf die Sprache zurückkommt, wird man sich fragen, warum der historische Faktor der Überlieferung in ihrem Fall uneingeschränkt dominiert und jede allgemeine und plötzliche sprachliche Veränderung ausschließt. 1200 Um diese Frage zu beantworten, könnte man zahlreiche Argumente anführen 1201 und z. B. sagen, daß die Veränderungen der Sprache nicht an die Abfolge der Generationen gebunden sind, die weit davon entfernt sind einander überlagert zu sein wie die Schubladen eines Möbels, sondern sich vermischen, sich durchdringen und von denen jede Individuen aller Altersklassen umfaßt. 1202 Man könnte auch an die gewaltige Anstrengung erinnern, die die Erlernung der Muttersprache erfordert, um von da auf die Unmöglichkeit einer allgemeinen Umgestaltung zu schließen. 1203 Und man könnte hinzufügen, daß die Reflexion am Gebrauch eines Idioms nicht beteiligt ist; daß die Sprecher weitestgehend keine Kenntnis von den Gesetzen der Sprache haben; und wenn sie sich deren nicht bewußt sind, wie könnten sie sie denn verändern? 1204 Und selbst wenn sie ein entsprechendes Bewußtsein hätten, müßte man in Erinnerung rufen, daß die sprachlichen Gegebenheiten kaum Kritik hervorrufen, denn jedes Volk ist im allgemeinen mit der Sprache zufrieden, die es hat. 93 * 1205 Diese Überlegungen sind wichtig, aber sie sind nicht zentral; 1206 wir ziehen die folgenden Argumente vor, die wesentlicher und direkter sind und von denen alle anderen abhängen: 1207 1. - Der arbiträre Charakter des Zeichens. 1208 Weiter oben eröffnete uns dieses Merkmal die theoretische Möglichkeit der Veränderung; wenn wir nun diesen Aspekt vertiefen, sehen wir, daß tatsächlich die Arbitrarität des Zeichens die Sprache vor jedem Versuch, sie gezielt 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 109 zu verändern, abschirmt. Die Masse, selbst wenn sie problembewußter wäre, als sie es in Wirklichkeit ist, wäre nicht in der Lage, diese Fragen zu diskutieren. 1209 Denn es kann nur etwas zu Diskussion gestellt werden, das auf einer rationalen Norm basiert. 1210 Man kann zum Beispiel erörtern, ob die monogame Version der Ehe vernünftiger ist als die polygame, und Argumente sowohl für die eine wie für die andere Auffassung anführen. 1211 Man könnte auch ein System von Symbolen zur Diskussion stellen, denn das Symbol hat einen rationalen Bezug zu der bezeichneten Sache (cf. 1135ss.); aber für die Sprache, ein System von arbiträren Zeichen, fehlt diese Basis, und damit gibt es auch keine solide Diskussionsgrundlage mehr; 1212 es gibt keinen Grund, s œ ur gegenüber sister, Ochs gegenüber b œ uf usw. zu bevorzugen. 1213 2. - Die Vielzahl der Zeichen, die für die Schaffung irgendeiner Sprache nötig ist. 1214 Die Tragweite dieser Gegebenheit ist beträchtlich. 1215 Ein Schriftsystem, das zwischen zwanzig bis vierzig Buchstaben umfaßt, kann zur Not durch ein anderes ersetzt werden. 94 * 1216 Das träfe auch für die Sprache zu, wenn sie nur eine begrenzte Anzahl von Elementen umfassen würde; 1217 aber die sprachlichen Zeichen sind unzählige. 95 * 1218 3. - Der allzu komplexe Charakter des Systems. 1219 Eine Sprache ist ein System. 1220 Wir werden sehen, daß dies der Aspekt ist, unter dem sie nicht vollkommen arbiträr ist und wo sogar eine gewisse Rationalität herrscht; aber dies ist gleichzeitig auch der Punkt, wo deutlich wird, daß die Masse nicht in der Lage ist, sie umzugestalten. 1221 Denn dieses System ist ein äußerst komplexer Mechanismus; 1222 man kann es nur durch Reflexion erfassen, und selbst diejenigen, die sich seiner täglich bedienen, verkennen es zutiefst. 1223 Man könnte sich eine derartige Veränderung nur unter der Mitwirkung von Spezialisten, Grammatikern, Logikern usw. vorstellen; 1224 aber die Erfahrung zeigt, daß Eingriffe dieser Art bisher ohne jeden Erfolg geblieben sind. 96 * 1225 4. - Das kollektive Beharrungsvermögen gegenüber allen sprachlichen Neuerungen. Der Aspekt, der alle andern an Bedeutung übertrifft, ist der, daß die Sprache zu jedem Zeitpunkt dem Zugriff von jedermann ausgesetzt ist; verbreitet in der Masse und von dieser benutzt, ist sie etwas, das alle Individuen tagein, tagaus verwenden. 1227 In dieser Hinsicht läßt sich keine andere Institution mit ihr vergleichen. 1228 Die Vorschriften eines Gesetzbuches, die Riten einer Religion, die maritimen Flaggensignale usw. betreffen immer nur eine begrenzte Anzahl von Individuen gleichzeitig und während einer begrenzten Zeit; an der Sprache dagegen hat jeder zu jedem Augenblick teil, und aus diesem Grunde ist sie auch ständig dem Einfluß aller ausgesetzt. 1229 Dieses zentrale Faktum genügt um zu zeigen, daß eine sprachliche Revolution unmöglich ist. 1230 Die Sprache ist von allen sozialen Institutionen diejenige, die am wenigsten Angriffspunkte für innovative Initiativen bietet. 1231 Sie bildet eine Einheit mit dem Leben der sozialen Masse, und diese ist von Natur aus unbeweglich; deshalb wirkt sie vor allem als konservierender Faktor. 1232 Gleichwohl genügt es nicht zu sagen, die Sprache sei ein Produkt der sozialen Kräfte, damit ihre Unfreiheit deutlich sichtbar wird; wenn man unterstreicht, daß sie immer das Erbe einer vorhergehenden Epoche ist, muß man auch noch hinzufügen, daß diese sozialen Kräfte in Abhängigkeit von der Zeit wirksam werden. 1233 Wenn die Sprache einen stabilen Charakter hat, dann ist dies nicht nur, weil sie an das Gewicht der Gemeinschaft zurückgebunden ist, sondern auch, weil sie in die Zeit eingebettet ist. 1234 Zu jedem Zeitpunkt läßt die Solidarität mit der Vergangenheit die Wahlfreiheit scheitern. 1235 Wir sagen homme und chien, weil man vor uns homme und chien gesagt hat. 1236 Das schließt allerdings nicht aus, daß es im Rahmen des Gesamtphänomens ein Band zwischen diesen beiden gegensätzlichen Faktoren gibt: der arbiträren Konvention, dank der die Wahl frei ist, und der Zeit, dank der die Wahl festgeschrieben ist. 1237 Es ist gerade aufgrund der Arbitarität des Zeichens, daß es keine andere Gesetzlichkeit kennt als diejenige der Tradition; und es ist aufgrund der Traditionsbasiertheit, daß es arbiträr sein kann. 97 * 110 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1238 § 2. - Veränderlichkeit 98 * 1239 Die Zeit, die die Kontinuität der Sprache gewährleistet, hat einen zweiten Effekt, der dem ersten zu widersprechen scheint: denjenigen, die sprachlichen Zeichen mehr oder weniger rasch zu verändern, und in einem gewissen Sinne kann man gleichzeitig von der Unveränderlichkeit und der Veränderlichkeit des Zeichens sprechen ( 79 ). 1243 Letzlich sind die beiden Eigenschaften solidarisch: Das Zeichen ist in der Lage, sich zu verändern, weil es weiterexistiert. 1244 Was in der Veränderung dominiert, ist das Fortbestehen der alten Materie; die Untreue gegenüber der Vergangenheit ist nur eine relative. 1245 In diesem Sinne basiert die Veränderung auf dem Prinzip der Kontinuität. 1246 Die Veränderung in der Zeit kann verschiedene Formen annehmen, und jede von ihnen könnte Gegenstand eines wichtigen Kapitels der Linguistik sein. 1247 Ohne auf die Einzelheiten eingehen zu wollen, sei hier das Wichtigste herausgestellt. 99 * 1248 Zuerst einmal darf man sich nicht über die Bedeutung des Wortes Veränderung täuschen. 1249 Man könnte glauben, daß es sich vor allem um phonetische Veränderungen des Signifikanten handele, oder aber um Bedeutungsveränderungen, die das Signifikat betreffen. Eine derartige Sicht wäre unzulänglich. 1250 Welcher Art auch immer die Änderungsfaktoren sind, ob sie nun isoliert oder gemeinsam wirken, sie ergeben immer eine Modifikation der Beziehung zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten. 1251 Hier einige Beispiele. 1252 Das lateinische nec ā re, das ‘ töten ’ bedeutete, ist im Französischen zu noyer mit der bekannten Bedeutung [ ‘ ertränken ’ ] geworden. Lautbild und Bedeutung sind beide verändert worden; aber es bringt nichts, die beiden Komponenten des Phänomens zu trennen; es genügt die globale Feststellung, daß das Band zwischen dem Inhalt und dem Ausdruck sich gelockert hat und daraus eine Verschiebung ihrer Beziehung resultierte. 1253 Wenn man aber das klassisch-lateinische nec ā re nicht mit unserem französischen noyer vergleicht, sondern mit dem nec ā re des Vulgärlateins des 4. oder 5. Jahrhunderts, das [bereits] ‘ ertränken ’ bedeutet, liegen die Dinge etwas anders; aber auch hier, obwohl es keine nennenswerte Veränderung im Bereich des Signifikanten gibt, haben wir eine Modifikation der Beziehung zwischen Inhalt und Ausdruck 80 . 1254 Das Althochdeutsche dritteil ‘ der dritte Teil ’ ist im heutigen Deutsch zu Drittel geworden. 1255 In diesem Fall ist der Inhalt unverändert geblieben, und trotzdem hat sich die Relation [zwischen Signifikat und Signifikant] in doppelter Hinsicht verändert: der Signifikant ist nicht nur substantiell modifiziert worden, sondern auch hinsichtlich seiner grammatikalischen Form; er impliziert nicht mehr die Idee von Teil; wir haben ein einfaches [, nicht analysierbares] Wort. 1256 Wie auch immer: Es liegt eine Modifikation der Beziehung vor. 1257 Im Angelsächsischen ist die vorliterarische Form f ō t ‘ der Fuß ’ f ō t geblieben (heutiges Englisch foot), während der Plural *f ō ti ‘ die Füsse ’ zu f ē t (heutiges Englisch feet) geworden ist. 1258 Wie auch immer die Veränderungen aussehen mögen, die dies voraussetzt, eines ist sicher: Es liegt eine Veränderung der Beziehung vor; es haben sich neue Entsprechungen zwischen dem Lautmaterial und dem Inhalt ergeben. ( 79 ) 1240 Man würde Ferdinand de Saussure Unrecht tun, wenn man ihm vorwerfen würde, er sei unlogisch und pflege das Paradox, wenn er der Sprache zwei widersprüchliche Eigenschaften zuweist. 1241 Durch die Gegenüberstellung von zwei ins Auge springenden Ausdrücken hat er nur mit aller Kraft die Tatsache hervorheben wollen, daß die Sprache sich verändert ohne daß die Individuen sie verändern können. 1242 Man könnte auch sagen, daß sie unberührbar ist, aber nicht unveränderlich. (Ed.) 80 Der französische Text hat hier signe, was von H ARRIS 1983: 75 N1 kritisiert wird; die Kritik ist aber nur berechtigt, wenn man signe als terminus technicus im Sinne von Saussure versteht. Da hier aber umgangssprachliche Ausdrücke gewählt wurden (idée, signe), haben wir mit Ausdruck übersetzt. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 111 1259 Eine Sprache ist grundsätzlich außerstande, sich gegen die Faktoren zu verteidigen, die ohne Unterlaß die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant verändern. 1260 Dies ist eine Folge des arbiträren Charakters des Zeichens. 1261 Die andern menschlichen Institutionen - Gebräuche, Gesetze usw. - gründen alle, wenn auch in unterschiedlichem Maße, auf natürlichen Beziehungen zwischen den Dingen; sie leben von einer notwendigen Entsprechung zwischen den eingesetzten Mitteln und den angestrebten Zielen. Selbst die Mode, die unsere Kleidung bestimmt, ist nicht vollkommen arbiträr: Man kann nur bis zu einem gewissen Grade von den Bedingungen abweichen, die uns der menschliche Körper vorgibt. 1262 Die Sprache dagegen ist durch nichts in der Wahl ihrer Mittel eingeschränkt, 1263 denn es ist nicht einsichtig, was die Inbezugsetzung eines beliebigen Inhalts mit einer beliebigen Lautfolge verhindern könnte. 1264 Um deutlich zu machen, daß die Sprache eine reine Institution ist, hat Whitney zurecht auf den arbiträren Charakter des Zeichens insistiert; 1265 und damit hat er der Linguistik ihre wirkliche Dimension gegeben. 1266 Aber er ist den Weg nicht bis zu seinem Ende gegangen und hat nicht gesehen, daß der arbiträre Charakter die Sprache grundätzlich von allen andern Institutionen unterscheidet. 1267 Dies wird deutlich sichtbar aufgrund der Art, wie sie sich entwickelt. Es gibt nichts Komplexeres: Da sie sowohl in der Gesellschaft als auch in der Zeit verankert ist, kann niemand sie verändern, 1268 und andererseits eröffnet der arbiträre Charakter der Zeichen theoretisch jede Bezugsmöglichkeit zwischen dem Lautmaterial und den Inhalten. Daraus ergibt sich, daß diese beiden im Zeichen koexistierenden Elemente jedes sein Eigenleben - in einem übrigens nicht bekannten Ausmaß - bewahrt und die Sprache sich verändert, oder besser: entwickelt - unter dem Einfluß aller Faktoren, die sowohl den lautlichen als auch den inhaltlichen Bereich betreffen können. 1269 Diese Entwicklung hat schicksalhaften Charakter; es gibt kein Beispiel einer Sprache, die sich ihr hätte entziehen können. 1270 Nach einer gewissen Zeitspanne kann man immer deutlich sichtbare Veränderungen feststellen. 1271 Dies ist derart wahr, daß sich das Prinzip selbst in Bezug auf künstliche Sprachen bestätigt. 1272 Derjenige, der eine solche schafft, verfügt über sie, solange sie nicht im Umlauf ist; aber von dem Moment an, wo sie ihre Funktion erfüllt und für jedermann zugänglich ist, entzieht sie sich jeglicher Kontrolle. 1273 Das Esperanto ist ein derartiger Versuch; wenn es sich durchsetzte, würde es diesem Schicksal entgehen? 1274 Nach einer ersten Phase würde die Sprache wahrscheinlich in ihr semiologisches Leben eintreten; sie würde aufgrund von Gesetzen überliefert, die nichts mehr mit ihrer reflektierten Schöpfung zu tun haben, und man könnte nicht mehr auf ihren Ursprung zurückkommen. 1275 Derjenige, der sich vornimmt, eine unveränderliche Sprache zu schaffen, die die Nachwelt telle quelle übernehmen muß, würde einer Henne gleichen, die ein Entenei ausgebrütet hat: 1276 Die von ihm geschaffene Sprache würde nolens volens von der für alle Sprachen gültigen Entwicklung erfaßt. 100 * 1277 Die Kontinuität des Zeichens in der Zeit, in Verbindung mit der Veränderlichkeit in der Zeit, ist ein allgemeines semiologisches Prinzip; man findet seine Bestätigung in den Schriftsystemen, in der Taubstummensprache, usw. 1278 Aber worauf beruht die Notwendigkeit zur Veränderung? Man wird uns vielleicht vorwerfen, auf diesen Punkt nicht so ausführlich eingegangen zu sein wie auf das Prinzip der Unveränderlichkeit. Dies rührt daher, daß wir die verschiedenen Veränderungsfaktoren nicht unterschieden haben; man müßte sie in ihrer ganzen Vielfalt untersuchen um festzustellen, bis zu welchem Grad sie zwingend sind. 1279 Die Gründe für die Kontinuität sind dem Betrachter a priori zugänglich; anders liegen die Dinge bei den Gründen für die Veränderlichkeit in der Zeit. Es ist besser, vorläufig auf ein vollständiges Inventar zu verzichten und sich damit zufriedenzugeben, ganz allgemein von 112 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft der Veränderung der Beziehungen zu sprechen: 1280 Die Zeit verändert alles; es gibt keinen Grund, warum die Sprache nicht unter dieses universelle Gesetz fallen sollte. 1281 Fassen wir die Teile unserer Beweisführung zusammen, wobei wir uns auf die in der Einleitung dargelegten Prinzipien beziehen. 101 * 1282 1. Unter Vermeidung unfruchtbarer Wortdefinitionen haben wir zuerst innerhalb des Gesamtphänomens, das die Sprache darstellt, zwei Komponenten unterschieden, das Sprachsystem und die Rede. 1283 Das Sprachsystem ist für uns die Sprache unter Abzug der Rede. 102 * 1284 Es umfaßt die Gesamtheit der sprachlichen Gewohnheiten, die es einem sprechenden Subjekt erlauben, zu verstehen und sich verständlich zu machen. 1285 2. Aber diese Definition integriert die Sprache noch nicht in die soziale Realität; sie macht aus ihr etwas Irreales, weil sie nur einen der Aspekte der Realität erfaßt, den individuellen. Damit eine Sprache existiert, braucht es eine sprechende Masse [, eine Sprachgemeinschaft] 103 *. 1286 Zu keinem Zeitpunkt, und entgegen allem Anschein, gibt es sie unabhängig von den sozialen Gegebenheiten, denn sie ist ein semiologisches Phänomen. 1287 Ihre soziale Natur ist einer ihrer inhärenten Charakterzüge; 1288 ihre vollständige Definition umfaßt zwei untrennbare Elemente, wie uns das folgende Schema zeigt: 81 1289 Allerdings ist die Sprache in dieser Form zwar funktionsfähig, aber sie ist noch nicht lebendig; wir haben nur der sozialen Realität, nicht aber der historischen Dimension Rechnung getragen. 1290 3. Da das sprachliche Zeichen arbiträr ist, scheint die so definierte Sprache ein freies, willentlich organisierbares und einzig von einem rationalen Prinzip bestimmtes System zu sein. 1291 Ihr sozialer Charakter steht, für sich genommen, einer derartigen Sicht nicht wirklich entgegen. 1292 Allerdings ist die kollektive Psychologie nicht rein logisch begründet; man müßte auch all das berücksichtigen, was in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Vernunft zuwiderläuft. 1293 Und gleichwohl: Das, was uns hindert, die Sprache als eine reine Konvention zu betrachten, die nach Gutdünken der Benutzer verändert werden könnte, ist etwas anderes: Es ist die Wirkung der Zeit in Verbindung mit der Wirkung des sozialen Faktors. Losgelöst vom zeitlichen Verlauf ist die sprachliche Realität unvollständig und erlaubt keine Schlußfolgerungen. 1294 Wenn man die Sprache in den Lauf der Zeit einbettete, aber ohne sprechende Masse [Sprachgemeinschaft] - 1295 nehmen wir ein isoliertes Individuum an, das mehrere Jahrhunderte lebte - , 1296 würde man vielleicht nicht die geringste Veränderung feststellen; die Zeit hätte keine Wirkung auf die Sprache. 1297 Wenn man umgekehrt die sprechende Masse ohne den Zeitfaktor betrachtete, würde man keine Wirkung der sozialen Kräfte auf die 81 langue = Sprache; masse parlante = sprechende Masse, Sprachgemeinschaft. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 113 Sprache feststellen können. 1298 Um die Realität abzubilden, müssen wir somit unserem ersten Schema noch ein Element beigeben, das den Verlauf der Zeit symbolisiert: 82 1299 Damit ist die Sprache aber nicht mehr frei, denn der Zeitfaktor ermöglicht es den sozialen Kräften, ihre Wirkung zu entfalten; so gelangen wir zum Prinzip der Kontinuität, das die Freiheit annuliert. 1300 Aber die Kontinuität schließt zwingend die Veränderung ein, die mehr oder weniger tiefgreifende Modifikation der Beziehungen. 104 * 1301 Kapitel 3 Statische und evolutive Linguistik 105 * 1302 § 1. - Innerer Dualismus aller wertbasierten Wissenschaften 1303 Nur wenige Linguisten sind sich der Tatsache bewußt, daß der Faktor Zeit der Sprachwissenschaft eine Reihe besonderer Probleme bereitet und sie dazu zwingt, zwei vollkommen unterschiedliche Wege zu beschreiten. 1304 Die meisten andern Wissenschaften kennen diese radikale Zweiteilung nicht; der Zeitfaktor bedingt in ihnen keine besonderen Effekte. 1305 Die Astronomie hat festgestellt, daß die Gestirne beachtlichen Veränderungen unterliegen; sie ist gleichwohl nicht gezwungen gewesen, sich in zwei unterschiedliche Disziplinen aufzuspalten. 1306 Die Geologie argumentiert fast ständig mit Abfolgen; aber wenn sie sich mit den gegebenen Zuständen der Erde befaßt, macht sie daraus keinen grundsätzlich andersartigen Untersuchungsgegenstand. 1307 Es gibt eine deskriptive Rechtswissenschaft und eine Rechtsgeschichte; aber niemand sieht die eine im Gegensatz zur andern. 1308 Die politische Geschichte der Staaten ist vollkommen zeitgebunden; wenn aber ein Historiker das Bild einer Epoche skizziert, hat man nie den Eindruck, den Bereich der Geschichte zu verlassen. 1309 Umgekehrt ist die Wissenschaft von den politischen Institutionen grundsätzlich deskriptiver Natur, aber sie kann gegebenenfalls ein historisches Problem behandeln ohne daß dadurch ihre Einheit infrage gestellt würde. 106 * 1310 Im Gegensatz dazu drängt sich der Dualismus, von dem wir sprechen, in den Wirtschaftswissenschaften in geradezu imperativer Weise auf. 1311 Hier - und im Gegensatz zu den 82 temps = Zeit; langue = Sprache; masse parlante = sprechende Masse, Sprachgemeinschaft. 114 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft vorher erwähnten Fällen - 1312 erweisen sich Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte 1313 als zwei vollkommen unterschiedliche Disziplinen im Rahmen ein und derselben Wissenschaft; 1314 die jüngsten Publikationen zu diesen Themen betonen diese Unterscheidung. 1315 Geht man so vor, gehorcht man unwissentlich einer inneren Notwendigkeit; 1316 und ein durchaus vergleichbarer Zwang veranlaßt uns, die Linguistik in zwei Teile aufzuspalten, von denen jeder seine eigenen Prinzipien hat. 1317 Wir sind hier, genau wie in der Volkswirtschaftslehre, mit dem Wertbegriff konfrontiert; 1318 in beiden Wissenschaften haben wir es mit einem System von Äquivalenzen zwischen Dingen grundsätzlich verschiedener Natur zu tun: im einen Fall einer Arbeit und einer Entlöhnung, im andern einem Signifikat und einem Signifikanten. 1319 Es wäre sicherlich für alle Wissenschaften von Vorteil, wenn sie die Achsen sorgfältiger bestimmen würden, auf denen ihre Gegenstände liegen; 1320 man sollte überall entsprechend dem folgenden Schema unterscheiden: 1. die Achse des Gleichzeitigen (AB), die sich mit den Beziehungen zwischen koexistierenden Dingen befaßt und auf der jeder Einfluß der Zeit ausgeschlossen ist, und 2. die Achse der Abfolgen (CD), auf der man immer nur einen Gegenstand aufs Mal untersuchen kann, aber auf der alle Gegenstände der ersten Achse sich mit ihren Veränderungen wiederfinden. 1321 Für die Wissenschaften, die mit Werten arbeiten, wird diese Unterscheidung zu einer praktischen Notwendigkeit, ja in gewissen Fällen zu einem absoluten Muß. 1322 Kein Wissenschaftler kann in diesem Bereich eine Untersuchung stringent durchführen, wenn er den beiden Achsen nicht Rechnung trägt, 1323 wenn er nicht zwischen dem Wertsystem per se und den gleichen Werten in Abhängigkeit von der Zeit unterscheidet. 1324 Es ist nun gerade der Linguist, der von dieser Unterscheidung am nachhaltigsten betroffen ist, denn die Sprache ist ein System von reinen Werten, das von nichts Anderem bestimmt ist als vom augenblicklichen Zustand seiner Elemente. 1325 Solange ein Wert wenigstens von einer Seite her in den Dingen und ihren natürlichen Beziehungen wurzelt ( 1326 wie dies bei der Wirtschaftswissenschaft der Fall ist - der Wert eines Grundstücks bemißt sich im Verhältnis zu seinem Ertrag), 1327 kann man ihn bis zu einem gewissen Grad durch den Verlauf der Zeit hindurch verfolgen, wenn man auch im Auge behalten muß, daß er immer von einem System von gleichzeitigen Werten abhängig ist. 1328 Seine Verbindung mit den Dingen gibt ihm eine natürliche Grundlage, und deshalb sind die von ihm abhängigen Bewertungen nie vollkommen willkürlich; ihre Variabilität ist begrenzt. 1329 Aber wir haben gesehen, daß in der Linguistik die natürlichen Vorgaben keinen Platz haben. 1330 Es bleibt hinzuzufügen, daß die getrennte Untersuchung entsprechend den beiden Achsen sich als umso notwendiger erweist, je komplexer und straffer organisiert ein Wertesystem ist. 1331 Nun zeigt kein anderes System diesen Charakter so ausgeprägt wie die Sprache; 1332 nirgends sonst stellt man eine ähnliche Präzision der involvierten Werte fest, eine so große Zahl und eine solche Vielfalt von Elementen, die in einer so strengen gegenseitigen Abhängig- 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 115 keit voneinander stehen. 1333 Die Menge der Zeichen, auf die wir schon hingewiesen haben um die Kontinuität der Sprache zu erklären, verbietet es uns kategorisch, gleichzeitig die Beziehungen in der Zeit und die Beziehungen im System zu untersuchen. 1334 Aus diesem Grunde unterscheiden wir zwei Arten von Linguistik. 1335 Wie sollen wir sie bezeichnen? Die Ausdrücke, die sich anbieten, sind nicht alle gleichermaßen geeignet, diese Unterscheidung zu kennzeichnen. 1356 So sind «Geschichte» und «historische Linguistik» nicht anwendbar, denn sie evozieren allzu vage Ideen; so, wie die politische Geschichte sowohl die Beschreibung von Epochen umfaßt als auch die Schilderung von Ereignissen, 1387 könnte man annehmen, bei der Beschreibung von aufeinanderfolgenden Sprachzuständen untersuche man die Sprache auf der Zeitachse; 1338 hierfür müßte man aber die Phänomene, die die Sprache von einem Zustand in einen anderen übergehen lassen, gesondert untersuchen. 1339 Die Ausdrücke Evolution und evolutive Linguistik sind besser geeignet, und wir werden sie oft verwenden; 1340 im Gegensatz dazu kann man von einer Wissenschaft von den Sprachzuständen 1341 oder einer statischen Linguistik sprechen. 1342 Aber um diesen Gegensatz und diese Überschneidung von zwei den gleichen Gegenstand betreffenden Ordnungen noch deutlicher zu machen, 1343 ziehen wir es vor, von einer synchronischen und einer diachronischen Linguistik zu sprechen. 1344 Synchronisch ist alles, was sich auf den statischen Aspekt unserer Wissenschaft bezieht, diachronisch alles, was mit den 1345 Entwicklungen zu tun hat. 1346 Entsprechend bezeichnen Synchronie und Diachronie einen Sprachzustand bzw. eine Entwicklungsphase. 1347 § 2. - Der interne Dualismus und die Geschichte der Linguistik 1348 Das Erste, was einen überrascht, wenn man sich mit der Sprache auseinandersetzt, 1349 ist die Tatsache, daß für den Sprecher ihre Entwicklung in der Zeit nicht existiert: Er befindet sich vor einem Zustand. 1350 Überdies muß der Linguist, der diesen Zustand verstehen will, alles beiseite lassen, was zu ihm geführt hat, und die Diachronie vergessen. 1351 Er kann sich nur in das Bewußtsein des Sprechers hineinversetzen, wenn er die Vergangenheit ausblendet. 1352 Die Berücksichtigung der Vergangenheit kann sein Urteil nur verfälschen. 1353 Es wäre absurd, wenn man ein Panorama der Alpen zeichnen wollte, indem man es gleichzeitig von verschiedenen Juragipfeln aus aufnimmt; 1354 ein Panorama muß von einem einzigen Punkt aus aufgenommen werden. 1355 Das Gleiche gilt für die Sprache: Man kann sie nur beschreiben oder die Normen für ihren Gebrauch festlegen, wenn man sich in einen bestimmten Zustand hineinversetzt. 1356 Wenn der Linguist die Entwicklung der Sprache verfolgt, dann gleicht er einem wandernden Beobachter, der von einem Ende des Jura zum andern geht, um die Veränderungen der Perspektive aufzuzeichnen. 1357 Man kann sagen, daß die moderne Linguistik sich seit ihrer Begründung vollkommen der Diachronie verschrieben hat. 1358 Die vergleichende Grammatik des Indogermanischen verwendet die ihr zur Verfügung stehenden Daten zur hypothetischen Rekonstruktion eines früheren Sprachtypus; der Vergleich ist für sie nur ein Hilfmittel, um die Vergangenheit zu rekonstruieren. Die Methode ist die gleiche bei der spezifischen Untersuchung der Untergruppen (romanische Sprachen, germanische Sprachen, usw.); 1359 die Sprachzustände spielen nur in fragmentarischer und sehr unvollkommener Weise eine Rolle. 1360 Dies ist die durch Bopp begründete Forschungsrichtung; seine Sprachkonzeption ist denn auch uneinheitlich und schwammig. 107 * 1361 Andererseits: Wie sind diejenigen vorgegangen, die die Sprache vor der Begründung der historischen Linguistik untersucht haben, d. h. die «Grammatiker», die den traditionellen Methoden verpflichtet waren? 1362 Man muß eigenartigerweise feststellen, daß ihr Stand- 116 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft punkt hinsichtlich der uns hier beschäftigenden Frage absolut untadelig war. 1363 Ihre Arbeiten zeigen eindeutig, daß sie Zustände beschreiben wollen; ihr Programm ist streng synchronisch. 1364 So versucht z. B. die Grammatik von Port-Royal den Zustand des Französischen zur Zeit von Ludwig XIV . zu beschreiben und seine Werte zu bestimmen. Dafür braucht sie die Sprache des Mittelalters nicht; 1365 sie bleibt konsequent auf der horizontalen Achse (cf. 1320) und weicht nie von ihr ab; 1366 diese Methode ist somit korrekt, was allerdings noch nicht heißt, daß ihre Anwendung ohne Mängel ist. 108 * 1367 Die traditionelle Grammatik vernachlässigt ganze Teile der Sprache wie z. B. die Wortbildung; sie ist normativ und glaubt, Regeln erlassen zu müssen, anstatt Tatsachen festzustellen; sie kennt keine umfassenden Perspektiven; oft ist sie nicht einmal in der Lage, zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort zu unterscheiden; usw. 1368 Man hat der klassischen Grammatik vorgeworfen, nicht wissenschaftlich zu sein; trotzdem ist ihre Grundlage weniger anfechtbar, ihr Gegenstand sauberer definiert als dies bei der von Bopp begründeten Sprachwissenschaft der Fall ist. 1369 Da sich diese auf einem schlecht abgegrenzten Terrain bewegt, ist sie nicht einmal in der Lage, ihr genaues Ziel zu definieren. 1370 Sie bewegt sich gleichzeitig in zwei Bereichen, weil sie es nicht geschafft hat, sauber zwischen den Zuständen und den Abfolgen zu unterscheiden. 1371 Nachdem sie der Geschichte einen viel zu großen Platz eingeräumt hat, wird die Linguistik wieder zum statischen Gesichtspunkt der traditionellen Grammatik zurückkehren, wenn auch in einem neuen Geiste und mit anderen Verfahrensweisen, 1372 und die historische Methode wird zu dieser Verjüngungskur beigetragen haben; 1373 sie ist es, die zur Folge haben wird, daß man die Sprachzustände besser versteht. 1374 Die alte Grammatik sah nur die synchronischen Gegebenheiten; 1375 die [moderne] Linguistik hat uns eine neue Kategorie von Phänomenen enthüllt; aber das genügt nicht; man muss die Opposition zwischen den beiden Bereichen deutlich machen, um alle sich daraus ergebenden Konsequenzen ziehen zu können. 1376 § 3. - Der interne Dualismus illustriert anhand von Beispielen 1377 Die Opposition zwischen den beiden Perspektiven - synchronisch und diachronisch - 1378 hat absoluten Charakter und erlaubt keine Kompromisse. 109 * 1379 Einige Beispiele werden uns zeigen, worin dieser Unterschied besteht und warum der Gegensatz unüberwindbar ist. 1380 Das lateinische crispus ‘ gewellt, kraus ’ hat dem Französischen einen Stamm crépgeliefert, der den Verben crépir ‘ mit Mörtel bedecken ’ und décrépir ‘ den Mörtel entfernen ’ zugrunde liegt. 1381 Andererseits hat man irgendeinmal aus dem Lateinischen das Wort d ē crepitus ‘ abgenutzt, altersschwach ’ entlehnt, dessen Etymologie man nicht kennt, und hat daraus décrépit gemacht. 1382 Es besteht kein Zweifel, daß heute die Mehrzahl der Sprecher eine Beziehung zwischen un mur décrépi ‘ eine bröckelnde Mauer ’ und un homme décrépit ‘ ein hinfälliger Mann ’ herstellt, 1383 obwohl historisch gesehen diese beiden Wörter nichts miteinander zu tun haben; man spricht oft von der façade décrépite eines Hauses. 1384 Hierbei handelt es sich um eine Erscheinung des Sprachzustands, denn wir haben es mit einer Beziehung zwischen zwei Einheiten zu tun, die in der Sprache koexistieren. 1385 Damit es dazu kam, war das Zusammenspiel verschiedener Entwicklungen nötig; crispmuß zu einer Aussprache crépgelangt sein, und zu einem bestimmten Zeitpunkt hat man ein neues Wort aus dem Lateinischen entlehnt: 1386 Diese beiden diachronischen Ereignisse haben offensichtlich nichts mit dem synchronischen Phänomen zu tun, das sie bewirkt haben; sie sind unterschiedlicher Natur. 1387 Das folgende Beispiel ist von sehr weitreichender Bedeutung. 1388 Im Althochdeutschen war der Plural von gast ‘ Gast ’ zuerst gasti, derjenige von hant ‘ Hand ’ hanti, usw. 1389 Später hat 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 117 dieses -i einen Umlaut hervorgerufen, d. h. es hat bewirkt, daß das a in der vorhergehenden Silbe zu e wurde: gasti → gesti, hanti → henti. 1390 Dann hat -i seine [ursprüngliche] Lautung verloren, weshalb gesti → geste, usw. 1391 Die Folge ist, daß man heute Gast : Gäste, Hand : Hände hat, und eine ganze Klasse von Wörtern zeigt den gleichen Unterschied zwischen Singular und Plural. 1392 Etwas Ähnliches hat sich im Angelsächsischen ereignet: Man hatte zuerst f ō t ‘ Fuß ’ , Plural *f ō ti; t ō þ ‘ Zahn ’ , Plural *t ō þi; g ō s ‘ Gans ’ , Plural *g ō si, usw.; dann ist durch eine erste Lautveränderung, den Umlaut, *f ō ti zu *f ē ti geworden, und durch eine zweite, den Verlust des auslautenden -i, wandelte sich *f ē ti zu f ē t; seither hat f ō t einen Plural f ē t; t ō þ, t ē þ; g ō s, g ē s (modernes Englisch: foot : feet, tooth : teeth, goose : geese). 1393 Früher, als man noch gast : gasti, f ō t : f ō ti sagte, war der Plural einfach durch die Beifügung eines i gekennzeichnet; Gast : Gäste und f ō t : f ē t zeigen ein neues Verfahren zur Markierung des Plurals. 1394 Dieser Mechanismus ist in den beiden Fällen nicht der gleiche: Im Altenglischen haben wir nur die Vokalopposition; im Deutschen haben wir noch zusätzlich das Vorhandensein oder Fehlen des auslautenden -e; aber um diesen Unterschied geht es hier nicht. 1395 Die Beziehung zwischen Singular und Plural kann - unabhängig von ihrer formalen Ausgestaltung - zu jedem Zeitpunkt durch eine Horizontale dargestellt werden: 83 1396 Die Ereignisse, welcher Art sie auch immer seien, die den Übergang von einer Form zur andern bewirkt haben, liegen dagegen auf einer Vertikalen, was dann das folgende Gesamtschema ergibt: 1397 Unser Musterbeispiel ist die Grundlage für eine Reihe von Überlegungen, die unseren Gegenstand direkt betreffen: 1398 1. Diese diachronischen Fakten haben keineswegs zum Ziel, einen Inhalt durch ein anderes Merkmal wiederzugeben: 1399 Die Tatsache, daß gasti zu gesti, geste (Gäste) geworden ist, hat nichts zu tun mit dem Plural des Substantivs; in tragit → trägt betrifft der gleiche Umlaut die Verbalflexion, usw. 1400 Eine diachronische Erscheinung ist also ein Ereignis, das seine Begründung in sich selbst trägt; die spezifischen synchronischen Folgen, die sich daraus ergeben können, haben direkt nichts mit ihm zu tun. 1401 2. Diese diachronischen Ereignisse haben nicht einmal zum Ziel, das System zu verändern. 1402 Man hatte keineswegs die Absicht, von einem Beziehungssystem zu einem andern zu wechseln; die Veränderung betrifft nicht die Beziehung, sondern die aufeinander bezogenen Elemente. 83 époque = Epoche. 118 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1403 Wir stoßen hier wieder auf ein Prinzip, dem wir bereits begegnet sind: Das System wird nie direkt modifiziert; 1404 als solches ist es unveränderlich; 1405 nur einzelne Elemente werden verändert ohne Rücksicht auf die solidarische Beziehung zwischen ihnen und dem System als Ganzem. 1406 Es ist so, wie wenn die Größe und das Gewicht eines der Planeten, die die Sonne umkreisen, verändert würde: Dieses punktuelle Ereignis hätte weitreichende Folgen und würde das Gleichgewicht des ganzen Sonnensystems in Mitleidenschaft ziehen. 1407 Um den Plural auszudrücken, bedarf es der Opposition von zwei Einheiten: 1408 entweder f ō t : *f ō ti, oder aber f ō t : f ē t; 1409 das sind zwei gleichermaßen mögliche Verfahren, aber man ist von dem einen zum andern gelangt ohne es zu wollen; 1410 es ist nicht das Ganze, was verändert worden ist, noch hat das eine System das andere hervorgebracht; vielmehr ist ein Element des ersten Systems verändert worden, und das hat genügt, um ein anderes System entstehen zu lassen. 1411 3. Diese Beobachtung hilft uns besser zu verstehen, daß ein Sprachzustand immer rein zufälligen Charakter hat. 1412 Entgegen der falschen Vorstellung, die wir uns gerne von ihr machen, ist die Sprache kein Mechanismus, der im Hinblick auf die auszudrückenden Begriffe geschaffen und organisiert ist. Wir sehen vielmehr, daß der Zustand, der sich aus einem Wandel ergibt, nicht dazu bestimmt war, die Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen, die er [schließlich] vermittelt. 1413 Ein zufälliger Zustand ist gegeben: f ō t : f ē t, und man benutzt ihn als Träger der Unterscheidung von Singular und Plural; 1414 f ō t : f ē t ist dafür nicht besser geeignet als f ō t : *f ō ti. 1415 In jedem Zustand dringt der Geist in die Materie ein und erweckt sie zum Leben. 1416 Diese Sichtweise, die wir der historischen Sprachwissenschaft verdanken, ist der traditionellen Grammatik unbekannt, die mit ihren eigenen Methoden nie zu ihr hätte gelangen können. 1417 Den meisten Sprachphilosophen ist sie ebenfalls fremd, und dies, obwohl es aus philosophischer Sicht nichts Wichtigeres gibt. 1418 4. Sind nun die Fakten, die dem diachronischen Bereich angehören, wenigstens gleicher Natur wie diejenigen aus dem synchronischen Bereich? In keinster Weise, denn wir haben festgehalten, daß die Veränderungen sich unabhängig von jeder Intention ereignen. 1419 Die synchronischen Fakten dagegen sind immer signifikant; 1420 es ist nicht die Form Gäste, die den Plural zum Ausdruck bringt, sondern die Opposition Gast : Gäste. 1421 Bei der diachronischen Erscheinung liegen die Dinge genau umgekehrt: Sie betrifft nur einen einzigen Term, und damit eine neue Form (Gäste) sich durchsetzen kann, muß ihr die alte (gasti) Platz machen. 1422 Der Versuch, derart unvergleichbare Fakten in ein und derselben Disziplin zu vereinen, wäre ein illusorisches Unterfangen. 1423 Im diachronischen Bereich haben wir es mit Erscheinungen zu tun, die in keiner Beziehung zu den Systemen stehen, wenngleich sie diese bedingen. 1424 Hier noch weitere Beispiele, die die aus den ersten gezogenen Schlußfolgerungen bestätigen und ergänzen. 1425 Im Französischen liegt der Akzent immer auf der letzten Silbe, es sei denn, diese enthalte ein stummes e ( ə ). 1426 Hierbei handelt es sich um ein synchronisches Phänomen, um eine Relation zwischen dem französischen Wort 84 und dem Akzent 110 *. 1427 Woher stammt sie? Aus einem früheren Sprachzustand. Das Lateinische hatte ein anderes und komplexeres Akzentsystem: Der Akzent lag auf der vorletzten Silbe, wenn diese lang war; war sie kurz, wurde er auf die drittletzte Silbe zurückgezogen (cf. am ī ́ cus, án ĭ ma). 1428 Dieses Gesetz beruht auf Beziehungen, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit der französischen Gesetzlichkeit haben. 1429 Wir haben es ohne Zweifel mit dem gleichen Akzent zu tun in dem Sinne, daß er 84 Die wortgetreue Übersetzung wäre zwischen der Gesamtheit der französischen Wörter. Sowohl die Formulierung der Vorlage als auch die entsprechende deutsche Version scheinen mir wenig sinnvoll zu sein. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 119 jeweils an der gleichen Stelle bleibt; im französischen Wort liegt er immer auf der Silbe, die ihn auch im Lateinischen trug: am ī ́ cum → ami, ánimam → âme. 1430 Gleichwohl sind die beiden Formeln zu den beiden Zeitpunkten unterschiedlich, denn die Wortform hat sich verändert. Wir wissen, daß alles, was sich [im Lateinischen] nach dem Akzent befand, entweder gefallen oder zu einem stummen e reduziert worden ist. 1431 Als Folge dieser Veränderung des Wortes war die Akzentposition hinsichtlich des Wortganzen nicht mehr die gleiche; 1432 von nun an legten die Sprecher, die sich dieser neuen Gegebenheiten bewußt waren, instinktiv den Akzent auf die letzte Silbe, 1433 und dies selbst bei schriftlich überlieferten Lehnwörtern (facile, consul, ticket, burgrave, usw.). 1434 Es ist klar, daß man nicht das System verändern, eine neue Regel einführen wollte, denn in einem Wort wie am ī ́ cum → ami ist der Akzent immer auf der gleichen Silbe geblieben; 1435 aber ein diachronisches Ereignis hat hineingespielt: Die Akzentstelle ist verschoben worden, ohne daß man etwas dazu getan hätte. 1436 Ein Akzentgesetz, wie alles im Sprachsystem, ist eine Ordnung von Elementen und das zufällige und ungewollte Resultat der Entwicklung. 1437 Hier ein noch noch eindrücklicherer Fall. 1438 Im Paleoslawischen bildet slovo ‘ Wort ’ im Singular einen Instrumentalis slovem ъ , im Plural einen Nominativ slova und einen Genitiv slov ъ , usw.; in dieser Deklination hat jeder Kasus seine [eigene] Endung. 1439 Heute aber sind die «schwachen» Vokale ь und ъ , die slawischen Vertreter von indogermanisch ĭ und ŭ , verschwunden; das ergibt z. B. dann im Tschechischen slovo, slovem, slova, slov; ebenso ž ena ‘ Frau ’ , Akkusativ Singular ž enu, Nominativ Plural ž eny, Genitiv plural ž en. 1440 Hier hat der Genitiv (slov, ž en) das Merkmal Null. 1441 Dies macht deutlich, daß es nicht [unbedingt] ein materielles Zeichen 111 * braucht, um einen Inhalt auszudrücken; 1442 die Sprache kann sich mit der Oppositon von irgendetwas zu nichts zufrieden geben; hier z. B. erkennt man den Genitiv plural ž en einfach daran, daß er nicht ž ena oder ž enu noch irgendeine der anderen Formen ist. 1443 Auf den ersten Blick erscheint es eigenartig, daß ein so spezifischer Inhalt wie der Genitiv plural durch ein Nullzeichen markiert ist; aber das ist gerade der Beweis dafür, daß alles auf dem reinen Zufall beruht. 1444 Die Sprache ist ein Mechanismus, der trotz aller Beschädigungen, die man ihm zufügt, weiterhin funktioniert. 1445 All dies bestätigt die bereits formulierten Prinzipien, die wir folgendermaßen zusammenfassen: 1446 Die Sprache ist ein System, dessen sämtliche Teile in ihrer synchronischen Solidarität untersucht werden können und untersucht werden müssen. 1447 Da die Veränderungen nie das System als Ganzes betreffen, sondern immer nur das eine oder andere seiner Elemente, 1448 können sie nur unabhängig von diesem untersucht werden. 112 * 1449 Natürlich hat jede Veränderung ihre Rückwirkung auf das System; aber das auslösende Ereignis hat nur einen einzelnen Punkt betroffen; 1450 es gibt keinen inneren Zusammenhang mit den Folgen, die sich daraus für das System als Ganzes ergeben können. 1451 Dieser grundlegende Unterschied zwischen aufeinander folgenden und gleichzeitig existierenden Einheiten, zwischen punktuellen Veränderungen und das System betreffenden Erscheinungen, verbietet es, sowohl aus den einen wie den andern den Gegenstand einer einzigen Wissenschaft zu machen. 1452 § 4. - Der Unterschied zwischen den beiden Bereichen illustriert anhand von Vergleichen 1453 Um die gleichzeitige Abhängigkeit und Unabhängigkeit von Synchronie und Diachronie zu verdeutlichen, kann man die Erstere mit der Projektion eines Körpers auf eine Ebene vergleichen. 1454 In der Tat hängt jede Projektion direkt vom projizierten Körper ab, und 120 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft gleichwohl unterscheidet sie sich von ihm, sie ist etwas eigenes. 1455 Wenn dem nicht so wäre, gäbe es nicht eine ganze Projektionswissenschaft; es würde genügen, die Körper selbst zu untersuchen. 1456 In der Linguistik haben wir die gleiche Relation zwischen historischen Gegebenheiten und einem Sprachzustand, der so etwas wie eine Projektion zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. 1457 Aufgrund der Untersuchung der Körper, d. h. der diachronischen Ereignisse, wird man nicht zur Kenntnis der synchronischen Zustände gelangen, ebensowenig wie man die geometrischen Projektionen kennt, wenn man die verschiedenen Arten von Körpern auch noch so intensiv untersucht hat. 1458 Ähnliches stellt man fest, wenn man den Stengel einer Pflanze quer durchschneidet; die Schnittfläche weist dann eine mehr oder weniger komplizierte Stuktur auf, die nichts anderes ist als eine besondere Abbildung der Längsfasern, und diese kann man sehen, wenn man einem zum ersten rechtwinkligen [zweiten] Schnitt legt. 1459 Auch hier ist die eine Perspektive von der andern abhängig: Der Längsschnitt zeigt uns die Fasern selbst, die die Pflanze ausmachen, und der Querschnitt ihre Anordnung auf einer bestimmten Ebene; 1460 aber die zweite Ansicht ist verschieden von der ersten, denn sie offenbart zwischen den Fasern gewisse Verbindungen, die man aufgrund des Längsschnitts nicht erkennen könnte. 1461 Aber von allen Vergleichen, die man sich vorstellen kann, ist der eindrücklichste derjenige zwischen dem Funktionieren der Sprache und einer Schachpartie. 113 * 1462 Sowohl im einen wie im anderen Fall hat man es mit einem Wertesystem zu tun, an dessen Veränderungen man teilnimmt. 1462 Eine Schachpartie ist eine Art künstliche Wiedergabe dessen, was uns die Sprache in natürlicher Form darbietet. 1464 Sehen wir uns die Dinge etwas näher an: 1465 Zuerst [halten wir fest, daß] ein Spielstand durchaus einem Sprachzustand entspricht. 1466 Der relative Wert der Schachfiguren hängt von ihrer Position auf dem Schachbrett ab, 1467 genau wie in der Sprache jede Einheit ihren Wert aus der Oppositon zu allen anderen Einheiten gewinnt. 1468 Zweitens 1469 ist das System immer ein momentanes; 1470 es verändert sich von einem Zug zum andern. 1471 Natürlich trifft es zu, daß die Werte auch von einer unveränderlichen Konvention abhängen, 1472 den Spielregeln, die schon vor dem Beginn der Partie existieren und auch nach jedem Zug weiter gelten. 1473 Diese ein für alle Mal akzeptierten Regeln gibt es auch im sprachlichen Bereich; es handelt sich um die unveränderlichen Prinzipien der Semiologie. 1474 Schließlich [gilt], daß es genügt, um von einem Spielstand zum andern 1475 oder - in unserer Terminologie - von einer Synchronie zur andern zu gelangen, daß die Stellung einer 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 121 einzigen Figur verändert wird; es gibt keine allgemeine Verschieberei. 1476 Wir haben hier die genaue Entsprechung zum diachronischen Ereignis mit all seinen Eigenheiten. In der Tat: 1477 a) Jeder Schachzug bewegt nur eine einzige Figur; ebenso betreffen in der Sprache die Veränderungen jeweils nur einzelne Elemente. 1478 b) Gleichwohl hat der Zug Rückwirkungen auf das gesamte System; der Spieler kann die Reichweite dieses Effekts im voraus unmöglich genau überblicken. 1479 Die Wertveränderungen, die sich aus dem Zug ergeben, sind jenachdem gleich Null, oder sehr schwerwiegend, oder von mittlerem Gewicht. 1480 Ein bestimmter Zug kann die ganze Partie auf den Kopf stellen und [schwerwiegende] Konsequenzen auch für Figuren haben, die im Moment nicht direkt betroffen sind. 1481 Wir haben gesehen, daß die Dinge bei der Sprache genau gleich liegen. 1482 c) Die Verschiebung einer Figur ist ein Ereignis, das sich in jeder Hinsicht von dem vorhergehenden und dem nachfolgenden Zustand unterscheidet. Die bewirkte Veränderung gehört keinem der beiden Zustände an, und trotzdem sind nur die Zustände von Bedeutung. 1484 In einer Schachpartie hat jede beliebige Konstellation die Eigenschaft, daß sie von den vorhergehenden Konstellationen vollkommen unabhängig ist; es ist vollkommen gleichgültig, ob man auf dem einen oder dem andern Weg zu ihr gelangt ist 114 *; derjenige, der das ganze Spiel verfolgt hat, hat nicht den geringsten Vorteil gegenüber demjenigen, der erst im kritischen Moment dazukommt, um sich über den Spielstand zu informieren; für die Beschreibung dieser Konstellation ist es vollkommen nutzlos zu erwähnen, was sich zehn Sekunden vorher ereignet hat. 1485 All dies gilt auch für die Sprache und bestärkt uns in der scharfen Trennung von diachronischem und synchronischem Bereich. 1486 Die Rede bedient sich immer nur eines [bestimmten] Sprachzustands, und die Veränderungen zwischen den verschiedenen Zuständen spielen als solche dabei keine Rolle. 1487 Es gibt nur einen Punkt, wo der Vergleich hinkt; 1488 der Schachspieler hat die Absicht, die Verschiebung herbeizuführen und einen Einfluß auf das System auszuüben; die Sprache 85 dagegen plant nichts; ihre Einheiten verschieben - oder verändern - sich spontan und zufällig; der Umlaut von Hände für hanti, von Gäste für gasti (cf. 1387ss.) hat eine neue Bildungsmöglichkeit für den Plural ergeben, aber er hat auch eine Verbform wie trägt für tragit entstehen lassen, usw. 1489 Damit das Schachspiel in jeder Hinsicht dem Mechanismus der Sprache gliche, müßte man einen gedankenlosen oder dämlichen Spieler postulieren. 1490 Im übrigen macht dieser einzige Unterschied den Vergleich noch griffiger, denn er zeigt, daß die Unterscheidung der beiden Arten von Erscheinungen im Bereich der Linguistik eine absolute Notwendigkeit darstellt. 1491 Denn wenn die diachronischen Erscheinungen selbst dort nicht auf das synchronische System, das sie bedingen, reduziert werden können, 1492 wo der Wille die Ursache einer solchen Veränderung ist, um wieviel weniger sind sie es dort, wo eine blinde Kraft sich der Organisation eines Zeichensystems bemächtigt. 1493 § 5. - Die Opposition der beiden Sprachwissenschaften hinsichtlich ihrer Methoden und Prinzipien 115 * 1494 Die Opposition zwischen Synchronie und Diachronie ist in jeder Hinsicht augenfällig. 1495 Einmal sind [die beiden Bereiche] - um mit dem auffälligsten Punkt zu beginnen - von unterschiedlicher Bedeutung. 1496 Es ist offensichtlich, daß der synchronische Aspekt dem andern übergeordnet ist, denn für die Masse der Sprecher stellt er die wahre und einzige 85 Die Formulierung ist problematisch; besser wäre es, langue/ Sprache durch locuteur/ Sprecher, allenfalls durch masse parlante/ Sprachgemeinschaft o. ä. zu ersetzen. - Im Folgetext müßte dann ihre Einheiten durch die sprachlichen Einheiten ersetzt werden. 122 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Realität dar (cf. 1348ss.). 1497 Dies gilt auch für den Linguisten: Wenn er sich auf den diachronischen Standpunkt stellt, nimmt er nicht mehr die Sprache wahr, sondern eine Reihe von Ereignissen, die diese verändern. 1498 Man behauptet oft, nichts sei wichtiger, als die Genese eines gegebenen Zustands zu kennen. 1499 Das ist zwar in einem gewissen Sinne richtig: Die Bedingungen, unter denen ein bestimmter Zustand entstanden ist, informieren uns über seine wahre Natur und bewahren uns vor gewissen Fehlschlüssen (cf. 1411ss.); 1500 aber gerade dies beweist, daß die Zielsetzung der Diachronie nicht in ihr selbst liegt. 1501 Man kann von ihr das Gleiche sagen wie vom Journalismus: Sie führt zu allem, vorausgesetzt, man verläßt ihren Bereich. 1502 Auch die Methoden in den beiden Bereichen unterscheiden sich, und zwar in zweierlei Hinsicht: 1503 a) Die Synchronie kennt nur eine einzige Perspektive, diejenige der Sprecher, und ihre einzige Methode besteht darin, deren Zeugnisse zu sammeln; 1504 um zu erkennen, inwieweit etwas eine [sprachliche] Realität ist, ist es nötig und ausreichend zu ermitteln, in welchem Ausmaß es im Bewußtsein der Sprecher existiert. 116 * 1505 Die Diachronie dagegen muß zwei Perspektiven unterscheiden, die prospektive, die dem Lauf der Zeit folgt, und die retrospektive, die ihm entgegenläuft. 1506 Daraus ergibt sich eine methodische Doppelung, die wir im fünften Teil behandeln werden. 1507 b) Ein zweiter Unterschied ergibt sich aus der Abgrenzung des Untersuchungsfelds der beiden Disziplinen. 1508 Die synchronische Untersuchung hat nicht alles zum Gegenstand, was gleichzeitig ist, sondern nur die Gesamtheit der Gegebenheiten einer jeden Sprache; soweit dies nötig scheint, kann die Aufgliederung bis zu den Dialekten und Unterdialekten gehen. Im Grunde ist der Ausdruck synchronisch nicht hinreichend präzis; man sollte ihn durch den allerdings etwas langen Ausdruck idiosynchronisch ersetzen. 1509 Die diachronische Linguistik dagegen hat eine derartige Eingrenzung nicht nötig, ja sie läuft ihr zuwider; die Einheiten, die sie untersucht, gehören nicht zwingend ein und derselben Sprache an (man vergleiche indogermanisch *esti, griechisch ésti, deutsch ist, französisch est). 1510 Es ist gerade die Abfolge der diachronischen Gegebenheiten und ihre räumliche Multiplikation, die für die Unterschiedlichkeit der Idiome verantwortlich ist. 1511 Um die Inbezugsetzung zweier Formen zu rechtfertigen, genügt es, daß zwischen ihnen ein historisches Band besteht, mag es auch noch so indirekter Natur sein. 117 * 1512 Diese Oppositionen sind weder die eindrücklichsten noch die tiefstgehenden: Der radikale Gegensatz zwischen den die Sprachentwicklung und den Sprachzustand betreffenden Gegebenheiten hat zur Folge, daß auch alle Begriffe, die sich auf den einen oder andern Bereich beziehen, nicht einander gleichgesetzt werden können. 1513 Jeder beliebige dieser Begriffe kann herangezogen werden, um diese Wahrheit zu verdeutlichen. 1514 So hat das synchronische «Phänomen» nichts gemein mit dem diachronischen (cf. 1411ss.); 1515 das eine ist eine Beziehung zwischen zwei gleichzeitigen Elementen, das andere der Ersatz eines Elements durch ein anderes in der Zeit, 1516 also ein Ereignis. 1517 Wir werden 1755ss. sehen, daß die diachronischen und die synchronischen Identitäten zwei grundverschiedene Dinge sind: Historisch ist die Negation pas identisch mit dem Substantiv pas, während in der heutigen Sprache die beiden Elemente einen ganz unterschiedlichen Status haben. 1519 Diese Feststellungen sollten genügen um zu begreifen, daß es unverzichtbar ist, die beiden Gesichtspunkte nicht zu vermengen; aber nirgends wird dies deutlicher als bei der Unterscheidung, die wir jetzt treffen werden. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 123 1520 § 6. - Synchronisches und diachronisches Gesetz 118 * 1521 Man pflegt in der Linguistik von Gesetzen zu sprechen; 1522 aber unterliegen die sprachlichen Gegebenheiten wirklich Gesetzen, 1523 und welcher Natur könnten diese sein? 1524 Da die Sprache eine soziale Institution ist, könnte man a priori denken, daß sie Vorschriften unterliegt, die denjenigen entsprechen, die die Gemeinschaften regeln. 1525 Nun eignen jedem sozialen Gesetz zwei Charakterzüge: Es ist imperativ, und es ist allgemeingültig; es ist verpflichtend, und es betrifft alle Fälle (innerhalb gewisser zeitlicher und räumlicher Grenzen, wohlgemerkt). 1526 Entsprechen die Gesetze der Sprache nun dieser Definition? 1527 Um dies feststellen zu können, muß man - nach dem was gesagt worden ist - auch hier zuerst einmal den synchronischen vom diachronischen Bereich trennen. 1528 Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Problemen zu tun, die man nicht vermengen darf: Vom Sprachgesetz im allgemeinen zu sprechen, hieße einem Phantom nachjagen. 1529 Hier einige Beispiele aus dem Griechischen, 1530 in denen die «Gesetze» aus den beiden Bereichen absichtlich vermischt worden sind: 1531 1. Die aspirierten stimmhaften Konsonanten sind zu aspirierten stimmlosen Konsonanten geworden: *dh ū mos → th ū mós ‘ Lebensatem ’ , *bher ō → phér ō ‘ ich trage ’ , usw. 1532 2. Der Akzent wird nie weiter als auf die Antepänultima zurückgezogen. 1533 3. Alle Wörter enden auf einen Vokal oder auf s, n, r unter Ausschluß aller anderen Konsonanten. 1534 4. Anlautendes s vor Vokal [1. Aufl. Konsonant] ist zu h (spiritus asper) geworden: *septm (lat. septem) → heptá. 1535 5. Auslautendes m wird zu n: *jugom → zugón (cf. lat. jugum ( 86 )). 1537 6. Die auslautenden Verschlußlaute sind gefallen: *gunaik → gúnai, *epheret → éphere, *epheront → épheron. 1538 Das erste dieser Gesetze ist diachronischer Natur: Was dh war, ist th geworden, usw. 1539 Das zweite drückt eine Beziehung zwischen der Einheit Wort und dem Akzent aus, eine Art Kontrakt zwischen zwei koexistierenden Einheiten; es handelt sich um ein synchronisches Gesetz. 1540 Das Gleiche gilt für das dritte Gesetz, denn es betrifft die Einheit Wort und ihren Auslaut. 1541 Die Gesetze 4, 5 und 6 sind diachronisch: Was s war, ist h geworden; -n ist an die Stelle von -m getreten; -t, -k usw. sind spurlos verschwunden. 1542 Es ist überdies darauf hinzuweisen, daß 3 das Resultat von 5 und 6 ist; zwei diachronische Ereignisse haben zu einer neuen synchronischen Konstellation geführt. 1543 Hat man einmal die beiden Kategorien voneinander getrennt, sieht man, daß 2 und 3 nicht von der gleichen Art sind wie 1, 4, 5 und 6. 1544 Das synchronische Gesetz ist zwar allgemeingültig, aber es hat keinen imperativen Charakter 119 *; es ist nichts weiter als der Ausdruck einer existierenden Ordnung, es konstatiert einen Sachverhalt; 1545 es ist von der gleichen Art wie dasjenige, das [z. B.] festhalten würde, daß die Bäume eines Baumgartens in Fünfergruppen angeordnet sind. 1546 Und die Ordnung, die es beschreibt, ist prekärer Natur, gerade weil es keinen imperativen Charakter hat. 1547 Man könnte dagegen einwenden, daß in der Rede das synchronische Gesetz ( 86 ) 1535 Nach Meillet (Mémoires de la Société de linguistique 9: 365ss.) und Gauthiot (La fin de mot en indoeuropéen 158ss.) kannte das Indogermanische nur auslautendes -n unter Ausschluß von -m; wenn man diese Theorie akzeptiert, so genügt es, das Gesetz Nr. 5 folgendermaßen zu formulieren: Jedes auslautende -n des Indogermanischen ist im Griechischen erhalten geblieben. Seine Beweiskraft wird dadurch nicht vermindert, denn die phonetische Erscheinung, die zur Bewahrung eines alten Zustands führt, ist von gleicher Natur wie diejenige, die sich in einem Wandel niederschlägt (cf. 2265 s.). (Ed.) 124 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft in dem Sinne obligatorischen Charakter hat, als es dem Individuum aufgrund des Gebrauchs in der Gemeinschaft auferlegt ist (cf. 1177ss.); das ist zweifellos richtig; aber wir verstehen hier das Wort imperativ nicht im Sinne einer auf die Sprecher bezogenen Verpflichtung. 1548 Es bedeutet, daß in der Sprache keine Kraft die Einhaltung der Regelmäßigkeit garantiert, wenn ein bestimmter Punkt ihr unterworfen ist 87 . 1549 So ist z. B. nichts regelmäßiger als das synchronische Gesetz, das den Akzent im Lateinischen regiert (ein Gesetz, das exakt demjenigen unter Nr. 2 entspricht); 1550 trotzdem hat diese Akzentregel den verändernden Kräften nicht widerstanden 1551 und ist durch ein neues Gesetz ersetzt worden, 1552 dasjenige des Französischen (cf. 1425 ss.). Zusammenfassend [halten wir fest], daß wenn man von einem synchronischen Gesetz spricht, man damit eine Übereinkunft, das Prinzip der Regelmäßigkeit meint. 1554 Die Diachronie dagegen setzt einen dynamischen Faktor voraus, durch den eine Wirkung, etwas Ausgeführtes entsteht. 1555 Aber dieser imperative Charakter reicht nicht aus, um den Ausdruck Gesetz auf die evolutiven Erscheinungen anzuwenden; 1556 man spricht nur dann von einem Gesetz, wenn eine größere Anzahl von Erscheinungen der gleichen Regel unterliegt, 1557 und trotz gewisser gegenteiliger Indizien 1558 haben diachronische Ereignisse immer einen zufälligen und partikulären Charakter. 1559 Im semantischen Bereich kann man dies unmittelbar feststellen; wenn französisch poutre ‘ Stute ’ die Bedeutung ‘ Holzstück, Balken ’ angenommen hat, dann beruht dies auf spezifischen Ursachen und hängt nicht mit anderen Veränderungen zusammen, die sich zur gleichen Zeit ereignet haben; es handelt sich nur um ein Ereignis unter all den andern, die die Sprachgeschichte verzeichnet. 1560 Für die syntaktischen und morphologischen Veränderungen sind die Dinge auf den ersten Blick nicht so klar. 1561 So sind im Französischen in einer bestimmten Epoche fast alle Formen des alten Subjektskasus verschwunden; liegt hier eine Vielzahl von Ereignissen vor, die alle dem gleichen Gesetz unterliegen? Nein, denn in all diesen Fällen handelt es sich um die vielfältigen Auswirkungen ein und derselben Einzelerscheinung. 1562 Es ist der spezifische Begriff des Subjektskasus, der betroffen ist, und sein Untergang hat natürlich denjenigen einer ganzen Reihe von Formen nach sich gezogen. 1563 Für alle die, die nur das Äußere der Sprache sehen, verschwindet das Kernphänomen unter der Vielzahl seiner Erscheinungsformen; aber die Erscheinung als solche ist in ihrem Kern eine einzige und stellt ein historisches Ereignis dar, das in seiner Art ebenso isoliert ist wie der semantische Wandel von poutre; sie nimmt nur scheinbar die Gestalt eines «Gesetzes» an, weil sie im Rahmen eines Systems realisiert wird: 1564 Es ist die strenge Strukturierung des letzteren, die zu dem Trugschluß führt, die diachronischen Gegebenheiten unterlägen den gleichen Bedingungen wie die synchronischen. 1565 Bei den phonetischen Veränderungen schließlich liegen die Dinge genau gleich; und trotzdem pflegt man von Lautgesetzen zu sprechen. 1566 In der Tat stellt man zu einem 87 3. Aufl. 1544 - 1548 : Hier haben wir eine der wenigen Stellen, wo die 2. und/ oder 3. Auflage erheblich von der ersten abweicht. Der Text der 3. Auflage lautet in der Übersetzung folgendermaßen: «Das synchronische Gesetz ist zwar allgemeingültig, aber es hat keinen imperativen Charakter. Zweifellos unterliegt ihm das Individuum aufgrund des Gebrauchs in der Gemeinschaft (cf. 177ss.), aber es geht uns hier nicht um eine die Sprecher betreffende Verpflichtung. Wir wollen vielmehr sagen, daß in der Sprache keine Kraft die Einhaltung der Regelmäßigkeit garantiert, wenn sie über einen bestimmten Punkt herrscht. Schlichter Ausdruck einer bestehenden Ordnung, stellt das synchronische Gesetz [einfach] einen Sachverhalt fest; es ist von der gleichen Art wie dasjenige, das [z. B.] festhalten würde, daß die Bäume eines Baumgartens in Fünfergruppen angeordnet sind. Und die Ordnung, die es beschreibt, ist prekärer Natur, gerade weil es keinen imperativen Charakter hat.» 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 125 bestimmten Zeitpunkt, in einem bestimmten Gebiet fest, daß alle Wörter, die eine bestimmte lautliche Eigenheit kennen, vom gleichen Wandel betroffen sind; 1567 so betrifft das Gesetz Nr. 1 von 1531 (*dh ū mos → griechisch th ū mós) alle griechischen Wörter, die einen aspirierten stimmhaften Konsonanten enthalten (cf. *nebhos → néphos, *medhu → méthu, *angh ō → ánkh ō , usw.); die Regel Nr. 4 (*septm → heptá) findet auch für serp ō → hérp ō , *s ū s → hûs und alle Wörter mit anlautendem s Anwendung. 1568 Diese Regelmäßigkeit, die manchmal in Frage gestellt worden ist, 1569 scheint uns solide etabliert zu sein; die scheinbaren Ausnahmen schwächen den zwingenden Charakter dieser Veränderungen nicht, denn sie erklären sich entweder durch spezifischere Lautgesetze (cf. das Beispiel tríkhes → thriksí 1631ss.), oder aber durch den Einfluß von Phänomenen einer anderen Art (Analogie usw.). Nichts scheint somit der oben gegebenen Definition von Gesetz besser zu entsprechen. 1570 Und trotzdem: Wie groß auch die Zahl der Fälle sein mag, durch die ein Lautgesetz bestätigt wird, so sind doch all die Fälle, die es betrifft, nichts weiter als die Auswirkungen eines einzigen spezifischen Ereignisses. 1571 Die entscheidende Frage ist, ob der Lautwandel die Wörter betrifft oder nur die Laute; 1572 die Antwort darauf ist eindeutig: In néphos, méthu, ánkh ō usw. ist es ein bestimmtes Phonem, ein indogermanischer stimmhafter aspirierter Verschlußlaut, der zu einem aspirierten stimmlosen Verschlußlaut geworden ist, es ist das anlautende s des ursprünglichen Griechisch, das zu h wird, usw., und jedes dieser Ereignisse steht für sich allein, unabhängig von andern Ereignissen der gleichen Art, unabhängig auch von den Wörtern, in denen es auftritt ( 88 ). 1574 All diese Wörter werden so selbstverständlich in ihrem Lautmaterial verändert, aber dies darf nicht über die wirkliche Natur der Erscheinung hinwegtäuschen. 120 * 1577 Worauf stützen wir uns, wenn wir behaupten, die Wörter selbst seien vom Lautwandel nicht direkt betroffen? Auf die einfache Feststellung, daß solche Veränderungen ihnen im Grunde genommen fremd sind und sie in ihrem Kern nicht berühren. 1578 Die Einheit des Wortes besteht nicht nur aus der Summe seiner Phoneme; sie beruht auf anderen Merkmalen als seinen materiellen [d. h. lautlichen] Eigenschaften. 1579 Nehmen wir an, eine Klaviersaite sei verstimmt. Jedes Mal, wenn man sie beim Spielen einer Melodie anschlägt, entsteht ein falscher Ton. Aber wo? In der Melodie? Sicherlich nicht; nicht sie ist betroffen; einzig das Klavier ist schadhaft. 1580 In der Phonetik liegen die Dinge genau gleich. Unser System der Phoneme ist das Instrument, auf dem wir spielen, um die Wörter der Sprache zu artikulieren; wenn eines dieser Elemente verändert wird, können die Folgen unterschiedlicher Art sein, aber das Ereignis selbst betrifft nicht die Wörter, die gewissermaßen die Melodien unseres Repertoires sind. 121 * 1581 Die diachronischen Erscheinungen sind somit Einzelfälle; 1582 die Veränderung eines Systems erfolgt aufgrund von Ereignissen, die ihm nicht nur fremd sind (cf. 1398ss.), sondern vielmehr isolierten Charakter haben und unter sich kein System bilden. 1583 Fassen wir zusammen: Die synchronischen Gegebenheiten, welcher Art auch immer, zeigen eine gewisse Regelmäßigkeit, aber sie haben keinen imperativen Charakter; 1584 die diachronischen Erscheinungen dagegen sind für die Sprache zwingend, aber sie haben keinen allgemeinen Charakter. ( 88 ) 1575 Natürlich sind die zitierten Beispiele rein schematischer Natur; die gegenwärtige Linguistik bemüht sich zu Recht, so große Reihen von Lautveränderungen wie möglich auf ein einziges Grundprinzip zurückzuführen. So erklärt Antoine Meillet alle Veränderungen der griechischen Verschlußlaute durch eine fortschreitende Schwächung ihrer Artikulation (cf. Mémoires de la Société de Linguistique 9: 163ss.). Selbstverständlich gelten unsere Schlußfolgerungen über den Charakter des Lautwandels auch für diese allgemeinen Erscheinungen, wo immer es sie denn gibt. (Ed.) 126 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1585 In einem Wort, und das war unser Ziel: Weder die einen noch die andern unterliegen Gesetzen im oben definierten Sinn, und wenn man gleichwohl von linguistischen Gesetzen sprechen will, so hat dieser Ausdruck vollkommen unterschiedliche Bedeutungen, jenachdem ob man ihn auf die Gegebenheiten des einen oder andern Bereichs anwendet. 