Interkulturalität unter dem Blickwinkel von Semantik und Pragmatik
0917
2014
978-3-8233-7905-8
978-3-8233-6905-9
Gunter Narr Verlag
Csaba Földes
Der vorliegende Band thematisiert Interkulturalität in Kommunikationssituationen unter linguistischen Gesichtspunkten, wobei speziell die Erklärungsansätze von Semantik und Prag matik im Mittelpunkt stehen. Es wird besonders auf die Frage fokussiert, wie in diesen Disziplinen das Interkulturelle von Kommunikationsverläufen erfasst werden kann. Als Untersuchungsgegenstand fungieren Interaktionssituationen, in denen ein Zwischen- oder ein Miteinander kulturspezifischer Kommunikationskonstellationen vorliegt. Folgende Themenbereiche werden behandelt: * Beschreibung der Entstehung eines >>geteilten Wissens<< in kulturellen Überschneidungssituationen aus der Sicht der Pragmatik * Beschreibung von Missverständnissen in der interkulturellen Kommunikation unter Gesichtspunkten der Semantik und Pragmatik * Beschreibung von interkulturellen Aspekten sprachlicher Interaktionen auf lexikalisch-semantischer Ebene.
<?page no="1"?> Beiträge zur Interkulturellen Germanistik Herausgegeben von Csaba Földes Band 5 <?page no="3"?> Csaba Földes (Hrsg.) Interkulturalität unter dem Blickwinkel von Semantik und Pragmatik <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck: Universitätsdruckerei der Pannonischen Universität Veszprém Arbeitsnummer: 2014/ 73 Printed in Hungary ISSN 2190-3425 ISBN 978-3-8233-6905-9 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Balázs Fodor/ József Tóth | Kultursensitive Bedeutungsbeschreibung von Schachfigurenbezeichnungen in deutschen, englischen und ungarischen Wörterbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Elin Fredsted | Warum klingen die Dänen so unbeteiligt, warum die Deutschen so dominant? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Silvia Gajdošová | Semantik der religiösen Motive und Sinnbilder in der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Thomas Johnen | Wissensakkommodation in gedolmetschten Gesprächen im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Aleksander Kiklewicz | Semantik und Pragmatik: Dialektik gegenseitiger Relationen in der Perspektive interkultureller Linguistik . . . 65 Annikki Koskensalo | Zur Theorie und Methodik interkultureller Missverständnisse bei touristischen Websites mit Fokus auf deren semantisch-pragmatischen Relationen . . . . . . . . . . . . . . 81 Olga Kostrova/ Elena Tarasova | Schriftliche Arbeiten deutscher und russischer Studierender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Holger Kuße | Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte eines globalen Werts in Europa . . . . . . . . . . . . 109 Antoaneta Mihailova/ Kalina Minkova | Literarische Namen im Spannungsfeld zwischen Autorenintention und (möglicher) interkultureller Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 <?page no="6"?> VI Inhalt Alexander Minor | Identitätswandel unter Sprachinselbedingungen . . . . . . 143 Olga Popovych | Der Einfluss grammatischer Semantik auf die pragmatische Wirkung von Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Ulrike Reeg | Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen: Phraseme und kulturspezifische Wörter im interkulturellen DaF-Unterricht . . . . . . . 175 Karsten Rinas | Verdeckte Fehler aus interkultureller Sicht . . . . . . . . . . . . . . . 191 Ulrike Schröder | Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Brasilianern im Lichte von Strategien der (Un-)höflichkeit, divergierenden Konfliktstilen und Formen des Beziehungsmanagements . . . . . . . . 207 Ulrike Simon | Zwischen den Zeilen lesen. Zu Deutungsproblemen von Phrasemen in der interkulturellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Bärbel Treichel | Semantische Sensibilität als Interkulturalität. Verständigungsorientierte interkulturelle Kommunikation in kommunikativen Gattungen der projektförmigen transnationalen Zusammenarbeit in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Marina R. Zheltuchina | Interkulturelle semantische und pragmatische Parallelen im modernen Mediendiskurs: der funktionale Aspekt . . . . . . . . . 257 Herausgeber und Beiträger(innen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 <?page no="7"?> Vorwort Interkulturalität entwickelte sich in den letzten zwei, drei Jahrzehnten - möglicherweise dank ihrer relativen Offenheit und hohen Anschlussfähigkeit an andere Diskurse - zu einem der produktivsten Untersuchungsgegenstände in einer Reihe geistes- und sozialwissenschaftlicher Fachbereiche, so auch innerhalb der Germanistik. Hier sind die Interkulturelle Linguistik (einschließlich z.B. der Interkulturellen Semantik), die Interkulturelle Literaturwissenschaft usw. einzuordnen. Sie arbeiten u.a. an der Entwicklung von Methoden, die zur Erfassung und Beschreibung von Interkulturalität im jeweiligen Gegenstandsfeld (sprachliche Handlungen, literarische Texte usw.) dienen, zumal sich das Phänomen bzw. das Konzept Interkulturalität durch eine erschwerte Erfassbarkeit auszeichnet. Dieser Forschungsstand bedarf terminologischer und inhaltlicher Klärungen vor allem dessen, welche Relation im Lexem Interkulturalität mit dem Präfix intergemeint ist, da dieses internicht nur ein ‚zwischen‘ den Kulturen, sondern auch deren ‚Interaktion‘ widerspiegeln hilft. Die Unterschiedlichkeit dieser zwei Relationen führt zu unterschiedlichen Auffassungen über das Interkulturelle und zu unterschiedlichen Verfahren, mit denen es untersucht wird. Die Heterogenität der Untersuchungsansätze ist vor allem für die Erforschung von Kommunikationsprozessen charakteristisch, was u.a. daher rührt, dass deren Analyse eine interdisziplinäre Annäherung ergab und dadurch eine erweiterte Auffassung von Interkulturalität vermittelt. Zur Erschließung interkultureller Konstellationen in Kommunikationssituationen haben bisher verschiedene Forschungsparadigmen der Fremdsprachendidaktik, der Psychologie, der Soziologie, der Kommunikationswissenschaft usw. beigetragen. Im vorliegenden Band wird diese Thematik gezielt unter linguistischen Gesichtspunkten angegangen, wobei speziell die Erklärungsansätze von Semantik und Pragmatik im Mittelpunkt stehen, indem besonders auf die Frage fokussiert wird, wie in diesen Disziplinen das Interkulturelle von Kommunikationssituationen und -verläufen erfasst werden kann. Als Untersuchungsgegenstand fungieren solche Interaktionssituationen, in denen ein Zwischen- oder ein Miteinander kulturell geprägter Kommunikationskonstellationen vorliegt. Der kulturellen Geprägtheit der Kommunikation zufolge treten doch in der Interaktion von Akteuren mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund auch <?page no="8"?> VIII Vorwort solche Aspekte auf, die sich aus interkultureller Sicht erklären lassen. Zu ihnen können u.a. Unterschiede in den Kommunikationsnormen der jeweiligen Akteure gezählt werden, die in kulturellen Überschneidungssituationen oft zu Fehlinterpretationen bzw. zu Missverständnissen führen. Bei der Erforschung interkultureller Interaktionen sind allerdings nicht nur die „Auslöser“ möglicher Missverständnisse von Relevanz, sondern auch die Faktoren, die zur Entstehung eines „geteilten Wissens“ und damit zur gegenseitigen Verständigung zwischen den Kommunikationsparteien beitragen. Dementsprechend widmet sich der Band vor allem folgenden Themenbereichen: - Beschreibung der Entstehung eines „geteilten Wissens“ in kulturellen Überschneidungssituationen aus der Sicht der Pragmatik - Beschreibung von Missverständnissen in der interkulturellen Kommunikation unter Gesichtspunkten der Semantik und Pragmatik - Beschreibung von interkulturellen Aspekten sprachlicher Interaktionen auf lexikalisch-semantischer Ebene. Die Publikation geht größtenteils auf die internationale Fachtagung „Interkulturalität aus der Sicht von Semantik und Pragmatik“ zurück, die vom 26.-27. Oktober 2012 in Veszprém auf Initiative des inzwischen vom Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft der Universität Erfurt (Deutschland) und des Instituts für Germanistik und Translationswissenschaft der Pannonischen Universität Veszprém (Ungarn) betriebenen Kompetenzzentrums Interkulturelle Linguistik/ Germanistik stattfand. Der Band präsentiert eine Auswahl der vorgetragenen Referate sowie einige einschlägige Aufsätze, die von Nicht-Teilnehmer(inne)n zum Tagungsthema eingereicht wurden. Unser Anliegen ist es, mit dieser Veröffentlichung die angesprochenen Fragestellungen auf einem anspruchsvollen wissenschaftlichen Niveau in einem Band mit hoher thematischer Konsistenz zu behandeln. Deshalb wurden alle Manuskripte von ausgewiesenen Expert(inn)en der gegebenen Arbeitsgebiete „doppelblind“ begutachtet. Hiermit danke ich folgenden Kolleginnen und Kollegen, die freundlicherweise nicht nur die auch tatsächlich zur Publikation angenommenen Texte begutachtet haben: Dr. Andrea Bambek (Göttingen), Dr. Hana Bergerová (Ústí nad Labem/ Aussig), Dr. habil. Rita Brdar-Szabó (Budapest), Prof. Dr. Peter Colliander (Kopenhagen), Prof. Dr. Pavel Donec (Charkow), Prof. Dr. Peter Ernst (Wien), Dr. habil. Zsuzsanna Gerner (Pécs/ Fünfkirchen), Prof. Dr. Annelies Häcki Buhofer (Basel), Prof. Dr. Vida Jesenšek (Maribor/ Marburg a. d. Drau), Prof. Dr. Ulrike A. Kaunzner (Ferrara), Prof. Dr. Helga Kotthoff (Freiburg i. Br.), Prof. Dr. Eva Neuland (Wuppertal), Prof. Dr. Ewald Reuter (Tampere), Prof. Dr. Gila Schauer (Erfurt), apl. Prof. Dr. Dr. Georg Schuppener (Erfurt) und Prof. Dr. Valerij Susmann (Nishnij Novgorod). <?page no="9"?> Vorwort IX Für die kompetente Mitwirkung bei der Durchführung der Tagung bin ich vor allem Frau Dr. Bianka Burka und Herrn Dr. Attila Németh (beide Veszprém/ Wesprim) dankbar. Frau Dr. Elke Galgon (Erfurt) sei für die gründliche Lektorierung der Texte und für die Redaktion des vorliegenden Bandes gedankt. Als Reihen- und als Bandherausgeber hoffe ich, dass das Buch als Band 5 der Reihe „Beiträge zur Interkulturellen Germanistik“ mit der Vielfalt und dem Innovationspotenzial der vorgestellten Themenstellungen, Ansätze und Methoden einen wichtigen Baustein in der weiteren internationalen Etablierung der Wissenskultur Interkulturelle Linguistik verkörpert. Erfurt, im Februar 2014 Csaba Földes <?page no="11"?> Kultursensitive Bedeutungsbeschreibung von Schachfigurenbezeichnungen in deutschen, englischen und ungarischen Wörterbüchern Balázs Fodor/ József Tóth (Veszprém/ Wesprim) Zusammenfassung Die vorliegende Studie setzt sich zum Ziel, deutsche, englische und ungarische Bezeichnungen von Schachfiguren auf ihre kulturspezifischen Bedeutungsdimensionen hin zu untersuchen. Im Mittelpunkt steht die lexikographische Definition als wichtiger Bauteil des Wortartikels (Wiegand 1989c). Die Explikation wird aufgefasst als Bedeutungsanalyse des dem Lemma zugrunde liegenden sprachlichen Zeichens. Das übliche lexikographische Instruktionsnetz (wie zusätzliche syntagmatische und paradigmatische Informationen, eine Menge weiterer Angaben und Markierungen etc.) bedarf einer enzyklopädischkultursensitiven Beschreibung der Bedeutung im jeweiligen Wortartikel (Wiegand 1989a, b; Kühn 2006). Dabei konzentriert sich der Beitrag darauf, was bei der Beschreibung der Wirklichkeitserfahrung in einem deutschen, englischen und ungarischen Wörterbuch in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand lexikographisch relevant ist. Bezüglich der Bedeutungsexplikation werden einerseits die fachlichen Schwächen (bei Läufer, bishop, futó; Turm, rook, bástya, König, king, király), andererseits aber auch die Mängel (bei Bauer, pawn, gyalog; Springer, knight, huszár; Dame, queen, vezér) hervorgehoben, die an die jeweilige Einzelkultur gebunden sind. Als mögliche Lösung werden in beiden Bereichen eigene Vorschläge zur ungarischen kultursensitiven lexikographischen Definition der untersuchten sechs Schachfigurenbezeichnungen angeboten. 1 Vorbemerkungen und Zielsetzung Im Mittelpunkt des Beitrags, in dem in Anlehnung an Kühn (2006) für die Kultursensitivität einsprachiger Wörterbücher plädiert wird, stehen deutsche, englische und ungarische Bezeichnungen der Schachfiguren in der Schachliteratur und in Partieanalysen (Solymosi 1983, Pandolfini 2003, Pintér 2006, Silman 2007, Orbán 2008, Köhler 2010). Jede Sprache und Kultur besitzt ihre eigene Schachterminologie, die einer vergleichenden Analyse bedarf. In Bezug auf fünf einsprachige Wörterbücher - Langenscheidt (1999), Duden (2003), Macmillan (2007), Oxford (2010) und Magyar Értelmező Kéziszótár (1972) - wird die Problematik angesprochen, ob ihre Bedeutungserklärungen kulturspezifisch ausreichende Informationen geben (Harras 1989a, b, Kempcke 1989, Kühn 2006). In <?page no="12"?> 2 Balázs Fodor/ József Tóth diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie die Figurenbezeichnungen in den einzelnen Sprachen kodifiziert sind. Nach unserer Hypothese ist die Schachterminologie in den untersuchten Wörterbüchern nicht einheitlich, d.h., nicht jeder Terminus befindet sich in jedem Wörterbuch und auch die Bedeutungsbeschreibung der Schachfigurenbezeichnungen erfolgt aller Wahrscheinlichkeit nach auf unterschiedliche Weise. Die vergleichende Analyse der Explikation der lexikalischen Bedeutung dieser Benennungen im Deutschen, Englischen und im Ungarischen soll Mängel in den kulturspezifischen Bedeutungsdimensionen gängiger Wörterbücher aufzeigen. In der Bedeutungsexplikation des kulturspezifischen Wortschatzes ist bis heute das enzyklopädische Definitionsprinzip maßgebend, daher wird nach anderen Wegen der Beschreibung und Darstellung der lexikalischen Bedeutung gesucht, nämlich einer kultursensitiven Beschreibung. Diese wird an einigen (kontrastiven) Wortartikeln exemplifiziert. Die Ergebnisse der Untersuchung sollen zeigen, dass in die Bedeutungsparaphrasen eines einbzw. zweisprachigen Wörterbuchs sowohl unterschiedliche eigenals auch fremdkulturelle gesellschaftliche Lebenserfahrungen, Gewohnheiten und Beobachtungen zu integrieren sind, wodurch ein Bezug zur interkulturellen Semantik und Pragmatik hergestellt wird. In der Übersetzungstheorie ist man sich seit