1585 § 7. - Gibt es einen panchronischen Gesichtspunkt? 1587 Bis jetzt haben wir den Ausdruck Gesetz im juristischen Sinn benutzt. Aber gibt es in der Sprache vielleicht auch Gesetze in dem Sinn, wie die Physik und die Naturwissenschaften sie verstehen, d. h. Relationen, die überall und immer gültig sind? 1588 Mit einem Wort: Kann die Sprache nicht auch unter einem panchronischen Gesichtspunkt untersucht werden? 1589 Zweifellos. Und da es immer Lautveränderungen gibt und geben wird, kann man diese Erscheinung allgemein als einen konstanten Aspekt der Sprache ansehen; wir haben es also mit einem ihrer Gesetze zu tun. Sowohl in der Sprache wie im Schachspiel (cf. 1461 ss.) gibt es Regeln, die alle Veränderungen überdauern. Aber es handelt sich dabei um Prinzipien, die unabhängig von den konkreten Gegebenheiten existieren; sobald man von spezifischen und faßbaren Erscheinungen spricht, gibt es keinen panchronischen Gesichtspunkt mehr. So ist jeder Lautwandel, ganz unabhängig von seiner Tragweite, auf einen Zeitraum und ein bestimmtes Gebiet beschränkt; kein Lautwandel vollzieht sich immer und überall; er existiert nur in diachronischer Hinsicht. 1590 Dies ist übrigens ein Kriterium um zu erkennen, was sprachlicher Natur ist und was nicht. 1591 Ein konkretes Ereignis, das sich panchronisch erklären ließe, kann ihr nicht angehören. 1592 Nehmen wir das Wort chose. In diachronischer Hinsicht steht es zu lateinisch causa in Opposition, von dem es sich herleitet. In synchronischer Hinsicht steht es zu allen Einheiten in Opposition, die mit ihm im Modernfranzösischen in Bezug gesetzt werden können. 1593 Nur die Laute für sich allein genommen ( šọ z) lassen eine panchronische Betrachtungseise zu; aber in linguistischer Hinsicht sind sie bedeutungslos; und selbst in panchronischer Perspektive ist šọ z im Rahmen einer Lautkette wie ün šọ z admirabl ə ( ‘ une chose admirable ’ ) nicht eine Einheit, sondern eine formlose Masse, die durch nichts abgegrenzt ist; in der Tat: Warum š oz und nicht ọ za oder n šọ ? 1595 [Diese Lautfolgen] sind keine Werte, weil sie keine Bedeutung haben. 1596 Die panchronische Perspektive stößt niemals bis zu den spezifischen Gegebenheiten einer Sprache vor. 122 * 1597 § 8. - Folgen der Vermischung von Synchronie und Diachronie 1598 Zwei Situationen können sich ergeben: 1599 a) Die synchronische Gegebenheit scheint die Negation der diachronischen Gegebenheit zu sein, und bei oberflächlicher Betrachtung der Situation könnte man meinen, daß man sich [für die eine oder andere] entscheiden müsse; in Wirklichkeit ist dies nicht nötig; die eine der Gegebenheiten schließt die andere nicht aus. 1600 Wenn dépit im Altfranzösischen ‘ Verachtung ’ bedeutet, schließt das nicht aus, daß es gegenwärtig eine ganz andere Bedeutung hat; 1601 Etymologie und synchronischer Wert sind zwei verschiedene Dinge. 1602 Weiter lehrt die traditionelle Grammatik des Modernfranzösischen, daß in gewissen Fällen das Partizip Präsens veränderlich ist und sich wie ein Adjektiv verhält (cf. «une eau courante»), und daß es in anderen Fällen unveränderlich ist (cf. «une personne courant dans la rue»). 1603 Aber die historische Grammatik zeigt uns, daß es sich nicht um ein und dieselbe Form handelt: Die erste ist der Fortsetzer des lateinischen Partizips (currentem), das veränderlich ist, während die zweite auf den unveränderlichen Ablativ des lateinischen Gerundiums zurückgeht 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 127 (currend ō ) ( 89 ). 1604 Stehen die synchronischen Gegebenheiten im Widerspruch zu den diachronischen, und muß man deshalb die traditionelle Grammatik im Namen der historischen Grammatik verurteilen? 1605 Nein, denn dann würde man nur der Hälfte der Wirklichkeit Rechnung tragen; man sollte nicht glauben, daß nur die historischen Gegebenheiten von Bedeutung sind und genügen, um eine Sprache auszumachen. 1606 Es ist unbestritten, daß aus der Herkunftsperspektive das Partizip courant zwei verschiedene Dinge umfaßt; aber das Sprachbewußtsein führt sie zusammen und erkennt darin nur noch eine Einheit. Diese Tatsache ist ebenso absolut und unbestreitbar wie die andere. 1608 b) Die synchronischen Gegebenheiten sind dermaßen im Einklang mit den diachronischen, daß man sie verwechselt oder es für überflüssig hält, sie voneinander zu trennen. 1609 So glaubt man, den gegenwärtigen Sinn des Wortes père zu erklären, indem man sagt, pater habe die gleiche Bedeutung gehabt. 1610 Ein anderes Beispiel: Kurzes lateinisches a in nichtanlautender offener Silbe ist zu i geworden: Neben faci ō hat man confici ō , neben am ī cus steht inim ī cus, usw. 1611 Man formuliert das Gesetz oft dergestalt, daß man sagt, das a von faci ō sei in confici ō zu i geworden, weil es sich nicht mehr in der ersten Silbe befunden habe. 1612 Das ist nicht korrekt: Das a von faci ō ist nie in confici ō zu i «geworden». Um den richtigen Sachverhalt zu erkennen, 1614 muß man zwei Epochen und vier verschiedene Einheiten unterscheiden: 1615 Man hat zuerst faci ō - confaci ō gesagt; als dann confaci ō zu confici ō geworden und faci ō unverändert geblieben war, sagte man faci ō - confici ō . 1616 Das heißt: faci ō ↔ confaci ō Epoche A ↓ ↓ faci ō ↔ confici ō Epoche B 1617 Wenn es einen «Wandel» gegeben hat, dann zwischen confaci ō und confici ō ; 1618 aber die schlecht formulierte Regel erwähnte die erste dieser Einheiten nicht einmal! 1619 Überdies gibt es neben dieser Veränderung, die natürlich diachronischer Natur ist, eine zweite Gegebenheit, die vollkommen verschieden von der ersten ist und die rein synchronische Opposition 1620 zwischen faci ō und confici ō betrifft. 1621 Man ist versucht zu sagen, daß dies keine Gegebenheit, sondern ein Resultat sei. 1621 Trotzdem handelt es sich in ihrem spezifischen Bereich sehr wohl um eine Gegebenheit, und alle synchronischen Phänomene sind von dieser Art. 1622 Was uns daran hindert, den wirklichen Wert der Oppositon faci ō - confici ō zu erkennen, 1623 ist die Tatsache, daß sie nicht sehr bedeutsam ist. Aber wenn man die Paare Gast - Gäste, gebe - gibt in Betracht zieht, stellt man fest, daß auch diese Oppositionen das zufällige Resultat von Lautentwicklungen sind, gleichwohl aber in synchronischer Hinsicht wesentliche grammatische Erscheinungen repräsentieren. 1624 Da die beiden Arten von Erscheinungen überdies eng miteinander vernüpft sind, dergestalt, daß die eine die andere bedingt, 1625 glaubte man letztendlich, ihre Unterscheidung sei nicht der Mühe wert; 1626 und in der Tat hat die Linguistik sie jahrzehntelang vermengt ohne zu erkennen, daß ihre Methode nichts taugte. 1627 In gewissen Fällen springt dieser Irrtum aber in die Augen. 1628 So könnt man denken, um griechisch phuktós zu erklären, 1629 genüge es zu sagen: Im Griechischen werden g und kh zu k vor stimmlosen Konsonanten, 1630 indem man das Problem auf synchronische Entsprechungen wie phugeîn : phuktós, lékhos : léktron usw. zurückführt. 1631 Aber dabei stößt man sich an Fällen wie tríkhes : thriksí, 1632 wo man mit einer zusätzlichen Komplikation konfrontiert ist: dem «Übergang» von t zu th. 1633 Die Formen dieses Wortes lassen sich nur ( 89 ) 1607 Diese allgemein akzeptierte Theorie ist kürzlich von Eugen Lerch infrage gestellt worden (Das invariable Participium praesentis, Erlangen 1913), wie uns scheint jedoch ohne Erfolg; es war deshalb nicht angezeigt, ein Beispiel zu tilgen, dessen didaktischer Wert außer Frage stand. (Ed.) 128 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft historisch aufgrund der relativen Chronologie erklären. 1634 Der ursprüngliche Stamm *thrikhergab thriksí, wenn ihm die Endung -si folgte - ein sehr altes Phänomen, das demjenigen entspricht, das zu léktron aufgrund der Wurzel lekhführte. 1635 Später wurde jeder aspirierte Konsonant, dem innerhalb des gleichen Wortes ein weiterer aspirierter Laut folgte, zu einem [nicht aspirierten] stimmlosen Konsonanten, so daß *thríkhes zu tríkhes wurde; thriksí dagegen fiel natürlich nicht unter dieses Gesetz. 1636 § 9. - Schlußfolgerungen 1637 So steht denn die Linguistik hier vor ihrer zweiten Verzweigung. 1638 Zuerst mußten wir zwischen dem Sprachsystem und der Rede wählen (cf. 352ss.); 1639 hier nun stehen wir an der Verzweigung von [zwei] Wegen, von denen der eine zur Diachronie, der andere zur Synchronie führt. 1640 Einmal im Besitz dieses doppelten Klassifikationsprinzips, kann man [ergänzend] hinzufügen, daß alles, was in der Sprache diachronischer Natur ist, dies nur aufgrund der Rede ist. 1641 Der Keim aller Veränderungen liegt in der Rede: Jede von ihnen wurde zuerst von einer gewissen Zahl von Individuen ausprobiert, bevor sie allgemein gebräuchlich wurde. 1642 Das moderne Deutsch sagt: ich war, wir waren, während das ältere Deutsch bis zum 16. Jahrhundert konjugierte: ich was, wir waren (das Englische sagt noch [heute]: I was, we were). 1643 Wie hat sich dieser Ersatz von was durch war vollzogen? Einige Sprecher haben unter dem Einfluß von waren die analogische Form war geschaffen; dies war ein Redephänomen; oft wiederholt und schließlich von der Gemeinschaft akzeptiert, ist diese Form dann zu einem Element des Sprachsystems geworden. 1644 Nicht alle Neuerungen in der Rede haben aber den gleichen Erfolg, 1645 und solange sie individuellen Charakter behalten, muß man ihnen nicht Rechnung tragen, denn wir untersuchen ja das Sprachsystem. Sie werden für uns erst in dem Moment zum Beobachtungsgegenstand, wo die Gemeinschaft sie akzeptiert hat. 1646 Einem Entwicklungsphänomen geht immer ein Ereignis - oder vielmehr eine Vielzahl von ähnlichen Ereignissen - im Bereich der Rede voran; dies schwächt die oben gemachte Unterscheidung keineswegs, sie wird vielmehr gestützt, denn in der Geschichte jeder Neuerung finden sich immer zwei unterschiedliche Momente: 1. derjenige, wo sie bei den Individuen auftaucht; 2. derjenige, wo sie ein Element des Sprachsystems geworden ist, äußerlich identisch [mit der Erscheinung in Phase 1], aber jetzt von der Gemeinschaft getragen. 1647 Das folgende Schema zeigt die rationale Struktur, die für die Sprachwissenschaft Gültigkeit hat: 1648 Man muß zugeben, daß die theoretische und ideale Gestalt einer Wissenschaft nicht immer diejenige ist, welche ihr die Anforderungen der Forschungspraxis auferlegen. 1649 In der Linguistik sind diese Auflagen weitergehend als sonst irgendwo; sie entschuldigen bis zu einem gewissen Grad das Durcheinander, das in diesem Forschungsbereich gegenwärtig herrscht. 1650 Selbst wenn die getroffenen Unterscheidungen ein für allemal akzeptiert wären, könnte man der Forschung vielleicht keine genau diesem Ideal entsprechende Orientierung auferlegen. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 129 1651 So arbeitet [z. B.] der Linguist bei der synchronischen Untersuchung des Altfranzösischen mit Gegebenheiten und Prinzipien, die nichts gemeinsam haben mit denjenigen, die ihn die Geschichte ebendieser Sprache vom 13. bis zum 20. Jahrhundert erkennen ließe; vielmehr sind sie mit denjenigen vergleichbar, die sich aus einer Beschreibung der gegenwärtigen Bantu-Sprache, derjenigen des attischen Griechisch um 400 v. Chr. oder des heutigen Französisch ergäben. 1652 Dies rührt daher, daß diese verschiedenen Darstellungen auf vergleichbaren Beziehungen beruhen; 1653 wenn jedes Idiom ein geschlossenes System darstellt, dann setzen sie alle gewisse konstante Prinzipien voraus, denen man beim Wechsel von einem System zum andern immer wieder begegnet, denn man bleibt im gleichen Forschungsbereich. 1654 Die Dinge liegen nicht anders bei der historischen Untersuchung: Ob man nun eine bestimmte Periode des Französischen (z. B. vom 13. bis zum 20. Jh.) untersucht, oder eine Periode des Javanesischen, oder irgend einer anderen Sprache, man befaßt sich überall mit vergleichbaren Erscheinungen, die man nur zueinander in Beziehung setzen müßte, um die Grundregeln der Diachronie zu ermitteln. 1655 Ideal wäre, wenn jeder Forscher sich dem einen oder dem andern dieser Forschungsbereiche widmete und versuchte, die größtmögliche Zahl an Gegebenheiten zu erfassen; aber es ist äußerst schwierig, derart unterschiedliche Sprachen wissenschaftlich zu beherrschen. 1656 Andererseits bildet jede Sprache in der Praxis eine Forschungseinheit, und die Sachzwänge erfordern, daß man sich mit ihr nacheinander in synchronischer und in diachronischer Hinsicht befaßt. 1657 Und trotz allem darf man nie vergessen, daß aus theoretischer Sicht diese Einheit nur eine oberflächliche ist, während die Verschiedenheit der Idiome eine grundlegende Einheit verschleiert 123 *. 1658 Ganz gleichgültig, ob bei der Sprachforschung nun das Interesse in die eine oder andere Richtung geht, man muß auf jeden Fall jede Gegebenheit dem ihr entsprechenden Bereich zuordnen und darf die Methoden nicht verwechseln. 1659 Die so abgegrenzten beiden Bereiche der Linguistik werden im folgenden nacheinander Gegenstand unserer Darstellung sein. 1660 Die synchronische Linguistik wird sich mit den logischen und psychologischen Beziehungen befassen, die zwischen koexistierenden, ein System bildenden Einheiten bestehen, so, wie sie das kollektive Bewußtsein wahrnimmt. 1661 Die diachronische Linguistik dagegen wird die Beziehungen untersuchen, die aufeinanderfolgende Einheiten miteinander verbinden, die vom kollektiven Bewußtsein nicht wahrgenommen werden und die sich ablösen, ohne unter sich ein System zu bilden. 1662 Zweiter Teil: Synchronische Linguistik 1663 Kapitel 1 Allgemeines 1664 Der Gegenstand der allgemeinen synchronischen Linguistik ist es, die fundamentalen Prinzipien jedes idiosynchronischen Systems, die konstitutiven Faktoren jedes Sprachzustands zu ermitteln. 1665 Vieles, was bis jetzt schon dargelegt wurde, gehört eigentlich eher zum Bereich der Synchronie; so können die allgemeinen Eigenschaften des Zeichens als integraler Bestandteil der Synchronie angesehen werden, obwohl sie uns dazu gedient haben, 130 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft die Notwendigkeit der Unterscheidung von zwei Arten von Linguistik zu demonstrieren. 124 * 1666 Zur Synchronie gehört alles, was man die «allgemeine Grammatik» nennt; denn nur im Rahmen der Sprachzustände entstehen die verschiedenen Beziehungen, die den Bereich der Grammatik ausmachen. 125 * 1667 Im Folgenden werden wir uns nur mit einigen grundlegenden Prinzipien befassen, ohne die man die spezielleren Probleme der statischen Sprachwissenschaft nicht angehen noch die Einzelheiten eines Sprachzustands erklären könnte. 1668 Ganz allgemein ist es bedeutend schwieriger, statische Linguistik zu betreiben als historische. 1669 Die evolutiven Gegebenheiten sind konkreter, sie sprechen die Vorstellungskraft direkter an; die Beziehungen, die man dort beobachtet, verbinden aufeinanderfolgende Einheiten, die mühlos erfaßt werden können; es ist leicht, 1670 oft sogar amüsant, 1671 einer Reihe von Veränderungen nachzugehen. 1672 Die Linguistik, die sich im Bereich der Werte und der koexistierenden Beziehungen bewegt, hat dagegen mit viel größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. 1673 In Wirklichkeit ist ein Sprachzustand kein Punkt, sondern ein mehr oder weniger langer Zeitraum, während dem die Summe der eingetretenen Veränderungen minimal ist. 1674 Es kann sich um zehn Jahre, eine Generation, ein Jahrhundert, ja noch um mehr handeln. 1675 Eine Sprache kann sich während langer Zeit kaum verändern, und anschließend innert weniger Jahre beträchtliche Umgestaltungen erfahren. 1676 Von zwei in einer bestimmten Epoche nebeneinander existierenden Sprachen kann die eine sich massiv entwickeln und die andere kaum; in diesem zweiten Fall wird die Untersuchung gezwungenermaßen synchronischer Natur sein, im ersten dagegen diachronisch. 1677 Ein absoluter Zustand definiert sich über das [vollständige] Fehlen von Veränderungen, und da gleichwohl jede Sprache sich - wie wenig auch immer - wandelt 126 *, läuft die Untersuchung eines Sprachzustands praktisch darauf hinaus, die unwichtigen Modifikationen zu vernachlässigen, genau wie die Mathematiker bei gewissen Operationen wie z. B. der Berechnung der Logarithmen die infinitesimalen Mengen vernachlässigen. 1678 In der politischen Geschichte unterscheidet man die Epoche, die einen Zeitpunkt darstellt, von der Periode, der eine gewisse Dauer eignet. 1679 Trotzdem spricht der Historiker von der Epoche der Adoptivkaiser, der Epoche der Kreuzzüge [usw.], wenn er eine Gesamtheit von Merkmalen im Blick hat, die während dieser Zeit unverändert geblieben sind. 1680 Man könnte auch sagen, daß sich die statische Linguistik mit Epochen befaßt; aber Zustand ist vorzuziehen; der Anfang und das Ende einer Epoche ist in der Regel gekennzeichnet durch eine mehr oder weniger tiefgreifende Revolution, die den bestehenden Zustand umzugestalten versucht. 1681 Das Wort Zustand verhindert die Annahme, es gebe irgendetwas Vergleichbares in der Sprache. 1682 Überdies verweist der Terminus Epoche, gerade weil er aus der Geschichtswissenschaft stammt, weniger auf die Sprache selbst, als vielmehr auf die Begleitumstände, die sie umgeben und bedingen; mit einem Wort: Er evoziert eher die Vorstellung dessen, was wir die externe Linguistik genannt haben (cf. 372ss.). 1683 Überdies ist die Abgrenzung in der Zeit nicht die einzige Schwierigkeit, der wir bei der Definition des Sprachzustands begegnen; das gleiche Problem stellt sich auch bezüglich des Raumes. 1684 Kurzum, dem Begriff des Sprachzustands kann nur ein approximativer Charakter zukommen 127 *. 1685 In der statischen Linguistik ist, wie in den meisten Wissenschaften, keine Beweisführung möglich ohne eine konventionelle Vereinfachung der Gegebenheiten. 128 * 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 131 1686 Kapitel 2 Die konkreten Entitäten de Sprache 1687 § 1. - Entitäten und Einheiten. Definitionen 129 * 1688 Die Zeichen, aus denen sich die Sprache zusammensetzt, sind keine Abstraktionen, sondern konkrete Objekte (cf. 263ss.); sie und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen sind der Gegenstand der Linguistik; man kann sie als die konkreten Entitäten dieser Wissenschaft bezeichnen. 1689 Rufen wir zuerst zwei Prinzipien in Erinnerung, die dem ganzen Problemkreis übergeordnet sind: 1690 1. Die sprachliche Entität existiert nur aufgrund der Verbindung von Signifikant und Signifikat (cf. 1106ss.); sobald man nur einem dieser Elemente Rechnung trägt, löst sie sich auf; anstelle eines konkreten Objekts hat man nur noch eine reine Abstraktion vor sich. 1691 Man läuft ständig Gefahr, nur einen Teil der Entität zu erfassen und glaubt dennoch, sie als Ganzes im Griff zu haben; das wäre z. B. der Fall, wenn man die Redekette in Silben aufspalten würde; 1692 die Silbe hat nur in der Phonologie Relevanz. 1693 Eine Lautkette ist nur dann ein linguistisches Objekt, wenn sie Träger eines Inhalts ist; für sich allein genommen ist sie nichts weiter als der Gegenstand einer physiologischen Untersuchung. 1694 Gleiches gilt für das Signifikat, sobald man es von seinem Signifikanten trennt. 1695 Konzepte wie ‘ Haus ’ , ‘ weiß ’ , ‘ sehen ’ usw. sind für sich allein genommen Gegenstände der Psychologie; 1696 sie werden zu sprachlichen Entitäten nur aufgrund der Verbindung mit Lautbildern; 1697 in der Sprache ist ein Konzept eine Qualität der Lautsubstanz, genau wie eine bestimmte Lautung eine Qualität des Konzepts ist. 1698 Man hat diese janusköpfige Einheit oft mit der Einheit Mensch verglichen, die aus Körper und Seele besteht. Dieser Vergleich ist jedoch wenig befriedigend. 1699 Treffender wäre es, an eine chemische Verbindung zu denken, z. B. an das Wasser; es besteht aus Wasserstoff und Sauerstoff; für sich allein genommen hat jedes dieser Elemente nicht eine einzige Eigenschaft des Wassers. 1700 2. Die sprachliche Entität ist nur dann vollständig bestimmt, wenn sie abgegrenzt ist, d. h. isoliert von allem, was sie in der Lautkette umgibt. 1701 Es sind diese abgegrenzten Entitäten oder Einheiten, 1702 auf denen der Mechanismus der Sprache beruht. 130 * 1703 Auf Anhieb ist man versucht, die sprachlichen Zeichen den visuellen Zeichen gleichzusetzen, die im Raum bestehen können ohne sich miteinander zu vermischen, und man stellt sich vor, die Isolierung der bedeutungstragenden Elemente könne auf die gleiche Weise geschehen, ohne daß irgend eine geistige Aktivität nötig wäre. 1704 Das Wort «Form», das man oft benutzt, um sie zu bezeichnen - zum Beispiel «Verbform», «Nominalform» - trägt dazu bei, uns in diesem Irrtum zu belassen. 1705 Aber wir wissen, daß die wichtigste Charakteristik der Lautkette ist, linearer Natur zu sein (cf. 1165 ss.). 1706 Für sich allein genommen ist sie aber nur eine Linie, ein fortlaufendes Band, wo das Ohr keine ausreichenden und genauen Unterteilungen wahrnimmt; 1708 für diese muß man vielmehr auf die Bedeutungen zurückgreifen. Wenn wir eine unbekannte Sprache hören, sind wir nicht in der Lage zu sagen, wie die Lautkette gegliedert werden muß; dies beruht darauf, daß eine solche Analyse unmöglich ist, wenn man nur dem lautlichen Aspekt des Sprachphänomens Rechnung trägt. 1709 Wenn wir aber wissen, welchen Sinn und welche Rolle jedem Teil der Kette zukommt, sehen wir, wie sich die einzelnen Teile voneinander abheben, und das amorphe Band läßt sich gliedern; diese Analyse ist nun aber alles andere als materieller Natur. 132 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1710 Wir halten also fest, daß die Sprache sich nicht als eine Menge von im vornherein abgegrenzten Zeichen darstellt, die man nur hinsichtlich ihrer Bedeutungen und Verbindungen untersuchen müßte; sie ist eine amorphe Masse, in der einzig die Aufmerksamkeit und die Gewohnheit es uns erlauben, Einheiten zu isolieren. 1711 Die Einheit hat kein spezifisches Lautmerkmal, und die einzige Definition, die man für sie geben kann, ist die folgende: [Die sprachliche Einheit ist] ein Lautsegment, das - unter Ausschluß dessen, was in der Redekette vorangeht und folgt - der Signifikant eines bestimmten Konzepts ist. 131 * 1712 § 2. - Die Abgrenzungsmethode 1713 Derjenige, der eine Sprache beherrscht, isoliert deren Einheiten 1714 aufgrund einer sehr einfachen Methode - wenigstens in der Theorie. Sie besteht darin, sich in die als sprachliches Dokument betrachtete Rede zu versetzen und diese als zwei parallele Ketten darzustellen, diejenige der Konzepte (a) und diejenige der Lautbilder (b). 1715 Eine korrekte Abgrenzung erfordert, daß die in der Kette der Konzepte gemachten Unterteilungen ( α , β , γ . . .) denjenigen in der Lautkette ( α’ , β’ , γ’ . . .) entsprechen 90 : 1716 ... a b ' ' ' ... 1717 Nehmen wir französisch si ž lapr-: Kann ich diese Kette nach dem l durchtrennen und si ž l als Einheit ausgeben? Nein. Es genügt, die Kette der Konzepte in Betracht zu ziehen um zu sehen, daß diese Aufteilung falsch ist. 1718 Die Gliederung in Silben: si ž -la-pr- ist a priori ebenfalls nicht linguistisch relevant. 1719 Die einzigen möglichen Unterteilungen sind: 1. siž la-pr- ( ‘ si je la prends ’ ), und 2. siž -l-apr- ( ‘ si je l ’ apprends ’ ), und sie sind determiniert durch die Bedeutung, die man diesen Wörtern zuweist. 1720 Um das Resultat dieser Operation zu verifizieren und sicherzugehen, daß man es wirklich mit einer Einheit zu tun hat, ist es nötig, daß in einer Reihe von Sätzen, in denen die gleiche Einheit vorkommt, diese jedes Mal vom Rest des Kontextes isoliert werden kann und die Bedeutung diese Segmentation rechtfertigt. 1721 Nehmen wir die beiden Satzfragmente: laf ǫ rsdüv- ‘ la force du vent ’ und abudf ǫ rs ‘ à bout de force ’ : Im einen wie im andern Fall entspricht dem gleichen Konzept die gleiche Lautkette 132 * f ǫ rs; es handelt sich somit sehr wohl um eine sprachliche Einheit. 1722 Aber in ilm ə f ǫ rsaparl ẹ ‘ il me force à parler ’ hat f ǫ rs eine ganz andere Bedeutung; es handelt sich somit um eine andere Einheit. 133 * 90 Sowohl in der Vulgata (ab der 1. Aufl.), als auch bei E NGLER 1968, L OMMEL 1931, D E M AURO 1968 usw. sind in 1715 chaîne acoustique und chaîne des concepts zu vertauschen, um Übereinstimmung mit 1714 und 1716 herzustellen. Dies ist bis jetzt noch von niemandem bemerkt worden. Wir korrigieren in der Übersetzung in diesem Sinne. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 133 1723 § 3. - Praktische Probleme bei der Abgrenzung 134 * 1724 Diese Methode, die in der Theorie so einfach erscheint, 1725 läßt sie sich auch einfach anwenden? Man ist versucht, es zu glauben, [zumindest] wenn man davon ausgeht, die zu isolierenden Einheiten seien Wörter. Denn was ist ein Satz anderes als eine Kombination von Wörtern, und was gibt es direkter Faßbares? 1726 Wenn wir unser obiges Beispiel wieder aufnehmen, könnte man sagen, daß die Redekette si ž lapr- aus vier Einheiten besteht, die unsere Analyse isolieren kann, und die ebenso viele Wörter sind: si-je-l ’ -apprends. 1727 Aber wir werden sofort mißtrauisch wenn wir feststellen, daß man schon ausgiebig darüber gestritten hat, was denn ein Wort sei, 1728 und wenn man etwas nachdenkt, sieht man, daß das, was man darunter versteht, unvereinbar mit unserem Begriff der konkreten Einheit ist. 135 * 1729 Um das zu begreifen, braucht man nur an cheval und seinen Plural chevaux zu denken. 1730 Man sagt gewöhnlich, daß es sich dabei um zwei Formen des gleichen Wortes handele; aber wenn man sie jeweils als Ganzes nimmt, handelt es sich sehr wohl um zwei verschiedene Einheiten, sowohl hinsichtlich der Bedeutung als auch der Lautung. 1731 Im Falle von mwa ( ‘ le mois de décembre ’ ) und mwaz ( ‘ un mois après ’ ) hat man auch das gleiche Wort unter zwei verschiedenen Erscheinungsformen, und es kann nicht die Rede sein von einer konkreten Einheit: Die Bedeutung ist wohl die gleiche, aber die Lautketten sind unterschiedlich. 1732 Sobald man also die konkrete Einheit mit dem Wort gleichsetzen will, steht man vor einem Dilemma: Entweder man vernachlässigt die doch offensichtliche Beziehung zwischen cheval und chevaux, mwa und mwaz usw. und sagt, es handele sich um verschiedene Wörter, - oder aber man begnügt sich anstelle der konkreten Einheiten mit einer Abstraktion, die die verschiedenen Formen des gleichen Wortes in sich vereint. 1733 Man muß die konkrete Einheit anderweitig als im Wort suchen. 1734 Überdies sind viele Wörter komplexe Einheiten, in denen man mit Leichtigkeit Untereinheiten (Suffixe, Präfixe, Stämme) erkennt; Ableitungen wie désir-eux, malheur-eux zerfallen in unerschiedliche Teile, von denen jeder eindeutig seine eigene Bedeutung und Funktion hat. 1735 Umgekehrt gibt es Einheiten, die umfassender sind als das Wort: die Komposita (porte-plume), die Redewendungen (s ’ il vous plaît), gewisse Flexionsformen (il a été) usw. 1736 Aber bei der Abgrenzung sieht man sich bei diesen Einheiten mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert wie bei den eigentlichen Wörtern, und es ist außerordentlich schwierig, in einer Lautkette das Spiel der in ihr enthaltenen Einheiten zu entwirren und zu sagen, welcher konkreten Einheiten sich eine Sprache bedient. 1737 Zweifellos kennen die Sprecher diese Schwierigkeiten nicht; alles, was auf einem beliebigen Niveau bedeutungstragend ist, erscheint ihnen als konkretes Element, und sie unterscheiden es im Diskurs mit größter Zuverlässigkeit. 1738 Aber es ist zweierlei, einerseits das schnelle und raffinierte Zusammenspiel der Einheiten [spontan] zu erfassen, und andererseits dieses in einer wissenschaftlichen 91 Analyse zu begründen. 1739 Eine verbreitete Theorie behauptet, die einzigen konkreten Einheiten seien die Sätze: Wir sprechen nur in Sätzen, und post festum isolieren wir in ihnen die Wörter. 136 * 1740 Aber da stellt sich zuerst einmal die Frage, 1741 inwieweit der Satz zum Sprachsystem gehört (cf. 246 s. und 2009ss.). Wenn er der Rede zuzuordnen ist, kann er nicht als sprachliche Einheit durchgehen. 1742 Aber nehmen wir einmal an, dieses Problem sei gelöst. 137 * Wenn wir uns die Gesamtheit der aussprechbaren Sätze vorstellen, dann scheint ihre herausragendste Charakteristik zu sein, daß sie sich untereinander nicht im geringsten gleichen. 1743 Spontan ist man versucht, die unendliche Verschiedenartigkeit der Sätze mit der nicht geringeren Verschiedenartigkeit der Individuen, die eine zoologische Gattung ausmachen, zu vergleichen. Aber das ist eine Illusion: Bei 91 Das Adjektiv méthodique der Vorlage müßte eigentlich mit methodisch übersetzt werden, was uns aber wenig sinnvoll scheint; überdies ist die Formulierung der Vulgata durch keine Quelle gestützt. 134 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft den Tieren ein und derselben Gattung sind die gemeinsamen Züge viel bedeutender als die trennenden Unterschiede; bei den Sätzen dagegen ist es der Unterschied, der dominiert, und sobald man sich auf die Suche nach dem macht, was sie trotz ihrer Unterschiedlichkeit miteinander verbindet, landet man, ohne es zu wollen, wieder beim Wort mit seinen grammatikalischen Merkmalen, und man ist wieder mit den alten Schwierigkeiten konfrontiert. 138 * 1744 § 4. - Schlußfolgerungen 1745 In den meisten Bereichen, die Gegenstand einer Wissenschaft sind, stellt sich die Frage nach den Einheiten nicht einmal: Sie sind auf Anhieb gegeben. 1746 In der Zoologie z. B. ist es das Tier, das sich sofort anbietet. 1747 Die Astronomie operiert über im Raum von einander getrennten Einheiten, den Gestirnen; in der Chemie kann man die Natur und die Zusammensetzung des Kaliumbichromats untersuchen ohne einen Augenblick daran zu zweifeln, daß man es mit einem wohldefinierten Gegenstand zu tun hat. 1748 Wenn eine Wissenschaft keine spontan erkennbaren konkreten Einheiten kennt, bedeutet dies, daß sie für sie nicht wesentlich sind. 1749 In der Geschichte z. B. ist nicht klar, ob diese Rolle dem Individuum, der Epoche oder der Nation zukommt. Man weiß es nicht, aber was macht das? Man kann Geschichtswissenschaft betreiben, ohne sich über diesen Punkt im Klaren zu sein. 1750 Aber genau wie das Schachspiel auf der Konstellation der verschiedenen Figuren beruht, hat die Sprache den Charakter eines Systems, das vollständig auf den Beziehungen seiner konkreten Einheiten gründet. 1751 Man kann nicht darauf verzichten, sie zu kennen, noch irgendeinen Schritt machen, ohne sich ihrer zu bedienen; 1752 und dennoch ist ihre Abgenzung ein derart schwieriges Problem, daß man sich fragt, ob es sie wirklich gibt. 1753 Die Sprache zeigt somit das eigenartige und überraschende Merkmal, daß sie keine unmittelbar wahrnehmbaren Entitäten kennt, ohne daß man aber daran zweifeln könnte, daß es sie gibt und daß es ihr Zusammenspiel ist, das letzlich die Sprache ausmacht. 1754 Dies ist ohne Zweifel ein Zug, der sie von allen andern semiologischen Institutionen unterscheidet. 1755 Kapitel 3 Identitäten, Realitäten, Werte 1756 Die eben gemachte Festellung führt zu einem Problem, das umso bedeutender ist, als in der statischen Linguistik jeder Grundbegriff direkt von der Vorstellung abhängt, die man sich von der Einheit macht, ja sogar mit ihr zusammenfällt. 1757 Genau dies möchten wir nacheinander an den Begriffen der Identität, der Realität und des Wertes im Bereich der Synchronie aufzeigen. 139 * 1758 A. Was ist eine synchronische Identität? 140 * 1759 Es handelt sich hier nicht um die Identität, die die Negation pas mit lateinisch passum verbindet - diese ist diachronischer Natur [und] von ihr wird andernorts die Rede sein (2742ss.) - , 1760 sondern um die nicht weniger interessante [Erscheinung], 1761 aufgrund derer wir erklären, daß zwei Sätze wie «je ne sais pas» und «ne dites pas cela» das gleiche Element enthalten. 141 * 1762 Überflüssige Frage, wird man sagen: Es liegt Identität vor, weil in beiden Sätzen die gleiche Lautkette (pas) mit der gleichen Bedeutung verbunden ist. 1763 Aber diese Erklärung ist ungenügend, denn wenn auch die Entsprechung von Lautketten und Konzepten die Identität beweist (cf. oben das Beispiel «la force du vent» : «à bout de force»), so ist das Gegenteil nicht wahr: Es kann auch Identität 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 135 ohne diese Entsprechung geben. 1764 Wenn man in einem Vortrag mehrmals die Äußerung Messieurs! hört, hat man das Gefühl, es handele sich jedesmal um den gleichen Ausdruck, 1765 und trotzdem bewirken die Variationen von Tempo und Intonation in den verschiedenen Passagen beachtliche Lautunterschiede - 1766 so bedeutend wie diejenigen, die anderweitig zur Unterscheidung von verschiedenen Wörtern dienen (cf. pomme und paume, goutte und je goûte, fuir und fouir, usw.). 1767 Überdies bleibt dieser Eindruck der Identität erhalten, obwohl auch aus semantischer Sicht keine absolute Identität von einem Messieurs! zum andern besteht, 1768 ebenso wie ein Wort recht unterschiedliche Ideen zum Ausdruck bringen kann, ohne daß seine Identität ernsthaft gefährdet wäre (cf. «adopter une mode» und «adopter un enfant», «la fleur du pommier» und «la fleur de la noblesse», usw.). 1769 Die sprachlichen Mechanismen beruhen ausschließlich auf Identitäten und Differenzen, wobei die letzteren nur das Gegenstück der ersteren sind. 1770 Das Problem der Identitäten findet sich also überall wieder; 1771 andererseits fällt es zum Teil zusammen mit demjenigen der Entitäten und der Einheiten und ist letztlich nur eine (fruchtbare) Komplikation desselben. 1772 Diese Charakteristik wird deutlich beim Vergleich mit einigen Gegebenheiten außerhalb des sprachlichen Bereichs. So sprechen wir von Identität bezüglich zweier Schnellzüge «Genf-Paris von abends 8 Uhr 45», die in einem Abstand von 24 Stunden abgehen. 1773 Für uns ist es derselbe Schnellzug, obwohl wahrscheinlich Lokomotive, Wagen, Personal, alles verschieden ist. 1774 Oder wenn eine Straße abgerissen und dann wieder aufgebaut wird, sagen wir, das sei die gleiche Straße, obwohl materiell vermutlich nichts von der alten übriggeblieben ist. 1775 Warum kann man eine Straße von A bis Z neu aufbauen, ohne daß sie aufhört, die gleiche zu sein? 1776 Weil die Entität, die sie darstellt, nicht rein materieller Natur ist; 1777 sie gründet auf gewissen Faktoren, die nichts mit ihrer zufälligen Materialität zu tun haben, z. B. ihrer Lage bezüglich der andern Straßen. 1778 Entsprechend ist das, was den Schnellzug ausmacht, seine Abfahrtszeit, die Strecke und allgemein alle Begleitumstände, die ihn von den andern Schnellzügen unterscheiden. 1779 Jedes Mal, wenn die gleichen Bedingungen verwirklicht sind, liegen jeweils die gleichen Entitäten vor. 1780 Und trotzdem sind diese nicht abstrakter Natur, denn eine Straße oder einen Schnellzug kann man sich nicht losgelöst von ihrer materiellen Ausgestaltung vorstellen. 1781 Stellen wir den vorhergehenden Fällen den - grundverschiedenen - Fall eines Anzugs gegenüber, der mir gestohlen worden ist, und den ich in der Auslage eines Trödlers wiederfinde. 1782 Es handelt sich um eine materielle Entität, die sich einzig über die unbewegliche Substanz definiert, den Stoff, das Futter, die Ausstattungsdetails, usw. Ein anderer Anzug, so sehr er auch dem ersten ähnlich sein mag, wäre nicht der meine. 1783 Aber die sprachliche Identität ist nicht diejenige des Anzugs, sondern diejenige des Schnellzugs und der Straße. 1784 Jedesmal, wenn ich das Wort Messieurs verwende, erneuere ich seine Materialität; 1785 es liegt ein neuer Artikulationsakt und ein neuer psychologischer Akt vor. 1786 Das Band zwischen zwischen zwei Verwendungen ein und desselben Wortes gründet weder auf der materiellen Identität, noch auf der exakten Entsprechung der Bedeutungen, sondern auf Elementen, die es zu suchen gilt und die uns der wahren Natur der sprachlichen Einheiten sehr nahe bringen. 1787 B. Was ist eine synchronische Realität? Welche konkreten oder abstrakten Elemente der Sprache kann man so bezeichnen? 1788 Nehmen wir als Beispiel die Unterscheidung der Wortarten: Worauf beruht die Klassifikation der Wörter in Substantive, Adjektive usw.? 1789 Beruht sie auf einem rein logischen, außersprachlichen Prinzip, das von außen auf die Grammatik projiziert wird wie die Längen- und Breitengrade auf die Erdkugel? 1790 Oder entspricht sie etwas, das seinen Platz im sprachlichen System hat und durch dieses bedingt ist? Kurz: Handelt es sich um eine synchronische Realität? 1791 Diese zweite Annahme erscheint als wahrscheinlich, aber man 136 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft könnte auch die erste vertreten. 1792 Ist in «ces gants sont bon marché» bon marché ein Adjektiv? 1793 Aus logischer Sicht hat es die Funktion eines solchen, aber grammatisch gesehen ist dies weniger sicher, denn bon marché verhält sich nicht wie ein Adjektiv (es ist unveränderlich, es steht nie vor dem Substantiv, usw.). 1794 Überdies ist es aus zwei Wörtern zusammengesetzt; nun soll aber die Unterscheidung der Wortarten gerade dazu dienen, die Wörter der Sprache zu klassieren; 1795 wie kann eine Gruppe von Wörtern einer dieser Klassen zugeordnet werden? 1796 Aber umgekehrt trägt man dieser Redewendung nicht [hinreichend] Rechnung wenn man sagt, bon sei ein Adjektiv und marché ein Substantiv. 1797 Wir haben es hier somit mit einer mangelhaften oder unvollständigen Klassifikation zu tun; die Aufteilung der Wörter in Substantive, Verben, Adjektive usw. ist keine unanfechtbare sprachliche Realität. 1798 So arbeitet die Linguistik ständig mit Begriffen, die von den Grammatikern geschaffen worden sind und von denen man nicht weiß, ob sie wirklich den konstitutiven Faktoren des Sprachsystems Rechnung tragen. 1799 Aber wie kann man das wissen? Und wenn sie [tatsächlich] Phantome sind, welche Realitäten kann man ihnen entgegensetzen? 1800 Um den Illusionen zu entrinnen, muss man sich zuerst einmal der Tatsache bewußt werden, daß die konkreten Entitäten der Sprache nicht per se unserer Beobachtung zugänglich sind. 1801 Sobald man sich aber [ernsthaft] bemüht, sie zu erfassen, tritt man in Kontakt mit der Wirklichkeit; von da aus kann man alle Klassierungen entwickeln, derer die Linguistik bedarf um die Fakten ihres Aufgabenbereichs zu ordnen. 1802 Wenn man andererseits diese Klassierungen auf etwas anderes als die konkreten Entitäten gründet - wenn man z. B. sagt, die Wortarten seien nur schon deshalb sprachliche Größen, weil sie logischen Kategorien entsprechen - , vergißt man, daß es keine sprachlichen Fakten gibt, die unabhängig von der in bedeutungstragende Elemente zerlegten sprachlichen Matiere wären. 1803 C. Schließlich [gilt es festzuhalten], daß alle in diesem Abschnitt angesprochenen Begriffe sich nicht wesentlich von dem unterscheiden, was wir andernorts Werte genannt haben. 1804 Ein neuerlicher Vergleich mit dem Schachspiel (cf. 1461 ss.) wird dies verdeutlichen. Nehmen wir einen Springer: 1805 Ist er für sich genommen ein Element des Spiels? Sicherlich nicht, denn in seiner reinen Materialität, unabhängig von seinem Feld und den andern Bedingungen des Spiels, stellt er für den Spieler nichts dar und wird erst in dem Moment ein reales und konkretes Element, wo er seinen Wert erhält und mit diesem identifiziert wird. 1806 Nehmen wir an, daß im Laufe einer Schachpartie diese Figur zerstört wird oder verlorengeht; kann man sie durch eine andere gleichwertige ersetzen? Sicherlich, und nicht nur durch einen anderen Springer; auch irgendetwas anderes, dem jede Ähnlichkeit mit ihr abgeht, kann für identisch erklärt werden, vorausgesetzt, man weist ihm den gleichen Wert zu. 1807 Man sieht also, daß in den semiologischen Systemen wie der Sprache, wo die Elemente sich nach bestimmten Regeln gegenseitig im Gleichgewicht halten, der Begriff der Identität mit demjenigen des Wertes zusammenfällt und umgekehrt. 1808 Somit deckt der Begriff des Wertes auch die Begriffe der Einheit, der konkreten Entität und der Realität ab. 1809 Aber wenn es keinen grundlegenden Unterschied zwischen diesen verschiedenen Aspekten gibt, folgt daraus, daß man nacheinander das Problem in verschiedener Weise angehen kann. 1810 Gleichgültig, ob man die Einheit, die Realität, die konkrete Entität oder den Wert zu bestimmen versucht, es läuft immer darauf hinaus, die gleiche zentrale Frage zu stellen, die die ganze statische Linguistik beherrscht. 1811 Aus praktischer Sicht wäre es interessant, mit den Einheiten zu beginnen, sie zu bestimmen und ihrer Unterschiedlichkeit Rechnung zu tragen, indem man sie klassiert. 1812 Man müßte herausfinden, worauf die Gliederung in Wörter beruht - denn das Wort ist, trotz der Schwierigkeit es zu definieren, eine Einheit, die sich uns aufdrängt, etwas Zentrales im Mechanismus der Sprache - ; aber dies ist ein Thema, das für sich allein ein ganzes Buch füllen würde. 1813 Anschließend müßte man die Untereinheiten klassieren, dann die umfas- 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 137 senderen Einheiten, usw. 1814 Wenn sie so die Elemente, derer sie sich bedient, bestimmen würde, hätte unsere Wissenschaft ihre Aufgabe vollumfänglich erfüllt, denn sie hätte alle ihren Bereich betreffenden Erscheinungen auf ihr Grundprinzip zurückgeführt. 1815 Man kann nicht behaupten, daß dieses zentrale Problem je in Angriff genommen worden wäre, noch daß man seine Tragweite und seine Problematik begriffen hätte; was die Sprache angeht, so hat man sich immer damit zurfrieden gegeben, mit ungenügend definierten Einheiten zu arbeiten. 1816 Trotz der zentralen Bedeutung der Einheiten scheint es uns aber vorzuziehen, das Problem vom Wertbegriff her anzugehen, denn dies ist nach unserer Auffassung sein vordringlichster Aspekt. 1817 Kapitel 4 Der sprachliche Wert 142 * 1818 § 1. - Die Sprache als in der lautlichen Materie organisiertes Denken 1819 Um zu erkennen, daß die Sprache nichts anderes sein kann als ein System von reinen Werten, genügt es, die beiden Elemente [näher] zu betrachten, die bei ihrem Funktionieren im Spiel sind: 1820 die Ideen und die Laute. 1821 Psychologisch gesehen, und wenn man von seinem Ausdruck durch die Wörter absieht, ist unser Denken nichts weiter als eine amorphe und ungegliederte Masse. 1822 Philosophen und Linguisten waren sich immer einig, daß wir ohne die Hilfe der Zeichen unfähig wären, zwei Ideen klar und dauerhaft voneinander zu unterscheiden. 1823 Für sich allein genommen gleicht das Denken einer Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise abgegrenzt ist. 1824 Es existieren keine vorgegebenen Ideen, und nichts ist gegliedert vor dem Auftreten der Sprache. 143 * 1825 Sollten nun die Laute gegenüber diesem schwammigen Bereich von sich aus und im vornherein abgegrenzte Entitäten liefern? Nicht im geringsten. 1826 Die Lautsubstanz ist keineswegs stabiler und solider; sie ist keine Gußform, deren Ausgestaltung das Denken gezwungenermaßen übernehmen müßte, sondern eine plastische Masse, die ihrerseits in isolierbare Teile gegliedert werden kann und so die Signifikanten liefert, die das Denken benötigt. 1827 Wir können so das Sprachphänomen in seiner Ganzheit, d. h. das Sprachsystem, als eine Reihe von aneinander grenzenden Unterteilungen sowohl auf der unorganisierten Ebene der nebulösen Ideen (A) als auch auf der nicht weniger unorganisierten der Laute (B) darstellen; diese Situation kann man annäherungsweise mithilfe de folgenden Schemas wiedergeben: 138 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1828 Die spezifische Rolle der Sprache in Bezug auf das Denken ist es nicht, ein materielles lautliches Ausdrucksmittel für die Wiedergabe der Ideen bereitzustellen, sondern als Mittler zwischen dem Denken und dem Lautbereich zu dienen, und zwar dergestalt, daß ihre Verbindung gezwungenermaßen zur gegenseitigen Abgrenzung von Einheiten führt. 1829 Das Denken, von Natur aus chaotisch, wird gezwungen, sich in der Aufgliederung zu präzisieren. 1830 Wir haben es somit weder mit einer Materialisierung der Gedanken noch mit einer Spiritualisierung der Lautungen zu tun, es handelt sich vielmehr um die irgendwie geheimnisvolle Erscheinung, daß der Bereich «Denken - Lautung» Untergliederungen impliziert und die Sprache ihre Einheiten gewinnt, indem sie sich zwischen zwei amorphen Massen konstituiert. 144 * 1831 Man stelle sich die Luft im Kontakt mit einer Wasserobefläche vor: Wenn der Luftdruck wechselt, zerfällt die Wasseroberfläche in eine Vielzahl von Untereinheiten, die Wellen; diese Wellenbewegungen vermitteln eine Vorstellung von der Verbindung, gewissermaßen der Koppelung zwischen dem Denken und der Lautmaterie. 1832 Man könnte die Sprache den Bereich der Gliederung nennen, wenn man dieses Wort im 177ss. definierten Sinn verwendet: Jeder sprachliche Term ist ein kleines Glied, ein articulus, in dem eine Idee an eine Lautung zurückgebunden wird und wo eine Lautung zum Zeichen für eine Idee wird. 1833 Die Sprache ist weiter vergleichbar mit einem Blatt Papier: Der Gedanke ist die Vorderseite, die Lautung die Rückseite [des Blattes]; man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne auch gleichzeitig die Rückseite zu zerschneiden; 1834 Gleiches gilt für die Sprache, wo man die Lautung nicht vom Denken und das Denken nicht von der Lautung isolieren kann; 1835 dies wäre nur aufgrund einer Abstraktion möglich, 1836 die zur Folge hätte, daß man entweder reine Psychologie oder reine Lautphysiologie betreibt. 1837 Die Linguistik arbeitet somit in einem Grenzgebiet, wo die Elemente der beiden Bereiche aufeinander treffen; ihre Verbindung führt zu einer Form, nicht zu einer Substanz. 145 * 1838 Diese Auffassungen erleichtern das Verständnis des 1122ss. zur Arbitrarität des Zeichens Gesagten. 1839 Nicht nur sind die beiden durch das Sprachphänomen miteinander verbundenen Bereiche unstrukturiert und amorph, auch die Zuordnung eines bestimmten Lautsegments zu einem bestimmten Inhalt ist vollkommen willkürlich. 1840 Wenn dem nicht so wäre, verlöre der Wertbegriff etwas [Wesentliches] von seinem Gehalt, denn er würde ein Element enthalten, das ihm von außen aufgezwungen ist. 1841 Tatsächlich bleiben aber die Werte vollkommen relativ, und gerade deshalb ist das Band zwischen dem Inhalt und der Lautung vollkommen arbiträr. 1842 Andererseits läßt uns der arbiträre Charakter des Zeichens besser verstehen, warum nur die soziale Einbindung ein Sprachsystem begründen kann. 1843 Die Gesellschaft ist unverzichtbar, um die Werte zu sichern, deren einzige Existenzbegründung der Gebrauch und der allgemeine Konsens ist; das Individuum allein ist nicht in der Lage, irgendeinen Wert festzulegen. 1844 Überdies zeigt uns der so gefaßte Wertbegriff, 1845 daß es ein großer Irrtum wäre, 1846 einen [sprachlichen] Term einzig als die Verbindung einer bestimmten Lautung mit einem bestimmten Konzept anzusehen. 1847 Ihn auf diese Weise zu definieren, würde bedeuten, daß man ihn vom System isoliert, zu dem er gehört; 1848 es hieße zu glauben, man könne mit den Termen anfangen und anschließend das System konstruieren, indem man sie einfach aufsummiert, während man im Gegenteil vom solidarischen Ganzen ausgehen muß, um [durch Analyse] die Elemente zu gewinnen, die es umschließt. 1849 Um diese These weiterzuentwickeln, werden wir nacheinander aus der Perspektive des Signifikats oder Konzepts (§ 2), des Signifikanten (§ 3) und des Zeichens als Ganzem (§ 4) argumentieren. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 139 1850 Da es nicht möglich ist, die konkreten Entitäten oder Einheiten der Sprache direkt zu erfassen, werden wir mit den Wörtern arbeiten. Obwohl diese nicht exakt der Definition der sprachlichen Einheit entsprechen (cf. 1724ss.), liefern sie davon doch eine annähernde Vorstellung, die den Vorteil hat, konkret zu sein; 1851 wir betrachten sie also als äquivalente Beispiele für die wirklichen Terme eines synchronischen Systems, und die anhand der Wörter herausgearbeiteten Prinzipien haben für die Einheiten im allgemeinen Gültigkeit. 1852 § 2. - Der sprachliche Wert unter seinem konzeptuellen Aspekt 146 * 1853 Wenn man vom Wert eines Wortes spricht, denkt man im allgemeinen und vor allem an seine Eigenschaft, eine Idee wiederzugeben, und dies ist in der Tat einer der Aspekte des sprachlichen Wertes. Aber wenn dem so ist, worin unterscheidet sich denn dieser Wert von dem, was man die Bedeutung nennt? Sollten die beiden Wörter etwa synonym sein? 1854 Wir glauben das nicht, 1855 obwohl es leicht zu einer Verwechslung kommen kann, die allerdings weniger durch die Ähnlichkeit der beiden Terme bedingt ist, als durch die Subtilität des Unterschieds, den sie zum Ausdruck bringen. 147 * 1856 Der Wert ist in konzeptueller Hinsicht ohne Zweifel ein Element der Bedeutung, und es ist sehr schwierig zu erkennen, worin sich letztere von ihm unterscheidet, da sie in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm steht. 92 1857 Es ist aber unerlässlich, diese Frage zu klären; andernfalls riskiert man, die Sprache zu einer reinen Nomenklatur verkommen zu lassen (cf. 1095ss.). 1858 Nehmen wir zuerst die Bedeutung, so wie man sie sich vorstellt und wie wir sie 1107ss. veranschaulicht haben. 1859 Sie ist, wie die Pfeile in der Graphik zeigen, nur das Gegenstück zum Lautbild. 1860 Alles spielt sich zwischen dem Lautbild und dem Konzept ab, im Rahmen des als geschlossener Bereich angesehenen Wortes, das eine eigenständige Existenz hat. 93 1861 Aber nun kommen wir zum paradoxalen Aspekt des Problems: Einerseits stellt sich uns das Konzept als das Gegnstück zum Lautbild innerhalb des Zeichens dar, 1862 und andererseits ist dieses Zeichen selbst, d. h. das Band, das seine beiden Komponenten verbindet, auch 1863 und ebenso sehr das Gegenstück zu den anderen Zeichen des Sprachsystems. 92 Unklare Passage. Ist nun der Wert oder die Bedeutung das übergeordnete Element? Der Anfang spricht für die Bedeutung, das Ende für den Wert. Die Unklarheit findet sich schon in den Quellen (D und IIIC). Eigentlich muß der Wert übergeordnet sein. 93 signifié = Signifikat; signifiant = Signifikant. 140 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1864 Da die Sprache ein System ist, dessen Einheiten solidarisch sind und in dem der Wert der einen sich aus dem Vorhandensein der anderen ergibt, entsprechend dem Schema: 94 wie kann es sein, daß der so definierte Wert mit der Bedeutung, d. h. mit dem Gegenstück des Lautbildes, zusammenfällt? 1865 Es scheint unmöglich zu sein, die Beziehungen, die hier durch horizontale Pfeile dargestellt werden, mit denen gleichzusetzen, die im vorhergehenden Schema durch die vertikalen Pfeile markiert werden. 1866 Mit anderen Worten - und um den Vergleich mit dem zerschnittenen Papierblatt wieder aufzunehmen (cf. 1833ss.) - : Es ist nicht einsichtig, warum die zwischen den verschiedenen Fragmenten A, B, C, D usw. festgestellte Beziehung nicht verschieden von derjenigen ist, die zwischen dem Recto und dem Verso ein und desselben Fragments, also A/ A', B/ B' usw., besteht. 1867 Um diese Frage zu beantworten, halten wir zuerst einmal fest, daß auch anderweitig als in der Sprache alle Werte diesem paradoxalen Prinzip unterworfen zu sein scheinen. Sie beruhen immer: 1868 1. auf etwas Verschiedenem, das gegen die Einheit ausgetauscht werden kann, deren Wert es zu bestimmen gilt; 1869 2. auf ähnlichen Einheiten, die mit derjenigen verglichen werden können, um die es geht. 1870 Diese beiden Faktoren sind unverzichtbar für die Existenz eines Wertes. 1871 So muß man, um den Wert eines Fünffrankenstückes zu bestimmen, wissen: 1. daß man es gegen eine bestimmten Menge von etwas Anderem eintauschen kann, z. B. von Brot; 2. daß man es mit einem ähnlichen Wert des gleichen Systems vergleichen kann, z. B. einem Einfrankenstück, oder mit einer Münze aus einem anderen System (z. B. einem englischen Pfund 95 usw.). 1872 Ebenso kann ein Wort durch etwas Verschiedenartiges ersetzt werden: eine Idee; überdies kann es mit etwas von der gleichen Art verglichen werden: einem anderen Wort. 1873 Sein Wert ist also nicht festgelegt, solange man sich darauf beschränkt festzustellen, daß es gegen dieses oder jenes Konzept ausgetauscht werden kann, d. h. gegen irgendeine Bedeutung; 1874 man muß es noch mit ähnlichen Werten vergleichen, d. h. mit anderen Wörtern, die zu ihm in Opposition stehen. 1875 Sein Inhalt ist also erst aufgrund des Zusammenspiels mit dem wirklich festgelegt, was außerhalb von ihm liegt. 1876 Als Teil eines Systems kommt ihm also nicht nur eine Bedeutung, 1877 sondern auch und vor allem ein Wert zu, und das ist etwas ganz Anderes. 1878 Einige Beispiele werden deutlich machen, daß dem wirklich so ist. 1879 Das französische mouton kann [durchaus] die Bedeutung von englisch sheep haben, aber es hat nicht den gleichen Wert, und dies aus verschiedenen Gründen, vor allem aber deshalb, weil man im Englischen für ein zubereitetes und am Tisch serviertes Stück Fleisch mutton und nicht sheep sagt. 1880 Der unterschiedliche Wert von sheep und mouton ist darin begründet, daß das erste einen zweiten Ausdruck neben sich hat, was für das französische Wort nicht der Fall ist. 1881 Innerhalb einer Sprache begrenzen sich alle Wörter, die eine ähnliche Idee zum Ausdruck bringen, gegenseitig: Synonyme wie redouter, craindre, avoir peur haben nur aufgrund ihrer Oppositon einen eigenen Wert; wenn redouter nicht existierte, würde sein 94 s. é = signifié/ Signifikat; s. t = signifiant/ Signifkant. 95 Ab der 2. Aufl. ein Dollar. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 141 ganzer Inhalt an seine Konkurrenten gehen. 1882 Umgekehrt gibt es Terme, die sich aufgrund des Kontakts mit anderen [inhaltlich] anreichern; so resultiert z. B. das neu in décrépit («un vieillard décrépit», cf. 1380ss.) eingeführte Element aus der Koexistenz mit décrépi («un mur décrépi»). 1883 Somit ist der Wert jedes Terms durch das bedingt, was ihn umgibt; 1884 nicht einmal im Falle eines Wortes wie Sonne kann man den Wert unmittelbar bestimmen ohne das in Rechnung zu stellen, was es umgibt; es gibt Sprachen, in denen es unmöglich ist zu sagen s ’ asseoir au soleil ‘ sich in die Sonne setzen ’ . 1885 Was wir in bezug auf das Wort gesagt haben, gilt für jede beliebige sprachliche Einheit, z. B. für die grammatikalischen Entitäten. 1886 So entspricht der Wert eines französischen Plurals nicht demjenigen eines Plurals im Sanskrit, obwohl der Sinn meist identisch ist; dies rührt daher, daß das Sanskrit drei statt nur zwei Numeri kennt (mes yeux, mes oreilles, mes bras, mes jambes wären im Dual); es wäre unangemessen, dem Plural im Sanskrit und im Französischen den gleichen Wert zuzuweisen, denn das Sanskrit kann den Plural nicht in all den Fällen verwenden, wo er im Französischen die Regel ist; sein Wert hängt somit von dem ab, was außerhalb von ihm und um ihn herum existiert. 1887 Wenn die Wörter die Aufgabe hätten, vorgegebene Konzepte wiederzugeben, hätte jedes von einer Sprache zur andern ganz genaue Sinnentsprechungen; dem ist aber nicht so. Das Französische sagt unterschiedslos louer (une maison) für ‘ in Miete nehmen ’ und ‘ in Miete geben ’ , wo das Deutsche zwei verschiedene Ausdrücke verwendet: mieten und vermieten; es liegt also keine exakte Entsprechung der Werte vor. 1888 Die Verben schätzen und urteilen kennen einen Bedeutungsumfang, der im Großen und Ganzen demjenigen der französischen Wörter estimer und juger entspricht; gleichwohl ist diese Entsprechung nicht in allen Punkten perfekt. 1889 Die Flexion liefert uns besonders eindrückliche Beispiele. 1890 Die Unterscheidung der Tempora, die uns geläufig ist, fehlt in gewissen Sprachen; das Hebräische kennt nicht einmal die doch fundamentale Differenzierung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 1891 Das Urgermanische kennt keine spezifische Form für die Zukunft; wenn man sagt, es gebe sie mithilfe des Präsens wieder, drückt man sich nicht korrekt aus, denn der Wert des Präsens ist im Germanischen nicht der gleiche wie in den Sprachen, die neben dem Präsens ein Futurum kennen. 1892 Die slawischen Sprachen unterscheiden regelmäßig zwischen zwei Aspekten des Verbs: Der perfektive gibt die Handlung in ihrer Gesamtheit, als einen Punkt wieder, unabhängig von ihrer Entwicklung; der imperfektive [dagegen] zeigt sie in ihrer Genese, auf der Zeitachse. 1893 Diese Kategorien bereiten einem Franzosen Schwierigkeiten, denn seine Sprache kennt sie nicht 148 *; wenn sie vorgegeben wären, wäre dem nicht so. 1894 In all diesen Fällen haben wir es somit nicht mit vorgegebenen Ideen zu tun, 1895 sondern mit sich aus dem System ergebenden Werten. 1896 Wenn man sagt, sie würden Konzepten entsprechen, dann unterstellt man, daß diese rein differentieller Natur sind, nicht positiv definiert über ihren Inhalt, sondern negativ aufgrund ihrer Beziehungen zu den übrigen Termen des Systems. 1897 Ihre entscheidende Charakteristik ist, das zu sein, was die andern nicht sind. 1898 Daraus ergibt sich die wirkliche Interpretation des Zeichenschemas. So bedeutet 96 96 signifié = Signifikat; signifiant = Signifkant; juger ‘ richten, beurteilen ’ . 142 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft daß im Französischen ein Konzept ‘ juger ’ mit einem Lautbild juger verbunden ist; kurz: es gibt die Bedeutung wieder; 1899 aber es muß klar sein, daß dieses Konzept keinen originären Charakter hat, 1900 daß es nur ein Wert ist, der sich aus den Beziehungen zu ähnlichen Werten ergibt, und daß es ohne diese Beziehungen die Bedeutung nicht gäbe. 149 * 1901 Wenn ich einfach sage, daß ein Wort eine bestimmte Bedeutung hat, wenn ich mich [einzig] an die Verbindung von Lautbild und Konzept halte, dann vollziehe ich einen Gedankengang, der bis zu einem gewissen Grad zutreffend sein und eine Vorstellung der Wirklichkeit vermitteln kann; aber keinesfalls erfasse ich die sprachlichen Gegebenheiten in ihrem Wesen und in ihrem ganzen Umfang. 150 * 1902 § 3. - Der sprachliche Wert in materieller Perspektive 1903 Wenn der inhaltliche Teil des Wertes ausschließlich auf Beziehungen und Unterschieden zu den anderen Einheiten des Sprachsystems beruht, so gilt das gleiche auch für seinen materiellen Teil. 1904 Was im Rahmen des Wortes zählt, ist nicht die Lautung als solche, es sind vielmehr die lautlichen Unterschiede, 1905 die es erlauben, das eine Wort von all den andern zu unterscheiden, denn sie sind die Träger der Bedeutung. 1906 Das mag vielleicht überraschen; aber wo könnte es in Wahrheit eine andere Möglichkeit geben? 1907 Weil es kein Lautbild gibt, das besser als irgendein anderes geeignet wäre, das auszudrücken, was es auszudrücken gilt, ist es selbst a priori offensichtlich, daß in letzter Analyse nie ein sprachliches Fragment auf etwas anderem beruhen kann, als auf der Nicht- Koinzidenz mit dem ganzen Rest. 1908 Arbiträr und differentiell sind zwei korrelierende Eigenschaften. 1909 Die Veränderlichkeit der sprachlichen Zeichen läßt diese Korrelation deutlich zutage treten; 1910 es ist gerade weil die Einheiten a und b grundsätzlich unfähig sind, als solche bis in den Bereich des Bewußtseins vorzustoßen - dieses nimmt stets nur den Unterschied a/ b wahr - , daß jeder dieser Terme frei bleibt, sich nach Gesetzen zu verändern, die nicht das Geringste mit seiner Bedeutungsfunktion zu tun haben. 1911 Der tschechische Genitiv Plural ž en ist durch kein positives Merkmal gekennzeichnet (cf. 1439ss.); trotzdem funktioniert das Formenpaar ž ena : ž en ebenso gut wie das ihm vorangehende Paar ž ena : ž en ъ ; [dies rührt daher], daß einzig der Unterschied zwischen den Zeichen eine Rolle spielt; ž ena hat nur einen [eigenen] Wert, weil es verschieden ist. 1912 Hier ein weiteres Beispiel, das noch deutlicher macht, inwieweit das Spiel der lautlichen Differenzen systematischen Charakter hat: 1913 Im Griechischen ist éph ē n ein Imperfekt und ést ē n ein Aorist, und dies, obwohl beide Formen auf gleiche Art gebildet sind; dies erklärt sich daraus, daß das erste zum System des Indikativ Präsens ph ē mí ‘ ich sage ’ gehört, während es kein Präsens *st ē mí gibt; nun ist es aber gerade die Beziehung ph ē mí - éph ē n, die das Verhältnis von Präsens und Imperfekt (deíkn ū mi - edeíkn ū n) zum Ausdruck bringt, usw. 1914 Diese Zeichen funktionieren somit nicht aufgrund ihres intrinsischen Gehalts, sondern in Abhängigkeit von ihrer gegenseitigen Stellung. 1915 Im übrigen ist es unmöglich, daß die Lautung qua materielles Element selbst dem Sprachsystem angehört. 1916 Sie ist für dieses nur etwas Sekundäres, ein Stoff, dessen es sich bedient. 1917 Alle konventionellen Werte weisen diese Charakteristik auf, daß sie nicht mit dem faßbaren Element zusammenfallen, das ihnen als Basis dient. 1918 So ist es nicht das Metall eines Geldstückes, das seinen Wert ausmacht; ein Taler 97 ist nominell fünf Franken wert und enthält nur die Hälfte dieser Summe an Silber 151 *; er ist je nach dem Prägestempel mehr oder 97 Gemeint ist wohl der schweizerische «Fünfliber». 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 143 weniger wert, mehr oder weniger diesseits oder jenseits einer politischen Grenze. 1919 Das trifft in noch weit stärkerem Ausmaß für den sprachlichen Signifikanten zu; seinem Wesen nach ist er keineswegs lautlicher Natur, 1920 er ist körperlos 1921 und beruht nicht auf einer materiellen Substanz, sondern einzig und allein auf den Differenzen, die sein Lautbild von allen andern unterscheiden. 152 * 1922 Dieses Prinzip ist derart grundlegend, daß es für alle materiellen Elemente der Sprache Gültigkeit hat, einschließlich der Phoneme. 1923 Jedes Idiom baut seine Wörter auf der Basis eines Systems von Lautelementen auf, von denen jedes eine eindeutig abgegrenzte Einheit darstellt und deren Zahl genau gegeben ist. 153 * 1924 Was sie charakterisiert, ist nicht - wie man glauben könnte - ihre eigene und positive Qualität, sondern einfach die Tatsache, daß sie untereinander unverwechselbar sind. 1925 Die Phoneme sind in erster Linie oppositive, relative und negative Einheiten. 154 * 1926 Den Beweis hierfür liefert der Spielraum, den die Sprecher bei der Aussprache haben, solange die Laute von einander unterscheidbar bleiben. 1927 So hindert im Französischen die Gewohnheit, das r uvular auszusprechen, viele Personen nicht daran, es zu rollen; [das Funktionieren] der Sprache wird dadurch nicht beeinträchtigt; sie verlangt nur Unterschiedlichkeit und fordert nicht, wie man annehmen könnte, daß der Laut eine konstante Qualität aufweise. 1928 Ich kann sogar das französische r wie deutsches ch in Bach, doch usw. aussprechen, während ich im Deutschen nie r für ch verwenden könnte, denn diese Sprache kennt beide Elemente und muß sie deshalb [zwingend] unterscheiden. 1929 Ebenso gibt es im Russischen keinen Spielraum für t in Richtung ť (palatalisiertes t), denn das Ergebnis wäre das Zusammenfallen zweier verschiedener Laute des Sprachsystems (cf. govori ť ‘ sprechen ’ und govorit ‘ er spricht ’ ); andererseits gibt es [deutlich] mehr Freiheit in Richtung auf th (aspiriertes t), denn dieser Laut ist im System der russischen Phoneme nicht vorgesehen. 1930 Da man eine entsprechende Situation [auch] im System der Schriftzeichen feststellen kann, nehmen wir es als Vergleichsgröße, um diesen ganzen Problemkreis zu erhellen. Wir stellen fest: 1931 1. Die Schriftzeichen sind arbiträr; es gibt z. B. keine [natürliche] Beziehung zwischen dem Buchstaben t und dem Laut, den er repräsentiert. 1932 2. Der Wert der Buchstaben ist rein negativ und differentiell; so kann ein und dieselbe Person den Buchstaben t in verschiedenen Varianten wiedergeben wie: τ T t ̬ t Das einzig Wesentliche ist, daß dieses Zeichen in ihrer Handschrift nicht mit demjenigen für l, d usw. zusammenfällt. 1933 3. Die Werte der Schriftzeichen sind nur aufgrund ihrer gegenseitigen Opposition innerhalb eines gegebenen, aus einer bestimmten Zahl von Buchstaben bestehenden Systems wirksam. 1934 Diese Charakteristik, die zwar nicht identisch mit der zweiten ist, steht gleichwohl in einer engen Beziehung zu ihr, denn beide sind letzlich von der ersten abhängig. 1935 Da das graphische Zeichen arbiträrer Natur ist, zählt seine Form wenig, bzw. sie ist nur im Rahmen der vom System auferlegten Grenzen von Bedeutung. 1936 4. Die Art der Zeichenproduktion ist vollkommen unerheblich, denn sie betrifft das System nicht (auch dies ergibt sich aus der ersten Charakteristik). 1937 Ob ich die Buchstaben mit weißer oder schwarzer Farbe schreibe, ob ich sie eingraviere oder reliefartig gestalte, mit einer Feder oder einem Meißel, ist für ihr Funktion vollkommen unwichtig. 144 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1938 § 4. - Das Zeichen als Ganzes 155 * 1939 Alles, was bisher gesagt wurde, läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Unterschiede gibt. 1940 Mehr noch: Ein Unterschied setzt normalerweise positiv [definierte] Terme voraus, zwischen denen er sich konstituiert; aber in der Sprache gibt es nur Unterschiede ohne positive Einheiten. 