langem bewusst, dass Sprache, Kultur und dadurch auch Übersetzung (als kultureller Transfer) in engem Zusammenhang stehen, worauf auch an dieser Stelle zu verweisen ist. Valló (2000) und Kóbor (2007) erwähnen dieses Problem, denn es ist heutzutage klar, dass man Sprache (und dadurch auch Übersetzung) ohne ihren kulturellen Kontext nicht thematisieren darf. In diesem Zusammenhang meint Kóbor (2007: 45): „the functional translation theory agrees on the fact that language is an integral part of culture as a result of which the notion of culture cannot be separated from that of translation”. Bassnett (2005: 23) vertritt die Ansicht: „Language, then, is the heart within the body of culture, and it is the interaction between the two that results in the continuation of life-energy. In the same way that the surgeon, operating on the heart, cannot neglect the body that surrounds it, so the translator treats the text in isolation from the culture at his peril”. Katan (1999: 73) zitiert Sapir, wenn er das Thema Kultur und Sprache thematisiert: „Language has a setting […] language does not exist apart from culture”. 2 Empirische Untersuchung Im Rahmen der empirischen Untersuchung wurden die Schachfigurenbezeichnungen Läufer, Turm, König, Bauer, Springer und Dame und deren Bedeutungsbeschreibungen in fünf einsprachigen Wörterbüchern - Langenscheidt (1999), Duden (2003), Macmillan (2007), Oxford (2010) und Magyar Értelmező Kézi- <?page no="13"?> Bedeutungsbeschreibung von Schachfigurenbezeichnungen 3 szótár (ÉKsz) (1972) - unter die Lupe genommen. In diesen Wörterbüchern sind jedoch keine einheitlichen Definitionen zu finden. Jede Definition konzentriert sich auf andere Gesichtspunkte. Grundsätzlich weisen diese Bedeutungsexplikationen zwei Hauptprobleme auf: einerseits fachliche, andererseits aber auch kulturelle Mängel. An dieser Stelle sei zu erwähnen, dass kulturelle Probleme nur in den ungarischen Bedeutungsbeschreibungen zu finden sind. Die fachlichen Probleme bestehen darin, dass diese Bedeutungsbestimmungen nicht eindeutig, einheitlich und präzise genug sind. Die kulturellen Mängel der ungarischen Bedeutungsbeschreibungen ergeben sich daraus, dass einige Schachfiguren im Ungarischen über zwei parallele Benennungen, eine fachsprachliche und eine umgangssprachliche, verfügen. Die fachsprachlichen Benennungen kann man in Fachbüchern finden, und diese werden von Experten bzw. von professionellen Schachspielern benutzt. Die umgangssprachlichen Bezeichnungen benutzen jedoch Laien, Kinder oder Spieler, die das Schachspiel nicht so ernst nehmen. Aber über diese Parallelität kann man im ungarischen ÉKsz keine Information finden, deshalb haben wir uns dafür entschieden, sowohl fachlich als auch kulturell gesehen, vollkommenere ungarische Definitionen vorzuschlagen. Untersuchen wir jetzt die einzelnen Beispiele: Zuerst thematisieren wir die Benennungen, deren Bedeutungsbeschreibungen lediglich fachliche Mängel aufweisen. Dies sind Läufer, Turm und König. Danach behandeln wir die Benennungen, deren Bedeutungsbeschreibungen nicht ausreichend kultursensitiv sind, also Bauer, Springer und Dame. 2.1 Schachfigurenbezeichnungen, deren Bedeutungsbeschreibungen fachliche Probleme aufweisen Zunächst untersuchen wir die ersten drei Bezeichnungen: Tabelle 1: Läufer Sprache Wörterbuch Figur Definition Ungarisch ÉKsz (1972) futó A saját színén átlósan lépő és ütő sakkfigura. Deutsch Duden (2003) Läufer 3. Schachfigur, die man nur diagonal bewegen kann. Langenscheidt (1999) 2 die Figur beim Schach, die man nur diagonal bewegen darf || ↑ Abb. unter Schachfiguren <?page no="14"?> 4 Balázs Fodor/ József Tóth Englisch Oxford (2010) bishop 2a piece used in the game of chess that is shaped like a bishop's hat and can move any number of squares in a diagonal line Macmillan (2007) 2a piece in the game of chess, shaped like a bishop’s hat Wie hieraus ersichtlich ist, sind die Bedeutungsbeschreibungen (Tabelle 1) nicht einheitlich; die Definition im Duden gibt nur die Art und Weise der Bewegung der Figur an, die Definition im Oxford zudem deren Form. Das größte Problem besteht aber darin, dass bloß die ungarische Definition erwähnt, dass jeder Läufer nur auf den Feldern einer Farbe gezogen werden kann. All die anderen Definitionen enthalten diese Information nicht. In der von uns vorgeschlagenen Definition kann man jedoch all diese Informationen finden. Eigener Vorschlag: sakkban mindkét fél 2 püspöki süveget ábrázoló figurája, amelyek a kezdő pozícióban az alapsoron (világosnál a c1, f1; sötétnél a c8, f8 mezőkön) állnak és egyik csak világos, a másik pedig csak sötét mezőkön tetszőleges mennyiségű lépést tehet átlós irányban és ugyanígy is üt. Deutsche Übersetzung: im Schach, zwei Figuren beider Seiten, die eine Bischofsmitra darstellen und die in der Ausgangsposition an der Grundlinie (bei Weiß auf c1, f1; bei Schwarz auf c8, f8) stehen, die eine nur auf weißen Feldern, die andere nur auf schwarzen Feldern in beliebig weiter Entfernung schlagen und demzufolge gezogen werden kann. Tabelle 2: Turm Sprache Wörterbuch Figur Definition Ungarisch ÉKsz (1972) bástya Egyenes irányban lépő és ütő sakkfigura. Deutsch Duden (2003) Turm 2. Schachfigur, die (beliebig weit) gerade zieht. Langenscheidt (1999) 2 eine der beiden Figuren beim Schachspiel, die bei der Aufstellung in der hinteren Reihe ganz rechts u. links stehen || ↑ Abb. unter Schachfiguren <?page no="15"?> Bedeutungsbeschreibung von Schachfigurenbezeichnungen 5 Englisch Oxford (2010) rook 2 (also rook) (in chess) any of the four pieces placed in the corner squares of the board at the start of the game, usually made to look like a castle Macmillan (2007) 2a piece in the shape of a tower used in the game of chess Auch hier gibt es Ungenauigkeiten. Die Definition im Langenscheidt (Tabelle 2) besagt: eine der beiden Figuren beim Schachspiel. Die Definition im Oxford erwähnt jedoch vier Figuren (any of the four pieces). Wenn man das Schachspiel gar nicht kennt, wie würde man wissen, wie viele Türme man überhaupt hat? Hat jeder Spieler vier? Oder gibt es insgesamt nur zwei Türme auf dem Schachbrett? Aus diesen Definitionen geht diese Information nicht hervor. In unserem Definitionsvorschlag haben wir alle wichtigen Informationen präziser formuliert. Eigener Vorschlag: sakkban mindkét fél 2 bástyát ábrázoló figurája, amelyek a kezdő pozícióban a sakktábla négy sarkán (világosnál a1, h1; sötétnél a8, h8 mezőkön) állnak, sorokon és oszlopokon tetszőleges mennyiségű lépést tehetnek és így is ütnek. Deutsche Übersetzung: im Schach, zwei Figuren beider Seiten, die je einen Turm darstellen und die in der Ausgangsposition an den vier Ecken des Schachbretts (bei Weiß a1, h1; bei Schwarz a8, h8) stehen, auf den Reihen und Linien beliebig weit ziehen und gleicherweise schlagen können. Tabelle 3: König Sprache Wörterbuch Figur Definition Ungarisch ÉKsz (1972) király Az a sakkfigura, amelynek harcképtelenné tétele a másik fél győzelmét jelenti. Deutsch Duden (2003) König 2.a) wichtigste Figur im Schachspiel (auf deren Mattsetzen eine Schachpartie angelegt ist) Langenscheidt (1999) 3 die wichtigste Figur im Schachspiel ˂Schach dem K.! ; der K. steht im Schach; den K. schachmatt setzen˃ || ↑ Abb. unter Schachfiguren <?page no="16"?> 6 Balázs Fodor/ József Tóth Englisch Oxford (2010) king Oxford Advanced Learner’s Dictionary, 8th edition 4 the most important piece used in the game of chess, that can move one square in any direction Macmillan (2007) 3a one of the two most important pieces in the game of chess. The player who stops the other player’s king from being able to move wins the game. Die Definition im Macmillan (Tabelle 3) enthält einen großen Fehler, da sie den König als eine der zwei wichtigsten Figuren betrachtet. Aber im Schach gibt es nur eine Figur, die die wichtigste ist, den König selbst. Oft denken die Laien, dass sowohl der König als auch die Dame die zwei wichtigsten Figuren im Schach seien, aber das entspricht nicht den Regeln. Der König ist am wichtigsten und die Dame ist die stärkste Figur im Schach. Das darf nicht verwechselt werden. Nach der von uns vorgeschlagenen Definition ist nur der König die wichtigste Figur. Eigener Vorschlag: a sakkban mindkét fél legfontosabb és legmagasabb figurája, amely a kezdő pozícióban az alapsoron (világosnál az e1; sötétnél az e8 mezőn) áll, tetszőleges irányba mozoghat, de egyszerre csak egy mezőt léphet és ugyanígy is üthet. A sakk célja az ellenfél királyának harcképtelenné tétetele. Deutsche Übersetzung: im Schach, die wichtigste und höchste Figur beider Seiten, die in der Ausgangsposition an der Grundlinie (bei Weiß e1; bei Schwarz e8) steht, in beliebige Richtung, doch nur ein Feld ziehen und gleicherweise schlagen kann. Das Ziel des Schachspiels ist es, den feindlichen König kampfunfähig zu machen. 2.2 Schachfigurenbezeichnungen, deren Bedeutungsbeschreibungen kulturelle Probleme aufweisen Wir untersuchen jetzt die Bezeichnungen, deren ungarische Bedeutungsbeschreibungen nicht kultursensitiv genug sind, also Bauer, Springer und Dame. <?page no="17"?> Bedeutungsbeschreibung von Schachfigurenbezeichnungen 7 Tabelle 4: Bauer Sprache Wörterbuch Figur Definition Ungarisch ÉKsz (1972) gyalog Sakkban ama 8 figura vmelyike, amelyek induláskor kettőt, egyébként egyet léphetnek előre és átlósan ütnek. Deutsch Duden (2003) Bauer 2.a) niedrigste Figur beim Schachspiel: einen ~n opfern; Langenscheidt (1999) 3 eine der acht kleinsten Figuren einer Farbe im Schachspiel || ↑ Abb. unter Schachfiguren Englisch Oxford (2010) pawn a chess piece of the smallest size and least value. Each player has eight pawns at the start of a game He had to sacrifice another pawn. Macmillan (2007) 1 one of the eight small pieces that each player has in a game of chess Wie schon erwähnt, können Schachfiguren im Ungarischen zwei parallele Benennungen haben. Für den Bauern gibt es folgende Benennungen: paraszt ist die umgangssprachliche und gyalog die fachsprachliche Benennung. In der ungarischen Definition (Tabelle 4) kann man jedoch keine Information über diese Parallelität finden. Unser Definitionsvorschlag erwähnt jedoch beide Bezeichnungen und beschreibt auch den Unterschied zwischen ihnen. Eigener Vorschlag: a sakkban mindkét fél 8 legkisebb és legalacsonyabb értékkel bíró figurája, amelyek a kiinduló pozícióban egy sorban (világosnál a 2. sorban, sötétnél a 7. sorban) állnak egymás mellett, kezdő lépésekor tetszőlegesen egy vagy két mezőt léphetnek előre és átlósan ütnek. A magyarban két párhuzamos elnevezés is létezik: gyalog - a hivatalos, sakk zsargonban használatos megnevezés - valamint paraszt, amelyet a köznyelvben, a laikusok használnak. Deutsche Übersetzung: im Schach, die 8 kleinsten Figuren beider Seiten mit dem niedrigsten Wert, die in der Ausgangsposition in einer Reihe (bei Weiß in der zweiten Reihe, bei Schwarz in der siebenten Reihe) nebeneinander stehen und beim ersten Zug entweder ein oder zwei Felder vorwärts ziehen und diagonal schlagen können. Im Ungarischen existieren zwei parallele Bezeichnungen: gyalog (≈ Fußsoldat) ist die fachsprachliche im Schachjargon benutzte Bezeichnung und paraszt (≈ Bauer) ist eine umgangssprachliche von Laien verwendete. <?page no="18"?> 8 Balázs Fodor/ József Tóth Tabelle 5: Springer Sprache Wörterbuch Figur Definition Ungarisch ÉKsz (1972) huszár Sakkban: ló. Ló: a ló fejét ábrázoló sakkfigura. Deutsch Duden (2003) Springer 3. Schachfigur, die ein Feld weit in gerader u. ein Feld weit in schräger Richtung bewegt werden kann; Pferd (3); Rössel (2). Langenscheidt (1999) 2 eine Schachfigur, die ein Feld in gerader u. anschließend ein Feld in schräger Richtung bewegt werden kann ≈ Pferd (3) || ↑ Abb. unter Schachfiguren Englisch Oxford (2010) knight 3a piece used in the game of chess that is shaped like a horse's head Macmillan (2007) 2a piece in the game of chess shaped like a horse’s head Der Springer hat nämlich auch zwei ungarische Benennungen: huszár (fachsprachlich) und ló (umgangssprachlich), aber darüber gibt die ungarische Definition keine Informationen. Ein großer Fehler entsteht gerade dadurch, dass man im ÉKsz nur die umgangssprachliche Bezeichnung finden kann. Das ist zweifellos ein großer kultureller Mangel, weil huszár zu den ungarischen Bezeichnungen historischer Realien gehört; dieser Ausdruck hat also einen kulturellen Inhalt. Die von uns vorgeschlagene Definition enthält all diese Informationen. Eigener Vorschlag: a sakkban mindkét fél 2 ló fejét ábrázoló figurája, amely a kezdő pozícióban az alapsoron (világosnál b1, g1; sötétnél a b8, g8 mezőkön) áll, három mezőt lép előre vagy hátra vagy oldalra és egyet oldalra, ugyanígy képes ütni is és más figurákat is át tud ugrani. A magyarban két elnevezés is létezik rá: a huszár, amely a hivatalos, sakkzsargonban is használt elnevezése és a ló, amelyet főként a köznyelvben, a laikusok használnak. Deutsche Übersetzung: im Schach, zwei Figuren beider Seiten, die je einen Pferdekopf darstellen und die in der Ausgangsposition an der Grundlinie (bei Weiß auf b1, g1; bei Schwarz auf b8, g8) stehen, ziehen drei Felder vorwärts oder seitwärts oder rechts oder links und schlagen gleichermaßen ein Feld nach rechts oder links und können andere Figuren überspringen. Im Ungarischen gibt es zwei Bezeichnungen: huszár <?page no="19"?