1941 Gleichgültig, ob man das Signifikat oder den Signifikanten nimmt, die Sprache enthält weder Ideen noch Laute, die hinsichtlich des sprachlichen Systems vorgegeben wären, sondern nur inhaltliche und lautliche Unterschiede 156 *, die sich aus diesem System ergeben. 1942 Was ein Zeichen an Inhalt oder an Lautmaterial einschließt, ist viel weniger wichtig als das, was in seinem Umfeld in den anderen Zeichen existiert. 1943 Der Beweis hierfür ist die Tatsache, daß der Wert einer Einheit modifiziert werden kann, ohne daß man seine Bedeutung oder seine Lautgestalt verändert, sondern einzig deshalb, weil irgendeine andere benachbarte Einheit eine Umgestaltung erfahren hat (cf. 1881ss.). 157 * 1944 Aber die Aussage, in der Sprache sei alles negativ, trifft nur zu, wenn man das Signifikat und den Signifikanten je für sich betrachtet: 1945 Sobald man das Zeichen in seiner Ganzheit in den Blick nimmt, steht man etwas gegenüber, das auf seine Weise positiver Natur ist. Ein sprachliches System besteht aus einer Serie von lautlichen Unterschieden, die mit einer Serie von inhaltlichen Unterschieden korrelieren; aber diese Inbezugsetzung 1946 einer gewissen Zahl von Lautzeichen mit einer entsprechenden Zahl von Ausschnitten in der gedanklichen Masse generiert ein Wertsystem; und es ist dieses System, das das effektive Band zwischen den lautlichen und den inhaltlichen Elementen innerhalb jedes Zeichens liefert. 1947 Obwohl das Signifikat und der Signifikant, jede Komponente für sich genommen, rein differentiell und negativ sind, 1948 ist ihre Kombination ein positives Faktum; 1949 es handelt sich dabei sogar um das Einzige dieser Art in der Sprache, denn das Spezifische der Institution Sprache ist es gerade, den Parallelismus zwischen den beiden differentiellen Bereichen aufrecht zu erhalten. 158 * 1950 Gewisse diachronische Erscheinungen sind sehr charakteristisch in dieser Hinsicht: Es handelt sich um die zahllosen Fälle, wo die Veränderung des Signifikanten eine Veränderung der Idee nach sich zieht, und wo man sieht, daß im Prinzip die Zahl der unterschiedenen Ideen der Zahl der distinktiven Zeichen entspricht. 1951 Wenn zwei Einheiten aufgrund des Lautwandels zusammenfallen ( 1952 z. B. décrépit = decrepitus und décrépi von crispus), 1953 dann tendieren auch die Inhalte zur Fusion, vorausgesetzt, sie eignen sich hierfür. 1954 Kann eine Einheit sich auch aufgliedern ( 1955 z. B. chaise und chaire)? 1956 Eine aufkeimende Differenzierung wird unweigerlich dazu tendieren, signifikant zu werden, auch wenn dies nicht immer und nicht immer auf Anhieb gelingt. 1957 Umgekehrt wird jeder vom Geist wahrgenommene inhaltliche Unterschied danach streben, sich durch unterschiedliche Signifikanten auszudrücken, und zwei Inhalte, die der Geist nicht mehr unterscheidet, werden dazu tendieren, im gleichen Signifikanten zusammenzufallen. 1958 Sobald man die Zeichen als positive Terme miteinander vergleicht, kann man nicht mehr von Differenzen sprechen; der Ausdruck wäre unangemessen, denn er ist in Wirklichkeit nur für den Vergleich von zwei Lautbildern passend, z. B. père und mère, oder für denjenigen von zwei Inhalten, z. B. der Idee ‘ père ’ und der Idee ‘ mère ’ ; 1959 zwei Zeichen, von denen jedes aus einem Signifikat und einem Signifikanten besteht, sind nicht verschieden, sie sind schlicht gegensätzlich 98 . Zwischen ihnen gibt es nur Opposition. 1960 Der ganze sprachliche Mecha- 98 Der Vulgatatext spielt hier mit den Ausdrücken différent und distinct, die beide mit verschieden/ unterschiedlich übersetzt werden könnten. Ausgesagt werden soll, daß im ersten Fall der differentielle Mechanismus spielt, im zweiten dagegen nicht. Wir übersetzen deshalb distinct in Anlehnung an das nachfolgende opposition mit gegensätzlich. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 145 nismus 159 *, von dem weiter unten die Rede sein wird, beruht auf Gegensätzen dieser Art und auf den lautlichen und inhaltlichen Differenzen, die sie implizieren. 160 * 1961 Was für den Wert gilt, trifft auch für die Einheit zu (cf. 1808ss.). Es handelt sich dabei um ein Bruchstück der Redekette, das einem bestimmten Konzept entspricht (cf. 1711); beide sind rein differentieller Natur. 1962 Auf die Einheit angewendet, kann das Prinzip der Differenzierung folgendermaßen formuliert werden: Die Charakteristika der Einheit fallen mit der Einheit selbst zusammen. In der Sprache, ebenso wie in jedem anderen semiologischen System, ist das, was ein Zeichen [von den andern] unterscheidet, auch gleichzeitig das Einzige, was es konstituiert. 161 * 1963 Es ist der Unterschied, der die Charakteristik ausmacht, genau wie er den Wert und die Einheit begründet. 1964 Eine weitere, geradezu paradoxe Konsequenz dieses Prinzips ist die Tatsache, daß das, was man gemeinhin ein Grammatikphänomen nennt, letztlich der Definition der Einheit entspricht, 1965 denn es beruht immer auf einer Opposition von Termen; 1966 allerdings erweist sich dieser Gegensatz als besonders bedeutungsträchtig wie z. B. im Fall der deutschen Pluralbildung vom Typus Nacht : Nächte. 1967 Jeder der Terme, die sich im Falle des Grammatikphänomens gegenüberstehen (der Singular ohne Umlaut und ohne auslautendes e in Opposition zum Plural mit Umlaut und -e) beruht seinerseits auf einem ganzen Spiel von Oppositionen im Rahmen des Systems; für sich allein genommen sind sowohl Nacht als auch Nächte nichts: 1968 Alles ist also Opposition. Mit andern Worten: Man kann die Beziehung Nacht : Nächte durch eine algebraische Formel vom Typus a/ b wiedergeben, in der a und b keine einfachen Terme repräsentieren, sondern beide aus einem Komplex von Relationen resultieren. Die Sprache ist gewissermaßen eine Algebra, die nur komplexe Terme kennt. 1969 Unter den Oppositionen, die sie einschließt, gibt es solche, die bedeutungsvoller sind als andere; 1970 aber Einheit und Grammatikphänomen sind nur verschiedene Namen, um unterschiedliche Aspekte ein und derselben Erscheinung zu bezeichnen: das Spiel der sprachlichen Oppositionen. 1971 Dies trifft in einem derartigen Ausmaß zu, daß man ohne weiteres das Problem der Einheiten angehen könnte, indem man mit den Grammatikphänomenen beginnt. 1972 Wenn man eine Opposition wie Nacht : Nächte etabliert hat, würde man sich fragen, welche Einheiten in dieser Opposition eine Rolle spielen. 1973 Sind es nur diese zwei Wörter, oder eine ganze Reihe von ähnlichen Wörtern? Oder etwa a und ä? Oder alle Singulare und alle Plurale? Usw. 1974 Einheit und Grammatikphänomen würden nicht zusammenfallen, wenn die sprachlichen Zeichen auf etwas anderem beruhen würden als nur auf Unterschieden. 1975 Aber da die Sprache ist, was sie nun einmal ist, von welcher Seite aus man sie auch immer angeht, wird man in ihr nichts Einfaches finden; wir [haben] überall und immer dasselbe komplexe Gleichgewicht von Termen, die sich gegenseitig bedingen. 1976 Mit anderen Worten: Die Sprache ist eine Form, und nicht eine Substanz (cf. 1837). 1977 Man kann sich diese Wahrheit nicht genug zu eigen machen, denn alle Fehler unserer Terminologie, alle mangelhaften Bezeichnungen der sprachlichen Gegebenheiten beruhen auf der unwillentlichen Annahme, es gebe eine Substanz im Phänomen Sprache. 146 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 1978 Kapitel 5 Syntagmatische Beziehungen und assoziative Beziehungen 162 * 1979 § 1. - Definitionen 1980 So beruht denn alles in einem Sprachzustand auf Beziehungen; wie funktionieren diese nun? 1981 Die Beziehungen und die Unterschiede zwischen sprachlichen Einheiten spielen in zwei verschiedenen Bereichen, von denen jeder ein eigenes Wertsystem generiert; die Opposition zwischen diesen beiden Ordnungen läßt uns ihre jeweilige Natur besser verstehen. 1982 Sie entsprechen zwei Formen unserer geistigen Aktivitäten, die beide für das Sprachleben unverzichtbar sind. 1983 Einerseits gehen im Diskurs die Wörter aufgrund ihrer Abfolge Beziehungen ein, 1984 die auf dem linearen Charakter der Sprache gründen 1985 und der es verunmöglicht, gleichzeitig zwei Elemente auszusprechen (cf. 1168ss.). 163 * 1986 Diese ordnen sich eines nach dem andern in die Redekette ein. 1987 Diese Kombinationen, deren Grundlage die [lineare] Ausdehnung ist, 1988 können Syntagmen genannt werden ( 99 ). 1989 Das Syntagma besteht somit immer aus zwei oder mehr aufeinanderfolgenden Einheiten ( 1990 z. B.: re-lire; contre tous; la vie humaine; Dieu est bon; s ’ il fait beau temps, nous sortirons; usw.). 1991 Im Syntagma gewinnt ein Term seinen Wert nur aufgrund der Opposition zu dem, was vorangeht oder folgt, oder zu beiden. 1993 Andererseits, d. h. außerhalb des Diskurses, assoziieren sich die Wörter, die etwas gemeinsam haben, im Gedächtnis, was zu Gruppierungen führt, die auf sehr unterschiedlichen Beziehungen gründen. 1994 So evoziert das Wort enseignement im Geist unbewußt eine Fülle anderer Wörter (enseigner, renseigner usw., oder aber armement, changement usw., oder éducation, apprentissage usw.); auf die eine oder andere Weise haben sie alle etwas unter sich gemeinsam. 1995 Man sieht [leicht], daß diese Gruppierungen von ganz anderer Art sind als die vorhergehenden. 1996 Sie gründen nicht auf der [linearen] Ausdehnung; 1997 ihr Sitz ist im Hirn; 1998 sie sind Teil dieses inneren Schatzes, der bei jedem Individuum das Sprachsystem bildet. 1999 Wir wollen sie assoziative Beziehungen nennen. 2000 Die syntagmatische Beziehung ist eine Beziehung in praesentia; 2001 sie beruht auf zwei oder mehr Termen, die gleichermaßen präsent sind in einer tatsächlich existierenden Reihe. 2002 Anders dagegen die assoziative Beziehung, die Terme in absentia 2002 in einer virtuellen Gedächtnisreihe vereinigt. 2004 Unter diesem doppelten Gesichtspunkt ist eine sprachliche Einheit vergleichbar mit einem gegebenen Teil eines Gebäudes, z. B. einer Säule; diese steht einerseits in einer gewissen Beziehung zum Tragbalken, den sie stützt; diese Verbindung von zwei gleichermaßen im Raum vorhandener Einheiten evoziert die syntagmatische Beziehung. Wenn andererseits diese Säule dorischer Art ist, dann löst sie den geistigen Vergleich mit anderen Typen (ionisch, korinthisch usw.) aus, d. h. mit im Raum nicht präsenten Elementen: Die Beziehung ist assoziativer Natur. 2005 Jeder dieser beiden Beziehungstypen verlangt nach einigen spezifischen Bemerkungen. ( 99 ) 1992 Es ist fast überflüssig, darauf hinzuweisen, daß die Untersuchung der Syntagmen nicht identisch ist mit der Syntax: Diese ist nur ein Teil jener, wie wir 2078ss. sehen werden. (Ed.) 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 147 2006 § 2. - Die syntagmatischen Beziehungen 164 * 2007 Unsere Beispiele von 1990ss. machen bereits deutlich, daß der Begriff Syntagma nicht nur auf Wörter anwendbar ist, sondern auch auf Wortgruppen, auf komplexe Einheiten jeglicher Ausdehnung und Natur (Komposita, Ableitungen, Satzglieder, ganze Sätze). 2008 Es reicht nicht aus, die Beziehung zu untersuchen, die die verschiedenen Teile eines Syntagmas miteinander verbindet (z. B. contre und tous in contre tous, contre und maître in contremaître); man muß auch der Relation Rechnung tragen, die das Ganze mit seinen Teilen unterhält (z. B. contre tous einerseits in Opposition zu contre, andererseits zu tous, oder contremaître in Opposition zu contre und zu maître). 2009 Hier wäre ein Einwand möglich. 2010 Der Satz ist der Prototyp des Syntagmas. Aber er gehört der Rede an, nicht dem Sprachsystem (cf. 246 s.) 165 *; bedeutet dies nicht, daß [auch] das Syntagma der Rede zuzurechnen ist? 2011 Ich denke nicht. 2012 Das Spezifische der Rede ist die Freiheit der Kombinationen; man muß sich deshalb fragen, ob alle Syntagmen gleichermaßen frei sind. 2013 Man stößt zuerst einmal auf eine große Zahl von Ausdrücken, die dem Sprachsystem zuzurechnen sind; 2014 das sind die stehenden Wendungen, an denen etwas zu ändern der Gebrauch untersagt, und dies selbst dann, wenn man bei näherem Zusehen signifikante Teile unterscheiden kann (cf. à quoi bon? , allons donc! usw.). 2015 Gleiches gilt, wenn auch in geringerem Ausmaß, für Ausdrücke wie prendre la mouche, forcer la main à quelqu ’ un, rompre une lance, oder auch avoir mal à (la tête usw.), à force de (soins usw.), que vous en semble? , pas n ’ est besoin de . . . usw., deren Gebrauchscharakter deutlich wird aufgrund ihrer semantischen oder syntaktischen Eigenheiten. 2016 Derartige Wendungen kann man nicht improvisieren, sie werden uns durch die Tradition zur Verfügung gestellt. 2017 Man kann auch die Wörter anführen, die - obwohl sie ohne weiteres analysierbar sind - durch irgendeine morphologische Anomalie auffallen, die einzig durch die Kraft des Gebrauchs erhalten geblieben ist (cf. difficulté gegenüber facilité usw., mourrai neben dormirai usw.). 2018 Aber das ist nicht alles; man muß auch alle Typen von Syntagmen, die nach regelmäßigen Mustern konstruiert sind, dem Sprachsystem und nicht der Rede zuweisen. 2019 Da es in der Sprache nichts Abstraktes gibt, existieren diese Typen tatsächlich nur, wenn sie eine genügend große Zahl von Beispielen registriert hat. 2020 Wenn ein Wort wie indécorable (cf. 2526) in der Rede auftaucht, setzt dies einen bestimmten Typus voraus, und dieser wiederum existiert nur aufgrund der Erinnerung an eine genügend große Zahl von ähnlichen Wörtern, die dem Sprachsystem angehören (impardonnable, intolérable, infatigable usw.). 2021 Gleiches gilt auch für Sätze und Wortgruppen, denen regelmäßige Muster zugrund liegen; Kombinationen wie la terre tourne, que vous dit-il? usw. entsprechen allgemeinen Typen, die ihrerseits in der Form von konkreten Erinnerungsspuren im Sprachsystem verankert sind. 166 * 2022 Aber man muß zugeben, daß es im Bereich des Syntagmas keine scharfe Grenze gibt zwischen Erscheinungen des Sprachsystems, die durch den Gebrauch der Gemeinschaft gekennzeichnet sind, und Erscheinungen der Rede, die in der individuellen Freiheit gründen. In einer Vielzahl von Fällen ist es schwierig, eine Kombination einzuordnen, 2023 da beide Bereiche bei ihrer Genese zusammengewirkt haben und es unmöglich ist, den jeweiligen Anteil näher zu bestimmen. 167 * 2024 § 3. - Die assoziativen Beziehungen 168 * 2025 Die auf mentalen Assoziationen beruhenden Gruppen sind nicht darauf beschränkt, Einheiten zusamenzuführen, die irgend etwas Gemeinsames haben; 2026 der Geist erfaßt 148 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft auch die Natur der Beziehungen, die jeweils zwischen den Einheiten bestehen und schafft so ebensoviele Assoziationsreihen, wie es unterschiedliche Beziehungen gibt. 2027 So ist in enseignement, enseigner, enseignons usw. das allen gemeinsame Element der Stamm; aber das Wort enseignement kann auch Teil einer Reihe sein, die auf einem anderen gemeinsamen Element beruht, dem Suffix (cf. enseignement, armement, changement usw.); die Assoziation kann auch einzig auf der Analogie der Signifikate beruhen (enseignement, instruction, apprentissage, éducation usw.), oder aber auch einzig auf einem gemeinsamen Lautbild (z. B. enseignement und justement) ( 100 ). 2028 Wir haben somit bald eine doppelte Gemeinsamkeit von Inhalt und Form, bald nur eine einfache Gemeinsamkeit auf der Ebene der Form oder des Inhalts. 2029 Ein beliebiges Wort kann immer alles evozieren, was mit ihm auf die eine oder andere Weise assoziiert werden kann. 2032 Während ein Syntagma sofort die Idee einer geordneten Abfolge und einer gegebenen Anzahl von Elementen hervorruft, 2033 erscheinen die Glieder einer assoziativen Familie weder in einer bestimmten Anzahl 2034 noch in einer vorgegebenen Ordnung. Wenn man eine Assoziationsreihe désir-eux, chaleur-eux, peur-eux usw. aufstellt, weiß man im vornherein nicht, wieviele Wörter uns unser Gedächtnis liefern wird, und auch nicht, in welcher Reihenfolge sie auftreten werden. 2035 Ein gegebener Term fungiert als Zentrum einer Konstellation, er ist der Punkt, auf den hin andere zugeordnete Terme konvergieren, deren Zahl unbestimmt ist: 169 * 2036 ( 100 ) 2030 Dieser letzte Fall ist selten und kann als abartig gelten, denn der Geist eliminiert spontan die Assoziationen, die das Redeverständnis beeinträchtigen könnten; aber seine Existenz wird belegt durch eine primitive Kategorie von Wortspielen, die auf unsinnigen, sich aus einfacher Homonymie ergebenden Verwechslungen beruhen, wie z. B. wenn man sagt: «Les musiciens produisent les sons et les grainetiers les vendent.» 2031 Dieser Fall ist von demjenigen zu unterscheiden, wo eine Assoziation, wenngleich willkürlich, durch eine inhaltliche Ähnlichkeit gestützt wird (cf. französisch ergot [ ‘ Sporn, Nocken ’ ] : ergoter [ ‘ (über Kleinigkeiten) nörgeln ’ ], und deutsch blau : durchbläuen ‘ verprügeln ’ ); es handelt sich um eine neue Interpretation eines der Terme des Paares; wir haben es mit Fällen von Volksetymologie zu tun (cf. 2638ss.); die Erscheinung ist interessant für den Bedeutungswandel, aber aus synchronischer Sicht gehört sie schlicht zu der Kategorie enseigner : enseignement, von der weiter oben die Rede war. (Ed.) 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 149 2037 Von diesen beiden Charakteristika der assoziativen Reihe, unbestimmte Ordnung und unbegrenzte Zahl, ist jedoch nur die erste immer zutreffend; die zweite kann fehlen. 2038 Dies gilt [z. B.] für einen charakteristischen Typus dieser Art von Reihungen, die Flexionsparadigmen. 2039 Im Falle von lateinisch dominus, domin ī , domin ō usw. haben wir eine assoziative Gruppe, die auf einem gemeinsamen Element, dem nominalen Stamm domin-, beruht; 2040 aber die Reihe ist [hinsichtlich der Zahl der Elemente] nicht unbestimmt wie diejenige von enseignement, changement usw.; die Zahl der Kasus ist festgelegt; dagegen ist ihre Abfolge nicht räumlich geordnet, 2041 und es geschieht aufgrund eines vollkommen willkürlichen Aktes, daß der Grammatiker sie auf eine bestimmte Art aufführt und nicht auf eine andere; für das Sprecherbewußtsein ist der Nominativ keineswegs der erste Fall der Deklination, und die Kasus könnten je nach den Gegebenheiten in dieser oder jener Ordnung ins Bewußtsein treten. 2042 Kapitel 6 Der Mechanismus der Sprache 170 * 2043 § 1. - Die syntagmatischen Solidaritäten 2044 Die Gesamtheit der lautlichen und inhaltlichen Differenzen, die die Sprache ausmachen, resultiert somit aus zwei Typen von Vergleichen; die Beziehungen sind bald assoziativer, bald syntagmatischer Natur; 2045 die Gruppenbildungen sowohl der einen wie der anderen Art sind weitgehend vorgegeben und im Sprachsystem vorgesehen. Es ist die Gesamtheit dieser geläufigen Beziehungen, die es konstituieren und sein Funktionieren bestimmen. 2046 Das Erste, was uns bei dieser Organisation auffällt, sind die syntagmatischen Solidaritäten: Fast alle Einheiten der Sprache 101 hängen entweder von dem ab, was sie in der Redekette umgibt, oder aber von den aufeinanderfolgenden Teilen, aus denen sie selbst bestehen. 2047 Die Wortbildung genügt, um dies zu verdeutlichen. 2048 Eine Einheit wie désireux zerfällt in zwei Untereinheiten (désir-eux), aber es handelt sich dabei nicht um zwei unabhängige Teile, die einfach aneinandergefügt sind (désir + eux). Wir haben es vielmehr mit einem Produkt zu tun, mit einer Kombiation von zwei solidarischen Elementen, denen ein Wert nur aufgrund ihrer Interaktion in einer übergeordneten Einheit zukommt (désir x eux). 2049 Das Suffix ist für sich alleine genommen inexistent; 2050 was ihm seinen Platz im Sprachsystem sichert, ist eine Reihe von gebräuchlichen Termen wie chaleur-eux, chanc-eux usw. 2051 Der Stamm seinerseits ist ebenfalls nicht autonom; er existiert nur in der Kombination mit einem Suffix; 2052 in roul-is ist das Element roulnichts ohne das ihm folgende Suffix. 2053 Das Ganze hat einen Wert nur aufgrund seiner Teile, und die Teile stellen nur aufgrund ihres Platzes im Ganzen einen Wert dar; aus diesem Grunde ist die syntagmatische Beziehung des Teils zum Ganzen ebenso wichtig wie diejenige der Teile zueinander (cf. 2008). 171 * 2054 Wir haben es hier mit einem allgemeinen Prinzip zu tun, das für alle Typen von Syntagmen Gültigkeit hat, die oben 2013ss. aufgezählt wurden; es handelt sich immer um 101 Wir geben hier langue mit Sprache wieder, weil sich der erste Teil der Argumentation auf die Rede, der zweite auf das System bezieht. 150 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft umfassendere Einheiten, die selbst aus begrenzteren Einheiten bestehen, wobei sowohl die einen wie die andern in einem gegenseitigen Solidaritätsverhältnis zueinander stehen. 2055 Allerdings gibt es im Sprachsystem auch unabhängige Einheiten ohne syntagmatische Beziehungen weder zu ihren Teilen noch zu andern Einheiten. 2056 Satzäquivalente wie oui, non, merci usw. sind hierfür gute Beispiele. 2057 Aber diese Erscheinung, die übrigens Ausnahmecharakter hat, genügt nicht, um das allgemeine Prinzip infrage zu stellen. 2058 In der Regel sprechen wir nicht mithilfe isolierter Zeichen, sondern mit Zeichenfolgen, mit organisierten Gruppen, die selbst Zeichencharakter haben. 2059 In der Sprache beruht alles auf Differenzen, aber ebenso sehr auch auf Gruppierungen. 2060 Dieser Mechanismus, der in einem Spiel aufeinanderfolgender Terme besteht, gleicht dem Funktionieren einer Maschine, deren Teile sich gegenseitig beeinflussen, obwohl sie in einer einzigen Dimension angeordnet sind. 172 * 2061 § 2. - Die Interaktion 102 der beiden Gruppierungstypen 2062 Zwischen den dergestalt konstituierten syntagmatischen Gruppierungen existiert ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis; sie bedingen sich gegenseitig. 2063 Denn in der Tat trägt die Koordination im Raum dazu bei, assoziative Gruppierungen zu schaffen, und diese sind ihrerseits nötig für die Analyse der Teile des Syntagmas. 2064 Nehmen wir das Kompositum dé-faire. Wir können es auf einem horizontalen Band darstellen, das der Redekette entspricht: --------------------------- dé-faire --------------------------- Aber gleichzeitig und auf einer anderen Achse existieren im Unterbewußten eine oder mehrere assoziative Reihen von Einheiten, 2065 die mit dem Syntagma ein Element gemeinsam haben, z. B.: 2066 --------------------------- dé-faire --------------------------- décoller faire déplacer refaire découdre contrefaire usw. usw. 102 Wir weichen in der Übersetzung bewußt von der französischen Vorlage (fonctionnement simultané) ab; ein ‘ gleichzeitiges Funktionieren ’ ist noch keine ‘ Interaktion ’ ; letzteres ist aber aufgrund des Folgekontextes genau das, was Saussure im Blick hat. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 151 2067 Ebenso ist lateinisch quadruplex deshalb ein Syntagma, weil es sich auf zwei Assoziationsreihen stützen kann: ----------------------------- quadru-plex ----------------------------- quadrupes simplex quadrifons triplex quadraginta centuplex usw. usw. 2068 Es ist aufgrund der Tatsache, daß diese andern Formen défaire bzw. quadruplex umkreisen, daß diese beiden Wörter in Untereinheiten zerlegt werden können, oder mit andern Worten: daß sie sich als Syntagmen erweisen. So wäre défaire unanalysierbar, wenn die andern Formen, die dé- oder faire enthalten, aus dem Sprachsystem verschwinden würden; es wäre nur noch eine einfache Einheit und seine beiden Teile könnten einander nicht mehr gegenübergestellt werden. 2069 Auf diese Weise wird nun das Spiel dieses Doppelsystems im Diskurs verständlich. 2070 Unser Gedächtnis hält alle mehr oder weniger komplexen Typen von Syntagmen vor, gleichgültig, welcher Art oder Ausdehnung sie auch sein mögen, und im Moment ihrer Anwendung greifen wir auf die assoziativen Gruppen zurück, um unsere Wahl zu treffen. 2071 Wenn jemand sagt marchons! , denkt er unbewußt an die verschiedenen Assoziationsgruppen, an deren Schnittstelle sich das Syntagma marchons! befindet. Dieses steht einerseits in der Reihe marche! , marchez! , und es ist die Opposition von marchons! zu diesen Formen, die unsere Wahl bestimmt; andererseits evoziert marchons! die Reihe montons! , mangeons! usw., in deren Rahmen es nach dem gleichen Verfahren ausgewählt wird; 2072 in jeder Reihe weiß man, was man variieren muß, um die spezifische Differenzierung der gesuchten Einheit zu erhalten. 2073 Wenn man den auszudrückenden Inhalt verändert, werden andere Oppositionen nötig, um einen andern Wert zu erzielen; man wird z. B. sagen marchez! , oder aber montons! . 2074 Es genügt also nicht, unter einem positiven Gesichtspunkt zu sagen, man wähle marchons! , weil es das bedeute, was man ausdrücken wolle. 2075 In Wirklichkeit evoziert eine Idee nicht eine Form, sondern ein ganzes latentes System, 2076 mit dessen Hilfe man Zugriff bekommt auf die notwendigen Oppositionen für die Konstitution des Zeichens. Dieses hätte von sich aus keine Eigenbedeutung. 2077 In dem Moment, wo es marche! , marchons! nicht mehr gäbe, gingen gewisse Oppositionen verloren und der Wert von marchons! hätte sich ipso facto verändert. 2078 Dieses Prinzip hat seine Gültigkeit für Syntagmen und Sätze jeglicher Art, auch für die komplexesten. 2079 In dem Moment, wo wir den Satz: «que vous dit-il? » aussprechen, variieren wir ein Element in einem latenten syntagmatischen Typ, z. B. «que te dit-il? » - «que nous ditil? » usw., und es ist in diesem Rahmen, daß unsere Wahl auf das Pronomen vous fällt. 2080 Bei dieser Operation, die darin besteht, alles zu eliminieren, was nicht zu der gewollten Differenzierung an der gewollten Stelle führt, sind sowohl die assoziativen Gruppierungen als auch die syntagmatischen Typen involviert. 152 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2081 Andererseits liegt dieses Verfahren der Festlegung und der Wahl auch den kleinsten Einheiten 2082 bis hin zu den Phonemen 173 * zugrunde, wenn ihnen ein Wert zukommt. 2083 Wir denken nicht nur an Fälle wie p ə tit (geschrieben petite) gegenüber p ə ti (geschrieben petit), 2084 oder lateinisch domin ī gegenüber domin ō usw., wo der Unterschied zufälligerweise auf einem einzigen Phonem beruht, 2085 sondern an den spezifischeren und schwierigeren Fall, wo ein Phonem selbst eine Rolle in einem Sprachzustand spielt. 2086 Wenn z. B. im Griechischen m, p, t usw. nie im Wortauslaut stehen können, läuft das darauf hinaus, daß ihr Vorkommen oder Fehlen an einer bestimmten Stelle relevant ist für die Struktur des Wortes und diejenige des Satzes. 2087 In allen Fällen dieser Art wird nun der isolierte Laut - genau wie die andern Einheiten - im Gefolge einer doppelten mentalen Opposition gewählt; so steht in der fiktiven Gruppe anma der Laut m in syntagmatischer Opposition zu allen Lauten, die ihn umgeben, und in assoziativer Oppositon mit all denen, die der Geist evozieren kann, d. h.: 174 * anma v d 2088 § 3. - Absolute und relative Arbitrarität 2089 Der Mechanismus der Sprache kann auch unter einem anderen Blickwinkel dargestellt werden, der von besonderer Wichtigkeit ist. 2090 Das grundlegende Prinzip der Arbitrarität des Zeichens verhindert nicht, daß man in jeder Sprache zwischen dem unterscheiden kann, was radikal arbiträr, 2091 d. h. unmotiviert ist, 2092 und dem was nur relativ arbiträr ist. Nur ein Teil der Zeichen ist vollkommen arbiträr; bei andern findet man ein Phänomen, das es erlaubt, [verschiedene] Grade der Arbitrarität zu unterscheiden, ohne diese [jedoch] aufzuheben: 2093 Das Zeichen kann relativ motiviert sein. 175 * 2094 In diesem Sinne ist vingt unmotiviert, dix-neuf dagegen ist es nicht im gleichen Ausmaß, denn es evoziert die Terme, aus denen es zusammengesetzt ist, und andere, die mit ihm assoziiert sind, z. B. dix, neuf, vingt-neuf, soixante-dix, usw.; für sich allein genommen sind dix und neuf gleichrangig mit vingt, aber dix-neuf stellt einen Fall von relativer Motivation dar. 2095 Entsprechendes gilt für poirier, das das einfache Wort poire evoziert und dessen Suffix -ier an cerisier, pommier usw. denken läßt; im Falle von frêne, chêne usw. gibt es nichts Entsprechendes. 2096 Man vergleiche noch berger, das vollkommen unmotiviert ist, und das relativ motivierte vacher; entsprechend die Paare geôle und cachot, hache und couperet, concierge und portier, jadis und autrefois, souvent und fréquemment, aveugle und boiteux, sourd und bossu, second und deuxième, deutsch Laub und französisch feuillage, fr. métier und dt. Handwerk. 2097 Der englische Plural ships ‘ Schiffe ’ evoziert aufgrund seiner Bildungsweise die ganze Reihe flags, birds, books usw., während men ‘ Menschen ’ , sheep ‘ Schafe ’ an nichts erinnern. 2098 Im Griechischen drückt d ṓ s ō ‘ ich werde geben ’ die Idee der Zukünftigkeit durch ein Zeichen aus, das die Assoziation mit l ū ́ s ō , st ḗ s ō , túps ō usw. hervorruft, während eîmi ‘ ich werde gehen ’ vollkommen isoliert ist. 2099 Es ist hier nicht der Ort, die Faktoren zu suchen, die im einzelnen Fall die Motivation bedingen; aber diese ist auf jeden Fall umso vollständiger, je leichter die syntagmatische Analyse und je offensichtlicher die Bedeutung der Untereinheiten ist. 2100 Es gibt in der Tat neben durchsichtigen Bildungselementen wie -ier in poir-ier, ceris-ier, pomm-ier usw. auch solche, deren Bedeutung unklar oder gleich null ist; inwieweit ist z. B. -ot in cachot ein bedeutungstragendes Element? Wenn man Wörter wie coutelas, fratras, canevas usw. nebeneinander stellt, hat man das vage Gefühl, -as sei ein substantivisches Bildungselement, ohne es 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 153 aber genauer definieren zu können. 2101 Überdies ist selbst im günstigsten Fall die Motivation nie eine vollkommene. 2102 Nicht nur, daß die Elemente eines motivierten Zeichens selbst arbiträr sind (cf. dix und neuf in dix-neuf), 2103 auch der Wert des ganzen Terms entspricht nie der Summe der Werte seiner Teile; poir x ier entspricht nicht poir + ier (cf. 2047ss.). 2104 Was das Phänomen als solches angeht, erklärt es sich aufgrund der im vorhergehenden Abschnitt dargelegten Prinzipien. Der Begriff der relativen Motivation impliziert: 1. die Analyse eines gegebenen Terms, d. h. eine syntagmatische Beziehung; 2. den Zugriff auf einen oder mehrere andere Terme, d. h. eine assoziative Beziehung. Es liegt nichts anderes vor, als der Mechanismus, dank dem ein beliebiger Term in der Lage ist, eine Idee zum Ausdruck zu bringen 103 . 2105 Bis jetzt haben sich uns die Einheiten als Werte dargeboten, d. h. als Elemente eines Systems, und wir haben sie v. a. als oppositionelle Größen gesehen; nun erkennen wir auch die zwischen ihnen bestehenden Solidaritäten; sie sind sowohl assoziativer als auch syntagmatischer Natur, und sie sind es, die die Arbitrarität begrenzen. 2106 Dix-neuf ist assoziativ solidarisch mit dix-huit, soixante-dix usw., und syntagmatisch ist es solidarisch mit seinen Elementen dix und neuf (cf. 2064ss.). 2107 Diese Doppelbeziehung verleiht ihm einen Teil seines Wertes. 2108 Alles, was sich auf das Sprachsystem bezieht, muß nach unserer Auffassung unter dem von den Linguisten kaum berücksichtigten Gesichtspunkt der Begrenzung der Arbitrarität angegangen werden. 2109 Dies ist der bestmögliche Ausgangspunkt. 2110 In der Tat beruht das ganze Sprachsystem auf dem irrationalen Prinzip der Arbitrarität des Zeichens, 2111 das bei unbegrenzter Anwendung zu einer extremen Komplikation führen würde; aber der Geist schafft es, ein Ordnungs- und Regularitätsprinzip in gewisse Teile der Masse von Zeichen einzubringen, und genau dies ist die Rolle der relativen Motivation. 2112 Wenn der Mechanismus der Sprache vollkommen rational wäre, könnte man ihn für sich allein untersuchen; aber da er nur eine teilweise Korrektur eines von Natur aus chaotischen Systems darstellt, 2113 übernimmt man den Gesichtspunkt, der durch die der Sprache eigene Natur aufgezwungen wird, wenn man diesen Mechanismus als eine Begrenzung der Arbitrarität analysiert. 2114 Es gibt keine Sprache, in der nichts motiviert wäre; sich eine Sprache vorstellen, in der alles motiviert wäre, ist per definitionem unmöglich. 2115 Zwischen den beiden Extremen - Minimum an Organisation und Minimum an Arbitrarität - findet man alle nur möglichen Zwischenstufen. 2116 Die verschiedenen Idiome enthalten immer Elemente beider Kategorien - vollkommen arbiträre und relativ motivierte - , aber immer in sehr unterschiedlichen Anteilen, und gerade dies ist ein wichtiges Merkmal, dem bei ihrer Klassifikation Rechnung getragen werden sollte. 2117 In einem gewissen Sinn - dem man nicht zuviel Gewicht beimessen sollte, der aber eine der Formen dieser Opposition deutlich zutage treten läßt - könnte man sagen, daß die Sprachen, in denen die Unmotiviertheit ihr Maximum erreicht, eher lexikalischer 104 Natur sind, und diejenigen, wo sie auf ihr Minimum abfällt, eher grammatikalischen Charakter haben. 2118 Nicht etwa, daß Lexikon und Arbitrarität einerseits, Grammatik und relative Motivation andererseits immer synonym wären; aber es gibt zwischen ihnen etwas prinzipiell Gemeinsames. 2119 Sie sind wie zwei Pole, zwischen denen sich das ganze System bewegt, zwei gegenläufige Strömungen, die sich den Mechanismus der Sprache teilen: die Tendenz, das 103 L OMMEL 1931: 157 gibt den frz. Text nicht exakt wieder und verändert willkürlich. Der frz. Text ist allerdings wenig klar; er findet auch in den Quellen keine Stütze. 104 Wir ersetzen lexicologique des frz. Textes durch lexikalisch; im heutigen Gebrauch bezieht sich lexikologisch auf die ‘ Wissenschaft vom Lexikon ’ . 154 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft lexikalische 105 Instrumentarium, das unmotivierte Zeichen zu verwenden, und die Bevorzugung des grammatikalischen Instruments, d. h. der Konstruktionsregel. 2120 Man kann z. B. sehen, daß das Englische der Unmotiviertheit einen viel bedeutenderen Platz einräumt als das Deutsche; 2121 aber der ultralexikalische 106 Typ ist das Chinesische, während das Indogermanische und [insbesondere] das Sanskrit 107 Beispiele für den ultragrammatikalischen Typus sind. 2122 Innerhalb einer gegebenen Sprache kann das ganze evolutionäre Geschehen gekennzeichnet sein durch einen kontinuierlichen Übergang vom Motivierten zum Arbiträren und vom Arbiträren zum Motivierten; dieses Hin und Her hat oft zur Folge, daß sich die Proportionen der beiden Zeichenkategorien spürbar verschieben. 2123 So ist das Französische gegenüber dem Lateinischen u. a. durch eine enorme Zunahme der Arbitrarität gekennzeichnet: Während im Latein inim ī cus sowohl inals auch am ī cus evoziert und durch sie motiviert ist, ist ennemi durch nichts motiviert; es ist zur absoluten Arbitrarität zurückgekehrt, die ja schließlich Grundbedingung des sprachlichen Zeichens ist. 2124 Man kann diese Verschiebung in Hunderten von Beispielen feststellen: cf. const ā re (st ā re) : coûter, fabrica (faber) : forge, magister (magis) : maître, berb ī c ā rius (berb ī x) : berger usw. Diese Veränderungen verleihen dem Französischen eine ganz spezifische Physiognomie. 2125 Kapitel 7 Die Grammatik und ihre Untergliederungen 176 * 2126 § 1. - Definition; traditionelle Unterteilungen 2127 Die statische Linguistik oder Beschreibung eines Sprachzustands kann Grammatik genannt werden in dem sehr spezifischen, durchaus gebräuchlichen Sinn, den man in Ausdrücken wie Grammatik des Schachspiels, Grammatik der Börse usw. findet, wo es sich jeweils um einen komplexen und systemhaften Gegenstand handelt, der auf koexistierenden Werten basiert. 2128 Die Grammatik studiert die Sprache als System von Ausdrucksmitteln; wer grammatikalisch sagt, sagt synchronisch und bedeutungstragend, 2129 und da kein System gleichzeitig mehrere Epochen übergreift, gibt es für uns keine «historische Grammatik»; was man normalerweise so nennt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als die diachronische Linguistik. 2130 Unsere Definition deckt sich nicht mit der engeren, die man normalerweise von der Grammatik gibt. 2131 In der Tat ist man übereingekommen, die Morphologie und die Syntax zusammengenommen Grammatik zu nennen, während die Lexikologie oder Wissenschaft von den Wörtern außen vor bleibt. 2132 Aber zuerst [muß man sich fragen], ob diese Untergliederungen der Wirklichkeit entsprechen. Sind sie in Übereinstimmung mit den Prinzipien, die wir aufgestellt haben? 2133 Die Morphologie 177 * befaßt sich mit den verschiedenen Wortarten (Verben, Nomina, Adjektive, Pronomina usw.) und mit den verschiedenen Flexionsformen (Konjugation, Deklination). 2134 Um diesen Forschungsbereich von der Syntax zu trennen, argumentiert man dahingehend, daß letztere sich mit den Funktionen der sprachlichen Einheiten befaßt, während die Morphologie ihre Form im Blick hat; sie begnügt sich z. B. zu sagen, daß der 105 lexicologique durch lexikalisch wiedergegeben. 106 ultralexicologique → ultralexikalisch. 107 Unser Eingriff (eckige Klammer) ist durch die Quellen gerechtfertigt. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 155 Genitiv von griechisch phúlax ‘ Wächter ’ phúlakos ist, und die Syntax informiert uns über die Verwendung dieser beiden Formen. 2135 Aber diese Unterscheidung ist eine Illusion: Die Reihe der Formen des Substantivs phúlax wird nur dadurch zum Flexionsparadigma, daß man die verschiedenen Funktionen miteinander vergleicht, die den verschiedenen Formen zukommen; umgkehrt können diese Funktionen nur insofern der Morphologie zugeordnet werden, als jeder von ihnen ein spezifisches Lautzeichen entspricht. 2136 Eine Deklination ist weder eine Liste von Formen noch eine Serie von logischen Abstraktionen, sondern vielmehr eine Kombination der beiden (cf. 1688ss.): Formen und Funktionen sind solidarisch, und es ist schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, sie voneinander zu trennen. 2137 Aus linguistischer Sicht hat die Morphologie keinen realen und autonomen Gegenstand; sie kann keine von der Syntax verschiedene Disziplin darstellen. 2138 Andererseits [muß man sich fragen], ob es logisch ist, die Lexikologie aus der Grammatik auszuschließen. 2139 Auf den ersten Blick scheinen die Wörter, so wie sie im Wörterbuch aufgelistet sind, keinen Gegenstand der grammatikalischen Untersuchung darzustellen, die man normalerweise auf die Beziehungen beschränkt, die zwischen den Einheiten bestehen. 2140 Aber man stellt sehr schnell fest, daß eine Vielzahl von Beziehungen sowohl durch Wörter als auch mit grammatikalischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden kann. 2141 So stehen im Lateinischen fi ō und faci ō einander auf gleiche Weise gegenüber wie d ī cor und d ī c ō , d. h. grammatikalischen Formen ein und desselben Wortes; im Russischen werden der perfektive und der imperfektive Aspekt in sprosí ť : sprá š iva ť ‘ fragen ’ auf grammtikalische Weise, in skazá ť : govorí ť ‘ sagen ’ dagegen mit lexikalischen 108 Mitteln zum Ausdruck gebracht. 2142 Man weist normalerweise die Präpositionen der Grammatik zu 178 *; aber die präpositionale Wendung en considération de ist eine grundsätzlich lexikalische Erscheinung, denn das Wort considération hat in ihr seine eigentliche Bedeutung. 2143 Wenn man griechisch peíth ō : peíthomai mit französisch je persuade : j ’ obéis vergleicht, sieht man, daß die Opposition im ersten Fall mit grammatikalischen Mitteln, im zweiten dagegen auf lexikalischer Basis wiedergegeben wird. 2144 Zahlreiche Beziehungen, die in gewissen Sprachen mithilfe von Kasus oder Präpositionen wiedergegeben werden, werden in andern durch Komposita zum Ausdruck gebracht, die den eigentlichen Wörtern schon viel näher stehen (französisch royaume des cieux und deutsch Himmelreich), 2145 oder durch Ableitungen (französisch moulin à vent und polnisch wiatr-ak), ja schließlich sogar durch einfache Wörter (französisch bois de chauffage und russisch drová, französisch bois de construction und russisch lês). 2146 Auch die Austauschbarkeit von einfachen Wörtern und zusammengesetzten Wendungen innerhalb ein und derselben Sprache (cf. considérer und prendre en considération, se venger de und tirer vengeance de) ist sehr häufig. 2147 Man sieht somit, daß in funktioneller Hinsicht ein lexikalisches Faktum mit einem syntaktischen zusammenfallen kann. 2148 Andererseits unterscheidet sich jedes Wort, das nicht eine einfache und nicht weiter reduzierbare Einheit darstellt, nicht grundlegend von einem Satzglied und damit von einem syntaktischen Phänomen; die Verbindung der Untereinheiten, auf denen es beruht, gehorcht den gleichen Grundprinzipien wie die Bildung von Wortgruppen. 2149 Zusmmenfassend [kann man sagen], daß die traditionellen Einteilungen der Grammatik ihren praktischen Nutzen haben mögen, aber daß sie keinen natürlichen Unterscheidungen entsprechen und daß zwischen ihnen keine logische Beziehung besteht. 2150 Die Grammatik kann nur auf einem anderen und übergeordneten Prinzip aufbauen. 179 * 108 Auch hier und im folgenden ersetzen wir lexicologique etc. durch lexikalisch. 156 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2151 § 2. - Rationale Untergliederungen 2152 Die gegenseitige Durchdringung von Morphologie, Syntax und Lexikologie erklärt sich aufgrund der an sich identischen Natur der synchronischen Gegebenheiten. 2153 Es gibt zwischen ihnen keine irgendwie vorgegebene Grenze. 2154 Einzig die weiter oben herausgearbeitete Unterscheidung von syntagmatischen und assoziativen Beziehungen liefert einen Klassifikationsmodus, der sich von selbst aufdrängt, den einzigen, den man dem grammatikalischen System zugrund legen kann. 2155 Alles, was einen Sprachzustand ausmacht, muß auf eine Theorie der Syntagmen und eine Theorie der Assoziationen zurückgeführt werden können. 2156 In dieser Hinsicht scheinen gewisse Teile der traditionellen Grammatik sich mühelos dem einen oder andern Bereich zuordnen zu lassen: 2157 Die Flexion ist offensichtlich eine typische Form der Assoziation von Formen im Geist der Sprecher; 2158 andererseits ist die Syntax - nach der gängigsten Definition die Theorie der Anordnung der Wörter - ein Teil der Syntagmatik, denn diese Gruppierungen setzen immer mindestens zwei im [linearen] Raum angesiedelte Einheiten voraus. 180 * Nicht alle syntagmatischen Erscheinungen gehören zum Bereich der Syntax, aber alle syntaktischen Erscheinung gehören zur Syntagmatik. 2159 Jedes beliebige grammatische Problem zeigt, wie wichtig es ist, jede Frage unter diesem doppelten Gesichtspunkt zu untersuchen. 2160 So stellen sich hinsichtlich des Begriffes Wort unterschiedliche Fragen, je nachdem ob man ihn unter assoziativem oder syntagmatischem Blickwinkel betrachtet; das Adjektiv grand zeigt im Syntagma einen Formendualismus (ö ̃ gr- garsõ ‘ un grand garçon ’ und ö ̃ gr-t -f- ‘ un grand enfant ’ ), und in assoziativer Hinsicht einen anderen (maskulin gr- ‘ grand ’ , feminin gr-d ‘ grande ’ ). 2161 Man müßte so jede Erscheinung ihrem Bereich, dem syntagmatischen oder dem assoziativen, zuweisen und den ganzen Stoff der Grammatik auf diese beiden naturgegebenen Sektionen verteilen können; 2163 einzig diese Zuordnung würde deutlich machen, was man an den üblichen Gliederungen der synchronischen Linguistik ändern müßte. 2164 Diese Aufgabe kann natürlich nicht hier in Angriff genommen werden, wo wir uns darauf beschränken, die allgemeinsten Prinzipien darzulegen. 2165 Kapitel 8 Die Rolle der abstrakten Entitäten in der Grammatik 181 * 2166 Es gibt ein wichtiges Thema, auf das wir noch nicht eingegangen sind 2167 und das die Notwendigkeit verdeutlicht, jede grammatikalische Frage unter den beiden Gesichtspunkten zu analysieren, die wir oben herausgearbeitet haben. 2168 Es handelt sich um [die Rolle] der abstrakten Entitäten in der Grammatik. 2169 Betrachten wir sie zuerst unter dem assoziativen Aspekt. 2170 Wenn man zwei Formen zueinander in Beziehung setzt, bedeutet dies nicht nur spüren, daß sie etwas gemeinsam haben, sondern [gleichzeitig] auch unterscheiden, welcher Natur die Beziehungen sind, die die Assoiationen regieren. 2171 So sind sich die Sprecher [der Tatsache] bewußt, daß die Beziehung zwischen enseigner und enseignement oder juger und jugement nicht die gleiche ist wie die, die sie zwischen enseignement und jugement erkennen (cf. 2025ss.). 2172 Dies ist der Grund, warum das System der Assoziationen auf demjenigen der Grammatik beruht. 2173 Man kann sagen, daß die Summe der bewußten und methodischen Klassierungen, die der einen Sprachzustand studierende Grammatiker ohne Rückgriff auf die 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 157 Geschichte macht, mit der Summe der bewußten oder unbewußten Assoziationen zusammenfallen muß, die in der Rede im Spiele sind. 2174 Sie sind es, die in unserem Geist die Wortfamilien, die Flexionsparadigmen, die Formationselemente wie Stämme, Suffixe, Endungen usw. begründen (cf. p. 2782ss.). 2175 Aber arbeitet die Assoziation nur materielle Elemente heraus? 2176 Zweifellos nein; wir wissen bereits, daß sie auch nur aufgrund der Bedeutung Wörter zueinander in Beziehung setzt (cf. enseignement, apprentissage, éducation usw.); 2177 Gleiches muß auch für die Grammatik gelten; nehmen wir die drei lateinischen Genitive dominī , r ē g-is, rosā rum: Die Lautungen der drei Endungen zeigen keine Analogie, die eine Assoziation begründen könnte; aber sie sind gleichwohl miteinander verbunden aufgrund des Gefühls eines gemeinsamen Wertes, der eine identische Verwendung bedingt; dies genügt, um eine Assoziation zu begründen ohne die geringste materielle Grundlage, 2178 und auf diese Weise findet der Begriff des Genitivs an sich seinen Platz im Sprachsystem. 2179 Aufgrund eines vergleichbaren Verfahrens sind die Flexionsendungen -us, ī , ō usw. (in dominus, domin ī , domin ō usw.) im Bewußtsein miteinander verknüpft und 2180 begründen die allgemeineren Begriffe von Kasus und Kasusendung. 2181 Assoziationen gleicher Art, aber mit noch viel umfassenderer Geltung, verbinden alle Substantive, alle Adjektive usw. miteinander und begründen den Begriff der Wortarten. 2183 Alle dies Dinge existieren im Sprachsystem, aber als abstrakte Entitäten; ihre Untersuchung ist schwierig, denn man kann nie genau wissen, ob das Bewußtsein der Sprecher immer ebenso weit geht wie die Analysen der Grammatiker. 2184 Das Wesentliche aber ist, daß die abstrakten Entitäten in letzter Analyse immer auf konkreten Entitäten beruhen. 2185 Keine grammatikalische Abstraktion ist möglich ohne eine Reihe von materiellen Elementen, die ihr als Basis dienen, und es sind immer diese Elemente, auf die man letztlich zurückkommen muß. 2186 Nehmen wir nun den syntagmatischen Geischtspunkt ein. 2187 Der Wert einer Gruppe hängt oft von der Reihenfolge ihrer Elemente ab. Bei der Analyse eines Syntagmas beschränkt sich der Sprecher nicht darauf, seine einzelnen Teile zu unterscheiden; er stellt unter ihnen auch eine geordnete Abfolge fest. 2188 Der Sinn von französisch désir-eux 2189 oder von lateinisch signi-fer hängt von der respektiven Position der Untereinheiten ab: Man könnte nicht eux-désir oder fer-signum sagen. 2190 Ein Wert kann sogar ohne Bezug zu einem konkreten Element (wie etwa -eux oder -fer) sein und einzig aus der Anordnung der Terme resultieren; wenn z. B. im Französischen die beiden Gruppen je dois und dois-je? unterschiedliche Bedeutungen haben, dann hängt dies einzig von der Wortordnung ab. 182 * 2191 Eine Sprache drückt manchmal eine Idee durch die Abfolge der Terme aus, die eine andere durch einen oder mehrere konkrete Terme wiedergibt; das Englische gibt im syntagmatischen Typ gooseberry wine ‘ vin de groseilles; Johannisbeerwein ’ , gold watch ‘ montre en or; goldene Uhr ’ durch die einfache Wortordnung eine Beziehung wieder, die das Modernfranzösische mithilfe von Präpositionen ausdrückt; seinerseits gibt das Modernfranzösische den Begriff des direkten Objekts einzig durch die Position des Substantivs nach dem transitiven Verb wieder (cf. je cueille une fleur), während das Lateinische und andere Sprachen dafür auf den Akkusativ zurückgreifen, der durch spezifische Endungen gekennzeichnet ist, usw. 2192 Aber wenn die Wortordnung auch unbestreitbar eine abstrakte Entität ist, so ist es nicht weniger wahr, daß sie ihre Existenz einzig den konkreten Einheiten verdankt, in denen sie enthalten ist und die eindimensional angeordnet sind. 2193 Es wäre ein Irrtum zu glauben, es gebe [so etwas wie] eine körperlose Syntax außerhalb der im Raume 109 angeordneten materiellen Einheiten. 183 * 2194 Im Englischen zeigt uns the man I have seen ( ‘ l ’ homme que j ’ ai 109 Espace ‘ Raum ’ ist hier sicher nicht der geeignete Terminus, denn es geht um die lineare Abfolge der sprachlichen (segmentalen) Einheiten; das Problem findet sich auch an verschiedenen andern 158 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft vu ’ ) eine syntaktische Erscheinung, 2195 die durch ein Nullzeichen wiedergegeben zu sein scheint, während das Französische sie mithilfe von que zum Ausdruck bringt. 2196 Aber es ist gerade der Vergleich mit der syntaktischen Erscheinung im Französischen, der die Illusion weckt, ein Nichts könne ein Etwas wiedergeben; in Wirklichkeit sind es einzig die in einer bestimmten Ordnung aufgereihten materiellen Einheiten, die diesen Wert generieren. 2197 Losgelöst von einer Anzahl konkreter Terme ist es unmöglich, über eine syntaktische Erscheinung zu reflektieren. 2198 Übrigens beweist schon die Tatsache, daß man einen sprachlichen Komplex (z. B. die obige Sequenz von englischen Wörtern) versteht, daß diese Abfolge von Termen der adäquate Ausdruck des Denkens ist. 184 * 2199 Eine materielle Einheit existiert nur aufgrund der Bedeutung, der Funktion, deren Träger sie ist; dieses Prinzip ist von besonderer Wichtigkeit für die Kenntnis der kleineren Einheiten 185 *, denn man könnte versucht sein zu glauben, daß sie einzig aufgrund ihrer reinen Materialität existieren, daß z. B. aimer seine Existenz nur den Lauten verdankt, aus denen es besteht. 2200 Umgekehrt - wir haben es eben gesehen - existiert eine Bedeutung, eine Funktion nur aufgrund der Verankerung in irgendeiner materiellen Form; wenn dieses Prinzip im Zusammenhang mit den umfassenderen Syntagmen oder syntaktischen Typen formuliert worden ist, so deshalb, weil man geneigt ist, in ihnen immaterielle Abstraktionen zu sehen, die über den Einheiten des Satzes schweben. 2201 Diese beiden Prinzipien ergänzen sich gegenseitig und stimmen mit unseren Aussagen bezüglich der Abgrenzung der Einheiten überein (cf. 1710 s.). 2202 Dritter Teil: Diachronische Linguistik 2203 Kapitel 1 Allgemeines 186 * 2204 Die diachronische Sprachwissenschaft untersucht nicht mehr die Beziehungen zwischen gleichzeitig innerhalb eines Sprachzustandes existierenden Einheiten, sondern diejenigen zwischen aufeinander folgenden Größen, von denen die einen die andern im Laufe der Zeit ersetzen. 2205 Tatsächlich gibt es die absolute Unveränderlichkeit nicht (cf. 1259 ss.) 187 *; alle Teile der Sprache sind dem Wandel unterworfen; jeder Epoche entspricht eine mehr oder weniger starke Entwicklung. Diese kann verschieden schnell ablaufen und unterschiedlich tiefgreifend sein, ohne daß dadurch das Prinzip selbst in Frage gestellt würde; 2206 der Strom der Sprache fließt ohne Unterbruch; ob die Entwicklung friedlich oder stürmisch verläuft, ist ein sekundärer Aspekt. 2207 Allerdings wird uns diese ununterbrochene Entwicklung oft durch die Aufmerksamkeit verschleiert, die wir der Literatursprache widmen; 2208 wie wir 2909ss. sehen werden, überlagert diese die volkstümliche, d. h. die natürliche Sprache, und sie unterliegt anderen Existenzbedingungen. 2209 Einmal etabliert, bleibt die Literatursprache in der Regel recht Stellen (z. B. 2158). Wir behalten in der Übersetzung gleichwohl Raum bei, wobei dieser «Raum» allerdings auf eine Dimension reduziert erscheint. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 159 stabil und tendiert zur Unveränderlichkeit; ihre Bindung an die Schrift trägt in ganz besonderem Maße zu ihrer Konservierung bei. 188 * 2210 Es ist somit nicht sie, die uns zeigen kann, bis zu welchem Grad die natürlichen Sprachen veränderlich sind, wenn man sie von allen literarischen Reglementierungen befreit. 2211 Die Phonetik, und zwar die ganze Phonetik, ist der erste Gegenstand der diachronischen Linguistik 189 *; in der Tat ist die Lautentwicklung inkompatibel mit dem Zustandsbegriff; wenn man Phoneme oder Phonemgruppen mit dem vergleicht, was sie früher einmal waren, stellt man eine diachronische Beziehung her. 2212 Die frühere Epoche kann mehr oder weniger nahe liegen; aber wenn die beiden zusammenfallen, spielt die Phonetik keine Rolle mehr; dann bleibt nur noch die Beschreibung der Laute eines Sprachzustands, und das ist die Aufgabe der Phonologie. 2213 Der diachronische Charakter der Phonetik paßt gut zu dem Prinzip, daß nichts, was phonetisch ist, im weiteren Sinne des Begriffs semantische oder grammatikalische Relevanz hat (cf. 332ss.). 2214 Um die Geschichte der Laute eines Wortes darzustellen, kann man seine Bedeutung vernachläßigen und nur seine materielle Hülle untersuchen, man kann darin Lautstücke isolieren ohne sich zu fragen, ob sie eine Bedeutung haben; man kann z. B. untersuchen, was im attischen Griechisch eine Lautgruppe -ewowird, die nichts bedeutet. 2215 Wenn die Entwicklung der Sprache sich auf diejenige der Laute beschränken würde, wäre der Gegensatz zwischen den beiden spezifischen Gegenständen der beiden Teile der Linguistik auf Anhieb sichtbar: Man würde klar sehen, daß diachronisch mit nicht grammatikalisch, synchronisch mit grammatikalisch gleichzusetzen ist. 2216 Aber sind es nur die Laute, die sich im Laufe der Zeit verändern? 2217 Die Bedeutung der Wörter verändert sich, die grammatikalischen Kategorien entwickeln sich; es gibt welche, die untergehen zusammen mit den Formen, die zu ihrer Wiedergabe dienten (z. B. der Dual im Lateinischen). 2218 Und wenn alle Gegebenheiten der assoziativen und syntagmatischen Synchronie ihre Geschichte haben, wie kann man dann die absolute Trennung von Synchronie und Diachronie aufrecht erhalten? Das wird äußerst schwierig, sobald man den Bereich der reinen Phonetik verläßt. 2219 Wir stellen indessen fest, daß viele der Veränderungen, die man für grammatikalisch hält, letztlich phonetischer Natur sind. 2220 Die Entstehung des grammatikalischen Typus Hand : Hände im Deutschen, der hant : hanti ersetzt hat (cf. 1387ss.), erklärt sich als ausschließlich phonetische Erscheinung. 2221 Und es ist erneut ein phonetisches Phänomen, das dem Kompositionstyp Springbrunnen, Reitschule usw. zugrunde liegt; im Althochdeutschen war das erste Element nicht verbaler Natur, sonden ein Substantiv; beta-h ū s bedeutete ‘ Haus des Gebets ’ ; nach dem phonetischen Verlust des Auslautvokals (beta- → betusw.) wurde eine semantische Beziehung zum Verb (beten usw.) hergestellt, und Bethaus bedeutete schließlich ‘ Haus, wo man betet ’ . 2222 Etwas Ähnliches ereignete sich in den Komposita, die das Altgermanische mit dem Wort l ī ch ‘ äußere Erscheinung ’ bildete (cf. mannol ī ch ‘ was wie ein Mann erscheint ’ , redol ī ch ‘ was vernünftig [wie die Vernunft] erscheint ’ ). 2223 Heute ist -lich in einer großen Zahl von Adjektiven (cf. verzeihlich, glaublich usw.) ein einfaches Suffix geworden, vergleichbar mit -able in pardonn-able, croy-able usw., 2224 und gleichzeitig hat sich die Interpretation des ersten Elements gewandelt: Man sieht darin nicht mehr ein Substantiv, sondern einen Verbalstamm; und dies deshalb, weil in einer gewissen Anzahl von Fällen durch den Verlust das Auslautvokals des ersten Elements (z. B. redo- → red-) dieses als Verbalstamm (redin reden) interpretiert werden konnte. 2225 Ebenso wird in glaublich das Element glaubeher zu glauben als zu Glaube in Beziehung gesetzt, und - trotz der Abweichung bezüglich des Stammes - sichtlich zu sehen und nicht mehr zu Sicht. 160 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2226 In all diesen Fällen und vielen ähnlich gelagerten bleibt die Unterscheidung der beiden Bereiche klar; man muß sich dies vor Augen halten, um nicht leichtfertig zu behaupten, man betreibe historische Grammatik, während man sich in Wirklichkeit nacheinander zuerst im Bereich der Diachronie bewegt, indem man den phonetischen Wandel untersucht, dann in der Synchronie, indem man sich mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen beschäftigt. 2227 Aber diese Einschränkung schafft nicht alle Schwierigkeiten aus der Welt. Die Entwicklung einer beliebigen grammatischen Gegebenheit, einer assoziativen Gruppe oder eines syntagmatischen Typus, läßt sich nicht mit derjenigen eines Lautes vergleichen. Sie ist nicht einfach, sie zerfällt in eine Fülle von Einzelfakten, von denen nur ein Teil zum Bereich der Phonetik zählt. 2228 Bei der Entstehung eines syntagmatischen Typus wie das französische Futurum prendre ai, das zu prendrai geworden ist, sind mindestens zwei Faktoren zu unterscheiden, der eine psychologischer Natur: die Synthese der beiden Komponenten des Konzepts, der andere phonetischer Art und vom ersten abhängig: die Reduktion der beiden Akzente der Gruppe zu einem einzigen (préndre aí → prendraí). 2229 Die Flexion der starken germanischen Verben (Typus neuhochdeutsch geben, gab, gegeben usw., cf. griechisch leíp ō , élipon, léloipa usw.) beruht zum großen Teil auf dem Spiel der Ablaute des Stammvokals. 2230 Diese Alternanzen (cf. 2419ss.), deren Systematik am Anfang recht einfach war, gehen ohne Zweifel auf ein rein phonetisches Phänomen zurück; 2231 aber damit diese Oppositonen eine derartige funktionelle Bedeutung erlangen konnten, mußte das ursprüngliche Flexionssystem durch eine ganze Reihe von Veränderungen vereinfacht werden: Verlust der zahlreichen Varianten des Präsens und der auf ihnen beruhenden Bedeutungsnuancen, Verlust des Imperfekts, des Futurums und des Aorists, Elimination der Perfektreduplikation, usw. Diese Entwicklungen, die nichts spezifisch Phonetisches an sich haben, führten zu einer Reduktion der Verbalflexion auf eine beschränkte Anzahl von Formen, bei denen den Stammalternanzen eine herausragende Bedeutung zukam. 2232 So kann man z. B. sagen, daß die Opposition e : a gewichtiger ist in geben : gab als die Opposition e : o in griechisch leíp ō : léloipa wegen dem Fehlen der Reduplikation im deutschen Perfekt. 2233 Wenn auch die Phonetik meistens in der Sprachentwicklung irgend eine Rolle spielt, so kann sie diese doch nicht vollumfänglich erklären; wenn man den phonetischen Faktor einmal eliminiert hat, bleibt ein Rest, der die Idee einer «historischen Grammatik» zu rechtfertigen scheint; genau dies ist die eigentliche Schwierigkeit; 2234 die Unterscheidung zwischen diachronischem und synchronischem Bereich, die unbedingt aufrecht erhalten werden muß, würde subtile Erklärungen verlangen, die nicht mit dem Rahmen dieser Vorlesung vereinbar sind ( 110 ). ( 110 ) 2235 Zu diesem didaktischen und äußerlichen Grund kommt vielleicht noch ein anderer hinzu: Ferdinand de Saussure ist in seinen Vorlesungen nie auf die linguistique de la parole eingegangen (cf. 320ss.). 2236 Wir erinnern daran, daß ein neuer Sprachgebrauch immer mit einer Reihe von individuellen Ereignissen beginnt (cf. 1640ss.). Man könnte vermuten, daß Saussure diesen den Charakter von grammatikalischen Fakten absprach, und zwar in dem Sinne, daß ein isolierter Akt gezwungenermaßen dem Sprachsystem fremd bleibt, das einzig von der Gesamtheit der kollektiven Gewohnheiten abhängt. 2237 Solange die Erscheinungen nur der Rede angehören, sind sie nichts anderes als besondere und zufällige Gebrauchsweisen des etablierten Systems. 2238 Erst wenn eine oft wiederholte Neuerung sich im Gedächtnis einprägt und in das System aufgnenommen wird, hat sie zur Folge, daß sich das Gleichgewicht des Wertsystems verschiebt und das Sprachsystem sich ipso facto und spontan verändert hat. 2239 Man könnte auf die grammatikalische Entwicklung das übertragen, was 332ss. und 1398ss. zur phonetischen Entwicklung gesagt wurde: Ihre Entstehung liegt außerhalb des Systems, denn dieses ist nie in seiner Entwicklung wahrnehmbar; wir finden es von einem Moment zum andern verändert. Dieser Erklärungsversuch ist übrigens nichts weiter als ein Vorschlag von unserer Seite. (Ed.) 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 161 2240 Im folgenden untersuchen wir nun nacheinander den phonetischen Wandel, die Alternanz und die analogischen Erscheinungen, um mit einigen Bemerkungen zur Volksetymologie und zur Agglutination zu schließen. 2241 Kapitel 2 Die phonetischen Veränderungen 190 * 2242 § 1. - Die vollkommene Regelmäßigkeit 2243 Wir haben 1571ss. gesehen, daß die phonetischen Veränderungen nicht die Wörter, sondern die Laute betreffen. 2244 Es ist das Phonem 191 *, das sich verändert: Es handelt sich um ein isoliertes Ereignis, wie dies auch für alle anderen diachronischen Phänomene gilt, 2245 das aber zur Folge hat, alle Wörter in entsprechender Weise zu verändern, in denen das fragliche Phonem vorkommt; in diesem Sinne sind die phonetischen Veränderungen absolut regelmäßig. 2246 Im Neuhochdeutschen ist jedes ī zu ei, anschließend zu ai geworden: w ī n, tr ī ben, l ī hen, z ī t haben Wein, treiben, leihen, Zeit ergeben; jedes ū ist au geworden: h ū s, z ū n, r ū ch → Haus, Zaun, Rauch; entsprechend hat sich ǖ zu eu gewandelt: h ǖ sir → Häuser usw. 2247 Andererseits ist der Diphthong ie zu ī geworden, das man aber weiterhin ie schreibt: cf. biegen, lieb, Tier. Parallel dazu sind alle uo zu ū geworden: muot → Mut usw. 2248 Jedes z (cf. 692ss.) hat s (geschrieben ss) ergeben: wazer → Wasser, fliezen → fliessen usw. Jedes h im Wortinnern ist zwischen Vokalen gefallen: l ī hen, sehen → leien, seen (geschrieben leihen, sehen). Jedes w ist zu einem labiodentalen v geworden (geschrieben w): wazer → vasr (Wasser). 2249 Im Modernfranzösischen ist jedes mouillierte l zu y (Jod) geworden: piller, bouillir werden piy ẹ , buyir ausgesprochen, usw. 2250 Im Lateinischen erscheint das, was einmal ein intervokalisches s war, zu einer späteren Epoche als r: *genesis, *as ē na → generis, ar ē na, usw. 2251 Jeder beliebige phonetische Wandel würde - im richtigen Licht gesehen - die vollkommene Regelmäßigkeit dieser Veränderungen bestätigen. 2252 § 2. - Bedingungen der phonetischen Veränderungen 2253 Die obenstehenden Beispiele zeigen bereits, daß die phonetischen Veränderungen weit davon entfernt sind, immer vollkommen absolut zu sein; sie sind vielmehr meistens an bestimmte Bedingungen gebunden, 2254 mit anderen Worten: Es ist nicht der phonetische Typ, der sich verändert, sondern das Phonem unter bestimmten Kontextgegebenheiten, Akzentbedingungen usw. 2255 So ist s im Lateinischen nur zwischen Vokalen und in einigen anderen Positionen zu r geworden, während es andernortes erhalten bleibt (cf. est, senex, equos). 2256 Die wirklich absoluten Veränderungen sind außerordentlich selten; 2257 oft erscheinen sie nur als solche, weil die Bedingungen verschleiert oder zu allgemein sind; 2258 so wird im Deutschen ī zu ei, aber nur in betonter Silbe; 2259 das indogermanische k 1 wird im Germanischen zu h (cf. indogermanisch k 1 olsom, lateinisch collum, deutsch Hals), aber der Wandel findet nach s nicht statt (cf. griechisch skótos und gotisch skadus ‘ Schatten ’ ). 2260 Überdies beruht die Unterscheidung der Veränderungen in absolute und bedingte auf einer oberflächlichen Sicht der Dinge; es ist sinnvoller, von spontanen und kombinatorischen 162 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft phonetischen Phänomenen zu sprechen, wie man dies auch immer häufiger tut. 192 * 2261 Sie sind spontan, wenn sie auf einer internen Ursache beruhen, und sie sind kombinatorisch, wenn sie sich aus der Präsenz eines oder mehrerer anderer Phoneme ergeben. 2262 So ist der Übergang von indogermanisch o zu germanisch a (cf. gotisch skadus, deutsch Hals usw.) ein spontanes Phänomen. Die germanischen Lautverschiebungen gehören zum Typus der spontanen Veränderungen: So wird indogermanisches k 1 zu protogermanisch h (cf. lateinisch collum und gotisch hals), das protogermanische t, das im Englischen erhalten ist, wird zu z (ausgesprochen ts) im Hochdeutschen (cf. gotisch taihun, englisch ten, deutsch zehn). 2263 Andererseits ist der Übergang von lateinisch ct, pt zu italienisch tt (cf. factum → fatto, capt ī vum → cattivo) eine kombinatorische Erscheinung, denn das erste Element ist an das zweite assimiliert worden. 2264 Der deutsche Umlaut beruht ebenfalls auf einem externen Grund, nämlich dem Vorhandensein von i in der folgenden Silbe: Während gast unverändert bleibt, wird gasti zu gesti, Gäste. 2265 Es muß betont werden, daß sowohl im einen wie im anderen Fall das Resultat keine Rolle spielt und daß es unerheblich ist, ob eine Veränderung stattfindet oder nicht. 2266 Wenn man z. B. gotisch fisks mit lateinisch piscis und gotisch skadus mit griechisch skótos vergleicht, stellt man fest, daß im ersten Fall das i erhalten bleibt, im zweiten dagegen ein Übergang von o zu a stattfindet; von diesen beiden Lauten ist der erste unverändert geblieben, der zweite hat sich dagegen gewandelt; das Wesentliche aber ist, daß sie beide nicht von außen beeinflußt worden sind. 2267 Wenn ein phonetisches Phänomen kombinatorischer Natur ist, ist es immer bedingt; wenn es aber spontaner Natur ist, dann ist es nicht gezwungenermaßen absolut, denn es kann negativ konditioniert sein durch das Fehlen von gewissen Veränderungsfaktoren. 2268 So wird das indogermanische k 2 spontan zu qu im Lateinischen (cf. quattuor, inquil ī na), aber es darf z. B. nicht von o oder u gefolgt sein (cf. cott ī die, col ō , secundus usw.). 2269 Ebenso ist die Erhaltung von indogermanisch i in gotisch fisks usw. an eine Bedingung gebunden: Es darf nicht von r oder h gefolgt sein, denn in diesem Fall wird es zu e, geschrieben ai (cf. wair = lateinisch vir und maihstus = deutsch Mist). 2270 § 3. - Methodische Aspekte 2271 Die Formeln, die die Phänomene wiedergeben, müssen den obigen Unterscheidungen Rechnung tragen, wenn [die Erscheinungen] nicht in einem falschen Lichte erscheinen sollen. 2272 Hier einige Beispiele für derartige Ungenauigkeiten. 2273 Das Gesetz von Verner wurde früher folgendermaßen formuliert: «Im Germanischen wurde jedes nicht anlautende þ zu đ , wenn darauf der Akzent folgte»: cf. einerseits *faþer → *fa đ er (deutsch Vater), *liþumé → *li đ umé (deutsch litten), andererseits *þris (deutsch drei), *br ō þer (deutsch Bruder), *liþo (deutsch leide), wo þ erhalten bleibt. 2274 Diese Formulierung weist dem Akzent die aktive Rolle zu und führt eine restriktive Bedingung für anlautendes þ ein. 2275 In Wirklichkeit liegen die Dinge ganz anders: Im Germanischen, ebenso wie im Lateinischen, tendierte þ im Wortinnern spontan zur Sonorisierung; nur der auf dem vorhergehenden Vokal liegende Akzent konnte dies verhindern. 2276 Damit ist alles auf den Kopf gestellt: Die Erscheinung ist spontaner Natur und nicht kombinatorisch, und der Akzent ist ein Hindernis und nicht der auslösende Faktor. Es muß heißen: «Jedes wortinterne þ ist zu đ geworden, außer wenn der auf dem vorhergehenden Vokal liegende Akzent dies verhindert hat.» 2278 Um sauber zu unterscheiden, was spontan ist und was kombinatorisch, ist es nötig, die verschiedenen Phasen der Veränderung zu untersuchen und nicht das mittelbare Ergebnis für 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 163 das unmittelbare zu nehmen. 2279 So ist es z. B. unangemessen hinsichtlich des Rhotazismus (cf. lateinisch *genesis → generis) zu sagen, s sei zwischen zwei Vokalen zu r geworden, denn da s keinen Laryngalton aufweist, kann es nicht auf Anhieb zu r geworden sein. 2280 In Wirklichkeit liegen zwei Ereignisse vor: s wird zu z aufgrund eines kombinatorischen Wandels; aber da z im lateinischen Lautsystem nicht erhalten geblieben ist, ist es durch den eng verwandten Laut r ersetzt worden, und dieser Wandel ist spontaner Natur. 2281 So verschmolz man durch einen schweren Fehler zwei unterschiedliche Ereignisse zu einem einzigen; der Fehler besteht einerseits darin, daß man das mittelbare Resultat für das unmittelbare genommen hat (s → r anstatt z → r), und andererseits in der Annahme, das ganze Phänomen sei kombinatorischer Natur, während es dies nur in seinem ersten Teil ist. 2282 Das ist, wie wenn man sagen würde, im Französischen sei e vor Nasal zu a geworden. In Wirklichkeit gab es nacheinander zuerst einen kombinatorischen Wandel, die Nasalierung von e vor n (cf. lateinisch ventum → französisch v ẽ nt, lateinisch f ē mina → französisch fem ə → f ẽ m ə ), anschließend einen spontanen Wandel von ẽ zu - (cf. v-nt, f-m ə , heute v-, fam). 2283 Es ist müßig dagegen einzuwenden, das habe sich nur vor einem Nasalkonsonanten ereignen können: Es geht nicht darum zu erklären, warum e nasaliert worden ist, sondern einzig um die Frage, ob der Wandel von ẽ zu - spontaner oder kombinatorischer Natur ist. 2284 Der schwerwiegendste methodische Fehler, auf den wir hier eingehen, obwohl er mit den oben erwähnten Prinzipien nichts zu tun hat, ist der, ein phonetisches Gesetz im Präsens zu formulieren, als ob die Ereignisse, die es betrifft, ein für alle Mal bestünden, während sie doch in einem bestimmten Zeitraum entstehen und verschwinden [d. h. epochengebunden sind]. 2285 Das führt zum Chaos, denn auf diese Weise hebt man jede chronologische Abfolge der Ereignisse auf. 2286 Wir haben darauf schon 1632ss. hingewiesen im Zusammenhang mit der Analyse der aufeinander folgenden Entwicklungen, die zu der Dualität tríkhes : thriksí geführt haben. 2287 Wenn man sagt: «s wird zu r im Lateinischen», dann suggeriert man, daß der Rhotazismus der Natur dieser Sprache inhärent sei, und man käme in Erklärungsschwiergkeiten angesichts von Ausnahmen wie causa, r ī sus usw. 2288 Nur die Formulierung: «intervokalisches s ist im Lateinischen in einer bestimmten Epoche zu r geworden» erlaubt die Annahme, daß zu dem Zeitpunkt, wo s zu r wurde, causa, r ī sus usw. kein intervokalisches s aufwiesen und deshalb von dem Wandel nicht betroffen waren; und in der Tat lauteten sie damals noch caussa, r ī ssus. 2289 Aus einem entsprechenden Grund muß man sagen: « ā ist im ionischen Dialekt zu ē geworden» (cf. m ā ́ t ē r → m ḗ t ē r usw.), denn sonst wüßte man nicht, was man mit Formen wie pâsa, ph ā si usw. anfangen sollte (die zum Zeitpunkt des Wandels noch pansa, phansi lauteten). 2290 § 4. - Ursachen des Lautwandels 2291 Die Erforschung dieser Ursachen ist eines der schwierigsten Probleme der Linguistik. Man hat verschiedene Erklärungen vorgeschlagen, von denen keine eine vollständige Erhellung leistet. 2292 I. Man hat gesagt, daß die Rasse Prädispositionen mit sich bringe, die im Vornherein die Richtung der Lautentwicklung bestimmten. 2293 Dies ist eine Frage der vergleichenden Anthropologie. Aber unterscheidet sich der Phonationsapparat von einer Rasse zur anderen? Nein, kaum mehr als von einem Individuum zum andern; wenn man einen Schwarzen von Geburt an nach Frankreich verpflanzt, spricht er ebenso gut Französisch wie die Einheimischen. 2294 Überdies: Wenn man Ausdrücke verwendet wie «das italienische Organ» oder «der Mund der Germanen läßt das nicht zu», läuft man Gefahr, etwas zu einem ständigen Charakterzug zu machen, was eine rein historische Erscheinung ist; das ist ein ähnlicher 164 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Fehler wie derjenige, der ein phonetisches Ereignis im Präsens darstellt; zu behaupten, dem ionischen Organ widerstrebe das lange ā und es verwandle es in ē ist ebenso falsch wie zu sagen: ā «wird» im Ionischen ē . 2295 Das ionische Organ hatte überhaupt keine Abneigung gegen die Aussprache von ā , denn es läßt dieses in gewissen Fällen durchaus zu. 2296 Es handelt sich somit keineswegs um eine anthropologische Unfähigkeit, sondern um einen Wandel der Artikulationsgewohnheiten. 2297 Ebenso im Lateinischen, das das intervokalische s nicht bewahrt hatte (*genesis → generis) und es später wieder eingeführt hat (cf. r ī ssus → r ī sus); diese Veränderungen haben nichts zu tun mit einer Disposition der lateinischen Sprechorgane. 2298 Es gibt ohne Zweifel eine allgemeine Ausrichtung der phonetischen Erscheinungen bei einem bestimmten Volk zu einer gewissen Epoche; die Monophthongierungen der französischen Diphthonge im Modernfranzösischen sind der Ausdruck ein und derselben Tendenz; aber man könnte ähnliche allgemeine Strömungen in der politischen Geschichte finden ohne daß ihr rein historischer Charakter in Zweifel gezogen würde, und ohne daß man darin einen direkten Einfluß der Rasse sähe. 2299 II. Man hat die phonetischen Veränderungen oft als eine Anpassung an die Gegebenheiten des Bodens und des Klimas angesehen. 2300 Gewisse Sprachen des Nordens häufen die Konsonanten an, gewisse Sprachen des Südens räumen den Vokalen mehr Raum ein und sind deshalb wohlklingend. 2301 Das Klima und die Lebensbedingungen können die Sprache durchaus beeinflussen, aber die Probleme tauchen auf, sobald man sich mit den Einzelheiten befaßt: So sind neben den sehr konsonantenreichen skandinavischen Sprachen diejenigen der Lappen und der Finnen noch vokalischer als selbst das Italienische. 2302 Überdies ist festzuhalten, daß die Konsonantenhäufung im heutigen Deutschen in zahlreichen Fällen eine sehr junge Erscheinung ist, die auf den Verlust der nachtonigen Vokale zurückzuführen ist; daß gewisse Dialekte in Südfrankreich gegenüber Konsonantengruppen toleranter sind als das Nordfranzösische, daß das Serbische davon ebenso viele kennt wie das moskowitische Russisch, usw. 2303 III. Man hat das Gesetz des geringsten Aufwandes bemüht, nach dem man zwei Artikulationen durch eine einzige ersetzen würde, oder eine schwierige Artikulation durch eine einfachere. 2304 Was man dazu auch immer gesagt hat, diese Idee verdient eine nähere Überprüfung: Sie kann die Ursache des Phänomens bis zu einem gewissen Grade erhellen, oder zumindest die Richtung andeuten, in der man diese suchen muß. 2305 Das Gesetz des geringsten Aufwandes scheint eine gewisse Zahl von Fällen zu erklären: so z. B. den Übergang von einer Okklusiven zu einer Frikativen (hab ē re → avoir), den Verlust der riesigen Zahl von Endsilben in zahlreichen Sprachen, die Assimilationserscheinungen (z. B. ly → ll, *alyos → griechisch állos, tn → nn, *atnos → lateinisch annus), die Monophthongierung der Diphthonge, die nur eine Variante der Assimilation ist (z. B. ai → ę , französisch maizõn → m ę zõ ‘ maison ’ ), usw. 2306 Andererseits könnte man ebenso viele Fälle anführen, wo sich genau das Gegenteil ereignet. 2307 Der Monophthongierung könnte man z. B. den Wandel von deutsch ī ū ǖ zu ei au eu gegenüberstellen. 2308 Wenn man behauptet, die Verkürzung von slawisch ā , ē zu ă , e ˇ sei durch den geringeren Aufwand bedingt, muß man auch bedenken, daß das umgekehrte Phänomen im Deutschen (f ă ter → V ā ter, g ĕ ben → g ē ben) einen größeren Kraftaufwand erfordert. 2309 Wenn man der Meinung ist, ein stimmhafter Konsonant sei leichter auszusprechen als ein stimmloser (cf. opera → prov. obra), dann muß das Gegenteil einen größeren Kraftaufwand erfordern, und gleichwohl geht das Spanische von ž zu χ über (cf. hi χ o ‘ der Sohn ’ , geschrieben hijo), und im Germanischen sind b d g zu p t k geworden. 2310 Wenn der Verlust der Aspiration (indogermanisch *bher ō → germanisch beran) als Reduktion des Aufwandes angesehen wird, 2311 was soll man denn da zum Deutschen sagen, das die 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 165 Aspiration dort einführt, wo sie vorher nicht existierte (Tanne, Pute usw., die Thanne, Phute ausgesprochen werden)? 2312 Diese Bemerkungen sollen die vorgeschlagene Erklärung keineswegs widerlegen. Tatsächlich kann man kaum für alle Sprachen festlegen, was leichter oder schwieriger auszusprechen ist. 2313 Es ist sicher richtig, daß eine Verkürzung einem geringeren Aufwand hinsichtlich der Dauer entspricht, aber es ist ebenso wahr, daß nachlässige Aussprachen zu Längen führen und die Kurzartikulation mehr Aufmerksamkeit verlangt. So kann man - nimmt man unterschiedliche Veranlagungen an - zwei gegenläufige Erscheinungen in ein und demselben Licht erscheinen lassen. 2314 Entsprechend scheint dort, wo k zu t š geworden ist (cf. lateinisch c ē dere → italienisch cedere), der Kraftaufwand zugenommen zu haben - zumindest, wenn man nur die Extrempunkte der Veränderung in Betracht zieht; aber der Eindruck wäre vielleicht ein anderer, wenn man die ganze Kette in Betracht ziehen würde: k wird palatalisiertes k' durch Assimilation an den nachfolgenden Vokal, dann wandelt sich k' zu ky; die Aussprache wird dadurch nicht schwieriger: zwei in k' kumulierte Elemente sind deutlich differenziert worden; von ky geht man nacheinander zu ty, t χ ', t š über, immer mit einem weniger großen Aufwand. 2315 Hier wäre eine ausgedehnte Untersuchung fällig, die, um vollständig zu sein, sowohl den physiologischen Aspekt (Frage der Artikulation) als auch den psychologischen Aspekt (Frage der Aufmerksamkeit) berücksichtigen müßte. 2316 IV. Eine seit einigen Jahren beliebte Erklärung führt die Veränderungen der Aussprache auf unsere lautliche Bildung in der Kindheit zurück. 2317 Das Kind gelangt erst nach vielen Annäherungen, Versuchen und Korrekturen dazu, das auszusprechen, was es um sich herum hört; hier läge die Ursache des Wandels; gewisse nicht korrigierte Ungenauigkeiten gewännen beim Individuum die Oberhand und setzten sich in der heranwachsenden Generation fest. 2318 Unsere Kinder sprechen oft ein t für ein k aus, ohne daß unsere Sprachen in ihrer Geschichte einen entsprechenden Lautwandel aufwiesen. Aber dem ist nicht immer so; so sprechen in Paris viele Kinder fl ’ eur, bl ’ anc mit einem mouillierten l aus; im Italienischen ist nun durch eine entsprechende Entwicklung florem zu fl ’ ore und dann zu fiore geworden. 2319 Diese Feststellungen verdienen volle Aufmerksamkeit, aber sie lassen das Problem intakt; in der Tat ist nicht einzusehen, warum eine Generation dazu gelangen sollte, bestimmte Ungenauigkeiten zu verallgemeinern, andere dagegen nicht, obwohl sie alle gleichermaßen natürlich sind; tatsächlich erscheint die Wahl der mangelhaften Aussprachen vollkommen willkürlich, und es läßt sich dafür kein Grund erkennen. 2320 Überdies stellt sich die Frage, warum sich die Erscheinung dieses eine Mal durchgesetzt hat und nicht irgend ein anderes Mal. 2321 Diese Feststellung gilt übrigens auch für alle vorhergehenden Begründungen, sofern ihre Wirkung sich durchsetzt; der Einfluß des Klimas, die Veranlagung der Rasse, die Tendenz zum geringeren Aufwand existieren ständig und dauerhaft; warum wirken sie nur intermittierend, bald auf den einen, bald auf einen andern Punkt des phonologischen Systems? Ein historisches Ereignis muß einen zwingenden Grund haben; man sagt uns aber nirgends, was in jedem einzelnen Fall einen Wandel ausgelöst hat, dessen allgemeine Ursache schon seit langer Zeit bestand. 2322 Und genau dies ist der schwierigste Punkt, den es zu erhellen gilt. 2323 V. Man sucht manchmal einen der entscheidenden Gründe im allgemeinen Zustand einer Nation zu einem bestimmten Zeitpunkt. 2324 Die Sprachen durchlaufen Epochen, die bewegter sind als andere, und man versucht diese zu den turbulenten Perioden der äußeren Geschichte in Beziehung zu setzen und so eine Verbindung zwischen der politischen Instabilität und der sprachlichen Instabilität herzustellen. Anschließend glaubt man, auf die phonetischen Veränderungen die Schlußfolgerungen übertragen zu können, die die Sprache im allgemeinen betreffen. 2325 Man beobachtet z. B., daß die tiefgreifendsten Umwälzungen des Lateins bei seinem Übergang zu den romanischen Sprachen mit der äußerst 166 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft turbulenten Zeit der Invasionen zusammenfallen. 2326 Um nicht in die Irre zu gehen, muß man zwei Unterscheidungen beachten: 2327 a) Die politische Stabilität beeinflußt die Sprache nicht auf gleiche Weise wie die Instabilität; es gibt in dieser Hinsicht keine Reziprozität. 2328 Wenn das politische Gleichgewicht die Sprachentwicklung bremst, so handelt es sich um eine positive, wenn auch äußerliche Ursache, während die Instabilität, die das Gegenteil bewirkt, nur negativ wirken kann. 2329 Die Unveränderlichkeit, die relative Stabilität eines Idioms kann von außerhalb der Sprache liegenden Faktoren herrühren (Einfluß eines Hofes, der Schule, einer Akademie, der Schreibtradition usw.), die ihrerseits positiv beeinflußt werden vom sozialen und politischen Gleichgewicht. 2330 Wenn andererseits ein äußerer, den Zustand der Nation betreffender Umsturz die Sprachentwicklung anstößt, so heißt das einfach, daß die Sprache zu ihrem Zustand der Freiheit zurückgefunden hat, in dem sie ihren normalen Entwicklungstendenzen stattgibt. 2331 Die Stabilität des Lateins in der klassischen Epoche beruht auf äußeren Faktoren; sie läßt sich nicht vergleichen mit den Veränderungen, denen es später unterworfen war, denn diese haben sich von selbst entwickelt aufgrund des Fehlens von gewissen äußeren Hemmnissen. 2332 b) Es ist hier nur von den phonetischen Erscheinungen die Rede, und nicht von sämtlichen Arten der Sprachveränderung. 2333 Man könnte noch verstehen, daß die grammatikalischen Veränderungen von Ursachen dieser Art abhängen; die grammatikalischen Gegebenheiten haben immer irgendwie mit dem Denken zu tun und werden leichter von den äußeren Veränderungen beeinflußt, da diese sich unmittelbarer auf den Geist auswirken. 2334 Aber nichts berechtigt zu der Annahme, daß den bewegten Epochen in der Geschichte einer Nation auch eine beschleunigte Entwicklung der Laute ihres Idioms entsprechen würde. 2335 Übrigens kann man keine Epoche anführen - selbst unter denen nicht, wo die Sprache in einer scheinbaren Unbeweglichkeit verharrt - , die keine einzige phonetische Veränderung gekannt hätte. 2336 VI. Man hat auch zur Hypothese des «früheren sprachlichen Substrats» gegriffen: Gewisse Veränderungen wären bedingt durch eine von den Neuankömmlingen absorbierte ursprüngliche Bevölkerung. 2337 So würde der Unterschied zwischen der langue d ’ oc und der langue d ’ oïl einem unterschiedlichen Anteil des autochthonen keltischen Elements in den beiden Teilen Galliens entsprechen; man hat diese Theorie auch auf die dialektalen Unterschiede in Italien angewandt, die man je nach Region auf ligurische, etruskische usw. Einflüsse zurückführt. Aber zuerst einmal setzt diese Hypothese Bedingungen voraus, die sich nur selten finden. 2338 Überdies gilt es zu präzisieren: Will man damit sagen, daß die ursprüngliche Bevölkerung bei der Anpassung an die neue Sprache etwas von ihren ursprünglichen Artikulationsgewohnheiten in diese eingebracht hat? Das ist vertretbar und durchaus natürlich; 2339 aber wenn man sich dabei erneut auf die schwer faßbaren Faktoren der Rasse usw. beruft, so fallen wir zurück in die oben angesprochenen Unklarheiten. 2340 VII. Eine letzte Erklärung - die diesen Namen kaum verdient - setzt die phonetischen Veränderungen mit den Veränderungen der Mode gleich. Aber diese hat noch niemand erklärt: Man weiß einzig, daß sie von den Gesetzen der Nachahmung abhängen, mit denen sich die Psychologen ausgiebig beschäftigen. 2341 Wenn auch diese Erklärung das Problem nicht löst, so hat sie doch den Vorteil, es in ein viel umfassenderes Problemfeld einzubringen: Das Prinzip der Lautentwicklung wäre rein psychologischer Natur. 2342 Nur stellt sich die Frage, wo dann der Ausgangspunkt der Nachahmung ist; hier liegt das Geheimnis, sowohl bei den Lautveränderungen wie bei den Veränderungen der Mode. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 167 2343 § 5. - Die Wirkung der Lautveränderungen ist unbegrenzt 2344 Wenn man versucht, die Wirkung dieser Veränderungen zu bewerten, so sieht man bald, daß sie unbegrenzt und unberechenbar ist, d. h., daß man nicht vorhersagen kann, wo der Lautwandel haltmachen wird. 2345 Es ist kindisch zu glauben, daß das Wort sich nur bis zu einem gewissen Punkt verändern kann, als ob es etwas in sich enthielte, das seine Erhaltung sichern würde. 2346 Dieser Zug der Lautveränderungen ist bedingt durch den arbiträren Charakter des sprachlichen Zeichens, das unabhängig von der Bedeutung ist 111 . 2347 Man kann sehr wohl zu einem bestimmten Zeitpunkt feststellen, daß die Laute eines Wortes beeinträchtigt worden sind und in welchem Ausmaß, aber man kann nicht im voraus sagen, inwieweit es unkenntlich geworden ist oder werden wird. 2348 Im Germanischen ist indogermanisch *aiwom (cf. lateinisch aevom) zu *aiwan, *aiwa, *aiw geworden wie alle Wörter, die den gleichen Ausgang kannten; anschließend ist *aiw im Althochdeutschen zu êw geworden wie alle Wörter, die die Gruppe aiw enthalten; dann ist man zu ē o gelangt, da jedes auslautende w zu o wird; ē o seinerseits ist zu eo, io geworden nach andern Regeln von ebensolcher Allgemeingültigkeit; io hat dann ie, je ergeben um im Neuhochdeutschen zu j ē zu werden (cf. «das schönste, was ich je gesehen habe»). 2349 Wenn man nur den Ausgangs- und den Endpunkt in Betracht zieht, so enthält das heutige Wort nicht mehr ein einziges der ursprünglichen Elemente; nimmt man jedoch jede einzelne Etappe für sich, so ist diese vollkommen gesichert und regelmäßig; überdies ist jede von ihnen in ihrer Auswirkung begrenzt, aber ihre Gesamtheit macht den Eindruck einer unbegrenzten Summe von Veränderungen. 2350 Man kann die gleichen Feststellungen in bezug auf lateinisch calidum machen, wenn man es ohne Übergänge mit dem vergleicht, was es im Modernfranzösischen geworden ist ( šọ , geschrieben chaud), um dann anschließend die einzelnen Etappen zu rekonstruieren: calidum, calidu, caldu, calt, t š alt, t š aut, š aut, šọ t, šọ . 2251 Man vergleiche des weiteren noch vulgärlateinisch *waidanju → g ẽ (geschrieben gain), minus → mw ẽ (geschrieben moins), hoc ill ī → wi (geschrieben oui). 2352 Die phonetischen Erscheinungen sind weiterhin unbegrenzt und unberechenbar in dem Sinne, daß sie jede Art von Zeichen 112 betreffen können, ohne zu unterscheiden zwischen einem Adjektiv, einem Substantiv usw., zwischen einem Stamm, einem Suffix, einer Flexionsendung usw. 2353 Dem muß a priori so sein, denn wenn die Grammatik eine Rolle spielen würde, dann würden sich die phonetischen Phänome mit den synchronischen Gegebenheiten vermischen, was definitiv unmöglich ist. 2354 Genau dies ist es, was man den blinden Charakter der Lautentwicklungen nennen kann. 193 * 2355 So ist im Griechischen s nach n nicht nur in *kh ā nses ‘ Gänse ’ , *m ē nses ‘ Monate ’ (woraus khênes, mênes geworden ist) gefallen, wo es keine grammatische Funktion hatte, sondern auch in Verbformen vom Typus *etensa, *ephansa usw. (zu éteina, éph ē na usw.), wo es dazu diente, den Aorist zu kennzeichnen. 2356 Im Mittelhochdeutschen haben die nachtonigen Vokale ĭ ĕ ă ŏ einen einheitlichen Klang e angenommen (gibil → Giebel, meistar → Meister), obwohl der Qualitätsunterschied für zahlreiche Endungen charakteristisch 113 war; so sind der Akk. sg. boton und der Gen./ Dat. sg. boten in boten zusammengefallen. 111 Die Verwendung von signe/ Zeichen an dieser Stelle ist problematisch, denn gemeint ist das signifiant/ der Signifikant; die einzige Quelle (I R 1.77) hat symbole phonétique. Ebenso müßte anstelle von signification/ Bedeutung (das durch die Quelle gedeckt ist) eigentlich signifié/ Signifikat stehen. Trotz dieser Schwächen verändern wir den Vulgatatext nicht. - Cf. auch D E M AURO 1972 N274. 112 Auch hier geht signe/ Zeichen auf die Herausgeber zurück und fehlt in der Quelle (I R 1.66), die zweimal mot hat. Auch hier korrigieren wir nicht. 113 charakteristisch (bzw. die entsprechende frz. finite Verbform caractérisât) darf wohl als distinktiv interpretiert werden. 168 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2357 Wenn also die phonetischen Erscheinungen durch nichts begrenzt werden, müssen sie eine schwere Störung des grammatikalischen Systems zur Folge haben. Dies ist der Gesichtspunkt, unter dem wir sie nun im folgenden betrachten werden. 2358 Kapitel 3 Grammatikalische Folgen der phonetischen Entwicklung 194 * 2359 § 1. - Aufbrechen der grammatikalischen Bindungen 2360 Eine erste Konsequenz der phonetischen Erscheinungen ist die Zerstörung des grammatikalischen Bandes, das eine oder mehrere Einheiten zusammenhält. 2361 So kommt es vor, daß ein Wort nicht mehr als Ableitung von einem andern wahrgnommen wird. Beispiele: mansi ō - *mansi ō n ā ticus maison || ménage 2362 Das Sprecherbewußtsein sah früher in *mansi ō n ā ticus eine Ableitung von mansi ō , dann haben die phonetischen Ereignisse sie getrennt. 2363 Ebenso: (verv ē x - verv ē c ā rius) vlat. berb ī x - berb ī c ā rius brebis || berger 2364 Diese Trennung bleibt nicht ohne Folgen für den Bedeutungswert 114 : So ist in gewissen lokalen Dialekten berger zur speziellen Bezeichnung für den ‘ Rinderhirten ’ geworden. 2365 Des weiteren: Gr ā ti ā nopolis - gr ā ti ā nopolit ā nus Grenoble || Grésivaudan decem - undecim dix || onze. 2366 Ein analoger Fall ist derjenige von gotisch b ī tan ‘ beißen ’ - bitum ‘ wir haben gebissen ’ - bitr ‘ beißend, bitter ’ ; als Folge des Wandels t → ts (z) einerseits und der Bewahrung der Gruppe tr andererseits hat das Westgermanische daraus gemacht: b īʒ an, bi ʒ um || bitr. 195 * 2367 Die phonetische Entwicklung bricht weiter die normale Beziehung auf, die zwischen zwei Flexionsformen ein und desselben Wortes existierte. 2368 So wird comes - comitem im Altfranzösischen cuens || comte, bar ō - bar ō nem → ber || baron, presbiter - presbiterum → prestre || provoire. 2369 Andernorts ist es eine Endung, die aufgespalten wird. 2370 Das Indogermanische kennzeichnete alle Akkusative des Singulars durch den gleichen Auslautkonsonanten -m ( 115 ) 114 valeur ist hier zu ungenau; gemeint ist der Wert auf der Inhaltsebene; deshalb unsere präzisierende Übersetzung. ( 115 ) Oder -n? Cf. 1536 (N). (Ed.) 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 169 (*ek 1 wom, *owim, *podm, *m ā term usw.). Im Lateinischen gibt es diesbzüglich keine wesentliche Veränderung; im Griechischen dagegen hat die sehr unterschiedliche Behandlung des sonantischen und des kon-sonantischen Nasals zu zwei verschiedenen Formenreihen geführt: híppon, ó(w)in : póda, m ā ́ tera. 2371 Der Akkusativ des Plurals zeigt eine ganz ähnliche Situation (cf. híppous und pódas). 2372 § 2. - Verwischung des Kompositionscharakters von Wörtern 2373 Ein weiterer grammatikalischer Effekt des phonetischen Wandels besteht darin, daß die unterscheidbaren Teile eines Wortes, die zur Bestimmung seines Bedeutungswertes 116 beitragen, nicht mehr analysierbar sind: Das Wort wird ein unanalysierbares Ganzes. 2374 Beispiele: französisch ennemi (cf. lateinisch in-im ī cus - am ī cus), im Lateinischen perdere (cf. älter per-dare - dare), amici ō (für *ambjaci ō - jaci ō ), im Deutschen Drittel (für drit-teil - teil). 2375 Man sieht übrigens, daß dieser Fall auf den im vorhergehenden Paragraphen behandelten zurückgeführt werden kann: Wenn z. B. Drittel unanalysierbar ist, läuft das darauf hinaus, daß man es nicht mehr wie drit-teil zu einfachem teil in Beziehung setzen kann; die Formel teil - dritteil Teil || Drittel entspricht vollkommen mansi ō - mansi ō n ā ticus maison || ménage. Cf. auch noch: decem - undecim : dix || onze. 2376 Die einfachen Formen hunc, hanc, h ā c usw. des klassischen Latein gehen auf hon-ce, hance, h ā -ce zurück, wie die Formen der Inschriften zeigen; sie sind das Ergebnis der Agglutination eines Pronomens mit der Partikel -ce; man konnte früher hon-ce usw. zu ecce in Beziehung setzen; nach dem phonetischen Verlust von -e war dies später nicht mehr möglich, was darauf hinausläuft zu sagen, daß man die Elemente von hunc, hanc, h ā c usw. nicht mehr unterscheiden kann. 2377 Der phonetische Wandel beginnt die Analyse zu stören, bevor er sie vollkommen unmöglich macht. Die Nominalflexion des Indogermanischen bietet ein Beispiel hierfür. 2378 Das Indogermanische deklinierte Nom.sg. *pod-s, Akk. *pod-m, Dat. *pod-ai, Lok. *pod-i, Nom.pl. *pod-es, Akk. *pod-ns, usw.; die Flexion von *ek 1 wos war ursprünglich vollkommen parallel: *ek 1 wo-s, *ek 1 wo-m, *ek 1 wo-ai, *ek 1 wo-i, *ek 1 wo-es, *ek 1 wo-ns usw. 2379 Zu dieser Zeit konnte man leicht sowohl *ek 1 woals auch *podisolieren. 2380 Später aber haben die Vokalkontraktionen diesen Zustand verändert: Dat. *ek 1 w ō i, Lok. *ek 1 woi, Nom.pl. *ek 1 w ō s. 2381 Von da an war die Eindeutigkeit des Stammes *ek 1 wobeeinträchtigt und die Analyse mußte andere Wege einschlagen. 2382 Später haben neue Veränderungen, wie z. B. die Diffenzierung der Akkusative (cf. 2369ss.), die letzten Spuren des ursprünglichen Zustands getilgt. 2383 Die Zeitgenosen von Xenophon hatten wahrscheinlich den Eindruck, der Stamm sei hipp- und die Endungen seien vokalischer Natur (hipp-os usw.), was die vollständige Trennung der Typen *ek 1 wo-s und *pod-s zur Folge hatte. 2384 Im Bereich der Flexion wie auch 116 Wir präzisieren valeur in der Übersetzung auch hier. 170 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft anderweitig trägt alles, was die Analyse beeinträchtigt, dazu bei, die grammatikalischen Bindungen zu lockern. 2385 § 3. - Es gibt keine phonetischen Doubletten 2386 In den beiden in den Paragraphen 1 und 2 untersuchten Fällen trennt die Entwicklung zwei Einheiten streng voneinander, die ursprünglich grammatikalisch miteinander verknüpft waren. 2387 Dieses Phänomen könnte Anlaß sein für einen schweren Interpretationsfehler. 2388 Wenn man die relative Identität von spätlateinisch bar ō : bar ō nem und die Verschiedenheit von altfranzösisch ber : baron feststellt, ist man dann nicht versucht zu sagen, ein und dieselbe ursprüngliche Einheit (bar-) habe sich in zwei unterschiedliche Richtungen entwickelt und zwei verschiedene Formen ergeben? Nein, denn ein und dasselbe Element kann nicht gleichzeitig und am gleichen Ort zwei verschiedenen Veränderungen unterliegen; dies wäre im Widerspruch zu der Definition selbst des phonetischen Wandels; von sich selbst her hat die Lautwentwicklung nicht die Möglichkeit, zwei Formen anstelle von einer zu schaffen. 2389 Hier die möglichen Einwände gegen diese These; wir nehmen an, daß sie über Beispiele eingeführt würden: 2390 Colloc ā re, würde man argumentieren, hat sowohl coucher als auch colloquer ergeben. Nein, nur coucher; colloquer ist eine gelehrte Entlehung des lateinischen Wortes (cf. rançon und rédemption, usw.). 2391 Aber hat cathedra nicht sowohl chaire als auch chaise ergeben, zwei Wörter, die genuin französisch sind? In Wirklichkeit ist chaise eine dialektale Form. 2392 Im Pariser Dialekt wurde intervokalisches r zu z; man sagte z. B.: pèse, mèse für père, mère; das literarische Französisch hat nur zwei Fälle dieser lokalen Aussprache bewahrt: chaise und bésicles (Doublette von béricles, das von béryl kommt). 2393 Der Fall ist durchaus vergleichbar mit demjenigen des pikardischen rescapé, das ins Allgemeinfranzösische übergegangen ist und jetzt nachträglich zu réchappé in Opposition steht. 2394 Wenn man nebeneinander cavalier und chevalier, cavalcade und chevauchée findet, so deshalb, weil cavalier und cavalcade aus dem Italienischen entlehnt worden sind. 2395 Im Grunde handelt es sich um den gleichen Fall wie bei calidum, das im Französischen chaud und im Italienischen caldo ergibt. In all diesen Beispielen handelt es sich um Entlehnungen. 2396 Wenn man nun behauptet, das lateinische Pronomen m ē sei im Französischen durch zwei Formen vertreten: me und moi (cf. «il me voit» und «c ’ est moi qu ’ il voit»), wird man darauf antworten: Es ist das unbetonte lateinisch m ē , das zu me geworden ist; das betonte m ē hat moi ergeben. Das Vorhandensein oder Fehlen des Akzents hängt nun nicht von den phonetischen Gesetzen ab, die m ē in me und moi übergeführt haben, sondern von der Rolle des Wortes im Satz; wir haben es mit einem grammatikalischen Gegensatz zu tun. 2397 Ebenso ist im Deutschen *urunter dem Akzent urgeblieben und in der Vortonsilbe zu ergeworden (cf. úrlaub : erlaúben); aber dieses Spiel des Akzents ist seinerseits abhängig von den Kompositonstypen, in die ureingetreten ist, also von einer grammatikalischen und synchronischen Gegebenheit. 2398 Und um schließlich auf unser Ausgangsbeispiel zurückzukommen: Die Unterschiede bezüglich Formen und Akzent, die wir in dem Paar bár ō : bar ṓ nem vorfinden, sind offensichtlich älter als der phonetische Wandel. 2399 In der Tat findet man nirgends phonetische Doubletten. 2400 Die Lautentwicklung verstärkt nur Unterschiede, die bereits vor ihrem Auftreten existieren. 2401 Überall, wo diese Unterschiede nicht durch äußere Faktoren bedingt sind, wie z. B. bei den Entlehnungen, 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 171 setzen sie grammatikalische und synchronische Gegensätze voraus, die mit dem phonetischen Phänomen überhaupt nichts zu tun haben. 2402 § 4. - Die Alternanz 196 * 2403 Bei Paaren wie maison : ménage ist man kaum versucht zu ermitteln, was den Unterschied zwischen den beiden Einheiten ausmacht, entweder weil die differentiellen Elemente (-ezõ und -en-) sich schlecht für einen Vergleich eignen, oder aber weil kein anderes Paar eine parallele Opposition kennt. Aber es kommt oft vor, daß zwei benachbarte Einheiten sich nur durch ein oder zwei leicht zu isolierende Elemente unterscheiden, und daß dieser gleiche Unterschied sich regelmäßig in einer ganzen Reihe von parallelen Paaren wiederholt; dann handelt es sich um die umfassendste und allgemeinste der grammatikalischen Erscheinungen, bei denen der phonetische Wandel eine Rolle spielt: Man nennt sie Alternanz. 2404 Im Französischen ist jedes lateinische ŏ in offener Silbe und unter dem Akzent zu eu geworden und zu ou in der Vortonsilbe 197 *; daher rühren Paare wie pouvons : peuvent, douloureux : douleur, nouveau : neuf usw., in denen man mit Leichtigkeit ein differenzierendes Element und eine regelmäßige Variation feststellt. 2405 Im Lateinischen läßt der Rhotazismus ger ō mit gestus, oneris mit onus, maeror mit maestus usw. alternieren. 2406 Im Germanischen, wo das s unterschiedlich behandelt wird je nach dem Platz des Akzents (cf. 2275 117 ), hat man im Mittelhochdeutschen ferliesen : ferloren, kiesen : gekoren, friesen : gefroren usw. 2407 Der Verlust des indogermanischen e spiegelt sich im Neuhochdeutschen in Oppositionen wie beissen : biss, leiden : litt, reiten : ritt usw. 2408 In all diesen Beispielen ist es der Stamm, der betroffen ist; aber es versteht sich von selbst, daß alle Teile des Wortes ähnliche Oppositionen aufweisen können. 2409 Nichts gängigeres als ein Präfix, das in unterschiedlicher Form erscheint je nach der Natur des Stammanlautes (cf. griechisch apo-díd ō mi : ap-érchomai, französisch inconnu : inutile 198 *). 2410 Die indogermanische Alternanz e : o, die letztlich eine phonetische Ursache haben muß, findet sich in einer großen Zahl von suffixalen Elementen (griechisch híppos : híppe, phér-omen : phér-e-te, gén-os : gén-e-os für *gén-es-os usw.). 2411 Das Altfranzösische kennt eine besondere Behandlung des betonten lateinischen a nach Palatal; daraus resultiert eine Alternanz e : ie in zahlreichen Endungen (cf. chant-er : jug-ier, chant-é : jug-ié, chant-ez : jug-iez usw.). 2412 Die Alternanz kann deshalb folgendermaßen definiert werden: [Eine Alternanz ist] eine Entsprechung zwischen zwei Lauten oder Lautgruppen, die regelmäßig zwischen zwei koexistierenden Formenreihen permutieren. 2413 Ebensowenig wie der phonetische Wandel für sich allein die Existenz von Doubletten erklärt, ist er weder die einzige noch die wichtigste Ursache der Alternanz; dies ist leicht einzusehen. 2414 Wenn man sagt, das lateinische novsei durch den Lautwandel zu neuv- und nouv- (neuve und nouveau) geworden, konstruiert man eine imaginäre Einheit und verkennt die vorgängige Existenz eines synchronischen Gegensatzes; die unterschiedliche Position von novin nov-us und in nov-ellus existiert einerseits schon vor dem phonetischen Wandel und ist andererseits essentiell grammatikalischer Natur (cf. bar ō : bar ō nem). 2415 Es ist dieser Gegensatz, der den Ausgangspunkt für jede Alternanz bildet und sie möglich macht. 2416 Der Lautwandel hat nicht eine Einheit aufgebrochen, er hat nur eine bestehende Opposition zwischen koexistierenden Einheiten greifbarer gemacht durch die Differenzierung der Laute. 2417 Es ist ein Irrtum vieler Linguisten zu glauben, die Alternanz sei phonetischer Natur, und dies nur weil die 117 Der Verweis auf 2275 ist problematisch, denn dort geht es nicht um s, sondern um þ. Der Querverweis fehlt denn auch in den späteren Ausgaben. 172 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Laute ihr das Material liefern und deren Veränderungen bei ihrer Entstehung eine Rolle spielen. 2418 In Wirklichkeit gehört die Alternanz sowohl bezüglich ihres Ausgangsals auch bezüglich ihres Endpunktes immer dem Bereich der Grammatik und der Synchronie an. 2419 § 5. - Die Gesetze der Alternanz 2420 Sind die Alternanzen auf Gesetze reduzierbar, und welcher Natur sind diese Gesetze? 2421 Nehmen wir die Alternanz e : i, die im Neuhochdeutschen so häufig ist; wenn man alle Fälle zusammen und ungeordnet betrachtet (geben : gibt, Feld : Gefilde, Wetter : wittern, helfen : Hilfe, sehen : Sicht usw.), kann man keine allgemeine Regel formulieren. 2422 Aber wenn man aus dieser Masse das Paar geben : gibt herausgreift und es schelten : schilt, helfen : hilft, nehmen : nimmt usw. gegenüberstellt, erkennt man, daß diese Alternanz zusammenfällt mit einer Unterscheidung von Tempus, Person usw.; 2423 in lang : Länge, stark : Stärke, hart : Härte usw. ist die vergleichbare Opposition a : e an die Bildung von Substantiven auf adjektivischer Basis gebunden, in Hand : Hände, Gast : Gäste usw. dient sie der Pluralbildung, 2425 und Entsprechendes gilt für alle (so häufigen) Fälle, die die Germanisten unter dem Terminus Ablaut zusammenfassen (cf. noch finden : fand oder finden : Fund, binden : band oder binden : Bund, schießen : schoß : Schuß, fließen : floß : Fluß usw.). Der Ablaut, d. h. die Variation des Stammvokals in Verbindung mit einer grammatikalischen Oppositon, ist ein herausragendes Beispiel für die Alternanz; aber er unterscheidet sich durch kein besonderes Merkmal vom allgemeinen Phänomen. 2426 Man sieht, daß die Alternanz normalerweise regelmäßig auf mehrere Einheiten verteilt ist und daß sie mit einer wesentlichen Opposition hinsichtlich der Funktion, der Kategorie, der Determination zusammenfällt. 2427 Man kann somit von grammatikalischen Gesetzen der Alternanz sprechen; aber diese Gesetze sind nur das zufällige Resultat von phonetischen Ereignisse, die ihnen zugrundeliegen. 2428 Diese haben eine regelmäßige lautliche Opposition zwischen zwei Reihen von Einheiten geschaffen, die einen Wertegegensatz darstellen; der Geist bemächtigt sich nun dieses materiellen Unterschieds, um ihn bedeutungsvoll und zum Träger einer inhaltlichen Unterscheidung zu machen (cf. 1413ss.). 2429 Wie alle synchronischen Gesetze sind auch diese rein dispositiver Natur und ohne imperativen Charakter. 2430 Es ist in hohem Maße abwegig zu sagen (wie dies oft geschieht), das a von Nacht werde zu ä im Plural Nächte; dies schafft die Illusion, es gebe zwischen dem einen und dem andern Term eine durch ein imperatives Prinzip geregelte Veränderung. 2431 In Wirklichkeit haben wir es mit einer einfachen Opposition von Formen zu tun, die sich aus der Lautentwicklung ergeben hat. 2432 Es trifft zu, daß die Analogie, von der gleich die Rede sein wird, neue Paare schaffen kann, die den gleichen lautlichen Unterschied aufweisen (cf. Kranz : Kränze nach Gast : Gäste usw.). 2433 Das Gesetz scheint dann wie eine Regel angewendet zu werden, die den Gebrauch bis hin zu seiner Veränderung bestimmt. 2434 Aber man darf nicht vergessen, daß in der Sprache diese Permutationen gegenläufigen analogischen Einflüssen ausgesetzt sind, 2435 und das genügt um festzuhalten, daß Regeln dieser Art immer prekärer Natur sind und deshalb voll und ganz der Defintion der synchronischen Gesetze entsprechen. 2436 Es kann auch vorkommen, daß die lautlichen Bedingungen, die zur Alternanz geführt haben, noch sichtbar sind. So hatten die 2421ss. zitierten Paare im Althochdeutschen die Form: geban : gibit, feld : gafildi usw. Wenn damals der Stamm von einem i gefolgt war, wies er selbst ein i anstelle von e auf, während er in allen andern Fällen ein e zeigt. 2437 Die Alternanz von lateinisch faci ō : confici ō , am ī cus : inim ī cus, facilis : difficilis usw. ist ebenfalls an eine lautliche Bedingung gebunden, die die Sprecher folgendermaßen formuliert hätten: Das a 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 173 eines Wortes vom Typus faci ō , am ī cus usw. alterniert mit i in den Wörtern der gleichen Familie, wenn dieses a in einer wortinternen Silbe steht. 2438 Aber diese lautlichen Oppositionen führen zu den genau gleichen Bemerkungen wie alle grammatikalischen Gesetze: Sie sind synchronischer Natur. Sobald man dies vergißt, läuft man Gefahr, den Interpretationsfehler zu begehen, auf den schon 1608ss. hingewiesen wurde. 2439 Vor ein Paar wie faci ō : confici ō gestellt, muß man sich davor hüten, die Beziehung zwischen koexistierenden Einheiten mit derjenigen zu verwechseln, die aufeinanderfolgende Einheiten in der Diachronie miteinander verbindet (confaci ō → confici ō ). 2440 Wenn man versucht ist, dies zu tun, so deshalb, weil der Grund für die phonetische Differenzierung in dem Paar noch sichtbar ist; aber seine Wirkung gehört der Vergangenheit an, und für die Sprecher liegt nur eine einfache synchronische Opposition vor. 2441 All dies bestätigt, was wir zum streng grammatikalischen Charakter der Alternanz gesagt haben. 2442 Man hat sich für ihre Bezeichnung auch des Terminus Permutation bedient, der durchaus korrekt ist; man sollte ihn gleichwohl eher vermeiden, und zwar deshalb, weil man ihn oft für den phonetischen Wandel verwendet hat, und weil er eine falsche Vorstellung von Veränderung hervorruft, wo nichts anderes als ein Zustand vorliegt. 199 * 2443 § 6. - Alternanz und grammatikalische Bindung 2444 Wir haben gesehen, wie der phonetische Wandel durch die Veränderung der Form der Wörter den Effekt haben kann, daß grammatikalische Bindungen zwischen ihnen aufgebrochen werden. 2445 Aber das gilt nur für isolierte Paare wie maison : ménage, Teil : Drittel usw. 2446 Sobald es sich um Alternanzen handelt, liegen die Dinge anders. 2447 Es ist offensichtlich, daß jede einigermaßen regelmäßige Lautopposition zwischen zwei Elementen die Tendenz hat, ein Band zwischen ihnen entstehen zu lassen. 2448 Wetter wird instinktiv zu wittern in Beziehung gesetzt, weil man sich gewöhnt ist, e mit i permutieren zu sehen. 2449 Das gilt umso mehr, sobald die Sprecher spüren, daß eine Lautopposition durch ein allgemeines Gesetz geregelt ist; die regelmäßige Entsprechung prägt sich ihnen ein und trägt dazu bei, das Band zu verstärken statt es zu lockern. 2450 So akzentuiert der deutsche Ablaut (cf. 2421ss.) die Wahrnehmung des Stammes aufgrund der Vokalvariationen. 2451 Das Gleiche gilt für die Alternanzen ohne Bedeutung, die einzig an eine lautliche Bedingung geknüpft sind. 2452 Das Präfix re- (reprendre, regagner, retoucher usw. wird vor Vokal zu rreduziert (rouvrir, racheter usw.). 2453 Ebenso erscheint das trotz seiner gelehrten Herkunft sehr lebendige Präfix inunter den gleichen Bedingungen in zwei verschiedenen Formen: ẽ - (in inconnu, indigne, invertébré usw.) und in- (in inavouable, inutile, inesthétique usw.). 2454 Dieser Unterschied zerstört keineswegs die konzeptuelle Einheit, denn Sinn und Funktion sind identisch gefaßt und die Fälle sind festgelegt, wo die Sprache die eine oder andere Form verwenden wird. 174 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2455 Kapitel 4 Die Analogie 200 * 2456 § 1. - Definition und Beispiele 2457 Aus dem Vorhergehenden folgt, daß der Lautwandel ein Störfaktor ist. Überall dort, wo er keine Alternanzen schafft, trägt er zur Lockerung der grammatikalischen Bindungen bei, die die Wörter zu einander in Beziehung setzen; die Zahl der Wörter steigt dadurch unnötig an; der sprachliche Mechanismus wird undurchsichtig und verkompliziert sich in dem Maße, in dem die aus dem Lautwandel entstandenen Unregelmäßigkeiten die Oberhand über die Formen gewinnen, die allgemeinen Typen zugeordnet werden können; mit anderen Worten: in dem Maße, in dem die absolute Arbitrarität die relative Arbitrarität verdrängt (cf. 2114ss.). 2458 Glücklicherweise gibt es die Analogie als Gegengewicht zu den Folgen dieser Veränderungen. 2459 Zu ihr zählen alle regelmäßigen Umgestaltungen des äußeren Wortaspekts, die nicht phonetischer Natur sind. 201 * 2460 Die Analogie setzt ein Modell und dessen regelmäßige Nachahmung voraus. Eine analogische Form ist eine Form, die nach dem Vorbild einer oder mehrerer anderer Formen und unter Rückgriff auf eine gegebene Regel gebildet ist. 2461 So ist der lateinische Nominativ honor analogischer Natur. 2462 Man sagte ursprünglich hon ō s : hon ō sem, dann aufgrund des Rhotazismus hon ō s : hon ō rem. 2463 Der Stamm hatte von da an eine doppelte Form; diese Doppelung ist durch die neue Form honor wieder getilgt worden, die nach dem Modell von ō r ā tor : ō r ā t ō rem usw. gebildet ist 2464 und dabei ein Verfahren nutzt, das wir weiter unten untersuchen werden, und das wir von jetzt an mit der Berechnung der vierten Proportionalen gleichsetzen: ō r ā t ō rem : ō r ā tor = hon ō rem : x x = honor 2465 Wir sehen somit folgendes: Um den diversifizierenden Effekt des Lautwandels (hon ō s : hon ō rem) auszugleichen, hat die Analogie die Formen von neuem zusammengeführt und die Regelmäßigkeit wieder hergestellt (honor : hon ō rem). 2466 Im Französischen hat man lange gesagt: il preuve, nous prouvons, ils preuvent. 2467 Heute heißt es il prouve, ils prouvent und man verwendet so Formen, die sich phonetisch nicht erklären lassen; il aime geht auf lateinisch amat zurück, während nous aimons eine Analogiebildung anstelle von amons ist; ebenso müßte man eigentlich amable anstelle von aimable sagen. 2468 Im Griechischen ist s zwischen zwei Vokalen gefallen: -esowird so zu -eo- (cf. géneos für *genesos). 2469 Indessen findet man dieses intervokalische s im Futurum und im Aorist aller Verben auf Vokal wieder: l ū ́ s ō , él ū sa usw. 2470 Dies rührt daher, daß die Analogie zu Formen des Typus túps ō , étupsa, wo das s nicht fiel, die Erinnerung an das Futurum und den Aorist auf s bewahrt hat. 2471 Im Deutschen sind Gast : Gäste, Balg : Bälge usw. phonetisch, Kranz : Kränze (früher kranza), Hals : Hälse (früher halsa) usw. gehen dagegen auf Nachahmung zurück. 2472 Die Analogie wirkt zugunsten der Regelmäßigkeit und tendiert dazu, die Verfahren der Wortbildung und der Flexion zu vereinheitlichen. 2473 Aber sie hat ihre Launen: Neben Kranz : Kränze usw. hat man Tag : Tage, Salz : Salze usw., die aus dem einen oder andern Grund der Analogie widerstanden haben. So kann man nicht vorhersagen, bis wo die Imitation eines Modells gehen wird, noch welche Typen dazu bestimmt sind, sie auszulösen. 2474 So sind es nicht immer die häufigsten Formen, die den analogischen Prozeß anstoßen. 2475 Im griechi- 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 175 schen Perfekt wird neben dem Aktiv pépheuga, pépheugas, pephéugamen usw. das ganze Medium ohne a flektiert: péphugmai, pephúgmetha usw.; und die homerische Sprache zeigt uns, daß dieses a früher auch im Plural und im Dual des Aktivs fehlte (cf. homerisch ídmen, éïkton usw.). 2476 Die Analogie ist einzig von der ersten Person Singular des Aktivs ausgegangen und hat sich fast über das ganze Paradigma des Indikativ Perfekt ausgedehnt. 2477 Dieser Fall ist überdies beachtenswert, weil -aein an den Stamm angefügtes flexivisches Element ist; wie wir 2568s. sehen werden, ist der umgekehrte Fall - Anfügung eines Stammelements an ein Suffix - bedeutend häufiger. 2478 Oft genügen zwei oder drei isolierte Wörter, um die Bildung einer allgemeinen Form, z. B. einer Endung, auszulösen. Im Althochdeutschen haben die schwachen Verben vom Typus hab ē n, lob ō n usw. ein -m in der 1. Person Singular des Präsens: hab ē m, lob ō m; dieses -m geht auf Verben zurück, die den griechischen Verben auf -mi entsprechen: bim, st ā m, g ē m, tuom, die für sich allein die Ausdehnung dieser Endung auf die ganze schwache Flexion bewirkt haben. 2479 Wir weisen darauf hin, daß hier die Analogie nicht eine phonetische Vielfalt überdeckt, sondern ein Bildungsmuster verallgemeinert hat. 2480 § 2. - Die Analogie ist kein Wandel 202 * 2481 Die ersten Linguisten haben die Natur der Analogie nicht verstanden, die sie «falsche Analogie» nannten. 2482 Sie glaubten, das Lateinische habe sich bei der Schaffung von honor bezüglich des Prototyps hon ō s einfach getäuscht. 2483 Für sie ist alles, was sich von einer gegebenen Ordnung entfernt, eine Unregelmäßigkeit, ein Verstoß gegen die Idealform. 2484 Dies rührt daher, daß man aufgrund eines für die Epoche typischen Irrtums im ursprünglichen Zustand der Sprache etwas Überlegeneres und Vollkommeneres sah, ohne sich auch nur zu fragen, ob diesem Zustand nicht möglicherweise ein anderer vorangegangen war. 2485 Jede Abweichung ihm gegenüber war deshalb eine Anomalie. 2486 Die Schule der Junggrammatiker hat der Analogie erstmals den ihr gebührenden Platz zugewiesen, indem sie zeigte, daß sie zusammen mit dem Lautwandel den entscheidenden Evolutionsfaktor der Sprachen darstellt und das Verfahren liefert, dank dem die Sprachen von einem Organisationszustand zu einem andern übergehen. 2487 Aber welcher Natur sind die analogischen Erscheinungen? 2488 Gehören sie, wie allgemein angenommen, zum Sprachwandel? 2489 Jede analogische Erscheinung ist ein Drama mit drei Personen, die da sind: 1. Der überlieferte Typ, der legitim und erblich ist (z. B. hon ō s); 2. der Konkurrent (honor); 3. eine Kollektivperson, die aus den Formen besteht, die zur Bildung des Konkurrenten geführt haben (hon ō rem, ō r ā tor, ō r ā t ō rem usw.). 2490 Man betrachtet honor gerne als eine Modifikation, einen «Metaplasmus» von hon ō s; es hätte den größten Teil seiner Lautsubstanz von diesem letzeren Wort übernommen. 2491 Nun ist aber gerade hon ō s die einzige Form, die bei der Genese von honor keine Rolle spielt! 176 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2492 Man kann das Phänomen schematisch folgendermaßen darstellen: ÜBERLIEFERTE F ORMEN NEUE F ORM hon s hon rem (das keine r tor, r t rem usw. honor Rolle spielt) (generierende Gruppe) 2493 Wie man sieht, handelt es sich um ein «Paraplasma», um die Einführung eines Konkurrenten neben einer traditionellen Form, letztlich um eine Neuschöpfung. 2494 Während der Lautwandel nichts Neues einführt ohne das Vorangehende zu annullieren (hon ō rem ersetzt hon ō sem), bewirkt die analogische Form nicht zwingend den Verlust derjenigen, die sie doppelt. Honor und hon ō s haben während einer gewissen Zeit nebeneinander existiert, und die eine Form konnte anstelle der andern verwendet werden. 2498 Da die Sprache aber ungern zwei Signifikanten für ein und denselben Inhalt bewahrt, kommt meistens die ursprüngliche, weniger regelmäßige Form außer Gebrauch und verschwindet. 2497 Es ist dieser Endzustand, der uns glauben läßt, es liege ein Wandel vor: Wenn der analogische Prozeß einmal abgeschlossen ist, stehen der alte Zustand (hon ō s : hon ō rem) und der neue (honor : hon ō rem) sich scheinbar in einer Oppositon gegenüber, die derjenigen entspricht, die aus einem Lautwandel resultiert. 2498 Indessen hat sich in dem Moment, in dem honor entsteht, nichts verändert, denn es ersetzt nichts; und das Verschwinden von hon ō s ist ebenso wenig ein Wandel, denn die Erscheinung ist unabhängig von der ersten. 2499 Überall, wo man die Abfolge der sprachlichen Ereignisse verfolgen kann, stellt man fest, daß die analogische Innovation und der Untergang der alten Form zwei verschiedene Dinge sind und entdeckt nirgends einen Wandel. 2500 Die Analogie ist so wenig darauf festgelegt, eine Form durch eine andere zu ersetzen, daß sie oft Formen schafft, die nichts ersetzen. 2501 Im Deutschen kann man von jedem beliebigen Substantiv mit konkreter Bedeutung einen Diminutiv auf -chen bilden; wenn eine Form wie Elefantchen in die Sprache eindränge, würde sie nichts vorher Existierendes ersetzen. 2502 Ähnlich kann im Französischen nach dem Modell pension : pensionnaire, réaction : réactionnaire usw. jemand die Formen interventionnaire oder répressionnaire bilden, die ‘ wer für die Intervention/ die Repression ist ’ bedeuten. 2503 Dieses Verfahren ist offensichtlich das gleiche wie dasjenige, das eben zur Bildung von honor führte; beide lassen sich durch die gleiche Formel darstellen: réaction : réactionnaire = répression : x x = répressionnaire, und sowohl im einen wie im anderen Fall gibt es nicht den geringsten Anlaß, von einem Wandel zu sprechen; répressionnaire ersetzt nichts. 2504 Ein anderes Beispiel: Einerseits hört man analogisch gebildetes finaux für finals, das als regelmäßiger gilt; andererseits könnte jemand das Adjektiv firmamental bilden und ihm einen Plural firmamentaux zuordnen. 2505 Würde man dann sagen, im Fall von finaux liege ein Wandel vor und im Fall von firmamentaux eine Neuschöpfung? Wir haben in beiden Fällen eine Neuschöpfung. 2505 Nach dem Modell von mur : emmurer hat man tour : entourer und jour : ajourer (in «un travail ajouré») 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 177 geschaffen; diese relativ neuen Ableitungen erscheinen uns als Neuschöpfungen. 2507 Aber wenn ich feststelle, daß zu einer früheren Epoche das Französische über entorner und ajorner verfügte, die auf der Basis von torn und jorn gebildet sind, muß ich dann meine Meinung ändern und erklären, entourer und ajourer seien Modifikationen dieser älteren Wörter? 2508 Die Illusion eines «analogischen Wandels» rührt daher, daß man einen Bezug zu einer durch die neue Form verdrängten Einheit herstellt; aber dies ist ein Fehler, denn die Bildungen, die als Veränderungen gelten (Typus honor), sind von der gleichen Art wie diejenigen, die wir Neuschöpfungen nennen (Typus répressionnaire). 2509 § 3. - Die Analogie als sprachliches Kreativitätsprinzip 203 * 2510 Nachdem wir gezeigt haben, was die Analogie nicht ist, untersuchen wir sie nun in positiver Hinsicht, und dabei ergibt sich unmittelbar, daß ihr Grundprinzip mit demjenigen der sprachlichen Neuschöpfung im allgemeinen zusammenfällt. Welcher Art ist es? 2511 Die Analogie ist psychologischer Natur; aber das genügt nicht, um sie von den phonetischen Erscheinungen zu unterscheiden, denn diese können ebenfalls als psychologisch angesehen werden (cf. 2340ss.). 2512 Man muß weiter gehen und sagen, die Analogie gehöre zum Bereich der grammatikalischen Phänomene: Sie setzt das Bewußtsein und das Verständnis einer Beziehung voraus, die die Formen miteinander verbindet. 2513 Während die Idee bei den phonetischen Erscheinungen keine Rolle spielt, ist ihre Beteiligung bei der Analogie unverzichtbar. 2514 Beim phonetischen Übergang von intervokalischem s zu r im Lateinischen (cf. hon ō sem → hon ō rem) sind weder der Vergleich mit andern Formen noch die Bedeutung des Wortes beteiligt: Es ist der Wortkörper hon ō sem, der zu hon ō rem wird. 2515 Um dagegen das Erscheinen von honor neben hon ō s zu verstehen, muß man auf andere Formen zurückgreifen, 2516 wie es die Formel der vierten Proportionalen zeigt: ō r ā t ō rem : ō r ā tor = hon ō rem : x x = honor, und diese Kombination hätte keine Existenzberechtigung, wenn der Geist nicht die Formen, die sie ausmachen, aufgrund ihrer Bedeutung zueinander in Beziehung setzen würde. 2517 Somit ist in der Analogie alles grammatikalisch; 2518 aber wir müssen gleich hinzufügen, daß die daraus resultierende Neuschöpfung vorerst nur der Rede angehören kann; sie ist das zufällige Produkt eines einzelnen Sprechers. Es gilt somit, die Erscheinung vorerst auf diesem Gebiet (und nur am Rande des Sprachsystems) zu erfassen. 2519 Dabei gilt es zwei Dinge zu unterscheiden: 1. Das Verständnis der Beziehung, die zwischen den an der Neuschöpfung beteiligten Formen besteht; 2. das auf den Vergleich zurückgehende Ergebnis, die vom Sprecher improvisierte Form für den Ausdruck seines Denkens. 2520 Nur dieses Resultat gehört der Rede an. 2521 Die Analogie zeigt uns somit erneut, wie wichtig es ist, das Sprachsystem von der Rede zu unterscheiden (cf. p. 320ss.); 2522 sie zeigt uns, daß die zweite vom ersten abhängig ist und macht uns das Spiel des sprachlichen Mechanismus greifbar, so wie es 2070ss. beschrieben ist. Jeder Schöpfung muß ein unbewußter Vergleich der sprachlichen Materialien vorangehen, die im Sprachschatz abgelegt sind und wo die am Genererierungsprozeß beteiligten Formen nach ihren syntagmatischen und assoziativen Beziehungen geordnet sind. 2523 So ereignet sich ein Großteil des Phänomens, bevor man eine neue Form erscheinen sieht. 2524 Die kontinuierliche Sprachtätigkeit, die die gegebenen Einheiten zerlegt, schließt 178 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft nicht nur alle Möglichkeiten eines dem Gebrauch entsprechenden Sprechens ein, sondern auch alle diejenigen der Analogiebildungen. 2525 Es ist deshalb ein Irrtum zu glauben, daß der Schöpfungsprozeß sich auf den Moment beschränke, in dem die Neubildung auftritt; die Elemente dafür sind bereits gegeben. 2526 Ein improvisiertes Wort wie in-décor-able existiert potentiell im Sprachsystem; man findet alle seine Elemente in Syntagmen wie décor-er, décoration : pardonn-able, mani-able : in-connu, in-sensé usw., und seine Realisierung in der Rede ist ein unbedeutendes Ereignis im Vergleich mit der Möglichkeit, es zu bilden. 2527 Fassen wir zusammen: Für sich allein genommen ist die Analogie nur ein Aspekt des Interpretationsphänomens, ein Effekt der allgemeinen Aktivität, die die sprachlichen Einheiten isoliert um sie anschließend einsetzen zu können. 2528 Aus diesem Grunde sagen wir, sie sei durch und durch grammatikalischer und synchronischer Natur. 2529 Diese Charakteristik der Analogie führt zu zwei Feststellungen, die unsere Sicht der absoluten und der relativen Arbitrarität bestätigen (cf. 2088ss.): 2530 1. Man könnte eine Klassifikation der Wörter vornehmen nach ihrer relativen Fähigkeit, andere zu bilden, entsprechend ihrer mehr oder weniger weit gehenden Analysierbarkeit. 2531 Die einfachen Wörter sind per defintionem unproduktiv (cf. magasin, arbre, racine usw.). 2532 Die Bildung von magasinier wurde nicht durch magasin ausgelöst; es wurde nach dem Modell von prisonnier : prison usw. gebildet. 2533 Entsprechend verdankt emmagasiner seine Existenz der Analogie zu emmailloter, encadrer, encapuchonner usw., die maillot, cadre, capuchon usw. enthalten. 2534 Es gibt somit in jeder Sprache produktive und sterile Wörter, aber der Anteil der einen und der andern variiert. 2535 Das läuft letzten Endes auf die 2117ss. gemachte Unterscheidung zwischen «lexikalischen» 118 und «grammatikalischen» Sprachen hinaus. 2536 Im Chinesischen sind die meisten Wörter nicht analysierbar; in einer Kunstsprache dagegen sind fast alle zerlegbar. 2537 Ein Sprecher des Esperanto hat alle Freiheiten, mit einem gegebenen Stamm neue Wörter zu produzieren. 2538 2. Wir haben 2461ss. darauf hingewiesen, daß jede analogische Bildung als eine der Berechnung der vierten Proportionalen entsprechende Operation dargestellt werden kann. Sehr oft bedient man sich dieser Formel, um das Phänomen an sich zu erklären, während wir seine Existenzgrundlage in der Analyse und Rekonstruktion von durch das Sprachsystem bereitgestellten Elementen gesehen haben. 2539 Es gibt einen Konflikt zwischen diesen beiden Sichtweisen. Wenn die vierte Proportionale eine hinreichende Erklärung darstellt, wozu dann die Hypothese einer Analyse der Elemente? 2540 Um indécorable zu bilden, scheint es keine Notwendigkeit zu geben, die einzelnen Elemente zu isolieren; es genügt, jeweils die ganze Sequenz zu nehmen und sie in die Gleichung einzusetzen: pardonner : impardonnable = décorer : x x = indécorable 2541 Bei diesem Verfahren setzt man beim Sprecher keine komplizierte Operation voraus, die allzu sehr der bewußten Analyse des Grammatikers gleicht. 2542 In einem Fall 119 wie Kranz : Kränze, der nach Gast : Gäste gebildet ist, scheint eine Analyse weniger wahrscheinlich als die vierte Proportionale, denn der Stamm des Modellwortes ist bald Gast-, bald Gäst-; man brauchte nur einen lautlichen Zug von Gäste auf Kranze 120 zu übertragen. 118 Wir ersetzen auch hier lexicologique wieder durch lexikalisch. 119 Ich folge der 2./ 3. Aufl. 120 Ich folge der 3. Aufl. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 179 2543 Welche der beiden Theorien kommt nun der Wirklichkeit näher? 2544 Halten wir vorerst einmal fest, daß der Fall von Kranz die Analyse nicht zwingend ausschließt. 2545 Wir haben Alternanzen in den Stämmen und den Präfixen festgestellt (cf. 2404ss.), und das Bewußtsein einer Alternanz kann sehr wohl neben einer positiven Analyse existieren. 2546 Diese beiden einander gegenüberstehenden Konzeptionen spiegeln sich in zwei unterschiedlichen grammatikalischen Doktrinen. 2547 Unsere europäischen Grammatiken arbeiten mit der vierten Proportionalen; sie erklären z. B. die Bildung eines deutschen Präteritums von den vollständigen Wörtern aus; man sagt dem Schüler: Bilde nach dem Modell von setzen : setzte das Präteritum von lachen, usw. 2548 Die indische Grammatik dagegen würde in einem eigenen Kapitel die Stämme (setz-, lachusw.), in einem anderen die Endungen des Päteritums (-te usw.) untersuchen; sie würde die durch die Analyse ermittelten Elemente zur Verfügung stellen und dazu auffordern, die vollständigen Wörter zu bilden. 2549 In jedem Sanskritwörterbuch finden sich die Verben an dem Platz, der ihnen nach ihrem Stamm zukommt. 2550 Entsprechend der dominanten Tendenz jeder Sprachengruppe werden die Grammatiker eine Vorliebe für die eine oder andere dieser Methoden zeigen. 2551 Das Altlatein scheint das analytische Verfahren zu bevorzugen. 2552 Hierfür ein schlagender Beweis. 2553 Die Quantität ist nicht identisch in f ă ctus und ā ctus, und dies trotz f ă ci ō und ă g ō ; man muß annehmen, daß ā ctus auf * ă gtos zurückgeht und die Vokallänge dem nachfolgenden stimmhaften Konsonanten zuschreiben; diese Hypothese wird durch die romanischen Sprachen vollumfänglich bestätigt; die Opposition sp ĕ ci ō : sp ĕ ctus gegenüber t ĕ g ō : t ē ctus spiegelt sich im Französischen in dépit (= desp ĕ ctus) und toit (t ē ctum); cf. ferner conf ĭ cio : conf ĕ ctus (französisch confit), gegenüber r ĕ go : r ē ctus (d ī r ē ctus → französisch droit). 2554 Aber *agtos, *tegtos, *regtos gehen nicht auf das Indogermanische zurück, das sicherlich * ă ktos, *t ĕ ktos usw. sagte; sie sind im Urlatein eingeführt worden, und dies trotz der Schwierigkeit, einen stimmhaften vor einem stimmlosen Konsonanten auszusprechen. 2555 Dies konnte nur geschehen vor dem Hintergrund eines ausgeprägten Bewußtseins der Stammeinheiten ag-, teg-. 2556 Das älteste Latein 121 hatte somit ein ausgeprägtes Gespür für die Bausteine des Wortes (Stämme, Suffixe usw.) und für ihre Anordnung. 2557 Es ist wahrscheinlich, daß unsere modernen Sprachen dafür weniger sensibilisiert sind, aber das Deutsche ist es mehr als das Französische (cf. 2809ss.). 2558 Kapitel 5 Analogie und Entwicklung 204 * 2559 1. - Wie eine analogische Innovation in das Sprachsystem eintritt 2560 Nichts wird in das Sprachsystem aufgenommen, das nicht vorher in der Rede ausprobiert worden ist; alle evolutiven Erscheinungen haben ihre Wurzeln im individuellen Bereich. 205 * 2561 Dieses Prinzip, das schon 1640ss. herausgestellt wurde, gilt in ganz besonderem Maße für die analogischen Neuerungen. 2562 Bevor honor ein ernsthafter Konkurrent für hon ō s werden konnte, brauchte es einen ersten Sprecher, der diese Form improvisierte, und dann andere, die sie imitierten und wiederholten, bis sie sich schließlich im Gebrauch durchsetzte. 121 Ich folge der 2./ 3. Aufl. 180 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2563 Bei weitem nicht alle analogischen Neuerungen haben diesen Erfolg. 2564 Ständig begegnet man Kombinationen ohne Zukunft, die das Sprachsystem vermutlich nicht übernehmen wird. 2565 Die Sprache der Kinder quillt davon über, denn sie kennen den Gebrauch schlecht und sind ihm noch nicht hinreichend verpflichtet; sie sagen viendre für venir, mouru für mort usw. 2566 Aber es finden sich auch welche in der Sprache der Erwachsenen. Viele Leute ersetzen trayait durch traisait (das sich übrigens auch bei Rousseau findet). 2567 Alle diese Neuerungen sind an sich vollkommen regelkonform; sie erklären sich auf die gleiche Weise wie diejenigen, die das Sprachsystem angenommen hat; so beruht viendre auf der folgenden Gleichung: éteindrai : éteindre = viendrai : x x = viendre, und traisait wurde nach dem Modell von plaire : plaisait gebildet, usw. 2568 Das Sprachsystem behält nur einen geringfügigen Teil der Neubildungen in der Rede bei; aber diejenigen, die überleben, sind doch hinreichend zahlreich, so daß von einer Epoche zur anderen die Summe der neuen Formen dem Wortschatz und der Grammatik ein ganz anderes Gepräge geben kann. 2569 Das vorhergehende Kapitel zeigt mit aller Deutlichkeit, daß die Analogie für sich allein kein Evolutionsfaktor ist; 2570 gleichwohl ist aber dieser ständige Ersatz von alten Formen durch neue einer der auffälligsten Aspekte der Sprachveränderung. Jedes Mal, wenn eine Neuschöpfung sich definitiv durchsetzt und ihren Konkurrenten verdrängt, ist etwas neu geschaffen und etwas aufgegeben worden, und in dieser Hinsicht kommt der Analogie eine herausragende Rolle in der Entwicklungstheorie zu. 2571 Auf diesen Punkt wollen wir nun näher eingehen. 