> Bedeutungsbeschreibung von Schachfigurenbezeichnungen 9 (≈ Husar) wird im Schachjargon und ló (≈ Pferd) in der Umgangssprache von Laien benutzt. Tabelle 6: Dame Sprache Wörterbuch Figur Definition Ungarisch ÉKsz (1972) vezér A legerősebb és a király után legfontosabb sakkfigura; királynő. Királynő: sakkjátékban: a vezér. Deutsch Duden (2003) Dame 2.a) (für den Angriff) stärkste Figur im Schachspiel; Königin: die D. schlagen, verlieren; Langenscheidt (1999) 4 eine wichtige Figur beim Schach, die in alle Richtungen beliebig weit ziehen kann ≈ Königin || ↑ Abb. unter Schachfiguren Englisch Oxford (2010) queen IN CHESS 5 the most powerful piece used in the game of chess that can move any number of squares in any direction Macmillan (2007) 4a piece that can move in any direction in a game of chess Die zwei ungarischen Benennungen - vezér und királynő - kann man in der Definition des ÉKsz finden, aber der Unterschied zwischen ihnen wird nicht erklärt. Die vorgeschlagene Definition kann auch dafür eine Lösung sein. Eigener Vorschlag: a sakkban mindkét fél legerősebb és második legmagasabb figurája, amely a kezdő pozícióban az alapsoron (világosnál d1; sötétnél d8 mezőn) áll, sorokon, oszlopokon és átlókon is tetszőleges mennyiségű lépést tehet és ugyanígy is üthet. A magyarban két megnevezése is létezik: a vezér a hivatalos, a sakkzsargonban is használatos neve, a királynő pedig a beszélt nyelvben, a laikusok által használt megnevezése. Deutsche Übersetzung: im Schach, die stärkste und zweithöchste Figur beider Seiten, die in der Ausgangsposition an der Grundlinie (bei Weiß d1; bei Schwarz d8) steht, auf Reihen, Linien und Diagonalen beliebig weit ziehen und gleicherweise schlagen kann. Im Ungarischen existieren dafür zwei Bezeichnungen: vezér (≈ Heerführer) ist <?page no="20"?> 10 Balázs Fodor/ József Tóth die fachsprachliche, auch im Schachjargon benutzte Bezeichnung, und királynő (≈ Königin) ist die in der Umgangssprache von Laien benutzte Bezeichnung. 3 Schlussbemerkungen Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sowohl fachliche als auch kulturelle Mängel in den Wortartikeln der von uns untersuchten Wörterbücher zu finden sind. Unsere Hypothese gilt als verifiziert, denn die Schachterminologie wird in den untersuchten Wörterbüchern nicht einheitlich thematisiert. Wenn heute Übersetzung als kultureller Transfer eine so wichtige Rolle spielt, sind kultursensitive Wörterbücher erforderlich. Die oben erwähnten Wörterbücher sind jedoch bezüglich der Bedeutungsangaben von Schachfigurenbezeichnungen nicht ausreichend kultursensitiv geprägt. Zur Lösung dieses Problems können jedoch die von uns vorgeschlagenen ungarischen Definitionen beitragen, indem sie die Bedeutungsbeschreibungen in den Wörterbüchern kultursensitiver gestalten. 4 Literatur Bassnett, Susan (2005): Translation Studies. Third Edition. London/ New York. Harras, Gisela (1989a): Wörterbücher als Hilfsmittel der linguistischen Forschung. In: Hausmann, Franz Josef/ Reichmann, Oskar/ Wiegand, Herbert Ernst/ Zgusta, Ladislav (Hrsg.): Wörterbücher: ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Berlin/ New York. 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Schweden gesprochenes Standarddänisch als unengagiert und wenig melodisch erleben; so Grønnum (1998: 303). In diesem Aufsatz soll das Verhältnis zwischen deutscher und dänischer Intonation behandelt werden, um zu überprüfen, ob die sehr unterschiedlichen Prosodien der beiden eng verwandten Sprachen interkulturelle Konsequenzen (wie Missinterpretationen oder Probleme bei der Gesprächsführung) haben können. Hierbei gilt es, interlinguale und interkulturelle Aspekte der Prosodie zu beachten, die sich zum Beispiel im Verhältnis zwischen deutscher und dänischer Äußerungsintonation zeigen. In den Abschnitten drei bis sechs werden folgende Themen behandelt: • Prosodie als Kontextualisierungshinweis • Lernerperspektive in Bezug auf Prosodie im Fremdsprachenunterricht • Bilinguale Sprecher • Interkulturelle Aspekte 1 Einleitung In der aktuellen Forschung zur interkulturellen Kommunikation und zur Mehrsprachigkeit fällt es auf, dass Phonologie und insbesondere Prosodie ein Schattendasein führen. Eine prominente Ausnahme hiervon bilden die Arbeiten von Gumperz (1992, 1996, 2009), in denen innerhalb der Theorie zu den sogenannten c o nt e xtu a li z a ti o n c u e s unter anderem auf die Prosodie eingegangen wird. Charakteristisch für die Forschungssituation ist aber, dass diese Theorie eher in Verbindung mit Studien zur pragmatischen Bedeutung von c o d e s wit c hin g eine große Verbreitung erlebt hat (z.B. Gumperz 1992). <?page no="24"?> 14 Elin Fredsted 2 Der sprachliche und kulturelle Hintergrund Abb. 1: Die deutsch-dänische Grenzregion Der Grenzraum zwischen Skandinavien und Deutschland ist durch eine auffällige Mehrsprachigkeit geprägt, die aus zwei nordgermanischen und drei westgermanischen Sprachen resultiert. Die Region wird auch als das „Fünfsprachenland“ bezeichnet, in dem folgende Sprachen gesprochen werden: Hochdeutsch, Niederdeutsch, Friesisch (westgermanische Sprachen) sowie die nordgermanischen Sprachen Sønderjysk und Standarddänisch (Rigsdansk). In den Schulen werden in der Regel nur die beiden Schrift- und Standardvarietäten Hochdeutsch und Standarddänisch als Unterrichts- und Zielsprache verwendet. Die jeweils andere Hochsprache wird in zahlreichen Schulen der Region als sogenannte „Fremdsprache“ angeboten. Die Region ist außerdem durch das Vorhandensein von nationalen Minderheiten geprägt, die durch die Grenzziehung von 1920 entstanden: eine deutsche Minderheit in Nordschleswig und eine dänische Minderheit südlich der deutsch-dänischen Grenze in Südschleswig, wobei alle Angehörigen der Minderheiten tendenziell bi- oder trilingual sind. Die nationalen Minderheiten betreiben ihr eigenes Bildungs- und Schulsystem. Es gibt seit einiger Zeit eine intensive grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf institutioneller Ebene (z.B. im Gesundheitswesen und zwischen den Universitäten). Auch auf wirtschaftlicher und persönlicher Ebene kommt es zu regem Austausch. Neben einer großen Anzahl von Pendlern, die auf der jeweils anderen Seite der Grenze arbeiten, ist der Shoppingtourismus, von dem allerdings die deutschen Geschäfte eher profitieren als die dänischen, ein signifikanter Faktor des regionalen Wirtschaftslebens. Die Staatsgrenze ist vor allem durch die europäische Einigung immer durchlässiger geworden und die Region sieht sich gerne als Modell für ein friedliches Miteinander in Europa. In regelmäßigen Abständen <?page no="25"?> Warum klingen die Dänen so unbeteiligt, warum die Deutschen so dominant? 15 bringen regionale Politiker jedoch zum Ausdruck, dass es im sprachlichen und kulturellen Bereich immer noch „Stolpersteine“ in der Zusammenarbeit gebe. Ein Teilaspekt der Forschungsthematik Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit ist natürlich auch die Begegnung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Erstsprachen und Kulturen. Dabei ist auffällig, dass die beiden Hoch- und Schulsprachen der Region (Standarddänisch und Standarddeutsch) zwar eng verwandt sind und beträchtliche Ähnlichkeiten hinsichtlich des Lexikons und der Morphologie aufweisen und im Bereich Syntax divergieren, sich jedoch in Bezug auf die Aussprache erheblich unterscheiden, und dies sowohl segmental-phonologisch als auch prosodisch. Schon Anfang der 1980er Jahre verfasste der Freiburger Sprachwissenschaftler Otmar Werner einen Aufsatz mit dem Titel: „Weshalb ist das gesprochene Dänisch für uns so schwierig? “ In diesem Aufsatz findet man einen sehr präzisen, kaum zu überbietenden Parcours durch alle segmentalphonologischen Ausspracheschwierigkeiten des Dänischen, die diachron auf die lautliche Sonderentwicklung des Dänischen im Verhältnis zu den anderen nordischen