2572 § 2. - Die analogischen Neuerungen als Symptome einer veränderten Interpretation 2573 Die Sprache interpretiert und zerlegt die ihr zur Verfügung stehenden Einheiten ständig. 2574 Aber wie ist es möglich, daß diese Interpretation sich von einer Generation zur nächsten ständig verändert? 2575 Man muß die Ursache dieser Veränderung in der enormen Anzahl von Faktoren suchen, die andauernd die gängige Analyse in einem Sprachzustand bedrohen. 2576 Wir rufen davon einige in Erinnerung. 2577 Der erste und wichtigste dieser Faktoren ist der Lautwandel (cf. Kapitel 2). 2578 Dadurch, daß er gewisse Analysen mehrdeutig und andere unmöglich macht, modifiziert er die Bedingungen der Aufgliederung, und damit gleichzeitig auch ihre Ergebnisse, was eine Verschiebung der Grenzen der Einheiten und eine Veränderung ihres Charakters zur Folge hat. 2579 Man erinnere sich an das, was wir oben 2221ss. zu Komposita wie beta-hûs und redolîch gesagt haben, und 2377ss. bezüglich der Nominalflexion im Indogermanischen. 2580 Aber nicht nur der Lautwandel spielt eine Rolle. 2581 Da ist auch noch die Agglutination, von der weiter unten die Rede sein wird, und die bewirkt, daß eine Kombination von Elementen zu einer Einheit wird; 2582 weiter alle möglichen außerhalb des Wortes liegenden Gegebenheiten, die aber seine Analyse beeinflussen können. Da diese de facto von einer Vielzahl von Vergleichen abhängig ist, liegt es auf der Hand, daß sie immer vom assoziativen Umfeld des zu analysierenden Terms abhängig ist. 2583 So enthielt z. B. der indogermanische Superlativ *sw ā d-is-to-s zwei von einander unabhängige Suffixe: -is-, das die komparative Idee markierte (z. B. lateinisch mag-is), und -to-, das den spezifischen Platz eines Objekts in einer 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 181 Reihe bezeichnete (cf. griechisch trí-to-s ‘ dritter ’ ). 2584 Diese beiden Suffixe wurden agglutiniert (cf. griechisch h ḗ d-isto-s, oder eher h ḗ d-ist-os). 2585 Aber diese Agglutination wurde in hohem Maße durch ein Ereignis begünstigt, das mit dem Superlativ nichts zu tun hat: Die Komparative auf -issind außer Gebrauch gekommen und durch Bildungen auf -j ō s ersetzt worden; da -isnicht mehr als selbständiges Element wahrgenommen wurde, hat man es in -istonicht mehr isoliert. 2586 Wir weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß es eine allgemeine Tendenz gibt, das Stammelement zugunsten der Formanten zu reduzieren, und dies vor allem dann, wenn das erste auf einen Vokal endet. 2587 So hat sich im Lateinischen das Suffix -t ā t- (v ē ri-t ā t-em, für v ē ro-t ā t-em, cf. griechisch deinó-t ē t-a) des i des Stammes bemächtigt, woraus die Analyse v ē rit ā t-em resultierte; ähnlich werden R ō m ā -nus, Alb ā -nus (cf. a ē nus für *aes-no-s) zu R ō mā nus usw. 2588 Gleichgültig, welches der Ursprung dieser veränderten Interpretationen ist, sie manifestieren sich immer durch das Auftreten analogischer Formen. Wenn einzig die lebendigen Einheiten, die von den Sprechern zu einem bestimmten Zeitpunkt als solche wahrgenommen werden, zu analogischen Neubildungen führen können, 2589 so beinhaltet umgekehrt auch jede spezifische Anordnung von Einheiten die Möglichkeit, deren Gebrauch auszuweiten. 2590 Die Analogie ist somit der unumstößliche Beweis dafür, daß ein formatives Element zu einem gegebenen Zeitpunkt 2591 als bedeutungstragende Einheit existiert. 2592 Mer ī di ō n ā lis (Laktanz) für mer ī di ā lis 2593 zeigt, daß man in septentriō n ā lis, regiō n ā lis gliederte, 2594 und um zu verdeutlichen, daß das Suffix -t ā tsich ein vom Stamm übernommenes Element i angegliedert hat, genügt es, auf celer-it ā tem zu verweisen; 2595 p ā gā nus, von p ā g-us abgeleitet, genügt um zu zeigen, daß die Lateiner R ō mā nus analysierten; 2596 die Analyse von redlich (2222ss.) wird bestätigt durch die Existenz von sterblich, das mit einem Verbalstamm gebildet wurde, usw. 2597 Ein besonders auffälliges Beispiel zeigt uns, wie die Analogie von einer Epoche zur andern immer wieder auf der Basis neuer Einheiten arbeitet. 2598 Im Modernfranzösischen wird somnolent in somnol-ent zerlegt, wie wenn es sich um Partizip Präsens handeln würde; der Beweis dafür ist, daß es ein Verb somnoler gibt. 2599 Aber im Latein zerlegt man in somno-lentus, analog zu succu-lentus usw., und noch früher in somn-olentus ( ‘ der nach Schlaf riecht ’ , von ol ē re, wie v ī n-olentus ‘ der nach Wein riecht ’ ). 2600 Der spürbarste und wichtigste Effekt der Analogie besteht darin, daß sie alte, unregelmäßige und hinfällige Bildungen durch normalere ersetzt, die aus lebendigen Elementen bestehen. 2601 Natürlich laufen die Dinge nicht immer so einfach ab. 2602 Das Wirken der Sprache wird durchkreuzt von endlosen Zögerlichkeiten, von Approximationen und nur halb gelungenen Analysen. 2503 Zu keinem Zeitpunkt besitzt ein Idiom ein vollkommen festgefügtes System von Einheiten. 2604 Man denke nur an das, was 2378ss. über die Flexion von *ekwos im Vergleich mit derjenigen von *pods gesagt wurde. 2605 Diese mangelhaften Analysen geben manchmal Anlaß zu korrupten Neubildungen. 2606 Die indogermanischen Formen *geus-etai, *gus-tos, *gus-tis erlauben es, einen Stamm *geus-, gus- ‘ schmecken ’ zu isolieren; aber im Griechischen fällt intervokalisches s, und die Analyse von geúomai, geustós wird dadurch gestört; daraus ergibt sich eine unbeständige Situation, und man isoliert bald geus-, bald geu-; die Analogie legt ihrerseits Zeugnis ab von diesem Schwanken, und man sieht selbst Wurzeln auf eudieses finale s übernehmen (z. B. pneu-, pneûma, Verbaladjektiv pneus-tós). 2607 Aber selbst bei diesen tastenden Versuchen übt die Analogie einen Einfluß auf das Sprachsystem aus. 2608 Obwohl sie selbst kein evolutives Phänomen ist, spiegelt sie immer wieder die Veränderungen, die sich in der Ökonomie der Sprache ereignet haben und sanktioniert sie durch neue Kombinationen. 2609 Sie ist die effiziente Mitarbeiterin aller Kräfte, 182 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft die unermüdlich die Struktur eines Idioms verändern, und in dieser Hinsicht ist sie ein mächtiger Evolutionsfaktor. 206 * 2610 § 3. - Die Analogie als Erneuerungs- und Konservierungsprinzip 2611 Man ist manchmal versucht sich zu fragen, ob die Analogie wirklich die Bedeutung hat, die ihr die vorhergehenden Ausführungen zuweisen, und ob ihr Einfluß ebenso weit reicht wie derjenige der phonetischen Veränderungen. 2612 Tatsächlich erlaubt es die Geschichte jeder Sprache, die Anhäufung einer Fülle von analogischen Fakten zu entdecken, 2613 und in ihrer Gesamtheit spielen diese ständigen Umgestaltungen eine beachtliche Rolle in der Entwicklung des Sprachsystems, beachtlicher sogar als diejenige der Lautveränderungen. 2614 Aber eines interessiert den Linguisten in ganz besonderem Maße: In der enormen Menge von analogischen Ereignissen, die uns einige Jahrhunderte von Sprachentwicklung liefern, bleiben fast alle Elemente erhalten; sie werden nur anders verteilt. 2615 Die auf die Analogie zurückzuführenden Neuerungen sind eher scheinbarer als wirklicher Natur. 2616 Die Sprache ist ein mit Flicken übersätes Kleid, die dem eigenen Stoff entnommen sind. 2617 Vier Fünftel des Französischen sind indogermanisch, wenn man an die Substanz denkt, aus der unsere Sätze bestehen, während die Wörter, die als Ganzes, d. h. ohne analogische Veränderung von der Ausganssprache bis zum Modernfranzösischen erhalten geblieben sind, auf einer einzigen Seite Platz finden würden (z. B.: est = *esti, die Namen der Zahlen, gewisse Vokabeln wie ours, nez, père, chien usw.). 2618 Die überwältigende Mehrheit der Wörter sind - auf die eine oder andere Weise - neue Kombinationen mit lautlichen Elementen, die älteren Formen entnommen sind. 2619 In diesem Sinne kann man sagen, daß die Analogie - gerade weil sie immer älteres Material für ihre Neuerungen benutzt - in höchstem Maße konservierend wirkt. 2620 Aber ihre Wirkung als konservierende Kraft schlechthin ist nicht weniger bedeutend; man kann sagen, daß sie nicht nur dann eine Rolle spielt, wenn bereits existierendes Material in neue Einheiten eingebracht wird, sondern auch, wenn die Formen mit sich selbst identisch [d. h. unverändert] bleiben. 2621 In beiden Fällen handelt es sich um den gleichen psychologischen Prozeß. 2622 Um dies zu erkennen, genügt es, sich in Erinnerung zu rufen, daß sein Prinzip im Grunde genommen identisch ist mit dem Mechanismus der Sprache (cf. 2521ss.). 207 * 2623 Lateinisch agunt ist seit der protolateinischen Epoche (in der man *agonti sagte) bis in die romanische Zeit praktisch unverändert überliefert worden. 2624 Während dieser Zeitspanne haben es die aufeinander folgenden Generationen immer wieder übernommen, ohne daß eine Konkurrenzform es verdrängt hätte. 2625 Spielt die Analogie bei dieser Bewahrung keine Rolle? Ganz im Gegenteil, die Stabilität von agunt ist ebenso ihr Werk wie irgendeine Innovation. 2626 Agunt ist in einem System aufgehoben; es ist solidarisch mit Formen wie d ī cunt, legunt usw., aber auch mit andern wie agimus, agitis usw. 2627 Ohne dieses Umfeld hätte es leicht durch eine aus neuen Elementen gebildete Form ersetzt werden können. 2628 Was überliefert worden ist, ist nicht agunt, sondern ag-unt; die Form verändert sich nicht, weil ag- und -unt regelmäßig in anderen Reihen verifiziert werden konnten, und es ist diese Reihung von assoziierten Formen, die agunt auf seinem Weg abgeschirmt hat. 2629 Man vergleiche auch noch sex-tus, das sich ebenfalls auf festgefügte Reihen stützen kann: einerseits sex, sexā ginta usw., andererseits quar-tus, quin-tus usw. 2630 Die Formen bleiben also erhalten, weil sie ständig analogisch wieder hergestellt werden; ein Wort wird gleichzeitig als Einheit und als Syntagma wahrgenommen, und es bleibt erhalten soweit seine Elemente sich nicht verändern. 2631 Umgekehrt ist seine Existenz 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 183 dann in Frage gestellt, wenn seine Elemente außer Gebrauch kommen. 2632 Typisch hierfür ist, was im Französischen mit dites und faites passiert, die direkt auf lateinisch dic-itis, fac-itis zurückgehen, aber keine Stütze in der gegenwärtigen Verbalflexion mehr finden. Die Sprache versucht sie zu ersetzen; man hört heute disez, faisez, die nach dem Modell von plaisez, lisez usw. gebildet sind, 2633 und diese neuen Formen sind in den meisten Komposita (contredisez usw.) bereits geläufig. 2634 Die einzigen Formen, die sich dem Zugriff der Analogie entziehen, sind natürlich die isolierten Wörter, wie z. B. die Eigennamen, und unter diesen insbesondere die Ortsnamen (cf. Paris, Genève, Agen usw.), die keine Analyse zulassen und demzufolge auch keine Interpretation ihrer Bausteine; neben ihnen taucht keine Konkurrenzschöpfung auf. 2635 Somit kann die Erhaltung einer Form von zwei gegensätzlichen Faktoren abhängen: von der vollständigen Isolierung oder der Einbettung in ein System, das in seinen wesentlichen Teilen intakt bleibt und sie ständig stützt. 2636 Die innovative Analogie entfaltet ihre Wirkung in einem mittleren Bereich von Formen, die durch ihr Umfeld nicht hinreichend abgesichert sind. 2637 Aber ganz gleichgültig, ob es sich um die Erhaltung einer aus mehreren Elementen bestehenden Form handelt oder um die Umverteilung des sprachlichen Materials in neuen Konstruktionen, die Rolle der Analogie ist immer gewaltig; sie ist es, die immer im Spiel ist. 2638 Kapitel 6 Die Volksetymologie 208 * 2639 Es kommt vor, daß wir Wörter verstümmeln, deren Form und Bedeutung uns nicht geläufig ist, und machmal sanktioniert der Gebrauch diese Entstellungen. 2640 So ist das altfranzösische coute-pointe (von coute, Variante von couette ‘ Decke, Bedeckung ’ und pointe, Partizip Perfekt von poindre ‘ stechen ’ ) zu courte-pointe geworden, als ob es sich um ein Kompositum aus dem Adjektiv court und dem Substantiv pointe handele. 2641 Diese Neubildungen, wie abartig sie immer auch sein mögen, entstehen nicht rein zufällig; sie stellen Versuche dar, ein schwieriges Wort annähernd zu erklären, indem man es zu etwas Bekanntem in Beziehung setzt. 2642 Man hat diese Erscheinung Volksetymologie genannt. 2643 Auf den ersten Blick unterscheidet sie sich kaum von der Analogie. 2644 Wenn ein Sprecher vergißt, daß es ein Wort surdité gibt und analogisch sourdité bildet, so ist das Resultat das gleiche wie wenn er surdité schlecht verstanden und unter Rückgriff auf das Adjektiv sourd verformt hätte. Der einzige Unterschied wäre, daß die analogischen Konstruktionen rationaler Natur sind, während die Volksetymologie nach dem Zufallsprinzip verfährt und nur zu Verballhornungen führt. 2645 Dieser Unterschied, der nur die Ergebnisse betrifft, ist jedoch unwesentlich. 2646 Der Wesensunterschied liegt tiefer; um zu verdeutlichen, worin er besteht, beginnen wir mit einigen Beispielen der wichtigsten Typen von Volksetymologie. 2647 Da sind zuerst einmal die Fälle, wo ein Wort neu interpretiert wird, ohne daß seine Form sich verändert. 2648 Im Deutschen geht durchbläuen ‘ verhauen ’ etymologisch auf bliuwan ‘ auspeitschen ’ zurück; aber man setzt es zu blau in Beziehung wegen der blauen Flecken, die auf die Schläge zurückgehen. 2649 Im Mittelalter hat das Deutsche aus dem Französischen aventure entlehnt, das regelkonform zu ā bentüre, dann zu Abenteuer wurde; ohne daß die Wortform verändert worden wäre, hat man es mit Abend assoziiert ( ‘ was man am Abend erzählt ’ ), so daß man im 18. Jahrhundert Abendteuer schrieb. 2650 Das altfranzösische soufraite 184 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft ‘ Mangel, Entbehrung ’ (= suffracta von subfrangere) liegt dem Adjektiv souffreteux zugrunde, das man heute mit souffrir verbindet, mit dem es aber nichts zu tun hat. 2651 Lais ist das Verbalabstraktum von laisser; aber gegenwärtig sieht man darin dasjenige von léguer und schreibt deshalb legs; es gibt sogar Leute, die es le-g-s aussprechen; dies könnte zu der Annahme verleiten, daß bereits eine Veränderung der Form aufgrund der neuen Interpretation vorliegt; aber es handelt sich um einen Effekt der Schreibweise, durch die man ohne Veränderung der Aussprache die angebliche Herkunft des Wortes verdeutlichen wollte. 2652 Auf gleiche Weise hat homard, das aus altnordisch humarr (cf. dänisch hummer) entlehnt wurde, ein finales d in Anlehnung an die französischen Wörter auf -ard erhalten; aber hier betrifft die durch die Orthographie aufgedeckte Fehlinterpretation das Wortende, das mit einem im Französischen gängigen Suffix verwechselt worden ist (cf. bavard usw.). 2653 Aber meistens deformiert man das Wort um es den Elementen anzupassen, die man darin zu erkennen glaubt; 2654 das ist der Fall bei choucroute (von Sauerkraut); 2655 im Deutschen ist dromed ā rius zu Trampeltier ‘ Tier, das trampelt ’ geworden; das Kompositum ist neu, aber es besteht aus Wörtern, die bereits existierten, nämlich trampeln und Tier. 2656 Das Althochdeutsche hat aus dem lateinischen margarita ein mari-greoz ‘ Meereskiesel ’ gemacht, indem es zwei schon bekannte Wörter kombiniert hat. 2657 Hier noch ein besonders instruktives Beispiel: Das lateinische carbunculus ‘ kleines Kohlestück ’ ist im Deuschen Karfunkel geworden (aufgrund einer Assoziation mit funkeln), und im Französischen escarboucle, das an boucle ‘ Spange, Schnalle ’ angegliedert wurde. 2658 Calfeter, calfetrer ist calfeutrer geworden unter dem Einfluß von feutre ‘ Filz ’ . 2659 Was auf den ersten Blick bei diesen Beispielen überrascht, ist, daß jedes neben einem verständlichen und auch anderweitig vorkommenden Element einen Teil einschließt, der nichts Bekanntes darstellt (Kar-, escar-, cal-). 2660 Aber es wäre falsch zu glauben, es läge in diesen Elementen etwas Schöpferisches vor, etwas aus Anlaß der Umgestaltung Geschaffenes; 2461 das Gegenteil trifft vielmehr zu: Es handelt sich um Fragmente, die sich der Interpretation entzogen haben; wir haben es, wenn man so will, mit Volksetymologien zu tun, die auf halbem Wege stehen geblieben sind. 2662 Karfunkel steht auf der gleichen Stufe wie Abenteuer (wenn man zugesteht, daß -teuer ein unerklärter Rest geblieben ist); es ist auch mit homard vergleichbar, wo homnichts weiter bedeutet. 2663 Der verschiedene Grad der Umgestaltung schafft somit keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Wörtern, die der Volksetymologie unterworfen waren; sie sind alle dadurch charakterisiert, daß sie einfach Interpretationen von unverstandenen Wörtern mithilfe von bekannten Formen sind. 2664 Dies macht deutlich, worin die Volksetymologie 122 der Analogie gleicht und worin sie sich von ihr unterscheidet. 2665 Die beiden Phänomene haben nur eines gemeinsam: Sowohl im einen wie im andern Fall benutzt man bedeutungstragende Elemente, die im Sprachsystem zur Verfügung stehen, aber hinsichtlich alles Weiteren stehen sie sich diametral gegenüber. 2666 Die Analogie setzt immer ein Vergessen der früheren Form voraus; der analogischen Form il traisait liegt keine Analyse der älteren Form il trayait zugrunde (cf. 2566ss.); das Vergessen dieser Form ist vielmehr die notwendige Bedingung für das Auftreten ihrer Rivalin. 2667 Die Analogie schöpft nichts aus der Substanz der Formen, die sie ersetzt. 2668 Die Volksetymologie dagegen ist nichts weiter als eine Interpretation der alten Form; die (unter Umständen recht vage) Erinnerung an diese ist der Ausgangspunkt für ihre Umgestaltung. 2669 Somit ist es im einen Fall die 122 Eigenartigerweise hat der CLG (alle 3 Auflagen) nur étymologie; unser Eingriff ist jedoch durch die einzige Quelle (I R 3.8) gerechtfertigt, die étymologie populaire zeigt. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 185 Erinnerung, im anderen das Vergessen, das der Analyse 123 zugrunde liegt, und dieser Unterschied ist von entscheidender Bedeutung. 2670 Die Volksetymologie ist eine pathologische Erscheinung; sie wird nur unter besonderen Bedingungen wirksam 2671 und betrifft nur seltene, technische oder fremde Wörter, die die Sprecher sich nur unzureichend angeeignet haben. 2672 Die Analogie dagegen ist eine ganz allgemeine Erscheinung, die zum normalen Funktionieren der Sprache gehört. 2673 Die beiden Erscheinungen, so sehr sie sich in gewisser Hinsicht gleichen, stehen von ihrem Wesen her in Opposition zu einander; sie müssen sorgfältig von einander unterschieden werden. 2674 Kapitel 7 Die Agglutination 209 * 2675 § 1. - Definition 2676 Neben der Analogie, deren Bedeutung wir soeben unterstrichen haben, spielt ein anderer Faktor eine Rolle bei der Entstehung neuer Einheiten: die Agglutination. 210 * 2677 Keine andere Bildungsweise kommt ernsthaft in Betracht: Der Fall der Onomatopöien (cf. 1147ss.) und derjenige der vollständigen Neubildung durch ein Individuum ohne Rückgriff auf die Analogie (z. B. gaz), ja selbst die Volksetymologie sind weitgehend oder ganz ohne Bedeutung. 2678 Die Agglutination besteht darin, daß zwei oder mehrere ursprünglich freie Elemente, die aber im Rahmen des Satzes häufig ein Syntagma bildeten, zu einer unanalysierbaren oder zumindest schwer analysierbaren Einheit verschmelzen. 2679 Dies ist der Agglutinationsprozeß. Ich sage Prozeß, und nicht Verfahren, denn letzteres impliziert einen Willen, eine Absicht, und das Fehlen eines Willens ist gerade ein wesentlicher Charakterzug der Agglutination. 2680 Hier einige Beispiele. Im Französischen sagte man ursprünglich ce ci in zwei Wörtern, und später dann ceci: ein neues Wort, obwohl sein Material und seine konstitutiven Elemente nicht verändert wurden. Man vergleiche noch: französisch tous jours → toujours, au jour d ’ hui → aujourd ’ hui, dès ja → déjà, vert jus → verjus. 2681 Die Agglutination kann auch Untereinheiten eines Wortes miteinander verschmelzen, wie wir dies 2583ss. beim indogermanischen Superlativ *sw ā d-is-to-s und beim griechischen Superlativ h ḗ d-isto-s gesehen haben. 2682 Bei genauerem Hinsehen kann man drei Phasen des Agglutinationsphänomens unterscheiden: 2683 1. Die Kombination von mehreren Termen zu einem Syntagma, das mit allen anderen vergleichbar ist; 2684 2. die eigentliche Agglutination, d. h. die Synthese der Elemente des Syntagmas zu einer neuen Einheit. Diese Synthese ereignet sich von selbst aufgrund einer mechanischen Tendenz: Wenn ein gegliedertes Konzept durch eine sehr gebräuchliche Folge von bedeutungstragenden Einheiten zum Ausdruck gebracht wird, nimmt der Geist gewissermaßen die Abkürzung, verzichtet auf die Analyse und weist das Konzept als Ganzes der Zeichengruppe zu, die dadurch zu einer einfachen Einheit wird; 123 Es fragt sich, ob analyse/ Analyse hier der angemessene Ausdruck ist; passender wäre wohl neue Form. Aber Analyse ist durch die Quelle (I R 3.9) gedeckt; wir behalten deshalb Analyse in der Übersetzung bei. 186 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2685 3. alle weiteren Veränderung, die geeignet sind, die alte Wortgruppe immer mehr zu einem einfachen Wort zu verschmelzen: Vereinheitlichung des Akzents (vért-jús → verjús), besondere phonetische Veränderungen, usw. 2686 Man hat oft behauptet, daß die Veränderungen im Laut- und Akzentbereich (3) denjenigen im konzeptuellen Bereich (2) vorausgingen, und daß man deshalb die semantische Synthese durch die Agglutination und die materielle Synthese erklären müsse. Wahrscheinlich ist dem nicht so; vielmehr hat man in vert jus, tous jours eine einzige Idee gesehen und deshalb daraus einfache Wörter gemacht, und es wäre ein Fehler, die Reihenfolge umzukehren. 2687 § 2. - Agglutination und Analogie 211 * 2688 Der Kontrast zwischen Analogie und Agglutination ist augenfällig: 2689 1. Bei der Agglutination verschmelzen zwei oder mehr Einheiten durch Synthese zu einer einzigen (z. B. encore aus hanc horam), oder aber zwei Untereinheiten bilden nur noch eine einzige (cf. h ḗ d-isto-s aus *sw ā d-is-to-s, cf. 2583 s.). 2690 Die Analogie dagegen geht von niedrigerrangigen Einheiten aus, um daraus eine höherrangige zu schaffen. 2691 Um p ā gā nus zu schaffen, hat sie einen Stamm p ā gmit einem Suffix ā nus verbunden. 2692 2. Die Agglutination operiert ausschließlich im syntagmatischen Bereich; ihre Wirkung betrifft eine gegebene Gruppe; sie berücksichtigt nichts anderes. 2693 Die Analogie dagegen bedient sich sowohl der assoziativen Reihen als auch der Syntagmen. 2694 3. Die Agglutination enthält vor allem kein willentliches, kein aktives Element; wir haben es bereits gesagt: Es handelt sich um einen mechanischen Prozeß, um eine Vereinigung, die sich von selbst vollzieht. 2695 Die Analogie dagegen ist ein Verfahren, das Analysen und Kombinationen voraussetzt, eine intelligente Aktivität, eine Absicht. 2696 Man benutzt oft die Termini Konstruktion und Struktur hinsichtlich der Wortbildung; aber diese Ausdrücke haben nicht die gleiche Bedeutung, wenn sie in bezug auf die Agglutination oder die Analogie verwendet werden. 2697 Im ersten Fall evozieren sie die langsame Verfestigung von Elementen, die im Rahmen eines Syntagmas miteinander in Kontakt stehen und die einer Synthese unterworfen sind, die bis zur vollständigen Auflösung ihrer ursprünglichen Einheiten gehen kann. 2698 Im Fall der Analogie dagegen bedeutet Konstruktion eine Verbindung, die in einem Sprechakt auf einen Schlag realisiert wurde, und die auf der Zusammenfügung einer bestimmten Zahl von unterschiedlichen Assoziationsreihen angehörenden Elementen beruht. 2699 Man sieht, wie wichtig es ist, die beiden Bildungsarten zu unterscheiden. 2700 So ist im Lateinischen possum nichts anderes als die Verschmelzung der beiden Wörter potis sum ‘ ich bin der Herr ’ : es handelt sich um eine Agglutination. 2701 Bei signifer, agricola usw. dagegen haben wir es mit Analogiebildungen zu tun, um Konstruktionen, die auf durch das Sprachsystem zur Verfügung gestellten Modellen beruhen. Die Ausdrücke Kompositum und Ableitung sollten den Analogiebildungen vorbehalten bleiben ( 124 ). ( 124 ) 2702 Dies läuft darauf hinaus zu sagen, daß die beiden Erscheinungen in der Geschichte der Sprache gemeinsam wirken; aber die Agglutination geht immer voraus, und sie ist es, die der Analogie ihre Modelle liefert. 2703 So ist der Kompositionstyp, der zu griechisch hippó-dromo-s usw. geführt hat, aufgrund einer teilweisen Agglutination entstanden zu einer Epoche des Indogermanischen, wo dieses noch keine Endungen kannte (ekwo dromo entsprach damals einem englischen Kompositum vom Typus country house); aber es ist die Analogie, die daraus ein produktives Muster gemacht hat vor der vollständigen Verschmelzung der Elemente. 2704 Entsprechendes gilt für das franzsösiche Futurum (je ferai usw.), das im Vulgärlatein aus der Agglutination des Infinitivs mit dem Präsens 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 187 2706 Es ist oft schwierig zu sagen, ob eine analysierbare Forme aufgrund einer Agglutination entstanden ist, oder ob sie auf einer analogischen Konstruktion beruht. 2707 Die Linguisten haben endlos über die Formen *es-mi, *es-ti, *ed-mi usw. des Indogermanischen diskutiert. Waren die Elemente es-, edusw. in einer weit zurückliegenden Epoche eigentliche Wörter, die später mit anderen agglutiniert wurden: mi, ti usw.? Oder beruhen *es-mi, *es-ti usw. auf der Kombination von Elementen, die in anderen komplexen Einheiten ähnlicher Art isoliert wurden, was die Agglutination in eine Epoche zurückverschieben würde, die der Bildung der Endungen im Indogermanischen vorangeht? 2708 In Ermangelung historischer Zeugnisse ist die Frage wohl unlösbar. 2709 Nur die Geschichte kann Auskunft geben. 2710 Immer, wenn sie uns den Beweis liefert, daß eine einfache Form ursprünglich zwei oder mehr Elemente des Satzes ausmachte, haben wir es mit einer Agglutination zu tun: so lateinisch hunc, das auf hom ce zurückgeht (ce ist inschriftlich bezeugt). 2711 Aber sobald uns die historischen Zeugnisse fehlen, ist es schwierig zu bestimmen, was der Agglutination und was der Analogie zuzuschreiben ist. 2712 Kapitel 8 Einheiten, Identitäten 212 * und Realitäten in der Diachronie 2713 Die statische Linguistik arbeitet mit Einheiten, die im Rahmen der synchronischen Verkettung existieren. 2714 Alles, was bisher gesagt wurde, beweist, daß wir es bei einer diachronischen Abfolge nicht mit Einheiten zu tun haben, die ein für allemal abgegrenzt sind, wie man es graphisch folgendermaßen darstellen könnte: | | | | Epoche A | | | | Epoche B 2715 Vielmehr verteilen sie sich von einem Zeitpunkt zum andern unterschiedlich, und dies in Abhängigkeit von den Ereignissen, die sich in der Sprache abspielen, sodaß sie eher dem folgenden Schema entsprechen: | | | | | Epoche A | | | | | Epoche B 2716 Dies ergibt sich aus all dem, was wir zu den Folgen des Lautwandels, der Analogie, der Agglutination usw. gesagt haben. des Verbs hab ē re (facere habe ō = ‘ ich habe zu tun ’ ) entstanden ist. 2705 Es ist somit nur durch das Wirken der Analogie, daß die Agglutination syntaktische Typen schafft und für die Grammatik arbeitet; sich selbst überlassen, treibt sie die Synthese der Elemente bis zur vollständigen Fusion voran und produziert nichts weiter als unanalysierbare und unproduktive Wörter (Typus hanc h ō ram → encore), d. h. sie arbeitet für das Lexikon. (Ed.) - Ich übernehme in 2703 und 2705 die Veränderungen der 2. bzw. 3. Aufl. 188 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2717 Fast alle bisher zitierten Beispiel gehören zum Bereich der Wortbildung; hier ein weiteres, das der Syntax zuzuordnen ist. 2718 Das Indogermanische kannte keine Präpositionen; die Bezüge, die sie markieren, wurden durch zahlreiche Kasus mit hohem semantischem Gehalt zum Ausdruck gebracht. 2719 Es gab auch keine verbalen Komposita, die mit Verbalpräfixen gebildet wurden, sondern nur Partikeln, kleine Wörter, die dem Satz beigefügt wurden um die durch das Verb zum Ausdruck gebrachte Handlung zu präzisieren und zu nuancieren. 2720 Es gab deshalb nichts, das dem lateinschen ī re ob mortem ‘ dem Tod entgegengehen ’ , noch ob ī re mortem entsprochen hätte; man hätte vielmehr gesagt: ī re mortem ob. 2721 Dies ist auch noch der Zustand des ältesten Griechisch: 1. óreos baín ō káta; óreos baín ō bedeutet für sich allein ‘ ich komme vom Berg ’ , da der Genitiv den Wert eines Ablatifs hat; káta fügt dem die Nuance ‘ heruntersteigend ’ hinzu. 2722 Zu einem späteren Zeitpunkt hatte man dann 2. katà óreos baín ō , wo katà die Rolle einer Präposition spielt, und schließlich 3. katabaín ō óreos durch Agglutination des Verbs und der Partikel, die zum Präfix geworden war. 2723 Es liegen hier zwei oder drei unterschiedliche Phänomene vor, die indes alle auf der Interpretation der Einheiten beruhen. 1. Die Schaffung einer neuen Wortart, der Präpositionen, und dies einfach durch Verschiebung der überlieferten Einheiten. 2725 Eine besondere Abfolge, die anfänglich wohl funktionslos und vielleicht zufällig war, hat eine Restrukturierung möglich gemacht: kata, das anfänglich unabhängig war, verbindet sich mit dem Substantiv óreos, und dieser Komplex tritt zu baín ō hinzu, um ihm als Ergänzung zu dienen. 2726 2. Das Auftreten eines neuen Typs von Verben (katabaín ō ); hier liegt eine andere psychologische Sturktur vor, die durch eine besondere Anordnung der Einheiten begünstigt und dann durch die Agglutination konsolidiert wurde. 2727 3. Als natürliche Konsequenz: die Abschwächung der Bedeutung der Genitivendung (óre-os); der Inhalt, der ursprünglich dem Genitiv zukam, wird nun von katà zum Ausdruck gebracht; entsprechend schwindet die Bedeutung der Endung -os. Ihr zukünftiger Verlust ist in der Erscheinung im Keim angelegt. 2728 In allen drei Fällen haben wir es somit 2729 mit einer Umgliederung der Einheiten zu tun. Es handelt sich um das gleiche Material mit anderen Funktionen; 2730 denn - und dies ist zu beachten - kein Lautwandel hat bei der einen oder andern dieser Verschiebungen eine Rolle gespielt. 2731 Andererseits sollte man nicht glauben, daß sich alles auf der Inhaltsseite abspielt, nur weil das Material sich nicht verändert hat: Es gibt keine syntaktische Erscheinung ohne die Verbindung einer gewissen Begriffskette mit einer gewissen Lautkette (cf. 2192ss.), 2732 und es ist genau diese Relation die verändert worden ist. Die Laute bleiben erhalten, aber die inhaltlichen Einheiten sind nicht mehr die gleichen. 2733 Wir haben 1248ss. gesagt, daß die Veränderung des Zeichens in der Modifikation der Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat besteht. Diese Definition gilt nicht nur für die Veränderung der Einheiten des Sprachsystems, sondern auch für die Entwicklung des Systems selbst; die Diachronie als Ganzes ist nichts anderes. 2734 Aber wenn man eine gewisse Verschiebung der synchronischen Einheiten festgestellt hat, ist man noch weit davon entfernt, dessen Rechnung getragen zu haben, was sich im Sprachsystem ereignet hat. 2735 Da ist auch noch das Problem der diachronischen Einheit an sich. Es besteht darin, sich bezüglich jedes Ereignisses zu fragen, welches denn die Einheit ist, die direkt von der Veränderung betroffen ist. 2736 Wir sind einem ähnlichen Problem schon im Zusammenhang mit den Lautveränderungen begegnet (cf. 1571); sie betreffen jeweils nur das isolierte Phonem, während das Wort als Einheit außen vor bleibt. 2737 Da es alle möglichen Arten von diachronischen Erscheinungen gibt, muß auch eine Fülle von entsprechenden Problemen gelöst werden, 2738 und die Einheiten, die man im diachronischen Bereich isoliert, brauchen nicht zwingend denjenigen im synchronischen Bereich zu entsprechen. Gemäß dem im ersten Teil erarbeiteten Prinzip ist der Einheitsbegriff in den beiden Domänen nicht der gleiche. 2739 Auf jeden Fall läßt sich das Problem nicht vollständig klären, ohne daß man es 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 189 unter beiden Gesichtspunkten, dem statischen und dem evolutiven, untersucht hat. 2740 Einzig die Lösung des Problems der diachronischen Einheit wird es uns erlauben, den äußeren Schein der Entwicklungserscheinung hinter uns zu lassen und zu ihrem eigentlichen Wesen vorzustoßen. 2741 Sowohl hier wie in der Synchronie ist die Kenntnis der Einheiten unverzichtbar um unterscheiden zu können, was Illusion und was Realtiät ist (cf. 1800ss.). 2742 Eine andere, besonders heikle Frage ist diejenige nach der diachronischen Identität. 213 * 2743 Um sagen zu können, ob eine Einheit mit sich selbst identisch weiterbestanden hat, oder ob sie unter Fortbestand als selbständige Einheit ihre Form oder ihre Bedeutung verändert hat - denn alle diese Fälle sind möglich - , muß ich wissen, worauf ich mich stütze um zu behaupten, daß eine Einheit einer bestimmten Epoche, z. B. das französische Wort chaud, die gleiche sei wie diejenige einer anderen Epoche, z. B. lateinisch calidum. 2744 Auf diese Frage kann man sicherlich antworten, calidum habe unter Einwirkung der Lautgesetze regelkonform zu chaud werden müssen, und deshalb gelte chaud = calidum. 2745 Das nennt man eine phonetische Identität. 2746 Gleiches gilt für sevrer und s ē par ā re; andererseits wird man sagen, fleurir sei nicht dasselbe wie fl ō r ē re (das zu *flouroir hätte werden müssen), usw. 2747 Diese Art von Entsprechungen scheint auf den ersten Blick den Begriff der diachronischen Identität abzudecken. In Wirklichkeit aber ist es unmöglich, daß die Lautung allein über die Identität entscheidet. 2748 Man ist zwar berechtigt zu sagen, lateinisch mare müsse im Französischen unter der Form mer erscheinen, weil jedes a unter bestimmten Bedingungen zu e geworden ist, weil unbetontes auslautendes e fällt, usw.; aber zu behaupten, es seien die Relationen a → e, e → Null, die die Identität ausmachten, heißt das Pferd am Schwanz aufzäumen, denn es ist ja gerade aufgrund der Entsprechung mare : mer, daß ich feststelle, daß a zu e geworden ist, daß auslautendes e gefallen ist, usw. 2749 Wenn zwei Sprecher aus verschiedenen Regionen Frankreichs der eine se fâcher, der andere se fôcher sagen, so ist der Unterschied geringfügig im Vergleich mit den grammatikalischen Fakten, die es gestatten, in diesen beiden unterschiedlichen Formen ein und dieselbe Einheit des Sprachsystems zu erkennen. 2750 Nun bedeutet die diachronische Identität von zwei so unterschiedlichen Formen wie calidum und chaud nichts anderes, als daß man von der einen zur andern über eine lange Reihe von synchronischen Identitäten in der Rede gelangt ist, ohne daß je das sie verbindende Band durch aufeinanderfolgende Lautveränderungen durchschnitten worden wäre. 2751 Dies ist der Grund, warum wir 1758ss. sagen konnten, es sei ebenso interessant zu wissen, warum ein mehrmals in der Rede wiederholtes Messieurs! mit sich selbst identisch sei, wie zu erfahren, warum pas (Negation) mit pas (Substantiv) identisch ist, oder - was auf das Gleiche hinausläuft - chaud identisch ist mit calidum. 2752 Das zweite Problem ist letztlich nur eine Fortschreibung und Verkomplizierung des ersten. 2753 Anhänge zum zweiten und dritten Teil 214 * 2754 A. Subjektive und objektive Analyse 2755 Die Analyse der sprachlichen Einheiten, die ständig durch die Sprecher geleistet wird, kann man subjektive Analyse nennen; man muß sich davor hüten, sie mit der objektiven Analyse zu verwechseln, die historisch fundiert ist. 2756 In einer Form wie griechisch híppos unterscheidet der Grammatiker drei Elemente: eine Wurzel, ein Suffix und eine Endung (hípp-o-s); 190 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft das Griechische nahm nur zwei wahr (hípp-os, cf. 2383). 2757 Die objektive Analyse sieht vier Untereinheiten in am ā b ā s (amā -b ā -s); die Römer zerlegten in am ā -b ā -s; es ist sogar wahrscheinlich, daß si -b ā s als Ganzes als ein dem Stamm gegenüber stehendes Flexionselement betrachteten. 2758 In den französischen Wörtern entier (lateinisch in-teger ‘ intakt ’ ), enfant (lateinisch in-fans ‘ der nicht spricht ’ ), enceinte (lateinisch in-cincta ‘ ohne Gürtel ’ 215 *) isoliert der Sprachhistoriker ein Präfix en-, das mit dem privativen indes Lateinischen identisch ist; die subjektive Analyse der Sprecher kennt es überhaupt nicht. 2759 Der Grammatiker läuft oft Gefahr, die spontanen Sprachanalysen als Fehler anzusehen; in Wirklichkeit ist die subjektive Analyse nicht fehlerhafter als die «falsche» Analogie (cf. 2481ss.). Die Sprache täuscht sich nicht; ihr Gesichtspunkt ist schlicht und einfach ein anderer. 2760 Es gibt keinen gemeinsamen Maßstab für die Analyse der Sprecher und diejenige des Sprachhistorikers, obwohl alle beide das gleiche Verfahren benutzen: den Vergleich von Reihen, die ein identisches Element enthalten. 2761 Sie lassen sich beide rechtfertigen, und jede hat ihren Eigenwert; aber letzten Endes zählt nur diejenige der Sprecher, denn sie gründet direkt auf den sprachlichen Fakten. 2762 Die historische Analyse ist nur eine [von der Sprecheranalyse] abgeleitete Form. 2763 Sie besteht im Grunde darin, daß man die Konstruktionen verschiedener Epochen auf eine einzige Ebene projiziert. 2764 Wie die spontane Zerlegung ist sie darauf angelegt, die Untereinheiten zu bestimmen, die in einem Wort enthalten sind, aber sie macht eine Synthese aller Gliederungen, die im Laufe der Zeit gemacht wurden mit dem Ziel, die älteste zu ermitteln. 2765 Das Wort gleicht einem Haus, dessen innere Einteilung und Zweckbestimmung mehrmals verändert wurden. 2766 Die objektive Analyse summiert diese aufeinanderfolgenden Gliederungen auf und legt sie übereinander; aber für diejenigen, die das Haus bewohnen, gibt es immer nur eine einzige. 2767 Die Analyse hípp-o-s, die wir weiter oben untersucht haben, ist nicht falsch, denn es ist das Sprecherbewußtsein, das sie geleistet hat; 2768 sie ist einfach ein «Anachronismus», sie bezieht sich auf eine andere Epoche als diejenige, zu der das Wort untersucht wird. 2769 Dieses hípp-o-s steht nicht im Widerspruch zu dem hípp-os des klassischen Griechisch, aber man darf es nicht auf die gleiche Weise beurteilen. 2770 Das läuft darauf hinaus, einmal mehr die strenge Trennung von Diachronie und Synchronie herauszustellen. 2771 Und dies erlaubt es überdies, eine immer noch hängige Methodenfrage in der Linguistik zu lösen. 2772 Die alte Schule gliederte die Wörter in Wurzeln, Themen, Suffixe usw. und wies diesen Unterscheidungen einen absoluten Wert zu. 2773 Wenn man Bopp und seine Schüler liest, hat man den Eindruck, daß die Griechen seit Urzeiten einen Packen von Wurzeln und Suffixen mit sich trugen und damit beschäftigt waren, im Reden ihre Wörter zu konstruieren, daß z. B. pat ḗ r für sie eine Wurzel pa + ein Suffix ter war, daß d ṓ s ō in ihrem Munde die Summe von d ō + so + eine Personalendung darstellte, usw. 2774 Man mußte gezwungenermaßen auf derartige Fehlleistungen reagieren, und der zutreffende Ordnungsruf dieser Reaktion war: Beobachtet, was in den heutigen Sprachen passiert, in der Alltagssprache, und weist den älteren Sprachzuständen kein Verfahren, kein Phänomen zu, das nicht auch in der Gegenwart festzustellen ist. 2775 Und weil in der Regel die lebendige Sprache keine Analysen erkennen läßt, wie Bopp sie vornahm, erklärten die Junggrammatiker vor dem Hintergrund ihrer Prinzipien, daß Wurzeln, Themen, Suffixe usw. reine Abstraktionen unseres Geistes seien, und daß man sie ausschließlich wegen der Bequemlichkeit der Darstellung gebrauche. 2776 Aber wenn es keine Rechtfertigung für das Aufstellen dieser Kategorien gibt, warum stellt man sie denn auf? 2777 Und wenn man es trotzdem tut, mit welcher Begründung erklärt man dann, eine Gliederung wie z. B. hípp-o-s sei derjenigen in hípp-os vorzuziehen? 2778 Die neue Schule hatte die Mängel der alten Doktrin mit Leichtigkeit erkannt, aber sie begnügte sich damit, die Theorie zurückzuweisen; in der Praxis dagegen blieb sie in einem 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 191 wissenschaftlichen Apparat gefangen, auf den sie letzten Endes nicht verzichten konnte. 2779 Sobald man eine dieser «Abstraktionen» einer rationalen Analyse unterzieht, sieht man, welchen Anteil an Realität sie enthält, und ein einfaches Korrektiv genügt, um diesen Kunstprodukten der Grammatiker eine legitime und genaue Bedeutung zuzuweisen. 2780 Genau dies haben wir oben versucht indem wir gezeigt haben, daß, zurückgebunden an die subjektive Analyse der lebenden Sprache, die objektive Analyse einen ihr rechtmäßig zukommenden und genau bestimmten Platz in der linguistischen Methodik hat. 2781 B. Die subjektive Analyse und die Bestimmung der Untereinheiten 2782 Im Bereich der Analyse kann man somit keine Methode festlegen noch irgendwelche Definitionen formulieren, ohne nicht vorher den synchronischen Standpunkt eingenommen zu haben. 2783 Dies möchten wir nun anhand einiger Beobachtungen bezüglich der Teile des Wortes belegen: Präfixe, Wurzeln, Stämme, Suffixe, Endungen ( 125 ). 2787 Beginnen wir mit der Endung, d. h. mit den flexivischen Merkmalen bzw. variablen Elementen am Wortende, die der Unterscheidung der Formen eines nominalen oder verbalen Paradigmas dienen. 2788 In griechisch zeúgn ū -mi, zeúgn ū -s, zeúgn ū -si, zeúgnu-men usw. ‘ ich spanne an ’ grenzen sich die Endungen -mi, -s, -si usw. einfach dadurch ab, daß sie unter sich und zum vorangehenden Wortteil (zeugn ŭ ̄ -) in Opposition stehen. 2789 Wir haben bezüglich des tschechischen Genitivs ž en, gegenüber dem Nominativ ž ena, gesehen, daß das Fehlen einer Endung die gleiche Rolle spielen kann wie eine normale Endung. 2790 So steht griechisch zeúgn ū ! ‘ spanne an! ’ in Opposition zu zeúgnu-te! ‘ spannt an! ’ usw., der Vokativ rhêtor! steht rh ḗ tor-os gegenüber usw., im Französischen ist mar š (geschrieben marche! ) in Opposition zu mar š õ (geschrieben marchons! ); all dies sind Flexionsformen mit einer Nullendung. 2791 Durch die Unterdrückung der Endung erhält man das Flexionsthema oder den Stamm, 2792 der generell das gemeinsame Element ist, das sich spontan aus dem Vergleich einer Reihe von verwandten, flektierten oder nicht flektierten Wörtern ergibt, und der die all diesen Wörtern gemeinsame Idee vermittelt. So erkennt man im Französischen in der Reihe roulis, rouleau, rouler, roulage, roulement ohne Mühe einen Stamm roul-. 2793 Aber die Analyse der Sprecher unterscheidet in ein und derselben Wortfamilie oft mehrere Arten von Stämmen, oder besser Stämme unterschiedlichen Grades. 2794 Das Element zeugn ŭ ̄ -, das wir oben in zeúgn ū -mi, zeúgn ū -s usw. isoliert haben, ist ein Stamm ersten Grades; er ist nicht irreduktibel, denn wenn man ihn mit andern Reihen vergleicht (einerseits zeúgn ū mi, zeuktós, zeûksis, zeuktêr, zugón usw., andererseits zeúgn ū mi, deíkn ū mi, órn ū mi usw.), drängt sich eine Gliederung in zeug-nu geradezu auf. 2795 Somit ist zeug- (mit seinen Alternativformen zeugzeukzug, cf. 2447ss. 126 ) ein Stamm zweiten Grades; er aber ist nun irreduktibel, denn man kann die Zerlegung aufgrund des Vergleichs mit verwandten Formen nicht weiter vorantreiben. ( 125 ) 2784 Ferdinand de Saussure hat - zumindest unter synchronischem Blickwinkel - die Frage der Komposita nicht behandelt. 2785 Dieser Aspekt des Problems bleibt somit vollständig außen vor; es versteht sich von selbst, daß die diachronische Unterscheidung zwischen Komposita und Agglutinationen nicht unmodifiziert auf die Analyse eines Sprachzustands übertragen werden kann. 2786 Es ist kaum nötig darauf hinzuweisen, daß diese Ausführungen zu den Untereinheiten nicht beanspruchen, die 1724ss. und 1811ss. angesprochene schwierige Frage der Definition des Wortes qua Einheit zu lösen. (Ed.) 126 Der Rückverweis auf 2447ss. ist (ebenso wie im französischen Text) mit einem Fragezeichen zu versehen: Es ist dort zwar von Alternativformen die Rede, nicht aber von zeug-/ zeuk-/ zug-. 192 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2796 Man nennt dieses irreduktible Element, das allen Wörtern einer Familie eignet, die Wurzel. 2797 Da andererseits jede subjektive und synchronische Analyse die materiellen Elemente nur herauslösen kann, indem sie den Bedeutungsanteil in Rechnung stellt, der jedem von ihnen zukommt, ist die Wurzel in dieser Hinsicht das Element, wo die allen verwandten Wörtern eignende gemeinsame Bedeutung das Höchstmaß an Abstraktion und Allgemeinheit erreicht. 2798 Natürlich variiert diese Unbestimmtheit von Wurzel zu Wurzel; aber sie hängt in einem gewissen Ausmaß auch vom Reduktibilitätsgrad des Stammes ab; je mehr Reduktionen dieser erfährt, umso größer ist die Chance, daß seine Bedeutung einen hohen Abstraktionsgrad erreicht. So bezeichnet zeugmátion ein ‘ kleines Gespann ’ , zeûgma ein ‘ Gespann ’ ohne weitere Spezifikation, und zeugbeinhaltet die nicht weiter determinierte Idee von ‘ anspannen ’ . 2799 Daraus folgt, daß eine Wurzel für sich kein Wort sein kann und sich ihr nicht direkt eine Endung anfügen läßt. In der Tat bringt ein Wort immer eine relativ spezifische Idee zum Ausdruck, zumindest aus grammatikalischer Sicht, und dies steht im Widerspruch zu der Allgemeinheit und dem Abstraktionsgrad, die der Wurzel eignen. 2800 Was soll man nun aber von dem sehr häufigen Fall halten, wo Wurzel und Flexionsthema zu verschmelzen scheinen wie in griechisch phlóks, Genitiv phlogós ‘ Flamme ’ im Vergleich mit der Wurzel phleg- : phlog-, die sich in allen Wörtern dieser Familie findet (cf. phlégō usw.)? 2801 Steht dies nicht im Widerspruch zu der Unterscheidung, die wir eben getroffen haben? Nein, denn man muß unterscheiden zwischen phleg- : phlogmit allgemeiner Bedeutung und phlogmit spezifischer Bedeutung; 2802 sonst läuft man Gefahr, nur die materielle Form unter Ausschluß des Inhalts in Betracht zu ziehen. Die gleiche lautliche Einheit hat hier zwei verschiedene Inhalte; sie bildet somit zwei unterschiedliche sprachliche Einheiten (cf. 1720ss.). So, wie wir weiter oben in zeúgn ū ! ‘ spanne an ’ ein flektiertes Wort mit Nullendung gesehen haben, sagen wir nun, daß phlóg- ‘ Flamme ’ ein Thema mit Nullsuffix sei. 2804 Nun ist keine Konfusion mehr möglich: Der Stamm bleibt von der Wurzel geschieden, selbst wenn sie lautlich identisch sind. 2805 Die Wurzel stellt somit eine Realität für das Sprecherbewußtsein dar. Allerdings trifft es zu, daß sie nicht immer mit der gleichen Präzision isoliert wird; in dieser Hinsicht gibt es Unterschiede, sowohl innerhalb ein und derselben Sprache, als auch von einer Sprache zur andern. 2806 In gewissen Idiomen kennzeichnen spezielle Merkmale die Wurzel für den Sprecher. 2807 Dies ist der Fall im Deutschen, wo sie eine weitgehend einheitliche Form hat; sie ist fast immer einsilbig (cf. streit-, bind-, haftusw.) und unterliegt gewissen Strukturregeln: Die Phoneme erscheinen nicht in beliebiger Ordnung; gewisse Konsonantenkombinationen wie z. B. Okklusiv + Liquid sind im Auslaut nicht zugelassen: werkist möglich, nicht aber wekr-; man begegnet helf-, werd-, aber man wird nie hefl-, wedrfinden. 2809 Wir rufen in Erinnerung, daß die regelmäßigen Alternanzen - insbesondere zwischen Vokalen - das Gefühl für die Wurzel und die Untereinheiten im allgemeinen eher verstärken als schwächen; 2810 in dieser Hinsicht unterscheidet sich das Deutsche mit seinem vielfältigen Spiel der Ablaute (cf. 2421ss.) gründlich vom Französischen. Die semitischen Wurzeln kennen in noch größerem Ausmaß entsprechende Merkmale. 2811 Die Alternanzen sind dort sehr regelmäßig und begründen eine große Anzahl von komplexen Oppositionen (cf. hebräisch q āṭ al, q ṭ altem, q ṭō l, qi ṭ l ū usw., alles Formen des gleichen Verbs mit der Bedeutung ‘ töten ’ ); überdies zeigen sie ein Merkmal, das an den deutschen Monosyllabismus erinnnert, aber auffälliger ist: Sie umfassen immer drei Konsonanten (cf. unten, 3268 s.). 2812 In dieser Hinsicht ist das Französische ganz anders organisiert. 2813 Es kennt kaum Alternanzen, und neben den einsilbigen Wurzeln (roul-, march-, mang-) gibt es viele, die zwei und sogar drei Silben umfassen (comment-, hésit-, épouvant-). 2814 Überdies zeigen diese Wurzelformen, vor allem in ihrem Auslaut, viel zu vielfältige Lautkombinationen, um auf 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 193 Regeln reduzierbar zu sein (cf. tu-er, régn-er, guid-er, grond-er, souffl-er, tard-er, entr-er, hurl-er usw.). 2815 Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß das Gefühl für die Wurzel im Französischen sehr wenig entwickelt ist. 2816 Die Abgrenzung der Wurzel zieht gewissermaßen diejenige der Präfixe und Suffixe nach sich. 2817 Das Präfix geht dem als Stamm des Wortes geltenden Teil voran, z. B. hupoin griechsich hupo-zeúgn ū mi. 2818 Das Suffix ist das Element, das an eine Wurzel angefügt wird und daraus einen Stamm macht (z. B. zeug-mat-), oder aber zu einem ersten Stamm tritt, um daraus einen Stamm 2819 zweiten Grades zu machen (z. B. zeugmat-io-). Wir haben oben gesehen, daß dieses Element - genau wie die Endung - die Form einer Nulleinheit haben kann. 2820 Die Isolierung des Suffixes ist somit nur die Kehrseite der Analyse des Stammes. 2821 Das Suffix hat bald eine konkrete Bedeutung, einen semantischen Wert, wie z. B. in zeuk-t ē r-, wo -t ē rdas Agens, den Urheber der Handlung bezeichnet, bald eine rein grammatikalische Funktion wie in zeúg-n ū -(mi), wo -n ū die Idee des Präsens zum Ausdruck bringt. 2822 Das Präfix kann ebenfalls beide Rollen übernehmen, aber es kommt selten vor, daß unsere Sprachen ihm eine grammatikalische Funktion zuweisen; Beispiele: Das gedes deutschen Partizip Perfekt (ge-setzt usw.), die perfektiven Präfixe des Slawischen (russisch na-pisá ť usw.). 2823 Das Präfix unterscheidet sich weiter vom Suffix durch ein Merkmal, das zwar nicht absolut, aber doch sehr allgemein ist: Es ist besser abgegrenzt, weil es sich leichter vom Wortganzen ablösen läßt. Dies liegt an der Natur dieses Elements; in der Mehrzahl der Fälle macht das, was nach der Tilgung eines Präfixes bleibt, den Eindruck eines eigenständigen Wortes (cf. recommencer : commencer, indigne : digne, maladroit : adroit, contrepoids : poids usw.). 2824 Dies ist noch auffälliger im Lateinischen, im Griechischen, im Deutschen. 2825 Überdies muß darauf hingewiesen werden, daß mehrere Präfixe auch als unabhängige Wörter verwendet werden können: cf. französisch contre, mal, sur, deutsch unter, vor usw., griechisch katá, pró usw. 2826 Beim Suffix liegen die Dinge ganz anders: Der Stamm, den man durch die Tilgung dieses Elements erhält, ist ein unvollständiges Wort; Beispiele: französisch organisation : organis-, deutsch Trennung : trenn-, griechisch zeûgma : zeugusw., und andererseits hat das Suffix für sich genommen keine unabhängige Existenz. 2827 Aus all dem ergibt sich, daß der Stamm meistens hinsichtlich seines Anfangs im vornherein abgegrenzt ist: Vor dem Vergleich mit irgendwelchen anderen Formen weiß der Sprecher, wo die Grenze zwischen dem Präfix und dem Nachfolgenden liegt. 2828 Für das Wortende liegen die Dinge anders: Hier drängt sich keine Begrenzung auf, die unabhängig vom Vergleich mit Formen wäre, die den gleichen Stamm oder das gleiche Suffix aufweisen, und diese Gegenüberstellungen führen zu variablen Abgenzungen in Abhängigkeit von der Natur der verglichenen Einheiten. 2829 Unter dem Gesichtspunkt der subjektiven Analyse existieren die Suffixe und die Stämme nur aufgrund der syntagmatischen und assoziativen Oppositionen. Man kann gegebenenfalls ein formatives Element und ein Stammelement in zwei verschiedenen, wie auch immer gearteten Teilen eines Wortes finden, vorausgesetzt sie führen zu einer Opposition. 2830 In lateinisch dict ā t ō rem, zum Beispiel, sieht man einen Stamm dict ā t ō r-(em), wenn man es mit consul-em, ped-em usw. vergleicht, aber einen Stamm dict ā -(t ō rem), wenn man es lic-t ō rem, scrip-t ō rem usw. gegenüberstellt, einen Stam dic-(t ā t ō rem), wenn man an p ō t ā t ō rem, can-t ā t ō rem denkt. 2831 Im allgemeinen und unter günstigen Bedingungen kann es dem Sprecher gelingen, alle denkbaren Gliederungen vorzunehmen (z. B. dict ā tō rem nach amō rem, ardō rem usw., dictā t ō rem nach ō rā t ō rem, arā t ō rem usw.). 2832 Wir wissen (cf. 2588ss.), daß die Ergebnisse dieser spontanen Analysen sich in den analogischen Bildungen jeder Epoche niederschlagen; sie sind es, die die Unterscheidung der Untereinheiten (Wurzeln, 194 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Präfixe, Suffixe, Endungen) möglich machen, deren sich die Sprache bewußt ist, und die die Bestimmung der Werte erlauben, die sie ihnen zuweist. 2833 C. Die Etymologie 216 * 2834 Die Etymologie ist weder eine eigenständige Disziplin noch ein Teil der evolutiven Linguistik; sie ist lediglich eine besondere Anwendung der die synchronischen und diachronischen Gegebenheiten betreffenden Prinzipien. 2835 Sie geht in der Vergangenheit der Wörter so weit zurück, bis sie etwas findet, das diese erklärt. 2836 Wenn man von der Herkunft eines Wortes spricht und sagt, es «komme» von einem anderen, kann man darunter verschiedene Dinge verstehen: So kommt sel von lateinisch sal durch einfache Lautveränderung; labourer ‘ die Erde bearbeiten ’ kommt von altfranzösisch labourer ‘ arbeiten schlechthin ’ ausschließlich aufgrund einer Bedeutungsveränderung; couver kommt von lateinisch cub ā re ‘ liegen ’ sowohl durch Bedeutungsals auch durch Lautveränderung; und wenn man schießlich sagt, pommier komme von pomme, dann bezieht man sich auf eine grammatikalische Ableitung. In den ersten drei Fällen arbeitet man mit diachronischen Identitäten, der vierte Fall beruht auf einer synchronischen Beziehung zwischen verschiedenen Einheiten. 2837 Und schließlich zeigt alles, was zur Analogie gesagt wurde, daß es sich dabei um den wichtigsten Teil der etymologischen Forschung handelt. 2838 Die Etymologie von bonus ist nicht festgelegt, weil man es auf dvenos zurückführt; aber wenn man feststellt, daß bis auf dvis zurückgeht und man dadurch eine Beziehung zu duo herstellen kann, darf man dies eine etymologische Operation nennen; entsprechendes gilt für die Inbezugsetzung von oiseau und avicellus, denn sie erlaubt es, das Band zwischen oiseau 127 und avis zu finden. 2839 Die Etymologie ist somit vor allem die Erklärung der Wörter durch die Suche nach ihren Beziehungen zu andern Wörtern. 2840 Erklären heißt: zurückführen auf bekannte Einheiten, und in der Linguistik bedeutet ein Wort erklären, es auf andere Wörter zurückführen, denn es gibt keine zwingenden Beziehungen zwischen der Lautung und der Bedeutung (Prinzip der Arbitrarität des Zeichens, cf. 1121ss.). 2841 Die Etymologie begnügt sich nicht damit, isolierte Wörter zu erklären; sie schreibt vielmehr die Geschichte von Wortfamilien, genau wie sie diejenige der formativen Elemente, der Präfixe, der Suffixe usw. schreibt. 2842 Wie die statische und die evolutive Linguistik beschreibt sie Fakten, aber diese Beschreibung ist nicht methodisch, denn sie verläuft nicht in einer vorgegebenen Richtung. Bezüglich eines als Untersuchungsobjekt gewählten Wortes entnimmt die Etymologie ihre Informationselemente je nach Bedarf der Phonetik, der Morphologie, der Semantik usw. 2843 Um ihr Ziel zu erreichen, bedient sie sich aller Hilfsmittel, die die Linguistik ihr zur Verfügung stellt, aber sie richtet ihr Augenmerk nicht auf die Natur der Verfahren, die anzuwenden sie gezwungen ist. 127 Wir folgen der 2./ 3. Aufl.; die 1. Aufl. hat avicellus anstelle von oiseau. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 195 2844 Vierter Teil: Geographische Linguistik 2845 Kapitel 1 Von der Verschiedenheit der Sprachen 217 * 2846 Wenn man die Frage der Beziehungen zwischen Sprachphänomen und Raum angeht, verläßt man den Bereich der internen Linguistik und betritt denjenigen der externen, deren Ausdehnung und Vielfalt schon in Kapitel 5 der Einleitung aufgezeigt wurde. 2847 Was zuerst einmal auffällt beim Studium der Sprachen, ist ihre Vielfalt, sind die sprachlichen Unterschiede, die auftauchen, sobald man von einem Land in ein anderes wechselt, ja selbst beim Übertritt von einem Bezirk in einen andern. 2848 Wenn die Unterschiede auf der Zeitachse dem Betrachter oft verborgen bleiben, so springen die Unterschiede im Raum sofort ins Auge; selbst ungebildete Eingeborene 128 werden ihrer gewahr, denn sie stehen ja im Kontakt mit anderen Stämmen, die eine andere Sprache sprechen. 2849 Es ist gerade durch diese Vergleiche, daß ein Volk sich seines eigenen Idioms bewußt wird. 2850 Wir weisen nebenbei darauf hin, daß dieses Gefühl bei einfachen Völkern 129 zur Ansicht führt, die Sprache sei eine der Kleidung oder der Bewaffnung entsprechende Gewohnheit, ein Brauch. 2851 Der Ausdruck Idiom bezeichnet sehr treffend die Sprache als Spiegel der einer Gemeinschaft eignenden Züge (das griechische idí ō ma hatte schon die Bedeutung von ‘ besondere Gewohnheit ’ ). 2852 Dies ist ein durchaus richtiger Gedanke, aber er wird zum Irrtum, wenn man ihn derart überstrapaziert, daß man in der Sprache nicht mehr ein Attribut der Nation 130 , sondern der Rasse sieht, gleichrangig mit der Hautfarbe oder der Kopfform. 2853 Wir weisen weiter noch darauf hin, daß jedes Volk von der Überlegenheit seines Idioms überzeugt ist. 2854 Ein Mensch, der eine andere Sprache spricht, wird denn auch leicht als des Sprechens unfähig angesehen; so scheint das griechische bárbaros ursprünglich ‘ Stotterer ’ bedeutet zu haben und mit dem lateinischen balbus verwandt zu sein; im Russischen werden die Deutschen Nêmtsy genannt, d. h. ‘ die Stummen ’ . 2855 Die geographische Diversität ist so die erste Erkenntnis gewesen, die man im Bereich der Linguistik gemacht hat; sie hat die ursprüngliche Form der Sprachforschung bestimmt, und dies selbst bei den Griechen. Es trifft allerdings zu, daß sie sich nur mit den zwischen den verschiedenen griechischen Dialekten bestehenden Unterschieden befaßt haben; aber dies hängt damit zusammen, daß ihr Interesse generell die Grenzen Griechlands kaum überschritten hat. 2856 Wenn man einmal festgestellt hat, daß zwei Idiome unterschiedlich sind, wird man spontan dazu übergehen, nach Ähnlichkeiten zwischen ihnen zu suchen. 2857 Dies ist eine natürliche Neigung der Sprecher. 2858 Die Bauern vergleichen ihren Dialekt gerne mit demjenigen des Nachbardorfes; Leute, die mehrere Sprachen beherrschen, entdecken die ihnen gemeinsamen Züge. Umso überraschender ist es, daß die Wissenschaft ungeheuer lange 128 Die wörtliche Übersetzung der frz. Vorlage (sauvages) wäre Wilde, was heute jedoch nicht mehr akzeptabel ist. 129 Primitive ist heute ebenso inakzeptabel wie Wilde. 130 Nation ist ebenfalls problematisch, denn es gibt ja auch mehrsprachige Nationen (wie z. B. die Schweiz). Da Volk wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit auch ausfällt, bliebe nur noch das zu unpräzise Gemeinschaft. - Cf. immerhin unten, Einheit 2887, wo die Dinge korrekt dargestellt sind. 196 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft gebraucht hat, diese Feststellungen für sich nutzbar zu machen; 2859 so waren die Griechen, die zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen ihrem eigenen Vokabular und dem lateinischen festgestellt hatten, nicht in der Lage, daraus irgend einen linguistisch relevanten Schluß zu ziehen. 2860 Die wissenschaftliche Betrachtung dieser Ähnlichkeiten erlaubt in gewissen Fällen die Feststellung, daß zwischen zwei oder mehreren Idiomen ein verwandtschaftliches Band besteht, d. h. daß sie einen gemeinsamen Ursprung haben. Eine auf diese Weise zusammenhängende Gruppe von Sprachen nennt man eine Sprachfamilie. 2861 Die moderne Linguistik hat so nacheinander die Familien der indogermanischen Sprachen, der semitischen Sprachen und diejenige der Bantusprachen ( 131 ) erkannt, usw. 2862 Diese Familien können nun ihrerseits miteinander verglichen werden, 2863 und manchmal ergeben sich daraus umfassendere und ältere Zusammenhänge. So glaubte man Ähnlichkeiten zwischen dem Finno-Ugrischen ( 132 ) und dem Indogermanischen feststellen zu können, weiter zwischen dem letzteren und dem Semitischen, usw. 2864 Aber Vergleiche dieser Art stoßen sehr schnell auf unüberwindliche Hindernisse. 2865 Man sollte das, was möglich ist 133 , und das, was beweisbar ist, nicht verwechseln. 2866 Die universelle Verwandtschaft aller Sprachen ist wenig wahrscheinlich, aber sollte diese Annahme zutreffen - 2867 wie der italienische Sprachwissenschaftler Alfredo Trombetti ( 134 ) glaubt - 2868 könnte sie nicht bewiesen werden, da die Zahl der im Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen viel zu groß ist. 2872 Neben der Verschiedenheit innerhalb der Verwandtschaft gibt es somit eine absolute Verschiedenheit ohne erkennbare oder beweisbare Verwandtschaft. 2873 Welches ist nun die Methode der Linguistik im einen und im anderen Fall? 2874 Beginnen wir mit dem zweiten Fall, der der häufigere ist. Wie wir schon gesagt haben, gibt es eine große Zahl von Sprachen und Sprachfamilien, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen 135 . Dies gilt z. B. für das Chinesische im Hinblick auf die indogermanischen Sprachen. 2875 Das heißt nicht, daß man auf den Vergleich verzichten müsse; er ist immer möglich und nützlich; er kann sich sowohl auf die grammatikalische Struktur 2876 und die allgemeinen Typen des Gedankenausdrucks beziehen 2877 als auch auf das Lautsystem. Man kann auch Fakten aus dem diachronischen Bereich, die Lautentwicklung zweier Sprachen usw. vergleichen. 2878 In dieser Hinsicht sind die Möglichkeiten bezüglich ihrer Zahl zwar nicht abschätzbar, gleichwohl aber begrenzt durch gewisse lautliche und psychische Vorgaben, in deren Rahmen sich jede Sprache entfalten muß; und umgekehrt ist die Aufdeckung dieser konstanten Bedingungen gerade das primäre Ziel jedes Vergleichs von Sprachen, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen 136 . 2879 Was die andere Kategorie von Verschiedenheit angeht, diejenige innerhalb von Sprachfamilien, so bietet sie ein unbegrenztes Feld von Vergleichsmöglichkeiten. Zwei ( 131 ) 2869 Die Bantusprachen sind eine Gruppe von Sprachen, die von Völkern im südlichen Äquatorialafrika gesprochen werden, insbesondere von den Kaffern. (Ed.) ( 132 ) 2870 Das Finno-Ugrische, das u. a. das eigentliche Finnisch oder Suomi, das Mordwinische, das Samische usw. umfaßt, ist eine Familie von Sprachen, die im nördlichen Russland und in Sibirien gesprochen werden, und die sicherlich auf eine gemeinsame Ursprache zurückgehen; man rechnet es zu der sehr umfassenden Gruppe der ural-altaischen Sprachen, deren gemeinsamer Ursprung nicht erwiesen ist, obwohl gewisse Züge sich in ihnen allen finden. (Ed.) 133 Ich folge hier der 3. Aufl.; 1./ 2. Aufl. ce qui peut être vrai. ( 134 ) 2871 Cf. sein Werk L ’ unità d ’ origine del linguaggio, Bologna 1905. (Ed.) 135 Ich behalte hier im wesentlichen die Formulierung der Vulgata bei (irréductibles les unes aux autres), obwohl sie problematisch ist: Verwandschaft zwischen zwei Sprachen kann auch bestehen, wenn nicht die eine auf die andere zurückgeführt werden kann, sondern beide auf eine dritte. Die angemessene Formulierung wäre wohl «. . . für die es keinen gemeinsamen Nenner gibt». 136 Cf. vorhergehende N. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 197 Idiome können sich in den unterschiedlichsten Graden voneinander unterscheiden: Sie können sich auf die erstaunlichste Weise gleichen, wie z. B. das Zend und das Sanskrit, oder aber vollkommen unähnlich sein, wie das Sanskrit und das Irische; alle dazwischen liegenden Abstufungen sind möglich: So stehen sich das Griechische und das Lateinische näher als jedes von ihnen dem Sanskrit, usw. 2880 Die Idiome, die nur geringfügig voneinander abweichen, nennt man Dialekte; aber man sollte diesem Terminus keine allzu strenge Bedeutung zuweisen; wir werden 2987ss. sehen, daß der Unterschied zwischen Dialekten und Sprachen nur quantitativer und nicht wesentlicher Natur ist. 2881 Kapitel 2 Komplikationen hinsichtlich der räumlichen Diversität 218 * 2882 § 1. - Koexistenz mehrer Sprachen an einem Ort 2883 Die räumliche Diversität ist bis jetzt in ihrer Idealform dargestellt worden: soviele Gebiete - soviele verschiedene Sprachen. 2884 Und es war durchaus legitim, so vorzugehen, denn die räumliche Gliederung ist und bleibt der wichtigste Faktor der sprachlichen Vielfalt. 2885 Nun aber befassen wir uns mit den sekundären Faktoren, die diesen Idealzustand stören und deren Ergebnis die Koexistenz mehrer Sprachen auf ein und demselben Gebiet ist. 2886 Es handelt sich hier nicht um die wirkliche, organische Sprachmischung, die gegenseitige Durchdringung zweier Idiome, die zu einer Systemveränderung führt (cf. das Englische nach der normannischen Eroberung 219 *). 2887 Es geht auch nicht um mehrere Sprachen, die zwar gebietsmäßig getrennt sind, aber innerhalb der Grenzen des gleichen politischen Staates liegen, wie dies in der Schweiz der Fall ist. 2888 Wir befassen uns nur mit dem Fall, daß zwei Idiome an ein und demselben Ort nebeneinander leben und ohne sich zu vermischen koexistieren können. 2889 Dies findet sich sehr häufig; aber man muß zwei Fälle unterscheiden. 2890 Zuerst einmal haben wir den Fall, daß die Sprache einer neuen Bevölkerung diejenige einer indigenen Bevölkerung überlagert. 2891 So finden wir heute in Südafrika neben mehreren Eingeborenensprachen 137 das Niederländische [Afrikaans] und das Englische als Resultat zweier aufeinanderfolgender Kolonisierungen; auf gleiche Weise hat sich das Spanische in Mexico etabliert. 2892 Man soll nicht glauben, daß sprachliche Übergriffe dieser Art typisch für die heutige Epoche seien. Es ist zu allen Zeiten vorgekommen, daß Völker sich vermischt haben, ohne daß ihre Sprachen verschmolzen wären. 2893 Um dies zu erkennen, genügt es, einen Blick auf die Karte des heutigen Europa zu werfen: In Irland spricht man Keltisch 138 und Englisch; viele Iren beherrschen beide Sprachen. 2894 In der Bretagne verwendet man das Bretonische und das Französische; im Baskenland benutzt man das Französische oder das Spanische und gleichzeitig das Baskische. 2895 In Finnland koexistieren das Schwedische und das Finnische seit recht langer Zeit; in jüngerer Vergangenheit ist das Russische dazugekommen. In Kurland und Livland spricht man Lettisch, Deutsch und Russisch; das Deutsche, das im Mittelalter von im Rahmen der Hanse zugewanderten Siedlern mitgebracht wurde, ist die Sprache einer besonderen Bevölkerungsklasse; das Russische ist später auf dem Weg der Eroberung dazugekommen. 2896 In Litauen hat sich neben dem Litauischen das Polnische 137 dialectes nègres müßte eigentlich mit Negerdialekte übersetzt werden, was heute politisch nicht mehr korrekt ist. Zudem ist die Charakterisierung als ‘ Dialekte ’ problematisch, z. T. sicher unzutreffend. Wir greifen deshalb zu Eingeborenensprachen, was auch die Dialekte einschließt. 138 Aufgrund der deutlichen Differenzierung der keltischen Varietäten wäre Irisch angemessener. 198 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft etabliert als Folge einer alten Staatenverbindung mit Polen, und schließlich das Russische als Konsequenz der Integration Litauens in das moskowitische Reich. 2897 Bis ins 18. Jahrhundert waren im ostelbischen Teil Deutschlands sowohl das Deutsche als auch das Slawische im Gebrauch. 2898 In gewissen Ländern ist die Sprachenkonfusion noch weit größer; in Mazedonien findet man alle vorstellbaren Sprachen: Türkisch, Bulgarisch, Serbisch, Griechisch, Albanisch, Rumänisch usw., je nach der Region in unterschiedlicher Mischung. 2899 Diese Sprachen sind nicht immer vollkommen durcheinandergemischt; ihre Koexistenz in einer gegebenen Region schließt eine relative territoriale Aufteilung noch nicht aus. 2900 Es kommt z. B. vor, daß von zwei Sprachen die eine in den Städten, die andere auf dem Land gesprochen wird; aber diese Aufteilung ist nicht immer sehr sauber. 2901 Die gleichen Erscheinungen finden sich in der Antike. 2902 Wenn wir eine Sprachenkarte des römischen Reiches hätten, würde sie uns ganz ähnliche Gegebenheiten zeigen, wie wir sie heute vorfinden. 2903 So sprach man in Kampanien gegen Ende der republikanischen Zeit: Oskisch, wie es die Inschriften von Pompei belegen; Griechisch, die Sprache der Siedler, die Neapel gegründet hatten; Lateinisch; vielleicht sogar Etruskisch, das in dieser Region vor Ankunft der Römer vorgeherrscht hatte. 2904 In Karthago hatte sich das Punische oder Phönizische neben dem Lateinischen gehalten (es existierte noch zur Zeit der arabischen Invasion), ganz abgesehen vom Numidischen, das mit Sicherheit auf karthagischem Boden gesprochen wurde. 2905 Man kann sogar annehmen, daß in der Antike die einsprachigen Länder rund um das Mittelmeer die Ausnahme darstellten. 2906 In den meisten Fällen ist es zu diesen Überlagerungen von Sprachen durch die Invasion eines stärkeren Volkes gekommen; aber es gibt auch die Kolonisierung, das friedliche Eindringen; und schließlich sind die Nomadenstämme 139 , die ihre Sprache mit sich bringen, in Rechnung zu stellen. Dies gilt z. B. für die Zigeuner 140 , die sich vor allem in Ungarn niedergelassen haben und dort in geschlossenen Dörfern leben 141 . Die Untersuchung ihrer Sprache hat ergeben, daß sie in einer unbekannten Epoche aus Indien gekommen sein müssen. 2907 In der Dobrudscha, nahe der Donaumündung, findet man verstreute Tatarendörfer, die kleine Flecken auf der Sprachenkarte dieser Region bilden. 2908 § 2. - Literatursprache und Lokaldialekt 220 * 2909 Und das ist noch nicht alles: Die sprachliche Einheit kann zerstört werden, wenn ein natürlich gewachsenes Idiom unter den Einfluß einer Literatursprache gerät. 2910 Dies geschieht unweigerlich jedesmal, wenn ein Volk einen gewissen Zivilisationsgrad erreicht. 2911 Unter «Literatursprache» verstehen wir nicht nur die Sprache der Literatur, sondern - in einem allgemeineren Sinn - jede Art von kultivierter Sprache, sei sie nun offiziell oder nicht, die im Dienste der ganzen Gemeinschaft steht. 2912 Sich selbst überlassen kennt die Sprache nur Dialekte, von denen keiner auf den Bereich des anderen übergreift, und aus diesem Grunde ist sie der unbegrenzten Zersplitterung ausgesetzt. 2913 Da aber die fortschreitende Zivilisation die Kommunikationsmöglichkeiten vervielfacht, macht man in einer Art stillen Übereinkunft einen der vorhandenen Dialekte zum Vehikel für alles, was die Nation als Ganzes interessiert. 2914 Die Motive für diese Wahl sind unterschiedlicher Natur: Bald bevorzugt man den Dialekt der Region, in der die Zivilisation am fortgeschrittensten ist, 139 Nomadenstämme ist die wörtliche Übersetung von tribus nomades; es wäre zu prüfen, ob nicht Nomadenvölker angemessener wäre. 140 Zigeuner (tziganes) ist politisch nicht mehr korrekt. Es müßte Sinti und Roma heißen, was aber Saussures integrierender Sichtweise nicht entspricht. 141 In sachlicher Hinsicht nur vereinzelt richtig. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 199 bald denjenigen der Provinz, die politisch dominiert und wo die Zentralmacht ihren Sitz hat; dann wieder ist es ein Hof, der seine Sprache der ganzen Nation aufdrängt. 2915 Wenn ein Dialekt einmal den Status der offiziellen und gemeinsamen Sprache erlangt hat, bleibt dieses privilegierte Idiom selten so erhalten, wie es vorher war. 2916 Es dringen dialektale Elemente aus anderen Regionen ein; es wird immer heterogener, ohne indessen seinen ursprünglichen Charakter ganz zu verlieren. So erkennt man im literarischen Französisch den Dialekt der Îlede-France und im Gemeinitalienischen denjenigen der Toskana. 2917 Wie auch immer, die Literatursprache setzt sich nicht von einem Tag auf den andern durch, und ein großer Teil der Bevölkerung befindet sich in einer Situation der Zweisprachigkeit, denn sie spricht sowohl die Gemeinsprache als auch den lokalen Dialekt. 2918 Dies sieht man schön in gewissen Regionen Frankreichs, wie z. B. Savoyen, wo das Französische eine importierte Sprache ist und die bodenständigen Dialekte noch lange nicht verdrängt hat. 2919 Diese Situation gilt generell für Deutschland und Italien, wo der Dialekt überall neben der offiziellen Sprache weiterbesteht. 221 * 2920 Das Gleiche hat sich zu allen Zeiten ereignet, bei allen Völkern, die einen gewissen Zivilisationsgrad erreicht haben. Die Griechen hatten ihre Koine, die auf dem Attischen und dem Ionischen basiert, und neben dieser haben die lokalen Dialekte überlebt. Selbst im alten Babylon glaubt man feststellen zu können, daß es eine offizielle Sprache neben den regionalen Dialekten gab. 2921 Verlangt eine Gemeinsprache zwingend den Gebrauch der Schrift? 2922 Die homerischen Gedichte scheinen das Gegenteil zu beweisen; obwohl sie in einer Epoche entstanden sind, in der man die Schrift gar nicht oder kaum nutzte, ist ihre Sprache konventionell und zeigt alle Charakteristika einer Literatursprache. 2923 Die Erscheinungen, von denen in diesem Kapitel die Rede war, sind derart häufig, daß sie als normale Faktoren in der Geschichte einer Sprache gelten können. 2924 Trotzdem wollen wir hier von allem abstrahieren, was den Blick auf die natürliche räumliche Diversifikation trübt, und nur das primäre Phänomen betrachten, unabhängig von jedem Import einer fremden Sprache und jeder Herausbildung einer Literatursprache. 2925 Diese schematische Vereinfachung scheint der Wirklichkeit nicht gerecht zu werden; aber die natürlichen Gegebenheiten müssen zuerst für sich allein untersucht werden. 2926 Gemäß dem von uns gewählten Prinzip werden wir deshalb z. B. sagen, Brüssel sei germanisch, weil diese Stadt im flämischen Teil Belgiens liegt; man spricht dort zwar Französisch, aber das einzige, was für uns zählt, ist die Grenzlinie zwischen dem Flämischen und dem Wallonischen. 222 * 2927 Andererseits und unter dem gleichen Blickwinkel ist Lüttich romanisch, denn es befindet sich im wallonischen Raum; das Französische ist dort nur eine fremde Sprache, die sich einem Dialekt gleicher Herkunft überlagert hat. 2928 Und dementsprechend gehört Brest sprachlich zum bretonischen Gebiet; das Französisch, das man dort spricht, hat nichts zu tun mit dem einheimischen Idiom der Bretagne. Berlin, wo man fast nur Hochdeutsch hört, wird dem niederdeutschen Raum zugewiesen. Usw. 200 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2929 Kapitel 3 Gründe für die Unterschiede im Raum 223 * 2930 § 1. - Die Zeit als entscheidende Ursache 224 * 2931 Die absolute Verschiedenheit (cf. 2872) stellt ein rein spekulatives Problem dar. 2932 Anders die Verschiedenheit im Rahmen der Verwandtschaft, die uns in den Bereich des Beobachtbaren führt und die auf eine Einheit zurückgeführt werden kann. 2933 So gehen das Französische und das Okzitanische 142 beide auf das Vulgärlateinische zurück, das sich im Norden und im Süden Galliens unterschiedlich entwickelt hat. Ihr gemeinsamer Ursprung ergibt sich aus den materiellen Gegebenheiten. 2934 Um verstehen zu können, wie die Dinge ablaufen, nehmen wir möglichst einfache Bedingungen an, die es erlauben, den entscheidenden Grund für die Differenzierung im Raum zu isolieren, und wir fragen uns, was geschehen würde, wenn eine in einem klar begrenzten Gebiet - z. B. auf einer kleinen Insel - gesprochene Sprache von Siedlern in ein anderes, ebenso begrenztes Gebiet - z. B. eine andere Insel - gebracht würde. 2935 Nach einer gewissen Zeit wird man feststellen, daß sich zwischen der Sprache der ersten Wohnstätte (W) und derjenigen der zweiten (W') vielfältige Unterschiede herausbilden, die den Wortschatz, die Grammatik, die Aussprache usw. betreffen. 2936 Man soll nicht meinen, daß sich nur das verpflanzte Idiom 143 verändere, während das Ursprungsidiom unverändert bleibe; ebensowenig findet sich das Umgekehrte in absoluter Form. Eine Neuerung kann auf der einen Seite entstehen, oder auf der anderen, oder aber auch auf beiden zugleich. 2937 Nehmen wir ein sprachliches Merkmal a an, das durch ein anderes (b, c, d usw.) ersetzbar ist, dann kann die Differenzierung auf drei unterschiedliche Weisen erfolgen 144 : b - a a ( Wohnstätte W ) a ----------------- - a ( Wohnstätte W' ) c b - c 142 Provençal/ Provenzalisch bezeichnete zu Beginn des 20. Jh.s noch den ganzen südfranzösischen Sprachkomplex, heute dagegen nur noch den Dialekt der Provence. Wir verwenden in der Übersetzung den heute gängigen Terminus Okzitanisch. 143 Gemeint ist das «Idiom der Auswanderer». 144 Wir übernehmen hier das Schema der 2./ 3. Aufl.; es ist eindeutig adäquater als dasjenige der 1. Aufl. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 201 2938 Die Untersuchung kann sich dehalb nicht auf die eine Seite beschränken; die Innovationen in beiden Idiomen 145 sind von gleicher Wichtigkeit. 2939 Was hat diese Unterschiede bewirkt? 2940 Wenn man glaubt, dies sei der Raum allein, erliegt man einem Irrtum. Für sich allein genommen kann der Raum keinen Einfluß auf die Sprache ausüben. Am Tag nach ihrer Landung in W' sprachen die aus W kommenden Siedler genau die gleiche Sprache wie am Tag zuvor. 2941 Man vergißt den Zeitfaktor, weil er schwerer faßbar ist als der Raumfaktor; in Wirklichkeit ist es aber gerade er, der die sprachliche Differenzierung bewirkt. Die räumliche Verschiedenheit muß in zeitliche Verschiedenheit übersetzt werden. 2942 Wir nehmen zwei differentielle Merkmal b und c an; es hat nie einen Übergang vom ersten zum zweiten noch vom zweiten zum ersten gegeben; um den Übergang von der Einheit zur Vielheit zu finden, muß man auf das ursprüngliche a zurückgreifen, das b und c ersetzt haben. Es ist dieses a, das den späteren Formen weichen mußte; und daraus ergibt sich das folgende Schema für die räumliche Differenzierung, das für alle entsprechenden Fälle Gültigkeit hat: W W' a ←→ a ↓ ↓ b c 2943 Die Auseinanderentwicklung der beiden Idiome ist die greifbare Form des Phänomens, aber sie erklärt es nicht. 2944 Sicherlich hätte diese sprachliche Differenzierung nicht ohne den räumlichen Unterschied stattgefunden, und mag dieser noch so geringfügig sein; aber die Entfernung für sich allein schafft keine Unterschiede. 2945 Ebenso wie man das Volumen eines Körpers nicht aufgrund seiner Oberfläche bestimmen kann, sondern nur mithilfe einer dritten Dimension, der Tiefe, ist auch das Schema der räumlichen Differenzierung nur dann vollständig, wenn man es auf die Zeit projiziert. 2946 Man kann einwenden, daß die Unterschiede bezüglich der Umgebung, des Klimas, der Bodenbeschaffenheit, der besonderen Lebensgewohnheiten (die z. B. bei einem Bergvolk anders sind als bei Küstenbewohnern) die Sprache beeinflussen können, und daß in diesem Fall die hier studierten Variationen geographisch bedingt seien. 2947 Diese Einflüsse sind aber umstritten (cf. 2299ss.); und selbst wenn sie bewiesen wären, müßte hier noch eine Unterscheidung gemacht werden. Die Richtung der Entwicklung ist durch die Umgebung bedingt; sie wird durch Unwägbarkeiten bestimmt, die in jedem Fall wirksam sind, ohne daß man sie beweisen und beschreiben könnte. 2948 Ein u wird zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einer bestimmten Umgebung zu ü; aber warum hat es sich zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort gewandelt, und warum ist es ü geworden und nicht z. B. o? Genau dies können wir nicht sagen. 2949 Aber der Wandel selbst, einmal abgesehen von seiner spezifischen Richtung und seinen besonderen Auswirkungen, kurz die Instabilität der Sprache, ist einzig durch den Faktor Zeit bedingt. 2950 Die räumliche Verschiedenheit ist somit ein sekundärer Aspekt eines umfassenderen Phänomens. Die Einheit verwandter Sprachen kann nur in der Zeit wiedergefunden werden. Dies ist ein Prinzip, das der Komparatist verinnerlichen muß, wenn er nicht das Opfer ärgerlicher Fehlleistungen werden will. 145 Wir geben fr. langue durch Idiom wieder, da es sich auch um Sprachvarianten handeln kann. 202 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 2951 § 2. - Der Einfluß der Zeit auf ein zusammenhängendes Gebiet 2952 Nehmen wir einmal ein einsprachiges Land an, d. h. ein Land, wo man einheitlich die gleiche Sprache spricht und dessen Bevölkerung stabil ist, z. B. Gallien gegen 450 n. Chr., wo das Lateinische überall solide etabliert war. Was wird nun geschehen? 2953 1. Da es im Bereich der Sprache keine absolute Unveränderlichkeit gibt (cf. 1259 s.), wird die Sprache nach einer gewissen Zeit nicht mehr die gleiche sein. 2954 2. Die Entwicklung wird nicht im ganzen Gebiet einheitlich sein, vielmehr wird sie abhängig vom Ort variieren; man hat noch nie feststellen können, daß eine Sprache in ihrem gesamten Geltungsbereich sich einheitlich verändert. Es ist somit nicht das Schema: sondern vielmehr das Schema: das die Wirklichkeit [angemessen] wiedergibt. 2955 Wie entsteht und entwickelt sich nun die Diversifikation, die zur Schaffung von dialektalen Formen aller Art führen wird? Die Dinge sind weit weniger einfach, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Die Erscheinung hat zwei wesentliche Merkmale: 2956 1. Die Entwicklung läuft in der Form von sukzessiven und genau umrissenen Neuerungen ab, die ebensoviele Einzelfakten darstellen, die man aufzählen, beschreiben und nach ihrer Natur klassieren kann (phonetische, morphologische, syntaktische usw. Erscheinungen). 2957 2. Jede dieser Innovationen vollzieht in einem begrenzten Gebiet und hat somit ihren spezifischen Geltungsbereich. 2958 Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder deckt der Bereich der Innovation das ganze Territorium ab, und dann schafft sie keine dialektalen Unterschiede (dies kommt eher selten vor); oder aber, und dies ist der Normalfall, die Veränderung betrifft nur einen Teil des Gebiets, wobei jede dialektale Erscheinung ihren spezifischen Geltungsbereich hat. 2959 Was wir im folgenden zu den phonetischen Veränderungen sagen, gilt für jede 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 203 Art von Innovation. 2960 Wenn z. B. ein Teil des Gebiets von einem Wandel von a zu e betroffen ist: so kann es vorkommen, daß ein Wandel von s zu z sich auf dem gleichen Gebiet, aber in andern Grenzen ereignet: Es ist die Existenz dieser unterschiedlichen Geltungsbereiche, die die Verschiedenheit der Dialekte an allen Punkten eines Sprachgebiets erklärt, sofern man diese Sprache nur ihrer natürlichen Entwicklung überläßt. 2961 Diese Bereiche sind nicht vorhersehbar; nichts erlaubt, ihre Ausdehnung vorherzusagen, man muß sich vielmehr darauf beschränken, sie im nachhinein festzustellen. Wenn man sie einander auf der Karte überlagert, wo ihre Grenzen sich vielfach überschneiden, liefern sie äußerst komplizierte Kombinationen. 2962 Ihre Konfiguration ist manchmal geradezu paradox; so sind lateinisch c und g vor a im ganzen Norden Frankreichs zu t š , d ž , dann zu š , ž geworden (cf. cantum → chant, virga → verge) - außer in der Pikardie und einem Teil der Normandie, wo c und g erhalten bleiben (cf. pikardisch cat für chat, rescapé für réchappé, das in jüngerer Vergangenheit ins Französische übernommen wurde; vergue von oben zitiertem virga, usw.). 2963 Was ergibt sich nun aus der Gesamtheit dieser Ereignisse? Wenn zu einem gegebenen Zeitpunkt eine einzige Sprache in einem gesamten Gebiet herrscht, werden sich nach fünf oder zehn Jahrhunderten die Bewohner von zwei Extrempunkten dieses Raumes wahrscheinlich nicht mehr verstehen; dagegen werden diejenigen eines beliebigen Punktes den Dialekt der benachbarten Gebiete weiterhin verstehen. 2964 Ein Reisender, der dieses ganze Gebiet von einem Ende zum andern durchqueren würde, würde von Ort zu Ort nur geringfügige dialektale Unterschiede feststellen können; aber da diese Unterschiede sich im Laufe seines Weges anhäuften, würde er schließlich auf eine Sprache treffen, die für die Bewohner seines Ausgangsgebiets unverständlich wäre. 2965 Oder wenn man von einem Punkt des Gebiets strahlenförmig in alle Richtungen vorstößt, wird man feststellen, daß die Summe der Unterschiede in jeder Richtung ansteigt, aber immer in unterschiedlicher Weise. 2966 Die Eigenheiten, die man im Dialekt eines Dorfes feststellt, finden sich auch in den benachbarten Orten wieder, aber es ist unmöglich vorherzusehen, wie weit sich jede von ihnen erstreckt. 2967 So lautet in Douvaine, einem Flecken im Departement Hoch-Savoyen, der Name für Genf đ enva; diese Aussprache erstreckt sich sehr weit Richtung Osten und Süden; aber auf der anderen Seite des Genfersees spricht man den Namen dzenva aus. Gleichwohl handelt es sich nicht um eindeutig verschiedene Dialekte, denn für eine andere Erscheinung 204 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft verlaufen die Grenzen ganz anders; so sagt man in Douvaine daue für deux ‘ zwei ’ , aber diese Aussprache hat einen viel begrenzteren Geltunsbereich als derjenige von đ enva; am Fuße des Salève, nur einige Kilometer entfernt, sagt man due. 2968 § 3. - Die Dialekte haben keine natürlichen Grenzen 225 * 2969 Die Vorstellung, die man normalerweise von den Dialekten hat, ist eine ganz andere. Man stellt sie sich als vollkommen determinierte Sprachtypen vor, die in jeder Richtung abgegrenzt sind und auf der Karte nebeneinander liegende, säuberlich umrissene Bereiche abdecken (a, b, c, d usw.). Aber die natürlichen dialektalen Veränderungen führen zu einem vollkommen anderen Resultat. 2970 Sobald man anfängt, jede Erscheinung für sich zu untersuchen und ihren Geltungsbereich festzulegen, muß man die alte Vorstellung durch eine neue ersetzen, 2971 die man folgendermaßen umschreiben kann: Es gibt nur natürliche dialektale Merkmale, es gibt keine natürlichen Dialekte. 2972 Oder was auf das Gleiche hinausläuft: Es gibt ebensoviele Dialekte wie Ortschaften. 226 * 2973 So erweist sich letztlich der Begriff des natürlichen Dialekts als inkompatibel mit demjenigen einer mehr oder weniger ausgedehnten Region. 2974 Man hat die Wahl: Entweder definiert man einen Dialekt über die Gesamtheit seiner Merkmale, und dann muß man sich auf einen einzigen Punkt auf der Karte festlegen und sich auf die Sprache einer einzigen Ortschaft beschränken. Oder aber man definiert den Dialekt über ein einziges seiner Charakteristika; dann erhält man natürlich einen Raum, nämlich denjenigen, der dem Verbreitungsgebiet des gewählten Merkmals entspricht, aber es erübrigt sich eigentlich darauf hinzuweisen, daß das ein Kunstgriff ist und die so gezogenen Grenzen keiner dialektalen Realität entsprechen. 2975 Die Erforschung der Dialektmerkmale war der Ausgangspunkt für die sprachgeographischen Arbeiten, deren Modell der Atlas linguistique de la France von Jules Gilliéron ist; überdies wäre noch der deutsche Sprachatlas von Georg Wenker zu erwähnen ( 146 ). 2976 Die Form des Atlas drängt sich geradezu auf, denn man ist gezwungen, das Land Region für Region zu untersuchen, und für jede von ihnen kann eine Karte nur eine beschränkte Anzahl von dialektalen Merkmalen festhalten; die gleiche Region muß immer wieder neu untersucht werden, um schließlich eine Gesamtvorstellung von ihren phonetischen, lexikalischen 147 , morphologischen usw. Eigenheiten zu vermitteln. 2977 Derartige Untersuchungen setzen eine umfassende Organisation voraus, verlangen systematische Erhebungen, die mithilfe von Fragebüchern, mit Unterstützung von lokalen Korrespondenten usw. realisiert werden. 2978 In diesem Zusammenhang soll auch auf die Aufnahme der Mundarten der französischsprachigen ( 146 ) 2980 Cf. ferner noch G USTAV W EIGAND , Linguistischer Atlas des dakorumänischen Sprachgebietes (1909) und G EORGES M ILLARDET , Petit atlas linguistique d ’ une région des Landes (1910). (Ed.) 147 Für den Ersatz von lexicologique durch lexikalisch in der Übersetzung cf. oben, N104 zu 2117. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 205 Schweiz hingewiesen werden. 2979 Einer der Vorteile der Sprachatlanten ist, daß sie Material für dialektologische Arbeiten bereitstellen; zahlreiche Dialektmonographien, die in der letzten Zeit erschienen sind, fußen auf dem Atlas von Gilliéron. 227 * 2981 Man hat die Grenzen der dialektalen Merkmale isoglossische Linien oder Isoglossen genannt; dieser Ausdruck ist nach dem Muster von Isotherme gebildet; aber er ist unklar und unangemessen, denn er bedeutet ‘ der die gleiche Sprache hat ’ . Wenn man Glossem mit der Bedeutung ‘ idiomatisches Merkmal ’ zuläßt, würde man besser von isoglossematischen Linien sprechen, wenn denn dieser Ausdruck akzeptabel wäre; aber wir ziehen es vor, von Innovationswellen zu sprechen und damit ein Bild aufzunehmen, das auf Johannes Schmidt zurückgeht und dessen Verwendung wir im folgenden Kapitel rechtfertigen werden. 228 * 2982 Wenn man eine Sprachkarte betrachtet, so sieht man manchmal zwei oder drei Wellen mehr oder weniger zusammenfallen, ja streckenweise sogar verschmelzen: 2983 Es ist offensichtlich, daß zwei Punkte A und B, zwischen denen eine Zone dieser Art liegt, eine gewisse Zahl von Unterschieden aufweisen und zwei deutlich unterscheidbare Dialekte darstellen. 2984 Es kommt auch vor, daß diese Konkordanzen nicht nur partieller Natur sind, sondern das ganze Gebiet von zwei oder mehr Geltungsbereichen betreffen: Wenn diese Konkordanzen von hinreichender Zahl sind, kann man annäherungsweise von einem Dialekt sprechen. 2985 Sie erklären sich aufgrund von sozialen, politischen, religiösen usw. Gegebenheiten, von denen wir hier vollkommen abstrahieren; sie verschleiern - ohne sie je vollkommen zu verdecken - die primäre und natürliche Erscheinung der Ausdifferenzierung unabhängiger Geltungsbereiche. 2986 § 4. - Die Sprachen kennen keine natürlichen Grenzen 2987 Es ist schwer zu sagen, worin der Unterschied zwischen einer Sprache und einem Dialekt besteht. 2988 Oft wird eine Dialekt Sprache genannt, weil er eine Literatur hervorgebracht hat; dies trifft z. B. für das Portugiesische und das Niederländische zu. Die Frage der Interkomprehension spielt ebenfalls eine Rolle; man sagt gerne von zwei Personen, die sich nicht verstehen, sie würden zwei verschiedene Sprachen sprechen. 2989 Wie dem auch immer sei: Sprachen, die sich auf einem zusammenhängenden Gebiet innerhalb von seßhaften Bevölkerungen entwickelt haben, erlauben die Feststellung der gleichen Erscheinungen wie die 206 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft Dialekte, nur in größerem Maßstab. Man findet auch in diesem Fall die Innovationswellen, nur betreffen sie ein mehrere Sprachen umfassendes gemeinsames Gebiet. 2990 Unter den Idealbedingungen, die wir angenommen haben, kann man zwischen Sprachen ebensowenig Grenzen ziehen wie zwischen Dialekten; die Ausdehnung des Gebietes spielt keine Rolle. 2991 Ebensowenig wie man sagen kann, wo das Hochdeutsche aufhört und das Plattdeutsche beginnt, ist es möglich, eine Grenzlinie zwischen dem Deutschen und dem Niederländischen zu ziehen, zwischen dem Französischen und dem Italienischen. 2992 Es gibt Extrempunkte, wo man mit Sicherheit sagen kann: «Hier haben wir es mit dem Französischen, hier mit dem Italienischen zu tun»; aber sobald es um die Zwischengebiete geht, verwischt sich diese [saubere] Unterscheidung. 2993 Die Annahme eines begrenzteren Gebietes mit kompaktem Charakter als Übergangszone, wie z. B. das Okzitanisch 148 zwischen dem Französischen und dem Italienischen, ist auch nicht realitätsnäher. 2994 Überhaupt: Wie soll man sich eigentlich in der einen oder andern Form eine scharfe Sprachgrenze in einem Gebiet vorstellen, das vom einen zum andern Ende nur aus graduell verschiedenen Dialekten besteht? 2995 Die Sprachgrenzen gehen darin in den Übergängen unter genauso wie die Dialektgrenzen. 2996 Genau wie die Dialekte nur willkürliche Untergliederungen der Gesamtfläche einer Sprache sind, so ist die Grenze, die angeblich zwei Sprachen voneinander trennt, rein konventionell. 2997 Und trotzdem sind die abrupten Übergänge von einer Sprache zu einer anderen sehr häufig: Woher rühren sie? Daher, daß ungünstige Gegebenheiten das Überleben der sanften Übergänge verhindert haben. 2998 Der größte Störfaktor ist die Wanderung von Völkern. Es hat immer Bevölkerungsverschiebungen gegeben. Im Lauf der Jahrhunderte haben sie sich aufsummiert und so alles durcheinandergebracht, und an zahlreichen Orten ist die Erinnerung an die sprachlichen Übergänge verlorengegangen. 2999 Die indogermanische Sprachfamilie ist dafür ein typisches Beispiel. 3000 Diese Sprachen haben zu Beginn in sehr enger Beziehung zueinander stehen müssen und bildeten eine lückenlose Kette von Sprachräumen, von denen wir die wichtigsten in groben Zügen rekonstruieren können. 3001 Hinsichtlich seiner Charakteristika berührt sich das Slawische mit dem Iranischen und dem Germanischen, was auch der geographischen Verteilung dieser Sprachen entspricht. Das Germanische seinerseits kann als ein Bindglied zwischen dem Slawischen und dem Keltischen angesehen werden, das wiederum sehr enge Beziehungen zum Italischen hat. Dieses wiederum ist das Bindeglied zwischen dem Keltischen und dem Griechischen. Das läuft darauf hinaus, daß ein Linguist - ohne die geographische Lage all dieser Idiome zu kennen - ohne Zögern jedem von ihnen den ihm zukommenden Platz zuweisen könnte. 3002 Und trotzdem: Sobald wir die Grenze zwischen zwei Sprachgruppen ins Auge fassen, z. B. die germano-slawische, stellen wir einen plötzlichen Sprung ohne jeden fließenden Übergang fest; die beiden Idiome prallen aufeinander ohne sich zu durchdringen. Grund dafür ist die Tatsache, daß die Übergangsdialekte verschwunden sind. Weder die Slawen noch die Germanen sind seßhaft geblieben; sie sind ausgewandert und haben, die einen auf Kosten der andern, Gebiete erobert; die slawischen und germanischen Bevölkerungen, die heute benachbart sind, sind nicht diejenigen, die ursprünglich miteinander in Kontakt standen. 3003 Angenommen, die Italiener aus Kalabrien würden sich an der Grenze zu Frankreich niederlassen, so würde diese Bevölkerungsverschiebung den unmerklichen Übergang zwischen Italienisch und Französisch zerstören, den wir festgestellt haben. Das Indogermanische konfrontiert uns mit einer Fülle entsprechender Ereignisse. 3004 Aber es gibt auch noch andere Faktoren, die dazu beitragen, die Übergänge zum Verschwinden zu bringen, z. B. die Ausbreitung der Gemeinsprachen auf Kosten der Dialekte 148 Für die Wiedergabe von provençal durch Okzitanisch cf. oben, N142 zu 2933. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 207 (cf. 2908ss.). Heute stößt das literarische Französisch (das alte Idiom der Île-de-France) an der Grenze auf das offizielle Italienisch (den generalisierten toskanischen Dialekt), und es ist ein glücklicher Zufall, daß man noch Übergangsdialekte in den Westalpen findet, während an vielen anderen Sprachgrenzen jede Erinnerung an die Übergangsdialekte getilgt worden ist. 3005 Kapitel 4 Die Ausbreitung der sprachlichen Innovationen 229 * 3006 § 1. - Macht des Austausches ( 149 ) und Kirchturmperspektive 230 * 3008 Die Verbreitung sprachlicher Erscheinungen unterliegt den gleichen Gesetzen wie jede beliebige andere Gewohnheit, z. B. die Mode. 3009 In jeder menschlichen Gemeinschaft sind ständig zwei Kräfte wirksam, die in entgegengesetzte Richtung zielen: einerseits der Geist des Partikularismus, die «Kirchturmperspektive»; andererseits das Austauschbedürfnis, das die Kommunikation zwischen den Menschen begründet. 3010 Dank der Kirchturmperspektive bleibt eine begrenzte Sprachgemeinschaft den Traditionen treu, die sich in ihrem Rahmen herausgebildet haben. 3011 Diese Gewohnheiten sind die ersten, die jedes Individuum in seiner Kindheit übernimmt; daraus resultiert ihre Kraft und ihre Beständigkeit. 3012 Wenn nur sie wirksam wären, hätten sie im Bereich der Sprache eine endlose Partikularisierung zur Folge. 3013 Aber ihre Effekte werden korrigiert durch die Wirkung der entgegengesetzten Kraft. Die Kirchturmperspektive bewirkt die Seßhaftigkeit der Menschen, die Notwendigkeit des Austausches zwingt sie, unter sich zu kommunizieren. 3014 Es ist der Austausch, der Durchreisende aus anderen Ortschaften in ein Dorf bringt, der aus Anlaß eines Festes oder eines Jahrmarktes einen Teil der Bevölkerung ihr Dorf verlassen läßt, der unter den Fahnen die Männer aus verschiedenen Provinzen vereinigt, usw. 3015 In einem Wort: Der Austausch ist ein einigendes Prinzip, das der fragmentierenden Wirkung der Kirchturmperspektive entgegensteht. 3016 Es ist der Austausch, dem wir die Ausdehnung und die Kohäsion einer Sprache verdanken. 3017 Er wirkt auf zwei Arten: bald negativ, indem er die dialektale Aufsplitterung abblockt in dem Moment, wo eine Innovation sich an einem bestimmten Punkt ankündigt; bald positiv, indem er die Einheit fördert durch die Annahme und Weitergabe dieser Innovation. 3018 Es ist diese zweite Form des Austausches, die die Bezeichnung Welle für die geographischen Grenzen einer dialektalen Erscheinung rechtfertigt (cf. 2981); die Isoglosse ist eine Art äußerer Rand einer Überschwemmung, die sich ausbreitet, die sich aber auch wieder zurückziehen kann. 3019 Manchmal stellt man erstaunt fest, daß zwei Dialekte ein und derselben Sprache, aber in weit voneinander entfernten Regionen, einen gemeinsamen sprachlichen Zug aufweisen. 3020 Das rührt daher, daß der Wandel, der zuerst an einem bestimmten Punkt des Gebietes ( 149 ) Bei Saussure force d ’ intercourse, das von den Herausgebern folgendermaßen kommentiert wird: 3007 Wir waren der Meinung, diesen pittoresken Ausdruck des Verfassers beibehalten zu müssen, obwohl er aus dem Englischen entlehnt ist (intercourse, ausgesprochen interkors ‘ soziale Beziehungen, Handel, Kommunikation ’ ) und im Rahmen der theoretischen Erörterungen weniger angemessen scheint als in demjenigen der mündlichen Erklärung. (Ed.) Wir sind mit unserer Übersetzung nicht glücklich, aber eine Übernahme von engl. intercourse im Deutschen scheint uns nicht möglich. 208 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft aufgetreten ist, bei seiner Ausbreitung auf kein Hindernis gestoßen ist und sich nach und nach sehr weit über seinen Ausgangspunkt hinaus ausgedehnt hat. Nichts steht der Wirkung des Austausches in einem sprachlichen Gemenge entgegen, in dem es nur kaum spürbare Übergänge gibt. 3021 Diese Generalisierung einer partikulären Erscheinung benötigt Zeit, und dies unabhängig von ihrer Ausdehnung; und diese Zeit läßt sich manchmal messen. 3022 So hat sich der Wandel von þ zu d, den der Austausch letztlich über den ganzen deutschen Sprachraum verbreitet hat, zuerst zwischen 800 und 850 im Süden breit gemacht, ausgenommen das Fränkische, wo þ zunächst in der weichen Form đ fortbesteht und erst später d Platz macht. 3023 Der Wandel von t zu z (ausgesprochen ts) hat sich in noch engeren Grenzen vollzogen und seinen Anfang zu einer Zeit genommen, die noch vor den ersten schriftlichen Dokumenten liegt; er muß gegen 600 vom Alpenraum ausgegangen sein und sich gleichzeitig nach Norden und nach Süden, in die Lombardei, verbreitet haben. 3024 Das t findet sich noch in einem thüringischen Dokument des 8. Jahrhunderts. 3025 In einer weniger weit zurückliegenden Epoche sind germanisches ī und ū zu Diphthongen geworden (cf. mein für m ī n, braun für br ū n); gegen 1400 von Böhmen ausgegangen, hat das Phänomen 300 Jahre gebraucht, um bis an den Rhein zu gelangen und den heutigen Geltungsbereich abzudecken. 3026 Diese sprachlichen Erscheinungen haben sich über [eine Art] Ansteckung ausgebreitet, und es ist wahrscheinlich, daß dies auch für alle andern sprachlichen Innovationen gilt; sie strahlen von einem bestimmten Punkt aus. Dies führt uns zu einer zweiten wichtigen Feststellung. 3027 Wir haben gesehen, daß der Faktor Zeit genügt, um die geographische Diversifikation zu erklären. 3028 Aber dieses Prinzip hat seine volle Gültigkeit nur dann, wenn man den Entstehungsort der Innovation im Visier hat. 3029 Kehren wir zu unserem Beispiel der deutschen Konsonantenverschiebung zurück. 3030 Wenn an einem bestimmten Punkt des germanischen Sprachraums t zu ts wird, hat der neue Laut Tendenz, rings um seinen Ursprungspunkt abzustrahlen, und es ist aufgrund dieser räumlichen Verbreitung, daß er in Konflikt gerät mit dem ursprüngliche t oder mit anderen Lauten, die an anderen Punkten daraus hervorgegangen sind. 3021 An ihrem Entstehungsort ist eine derartige Neuerung ein rein phonetisches Phänomen; aber andernorts etabliert sie sich nur aufgrund geographischer Verbreitung und Ansteckung. 3032 So ist das Schema t ↓ ts in seiner ganzen Einfachheit nur für den Innovationsbrennpunkt gültig; würde man es auf die Ausdehnung anwenden, ergäbe sich daraus eine unangemessene Darstellung. 3033 Der Phonetiker wird somit sorgfältig zwischen dem Innovationsbrennpunkt, wo ein Phonem sich einzig auf der Zeitachse verändert, und den Ansteckungsbereichen unterscheiden, die gleichzeitig in Abhängigkeit von Zeit und Raum zu sehen sind und in der Theorie der rein phonetischen Phänomene keine Rolle spielen dürfen. 3024 In dem Moment, wo ein ts, das von außen gekommen ist, ein t ersetzt, handelt es sich nicht mehr um die Veränderung eines traditionellen Prototypen, sondern um die Imitation eines Nachbardialekts ohne Rücksichtsnahme auf den Prototypen. Wenn eine Form herza ‘ Herz ’ , die aus den Alpen stammt, in Thüringen das archaischere herta ersetzt, darf man nicht von einem Lautwandel sprechen; es handelt sich um die Entlehnung eines Phonems. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 209 3035 § 2. - Rückführung der beiden Kräfte auf ein einziges Prinzip 3036 An einem gegebenen Punkt eines Sprachgebiets - wir verstehen darunter eine minimale Fläche, die einem Punkt gleichgesetzt werden kann (cf. 2973 s.), ein Dorf zum Beispiel - ist es sehr einfach zu unterscheiden, was der einen oder andern der beiden einander gegenüberstehenden Kräfte zuzuordnen ist, der Kirchturmperspektive und dem Austausch; jeder mit einem andern Dialekt gemeinsame Zug beruht auf dem Austausch; jeder Zug, der nur dem Dialekt des betrachteten Punktes eignet, geht auf die Kirchturmperspektive zurück. 3037 Aber sobald es sich um eine größere Fläche, z. B. einen Kanton 150 handelt, taucht eine neue Schwierigkeit auf: Man kann nicht mehr sagen, welchem der beiden Faktoren ein Phänomen zuzuordnen ist; obwohl zueinander in Oppositon stehend, sind beide bei jedem Merkmal des Idioms impliziert. 3038 Was für einen Kanton A differenzierend ist, ist allen seinen Teilen gemeinsam. Da ist einmal die partikularisierende Kraft am Werk, die diesem Kanton untersagt, etwas aus dem benachbarten Kanton nachzuahmen, und umgekehrt auch B verbietet, A zu imitieren. Aber die vereinigende Kraft, der Austausch, ist ebenfalls im Spiel, denn sie wirkt zwischen den verschiedenen Teilen von A (A 1 , A 2 , A 3 usw.). 3039 So wirken also im Falle einer Fläche beide Kräfte gleichzeitig, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Je mehr der Austausch eine Innovation begünstigt, umso mehr dehnt sich ihr Bereich aus; was die Kirchturmperspektive angeht, so beschränkt sich ihre Wirkung darauf, eine sprachliche Gegebenheit in dem Gebiet zu bewahren, das sie sich erobert hat, indem sie sie gegen die Konkurrenz von außen verteidigt. Es ist unmöglich vorherzusehen, was sich aus dem Wirken der beiden Kräfte ergeben wird. 3040 Wir haben 3022 gesehen, daß im germanischen Raum der Übergang von þ zu d generellen Charakter hat, während der Wandel von t zu ts (z) nur den Süden betrifft. Die Kirchturmperspektive ist für eine Opposition zwischen dem Süden und dem Norden verantwortlich; aber innerhalb dieser Grenzen haben wir dank dem Austausch eine sprachliche Solidarität. 3041 Im Grunde genommen gibt es somit keinen grundlegenden Unterschied zwischen diesem zweiten Phänomen und dem ersten. Die gleichen Kräfte stehen sich gegenüber; nur ihre Wirkung ist von unterschiedlicher Intensität. 3042 Dies bedeutet in der Praxis, daß bei der Untersuchung der Sprachentwicklung in einem größeren Raum von der partikularisierenden Kraft abstrahiert werden kann, oder - was auf das Gleiche hinausläuft - daß man sie als den negativen Aspekt der vereinigenden Kraft betrachtet. 3043 Wenn diese stark genug ist, wird sie die Einheit über das ganze Gebiet durchsetzen; wenn nicht, wird die Erscheinung irgendwo auf ihrem Weg Halt machen und so nur einen Teil des Gebietes abdecken. Dieses Teilgebiet wird aber deshalb nicht weniger ein kohärentes Ganzes in bezug auf seine eigenen Teile darstellen. 3044 Aus diesem Grunde kann man alles auf die vereinigende Kraft zurückführen, ohne auf die Kirchturmperspektive zurückgreifen zu müssen, denn diese ist nichts anderes als die einigende Kraft, die jeder Region zukommt. 3045 § 3. - Die sprachliche Differenzierung in isolierten Gebieten 3046 Wenn man erst einmal erkannt hat, daß in einem einsprachigen Raum die Kohäsion je nach den betroffenen Erscheinungen variiert, daß die Innovationen nicht alle verallgemeinert werden, daß die geographische Geschlossenheit ständige Ausdifferenzierungen nicht ver- 150 Mit canton/ Kanton bezieht sich Saussure wohl auf die schweizerischen Verhältnisse; auf Frankreich bezogen müßte man wohl von Provinz sprechen, im Falle von Deutschland von Land. - Cf. auch die nachfolgenden Verwendungen von canton/ Kanton. 210 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft hindert, erst dann kann man das Problem einer Sprache angehen, die sich auf zwei voneinander isolierten Gebieten parallel entwickelt. 3047 Dieses Phänomen ist sehr häufig: Von dem Moment an, wo das Germanische vom Kontinent auf die Britischen Inseln vorgestoßen ist, hat sich seine Entwicklung gewissermaßen gedoppelt; auf der einen Seite die deutschen Dialekte; auf der anderen Seite das Angelsächsische, aus dem sich das Englische entwickelt hat. 3048 Weiter kann man das Französische anführen, das nach Kanada verpflanzt worden ist. 3049 Die Diskontinuität ist nicht immer die Folge einer Kolonisierung oder einer Eroberung; sie kann sich auch aus einer Isolierung ergeben: Das Rumänische hat den Kontakt mit dem lateinischen Hauptgebiet aufgrund des Vorstoßes der slawischen Völker verloren. 3050 Die Ursache ist übrigens nebensächlich; die Frage ist vor allem, ob die Trennung eine Rolle spielt in der Geschichte der Sprachen und ob sie andere Effekte zeitigt als diejenigen, die bei räumlicher Kontiuität auftreten. 3051 Um die herausragende Rolle des Zeitfaktors zu verdeutlichen, haben wir weiter oben ein Idiom angenommen, das sich parallel an zwei Punkten ohne nennenswerte Ausdehnung entwickelt, zum Beispiel auf zwei kleinen Inseln, wo keiner Ausbreitung von einem Ort zum andern Rechnung zu tragen ist. 3052 Aber sobald es um zwei Gebiete von einer gewissen Ausdehnung geht, taucht dieses Phänomen wieder auf und zieht dialektale Differenzierungen nach sich, so daß das Problem gegenüber den Gegebenheiten in einem zusammenhängenden Raum in keinster Weise vereinfacht ist. Man muß sich davor hüten, der Trennung Dinge anzulasten, die sich auch ohne sie erklären lassen. 3053 Genau das ist der Irrtum, 3054 den die ersten Indogermanisten begangen haben (cf. 17ss.). Angesichts einer großen Familie von Sprachen, die im Laufe der Zeit sehr verschieden voneinander geworden sind, glaubten sie, dies habe sich nur aufgrund der geographischen Aufsplitterung ergeben können. 3055 Es ist einfacher, sich unterschiedliche Sprachen an getrennten Orten vorzustellen, und für einen oberflächlichen Betrachter ist dies die notwendige und hinreichende Erklärung für die Ausdifferenzierung. 3056 Und das ist nicht alles: Man verknüpfte den Begriff der Sprache mit demjenigen der Nationalität, wobei der eine den anderen erklären sollte. 3057 So stellte man sich die Slawen, die Germanen, die Kelten usw. als eine entsprechende Anzahl von Bienenschwärmen vor, die ihren Ursprung im selben Bienenstock haben; diese durch Wanderung von ihrem Ursprung getrennten Völker hätten das Gemeinindogermanische in ebenso viele verschiedene Gebiete gebracht. 3058 Man ist sich dieses Irrtums erst recht spät bewußt geworden. 1877 öffnete Johannes Schmidt mit seiner Studie Die Verwandtschaftsverhältnisse der Indogermanen 151 den Linguisten die Augen, indem er die Kontinuitätstheorie oder Wellentheorie auf den Weg brachte. 3059 Man erkannte, daß die Aufsplitterung am Ort vollkommen ausreichte, um die gegenseitigen Beziehungen zwischen den indogermanischen Sprachen zu erklären, und daß keine Notwendigkeit für die Annahme bestand, die verschiedenen Völker hätten ihre ursprünglichen Gebiete verlassen (cf. 2999ss.); dialektale Differenzierungen können und müssen aufgetreten sein, bevor sich die Völker in unterschiedliche Richtungen bewegten. 3060 So liefert uns die Wellentheorie nicht nur ein angemesseneres Bild von der Vorgeschichte des Indogermanischen; sie verschafft uns auch Einblick in die grundlegenden Gesetze aller Differenzierungserscheinungen und in die den Sprachverwandtschaften zugrundeliegenden Bedingungen. 3061 Aber diese Wellentheorie steht im Konflikt mit der Theorie der Wanderungen, 3062 allerdings ohne sie zwingend auszuschließen. Die Geschichte der indogermanischen 151 Der korrekte Titel ist Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen, das korrekte Erscheinungsjahr 1872. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 211 Sprachen liefert uns zahlreiche Beispiele von Völkern, die sich durch Wanderung von der Hauptfamilie getrennt haben, 3063 und dieses Ereignis mußte besondere Folgen haben; 3064 aber diese Effekte ergänzen diejenigen der Differenzierung in der räumlichen Kontinuität, und es ist sehr schwierig zu sagen, worin sie bestehen; und dies führt uns wieder zurück zum Problem der Entwicklung eines Idioms in getrennten Gebieten. 3065 Nehmen wir das Altenglische. Es hat sich vom germanischen Stamm aufgrund einer Wanderung getrennt. Es ist wahrscheinlich, daß es nicht seine gegenwärtige Form hätte, wenn die Sachsen im 5. Jahrhundert auf dem Kontinent geblieben wären. Aber welches waren die spezifischen Folgen dieser Trennung? Um dies zu beurteilen, müßte man sich zuerst fragen, ob dieser oder jener Wandel sich nicht ebenso gut im Rahmen der geographischen Kontinuität hätte ereignen können. 3066 Nehmen wir an, die Angeln hätten Jütland besetzt, und nicht die britischen Inseln; kann man behaupten, daß irgendeine der Veränderungen, die man der absoluten Trennung zuschreibt, nicht aufgetreten wäre unter der Hypothese des zusammenhängenden Gebietes? 3067 Wenn man sagt, die Diskontinuität habe es dem Englischen erlaubt, das alte þ zu bewahren, während dieser Laut auf dem ganzen Kontinent zu d wurde (Beispiel: englisch thing und deutsch Ding), dann ist das wie wenn man behauptete, dieser Wandel habe sich im Kontinentalgermanischen dank des geographischen Zusammenhangs durchgesetzt, und dies, obwohl diese Verallgemeinerung trotz der Kontinuität durchaus hätte scheitern können. 3068 Der Irrtum beruht - wie immer - darauf, daß man den isolierten Dialekt den Dialekten in der Kontinuität gegenüberstellt. 3069 In der Tat aber beweist nichts, daß eine englische Kolonie in Jütland der Ansteckung des d erlegen wäre. 3070 Wir haben z. B. auf dem französischen Sprachgebiet gesehen, daß k (+ a) in einem aus der Pikardie und der Normandie bestehenden Dreieck erhalten geblieben ist, während es sonst überall zu dem Zischlaut š (ch) geworden ist. 3071 So bleibt die Erklärung [von Sprachwandelphänomenen] durch die Isolierung ungenügend und oberflächlich. Es ist nie zwingend nötig, auf sie zurückzugreifen, um eine sprachliche Differenzierung zu erklären. Was die Isolierung bewirken kann, das kann auch die geographische Kontinuität leisten; wenn es trotzdem einen Unterschied zwischen den beiden Klassen von Erscheinungen gibt, dann kriegen wir ihn leider nicht in den Griff. 3072 Wenn man dagegen zwei verwandte Idiome nicht mehr unter dem negativen Aspekt der Differenzierung betrachtet, sondern unter dem positiven Aspekt ihrer Solidarität, stellt man fest, daß in der Isolierung jede Beziehung vom Moment der Trennung an virtuell unterbrochen ist, während in der geographischen Kontinuität selbst bei deutlich verschiedenen Dialekten eine gewisse Solidarität weiterhin besteht, vorausgesetzt es gibt eine Verbindung dank Übergangsdialekten. 3073 Um die Verwandschaftsgrade zwischen Sprachen beurteilen zu können, muß man zwischen Kontinuität und Isolierung unterscheiden. 3074 Im letzteren Fall bewahren die beiden Idiome von ihrer gemeinsamen Vergangenheit eine gewisse Anzahl von Zügen, die ihre Verwandtschaft beweisen, aber da jedes von ihnen sich unabhängig weiterentwickelt hat, finden sich die auf der einen Seite neu aufgetretenen Züge auf der anderen Seite nicht wieder (einmal den Fall ausgenommen, wo nach der Trennung entstandene Merkmale durch Zufall in beiden Idiomen identisch sind). Was auf jeden Fall ausgeschlossen ist, ist die Vermittlung dieser Merkmale durch Ansteckung. 3075 Allgemein kann man festhalten, daß eine Sprache, die sich in der geographischen Diskontinuität entwickelt hat, gegenüber den verwandten Sprachen einen Komplex von Zügen aufweist, die nur ihr eignen, und wenn diese Sprache sich ihrerseits aufspaltet, bezeugen die daraus resultierenden Dialekte durch gemeinsame Züge, daß die verwandtschaftlichen Bande zwischen ihnen enger sind als diejenigen mit den Dialekten des andern Gebietes. Sie bilden tatsächlich einen eigenen, vom Stamm abgetrennten Zweig. 212 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 3076 Ganz anders sind die Beziehungen zwischen Sprachen auf einem zusammenhängenden Gebiet; die gemeinsamen Züge, die sie verbinden, sind nicht zwingend älter als diejenigen, die sie voneinander unterscheiden. Tatsächlich kann jederzeit eine von einem beliebigen Punkt ausgehende Innovation sich ausgebreitet und sogar das gesamte Gebiet erobert haben. 3077 Da die Innovationsgebiete hinsichtlich ihrer Ausdehnung von Fall zu Fall variieren, können überdies zwei benachbarte Idiome eine gemeinsame Besonderheit aufweisen ohne eine eigene Gruppe innerhalb des Ganzen zu bilden, und jedes von ihnen kann durch andere Merkmale mit den angrenzenden Idiomen verbunden sein, wie das die indogermanischen Sprachen bezeugen. 3078 Fünfter Teil: Fragen der retrospektiven Linguistik. Schluß 3079 Kapitel 1 Die beiden Perspektiven der diachronischen Linguistik 231 * 3080 Während die synchronische Sprachwissenschaft nur eine einzige Perspektive zuläßt, nämlich diejenige der Sprecher, und demzufolge auch nur eine einzige Methode, 3081 kennt die diachronische Sprachwissenschaft gleichzeitig eine prospektive Perspektive, die dem Lauf der Zeit folgt, und eine retrospektive Perspektive, die diesem entgegenläuft (cf. 1505 s.). 3082 Die erste entspricht dem tatsächlichen Lauf der Ereignisse; es ist diese Sichtweise, die man notwendigerweise anwendet, um ein beliebiges Kapitel der historischen Sprachwissenschaft zu schreiben, um irgendeinen Punkt der Geschichte einer Sprache darzustellen. 3083 Die Methode besteht einzig darin, die Zeugnisse zu kontrollieren, über die man verfügt. 3084 Aber in einer großen Zahl von Fällen erweist sich diese Art, diachronische Linguistik zu betreiben, als ungenügend oder als nicht anwendbar. 3085 Tatsächlich müßte man über eine unendliche Anzahl von Photographien verfügen, die von Moment zu Moment aufgenommen wurden, um die Geschichte einer Sprache in all ihren Details entlang dem Zeitenlauf zu erfassen. 3086 Aber diese Bedingung ist nie erfüllt; die Romanisten z. B., die das Privileg haben, den Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen, das Latein, zu kennen, und die über eine imposante Menge von Dokumenten verfügen, die einer langen Reihe von Jahrhunderten angehören, stellen immer wieder enorme Lücken in ihrem Belegmaterial fest. 3087 Dann muß man auf die prospektive Methode und das direkte Dokument verzichten und die gegenteilige Richtung einschlagen, d. h. durch Retrospektion den Zeitenlauf rückwärts aufrollen. 3088 Bei diesem zweiten Ansatz versetzt man sich in eine bestimmte Epoche, aber nicht um herauszufinden, was aus einer gegebenen Form werden wird, sondern vielmehr, welches die ältere Form ist, aus der sie entstanden ist. 3089 Während die Prospektion auf eine einfache Nacherzählung hinausläuft und vollkommen auf der kritischen Untersuchung der Zeugnisse beruht, verlangt die Retrospektion eine rekonstruktive Methode, die auf dem Vergleich basiert. 3090 Man kann die ursprüngliche Form eines einzigen und isolierten Zeichens nicht ermitteln, 3091 während zwei verschiedene Zeichen gleichen Ursprungs wie lateinisch pater und sanskrit pitar-, oder etwa der Stamm von lateinisch gerō und derjenige von ges-tus aufgrund ihres Vergleichs bereits die diachronische 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 213 Einheit erahnen lassen, die jeweils beide an einen Prototypen zurückbindet, der auf induktivem Wege rekonstruiert werden kann. 3092 Je größer die Zahl der verglichenen Einheiten ist, um so präziser werden diese Induktionsschlüsse sein, und sie können - wenn die Gegebenheiten es erlauben - zu eigentlichen Rekonstruktionen gedeihen. 3093 Das Gleiche gilt für die Sprachen in ihrer Gesamtheit. 3094 Mit dem Baskischen kann man nichts anfangen, denn da es isoliert ist, ist kein Vergleich möglich. 3095 Aber in einem Bündel von verwandten Sprachen wie dem Griechischen, dem Lateinischen, dem Altslawischen usw. hat man mithilfe des Vergleichs die ihnen gemeinsamen ursprünglichen Elemente herausarbeiten und so im wesentlichen das Indogermanische rekonstruieren können, wie es vor seiner Ausdifferenzierung im Raum existierte. Und was man im Großen für die Sprachfamilie als Ganzes gemacht hat, hat man mit der gleichen Methode in reduzierten Dimensionen für jeden ihrer Teile dort wiederholt, wo es notwendig und möglich war. 3096 Die zahlreichen germanischen Idiome z. B. sind direkt bezeugt aufgrund von Dokumenten, aber das Gemeingermanische, auf das die verschiedenen Idiome zurückgehen, kennen wir nur indirekt aufgrund der retrospektiven Methode. 3097 Mit der gleichen Methode haben die Linguisten mit unterschiedlichem Erfolg auch nach der ursprüngliche Einheit anderer Sprachfamilien gesucht (cf. 2960ss.). 3098 Die retrospektive Methode erlaubt es uns somit, in die Vergangenheit einer Sprache vorzudringen, die jenseits der ältesten Dokumente liegt. 3099 So beginnt die prospektive Geschichte des Lateinischen kaum vor dem 3. oder 4. Jahrhundert v. Chr.; aber die Rekonstruktion des Indogermanischen hat es erlaubt, eine Vorstellung von dem zu gewinnen, was sich in dem Zeitraum abgespielt hat, der zwischen der ursprünglichen Einheit und den ersten bekannten lateinischen Dokumenten liegt, und erst anschließend hat man die prospektive Darstellung entwerfen können. 3100 In dieser Hinsicht ist die evolutive Linguistik mit der Geologie vergleichbar, die ebenfalls eine historische Wissenschaft ist; es kommt vor, daß sie stabile Zustände beschreibt (z. B. den gegenwärtigen Zustand des Genferseebeckens), indem sie von all dem abstrahiert, was in der Zeit vorangegangen ist; aber sie beschäftigt sich vor allem mit Ereignissen und Veränderungen, deren Abfolgen Diachronien bilden. 3101 Man kann nun theoretisch eine prospektive Geologie konzipieren, aber in der Wirklichkeit und meistens kann die Perspektive nur retrospektiver Natur sein; bevor man erzählen kann, was sich an einem bestimmten Punkt der Erde ereignet hat, ist man gezwungen, die Kette der Ereignise zu rekonstruieren und herauszuarbeiten, was in diesem Teil des Globus zum gegenwärtigen Zustand geführt hat. 3102 Es ist nicht nur die Methode der beiden Perspektiven, die sich grundlegend unterscheidet; auch in didaktischer Hinsicht ist es wenig ratsam, sie gleichzeitig in ein und derselben Darstellung zu verwenden. 3103 So führt die Untersuchung der Lautveränderungen zu zwei sehr unterschiedlichen Darstellungen je nachdem, ob man auf die eine oder die andere Weise vorgeht. 3104 Arbeitet man prospektiv, wird man sich z. B. fragen, was aus dem klassischlateinischen ĕ im Französischen geworden ist; man wird dann feststellen, daß ein einziger Laut sich in der zeitlichen Entwicklung diversifiziert und zu mehreren Phonemen führt: cf. p ĕ dem → py ẹ (pied), ve ˇ ntum → v- (vent), l ĕ ctum → li (lit), n ĕ care → nway ẹ (noyer), usw.; wenn man dagegen auf retrospektive Weise darnach sucht, was einem offenen französischen ę im Lateinischen entspricht, wird man feststellen, daß ein einziger Laut das Ergebnis von mehreren ursprünglich verschiedenen Lauten ist: cf. t ę r (terre) = t ĕ rram, v ę r ž (verge) = virgam, f ę (fait) = factum usw. 3105 Die Entwicklung der formativen Elemente könnte ebenfalls auf zwei Arten dargestellt werden, und die beiden Darstellungen wären ebenso unterschiedlich; alles, was wir 2572ss. zu den analogischen Bildungen gesagt haben, beweist dies a priori. 3106 Wenn man z. B. nach dem Ursprung des französischen Partizipialsuffixes -é 214 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft sucht, geht man auf lateinisch ā tum zurück; dieses gehört ursprünglich zu den lateinischen denominativen Verben auf ā re, die ihrerseits großenteils auf feminine Substantive auf -a zurückgehen (cf. plantare : planta, griechisch t ī m ā ́ o : t ī m ā ́ usw.); andererseits würde ā tum nicht existieren, wenn das indogermnische Suffix -tonicht lebendig und produktiv gewesen wäre (cf. griechisch klu-tó-s, lateinisch in-clu-tu-s, sanskrit çru-ta-s, usw.); ā tum beinhaltet überdies das formative Element -m des Akkusativ Singular (cf. 2369ss.). 3107 Wenn man sich umgekehrt fragt, in welchen französischen Bildungen sich das ursprüngliche Suffix -towiederfindet, könnte man nicht nur die (produktiven oder unproduktiven) Suffixe des Partizip Perfekt erwähnen (aimé = lateinisch am ā tum, fini = lateinisch fin ī tum, clos = lateinisch clausum für *claudtum, usw.), aber auch noch zahlreiche andere wie -u = lateinisch ū tum (cf. cornu = corn ū tum), -tif (gelehrtes Suffx) = lateinisch -t ī vum (cf. fugitif = fugit ī vum, sensitif, négatif, usw.), sowie eine Vielzahl von Wörtern, die man nicht mehr zerlegt, wie z. B. point = lateinisch punctum, dé = lateinisch datum, chétif = lateinisch capt ī vum, usw. 3108 Kapitel 2 Die älteste Sprache und die Ursprache 232 * 3109 In ihren Anfängen hat die Indogermanistik weder das wirkliche Ziel des Vergleichs noch die Bedeutung der rekonstitutiven Methode wirklich verstanden (cf. 56ss.). 3110 Dies erklärt einen ihrer auffälligsten Fehler: die übertriebene, ja fast ausschließliche Rolle, die sie dem Sanskrit im Vergleich zuweist; da es sich um das älteste Dokument des Indogermanischen handelt, wurde es zum Prototypen erklärt. 3111 Es ist eines anzunehmen, das Indogermanische sei der Ursprung des Sanskrit, des Griechischen, des Slawischen, des Keltischen, des Italischen, es ist etwas anderes, eine dieser Sprachen an den Platz des Indogermanischen zu setzen. 3112 Dieser schwere Irrtum hat ebenso vielfältige wie tiefgreifende Folgen gehabt. 3113 Sicherlich ist diese Hypothese nie so kategorisch formuliert worden, wie wir es eben getan haben, aber in der Praxis akzeptierte man sie stillschweigend. 3114 Bopp schrieb, er glaube nicht, daß das Sanskrit der gemeinsame Ursprung sein könne, wie wenn es möglich wäre, eine solche Hypothese auch nur zweifelnd zu formulieren. 3115 Dies zwingt sich zu fragen, was man denn damit meint, wenn man sagt, eine Sprache sei archaischer oder älter als eine andere. Drei Interpretation sind theoretisch möglich: 3116 1. Man kann zuerst einmal an die primäre Herkunft, an den Ausgangspunkt einer Sprache denken; aber schon die einfachste Überlegung zeigt, daß es keine Sprache gibt, der man irgendein Alter zuweisen könnte, denn jede ist nur die Fortsetzung dessen, was man vor ihr sprach. 3117 Es verhält sich mit der Sprache nicht so wie mit der Menschheit: Die absolute Kontinuität ihrer Entwicklung macht es unmöglich, in ihr Generationen zu unterscheiden, und Gaston Paris macht sich mit Recht stark gegen die Auffassung von Tochtersprachen und Muttersprachen, denn sie setzt Unterbrechungen voraus. 3118 Es ist somit nicht in diesem Sinne, daß man eine Sprache älter als eine andere nennen kann. 3119 2. Man kann damit auch meinen, daß der Zustand einer Sprache zu einem früheren Zeitpunkt dokumentiert worden ist als derjenige einer anderen. So ist das Persische der achämenidischen Inschriften älter als das Persische des Firdausi. 3120 Solang es sich wie in diesem speziellen Fall um zwei Idiome handelt, von denen eines aus dem anderen hervorgegangen ist, und beide hinreichend bekannt sind, liegt es auf der Hand, daß es nur um das ältere der beiden gehen kann. Aber wenn diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind, ist diese Art von Anciennität wertlos. So ist das Litauische, das erst seit 1540 bezeugt ist, nicht 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 215 weniger wertvoll in dieser Hinsicht als das Paläoslawische, das dem 10. Jahrhundert zugewiesen wird, oder das Sanskrit des Rigveda. 3121 3. Das Wort alt kann schließlich einen archaischeren Zustand einer Sprache bezeichnen, einen Zustand also, dessen Formen - unabhängig von allen Datierungsfragen - dem ursprünglichen Modell näherstehen. 3122 In diesem Sinne könnte man sagen, daß das Litauische des 16. Jahrhunderts älter ist als das Latein des 3. Jahrhunderts v. Chr. 3123 Wenn man das Sanskrit also als älter als andere Sprachen bezeichnet, dann kann dies nur in der zweiten oder dritten Bedeutung sein; und es ist dies auch sowohl im einen wie im anderen Fall. 3124 Einerseits ist unbestritten, daß die vedischen Hymnen älter sind als die ältesten griechischen Texte; andererseits - und dies ist von besonderer Bedeutung - ist die Summe an archaischen Zügen beachtlich im Vergleich zu dem, was andere Sprachen bewahrt haben (cf. 35ss.). 3125 Als Folge dieses reichlich konfusen Altersbegriffs, der aus dem Sanskrit eine Sprache macht, die älter als die ganze Familie ist, fuhren die Linguisten später fort, seinem Zeugnis eine viel zu große Bedeutung beizumessen - und dies, obwohl sie inzwischen von der Idee einer Art Muttersprache geheilt waren und in ihm nur noch eine Sprache neben den andern sahen. 3126 In seinen Origines indo-européennes (cf. 3206ss.) anerkennt Adolphe Pictet zwar ausdrücklich, daß es eine Art Urvolk gegeben haben muß, das seine eigene Sprache sprach, aber er ist nichtsdestoweniger davon überzeugt, daß man vor allem das Sanskrit zu Rate ziehen muß, und daß sein Zeugnis weit wertvoller ist als das von mehreren andern indogermanischen Sprachen zusammengenommen. 3127 Diese falsche Vorstellung hat während langen Jahren den Blick auf Fragen von größter Bedeutung verstellt, wie z. B. diejenige nach dem ursprünglichen Vokalismus. 3128 Dieser Irrtum hat sich im Kleinen und in Detailfragen wiederholt. 3129 Bei der Untersuchung der spezifischen Verästelungen des Indogermanischen neigte man dazu, im ältesten bekannten Idiom jeweils den adäquaten und ausreichenden Repräsentanten der ganzen Gruppe zu sehen, und versuchte nicht, den gemeinsamen Urzustand besser zu begreifen. 3130 So sprach man z. B. nicht vom Germanischen, sondern hatte keine Hemmungen, einfach das Gotische zu zitieren, weil es um mehrere Jahrhunderte älter ist als die andern germanischen Dialekte; es usurpierte gewissermaßen die Position des Prototypen, der Quelle der andern Dialekte. 3131 Für das Slawische stütze man sich ausschließlich auf das Slawonische oder Paläoslawische, das seit dem 10. Jahrhundert bezeugt ist, während die andern slawischen Sprachen erst viel später belegt sind. 3132 Es ist tatsächlich äußerst selten, daß zwei schriftlich und zu aufeinanderfolgenden Zeitpunkten fixierte Sprachformen genau das gleiche Idiom zu zwei verschiedenen Zeitpunkten seiner Geschichte darstellen. 3133 Meistens ist man vielmehr mit zwei Dialekten konfrontiert, von denen der eine nicht die sprachliche Fortsetzung des andern ist. 3134 Die Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Die bekannteste ist der Fall der romanischen Sprachen in bezug auf das Latein. Wenn man vom Französischen auf das Lateinische zurückgeht, befindet man sich sehr wohl in der Vertikalen; das Gebiet dieser Sprachen ist zufälligerweise das gleiche wie dasjenige, wo man Lateinisch sprach, und jede von ihnen ist nichts anderes als weiterentwickeltes Latein. 3135 Ebenso haben wir gesehen, daß das Persische der Inschriften von Darius den gleichen Dialekt repräsentiert wie das mittelalterliche Persisch. 3136 Aber das Gegenteil ist bedeutend häufiger: die Zeugnisse aus den verschiedenen Epochen gehören zu verschiedenen Dialekten der gleichen Familie. 3137 So manifestiert sich das Germanische nacheinander im Gotischen von Wulfila, dessen Weiterentwicklung nicht bekannt ist, dann in den althochdeutschen Texten, später in den angelsächsischen, altnordischen usw. Dokumenten; keiner dieser Dialekte, keine dieser Dialektgruppen ist eine Fortsetzung dessen, was vor ihr bezeugt ist. Diese Sachlage kann 216 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft durch das folgende Schema wiedergegeben werden, in dem die Buchstaben für die Dialekte stehen und die gepunkteten Linien für die aufeinanderfolgenden Epochen: A ......................................... Epoche 1 B ......................................... Epoche 2 C D ......................................... Epoche 3 E ......................................... Epoche 4 3138 Die Linguistik kann nur froh sein, daß die Dinge so liegen; andernfalls würde der erste bekannte Dialekt (A) bereits alles enthalten, was man aus der Analyse der aufeinanderfolgenden Sprachzustände ableiten kann; wenn man dagegen nach dem Konvergenzpunkt all dieser Dialekte (A, B, C, D usw.) sucht, wird man eine ältere Form als A finden, d. h. einen Prototypen X, und eine Konfusion von A und X ist nicht mehr möglich. 3139 Kapitel 3 Die Rekonstruktionen 233 * 3140 § 1. - Natur und Ziel der Rekonstruktionen 3141 Wenn das einzige Mittel der Rekonstruktion der Vergleich ist, so hat umgekehrt der Vergleich kein anderes Ziel als dasjenige der Rekonstruktion. 