Sprachen zurückzuführen sind (siehe auch Fredsted 2008). Diese lautliche Sonderentwicklung, die im frühen Mittelalter einsetzte, macht sich folglich (synchron) durch eine große Diskrepanz zwischen Graphem und Phonem bemerkbar, da die dänische Orthographie stark historisierend ist. Werner behandelt die folgenden Themen aus dem „Raritätenkabinett“ der dänischen Aussprache: a) Assimilation und positionsbedingter Konsonantenschwund, die zu Homophonie oder zu Redundanzverlusten führen, b) Abbau von Konsonantenoppositionen im In- und Auslaut, c) Lenisierung und Diphthongierung von postvokalischen Konsonanten und d) komplexe Morphophonemik und komplizierte Zuordnungen zwischen Orthographie und Aussprache (Werner 1981). Im vorliegenden Aufsatz soll jedoch nicht auf die segmentalphonologischen Schwierigkeiten, sondern auf die Intonation von Akzentuierungsgruppen und insbesondere auf den Tonverlauf in unterschiedlichen Äußerungstypen eingegangen werden. Diese prosodischen Aspekte spielen in der heutigen deutschdänischen Sprachkontaktsituation eine dreifache Rolle: erstens in Verbindung mit Dänisch und Deutsch als Zweit- und Fremdsprache (siehe auch Fredsted 2011), zweitens in Bezug auf die dänische Varietät, die von der dänischen Minderheit im Landesteil Schleswig (Deutschland) gesprochen wird (Südschleswigdänisch), und drittens - und dies ist in diesem Kontext zentral - in Bezug auf interkulturelle Begegnungen zwischen Deutschen und Dänen. <?page no="26"?> 16 Elin Fredsted 3 Prosodie als Kontextualisierungshinweis Für die meisten Menschen, die in der deutsch-dänischen Grenzregion mehrsprachig leben, spielen die relativ großen Unterschiede im Hinblick auf die Aussprache eine ganz entscheidende Rolle für die Schnittstelle zwischen deutschen und dänischen Varietäten. Hierzu bedarf es zunächst eines kurzen Exkurses zu den Begriffen c o nt e x tu a li z a ti o n c u e und in d e x i c a lit y : Selbst in relativ einfachen Äußerungen kann der propositionale Inhalt des Gesagten nur mit Bezug auf gemeinsame s h a r e d fr a m e s oder den c o m mo n g r o u n d verstanden werden. Um der Komplexität der Semantik einer Äußerung gerecht zu werden, müssen wir immer davon ausgehen, dass sich Gesprächsteilnehmer auf zusätzliche Zeichen verlassen, die als Teil des Gesprochenen paraverbal produziert worden sind: Prosodie, Rhythmus, Tempo, Tonalität, Sprachwahl, Kodewechsel etc. Das sind die sogenannten c o nt e xtu a li z a ti o n c u e s , die Gumperz ( 1996: 379) wie folgt definiert: A contextualization cue is one of a cluster of indexical signs […] produced in the act of speaking that jointly index, that is invoke, a frame of interpretation for the rest of the linguistic content of the utterance. […] As verbal signalling mechanisms, contextualization cues typically operate at the following level of language (a) prosody, including accent and intonation; (b) rhythm, tempo, and such related phenomena as pausing, overlap, and latching, between either utterances or turns of speaking; (c) shifts in pitch register; (d) selection among the code options within a linguistic repertoire. Ähnliche Betrachtungen finden sich bei Ochs (1996), die den Begriff in d e xi c a lit y oder in d e xi c a l v a l e n c e für jenes Phänomen verwendet und es als komplexe assoziative Netze beschreibt, die unsere Erwartungen unterstützen, so dass eine besondere Art von Sprache von bestimmten Personen in spezifischen Situationen verwendet wird (Ochs 1996: 417ff.). Gesprächsteilnehmer produzieren indexikalische Zeichen „turn-by-turn, moment-by-moment in the course of their interaction” (Ochs 1996: 416). It is important to distinguish the range of situational dimensions that a form (set of forms) potentially indexes from the range of situational dimensions that a form (set of forms) actually indexes in a particular instance of use […]. The indexical potential of a form derives from a history of usage and cultural expectations surrounding that form. […] Language acquisition and language socialization can be seen as unfolding understanding of the indexical potential of particular linguistic forms and the skill to apply that understanding to construct situations with other interlocutors (Ochs 1996: 418f.). <?page no="27"?> Warum klingen die Dänen so unbeteiligt, warum die Deutschen so dominant? 17 Ergänzend zu Gumperz und Ochs möchte ich betonen, dass das Phänomen Prosodie als indexikalisches Zeichen oder Kontextualisierungshinweis eine Doppeldimensionalität besitzt: Man kann einerseits die Perspektive des Sprechers einnehmen, der in einer Fremdsprache spricht, deren Prosodie er (noch) nicht bewusst gelernt hat. Er wird in den meisten Fällen die prosodischen Muster seiner Erstsprache unreflektiert übertragen. Andererseits - aus der Perspektive des Hörers - liegt die Herausforderung in der Interpretation: Die Interpretation von Prosodie beruht bei den meisten Menschen auf unreflektiertem Hintergrundwissen, das man von der eigenen Sprache überträgt, weshalb es schwierig ist, den prosodischen Kode einer anderen Sprache zu dechiffrieren. Es erfordert eine metasprachliche Analyse und/ oder Kenntnisse der anderen Sprache, um andere prosodische Kodes zu interpretieren bzw. semantisch-pragmatisch zu inferieren. Die Komplexität der Problematik wird dadurch gesteigert, dass in jeder sprachlichen Interaktion zwischen Sprechern mit unterschiedlicher Erstsprache sowohl die produktive als auch die rezeptive Seite „Ort“ oder Quelle einer fehlerhaften oder missverständlichen Produktion oder Rezeption sein können. Prosodische Zeichen rufen somit oft sub-kognitive und affektive Reaktionen und Einstellungen hervor, die nicht unmittelbar mit klaren Vernunftkategorien oder sozialen Kategorisierungen zu erklären sind. Auch experimentelle Untersuchungen bestätigen die Hypothese, dass sprachliche Erfahrungen, die man in der Erstsprache gesammelt hat, die tonale Perzeption der Prosodie anderer Sprachen beeinflussen. Die Perzeption von nicht-nativen phonologischen Segmenten und Prosodie ist nach So (2012) typischerweise von den segmentalphonologischen und prosodischen Eigenschaften der L1 des Hörers begrenzt. Als Beispiel führt So an, dass Mandarin Ton 1 (hoher Ton) von Personen mit Französisch und Englisch als L1 als fl at pit c h , Ton 2 (steigender Ton) als Frage, Ton 3 (fallend-steigender Ton) als Unsicherheit und Ton 4 (fallender Ton) als Aussage perzipiert werden (So 2012: 58). 4 Die Lernerperspektive Deutsch und Dänisch sind beides Akzent zählende Sprachen, die durch Intensitätsschwankungen zwischen den akzentuierten und den nicht-akzentuierten Silben gekennzeichnet sind. Als Akzentuierungsmittel steht im Deutschen der finale Dehnungsakzent im Vordergrund, der im Standarddänischen nicht obligatorisch ist. Der wesentliche Unterschied bezieht sich jedoch auf die unterschiedlichen Intonationstypen: Für das Deutsche gilt eine l o k a l e Signalisierung des Intonationstyps (tiefer Endton in terminalen deklarativen Äußerungen, hoher Endton bei nicht-terminalen deklarativen Äußerungen sowie bei Fragen). Für <?page no="28"?