3142 Wenn sie nicht steril sein sollen, müssen die festgestellten Entsprechungen zwischen mehreren Formen auf die Zeitachse übertragen werden und zur Wiederherstellung einer einzigen Form führen. Wir haben schon des öfteren auf diesen Punkt aufmerksam gemacht (59ss., 2951ss.). 3143 So erwies es sich als notwendig, um lateinisch medius gegenüber griechisch mésos zu erklären, einen älteren Terminus *methyos zu postulieren, ohne dabei bis auf das Indogermanische zurückzugehen; historisch kann *methyos sowohl zu medius als auch zu mésos in Beziehung gesetzt werden. 3144 Wenn man nicht zwei Wörter aus unterschiedlichen Sprachen miteinander vergleicht, sondern zwei Formen ein und derselben Sprache, kommt man zu der gleichen Feststellung: So führen im Lateinischen ger ō und gestus zu einem früher den beiden Formen gemeinsamen Stamm *ges-. 3145 Wir weisen nebenbei darauf hin, daß der phonetische Veränderungen betreffende Vergleich immer durch morphologische Überlegungen abgesichert werden muß. 3146 Bei der Untersuchung von lateinisch patior und passus habe ich auf factus, dictus usw. zurückgegriffen, denn passus ist eine Bildung gleicher Art; unter Bezug auf die morphologische Beziehung zwischen faci ō und factus, d ī c ō und dictus usw. kann ich in einer früheren Epoche die gleiche Relation zwischen patior und *pat-tus postulieren. 3147 Umgekehrt muß ich beim morphologischen Vergleich die Phonetik zu Hilfe nehmen: Das lateinische meli ō rem kann mit griechisch 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 217 h ē di ō verglichen werden, denn aus phonetischer Sicht geht das eine auf *meliosem, *meliosm, das andere auf *h ā dioa, *h ā diosa, *h ā diosm zurück. 3148 Der sprachliche Vergleich ist somit keine mechanische Operation; er verlangt die Gegenüberstellung aller Fakten, die geeignet sind, zu einer Erklärung beizutragen. 3149 Aber er muß immer zu einer Konjektur in einer wie auch immer gearteten Formel führen, die darauf angelegt ist, etwas Älteres wieder herzustellen; der Vergleich läuft immer auf eine Rekonstruktion von Formen hinaus. 3150 Aber strebt nun der Blick auf die Vergangenheit die Rekonstitution von vollständigen und konkreten Formen des früheren Zustands an? 3151 Oder beschränkt er sich im Gegenteil auf abstrakte, partielle Aussagen, die nur Teile des Wortes betreffen, wie z. B. die Feststellung, daß das lateinische f in f ū mus dem gemeinitalischen þ entspricht, oder daß das erste Element in griechisch állo, lateinisch aliud schon im Indogermanischen ein a war? 3152 Sie kann ihre Aufgabe sehr wohl auf die zweite Art von Nachforschungen beschränken; man kann sogar sagen, daß ihre analytische Methode kein anderes Ziel hat als diese Art von Teilergebnissen. Gleichwohl kann man aus der Summe dieser isolierten Fakten weitergehende Schlüsse ziehen. 3153 Z. B. erlaubt eine Reihe von analogen Gegebenheiten wie im Falle von lateinisch f ū mus zu sagen, daß þ mit Sicherheit zum phonologischen System des Gemeinitalischen gehörte; 3154 ebenso ist die Aussage, daß das Indogermanische in der sogenannten Pronominalflexion eine Endung -d für den Singular des Neutrums kannte, die verschieden vom -m der Adjektive war, ein allgemeines morphologisches Faktum, das aus einer Vielzahl von isolierten Feststellungen abgeleitet ist (cf. lateinisch istud, aliud gegenüber bonum, griechisch tó = *tod, állo = *allod gegenüber kalón, englisch that, usw.). 3155 Man kann noch weiter gehen. Wenn diese verschiedenen Fakten einmal wiederhergestellt sind, geht man zur Synthese all der Gegebenheiten über, die eine Form als Ganzes betreffen, um so vollständige Wörter zu rekonstruieren (z. B. indogermanisch *alyod), ganze Flexionsparadigmen, usw. Um dies zu leisten, vereinigt man in einem Bündel eine Vielzahl von Aussagen, die als solche durchaus selbständig sind. Wenn man z. B. die verschiedenen Elemente einer rekonstruierten Form wie *alyod vergleicht, so stellt man einen großen Unterschied zwischen dem -d, das ein grammatikalisches Problem aufwirft, und dem afest, dem jede Bedeutung dieser Art abgeht. 3156 Eine rekonstruierte Form ist kein solidarisches Ganzes, sondern eine immer zerlegbare Summe von phonetischen Überlegungen, und jedes ihrer Teile kann widerrufen und erneut in Frage gestellt werden. 3157 Die rekonstruierten Formen sind immer das getreue Spiegelbild der auf sie anwendbaren allgemeinen Schlüsse gewesen. 3158 Das indogermanische Wort für ‘ Pferd ’ wurde nacheinander als *akvas, *ak 1 vas, *ek 1 vos und schließlich als *ek 1 wos angesetzt; nur das s und die Anzahl der Phoneme sind unumstritten gewesen. 3159 Das Ziel der Rekonstruktionen ist somit nicht, eine Form um ihrer selbst willen wiederherzustellen, was im übrigen reichlich lächerlich wäre, sondern vielmehr, eine Vielzahl von Einzelfeststellungen, die man für zutreffend hält, aufgrund der für die einzelnen Epochen erzielten Ergebnisse zu kristallisieren und zu kondensieren; in einem Wort: die Fortschritte unserer Wissenschaft zu registrieren. 3160 Man braucht die Linguisten nicht vor der recht bizarren Unterstellung in Schutz zu nehmen, sie wollten das Indogermanische von A bis Z wiederherstellen, als ob es wieder in Gebrauch genommen werden sollte. 3161 Sie streben dies nicht einmal an, wenn sie sich mit historisch bezeugten Sprachen befassen (man untersucht das Lateinische nicht linguistisch, um es gut zu sprechen), und umso weniger gilt dies für die isolierten Wörter von historisch nicht bezeugten Sprachen. 3162 Im übrigen: Selbst wenn eine Rekonstruktion sich immer revidieren läßt, kann man nicht auf sie verzichten, wenn man eine Gesamtschau auf die untersuchte Sprache und den Sprachtypus, zu dem sie gehört, haben möchte. 3163 Sie ist ein unerläßliches Instrument, um auf relativ einfache Art eine Fülle von allgemeinen Gegebenheiten sowohl synchronischer als 218 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft auch diachronischer Natur darzustellen. 3164 Die großen Linien des Indogermanischen werden unmittelbar aufgrund der Gesamtheit der Rekonstruktionen klar: z. B. daß die Suffixe mit gewissen Elementen (t, s, r usw.) und unter Ausschluß anderer gebildet wurden, daß die komplizierte Vokalvariation der deutschen Verben (cf. werden, wirst, ward, wurde, worden) überall eine ursprüngliche Alternanz e-o-Null überdeckt. 3165 Dies hat zur Folge, daß die Darstellung der Geschichte späterer Epochen erheblich vereinfacht wird. Ohne die vorausgehende Rekonstruktion wäre es bedeutend schwieriger, die Veränderungen zu erklären, die im Laufe der Zeit seit der vorhistorischen Epoche aufgetreten sind. 3166 § 2. - Verläßlichkeit der Rekonstruktionen 3167 Es gibt rekonstruierte Formen, die man als vollkommen sicher betrachten kann, andere dagegen bleiben zweifelhaft oder sogar vollkommen problematisch. Nun haben wir gesehen, daß der Sicherheitsgrad der Gesamtformen von der relativen Sicherheit abhängt, die man den partiellen Rekonstruktionen beimessen kann, die in diese Synthese eingehen. In dieser Hinsicht sind zwei Wörter fast nie vollkommen gleichwertig. Zwischen so klaren Formen wie indogermanisch *esti ‘ er ist ’ und *did ō ti ‘ er gibt ’ gibt es einen Unterschied; denn in der zweiten Form kann der Vokal der Reduplikation angezweifelt werden (cf. sanskrit dad ā ti und griechisch díd ō si). 3168 Generell neigt man dazu, die Rekonstruktionen als weniger sicher zu betrachten als sie es in Wirklichkeit sind. Drei Faktoren sind dazu geeignet, unser Vertrauen zu erhöhen: 3169 Der erste, der von besonderem Gewicht ist, wurde 755ss. erwähnt: 3170 In einem gegebenen Wort kann man klar die Laute ermitteln, aus denen es besteht, ihre Zahl und ihre Begrenzung 234 *; wir haben 951ss. gesehen, was von den Vorbehalten gewisser Linguisten zu halten ist, die auf das phonologische Mikroskop fixiert sind. 3171 In einer Lautgruppe wie -sngibt es zweifellos flüchtige Übergangslaute; aber es ist aus linguistischer Sicht unangemessen, ihnen Rechnung zu tragen; das gewöhnliche Ohr nimmt sie nicht wahr, und vor allem die Sprecher sind sich immer einig, was die Anzahl der Elemente angeht. 3172 Deshalb können wir auch sagen, daß es in der indogermanischen Form *ek 1 wos nur fünf verschiedene, distinktive Elemente gab, auf die die Sprecher achten mußten. 3173 Der zweite Faktor betrifft das System dieser phonologischen Elemente in jeder Sprache. 3174 Jedes Idiom arbeitet mit einem Satz von Phonemen, deren Zahl streng begrenzt ist (cf. 670ss.). 3175 Im Indogermanischen erscheinen nun alle Elemente des Systems in mindestens einem Dutzend von rekonstruierten Formen, manchmal sogar in Tausenden. Man kann somit sicher sein, sie alle zu kennen. 3176 Um die Lauteinheiten einer Sprache zu kennen, ist es schließlich nicht zwingend, ihre positive Qualität zu bestimmen; man muß sie als rein differentielle Entitäten betrachten, deren Charakteristik es ist, daß jede von ihnen nicht mit den andern zusammenfällt (cf. 1923ss.). 3177 Dies ist in dem Maße entscheidend, daß man sehr wohl die Lautelemente eines Idioms mit Ziffern oder mit irgendwelchen andern Zeichen darstellen könnte. 3178 In * ĕ k 1 w ŏ s ist es überflüssig, die absolute Qualität von ĕ zu bestimmen, sich zu fragen, ob es offen oder geschlossen ist, mehr oder weniger weit vorn artikuliert wird, usw.; solange man nicht mehrere Arten von ĕ erkannt hat, bleibt dies alles vollkommen bedeutungslos, vorausgesetzt, man verwechselt es nicht mit einem anderen der Lautelemente, die die Sprache unterscheidet ( ă , ŏ , ē usw.). 3179 Dies läuft darauf hinaus zu sagen, daß das erste Phonem von * ĕ k 1 w ŏ s sich nicht vom zweiten von *m ĕ dhy ŏ s, vom dritten von * ă g ĕ usw. unterscheidet, und daß man es, ohne seine lautliche Natur zu spezfizieren, auch aufgrund seiner Nummer im Inventar der indogermanischen Phoneme katalogisieren und darstellen könnte. 3180 So bedeutet die Rekonstruktion von 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 219 * ĕ k 1 w ŏ s, daß die indogermanische Entsprechung von lateinisch equos, sanskrit açva-s usw. aus fünf spezifischen Phonemen aus dem phonologischen Inventar der Ursprache bestand. 3181 Innerhalb der von uns aufgezeigten Grenzen behalten somit unsere Rekonstruktionen ihren vollen Wert. 3182 Kapitel 4 Die Zeugnisfunktion der Sprache für die Anthropologie und die Urgeschichte 235 * 3183 § 1. - Sprache und Rasse 3184 Dank der retrospektiven Methode kann der Linguist den Zeitenlauf umkehren und Sprachen rekonstruieren, die durch gewisse Völker lange vor ihrem Eintritt in die Geschichte gesprochen wurden. 3185 Aber könnten diese Rekonstruktionen uns nicht auch noch Informationen liefern über die Völker selbst, ihre Rasse, ihre Abstammung, ihre sozialen Verhältnisse, ihre Institutionen, usw.? In einem Wort: Kann die Sprache Erkenntnisse für die Anthropologie, die Ethnologie, die Urgeschichte liefern? 3186 Dies glaubt man in der Regel; wir glauben dagegen, daß es sich dabei zum größten Teil um Illusionen handelt. Wir wollen kurz einige Aspekte dieses allgemeinen Problems untersuchen. 3187 Zuerst zu der Rasse. Es wäre ein Irrtum zu glauben, man könne von einer gemeinsamen Sprache auf eine Blutsverwandtschaft schließen, daß eine Sprachenfamilie einer anthropologischen Familie entspreche. 3188 Die Wirklichkeit ist nicht so einfach. 3189 Es gibt z. B. eine germanische Rasse, deren anthropologische Charakteristika recht eindeutig sind: blonde Haare, langer Schädel, große Statur, usw.; der skandinavische Typ stellt davon die ausgeprägteste Form dar. 3190 Aber diese Charakterisierung trifft bei weitem nicht auf alle Völker zu, die eine germanische Sprache sprechen. So haben z. B. die Alemannen am Fuße der Alpen einen anthropologischen Typus, der sehr deutlich von dem der Skandinavier abweicht. 3191 Kann man denn wenigstens annehmen, daß eine Sprache einer Rasse an sich eignet, und wenn sie von fremden Völkern gesprochen wird, so deshalb, weil sie ihnen im Rahmen einer Eroberung aufgezwungen wurde? 3192 Es kommt sicherlich oft vor, daß Völker die Sprache ihrer Bezwinger übernehmen oder übernehmen müssen, wie z. B. die Gallier nach dem Sieg der Römer. Aber das erklärt nicht alles; im Fall der Germanen z. B. kann man zwar zugestehen, daß sie eine große Zahl von unterschiedlichen Völkern unterworfen haben, aber sie können sie nicht alle assimiliert haben; hierfür müßte man eine lange vorgeschichtliche Herrschaft annehmen und noch weitere Begleitumstände, die durch nichts gesichert sind. 3193 Es scheint somit kein notwendiges Band zwischen Blutsverwandtschaft und Sprachgemeinschaft zu geben, und es ist unmöglich, von der einen auf die andere zu schließen; in den häufigen Fällen, wo das Zeugnis der Anthropologie und dasjenige der Sprache nicht übereinstimmen, ist es folglich nicht nötig, sie gegeneinander auszuspielen oder sich für das eine von ihnen zu entscheiden; jedes von ihnen bewahrt vielmehr seinen Eigenwert. 220 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 3194 § 2. - Ethnie 152 3195 Was lehrt uns also das Zeugnis der Sprache? Die Einheit der Rasse kann für sich genommen nur ein sekundärer und keineswegs notwendiger Faktor für die Sprachgemeinschaft sein. Aber es gibt eine andere Einheit, die unendlich viel wichtiger, ja die einzig wesentliche ist, diejenige, die auf den sozialen Banden beruht: Wir nennen sie Ethnie. 3196 Wir wollen darunter eine Einheit verstehen, die auf den vielfältigen Beziehungen der Religion, der Zivilisation, der gemeinsamen Verteidigung usw. beruht; diese Beziehungen können sich sogar zwischen Völkern unterschiedlicher Rasse und ohne jede politische Bindung herausbilden. 3197 Diese bereits 375ss. festgestellte reziproke Beziehung entwickelt sich zwischen der Ethnie und der Sprache: Die sozialen Bande tendieren dazu, die Sprachgemeinschaft zu begründen, und sie prägen vielleicht gewisse Züge des gemeinsamen Idioms; umgekehrt ist es die Sprachgemeinschaft, die bis zu einem gewissen Grade die ethnische Einheit konstituiert. 3198 Im allgemeinen genügt diese immer, um die Sprachgemeinschaft zu erklären. 3199 So gab es z. B. zu Beginn des Mittelalters eine romanische Ethnie, die ohne politisches Band Völker sehr unterschiedlicher Herkunft miteinander verband. 3200 Umgekehrt ist es vor allem die Sprache, die man im Hinblick auf die ethnische Einheit befragen muß; ihr Zeugnis ist bedeutender als alle andern. 3201 Hier ein Beispiel: Im alten Italien findet man neben den Latinern die Etrusker; wenn man in der Hoffnung, diese auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen zu können, darnach sucht, was sie miteinander gemeinsam haben, kann man alles ins Feld führen, was diese Völker hinterlassen haben: Denkmäler, religiöse Riten, politische Institutionen usw.; aber man wird nie die Sicherheit erreichen, die die Sprache unmittelbar vermittelt: Vier Zeilen Ertruskisch genügen, um uns zu zeigen, daß das Volk, das diese Sprache sprach, absolut verschieden von der ethnischen Gruppe war, die lateinisch sprach. 3202 In dieser Beziehung und in den angegebenen Grenzen ist die Sprache ein historisches Dokument; die Tatsache, daß die indogermanischen Sprachen eine Familie bilden, läßt uns z. B. auf eine ursprüngliche Ethnie schließen, deren mehr oder weniger direkte Erben aufgrund der sozialen Filiation alle Nationen sind, die heute diese Sprachen sprechen. 3203 § 3. - Linguistische Paläontologie 3204 Wenn uns die Sprachgemeinschaft schon erlaubt, auf die soziale Gemeinschaft zu schließen, erlaubt es uns dann die Sprache, die Natur dieser ethnischen Bindung zu erkennen? 3205 Lange Zeit hat man geglaubt, die Sprachen seien eine unerschöpfliche Quelle von Dokumenten über die Völker, die sie sprachen und über ihre Urgeschichte. 3206 Adolphe Pictet, einer der Pioniere der Keltologie, ist vor allem bekannt durch sein Buch Les Origines indoeuropéennes (1859 - 63). 3207 Dieses Werk hat vielen anderen als Vorbild gedient; es ist das attraktivste von allen geblieben. 3208 Pictet will in den Zeugnissen, die uns die indogermanischen Sprachen liefern, die grundlegenden Züge der Zivilisation der «Aryâs» ermitteln, und er glaubt die unterschiedlichsten Aspekte erfassen zu können: materielle Dinge (Werkzeuge, Waffen, Haustiere), soziales Leben (handelte es sich um ein Nomadenvolk oder um Ackerbauern? ), Familie, Regierung; er sucht nach der Wiege der «Aryâs», die er in Baktrien sieht; er studiert die Flora und die Fauna des Landes, das sie bewohnten. 3209 Es handelt sich um den umfassendsten Versuch, den man in dieser Richtung gemacht hat; die Wissenschaft, die damit aus der Taufe gehoben wurde, bekam den Namen linguistische Paläontologie. 236 * 152 Wir ersetzen hier und im folgenden ethnisme durch das heute im Deutschen gängige Ethnie. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 221 3210 Seither sind weitere Versuche im gleichen Sinne gemacht worden; einer der jüngsten ist derjenige von Hermann Hirt (Die Indogermanen, 1905 - 07) ( 153 ). 3211 Er basiert auf der Theorie von J. Schmidt (cf. 3058) bei der Bestimmung des Wohngebietes der Indogermanen, 3212 aber er scheut sich auch nicht, auf die linguistische Paläontologie zurückzugreifen: 3213 Gegebenheiten des Wortschatzes zeigen ihm, daß die Indogermanen Ackerbauern waren, und er lehnt es ab, sie im südlichen Russland anzusiedeln, weil sich dieses eher für eine nomadisierende Lebensform eigne; die Häufigkeit von Baumnamen und vor allem von gewissen Arten (Tanne, Birke, Buche, Eiche) führt ihn zu dem Gedanken, daß ihr Siedlungsgebiet bewaldet war, 3214 und daß es zwischem dem Harz und der Weichsel lag, genauer im Gebiet von Brandenburg und Berlin. 3215 Wir weisen weiter darauf hin, daß schon vor Pictet Adalbert Kuhn und andere die Linguistik genutzt hatten, um die Mythologie und die Religion der Indogermanen zu rekonstruieren. 3217 Es scheint nun aber nicht möglich, von der Sprache derartige Auskünfte zu bekommen, und wenn sie sie nicht liefern kann, hat dies die folgenden Gründe: 3218 Zuerst die Unsicherheit der Etymologie; man hat nach und nach begriffen, wie selten die Wörter mit einer unumstrittenen Etymologie sind, und man ist umsichtiger geworden. 3219 Hier ein Beispiel für die früheren Tollkühnheiten. Da servus und serv ā re gegeben sind, setzt man sie zueinander in Beziehung - und vielleicht ist man dazu nicht berechtigt; dann weist man dem ersten die Bedeutung ‘ Wächter ’ zu, um daraus zu schließen, daß der Sklave ursprünglich der Wächter des Hauses war. 3220 Nun kann man aber nicht einmal bestätigen, daß serv ā re zuerst die Bedeutung ‘ hüten, bewachen ’ gehabt hat. 3221 Und das ist nicht alles: Die Wortbedeutungen entwickeln sich; der Sinn 154 eines Wortes wechselt oft gleichzeitig mit dem Wohnsitz eines Volkes. 3222 Man hat auch im Fehlen eines Wortes den Beweis zu sehen geglaubt, daß die ursprüngliche Zivilisation die durch dieses Wort bezeichnete Sache nicht kannte. Das ist ein Irrtum. 3223 So fehlt das Wort für ‘ pflügen ’ den asiatischen Idiomen; aber das bedeutet keineswegs, daß diese Tätigkeit in den Anfängen unbekannt war; das Pflügen kann ebenso gut außer Gebrauch gekommen oder durch andere Verfahren ersetzt worden sein, die mit anderen Wörtern bezeichnet wurden. 3224 Die Möglichkeit von Entlehnungen ist ein dritter Faktor, der die Gewißheit beeinträchtigt. 3225 Ein Wort kann nachträglich in eine Sprache eingehen, gleichzeitig mit der Einführung der Sache bei dem Volk, das diese Sprache spricht. So ist der Hanf erst sehr spät im Mittelmeerbecken eingeführt worden, und noch später in den Ländern des Nordens; jedes Mal wanderte das Wort für Hanf mit der Pflanze. 3226 In zahlreichen Fällen erlaubt es das Fehlen von außersprachlichen Informationen nicht festzustellen, ob das Vorhandensein ein und desselben Wortes in mehreren Sprachen auf einer Entlehnung beruht oder einen Beweis für eine ursprünglich gemeinsame Tradition darstellt. 3227 Das heißt nun aber nicht, daß man nicht ohne Zögern einige allgemeine Züge und selbst einige präzise Gegebenheiten freilegen kann. So sind die gemeinsamen Einheiten, die die Verwandtschaft bezeugen, reichlich vorhanden, und sie sind mit großer Eindeutigkeit überliefert worden; sie erlauben es zu sagen, daß bei den Indogermanen die Familie eine ebenso komplexe wie regelmäßige Institution war, denn ihre Sprache kennt in diesem Bereich Nuancen, die wiederzugeben wir nicht in der Lage sind. 3228 Bei Homer bedeutet eináteres ‘ Schwägerinnen ’ im Sinne von ‘ Frauen mehrer Brüder ’ , und galó ō i ‘ Schwägerinnen ’ im Sinne von ‘ Frauen und Schwestern des Gatten unter sich ’ ; nun entspricht das lateinische ( 153 ) 3216 Cf. weiter D ’ A RBOIS DE J UBAINVILLE , Les premiers habitants de l ’ Europe (1877); O. S CHRADER , Sprachvergleichung und Urgeschichte; O. S CHRADER , Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde (Werke, die etwas vor demjenigen von Hirt liegen); S. F EIST , Europa im Lichte der Vorgeschichte (1910). (Ed.) 154 Sens und signification der frz. Vorlage sind keine wissenschaftlichen Termini, sondern alltagssprachlicher Natur; das gleiche gilt für ihre dt. Übersetzung. 222 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft janitr ī c ē s dem griechischen eináteres sowohl hinsichtlich der Form als auch der Bedeutung. Ebenso trägt der ‘ Schwager, Bruder des Gatten ’ einen anderen Namen als die ‘ Schwäger, Gatten mehrerer Schwestern unter sich ’ . 3229 Hier kann man also ein kleinstes Detail verifizieren, aber in der Regel muß man sich mit einer allgemeinen Information zufrieden geben. 3230 Das Gleiche gilt für die Tiere: Für die wichtigen Gattungen wie z. B. das Rind kann man nicht nur auf die Übereinstimmung von griechisch boûs, deutsch Kuh, sanskrit gau-s usw. bauen, um ein indogermanisches *g 2 ō u-s zu rekonstruieren, auch die Flexion zeigt in allen diesen Sprachen die gleichen Charakteristika, was nicht möglich wäre, wenn es sich um ein später aus einer anderen Sprache entlehntes Wort handeln würde. 3231 Wir erlauben uns, hier etwas detaillierter auf eine andere morphologische Erscheinung einzugehen, die die beiden Charakterzüge aufweist, auf eine bestimmte Zone begrenzt zu sein und einen Aspekt der sozialen Organisation zu betreffen. 3231 a Trotz allem, was über die Verbindung von dominus und domus gesagt worden ist, fühlen sich die Linguisten nicht vollständig zurfriedengestellt, denn es ist in höchstem Grade ungewöhnlich, daß ein Suffix -nosekundäre Ableitungen bildet; man hat nie von einer Bildung gehört, wie es im Griechischen *oiko-no-s oder *oike-no-s von oîkos, oder im Sanskrit *açva-navon açvawären. Aber es ist gerade diese Seltenheit, die dem Suffix von dominus seinen Wert und seine Relevanz verleiht. Mehrere germanische Wörter sind nach unserer Auffassung in dieser Hinsicht äußerst erhellend: 3232 1. *þeu đ a-na-z ‘ der Führer der *þeu đō , der König ’ , gotisch þiudans, altsächsisch thiodan (*þeud ō , gotisch þiuda = oskisch touto ‘ Volk ’ ). 3233 2. *dru χ ti-na-z (teilweise verändert in *dru χ t ī -na-z) ‘ der Führer der *dru χ -ti-z, der Armee ’ , daraus der christliche Name für den ‘ Herrn, d. h. Gott ’ , cf. altnordisch Dr ō ttinn, angelsächsisch Drythen, alle beide auf ĭ na-z ausgehend. 3234 3. *kindi-na-z ‘ der Führer der *kindi-z = lateinisch gens ’ . Da der Führer einer gens, in bezug zu demjenigen einer *þeu đō , ein Vizekönig war, wird der germanische Ausdruck kindins (überall sonst untergegangen) von Wulfilas verwendet zur Bezeichnung des römischen Statthalters einer Provinz, denn der Legat des Kaisers war in germanischer Sicht das Gleiche wie der Führer eines Klans hinsichtlich desjenigen einer þiudans; so interressant diese Assimilation auch aus historischer Sicht sein mag, es besteht kein Zweifel, daß das Wort kindins, das nicht zu den römischen Gegebenheiten paßt, Zeugnis für eine Gliederung der germanischen Völker in kindi-s ablegt. 3235 So kann also ein sekundäres Suffix -noan jedes beliebige germanische Thema angefügt werden, um die Bedeutung ‘ Führer dieser oder jener Gemeinschaft ’ zu erhalten. Es bleibt nur noch festzustellen, daß lateinisch trib ū nus entsprechend wörtlich ‘ Führer der tribus ’ bedeutet, ebenso wie þiudans ‘ Führer der þiuda ’ , und schließlich auch entsprechend domi-nus ‘ Herr der domus ’ , der letzten Unterteilung der touta = þiuda. Dominus, mit seinem ungewöhnlichen Suffix, scheint uns ein schwer widerlegbarer Beweis zu sein, daß es nicht nur eine sprachliche Gemeinschaft, sondern auch eine Gemeinschaft der Institutionen zwischen der altitalischen und der germanischen Ethnie gegeben hat. 3236 Aber es muß nochmals in Erinnerung gerufen werden, daß Gegenüberstellungen von Sprache zu Sprache selten derart deutliche Indizien liefern. 3237 § 4. - Sprachtyp und Mentalität der sozialen Gruppe 3238 Wenn die Sprache schon wenig präzise und authentische Informationen über die Sitten und die Institutionen des sie benutzenden Volkes liefert, kann sie dann wenigstens dazu dienen, den mentalen Typ der sie sprechenden Gruppe zu charakterisieren? 3239 Es ist eine 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 223 weit verbreitete Meinung, daß eine Sprache den psychologischen Charakter einer Nation spiegele; aber es gibt einen schwerwiegenden Einwand gegen diese Auffassung: Ein sprachliches Verfahren ist nicht notwendigerweise durch psychische Ursachen bestimmt. 3240 Die semitischen Sprachen drücken die Beziehung zwischen determinierendem und determiniertem Substantiv (cf. französisch la parole de Dieu) durch einfache Juxtaposition aus, was allerdings eine besondere Form, «konstruierter Zustand» genannt, des Determinatums zur Folge hat, das dem Determinandum vorangeht. Nehmen wir hebräisch d ā b ̄ ā r ‘ Wort ’ und ’ el ō h ī m ( 155 ) ‘ Gott ’ : db ̄ ar ’ el ō h ī m bedeutet: ‘ das Wort Gottes ’ . Sollen wir nun sagen, dieser syntaktische Typ sage etwas aus über die semitische Mentalität? Diese Behauptung wäre ganz schön kühn, denn das Altfranzösische hat regelmäßig eine entsprechende Konstruktion verwendet: cf. le cor Roland, les quatre fils Aymon usw. Dieses Verfahren ist im Romanischen rein zufällig entstanden, sowohl in morphologischer als auch in phonetischer Hinsicht: Es ist die extreme Kasusreduktion, die der Sprache diese neue Konstruktion aufgezwungen hat. 3241 Warum soll nicht ein entsprechender Zufall das Protosemitische auf den gleichen Weg gebracht haben? 3242 So liefert ein syntaktischer Zug, der eines der untrüglichen Merkmale zu sein scheint, nicht den geringsten sicheren Hinweis auf die semitische Mentalität. 3244 Ein anderes Beispiel: Das Urindogermanische kannte keine Komposita mit einem verbalen Erstelement. Wenn das Deutsche nun diese kennt (cf. Bethaus, Springbrunnen usw.), muß man dann annehmen, daß die Germanen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine von ihren Vorfahren ererbte Denkweise modifiziert haben? 3245 Wir haben gesehen, daß diese Innovation auf einen nicht nur materiellen, sondern auch negativen Zufall zurückgeht: die Elimination des a in betah ū s (cf. 2221). 3246 All dies hat sich fern des Geistes abgespielt, im Bereich des Lautwandels, der anschließend dem Denken ein absolutes Diktat auferlegt und es auf einen besonderen Weg zwingt, der sich aufgrund des materiellen Zustands der Zeichen auftut. 3247 Eine Fülle von Beobachtungen gleicher Art bestärkt uns in dieser Auffassung; der psychologische Charakter der Sprachgruppe hat wenig Gewicht gegenüber einer Gegebenheit wie dem Verlust eines Vokals oder einem Akzentwechsel, und das gilt auch für viele ähnliche Erscheinungen, die in der Lage sind, jederzeit die Beziehung zwischen dem Zeichen und der Idee in jeder beliebigen Sprachform umzugestalten. 3248 Es ist nie uninteressant, den grammatikalischen Typus der Sprachen zu bestimmen, ganz egal, ob sie nun historisch bezeugt oder rekonstruiert sind, und sie dann nach den Verfahren zu klassieren, die sie für den Ausdruck des Denkens verwenden; aber diesen Bestimmungen und Klassierungen kann man außerhalb des rein sprachlichen Bereichs nichts mit Sicherheit entnehmen. 3249 Kapitel 5 Sprachfamilien und Sprachtypen ( 156 ) 237 * 3250 Wir haben gesehen, daß die Sprache nicht direkt dem Geist der Sprecher unterworfen ist; wir gehen zum Schluß vertieft auf die Konsequenzen dieses Prinzips ein: Keine Sprachfamilie gehört zurecht und ein für allemal zu einem Sprachtypus. ( 155 ) 3243 Das Zeichen ’ bezeichnet den Aleph, das heißt den Kehlkopfverschluß, der dem spiritus lenis im Griechischen entspricht. (Ed.) ( 156 ) 3249 a Obwohl sich dieses Kapitel nicht mit der retrospektiven Linguistik befaßt, bringen wir es hier ein, weil es als Konklusion des ganzen Werkes gelten kann. (Ed.) 224 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 3251 Die Frage, zu welchem Typus eine Gruppe von Sprachen gehört, läßt außer acht, daß die Sprachen sich entwickeln, oder unterstellt, daß es in dieser Entwicklung ein Stabilitätselement gebe. 3252 Mit welcher Berechtigung begrenzt man einen Vorgang, der keine Grenzen kennt? 3253 Tatsächlich denken viele, wenn sie von den Charakteristika einer Familie sprechen, eher an diejenigen der Ursprache, und dieses Problem ist nicht unlösbar, denn es handelt sich um eine Sprache und um einen Zeitraum. Aber sobald man an beständige Züge denkt, denen weder die Zeit noch der Raum etwas anhaben können, gerät man in offenen Widerspruch mit den grundlegenden Prinzipien der evolutiven Sprachwissenschaft. 3254 Kein Merkmal hat Anrecht auf Beständigkeit; 3255 es kann nur durch Zufall überleben. 3256 Nehmen wir zum Beispiel die indogermanische Familie; man kennt die distinktiven Merkmale ihrer Ausgangssprache; das Lautsystem ist von großer Nüchternheit; keine komplizierten Konsonantengruppen, keine Doppelkonsontanten; ein montoner Vokalismus, der aber Grundlage für ein Spiel von außerordentlich regelmäßigen und essentiell grammatikalischen Alternanzen ist (cf. 2404ss., 3164); ein Tonhöhenakzent, der im Prinzip auf jeder beliebigen Silbe des Wortes liegen kann und aus diesem Grunde am Spiel der grammatikalischen Oppositionen beteiligt ist; ein quantitätsbasierter Rhythmus, der ausschließlich auf der Opposition von langen und kurzen Silben beruht; eine große Leichtigkeit bei der Bildung von Komposita und Ableitungen; eine sehr reichhaltige Nominal- und Verbalflexion; das flektierte Wort, das seine Determinationen in sich selbst trägt, ist im Satz autonom, woraus eine große Konstruktionsfreiheit resultiert ebenso wie die Seltenheit von grammatikalischen Partikeln mit determinativem oder relationalem Wert (Präverben, Präpositionen usw.) 3257 Es ist leicht zu erkennen, daß keiner dieser Charakterzüge sich vollumfänglich in den verschiedenen indogermanischen Sprachen gehalten hat, daß mehrere (z. B. die Rolle des quantitativen Rhythmus und des Tonhöhenakzents) sich in keiner dieser Sprachen wiederfinden; 3258 einige von ihnen haben das ursprüngliche Aussehen des Indogermanischen derart weitgehend verändert, daß sie den Gedanken an einen vollkommen anderen Sprachtypus nahelegen, so z. B. das Englische, das Armenische, das Irische usw. 3259 Es wäre zutreffender, von gewissen Veränderungen zu sprechen, die den verschiedenen Sprachen einer Familie gemeinsam sind. So ist der weiter oben erwähnte progressive Abbau des Flexionssystems allgemein verbreitet in den indogermanischen Sprachen, obwohl sie in dieser Hinsicht erhebliche Unterschiede zeigen; das Slawische hat am besten widerstanden, 3260 während das Englische die Flexion fast auf Null reduziert hat. 3261 Im Gegensatz dazu und ziemlich allgemein kann man die Entwicklung einer mehr oder weniger festen Wortordnung für die Satzkonstruktion feststellen, und die analytischen Ausdrucksverfahren tendierten dazu, die synthetischen Mechanismen zu ersetzen (Kasusfunktionen durch Präpositionen wiedergegeben [cf. 2718ss.], zusammengesetzte Verbformen mithilfe von Auxiliarien, usw.). 3262 Wir haben gesehen, daß ein charakteristischer Zug eines Prototypen in der einen oder andern der Folgesprachen fehlen kann 157 ; das Umgekehrte kommt ebenfalls vor. 3263 Es ist nicht einmal besonders selten, daß man feststellt, daß allen Sprachen einer Familie gemeinsame Züge im Ausgangsidiom fehlen. Das ist z. B. der Fall für die Vokalharmonie (d. h. eine gewisse Assimilation der Qualität aller Vokale der Suffixe eines Wortes an den letzten Vokal des Stammes). 3264 Dieses Phänomen findet sich im Uralaltaischen, einer großen Gruppe von Sprachen, die in Europa und in Asien von Finnland bis in die Mandschurei gesprochen werden; aber dieser auffällige Zug geht aller Wahrscheinlichkeit nach auf spätere Entwicklungen zurück; das wäre also ein gemeinsamer Zug, der kein ursprünglicher Zug ist, was zur 157 Wir folgen hier dem Text der 2./ 3. Aufl. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 225 Folge hat, daß er nicht angeführt werden kann, um den (umstrittenen) gemeinsamen Ursprung dieser Sprachen zu beweisen, und das gilt ebenso für ihren agglutinativen Charakter. 3265 Man hat auch erkannt, daß das Chinesische nicht immer monosyllabisch war. 3266 Wenn man die semitischen Sprachen mit dem rekonstruierten Protosemitischen vergleicht, beeindruckt auf den ersten Blick die Erhaltung gewisser Charakteristika; mehr als alle andern Familien vermittelt diese die Illusion eines unveränderbaren, beständigen, der Familie inhärenten Typus. 3267 Man erkennt ihn an den folgenden Merkmalen, von denen einige in auffallender Weise zu denjenigen des Indogermanischen in Opposition stehen: fast vollständiges Fehlen von Komposita, beschränkter Gebrauch der Derivation; wenig entwickelte Flexion (ausgeprägter im Protosemitischen als in den Folgesprachen), was eine an sehr strenge Regeln gebundene Wortordnung zur Folge hat. 3268 Der auffälligste Zug betrifft die Struktur der Wurzeln (cf. 2810 s.); sie umfassen regelmäßig drei Konsonanten (zum Beispiel qṭ -l ‘ töten ’ ), die in allen Formen innerhalb eines Idioms vorkommen (cf. hebräisch q āṭ al, q āṭ l ā , q ṭō l, qi ṭ l ī usw.) ebenso wie von einem Idiom zum andern (cf. arabisch qatala, qutila usw.). 3269 Mit andern Worten: Die Konsonanten drücken den «konkreten Sinn» der Wörter aus, ihren lexikalischen 158 Wert, während die Vokale unter Zuhilfenahme einiger Präfixe und Suffixe ausschließlich die grammatikalischen Werte durch das Spiel ihrer Alternanzen zum Ausdruck bringen (z. B. hebräisch q āṭ al ‘ er hat getötet ’ , q ṭō l ‘ töten ’ , mit Suffix q āṭ lū ‘ sie haben getötet ’ , mit Präfix ji-q ṭō l ‘ er wird töten ’ , mit Präfix und Suffix ji-q ṭ lū ‘ sie werden töten ’ , usw.). 3270 Angesichts dieser Tatsachen und trotz der Aussagen, zu denen sie Anlaß gegeben haben, müssen wir unserem Prinzip treu bleiben: Es gibt keine unveränderlichen Merkmale; der Fortbestand ist ein Zufallseffekt; 3271 ein Merkmal kann in der Zeit erhalten bleiben, aber es kann ebenso gut mit der Zeit verschwinden. Um beim Semitischen zu bleiben: Das «Gesetz» der drei Konsonanten ist gar nicht so charakteristisch für diese Familie, denn andere Familien zeigen durchaus vergleichbare Erscheinungen. Im Indogermanischen unterliegt der Konsonantismus der Wurzeln ebenfalls strengen Gesetzen; 3272 sie enthalten z. B. nie zwei Laute aus der Serie i, u, r, l, m, n nach ihrem e; eine Wurzel wie *serl ist unmöglich, usw. 3272 Das Gleiche, aber noch in viel höherem Maße, gilt für das Spiel der Vokale im Semitischen; das Indogermanische kennt ein ebenso präzises, wenn auch weniger reichhaltiges Regelwerk. Oppositionen wie hebräisch d ā b ̄ ā r ‘ Wort ’ , db ā rī m ‘ Wörter ’ , dibr ē -kem ‘ ihre Worte ’ erinnern an deutsch Gast : Gäste, fließen : floß, usw. In beiden Fällen ist der Ursprung des grammatischen Verfahrens derselbe. 3274 Es handelt sich um rein phonetische Veränderungen, die auf einer blinden Entwicklung beruhen; aber die Alternanzen, die sich daraus ergeben haben, sind vom Geist aufgegriffen worden, der ihnen grammatikalische Werte zugewiesen und analogisch Modelle verbreitet hat, die auf dem Zufall der phonetischen Entwicklung beruhen. 3275 Was die Unveränderlichkeit des Dreikonsonantengesetzes im Semitischen angeht, so ist sie nur approximativer Natur und hat keinen absoluten Charakter. 3276 Man könnte dessen schon a priori sicher sein; aber diese Ansicht wird auch durch die Fakten bestätigt. Im Hebräischen z. B. zeigt die Wurzel ’ anan āš ī m ‘ Menschen ’ die erwarteten drei Konsonanten, ihr Singular ’īš aber enthält nur deren zwei; es handelt sich um die phonetische Reduktion einer älteren Form, die noch deren drei enthielt. 3277 Überdies: Selbst wenn man diese Quasi-Unveränderlichkeit akzeptiert, muß man dann darin einen den Wurzeln inhärenten Wesenszug sehen? Nein; es ist einfach so, daß die semitischen Sprachen weniger Lautveränderungen erlitten haben als andere Sprachen und so die Konsonanten in dieser Familie besser erhalten geblieben sind als anderswo. Es handelt sich somit um eine evolutive Erscheinung phonetischer Natur, und nicht um ein grammatikalisches oder permanentes Phänomen. 3278 Die Behauptung, die Wurzeln seien unveränderlich, besagt nichts anderes als anzunehmen, daß 158 Für den Ersatz von lexicologique durch lexikalisch cf. oben. 226 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft sie keine phonetischen Veränderungen erfahren hätten; und man kann nicht garantieren, daß diese Erscheinungen nie auftreten werden. 3279 Allgemein kann man sagen, daß alles, was die Zeit bewirkt hat, durch die Zeit auch wieder aufgehoben oder verändert werden kann. 3280 Obwohl wir erkannt haben, daß Schleicher der Realität Gewalt antat, wenn er in der Sprache etwas Organisches sah, das sein Evolutionsgesetz in sich selbst trägt, fahren wir - ohne uns dessen bewußt zu sein - fort, aus ihr in einem anderen Sinn etwas Organisches zu machen, indem wir annehmen, der «Geist» einer Rasse oder einer ethnischen Gruppe strebe ständig darnach, die Sprache auf gewisse vorgegebene Bahnen zu fixieren. 3281 Aus den Abstechern, die wir in die Randgebiete unserer Wissenschaft gemacht haben, ergibt sich eine wenn auch negative Lehre, die aber gerade deshalb von besonderem Interesse ist, weil sie mit der Grundidee dieser Vorlesung zusammenfällt: Der einzige und eigentliche Gegenstand der Linguistik ist die Betrachtung der Spache 159 an sich und für sich allein. 238 * 159 Ist langue hier als Terminus technicus oder allgemeinsprachlich verwendet? Wir haben uns in der Übersetzung für die zweite Interpretation entschieden, denn Sprachsystem würde den vierten und fünften, wenn nicht gar den dritten Teil des Cours ausschließen. 2. Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft 227 3. Ergänzungen und Kommentare Im Folgenden wird sehr oft auf den Kommentar zum Cours von Harris (H ARRIS 1987) verwiesen. Da es sich um einen Kommentar zum Vulgatatext handelt, ist jedes Mal, wenn von «Saussure» die Rede ist, diese Bezugnahme als «Saussure in der Darstellung und Interpretation von Bally/ Sechehaye» zu verstehen. Entsprechendes gilt auch für alle anderen Kommentare und Kritiken, die sich auf den Vulgatatext stützen. 1* Diese Notizen wurden erstmals von G ODEL 1954 publiziert; cf. jetzt auch E NGLER 1974 und S AUSSURE 2002. 2* Zu den Quellen des Cours cf. oben, Einleitung, Kap. 2.1. 3* Zur Erarbeitung des Vulgatatextes cf. oben, Einleitung, Kap. 2.2. 4* Bally und Sechehaye waren sicher guten Willens, Saussure und seinem Denken in jeder Hinsicht gerecht zu werden. Angesichts des Umfangs und der Schwierigkeit der Aufgabe, die sie sich gestellt haben, kann es aber nicht erstaunen, daß ihnen dies nicht immer gelungen ist; die kritische Ausgabe des Cours von Engler macht dies hinreichend deutlich (E NGLER 1968). Cf. hierzu auch D E M AURO 1968/ 1972 N13. 5* Zum Fehlen einer linguistique de la parole (Linguistik der Rede) im Cours cf. auch unten den Kommentar zu Einheit 3281 (N238*). 6* Die Suche nach dem «eigentlichen und einzigen Gegenstand» der Linguistik wird von H ARRIS 1987: 4 in leicht ironischer Weise als eine Art Graalssuche Sausssures geschildert. Daraus leitet er dann (in wenig zwingender Weise) eine starke Prägung des Cours durch romantische Sichtweisen ab. 7* Wolf war 1777 gerade einmal 18 Jahre alt und hatte sein Studium noch vor sich. Zur Erklärung der Verwendung dieser Jahreszahl in Saussures Vorlesung cf. D E M AURO 1968/ 1972 N23. 8* Für ergänzende Texte zur Philologie cf. S AUSSURE 2002: 175 s. und (in deutscher Übersetzung) F EHR 1997: 280s. 9* Zu Saussures Kritik an der Sprachwissenschaft des 19. Jh.s (von Bopp bis zu den Junggrammatikern) cf. auch J ÄGER 2010: 76ss. - Zur Kritik an der Bezeichnung Grammaire comparée (Vergleichende Grammatik) cf. auch S AUSSURE 2002: 173 - 75, 205. 10* Zu Bopp und Saussures Verhältnis zu Werk und Leistung von Bopp cf. D E M AURO 1968/ 1972 N26. 11* Saussures Einschätzung von Schleicher erscheint hier relativ positiv, was aber keineswegs seinem wirklichen Urteil entspricht. Dieses ist vielmehr absolut vernichtend; cf. hierzu D E M AURO 1968/ 1972 N32. 12* Für ergänzende Texte zur Vergleichenden Grammatik (in deutscher Übersetzung) cf. F EHR 1997: 277ss. 13* Zu Saussures Ringen um eine adäquate Terminologie und seine ambivalente Haltung hinsichtlich des Gebrauchs von Metaphern, Vergleichen usw. in der Linguistik cf. D E M AURO 1968/ 1972 N38; jetzt auch K IM 2010: 82ss.; cf. v. a. auch die Quellen bei E NGLER 1968: 18 (Einheiten 96 - 101). - H ARRIS 1987: 6 bezeichnet Saussures Skizze einer Geschichte der Linguistik als schlecht informiert, ja als geradezu grottesk; dies hätte aber weiter keine Folgen für die anschließende Entwicklung seiner Argumentation im Cours. Daß dem so ist, wird damit erklärt, daß Saussure hier nur darlege, was Linguistik nicht sei bzw. nicht sein könne, d. h. gewissermaßen den warnenden Zeigfinger erhebe. 14* Wir geben hier das französische matière mit Stoff wieder, obwohl man vielleicht spontan eher Gegenstand vorziehen würde. Dieses steht aber primär einmal für frz. objet. - Zur Unterscheidung von matière und objet bei Saussure cf. D E M AURO 1968/ 1972 N40 und D E M AURO 2010: 25; cf. auch H ARRIS 1987: 11 s. 15* Cf. hierzu auch A MACKER 1975: 34 - 37. 16* Cf. N14*. 17* Cf. hierzu auch den ergänzenden Text (in deutscher Übersetzung) bei F EHR 1997: 283ss. und den Kommentar bei G ADET 1987: 73ss. - Ferner ein Auszug aus den Orangerie-Manuskripten in S AUSSURE 2002: 129 - 31; dort wird langage allerdings im Sinn von ‘ faculté de langage ’ verwendet, was auch anderweitig festgestellt werden kann, z. B. in der ersten Genfer Antrittsvorlesung (S AUSSURE 2002: 145 s.); cf. hierzu auch W UNDERLI 1981: 56ss., M EJÍA 1998: 9ss., 77ss. - Nach B OUQUET 1997: 100, 108ss. macht die Definition des Objekts den Kern von Saussures Epistemologie der Linguistik aus; sie wäre zu ergänzen durch die Kriterien, die die Wissenschaftlichkeit der Disziplin garantieren (Literalisierung und Formalisierung der empirischen Ergebnisse, Falsifizierbarkeit; cf. auch B OUQUET 1997: 356ss.). 18* Nach B OUQUET 1997: 71ss. ist für Saussure das Objekt Sprache nicht faßbar, und Bally und Sechehaye würden die entsprechenden Aussagen einfach unterdrücken. Beides trifft nicht zu. Wie der Text hier und die folgenden Ausführungen zeigen, werden Saussures Überlegungen zum Objekt Sprache durchaus korrekt wiedergegeben; auch sagt Saussure nirgends, das Objekt Sprache sei nicht faßbar: es ist nicht direkt faßbar, sondern nur über den Umweg des psychischen Konstrukts Sprachsystem. 19* Zur point de vue-Thematik cf. auch S AUSSURE 2002: 19, 22ss. und (in Verbindung mit dem Identitätsproblem) 198 - 202; ferner A MACKER 1975: 49ss., B IERBACH 1978: 15 - 30, M EJÍA 1998: 184ss., N ORMAND 2004: 29ss., P ÉTROFF 2004: 55ss., K YHENG 2010: 125 - 46 und J ÄGER 2010: 175ss. - Zur Kritik am (von den Herausgebern) so formulierten Beispiel cf. H ARRIS 1987: 14 s. Die entscheidende Quelle Saussures (N 9.1 = Einheit 3295) dagegen ist bar jeder Banalität und paßt exakt zu der Sichtweise von Harris. - Zur point de vue-Thematik cf. auch L INDA 2001: 25ss. mit einer Reihe von gut gewählten Zitaten sowohl aus den Quellen zum Cours als auch aus den Arbeiten zum litauischen Akzent. Linda sieht hier (vollkommen richtig) auch im Akzent eine Einheit eines Wertesystems, das auf Differenzen, Oppositionen und Relationen basiert. Auf den Akzent (bzw. die Tonologie) kommt er dann p. 120ss. zurück; und nun soll - vollkommen unverständlich - der Akzent plötzlich eine rein lautphysiologische Erscheinung sein und außerhalb der Linguistik liegen. - Zum Akzent cf. auch W UNDERLI 1978: 67ss., 328ss. 20* Zur Janusköpfigkeit aller sprachlichen Erscheinungen cf. auch H ARRIS 1987: 15; B ADIR 2001: 15ss. 21* Vgl. hierzu auch S AUSSURE 2002: 178 s. 22* Zur Sprachfähigkeit (faculté du langage) und ihrer Bedeutung cf. auch W UNDERLI 1981 (1974): 58ss., A MACKER 1975: 52ss., B IERBACH 1978: 35 - 52, L INDA 2001: 33ss. Auch für B OTTARI 1986 ist der Ausdruck langage (wie für mich) bei Saussure polysem: Er bezeichnet bei ihm 1. die sprachlichen Erscheinungen im allgemeinen, 2. die Gesamtheit von langue + parole, und 3. (oft) die Sprachfähigkeit. P. 67 N1 verzichtet er aber ausdrücklich darauf, die Bedeutungen 2 und 3 in den Belegen streng auseinander zu halten. - Für die Stellung der Sprachfähigkeit hinsichtlich Individuum und Gesellschaft cf. auch C OURSIL 2010: 55ss., N ORMAND 2004: 45 s. 230 3. Ergänzungen und Kommentare 23* Zum Vorhergehenden und zum Folgenden cf. auch den Kommentar von H ARRIS 1987: 15ss. 24* Zum Problem der «Natürlichkeit» der menschlichen Sprache bei Saussure und in der weiteren Diskussion cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N54. 25* Zur Diskussion über das Verhältnis von visueller und verbaler Kommunikation und seine Abbildung in der wissenschaftlichen Literatur cf. D E M AURO 1968/ 1972 N55. 26* Zum langage articulé cf. auch S AUSSURE 2002: 236s. 27* Cf. zum Folgenden auch die Kommentare von H ARRIS 1987: 21ss., A MACKER 1975: 62ss., 95ss., B IERBACH 1978: 44ss. und M EJÍA 1998: 68ss. Zur Interpretation und Kritik von Saussures Kommunikationstheorie cf. H ARRIS 1987: 204ss. - Nach Harris geht Saussures Kommunikationsmodell nicht etwa auf die Ergebnisse der physiologischen, psychologischen und physikalischen Forschung des späteren 19. Jahrhunderts zurück, sondern stellt vielmehr eine schematische Zusammenfassung der Kommunikationstheorie von John Locke dar. Es erweist sich aber gleichwohl als außerordentlich langlebig und behält seine Gültigkeit im wesentlichen auch noch für die generative Transformationsgrammatik. Allerdings wird das «Translationsmodell» durch das Enkodierungs-/ Dekodierungs-Konzept ersetzt und die Anfangs- und Endphase des Kreislaufs werden erheblich differenzierter dargestellt; zudem wird der Teilnehmer A nicht nur als Sprecher, sondern gleichzeitig als Hörer gesehen, der als solcher eine Art Selbstkontrolle über seine kommunikative Leistung ausübt. - Diese grundlegende Übereinstimmung bedeutet aber nicht, daß es zwischen den verschiedenen Theorien keine Unterschiede im Detail gäbe; auch diese werden von Harris sorgfältig herausgearbeitet.Gegen H ARRIS 1987 wendet sich L INDA 2001: 15ss. Nach ihm sind die beiden Graphiken im CLG (Einheiten 196, 198) keine Kommunikationsmodelle, sondern vielmehr Abgrenzungsversuche für die faits de langue. - Zum circuit de la parole cf. überdies L INDA 2001: 41ss., 55 s., R AGGIUNTI 1982: 9ss. 28* Dieser Aussage kann heute allerdings nicht mehr vorbehaltlos zugestimmt werden. Der Hörbzw. Verstehensprozeß ist keineswegs durch reine Passivität des Rezpienten gekennzeichnet; vielmehr erfordert er von ihm eine beachtliche aktive Interpretationsleistung (cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N61). Der Unterschied zwischen Produktions- und Rezeptionsphase ist nicht primär der zwischen aktiv und passiv, sondern vielmehr derjenige zwischen generativ und interpretativ. 29* Zum Problem der Assoziations- und Koordinationsfähigkeit cf. auch W UNDERLI 1981: 63ss. Cf. hierzu überdies D E M AURO 1968/ 1972 N56. - Zum Systemcharakter der Sprache cf. auch N ORMAND 2004: 43 SS . 30* Zur Sprache als fait social und zum möglichen Einfluß Durkheims auf Saussure cf. D OROSZEWSKI 1933, H IERSCHE 1971, E GLI 1975 und v. a. B IERBACH 1978 (insbes. p. 146ss.); ferner E LIA 1978, P UECH / R ADZYNSKI 1978. In der neueren Literatur wird ein Einfluß Durkheims meist negiert. 31* Aufgrund des heutigen Kenntnisstandes ist bei einer vollkommen unbekannten Sprache nicht einmal die Wahrnehmung der «Laute» (im Sinn von Phonemen) garantiert. Was wir hören/ wahrnehmen, ist das, was man ein lautliches Kontinuum nennen könnte, einen Lautfluß; eine Gliederung in Laute (Phoneme) setzt aber bereits die soziale Dimension (d. h. die Kenntnis des Sprachbzw. Lautsystems) voraus. - Cf. hierzu auch unten Saussure selbst, Einheiten 622ss. 32* Zu den durch die Unterscheidung von langue und parole bzw. Sprachsystem und Rede aufgeworfenen Problemen und ihrer Diskussion in der Saussure-Rezeption cf. die ausführliche Zusammenfassung bei D E M AURO 1968/ 1972 N65. Zu den nicht immer glücklichen Umformulierungen der betreffenden Quellen durch die Herausgeber cf. dort N63 und 64; 3. Ergänzungen und Kommentare 231 ferner auch B OTTARI 1985. - Zur Genese der langue/ parole-Dichotomie in den 3 Vorlesungen cf. B IERBACH 1978: 52ss. 33* Für die Einheiten 229 - 245 cf. auch S AUSSURE 2002: 102 ( 3309 Item). 34* Zum Handlungsbegriff (acte, activité usw.) bei Saussure cf. auch W UNDERLI 1988b, L INDA 2001: 37ss. 35* Zu den Problemen, mit denen man bei der Übersetzung von langage/ langue/ parole (und discours) in den verschiedensten Sprachen konfrontiert ist, cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N68. 36* Der Erstsprachenerwerb ist von Saussure nirgends näher behandelt worden. Für einen gerafften Überblick über spätere Arbeiten zu diesem Thema cf. D E M AURO 1968/ 1972 N69. 37* Nach B OUQUET 1997: 169ss. ist Saussures Sicht der Sprache als Zeichensystem ein metaphysisches a priori-Konzept, für dessen Adäquatheit es keine Bestätigung durch die wissenschaftliche Praxis gäbe. Dieser Sachverhalt wäre von den Herausgebern einfach unter den Tisch gekehrt worden. Allerdings ist Bouquets Sicht eine von verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten; v. a. darf nicht verschwiegen werden, daß Saussure nie von métaphysique spricht, sondern die Adjektive général und philosophique verwendet. 38* Aus heutiger Sicht kann man in den sprachlichen Einheiten auf Systemebene (langue) durchaus Abstraktionen sehen ohne ihnen damit ihren realen Charakter abzusprechen. Zur philosophischen und epistemologischen Problematik des Abstraktionsbegriffs und dessen Geschichte cf. D E M AURO 1968/ 1972 N70. 39* Diese Aussage trifft für den Zeitpunkt der Entstehung des CLG zu, ist heute aber überholt: Röntgenfilme und ähnliche Verfahren erlauben es sehr wohl, alle physikalischanatomischen Details eines Sprechaktes festzuhalten. 40* Diese Formulierung könnte zur Vermutung verleiten, es gebe so etwas wie eine 1: 1- Entsprechung zwischen Phonemen und Schriftzeichen; dem ist jedoch keineswegs so, denn es fehlt nicht an Fällen, wo zwei graphische Zeichen ein Phonem wiedergeben (z. B. frz. ou für / u/ ) oder ein graphisches Zeichen für zwei Phoneme steht (z. B. x für / ks/ ). Dieser Sachverhalt macht die Einführung des Begriffs Graphem neben demjenigen der Graphie nötig. - Cf. hierzu auch unten, 513ss.; ferner W UNDERLI 1969: 167ss. 41* Cf. dazu auch die Kommentare bei A MACKER 1975: 37ss., 42ss., 88ss.; R AGGIUNTI 1982: 40ss.; H ARRIS 1987: 25ss.; B ADIR 2001: 26ss.; L INDA 2001: 82ss.; N ORMAND 2004: 60ss., 139ss.; J ÄGER 2010: 134ss. - Zur Semiologie cf. auch die Note 24 a (3342) in E NGLER 1974: 47 s.(= S AUSSURE 2002: 262 - 66); deutsche Übersetzung F EHR 1997: 404ss. - B OUQUET 1997: 187ss. wirft Bally und Sechehaye vor, sie würden die Bedeutung der Semiologie bei Saussure verschleiern, weil sie sie nicht an den Anfang des CLG setzten. Wie immer strotzt seine Argumentation vor Ungerechtigkeit. Das Vorgehen der Herausgeber ist nur konsequent, wenn man den 3. Cours als Basis der Vulgata gewählt hat. Daß die zweite Vorlesung (1908/ 09) ganz anders aufgebaut ist, ändert daran nichts. Dazu kommt weiter, daß die folgenden Ausführungen deutlich machen, daß die Semiologie keineswegs unterbewertet wird. 42* Zum semiologischen Status der Schrift und ihrer Bedeutung für Saussures Sicht von Sprache, Sprachwissenschaft (bzw. Semiologie) und Zeichentheorie cf. auch K IM 2010: 89ss. 43* Zum Semiologiebegriff bei Saussure, seinem Umfang und der Charakterisierung der verschiedenen semiologischen Systeme cf. W UNDERLI 1981: 25ss. - Für die Diskussion um die Semiologie und deren Entwicklung cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N73, H ARRIS 1987: 18ss. 44* Die Tragweite von Saussures Kritik an der Nomenklaturkonzeption von Sprache ist weder von den Herausgebern noch von vielen späteren Rezipienten gesehen worden; erst Hjelmslev und Martinet haben ihr wieder zu umfassenderer Geltung verholfen. Cf. hierzu D E M AURO 1968/ 1972 N74. - Für die Nomenklaturkritik cf. auch S AUSSURE 2002: 230ss. 232 3. Ergänzungen und Kommentare 45* Die Behauptung bei B OUQUET 2010: 39, 264ss., Bally und Sechehaye hätten die Linguistik der Rede einfach unterdrückt, ist aufgrund dieses Paragraphen bereits widerlegt. Cf. hierzu und zum Folgenden auch die Kommentare von E LIA 1978: 31ss., R AGGIUNTI 1973: 18ss., N ORMAND 1978 b, R AGGIUNTI 1982: 54ss., H ARRIS 1987: 33ss., G ADET 1987: 76ss., M EJÍA 1998: 59ss., 82ss., 88ss., B ADIR 2001: 21ss. und N ORMAND 2004: 49ss., 117ss.; v. a. aber auch R ASTIER 2010: 318 s. - Zur Kritik an der langue/ parole-Dichotomie cf. ferner J ÄGER 2010: 187ss. 46* Zum sozialen Charakter des langage (langue und parole) cf. auch F EHR 1997: 111ss. 47* Zu verschiedenen Ansätzen zu einer Linguistik der Rede cf. D E M AURO 1968/ 1972 N81. Nicht erwähnt werden dort die Textlinguistik, die ordinary language philosophy und die Pragmalinguistik, deren Fragestellungen zentrale Aspekte einer linguistique de la parole berühren. - Cf. hierzu auch unten den Kommentar zum Schlußsatz des Cours (N238*). 48* Cf. hierzu den Kommentar in H ARRIS 1987: 37ss. und N ORMAND 2004: 78ss.; ferner A MACKER 1975: 31ss. 49* Zu diesem Passus und seinen Quellen (in erster Linie II R) cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N83. Cf. ferner S AUSSURE 2002: 17. - Wenn auch Saussure in 369 erklärt, sich im Folgenden nur mit dem Sprachsystem befassen zu wollen, heißt dies keineswegs, daß er deshalb die Untersuchung der Rede und diejenige der «externen» Aspekte aus der Linguistik ausgeschlossen wissen will. Seine Präferenz setzen bzw. einen Aspekt für zentral erklären bedeutet noch lange nicht, daß man sich nicht mit den angrenzenden Bereichen befassen darf; sie sind vielmehr unverzichtbar um zu einem Gesamtbild des Phänomens Sprache zu gelangen. Cf. auch unten unseren Kommentar zum Schlußsatz des Cours (3281), N238*. 50* Cf. auch den Kommentar von H ARRIS 1987: 41ss. - Nach L INDA 2001: 21ss. geht es Saussure hier nicht um die Darstellung von mündlicher und schriftlicher Kommunikation, sondern nur um die Darstellung der Bedeutung schriftlicher Zeugnisse für die Sprachwissenschaft; kommunikationstheoretische Aspekte würden fehlen. 51* Zum semiologschen Status der Schrift cf. auch S AUSSSURE 2002: 49 (Seitenende); ferner oben N42* zu 277. 52* Gemeint ist der Versuch einer Orthographiereform in Frankreich 1901 - 1905, die heftig umstritten war und im wesentlichen scheiterte. 53* Für Literatur zur Geschichte der Schrift cf. D E M AURO 1968/ 1972 N97. 54* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 134 s. [faber - Faure (Favre, Fèvre, Lefèvre, Lefébure)]. 55* Cf. auch den Kommentar bei H ARRIS 1987: 46ss. - Für zusätzliche Textauszüge aus einer Manuskriptabschrift von A. Sechehaye cf. auch F EHR 1997: 410ss. 56* In den Orangerie-Manuskripten spricht Saussure allerdings von einer phonétique instantanée (cf. S AUSSURE 2002: 57 - 61). Die Ausführungen zeigen, daß darunter so etwas wie eine kombinatorische «Phonologie» zu verstehen ist, deren Regeln sich aber nicht sauber von den morphologischen Regeln abgrenzen lassen. Zum Teil überschneidet sich diese «Phonetik» mit der Gruppenphonologie oder kombinatorischen Phonologie, von der in den Einheiten 899ss. die Rede sein wird, doch fehlt dort die morphologische Dimension. - Auch in den Harvard-Manuskripten wird phonétique nicht im Sinne von ‘ historische Lautlehre ’ verwendet; hier entspricht der Terminus im wesentlichen der ‘ Lautphysiologie ’ . Cf. hierzu P ARRET 1993: 200ss. 57* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 176 s. 58* Zur Terminologiegeschichte von Phonetik, Phonologie, Phonemik, Phonematik usw. cf. D E M AURO 1968/ 1972 N103. - Für ergänzende Texte zu phonétique/ phonologie cf. S AUSSURE 2002: 44, 47, 177 S .; für Texte in deutscher Übersetzung cf. F EHR 1997: 281ss., 295 s. 59* Zur Geschichte der Lautschriften und ihrer Brauchbarkeit cf. D E M AURO 1968/ 1972 N105. Dort auch zur Gliederung der Lautkette bzw. zur Abgrenzung der Phoneme in ihr. Cf. 3. Ergänzungen und Kommentare 233 dazu N65* zu Einheit 726. - H ARRIS 1987: 48ss. insistiert darauf, daß Saussure ein universelles «phonetisches» Alphabet anstrebe. Dies gilt jedoch nur für die lautphysiologische (im heutigen Sinne «phonetische») Ebene und könnte in etwa dem entsprechen, was das API (IPA) uns heute zur Verfügung stellt. Danben hat Saussure aber auch den einzelsprachlichen Wert der im heutigen Sinn «phonologischen» Einheiten durchaus gesehen (oppositiv, relativ, differentiell); cf. E NGLER 1968 b s. phonème c). 60* Dieser Mißstand ist keineswegs auf die Phonologie des Englischen beschränkt. Er betrifft v. a. (aber nicht nur) die Notation von Affrikaten, cf. / ts/ , / t š / , / d ž / usw. 61* H ARRIS 1983: 35 N2 kritisiert die Darstellung als übersimplifizierend und den Schluß als unhaltbar; sein Hauptargument ist, daß nicht mit dem Überlappen verschiedener Entwicklungsstufen gerechnet werde. Seine Argumentation ist in concreto sicher zutreffend, aber dies ist nicht die Ebene, auf der Saussure sich bewegt; diese ist vielmehr schematischer Natur. 62* Auch hier wirft H ARRIS 1983: 35 N3 Saussure Übersimplifikation vor und behauptet, zwischen t und s könne es (in der zeitlichen Abfolge) durchaus einen Palatal gegeben haben, wie die Geschichte des Französischen beweise (er meint wohl die Entwicklung t (j) → ts → s). Diese Argumentation ist jedoch nicht haltbar: Ein palatalisiertes t ist kein Palatal; es bleibt ein Dental mit einer zusätzlichen Charakterisierung im palatalen Bereich. 63* Cf. auch den Kommentar bei H ARRIS 1987: 52 s. 64* Zur Geschiche der Termini Phonem (phonème) und Phonologie (phonologie) cf. D E M AURO 1968/ 1972 N111. - Phonem (phonème) ist bei Saussure in der Regel nicht die phonologische Einheit im heutigen Sinn (Einheit auf Systemebene), sondern vielmehr die Einheit auf Redeebene. Allerdings fehlen Fälle nicht, wo auch die andere Interpretation möglich ist. Cf. hierzu auch D E M AURO 1968/ 1972 N115. - Für Saussures Ringen um eine Definition des phonème cf. auch P ARRET 1993: 203ss., 205ss. 65* Cf. auch S AUSSURE 2002: 325ss.; P ARRET 1993: 200 s. - Was Saussure zur Artikulation sagt, ist richtig und wird von den modernen Röntgenfilmen bestätigt, die nur fließende Übergänge zeigen. Entsprechendes gilt auch für den akustischen (physikalischen) Bereich, wo z. B. die Sonographen im wesentlichen nur ständige Veränderungen, aber kaum Haltephasen verzeichnen. Problematisch sind dagegen Saussures Ausführungen zum auditiven Bereich: Die von ihm postulierte Homogenität des lautlichen Abbildes ist kein objektives Faktum, ja kann es vor dem artikulatorischen und akustischen Hintergrund auch gar nicht sein; wir haben es vielmehr mit einer interpretatorischen Fiktion zu tun. 66* Für den auditiven Bereich sind diese Schwierigkeiten bis heute nicht überwunden; dagegen ist eine Identifikation der Phoneme auf akustischer (physikalischer) Basis heute im wesentlichen möglich; cf. hierzu z. B. J AKOBSON / H ALLE 1956: 20ss., P ILCH 1968, usw. 67* Was Saussure zum (vollständigen) Glottisverschluß ausführt, ist zwar für die meisten uns geläufigen europäischen Sprachen zutreffend, darf deswegen aber noch lange nicht generalisiert werden; es gibt durchaus Sprachen, in denen dem Glottisverschluß phonologische Relevanz zukommt (Arabisch, Hebräisch, südamerikanische Eingeborenensprachen usw.). 68* Überraschenderweise berücksichtigt Saussure die Unterscheidung von palatalem und velarem a nicht (cf. fr. patte vs. pâte, chanta vs. chantât, usw.); möglicherweise hat er den damit fast regelmässig gekoppelten Quantitätsunterschied für das differenzierende Element angesehen. 69* Zu Artikulation, Implosion/ Explosion und Silbentheorie cf. auch N14 (3302), 14 a (3303), 14 b (3304) und 14 c (3305) bei E NGLER 1974: 30ss.; für deutsche Teilübersetzungen von N14, 14 a und 14 b cf. F EHR 1997: 345ss. - Ferner S AUSSURE 2002: 139 - 43 (= N Phonologie = 3282 bei E NGLER 1974: 3). 70* Cf. hierzu auch P ARRET 1993: 205. 234 3. Ergänzungen und Kommentare 71* Gemeint sind mit diesem vagen Hinweis v. a. die Publikationen von Henry Sweet; cf. hierzu D E M AURO 1968/ 1972 N120. 72* Cf. auch oben, N56* zu Einheit 636. 73* Cf. hierzu und für die folgenden Paragraphen auch S AUSSURE 2002: 238 - 56. 74* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 237. 75* Zum Problem der Sonanten/ Kon-Sonanten cf. auch P ARRET 1993: 201ss.; allerdings verwendet Saussure hier anstelle von consonante noch consonne. - Für Überlegungen Saussures zu einer Silbentheorie in den Harvard-Manuskripten cf. auch P ARRET 1993: 208. 76* Die Argumentation ist nicht schlüssig: In factus geht der fragliche Vokal der Konsonantengruppe voran, in cliens dagegen folgt er auf sie. Überdies dürfen ct und cl nicht einfach als gleichwertig betrachtet werden, und das Gleiche gilt für die Anlaut- und die Inlautposition. 77* Die einzige Quelle für diese Stelle scheint I R zu sein; diese enthält allerdings keinen Verweis auf Sievers, sondern vielmehr auf Karl Brugmann; cf. E NGLER 1968: 144. - Cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N127. 78* Cf. auch den Kommentar bei H ARRIS 1987: 55 - 78; ferner A MACKER 1975: 66 - 78., M EJÍA 1992: 93ss., D E P ALO 2001: 38 s., 47 s., 60ss., B OUQUET 1997: 279ss. - Zu Saussures Ringen um den Zeichenbegriff cf. auch die Notes item bei E NGLER 1974: 35ss. (N15 - 19 [3306 - 3324]), insbesondere 3310.11ss., bzw. S AUSSURE 2002: 104ss., 114ss. Für deutsche Übersetzungen cf. F EHR 1997: 358ss. Besondere Beachtung verdienen hier die «Kunsttermini» sème, aposème, parasème, sôme, contre-sôme, anti-sôme, parasôme und ihre Definition; cf. hierzu auch E NGLER 1975: 839ss. 79* Zur Geschichte der Nomenklaturkonzeption (seit Aristoteles) und ihrer Kritik cf. D E M AURO 1968/ 1972 N129. - Für einen «nicht realistisch basierten» Nomenklaturbegriff cf. L A F AUCI 2011: 235 - 41. 80* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 17 - 21, ferner 182 (unter dem Begriff morphologie). - Zur Rezeption und Kritik von Saussures Zeichenbegriff cf. D E M AURO 1968/ 1972 N130. - Eine eigenwillige Interpretation des Saussure ’ schen Zeichenbegriffs liefert L A F AUCI 2011: 39ss., für den die Verbindung image acoustique/ concept bzw. Signifikant/ Signifikat ein parataktisches Phänomen ist; dies mag ja hinsichtlich des Reziprozitätsaspekts noch einleuchten, vernachlässigt aber die Linearitätskomponente jeder parataktischen (und hypotaktischen) Konstellation vollkommen. 81* Zur visuellen Metapher von image acoustique und image mentale (= concept) cf. auch K IM 2010: 86ss. 82* Die Terminologie- und Übersetzungsvorschläge bei L INDA 2001: 85ss. sind außerordentlich problematisch. Es mag vielleicht noch hingehen, image acoustique und concept für das Zeichen auf Redeebene, signifiant und signifié für das Zeichen auf Systemebene zu reservieren, obwohl es in den Quellen keinen Anhaltspunkt für eine derartige Regelung gibt; die terminologische Variation ist vielmehr chronologisch und didaktisch begründet. Vollkommen unannehmbar ist aber die Übersetzung von signe mit ‘ Bezeichnung ’ , signifié ‘ Bezeichnetes ’ und signifiant mit ‘ Bezeichnendes ’ , denn damit verläßt man die Systemebene und begibt sich auf diejenige der Referenzsemantik; auch signologie (cf. E NGLER 1968 b s. v.) als ‘ Lehre von den Bezeichnungen ’ wird den Quellen nicht gerecht. - Auch die weiteren terminologischen «Regelungen» von Linda zum Bereich der Sematologie (L INDA 2001: 96ss.) stellen willkürliche Festlegungen dar, die sich so aufgrund der Quellentexte nicht rechtfertigen lassen. Für die Termini sème, sôme, aposème, parasôme, parasème cf. jeweils E NGLER 1968 b s. v. 83* Für eine Bibliographie der ausgedehnten Arbitraritätsdiskussion bis 1964 cf. E NGLER 1962 und 1964; ferner E NGLER 1976 - 97 passim für die nachfolgenden Jahre, sowie K OERNER 3. Ergänzungen und Kommentare 235 1972: 127ss. - Cf. überdies A MACKER 1975: 81 - 88 (und v. a. seine Unterscheidung von arbitraire banal und arbitraire radical), 90ss., F EHR 1997: 138ss., M EJÍA 1992: 95ss., 103ss., B OUQUET 1997: 214ss., 235ss., 283ss., 286ss., D E P ALO 2001: 63ss., N ORMAND 2004: 58ss., 63ss. 84* L INDA 2001: 107ss. will das Symbol aufgrund der unvollständigen Arbitrarität nicht der langue, sondern dem langage zuordnen. Dies macht aufgrund von Saussures langage-Begriff (= langue + parole) überhaupt keinen Sinn. Zudem ist zu beachten, daß auch (sprachliche) Symbole als nicht vollkommen arbiträre Einheiten ihren Platz in einem Wertesystem finden und an dem Spiel von Differenzen, Oppositionen und Relationen teilhaben. 