> 18 Elin Fredsted das Dänische gilt eine g l o b a l e Signalisierung und zwar global fallend bei terminalen deklarativen Äußerungen. Bei anderen Funktionen der Äußerung (bei nicht-terminalen Äußerungen sowie bei Entscheidungsfragen und Echofragen) ist die Intonationskurve weniger fallend bis eben (vgl. Bannert/ Grønnum 1988). Für Zweit- oder Fremdsprachenlerner des Dänischen stellen deshalb die prosodischen Systeme der dänischen Sprachvarietäten vor allem zwei große Herausforderungen dar: Erstens gilt es, die Intonation in den Akzentgruppen zu beachten. In vielen dänischen Varietäten findet man nach Grønnum (1998: 295) unter sogenannten d e f a ult (unmarkierten)-Bedingungen in kontextfreien, isolierten Äußerungen eine invariante Intonation in allen prosodischen Akzentgruppen, nämlich steigend-fallend. Typisch für das moderne Kopenhagener Standarddänisch ist ebenfalls eine fast identische Intensität des Akzents in Bezug auf Dynamik und Dehnung (bzw. fehlende Reduktion) in allen akzentuierten Silben eines Satzes. Das unmarkierte Akzentuierungsmuster ist also eine Aussprache, in der die Starkdrucksilben alle tendenziell gleich prominent sind. Zweitens die Satzintonation: Die standarddänische Satzintonation in terminalen deklarativen Sätzen hat einen global fallenden Verlauf. Der dänischen Standardsprache fehlt sozusagen ein finaler Satzakzent. Dies gilt z.B. auch für hv-Fragen (w-Fragen im Deutschen). Folglich werden alle nicht-fallenden Intonationstypen von Zweit- oder Fremdsprachenlernern des Dänischen als entweder nicht-terminale Äußerungen, Entscheidungsfragen oder Echofragen verstanden. Nicht-terminale Äußerungen, Entscheidungsfragen und Echofragen haben im Dänischen (nach Grønnum 1992, 2001) einen fast gleichbleibenden, aber kaum je einen steigenden Satzintonationsverlauf. Abb. 2: Satzintonationsmuster im Dänischen (nach Grønnum 1998: 308, Übersetzung: E.F.) Echofragen nicht-terminale Fragen mit Inversion Entscheidungsfragen Fragesätze mit mon (ob (…) wohl) Fragesätze mit Fragewort (hv-) deklarative Äußerungen <?page no="29"?> Warum klingen die Dänen so unbeteiligt, warum die Deutschen so dominant? 19 In Abbildung 3 sieht man ein Beispiel, in dem ein Sprecher auf Dänisch in einem terminalen Satz, aber auch in der nachfolgenden Entscheidungsfrage eine klar fallende Satzintonation verwendet (Datenkorpus 2004). Jo. Ich heiße Andreas. Soll ich auch den Nachnamen sagen? Abb. 3: Dänische Satzintonation Schon Jespersen hat in seinem Werk aus dem Jahr 1934 festgestellt, dass man im Dänischen eine Satzintonation findet, deren Verlauf von Anfang bis Ende mit der Morphosyntax des Satzes genau abgestimmt ist. Je deutlicher z.B. ein Satz syntaktisch als Frage markiert ist, wie es bei hv-Fragen der Fall ist, desto weniger wird die Satzintonation die Frage markieren. Folglich ist die Satzintonation in hv-Fragen global fallend wie im terminalen deklarativen Satz. „Wir sehen“, schreibt Jespersen, „dass der Ton nicht nur das Barometer des Gefühls ist, sondern auch ein feines, stählernes Seziermesser des Gedanken“ (Jespersen 1934/ 1966: 151, Übersetzung: E.F.). Insbesondere dem modernen Kopenhagener Standarddänisch mangelt es insgesamt unter den erwähnten d e f a ult-Bedingungen und normaler Akzentuierung an prosodischer Expressivität. Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass das tonale Muster der Akzentgruppe im Kopenhagener Dänisch einen anderen Verlauf als in den übrigen Regionen des Landes aufweist, nämlich einen „umgekehrten", weil im Kopenhagener Dänisch der Ton erst n a c h der Silbe mit dem akzentuierten Vokal nach oben geht und die Tonhöhe nicht auf der betonten Silbe wie im Deutschen oder Westdänischen liegt. Die im Deutschen und Englischen übliche Korrelation zwischen Tonhöhe und Akzent (Dynamik und temporale Dehnung) wird in der Kopenhagener Variante aufgehoben. 1 1 Deswegen ist der Ausdruck „betonte Silbe“ in Relation zum Dänischen äußerst unglücklich: Wenn man sich mit der dänischen Sprache beschäftigt, wird einem sehr <?page no="30"?> 20 Elin Fredsted Für Lerner bedeutet der tonale Verlauf in deklarativen, terminalen Äußerungen, die eine klare, ungebrochene Linie nach unten aufweisen, dass längere Äußerungen sozusagen tonal vorausgreifend geplant werden müssen, damit der Sprecher am Satzende nicht im „Keller“ landet: Wenn ein terminal-deklarativer Satz länger ist (d.h. mehr als drei Akzentgruppen enthält), sind die mittleren Akzentgruppen weniger fallend und haben auch einen höheren o n s e t. Je länger die Äußerung ist, desto flacher fällt die Intonationskurve. In sehr langen Äußerungen kann ein sogenanntes r e s e ttin g stattfinden, d.h. ein kleiner Sprung nach oben, um die Intonationskontur zu korrigieren (Fredsted 2011). Diese Intonationsverhältnisse im Dänischen machen es aber genauso schwierig für dänische Lerner der deutschen Sprache: Wichtige Züge der deutschen Prosodie sind für dänische Sprecher aus ihrer Erstsprache völlig unbekannt. Diese sind 1) der Satzakzent, 2) die lo k a l fallende Intonation in terminal-deklarativen Sätzen und 3) der s t e i g e n d e Intonationsverlauf in nicht-terminalen Sätzen sowie in Entscheidungs- und Echofragen. Abbildung 4 zeigt den Intonationsverlauf eines dänischen Lerners, der den dänischen global fallenden Intonationsverlauf auf die deutsche Sprache überträgt (Datenkorpus 2004). Abb. 4: Intonationsverlauf eines dänischen Lerners bald klar, dass Akzent und Ton unterschiedliche Phänomene sind, die man nicht verwechseln sollte, wenn auch der Akzent den tonalen Verlauf beeinflusst. Dies hatte schon Jespersen 1897-1899 festgestellt (S. 555, Fußnote). In seinem Werk über die dänische Phonologie aus dem Jahr 1934 schreibt er: „Die Tonbewegungen sind in den akzentuierten Silben am größten; man sollte sich jedoch nicht zu dem Glauben verleiten lassen, dass Druck (Akzent) und Ton das gleiche ist, sowie es in beliebten Ausdrücken wie ‚Betonung‘, ‚betonte und unbetonte Silben‘, ‚der Ton liegt auf der und der Silbe‘ vorausgesetzt wird“ (Jespersen 1966: 141f., Übersetzung: E.F.) (siehe Fredsted 2008). <?page no="31"?> Warum klingen die Dänen so unbeteiligt, warum die Deutschen so dominant? 21 5 Bilinguale Sprecher: Dänisch mit deutscher Prosodie Wenn Angehörige der dänischen Minderheit aus Deutschland nach Dänemark fahren, werden sie früher oder später mit der Frage konfrontiert: „Wo kommst du denn her? “ Die meisten Südschleswiger reagieren auf diese Frage recht frustriert, denn meistens geben sie sich alle Mühe, nicht als „Ausländer“ aufzufallen und ein muttersprachähnliches Dänisch zu sprechen. Dieses gilt insbesondere für Studierende, die nach Dänemark zum Studium oder Praktikum gehen. Viele haben mich gefragt, woran es liege, dass man sie als „Quasi-Ausländer“ sofort identifiziert. Meine Antwort ist: Es liegt an der deutschen Intonation. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Angehörige der dänischen Minderheit sprechen in der Regel z w e i Sprachen auf hohem Niveau, aber viele weisen nur e in e Intonation für beide Sprachen auf. 1. Südschleswigdänisch ist dadurch gekennzeichnet, dass die Opposition zwischen akzentuierten und nicht-akzentuierten Silben in einer Akzentgruppe weniger radikal ist als in der standarddänischen Sprache. 