85* Die Diskussion um das Arbitraritätsprinzip bei H ARRIS 1987: 64ss. ist subtil und differenziert. Sie könnte noch gewinnen, wenn sie sich terminologisch der Unterscheidung von A MACKER 1975 zwischen arbitraire banal und arbitraire radical bediente; ähnlich auch R AGGIUNTI 1982: 149ss., der die «radikale Arbitrarität» (durchaus zu Recht) im Zusammenhang mit dem Wertbegriff behandelt. - Amackers arbitraire radical dürfte inetwa dem entsprechen, was B OUQUET 1997: 290 S ., 2010: 41 s. arbitraire systémique nennt (ohne allerdings auf Amacker zu verweisen). - Cf. ferner auch B OUQUET 1997: 192, 235 s.; B ADIR 2001: 59ss. 86* Diese Behauptung ist schwer nachvollziehbar und wird von Saussure selbst in Einheit 1156 widerrufen. Die Einheit 1148 kann nur gerettet werden, wenn man sie auf die Onomatopöie im Moment ihrer Entstehung bezieht. Darnach verhalten sich Onomatopöien gleich wie Entlehnungen: sie werden integriert. 87* Zum Linearitätsprinzip, zu seiner Bedeutung und seinen Problemen cf. auch W UNDERLI 1981: 93ss., R AGGIUNTI 1982: 94ss., M EJÍA 1998: 108ss. Cf. ferner H ENRY 1970: 87ss., D E M AURO 1968/ 1972 N145 und den Kommentar bei H ARRIS 1987: 69ss.; ferner A MACKER 1975: 136ss., N ORMAND 2004: 135ss. 88* Zu Saussures Akzenttheorie (auf der Basis der Verhältnisse im Litauischen) cf. auch J ÄGER 2010: 116ss. 89* Aus heutiger Sicht ist die hier von Saussure vertretene Auffassung eindeutig überholt. Es sind v. a. zwei Punkte zu kritisieren: 1. Er argumentiert ausschließlich auf artikulatorischer Basis (für die seine Überlegungen nachwievor Gültigkeit haben), vernachlässigt aber den akustischen und v. a. den auditiven Bereich vollkommen. 2. Er unterscheidet nicht zwischen Segmentalia und Suprasegmentalia. Diese Unterscheidung in Verbindung mit Punkt 1 erlaubt es sehr wohl, zwischen zwei verschiedenen Ebenen zu unterscheiden. - Cf. hierzu W UNDERLI 1978, v. a. 385ss. 90* Cf. auch die Kommentare bei B IERBACH 1978: 112ss., H ARRIS 1987: 79ss. und M EJÍA 1998: 123ss.; ferner F EHR 1997: 117ss. - Ergänzende Texte zum Problem von Kontinuität und Diskontinuität finden sich in S AUSSURE 2002: 53 - 55, 151ss., 156ss., ferner (in deutscher Übersetzung) bei F EHR 1997: 250ss. 91* Wenn auch Saussure in diesem Punkt im Prinzip zugestimmt werden kann, ist dies doch nicht ganz ohne Einschränkungen möglich. Längerfristig und bei entsprechendem Druck durch gewisse soziale Gruppen ist eine gewollte Veränderung des Sprachgebrauchs und damit letztlich auch des Sprachsystems durchaus möglich; dies haben in der jüngeren Vergangenheit Phänomene wie feministischer Sprachgebrauch und politisch korrekter Sprachgebrauch hinreichend deutlich gemacht. Um dies zu sehen, braucht man nur das Gebrauchsverhalten in sensiblen Bereichen von 1960 mit dem von 2010 zu vergleichen (z. B. Berufsbezeichnungen u. ä., Rassenbezeichungen, usw.). - Cf. hierzu auch H ARRIS 1983: 71 N1, 72 N1 und 73 N1. 92* Cf. hierzu auch M EJÍA 1998: 134ss. 93* Auch in diesem Punkt kann Saussure nicht vorbehaltlos zugestimmt werden. Es ist keineswegs so, daß die Sprecher kein explizites Bewußtsein von ihrer Sprache hätten. Zwar können sie ihr Wissen normalerweise nicht in abstrakte Regeln fassen, aber sie kennen den gängigen Gebrauch sehr wohl und reagieren deutlich auf Abweichungen von der Gebrauchs- 236 3. Ergänzungen und Kommentare norm. Auch kann keineswegs gesagt werden, daß sie immer mit ihrer eigenen Sprache zufrieden wären; die (populistische) Sprachkritik der letzten 50 Jahre (cf. N91* zu 1181) belegt dies hinreichend. 94* Ein gutes Beispiel hierfür wäre das Rumänische, das seit dem Auftreten der ersten Dokumente im 16. Jh. mehrmals zwischen kyrillischer und lateinischer Schrift gewechselt hat. Zudem sind auch die ganzen Transliterationen von griechischen, hebräischen, arabischen usw. Wörtern, Wortsequenzen usw. nichts anderes als Schriftwechsel. 95* M EJÍA 1998: 136ss. will in dieser Passage gewissermassen eine Vorwegnahme von Martinets double articulation sehen. Eine gewisse Affinität besteht zweifellos, aber die Gleichsetzung von (Schrift-)Zeichen und Phonem scheint mir doch reichlich kühn zu sein. 96* Auch hier sind wieder die bereits in N91* zu 1181 und N93* zu 1204 gemachten Vorbehalte gültig. Die nationalsozialistischen und faschistischen Eingriffe in den Sprachgebrauch und damit letztlich auch in das Sprachsystem sind in der Tat in the long run ebenso erfolglos geblieben wie diejenigen der französischen und russischen Revolution; beim «feministischen» und «politisch korrekten» Sprachgebrauch der jüngsten Vergangenheit scheint dies anders zu sein, doch wird erst die Zukunft weisen, ob diese Veränderungen wirklich nachhaltig sind. 97* Cf. hierzu auch den geradezu enthusiastischen Kommentar von H ARRIS 1983: 74 N1, der sich ohne Abstriche zu Saussure und seiner Leistung bekennt. 98* Cf. hierzu auch E LIA 1978: 66ss., F EHR 1997: 86ss., N ORMAND 2004: 128ss. - Zur mutabilité cf. auch N 23.6 (3339), E NGLER 1974: 46 (= S AUSSURE 2002: 329ss.); deutsche Übersetzung F EHR 1994: 395ss. - Zur ständigen Veränderung der Sprache und zum Vergleich mit der Thermodynamik cf. B ULEA 2010, v. a. 217 - 22. 99* In der Einheit 293 [= N(7)] weisen die Herausgeber darauf hin, Saussure habe dem Bedeutungswandel kein eigenes Kapitel gewidmet, das Wesentliche dazu aber in den Einheiten 1246ss. gesagt. In der Tat gibt es im dritten Teil (Diachronische Linguistik) wohl ein Kapitel zu den phonetischen Veränderungen, aber keines zu den semantischen, wenn auch die Ausführungen zur Analogie und zur Volksetymologie oft historisch-semantische Fragen berühren. - Zur historischen Semantik bei Saussure cf. D E P ALO 2001: 229ss., 237ss. 100* Zu den beiden vorhergehenden Abschnitten cf. auch S AUSSURE 2002: 288ss. 101* Cf auch S AUSSURE 2002: 334 s. - Hierzu auch F EHR 1997: 57ss., mit dem ich allerdings bezüglich der Gleichsetzung von langage und faculté de langage nicht übereinstimme; cf. W UNDERLI 1981: 50ss., v. a. p. 74. 102* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 334. 103* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 94 (Item 1°). 104* Zu den drei verschiedenen Arten von Zeit bei Saussure bzw. den drei Gesichtspunkten, unter denen für ihn die Zeit eine Rolle spielt, cf. M ATSUZAWA 2010: 65 s., 76. 105* Cf. auch S AUSSURE 2002: 21 s., 45ss., 209ss., 222ss., 233, sowie die Kommentare bei A MACKER 1975: 55ss., C HISS 1978, H ARRIS 1987: 87ss. und M EJÍA 1998: 153ss., 193ss. - Zur Kritik an der Synchronie/ Diachronie-Dichotomie cf. auch J ÄGER 2010: 183ss. 106* Zur Sonderstellung der Sprache (und der Schrift) unter den menschlichen Institutionen cf. auch die Notizen zu Whitney in S AUSSURE 2002: 211ss.; ferner H OMBERT 1978. 107* Zu Saussures Ablehnung einer «historischen Grammatik» cf. auch H ARRIS 1987: 90 s. 108* Für eine in vielerlei Hinsicht positive Bewertung der Grammatik von Port-Royal cf. C HOMSKY 1966; bedeutend weniger ideologisch verzerrt und sachlich adäquater D ONZÉ 1967. 109* Die anscheinend übertrieben strenge Trennung von Synchronie und Diachronie ist einer der zentralen Kritikpunkte am Cours und hat in der wissenschaftlichen Literatur zu endlosen Diskussionen geführt; cf. hierzu D E M AURO 1968/ 1972 in einer mehrseitigen 3. Ergänzungen und Kommentare 237 Anmerkung (N176). Die Debatte beruht jedoch weitestgehend auf einer Kette von Mißverständnissen und einer philologisch nicht hinreichend sorgfältigen Aufarbeitung des Vulgatatextes und seiner Quellen; vor allem wird immer wieder davon ausgegangen, für Saussure sei der Gegensatz Synchronie/ Diachronie in re gegeben, was eindeutig nicht der Fall ist: Er stellt für ihn eine methodische Dichotomie dar. Cf. hierzu W UNDERLI 1981: 121ss. (zuerst ZRPh. 92 [1976]: 1 - 34). 110* Zur Akzentproblematik cf. auch N88* und N89* zu Einheit 1174. 111* Der Ausdruck materielles Zeichen (signe matériel) stammt nicht von Saussure, sondern von den Herausgebern; er paßt nicht zu Saussures terminologischen Vorgaben. Die Quellen (D und III C) haben denn auch figure acoustique; cf. E NGLER 1968: 192 (1441) und D E M AURO 1968/ 1972 N182. Ein sinnvoller Ersatz von matériel (materiell) wäre positif (positiv). - Zum Problem des Nullzeichens cf. auch S AUSSURE 2002: 67 - 70. 112* Der letzte Teilsatz ist eine Beifügung der Herausgeber und verschärft Saussures Sicht der Dichotomie Synchronie/ Diachronie in unzulässiger Weise. Zwar spielt für ihn das System bei den sprachlichen Verändungen weder in kausaler noch in finaler Hinsicht eine Rolle, da aber Sprachwandelphänomene immer auch Rückwirkungen auf das System haben, können sie nicht nur im Zusammenhang mit dem System betrachtet werden, sie müssen es sogar. - Cf. hierzu auch D E M AURO 1968/ 1972 N183. 113* Cf. überdies die Notizen zu Whitney in S AUSSURE 2002: 206 - 08, 216 s. - Zum Schachspielvergleich bei Saussure und in der analytischen Sprachphilosophie sowie seiner Kritik cf. W UNDERLI 1981b und 1982; ferner H ARRIS 1987: 92 s., M EJÍA 1998: 171ss. 114* Dies ist nur mit gewissen Einschränkungen zutreffend, wie L EPSCHY 1968: 47s. gezeigt hat. 115* Cf. hierzu auch N ORMAND 2004: 38ss. 116* Zu Stellung und Rolle des Sprecherurteils in Saussures Epistemologie cf. auch B OUQUET 1997: 117ss. 117* Zu den definitorischen Problemen bei der Unterscheidung Synchronie/ Diachronie cf. auch H ARRIS 1987: 94 s. 118* Cf. auch S AUSSUSRE 2002: 235. - Zu den Begriffen Gesetz (loi) und Regel (règle) cf. F REI 1929: 23ss. Nach Freis Auffassung sind Saussures Gesetze nichts weiter als Regeln. - Cf. überdies W ELLS 1947: 30 und v. a. die ausführliche Analyse bei H ARRIS 1987: 96ss.; ferner B IERBACH 1978: 110ss. 119* Cf. hierzu auch den Aphorismus XIII in S AUSSURE 2002: 123. 120* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 40 s. 121* Die Ablehnung einer strukturellen Diachronie (oder Diachronie des Systems) ist in der Folge einer der zentralen Kritikpunkte an Saussure v. a. (aber nicht nur) von Seiten der Prager Schule geworden. Cf. Einleitung p. 43, unten N157* zu 1943 und N206* zu 2609; cf. auch H ARRIS 1983: 93 N3. - Cf. ferner W UNDERLI 1981: 129 s., W UNDERLI 1990: 10ss. 122* Entgegen der zurückhaltenden, ja eher negativen Darstellung der Panchronie im CLG betrachtet D E M AURO 2010: 23ss. diese als gewissermaßen gleichberechtige Komponente im Triptychon Synchronie/ Diachronie/ Panchronie. 123* Nach D E M AURO 1968/ 1972 N199 (cf. auch dort N42) würde Saussure mit der (verschleierten) grundlegenden Einheit der Idiome auf das Universalienproblem anspielen. Dies ist eine unhaltbare Spekulation: Die Einheit 1657 stammt nämlich von den Herausgebern und findet keine Stütze in den Quellen (cf. E NGLER 1968: 226). 124* Zu den Schwierigkeiten einer Grenzziehung zwischen den allgemeinen Prinzipien und der synchronischen Linguistik cf. auch M ATSUZAWA 2010: 69ss.; er stellt sogar die Frage, ob die allgemeinen Prinzipien nicht überhaupt Teil der synchronischen Linguistik seien. 125* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 35. 238 3. Ergänzungen und Kommentare 126* Cf. auch S AUSSURE 2002: 157 s. zum Prinzip der permanenten Veränderung der Sprache(n). 127* Für Literatur zur Abgrenzung des Sprachzustands cf. D E M AURO 1968/ 1972 N202. 128* Zu den durch den Begriff des Sprachzustands aufgeworfenen Problemen cf. H ARRIS 1987: 103ss. 129* Zu den Entitäten cf. auch die Notes 16 und 17 (Einheiten 3325 und 3326), E NGLER 1974: 41; deutsche Übersetzung bei F EHR 1997: 377 s.; ferner S AUSSURE 2002: 26s. - Zum Problem der Entitäten und Einheiten cf. auch A MACKER 1975: 133ss., R AGGIUNTI 1982: 195ss., G ADET 1987: 90 s., N ORMAND 2004: 68ss., S OFIA 2009: 203ss., J ÄGER 2010: 198ss., M ISSIRE 2010: 292ss. 130* Zu den abgegrenzten Entitäten oder Einheiten cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N207. F REI 1941: 51 hat für diese den Ausdruck Monem (monème) vorgeschlagen, der dann von M ARTINET in seinen Éléments (1963: 20) übernommen wurde. - Cf. auch S OLLBERGER 1953. 131* Aus heutiger Sicht stellen sich die Dinge allerdings etwas anders dar, und die Behauptung, die Einheit verfüge über kein lautliches Merkmal, läßt sich in dieser Absolutheit nicht mehr aufrecht erhalten. Dies beruht v. a. auf der seit dem 2. Weltkrieg stark vorangetriebenen Erforschung der Suprasegmentalia, und insbesondere des Wortakzents und der Lautkonturen. Allerdings liegen die Dinge in jeder Sprache wieder etwas anders, und es gibt kein einheitliches Kriterium, das immer und überall gültig wäre. Cf. hierzu W UNDERLI 1978, v. a. 168ss., 247ss. 132* Dem Ausdruck tranche phonique der Vulgata entspricht in den Quellen (S und III C) suite acoustique (= auditive); Lautkette ist näher am Ausdruck der Quellen. 133* Zur Abgrenzungsproblematik und Saussures «atomistischer» Sichtweise cf. auch H ARRIS 1987: 108ss. 134* Cf. hierzu auch G ADET 1987: 99ss. 135* Zur Problematik des Wortbegriffs cf. M ARTINET 1966: 39 - 53 und M ARTINET 1969: 252 - 56. 136* Zum Satz cf. auch die Notes item 3323.1 - 4 bei E NGLER 1974: 40 s.; für deutsche Übersetzungen cf. F EHR 1997: 374 s. - Zur Tradition, den Satz (bzw. die Proposition) als einzige konkrete Einheit der Sprache gelten zu lassen, cf. D E M AURO 1968/ 1972 N214. - Zum Problem der Satzdefinition cf. R IES 1931, S EIDEL 1935, M ÜLLER 1985 u. v. a. m. 137* Zum Problem des Satzes und der Satzdefinition cf. auch W UNDERLI 1981: 75ss., W UNDERLI 1978: 385ss. u. passim. - Cf. ferner S AUSSURE 2002: 94 s. (Item). 138* Auch hier muß wieder gesagt werden, daß Saussures Schwierigkeiten mit dem Satz vor allem darauf beruhen, daß er den suprasegmentalen Phänomenen nicht Rechnung trägt. Alles spricht dafür, daß der Satz über die sog. terminalen Konturen (Syntaxeme) charakterisiert ist. Cf. hierzu W UNDERLI 1978, v. a. 209ss., 385ss. 139* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 64 - 67; ferner den kritischen Kommentar bei H ARRIS 1987: 114ss. 140* Zum Problem der Identitäten cf. auch S AUSSURE 2002: 19 s., 30 - 34; A MACKER 1975: 40ss., 63ss., J ÄGER 2010: 130ss., 178ss. und v. a. 198ss. 141* Wie D E M AURO 1968/ 1972 N217 gezeigt hat, behandelt Saussure in den Quellen die synchronische und die diachronische Identität nicht getrennt, sondern zusammen, wobei er die diachronische Identität letztlich auf die synchronische Identität zurückführt. Wir haben es hier mit einem der schwerwiegenden und folgenreichen Eingriffe der Herausgeber zu tun. - Zum Problem der diachronischen Identität cf. auch W UNDERLI 1995, F EHR 1997: 99ss., M EJÍA 1998: 189ss. 142* Cf. auch die Kommentare bei A MACKER 1975: 156ss., B IERBACH 1978: 78ss., 95ss. und H ARRIS 1987: 118ss.; ferner F EHR 1997: 153ss., M EJÍA 1998: 97ss., 156ss., N ORMAND 2004: 67ss. 3. Ergänzungen und Kommentare 239 und J ÄGER 2010: 121ss., 149ss. - Zur Stabilität der Werte bzw. ihrer Variabilität und deren Begrenzung im Rahmen eines Sprachzustands cf. H ARRIS 1987: 219ss.; ferner A MACKER 1975: 109ss., W UNDERLI 1986 und B ADIR 2001: 33ss. - P. 222ss. lehnt Harris im Rahmen dieser Diskussion die Auffassung von Ullmann und De Mauro (die auch die meine ist) ab, die Unterscheidung von Synchronie (= Stabilität) und Diachronie (= Wandel) sei rein methodischer Natur, also eine Wahl des point de vue, während das Objekt Sprache durch ein ständiges Werden gekennzeichnet sei; für Harris hat die Synchronie eindeutig eine in re begründete Priorität, weil sie die einzig mögliche Perspektive des (naiven) Sprechers und Trägers der Sprache und ihres Systems ist. Harris übersieht dabei, daß die Wahl der Sprecherperspektive bereits die Wahl eines point de vue ist; daran ändert auch die Tatsache nichts, daß ein perspektivelos betrachtetes Objekt Sprache ein abstraktives Konstrukt ist, denn die Sprache kann überhaupt nur perspektivegebunden betrachtet werden. - Für einen Manuskriptauszug zum Wertproblem cf. auch F EHR 1997: 233ss.; ferner 399ss. die deutsche Übersetzung der Wertthematik in N 23.6. Ferner S AUSSURE 2002: 25 s., 28 s., 35ss., 87 s., 335 s. - B OUQUET 2010: 43 kritisiert Bally und Sechehaye dafür, daß sie die Komplexität des Wertbegriffes nicht ausreichend wiedergegeben und v. a. den Wertbegriff auf Redeebene nicht berücksichtig hätten. Ich bezweifle allerdings, ob die Verhältnisse auf Redeebene mit Saussures rein differentiellem Wertbegriff vereinbar sind: Hier kommt mit der Referenz auch die Substanz ins Spiel. Was Bouquet als Redewert ansieht, ist vielmehr der Sinn. - Cf. ferner B OUQUET 1997: 221ss., 235ss. 143* Zum amorphen Charakter des vorsprachlichen oder asprachlichen Denkens cf. auch R AGGIUNTI 1982: 215ss. Raggiunti bettet seine Überlegungen einerseits ein in die Debatte um die expressive bzw. kommunikative Funktion der Sprache (Husserl/ Croce gegen Saussure), andererseits in diejenige um den instrumentalen Charakter der Sprache (Sprache als Instrument des Denkens, das Denken überhaupt erst faßbar macht; Cassirer, Wittgenstein etc.). 144* Zu den Problemen, die Saussures Annahme von zwei vorsprachlichen amorphen Massen aufwirft, die dann durch das Auftreten der Sprache gegliedert werden, cf. D E M AURO 1968/ 1972 N226, der sich dabei v. a. auf die Prolegomena von Hjelmslev beruft (H JELMSLEV 1968); ferner A MACKER 1975: 58ss. 145* Zum Verhältnis von Saussures «langue-Form» und Hjelmslevs «langue-Schema» cf. D E M AURO 1968/ 1972 N227, wo auch das Verhältnis zur Sapir-Whorf-Hypothese diskutiert wird. - Für die Kritik an der «reinen Form-Hypothese» cf. auch R AGGIUNTI 1982: 123ss., J ÄGER 2010: 180ss. 146* Cf. hierzu auch R AGGIUNTI 1982: 140ss., B OUQUET 1997: 311ss., D E P ALO 2001: 121ss. - Raggiunti setzt sich hier v. a. mit der terminologischen Vielfalt für die inhaltliche Seite des Zeichens auseinander: valeur, signifié, sens, concept wechseln immer wieder mit einander ab. Eine erste Klärung erreicht er damit, daß er signifié (Signifikat) als Gegenstück zum signifiant (image auditive; Signifikanten) definiert, d. h. auf die Perspektive des isolierten Zeichens festlegt. Betrachtet man den sprachlichen Inhalt dagegen aus der Perspektive des systematischen Kontextes, erscheint der Inhalt als valeur (Wert); valeur und signifié sind - abgesehen vom Perspektiveunterschied - jedoch identisch. Daneben kommen aber auch noch sens, signification und concept vor. Diese Termini werden von Saussure oft gewissermassen als «alltagssprachliche» Äquivalente für den (wohldefinierten) Fachterminus signifié eingesetzt. Daneben besteht aber auch die Tendenz, signification für den Inhalt auf parole-Ebene zu verwenden (signifé bleibt der langue-Ebene vorbehalten). Cf. hierzu auch W UNDERLI 1981 c; ferner B URGER 1981: 5ss., R AGGIUNTI 1973: 20s., 25ss., R AGGIUNTI 1982: 169ss., v. a. 175ss., der in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Referenzialität insistiert; ferner A MACKER 1975: 72 s., 109ss., M EJÍA 1998: 168ss., D E P ALO 2001: 138ss. 240 3. Ergänzungen und Kommentare 147* Zum Problem von Bedeutung (signification) im Verhältnis zu Sinn (sens) und Signifikat (signifié) cf. D E M AURO 1968/ 1972 N231 und W UNDERLI 1981 c. 148* Saussure geht mit der Behauptung, das Französische kenne den Aspektgegensatz zwischen perfektiv und imperfektiv [überhaupt] nicht, eindeutig zu weit. Er entspricht genau dem, was wir im Bereich der Vergangenheitstempora als die Opposition kursiv / vs./ komplexiv genannt haben. Cf. hierzu W UNDERLI 1976, v. a. 81ss. 149* Der sprachliche Inhalt (Bedeutung, Signifikat) hätte somit absolut arbiträren Charakter. R AGGIUNTI 1982: 157ss. gesteht nun die «absolute Arbitrarität» zwar für den Signifikanten zu, nicht aber für das Signifikat; dieses wäre nicht vollkommen frei, sondern immer bis zu einem gewissen Grade durch die «Welterfahrung» konditioniert und in diesem Sinne nur «relativ arbiträr» (wobei hier relativ arbiträr in einem anderen Sinne verwendet wird als von Saussure in den Einheiten 2088ss.). Raggiunti argumentiert hier allerdings als Philosoph, während Saussures Sicht eine rein linguistische ist. Zudem muß darauf hingewiesen werden, daß Saussure jede Art von Referenzialität mehr oder weniger systematisch aus seinen Überlegungen ausklammert. 150* Was die Herausgeber vollkommen vernachlässigt haben, ist das, was man den «konnotativen Wert» nennen könnte, der sowohl im rhetorischen (parole) als auch im poetischen (langue) Bereich eine große Rolle spielt. Dies ist vielleicht insofern verständlich, als Saussure in seinen Vorlesungen diese Problematik nicht anspricht. Es gibt aber eine Note item, die Nr. 3308, die zu diesem Problemkreis gehört und das Thema zumindest in Bezug auf die Ellipse aufgreift, die als «surplus de valeur» definiert wird (cf. E NGLER 1974: 35 und S AUSSURE 2002: 102). Ausgiebig mit dieser Erweiterung des Saussureschen Wertbegriffs befaßt hat sich C APT -A RTAUD 1994 in ihrem Petit traité de rhétorique saussurienne. Ihre Überlegungen weisen die rhetorischen Figuren eindeutig der linguistique de la parole zu, die im CLG nun gerade nicht systematisch behandelt wird. 151* Saussures Argumentation bezüglich des Münzwertes ist für die heutigen Verhältnisse zutreffend; historisch ist aber der Wert einer Münze mit ihrem Metallwert identisch. - Zum Problem der Arbitrarität des Münzwertes cf. auch A MMANN 1934 b: 263 s. und oben, Einleitung, p. 43. 152* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 287. 153* Aus der Sicht der modernen (experimentellen) Phonetik sind Phoneme in ihrer Rederealisierung (d. h. Phonien) keineswegs eindeutig abgegrenzte Einheiten; sowohl auf artikulatorischer, akustischer wie auch auditiver Ebene besteht ihre Abfolge nur aus einer Kette von Übergängen, in der man bestenfalls so etwas wie Kulminationspunkte (Maxima) und Tiefstpunkte (Minima) feststellen kann. 154* Phonem (phonème) hat hier offensichtlich die Bedeutung, die ihm in der modernen Phonologie zukommt. Der Terminus geht aber an dieser Stelle (wie auch an andern) auf die Herausgeber zurück; die Quellen haben élément phonique; cf. E NGLER 1968: 268 und auch D E M AURO 1968/ 1972 N236. - H ARRIS 1983: 117 N1 kritisiert an dieser Stelle, daß im Cours nicht sauber zwischen phonetischer und phonologischer Ebene geschieden werde: 712ss. wäre das Phonem (phonème) eine phonetische, hier (1922ss.) aber eine phonologische Einheit. Diese Kritik ist nicht ganz unberechtigt, betrifft aber v. a. die Arbeit der Herausgeber (cf. oben). 155* Zu signe, signification, signifié, signifiant cf. auch B ADIR 2001: 36ss., 52ss., 80ss., 107ss. 156* Mit différences conceptuelles und différences phoniques gibt der Vulgatatext die Quellen in abgeschwächter und diffuser Weise wieder; diese (D und III C) haben différence entre signifiants und différences des signifiés (o. ä.), was die Aussage eindeutig auf die langue-Ebene hin orientiert. Cf. E NGLER 1968: 271. - Cf. ferner S AUSSURE 2002: 70 - 81, 82 s. - Zur Zweiseitigkeit des Zeichens und der dynamischen Beziehung zwischen seinen beiden Teilen cf. auch B ULEA 2010: 222 - 31. 3. Ergänzungen und Kommentare 241 157* Nach D E M AURO 1968/ 1972 N241 haben wir hier in nuce den Ansatz zu einer strukturellen Diachronie, deren Fehlen bei Saussure allgemein kritisiert wird. Dieser recht weit hergeholten Interpretation stehen aber die expliziten und wiederholten Aussagen Saussures entgegen, die Diachronie befasse sich nur mit der Veränderung einzelner Einheiten. Daß dies auch Rückwirkungen auf das System haben kann, sieht Saussure aber sehr wohl. 158* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 93 [Kénôme], 96s. [Signe et signification - Réalités sémiologiques], 103 ( 3310.6 Item); ferner S AUSSURE 2002: 131 s. (Signe). - Nach B OUQUET 2010: 40 wäre das Zeichen als Ganzes deshalb ebenfalls ein Wert. Dies ist vielleicht ein möglicher Schluß, findet sich so aber nirgends in den Quellen. Fakt ist, daß sich die Werte auf den beiden Ebenen (Signifikat/ Signifikant) nach Saussures Auffassung unabhängig von einander konstituieren und erst in einem letzten Schritt zueinander in Beziehung gesetzt werden. Nach C OURSIL 2010: 49ss. darf man allerdings nicht Signifikat und Signifikant einander gegenüberstellen, sondern vielmehr Signifikant einerseits und Signifkant + Signifikat andererseits; damit wird der Wertcharakter des Zeichens als Ganzes zumindest wahrscheinlicher. 159* H ARRIS 1983: 119 N1 kritisiert hier die Verwendung von langage (anstelle von langue) im Vulgatatext. Langage stammt in der Tat von den Herausgebern, ist hier aber ganz offensichtlich nicht terminus technicus, sondern alltagssprachlich gebraucht und damit äquivalent mit (alltagssprachlichem) langue. Cf. hier unsere Sprachregelungen (oben, p. 51s.) und E NGLER 1968 b s. langage 1/ 2 und langue 1/ 2 . 160* Zur Problematik der reinen Differenzialität (und damit auch der absoluten Arbitrarität) cf. F REI 1974: 121ss. und S OFÍA 2010: 147ss. Sofía vertritt im Anschluß an Jakobson die Auffassung, daß es reine Differentialität (Negativität) nur auf Phonemebene gebe, während auf Zeichenebene immer auch mindestens ein positives Element vorhanden sei. Dies scheint auch Saussure (wenn auch in vaguer Form) gesehen zu haben. 161* Cf. hierzu auch die Aphorismen XI und XII in S AUSSURE 2002: 123. 162* Cf. hierzu F EHR 1997: 168ss., G ADET 1987: 92ss. und v. a. die Kommentare bei A MACKER 1975: 140ss., R AGGIUNTI 1973: 15ss, R AGGIUNTI 1982: 99ss., M EJÍA 1998: 164ss., D E P ALO 2001: 147ss. und H ARRIS 1987: 124ss. - Hauptkritikpunkt bei Harris ist, daß Saussure (wieder einmal) zu radikal zwischen der syntagmatischen und der assoziativen Dimension scheide und damit die von Firth als Kollokation bezeichnete Relation unberücksichtigt lasse bzw. ausschließe. Ein zweiter Kritikpunkt ist die lineare Basierung der syntagmatischen Relation, was letztlich auf die Ignorierung der Existenz von Bauplänen hinauslaufen würde. - Cf. hierzu auch N166* zu 2021. 163* Diese Aussage ist nur dann zutreffend, wenn man ausschließlich die Segmentalia in Betracht zieht. Sobald man auch den Suprasegmentalia Rechung trägt, können durchaus gleichzeitig zwei und mehr Einheiten realisiert werden, z. B. eine Phonemkette (Signifikant- [en]), ein Intonem (Kontur) und ein Insistenzakzent; dazu können auch noch intonative Affektmodule kommen, und im Rahmen einer umfassenden Kommunikationsanalyse ist auch noch Phänomenen wie der Mimik, der Gestik, des Kotextes usw. Rechnung zu tragen. 164* Cf. hierzu auch B OUQUET 1997: 327ss. 165* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 117 ( 3323.1 Item, 3323.3 Item). 166* Wir haben hier eine der Schlüsselstellen, die deutlich machen, daß Saussure den Satz nicht einfach pauschal der parole zuweist. Vielmehr anerkennt er die Existenz von Satzbauplänen, syntagmatischen Mustern usw. (patrons syntaxiques, types syntagmatiques, types généraux de phrases etc.), die als solche der langue angehören. Ihre Auffüllung mit lexikalischem «Material» ist dagegen ein Redebzw. Aktualisierungsphänomen und charakterisiert den Übergang von der langue zur parole im Rahmen des Sprechaktes. - Cf. hierzu W UNDERLI 1981: 75ss., D E M AURO 1968/ 1972 N251, R AGGIUNTI 1973: 16 s., A MACKER 1975: 207ss., G ADET 1987: 83ss.; ferner B OUQUET 1997: 341ss., 2010: 44 s. 242 3. Ergänzungen und Kommentare 167* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 94 s., wo die Schaffung eines Satzes mit der Aktivität eines Komponisten verglichen wird. 168* Cf. hierzu auch D E P ALO 2001: 150ss. 169* Zu den sprachlichen Assoziationsreihen und -feldern cf. F REI 1942. - Saussures Assoziationstheorie stellt die Grundlage für die (v. a. deutsche) Wortfeldforschung dar. Cf. hierfür und für Literaturhinweise D E M AURO 1968/ 1972 N253; unbedingt zu ergänzen wären T RIER 1931 und 1934. 170* Cf. hierzu A MACKER 1975: 145ss., 150ss., G ADET 1987: 96ss., N ORMAND 2004: 151ss. und v. a. den Kommentar bei H ARRIS 1987: 128ss. - Als zentrales Problem stellt Harris das Fehlen einer Begrenzung der syntagmatischen (linearen) Relationen nach oben dar, was zur Folge hat, daß letztlich z. B. die ganze Aeneis als ein einziges Riesensyntagma zu gelten hat. - Ein weiteres grundlegendes Problem ist nach Harris der Begriff der relativen Arbitrarität. Nach seiner Auffassung handelt es sich hierbei nicht um eine Einschränkung des Arbitraritätsprinzips, sondern um ein eigenständiges Phänomen, das er als Systematizität bezeichnet; dieses ist wohl mit der Syntagmatik in Verbindung zu bringen. 171* Die Einheit 2053 stammt von den Herausgebern (cf. E NGLER 1968: 291) und ist - wie D E MAURO 1968/ 1972 N257 ausführt - v. a. in ihrem letzten Teil problematisch. 172* Der Vergleich ist leider schief. Die sprachliche Eindimensionalität (im segmentalen Bereich) gründet auf der Zeitgebundenheit der Rede; eine Maschine bzw. ihre Teile dagegen sind ein dreidimensionales Phänomen. Richtig ist dagegen, daß in beiden Fällen ein «Ineinandergreifen» vorliegt. 173* Die Vulgata hat hier éléments phonologiques, was man wohl guten Gewissens mit Phonem übersetzen kann. Allerdings stammt der Ausdruck éléments phonologiques hier von den Herausgebern; die Quellen (II R und B) haben unités irréductibles bzw. unités linguistiques (G), was sowohl die Wahl der Herausgeber als auch die des Übersetzers rechtfertigt (cf. E NGLER 1968: 296). Allerdings muß man sich bewußt sein, daß der Status der Termini Phonologie und Phonem bei Saussure schillernd und nicht eindeutig festgelegt ist; cf. hierzu auch E NGLER 1968 b s. v. 174* H ARRIS 1983: 129 N1 kritisiert hier Saussures Darstellung als unzulänglich bezüglich des Status des Phonems (speech sound) und argumentiert dahingehend, daß - wenn die paradigmatische und die syntagmatische Dimension gleichrangig wären - das s in engl. slip und lisp zwei verschiedene Phoneme repräsentieren müßte. Dazu ist zu sagen: 1. der Ausdruck phonème in Einheit 2085 stammt wiederum von den Herausgebern; die Quellen haben einfach unité (découpée). 2. Die Kritik von Harris greift nicht, weil es Saussure an dieser Stelle nicht um das Phoneminventar als solches geht; er will vielmehr deutlich machen, daß die distributionellen Charakteristika eines Phonems ebenfalls zu seinem Wert (valeur) gehören. Das bedeutet aber keineswegs, daß er paradigmatischen und syntagmatischen Kontrast als gleichrangig ansehen würde; der letztere ist vielmehr dem ersteren untergeordnet. 175* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 327ss. - Ferner die Kommentare bei A MACKER 1975: 174 SS ., G ADET 1987: 101ss., M EJÍA 1998: 113ss., 116ss. und N ORMAND 2004: 93ss. 176* Cf. hierzu auch H ARRIS 1987: 134 s.; N ORMAND 2004: 90 SS .; B ÉGUELIN 2010: 259 s. - Für einen auch die Lautlehre einbeziehenden Text cf. S AUSSURE 2002: 196 s. 177* Für ergänzende Texte zur Morphologie (in deutscher Übersetzung) cf. F EHR 1997: 285 - 96. - Zur zentralen Stellung der Morphologie in Saussures Theoriegebäude und ihrer Rolle bei dessen Ausarbeitung cf. auch B ERGOUNIOUX 2010: 106 - 15. 178* Diese Klassifikation der Präpositionen ist problematisch und beruht wohl v. a. auf der (diachronischen) Tatsache, daß die Präpositionen (z. B. in den romanischen Sprachen) die lateinischen Kasus ersetzt haben. Gegen ihre Zuweisung an die Grammatik spricht aber die Tatsache, daß sie keine geschlossene, sondern eine offene Reihe bilden, die jederzeit durch 3. Ergänzungen und Kommentare 243 Neubildungen ergänzt werden kann. Dazu kommt noch, daß ihr (semantischer) Gehalt viel spezifischer ist als derjenige der Kasus; nicht umsonst werden sie deshalb in der Regel auch in den Wörterbüchern behandelt. 179* Für eine Wiederaufnahme von Saussures Kritik an der traditionellen Gliederung der «Grammatik» in Lexikon, Morphologie, Syntax usw. cf. jetzt auch L A F AUCI 2011: 25ss., der sich mit aller Schärfe gegen eine mit einem Lego-Baukasten vergleichbare Sprachkonzeption wendet. 180* So eindeutig wie hier dargestellt ist diese Zuordnung allerdings nicht. Akzeptiert man die Existenz von syntaktischen Mustern, patrons, Satzbauplänen usw. (was Saussure immerhin ansatzweise tut), dann bilden auch diese Paradigmen, Assoziationsreihen usw. 181* Cf. auch A MACKER 1975: 184ss., G ADET 1987: 104ss., B OUQUET 1997: 301ss. und v. a. den Kommentar bei H ARRIS 1987: 136ss. - Für Harris ist Saussures (einziges) Beispiel für eine abstrakte Entität, der lateinische Genitiv, problematisch, da inkohärent; damit wird der praktische Nutzen einer derartigen Kategorie zwar nicht geleugnet, wohl aber ihre wissenschaftlich konsistente Fundierung. Für Harris wäre die Existenz von syntagmatischen Mustern (patrons) ein viel besseres Beispiel für die abstrakten Entitäten gewesen. - Cf. hierzu auch W UNDERLI 1981: 75ss. 182* Auch hier muß wieder darauf hingewiesen werden, daß Saussure (wie immer) die Rolle der Intonation bzw. der Suprasegmentalia vernachlässigt. Je dois und dois-je unterscheiden sich nicht nur durch die Wortordnung, sondern auch durch die Intonationskontur (continuation oder finalité vs. interrogation). Cf. hierzu auch W UNDERLI 1987: 9ss. 183* Die Attacke gegen eine «körperlose Syntax» schießt deutlich über das Ziel hinaus. Auch im syntaktischen Bereich gibt es neben den (konkreten) Einheiten (abstrakte) Entitäten, und diese Entitäten sind die Syntagmen- und Satzbaupläne. Cf. hierzu W UNDERLI 1981: 75ss. 184* Saussures Argumentation bzw. diejenige der Herausgeber bleibt mir unklar; auf jeden Fall fehlt auch hier der Begriff des Bauplans (patron). - Überdies muß darauf hingewiesen werden, daß das Beispiel The man I have seen und seine französische Entsprechung keineswegs beweist, was es beweisen soll. Im Altfranzösischen kommen beide Konstruktionen (l ’ uem j ’ ai vu und l ’ uem que j ’ ai vu) nebeneinander vor. Die Annahme, ein «Nichts» könne für ein «Etwas» stehen, ist also keineswegs eine interpretatorische Fehlleistung aus dem intersprachlichen Bereich. 185* Mit den «kleineren Einheiten» ist offensichtlich das Wort gemeint; diese Interpretation ergibt sich aus den Quellen II R und G mit absoluter Eindeutigkeit. 186* Cf. hierzu und v. a. zum (ungeklärten) Begriff der Substitution H ARRIS 1987: 139 s. - Für F ADDA 2010: 271ss. ist jedes diachronische Sprachphänomen eine Substitution, und kein Wandel (changement); es gäbe somit keinen Unterschied zwischen dem lautlichen (Phonetik) und dem morphologischen (Analogie) Bereich, wie man dies aufgrund der Einheiten 2480ss. des Vulgatatextes annehmen könnte. 187* Cf. hierzu und zum Folgenden auch S AUSSURE 2002: 156ss., 164ss. 188* Literatur ist allerdings nicht zwingend an die Existenz von Schrift gebunden: es gibt auch oral tradierte Literatur. Auch in diesem Fall erweist sich die Sprache gegenüber der Alltagssprache als deutlich konservativer; ob wir es gegenüber der Sprache der geschriebenen Literatur mit einem abgeschwächten oder verstärkten Konservativismus zu tun haben, ist eine noch zu klärende Frage. 189* Wenn Saussure von der «ganzen Phonetik» spricht, dann ist auch hier darauf hinzuweisen, daß damit (wie immer bei ihm) nur die historische Lautlehre gemeint ist. Cf. hierzu auch W UNDERLI 1981, v. a. 22ss. 190* Cf. hierzu den Kommentar bei H ARRIS 1987: 141ss. - Harris kritisiert v. a., daß Saussures Konzeption des Lautwandels äußerst konservativ (und damit im wesentlichen 244 3. Ergänzungen und Kommentare junggrammatisch) sei. Insbesondere fehle bei ihm die Einsicht, daß Faktoren der Sprachstruktur beim Lautwandel eine (positiv oder negativ) konditionierende Rolle spielen können, und zwar sowohl (und v. a.) was die Ausgangsstruktur als auch die Ergebnisstruktur angeht. Diese Einsicht findet sich dann erst im Prager Strukturalismus. Grund für Saussures «Verweigerung» in dieser Hinsicht wäre, daß dadurch die scharfe und absolute Trennung von Synchronie und Diachronie unterlaufen würde. - Cf. ferner M EJÍA 1998: 79ss., 85ss. 191* Auch hier stammt der Terminus phonème/ Phonem wieder von den Herausgebern; die einzige Quelle (I R) hat unspezifisches élément (E NGLER 1968: 328). Cf. hierzu auch D E M AURO 1968/ 1972 N111, 131, 270 u. passim. 192* D E M AURO 1968/ 1972 N271 will unter den spontanen phonetischen Veränderungen die Phonologisierung von freien Varianten, unter kombinatorischen phonetischen Veränderungen diejenige von kombinatorischen phonetischen Varianten verstanden wissen. Dies mag in zahlreichen Fällen zutreffen, kann aber keineswegs generalisiert werden: Wenn im Französischen z. B. / ts/ zu / s/ oder / ɫ / zu / j/ wird, entsteht dabei kein neues Phonem, denn / s/ und / j/ existieren bereits im System. 193* Der «blinde Charakter» der Lautentwicklungen ist v. a. von den Phonologen (insbesondere der Prager Schule und ihren Sympathisanten) heftig bestritten worden zugunsten einer teleologischen Sichtweise. Cf. hierfür auch D E M AURO 1968/ 1972 N176. 194* Cf. hierzu auch den Kommentar von H ARRIS 1987: 144ss. - Harris kritisiert in erster Linie die im Cours gegebenen Beispiele für die synchronischen Folgen eines diachronischen Wandels. Seine Kritik fällt im wesentlichen zusammen mit unserer Kritik der diachronischen Identität (cf. hierzu auch N141* zu 1761 und N213* zu 2742). 195* Nach D E M AURO 1968/ 1972 N277 ist b īʒ an nicht westgermanisch, sondern schlicht hochdeutsch. Der Fehler geht nicht auf Saussure, sondern die Herausgeber zurück, cf. E NGLER 1968: 348. 196* Zur Alternanz cf. auch S AUSSURE 2002: 63s., 270 s.; ferner den Kommentar bei A MACKER 1975: 163ss. 197* Die vorliegende Formulierung ist aus phonetischer Sicht unhaltbar; es wird hier einfach mit den Graphien argumentiert. Im Falle des haupttonigen eu haben wir es mit einem ursprünglichen Diphthongen zu tun, dem heute aber ein Monophthong entspricht (/ ø/ oder / œ / ). Vortoniges ou dagegen war nie ein Diphthong, sondern immer ein Digraph für / u/ (das auf die Schließung eines ursprünglichen [vortonigen] / o/ zurückgeht); er diente der Vermeidung einer Homographie mit u = / y/ . 198* Das französische Beispiel zeigt auf der graphischen Ebene keinen Unterschied (beide Male in-), wohl aber auf der phonetisch-phonologischen (/ ε ̃ - / vs. / in-/ ). 199* Die Vorbehalte gegenüber dem Ausdruck permutation/ Permutation sind heute nicht mehr gültig; der Ausdruck Permutation wird in der modernen Linguistik praktisch ausschließlich für synschronische Alternanzphänomene verwendet. 200* Cf. hierzu auch G ADET 1987: 107ss., M EJÍA 1998: 37ss., Normand 2004: 86ss. und v. a. H ARRIS 1987: 148ss. - Harris stößt sich v. a. an Saussures Aussage, bei der Analogie handele es sich nicht um einen Wandel, sondern um eine Schöpfung; damit wird der Wandel praktisch auf den Lautwandel reduziert. Die trickreiche Argumentation Saussures ist letztlich wieder auf seine scharfe Trennung von Synchronie und Diachronie zurückzuführen: Wenn die Analogie ein Wandel wäre, würde diese Grenzziehung verwischt, denn die Schaffung einer (neuen) analogischen Form ist ein synchronisches Phänomen. - Zur Analogie cf. auch S AUSSURE 2002: 160ss. 201* Zur Rolle der Analogie als Kreativitätsprinzip und -motor cf. W UNDERLI 1981: 50 - 74, insbesondere 69ss. - Cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N280. 3. Ergänzungen und Kommentare 245 202* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 85ss., obwohl das Fragment (unzutreffend) mit «[Changement analogique]» überschrieben ist. - Cf. auch oben, N200* zu 2455. 203* Cf. hierzu auch A MACKER 1975: 196ss., W UNDERLI 1981 (1974): 69ss. 204* Cf. hierzu auch den im Wesentlichen lobenden Kommentar bei H ARRIS 1987: 153 s. - Harris unterstreicht, daß Saussure als Erster gesehen habe, daß sowohl das Auftreten als auch das Ausbleiben von Veränderungen im Rahmen der auf der Arbitrarität des Zeichens gründenden Sprachkonzeption erklärungsbedürftig seien. Sein Geniestreich bestehe darin, beides auf das Analogieprinzip zurückzuführen. 205* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 95, wo allerdings anstelle von parole das umfassendere discours bzw. discursif verwendet wird. - Überdies R ASTIER 2010: 318 s. 206* Die Einheiten 2607 - 2609 stammen zum größten Teil von den Herausgebern; einzig 2608 findet eine substantielle Stütze in der Einheit 2570 (cf. E NGLER 1968: 393 und 385). Aber selbst hier haben Bally und Sechehaye prägend eingegriffen durch die Einführung des Begriffs économie de la langue, der in der einzigen Quelle (I R) nicht vorkommt. Der Ökonomiebegriff ist von M ARTINET 1955 wieder aufgenommen und zum Kern seiner diachronischen Phonologie gemacht worden. Cf. ferner auch H AUDRICOURT / J UILLAND 1970. 207* Auch hier kritisiert H ARRIS 1983: 170 N1 mécanisme du langage im Vulgatatext, obwohl der Entscheid der Herausgeber durch die Quelle I R (Einheit 2521) gestützt wird. Cf. hierzu E NGLER 1968: 394 und oben N160* zu 1960. 208* Cf. auch den Kommentar bei H ARRIS 1987: 155ss. - Harris diskutiert v. a. Saussures Trennung von Analogie und Volksetymologie, die er im wesentlichen für ungerechtfertigt hält: Eine Volksetymologie wäre so etwas wie eine defiziente oder fehlgeleitete Analogie. Das paßt aber nicht in Saussures Konzept, weil so die zentrale Rolle, die er der Analogie im Sprachleben zuweist, in Frage gestellt würde; für ihn bleibt die Volksetymologie eine von der Analogie verschiedene pathologische Erscheinung. Daran ändert sich auch nichts, wenn die Herausgeber ab der 2. Auflage des Cours das Adjektiv pathologique in Einheit 2670 streichen. 209* Cf. hierzu auch H ARRIS 1987: 158ss. - Für Saussure ist die Analogie eine willentliche und intentionale Prozedur, während die Agglutination ein mechanischer Prozess wäre. Allerdings kann Harris eine Reihe von Problemen und Inkonsistenzen in Saussures Analogiekonzept aufzeigen. 210* Zur Agglutination cf. auch F REI 1929: 109ss., der sie als figement oder brachysémie bezeichnet und sich ausdrücklich auf Saussure bezieht. 211* Zur Analogie cf. auch S AUSSURE 2002: 266 s. 212* Zum Identitätsproblem (und insbesondere zur diachronischen Identität) cf. A MACKER 1975: 29 S ., W UNDERLI 1995, B ÉGUELIN 2010: 252 - 57. - Für den kursorischen Kommentar zu diesem Kapitel cf. H ARRIS 1987: 162ss.; überdies H ARRIS 1987: 201. - Cf. ferner auch S AUSSURE 2002: 84 s., 164ss. 213* Cf. oben den Kommentar zu 1761 (N141*). - Wir haben es hier mit dem zweiten Teil der von den Herausgebern willkürlich aufgespaltenen Identitätsdiskussion bei Saussure zu tun (D E M AURO 1968/ 1972 N217 und 288). - Cf. auch W UNDERLI 1995; F EHR 1997: 99ss. 214* Alle französischen Auflagen haben irrtümlicherweise troisième et quatrième parties. Wir korrigieren in Übereinstimmung mit D E M AURO 1968/ 1972 N289. - Für einen Kommentar zu dieser Sektion cf. H ARRIS 1987: 167ss. Von besonderem Interesse ist in Anhang A die Kritik an den Junggrammatikern, die von Harris subtil analysiert wird. In Anhang B interessiert v. a. die Diskussion um Wurzel, Stamm, Stamm 2. Grades, Suffixe usw., deren Relationen nicht einfach auf linearer Basis dargestellt werden können; oder wie ich sagen würde: Sie lassen sich nur über Baupläne fassen. 246 3. Ergänzungen und Kommentare 215* Die von Saussure hier vertretene Etymologie ist wohl eher eine Volksetymologie, die auf Isidor von Sevilla zurückgeht; sie findet sich aber auch im REW, bei B LOCH / W ARTBURG , usw. Anders dagegen B ATTISTI / A LESSIO 3: 1988, DDM 263, usw. 216* Cf. hierzu auch S AUSSURE 2002: 181; ferner H ARRIS 1987: 170. 217* Nach der Konzeption von Saussure hätte dieser Teil am Anfang des Cours stehen sollen und gewissermaßen die Einleitung gebildet; er ist von den Herausgebern ans Ende transferiert worden, weil für sie die theoretischen und methodischen Überlegungen Vorrang hatten. - Cf. hierzu auch D E M AURO 1968/ 1972 N291; ferner den Kommentar bei H ARRIS 1987: 171 s., sowie F EHR 1997: 80ss. - Für handschriftliche Notizen Saussures zum Thema cf. auch die Note 23.1 (3334) bei E NGLER 1974: 46; deutsche Übersetzung bei F EHR 1997: 386ss.; ferner S AUSSURE 2002: 166ss., 307 - 25. 218* Cf. den Kommentar bei H ARRIS 1987: 173 s., der dieses Mal außerordentlich harsch ausfällt und Saussure letztlich vorwirft, das Mehrsprachigkeitsproblem vollkommen an der Realität vorbei darzustellen. Vor allem die (idealisierende) Annahme, daß Einsprachigkeit der Normalfall, Mehrsprachigkeit dagegen abnormal und marginal wäre, ist unhaltbar. Aber auch die übrigen Ausstellungen von Harris sind keineswegs unberechtigt. Saussure hat sich hier auf ein Gebiet vorgewagt, mit dem er wenig vertraut war und das für (abstraktive) Systematisierungen wenig geeignet ist. 219* In dieser verkürzten Form ist die Formulierung anfechtbar. Das Angelsächsische und das Normannische existierten nach der normannischen Eroberung vorerst (v.a diastratisch, sekundär auch diaphasisch) voneinander getrennt. Erst im Laufe der Jahrhunderte ergab sich eine fortschreitende Durchdringung und schließlich Fusion. 220* Zur problematischen Stellung der sprachlichen Varianz im CLG cf. auch B IERBACH 1978: 65ss. und W UNDERLI 1986. - Die von Bierbach aufgezeigten Probleme können gelöst werden, wenn das System nicht als starres Gefüge, sondern als ein in sich und bezüglich seiner Einheiten elastisches Gebilde konzipiert wird; damit werden Varianten nicht mehr aus dem System gedrängt. 221* Aber nicht nur die «offizielle Sprache» nimmt dialektale (ebenso wie diastratische und diaphasische) Elemente auf, gleichzeitig werden die Dialekte usw. auch von Elementen der «offiziellen Sprache» infiltriert (z. B. unter dem Einfluß der Massenmedien); dies führt dazu, daß sie ihren je spezifischen Charakter in zunehmendem Maße abbauen und sich einander immer mehr annähern. Die jüngere Entwicklung der Dialekte z. B. in Deutschland und Italien belegt dies eindrücklich. 222* Die Argumentation Saussures ist für mich schwer nachvollziehbar; in ihrer extremen Verkürzung ist sie nicht nur ungenau, sondern unhaltbar. Vor allem trägt sie auch dem Phänomen des parachutage nicht Rechnung. - Zur Sprachsituation in Belgien cf. z. B. D AHMEN 1992. 223* Cf. den Kommentar bei H ARRIS 1987: 175ss. Er stellt zu Recht heraus, daß für Saussure der Raum letztlich unerheblich für die Sprachdiversität sei, daß diese einzig auf dem Zeitfaktor beruhe. Daß der Zeitfaktor bei ihrer Entstehung eine zentrale Rolle spielt, ist unbestritten; deswegen ist aber der Raumfaktor noch lange nicht unerheblich; vielmehr wäre sein Zusammenspiel mit dem Zeitfaktor eine vertiefte Analyse wert. Weiter ist aber auch noch zu betonen, daß der Zeitfaktor nur bei der Entstehung der Diversität eine Rolle spielt. Geht es dagegen um einen gegebenen Zustand, ist er unerheblich. Allerdings lehnt Saussure einen «synchronischen» Vergleich von Sprachen und Sprachvarietäten ab; dies ist eine Folge seiner Beschränkung des Synchroniebegriffs auf das Sprachsystem bzw. der Elimination aus der Synchronie all dessen, was er als zur linguistique externe gehörig betrachtet. 224* Cf. hierzu und für das Folgende auch S AUSSURE 2002: 166ss., 291ss. 225* Cf. hierzu und für das Folgende auch S AUSSURE 2002: 170ss. 3. Ergänzungen und Kommentare 247 226* Hier sind wieder einige präzisierende Bemerkungen notwendig, denn der Text des CLG ist nur bedingt zutreffend: 1. Es geht hier primär um Isoglossen und Grenzen von Dialektmerkmalen, und nicht um Dialekte. 2. Auch der Dialekt ist eine Abstraktion bzw. Fiktion und in sich heterogen; von Dialektgrenzen kann man nur in idealisierender Weise sprechen, wenn sich in einem bestimmten Gebiet die Isoglossen (Grenzen von Dialektmerkmalen) gewissermaßen bündeln. 3. Eine gewisse Homogenität bietet nur die Sprache des Individuums, und auch in diesem Fall kann eine Tendenz zur Heterogenität nicht ausgeschlossen werden (diastratische und diaphasische Ausdifferenzierungen). - Cf. zu dieser Problematik P ARIS 1888 (1909), H ORNING 1893, G AUCHAT 1905, R OUSSELOT 1891; zusammenfassend W UNDERLI 2001: 156ss. 227* Wenn Saussure die Sprachatlanten nur als Materialquellen betrachtet, dann reduziert er ihre Bedeutung in unzulässiger Weise. Sie sind in erster Linie einmal Darstellungen der räumlichen Dimension des Phänomens Sprache und haben damit ihren ureigensten Geltungsbereich. - Zudem ist heute der Verweis auf Gilliéron und den ALF zu ergänzen durch eine Würdigung der neueren Sprachatlanten wie z. B. der AIS von Jaberg und Jud, der NALF von Albert Dauzat, usw. Cf. hierfür v. a. G RASSI 2001 sowie die Beiträge zur Areallinguistik in LRL 4 und 5/ 1. - Zu Saussures Verhältnis zur Sprachgeographie cf. auch V ALLINI 2000. 228* Saussures Terminologievorschlag (Innovationswellen) scheint mir wenig adäquat zu sein, denn er ist eindeutig diachronisch orientiert; Isoglossen sind aber ein synchronisches Phänomen; der Terminus, der sich inzwischen eingebürgert hat, sollte beibehalten werden. 229* Cf. auch den Kommentar bei H ARRIS 1987: 178ss. - Saussure sieht die Ausbreitung von sprachlichen Neuerungen erneut als rein zeitgebundenes Phänomen; Harris kritisiert zu Recht, daß irgendwelche strukturelle Voraussetzungen für eine solche Ausbreitung überhaupt nicht in Betracht gezogen würden, was letztlich zu Saussures Ablehnung jeder strukturellen Diachronie paßt. 230* Der Ausdruck intercourse findet sich bereits in der 3. Antrittsvorlesung von 1891, cf. S AUSSURE 2002: 167; ferner S AUSSURE 2002: 294, 319ss. - Zum Verhältnis von force d ’ intercourse und esprit de clocher cf. auch F REI 1929: 291 s. - Zur sprachtheoretischen Bedeutung des intercourse-Begriffs cf. L INDA 2001: 49ss. 231* Das Urteil von H ARRIS 1987: 181 s. über den 5. Teil des Cours ist - v. a. an die Adresse der Herausgeber - vernichtend. Einmal präsentiert sich dieser Teil als eine Art Mülleimer, in den alles Eingang findet, was vorher nirgends sinnvoll untergebracht werden konnte. Überdies sieht Harris keinen Grund, die Unterscheidung von prospektiver und retrospektiver Diachronie nicht im 3. Teil (Diachronie) ausführlich und abschließend zu behandeln. Man kann den Herausgebern einzig zugute halten, daß die Wahl der retrospektiven Perspektive einen von der prospektiven Diachronie vollkommen verschiedenen Gegenstand mit seiner eigenen Methode schafft. 232* Cf. auch den Kommentar bei H ARRIS 1987: 183. Das Kapitel nimmt im Wesentlichen die Auseinandersetzung mit den Komparatisten im ersten Kapitel der Einleitung wieder auf. 233* Cf. H ARRIS 1987: 184ss. - Das Kapitel ist zwei Anliegen Saussures gewidmet: 1. Die Rekonstruktionen sind keine reinen Abstraktionen, die nur eine gewisse Zahl von Hypothesen des Linguisten resümieren, sondern haben einen ähnlichen Status wie Beschreibungen im Rahmen eines Sprachzustands - zumindest dann, wenn die Rekonstruktion der Chronologie genügend Rechnung trägt; 2. Den Rekonstruktionen kommt ein gewisser Wahrscheinlichkeitskoeffizient zu, der die Wahrscheinlichkeitskoeffizienten der einzelnen Rekonstruktionsschritte gewissermaßen resümiert. Nach Harris sind beide Probleme nicht befriedigend gelöst. 248 3. Ergänzungen und Kommentare 234* Was die Ermittlung der Zahl der Laute angeht, kann man Saussure vielleicht zustimmen; was dagegen ihre Abgrenzung angeht, gelten die bereits in N65* zu Einheit 726 gemachten Vorbehalte weiterhin. 235* Cf. auch H ARRIS 1987: 188 s. - Saussure lehnt jeden Zusammenhang zwischen Sprache und Rasse ab, und auch hinsichtlich der paläontologischen Relevanz von sprachlichen Fakten ist er ablehnend. Entsprechendes gilt (aber in umgekehrter Richtung) für die Gruppen- oder Völkerpsychologie, deren Einfluß auf die Sprachentwicklung geleugnet wird. Letzlich haben wir hier nur die Konsequenzen der beiden Positionen, daß a) Sprachbzw. Lautentwicklung «blind» verläuft, und b) die Linguistik sich nur mit dem Sprachsystem befassen soll. 236* Die hier von Saussure beschriebene linguistische Paläontologie ist etwas ganz anderes als das, was Meyer-Lübke Sprachpaläontologie nennt; diese entspricht der retrospektiven Linguistik bei Saussure. - Cf. hierzu W UNDERLI 1975: 57 s. 237* Cf. auch H ARRIS 1987: 190 s. - Nach Saussure ist die Zugehörigkeit einer Sprache zu einem bestimmten Typus keineswegs ein für allemal gegeben, und typologische Veränderungen verlaufen ebenso zufällig und blind wie der Lautwandel. Er lehnt so etwas wie eine «strukturelle (historische) Typologie» ebenso ab wie eine strukturelle Diachronie. 238* Der angeblich von den Herausgebern stammende Schlußsatz des Cours hat zu endlosen Diskussionen Anlaß gegeben (cf. auch D E M AURO 1968/ 1972 N305; H ARRIS 1987: 191 s.; B OUQUET 2010: 38s.), denn man hat in der Regel langue im Sinne von ‘ Sprachsystem ’ interpretiert, und den Schlußsatz zudem noch mit dem Fehlen einer linguistique de la parole in Zusammenhang gebracht. Dazu ist zu sagen: 1. Der Schlußsatz des Cours ist nicht einfach eine Erfindung der Herausgeber Bally und Sechehaye, sondern hat durchaus eine Grundlage in den Quellentexten, nämlich in den Einheiten 365 - 70, wo es um die Trennung von langue und parole bzw. deren Untersuchung geht. Hier lesen wir z. B. in den Notizen von Constantin zum 3. Cours: 365 C ’ est l ’ embranchement, la bifurcation que l ’ on rencontre immédiatement, savoir si c ’ est la parole ou la langue qu ’ on prend comme objet d ’ étude. 366 On ne peut s ’ engager simultanément sur les deux routes, faut les suivre toutes deux séparément ou en choisir une. 369 Nous l ’ avons dit, c ’ est l ’ étude de la langue que nous poursuivons pour notre part. 367 Maintient-on le nom de linguistique pour les deux choses réunies ou faut-il le réserver à l ’ étude de la langue? <Nous pouvons distinguer en> linguistique de la langue et linguistique de la parole. 370 Cela dit, il ne faut pas en conclure que dans la linguistique de la langue il ne faut jamais jeter de coup d ’œ il sur la linguistique de la parole. <Cela peut être utile, mais c ’ est un emprunt au domaine voisin.> Hier ist langue allerdings als terminus technicus zu verstehen, d. h. als ‘ Sprachsystem ’ zu interpretieren. Saussure geht es aber nicht darum, die Untersuchung der parole aus der Linguistik auszuschließen, sondern nur darum, vor der Vermischung der beiden Untersuchungstypen zu warnen. 2. Bally und Sechehaye haben dies in verschärfter Form auf den Schluß des Cours (3281) übertragen und daraus einen Ausschluß all dessen aus der Linguistik gemacht, was nicht das Sprachsystem betrifft. Sie haben dabei übersehen, daß sie so einen Großteil des im Cours behandelten Stoffes aus der Linguistik verbannen, was keineswegs im Sinne Saussures sein kann (cf. hierzu auch die Einheiten 371 - 75 im Skript von Constantin [E NGLER 1968: 59]). - Cf. hierzu auch N ORMAND 2004: 101 s. 3. Das Problem kann gelöst werden, wenn in 3281 langue als alltagssprachlicher Terminus interpretiert wird; die Linguistik umfaßt dann nicht nur die Untersuchung des Sprachsystems, sondern auch der Rede, nicht nur die Synchronie, sondern auch die Diachronie. Unklar bleibt, ob oder bis zu welchem Grade auch die linguistique externe mit einbezogen werden kann und muß. 3. Ergänzungen und Kommentare 249 4. Daraus ergibt sich allerdings auch, daß linguistique/ Linguistik polysem wird (was im Saussureschen Sprachgebrauch nichts Ungewöhnliches ist): Der Terminus bezeichnet 1. die Untersuchung aller Aspekte von Sprache im alltagsprachlichen Sinn, und 2. die Untersuchung von Sprache im Sinne eines terminus technicus ( ‘ Sprachsystem ’ ). - Cf. hierzu auch E NGLER 1968b s. linguistique. 5. Es muß weiter festgehalten werden, daß die linguistique de la parole im Cours keineswegs einfach fehlt - es ist ihr nur kein eigener Teil gewidmet; in seinen Argumentationen kommt Saussure aber immer wieder auf die parole zu sprechen und behandelt auch (verstreut) ihre wesentlichen Charakteristika. Cf. hierzu auch E NGLER 1968b s. parole; V ALLINI 1974. 6. J ÄGER 2010: 105 versucht, den Schlußsatz des Cours auf zwei Humboldtzitate zurückzuführen, was zumindest als möglich zu gelten hat. Er betont aber zu Recht, daß die Kontextualisierung bei Humboldt und bei Bally/ Sechehaye grundverschieden ist. Bei Humboldt und dem ‘ authentischen ’ Saussure würde «Sprache an sich» die Sprache in ihrer soziokulturellen Situiertheit meinen, bei den Herausgebern des Cours dagegen für den strukturalistischen Sprachbegriff stehen. Jägers Position konvergiert hier im wesentlichen mit der meinigen. - Cf. hierzu auch A MACKER 1975: 27 s. 250 3. Ergänzungen und Kommentare 4. Bibliographie A BEGG , E MIL 1923: * 2 CLG, Wissen und Leben 10. 8. 1923: 919 s. 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Zweisprachige Ausgabe französisch - deutsch mit Einleitung, Anmerkungen und Kommentar, 1 Tübingen (+ eBook) W UNDERLI , P ETER 2013b: «Saussure - ou la mer à boire», HL 40: 229-47 (= J OSPEH 2012) 264 4. Bibliographie Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Hilke Elsen Linguistische Theorien narr studienbücher 2014, 264 Seiten, €[D] 22,99 / SFr 31,90 ISBN 978-3-8233-6847-2 DieserBandpräsentierteinenÜberblicküberdieunterschiedlichen Richtungen in der Theoriebildung der Linguistik, ihre zentralen Vertreter/ innen sowie über Anwendungsmöglichkeiten und Umsetzungen. Er beschreibt die geschichtliche Entwicklung und Einbettung sowie die Wechselbeziehungen zwischen den Schulen bis hin zu aktuellen Strömungen wie der Konstruktionsgrammatik, um Einsichten in grundlegende Konzepte, Kernannahmen und Arbeitsweisen in ihrem Entstehungszusammenhang zu vermitteln. Dabei finden neben Grammatikmodellen auch Sprachwandelkonzepte und zeichentheoretische Ansätze Berücksichtigung. Der Schwerpunkt liegt auf Theorien, die für die germanistische Linguistik von Bedeutung sind. Unterstützt wird die Darstellung durch Übungen, die in die jeweilige Denk- und Arbeitsweise einführen. Literaturhinweise im Anschluss an die Kapitel bieten die Möglichkeit zur Vertiefung. Der Band versteht sich als Lehrwerk bzw. Begleitlektüre zu Seminaren im Hauptstudium und ist daher in 14 Kapitel gegliedert, die sich jeweils als Grundlage für eine Unterrichtseinheit eignen. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Hans Jürgen Heringer Linguistik nach Saussure Eine Einführung UTB M 2013, 160Seiten €[D] 19,99/ SFr 28,00 ISBN 978-3-8252-4014-1 Das Buch versteht sich als Einführung in Grundkonzepte der Linguistik. In sechs Kapiteln präsentiert Heringer Einsichten de Saussures und problematisiert die Folgerungen daraus: Das Langue-Parole-Problem, die Natur des sprachlichen Zeichens, Sprachsystem und sprachlicher Wandel. Jedes Kapitel beschließt eine sprachkritische Anwendung. Reichlich aufgaben dienen der Weiterführung. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Peter Janich Sprache und Methode Eine Einführung in philosophische Reflexion UTB 4124 2014, XX, 244 Seiten, €[D] 24,99 / SFr 34,70 ISBN 978-3-8252- 4124-7 Wir machen uns in Rede und Gegenrede wechselseitig verantwortlich für das, was wir sagen. Das hat das Sprechen mit dem Handeln gemeinsam. Als Einführung in das Sprechen über das Handeln, einschließlich aller Sprechhandlungen, bietet das Buch einen Kanon von Verfahren zur Begriffsbildung und zum Verständnis sprachlicher Kommunikation als spezifisch menschliche Kulturleistung. Es betrachtet kritisch die Besetzung des Menschenbildes durch Naturwissenschaften und bietet eine methodische Alternative. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Albert Busch / Oliver Stenschke Germanistische Linguistik 3., überarb. und erw. Auflage 2014 VIII, 263 Seiten, €[D] 16,99 / SFr 24,00 ISBN 978-3-8233-6855-7 Die bewährte Einführung in die germanistische Linguistik ist speziell auf die Bedürfnisse der modularisierten Studiengänge zugeschnitten. Sie ist in 14 Einheiten gegliedert, die sich an einem typischen Semesterplan orientieren und somit direkt für Lehrveranstaltungen im Rahmen eines „Basismoduls Germanistik“ bzw. „Germanistische Linguistik“ verwendet werden können. Sie beziehen sich auf die übergeordneten Themenbereiche „Sprache als System“ und „Sprache im Gebrauch“. Die einzelnen Einheiten dienen zum einen der Vermittlung von Basiswissen, zum anderen dem Erwerb der Kompetenz, dieses Wissen selbständig anzuwenden. Sie sind daher gegliedert in einen wissensvermittelnden Teil mit klar abgesetzten Definitionen und einen Übungsteil. Zu beidem gibt es auf der begleitenden Homepage www.bachelor-wissen.de ergänzende Angebote, mit denen die erworbenen Kompetenzen vertieft werden können. Für die 3. Auflage wurde insbesondere das Kapitel zur Pragmatik gründlich überarbeitet. „Das Buch bietet für Anfangssemester eine sehr gut verständliche Einführung.“ ekz-Informationsdienst Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Le présent volume complète le premier tome de cette édition du Nouveau Testament de Lyon (2009; Romanica Helvetica 128). Il fournit une analyse approfondie de la langue du texte (grapho-phonématique et morpho-syntaxe), un Glossaire copieux et ouvrant des perspectives sur la lexicologie, ainsi qu’un Index des noms complet. Les traits caractéristiques de cette traduction de la Vulgate remontant à la deuxième moitié du 13e siècle renvoient pour la plupart à la partie ouest du Languedoc; une précision ultérieure n’est pas recommandable, étant donné que nous n’avons pas affaire à un dialecte, mais à une scripta qui reprend des éléments d’un peu partout dans cette région. Il existe cependant aussi quelques traces d’une influence gasconne et béarnaise, ainsi qu’un nombre restreint de témoins qui semblent provenir des vallées vaudoises ou de l’Italie septentrionale. Ceci s’explique éventuellement par le fait que le texte (ou quelques-unes de ses parties) a voyagé à l’intérieur du domaine cathare. Peter Wunderli (éd.) Le Nouveau Testament de Lyon (ms. Bibliothèque de la ville A.I.54/ Palais des arts 36) Vol. 2: Analyse de la langue, Lexique et Index des noms Romanica Helvetica, Band 131 2010, VIII, 317 Seiten, €[D] 76,00/ SFr 128,00 ISBN 978-3-7720-8359-4 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Kennosuke Ezawa / Annemete von Vogel (Hrsg.) Georg von der Gabelentz Ein biographisches Lesebuch 2013, 344 Seiten geb. €[D] 58,00/ SFr 74,70 ISBN 978-3-8233-6778-9 Der große Sprachforscher Georg von der Gabelentz (1840−1893) verfasste unter anderem die erste wissenschaftliche Grammatik des Chinesischen, die auch heute noch als ein Standardwerk gilt. Dieses neue Buch stellt ihn, seine wissenschaftliche Arbeit und seine Familiengeschichte, einem breiteren Publikum vor. Seine neun Jahre jüngere Schwester, Clementine v. Münchhausen, hinterließ ein Manuskript „H. Georg v. d. Gabelentz. Biographie und Charakteristik“; eine neue komplette Abschrift durch die Urenkelin der Verfasserin, Annemete v. Vogel, bildet das Kernstück des Buches. Bislang waren nur Teile davon als Abschriften in Archiven zu lesen. Außerdem wird die detaillierte, 1938 in kleiner Auflage gedruckte familiengeschichtliche Darstellung des alten Adelsgeschlechtes Gabelentz in Altenburg/ Thüringen von Pfarrer Theodor Dobrucky wiedergegeben. Zusammen mit Bildern und Dokumenten aus der Gabelentz- Ausstellung der Humboldt-Universität zu Berlin von 2010 werden einige Arbeiten von Fachwissenschaftlern und Forschern zu Gabelentz‘ Leben als Wissenschaftler, Auszüge aus seinen Hauptwerken sowie seine scharfsinnigen „Sentenzen“, die privat überliefert sind, abgedruckt. So soll der Band ein primäres Quellenbuch für alle diejenigen sein, die sich für diesen universellen Gelehrten interessieren, dem heute eine zunehmende internationale Bedeutung als Vorläufer der globalen Sprachforschung zukommt. Die Neuausgabe eines Klassikers 1916 publizierten Charles Bally und Albert Sechehaye den ,Cours de linguistique générale‘ von Ferdinand de Saussure, drei Jahre nach dessen Tod. Der Text, der für die Wirkung de Saussures von großer Bedeutung ist, erschien also ohne sein Zutun, auf der Grundlage von Studienmitschriften seiner Vorlesungen und einigen wenigen handschriftlichen Notizen. 1931 kam die deutsche Übersetzung von Herman Lommel heraus; diese muss heute als in vielfacher Hinsicht veraltet gelten. Die hier in einer Studienausgabe vorliegende Neuübersetzung ist nicht nur stilistisch überarbeitet und in der Terminologie präziser sowie einheitlicher. Sie berücksichtigt zudem die stark veränderte Forschungslage und zwischenzeitlich neu entdeckte Manuskripte. Erleichtert wird der Zugang durch eine Einleitung zu Leben und Werk de Saussures und eine Darstellung der Genese und der Rezeption des CLG. Der Text wird ergänzt durch einen ausführlichen Kommentar zu den problematischen Stellen. ISBN 978-3-8233-6904-2