2. Südschleswigdänisch hat lokal fallende Intonation auf der letzten betonten Silbe im Gegensatz zur global fallenden Intonation des Standarddänischen. 3. Südschleswigdänisch hat (im Gegensatz zum Standarddänischen) eine steigende Satzintonation in Entscheidungsfragen, Echofragen und in non-terminalen Sätzen. Das folgende Beispiel zeigt deutsche Intonation in einem dänischen nicht-terminalen, deklarativen Satz (Datenkorpus 2004): Ja. Ich heiße X. Y. Ich komme aus Schleswig und ich bin 13 Jahre alt. (Fredsted 2011) Ja. Ich heiße X. Y. Ich komme aus Schleswig und ich bin 13 Jahre alt. Abb. 5: Dänisch mit deutscher Satzintonation (Fredsted 2011) ja. jeg hedder X. Y. jeg kommer fra Slesvig og jeg er tretten år gammel <?page no="32"?> 22 Elin Fredsted Einige Sprecher des Südschleswigdänischen verwenden außerdem habituell deutsche Diskursmarker (wie nä? ) mit steigender Intonation am Satzende. 6 Interkulturelle Aspekte: Warum klingen die Dänen so unbeteiligt, die Deutschen so dominant? Wie in der Einleitung zitiert, charakterisiert Grønnum die Kopenhagener Varietät als prosodisch wenig expressiv: „I propose that some languages/ varieties simply go down as less expressive prosodically than others“, schreibt sie in ihrer Dissertation (Grønnum 1992: 70). 2 Dieses Merkmal führt dazu, dass das gesprochene Standarddänisch in den Ohren von z.B. Schweden aus Stockholm als unengagiert und wenig melodisch erlebt wird (Grønnum 1998: 303). Was das Verhältnis zwischen Deutsch und Dänisch angeht, möchte ich folgende Hypothese aufstellen, die auf eigene Erfahrungen als Dolmetscherin bei deutsch-dänischen Geschäftsverhandlungen in den frühen 1990er Jahren zurückgeht. 3 Deutsche Geschäftsleute haben manchmal geäußert, dass sie ihre dänischen Verhandlungspartner als desinteressiert und unengagiert erleben. Dänische Geschäftsleute haben sich ihrerseits darüber beklagt, dass sie die Deutschen im Gespräch als dominant wahrnehmen und Schwierigkeiten hätten, überhaupt zu Wort zu kommen. Mitte der 1990er Jahre habe ich diesbezüglich eine kleine Fragebogenuntersuchung unter ca. 40 Geschäftsleuten durchgeführt, die diese Aussagen bestätigt. Seit dem haben sich diese Wahrnehmungen kaum geändert. So führte im Juli 2012 eine aus Flensburg stammende Masterstudentin (mit Deutsch und Dänisch als L1) zwei Telefoninterviews mit einem in Deutschland tätigen dänischen Immobilienkaufmann und mit einer dänischen Rechtsanwältin, die 2 Einige regionale Varietäten des Dänischen haben jedoch eine wesentlich reichhaltigere Prosodie und hören sich deshalb auch anders an. Zwar werden die prosodischen Akzentgruppen in allen Dialekten identisch skandiert, aber es ist vor allem das unterschiedliche tonale Muster in den Akzentgruppen, das heutzutage das wichtigste dialektale oder regionalsprachliche Merkmal ausmacht. Beispielsweise hat Østsønderjysk einen musikalischen Wortakzent in apokopierten, ursprünglichen Zweisilbern, eine lokal fallende Satzintonation auf der letzten betonten Silbe in terminalen Sätzen (finaler Satzakzent) und eine weniger drastische Reduktion der post-betonten Silben in den Akzentgruppen als andere Varietäten des Dänischen. Die beiden letztgenannten prosodischen Züge können mit der Nähe zur deutschen Sprache erklärt werden, der erste ist ein „echtes“ Dialektmerkmal (Fredsted 2003). 3 Die Autorin arbeitete bis 1995 regelmäßig als Dolmetscherin bei deutsch-dänischen Geschäftsverhandlungen. <?page no="33"?> Warum klingen die Dänen so unbeteiligt, warum die Deutschen so dominant? 23 für die Beratung von ausländischen Unternehmen in Deutschland verantwortlich ist. Das erste Interview wurde auf Dänisch geführt (hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben), das zweite in deutscher Sprache: Interview 1 Studentin: Hast du manchmal des Gefühl, dass der deutsche Geschäftspartner das Gespräch dominiert? Immobilienkaufmann: Ja das tun sie wohl in 70% der Fälle. Studentin: Wie äußert sich das? Immobilienkaufmann: Ja, sie sprechen nonstop. (Übersetzung: E.F.) Interview 2 Studentin: Ehm und zwar ob es vorkommt, dass die deutschen Partner zu Zeiten eine Konversation mit Ihnen dominieren? Anwältin: Ja. Ja. Okay. Ja so ist es. Ehm die sind viel, ich weiß nicht, so ehm: selbstzentriert. Studentin: Ja okay. Anwältin: Können so eine halbe Stunde über sich selbst sprechen ohne überhaupt irgendwie zu sehen ob der andere das überhaupt interessant findet was sie sagen. Studentin: Ja Anwältin: Manchmal auch eine Stunde. (Transkript: Sarah Petersen) Beide Interviewpartner bestätigen das stereotype Bild des beredten, dominanten Deutschen, ohne dass sie sich analytisch oder reflexiv zu der Problematik verhalten: Von der Anwältin wird sofort auf ein vermutetes Charaktermerkmal des Gesprächspartners hingewiesen („selbstzentriert“). Eine gesprächsanalytische Erklärung könnte jedoch sein, dass die deutsche Satzintonation mit ihrer lokal fallenden Intonation am Satzende den dänischen Gesprächspartner in Bezug auf das tu r n t a kin g verwirrt. Der dänische Sprecher hat Schwierigkeiten, diese für ihn ungewöhnliche Satzintonation zu dekodieren und interpretiert sie folglich durchgehend als nicht-terminal: Der deutsche Gesprächspartner möchte nicht das Wort abgeben. Das führt zu dem Bild eines Deutschen, der das Gespräch dominiert und andere nie zu Wort kommen lässt („Ja, sie sprechen nonstop.“) oder sich in seinen eigenen Redefluss hineinsteigert („ohne überhaupt irgendwie zu sehen ob der andere das überhaupt interessant findet“). Beim näheren Betrachten könnten also diese auf den ersten Blick ziemlich stereotypen Auffassungen über den dominanten, ständig sprechenden Deutschen auf die recht großen Unterschiede in der Satzintonation zwischen Deutsch und Dänisch zurückzuführen sein. Interessant ist es dann zu erfahren, wie die Interpretation auf der anderen, der deutschen Seite, aussieht. Stimmt es - wie <?page no="34"?> 24 Elin Fredsted von Grønnum und mir vermutet - dass sich Dänisch (und Deutsch, wenn es mit dänischer Satzintonation gesprochen wird) mit der global fallenden Satzintonation langweilig und unengagiert anhört, wenn man an eine deutsche Satzintonation gewohnt ist? Schließen auch deutsche Gesprächspartner ihrerseits sub-kognitiv und affektiv von dieser unengagierten Satzintonation auf ein Charaktermerkmal, auf eine Einstellung oder sogar auf eine Eigenart ihres Gesprächspartners? In diesem Zusammenhang mag folgender kleiner Bericht von Hinnenkamp (2003) von Interesse sein: Jaja, der Scheck Neulich wollte ich in einem dänischen Möbelgeschäft etwas kaufen und an der Kasse per Scheck zahlen. Beim Öffnen der Brieftasche stelle ich fest: „Oh Gott, jetzt hab ich meine Schecks nicht dabei! " Darauf sagt der dänische Verkäufer, der mich bislang zuvorkommend bedient hatte, nur „Jaja". Aber er sagt das so komisch, in fallender Betonung, so als wolle er sagen: „Jaja, ich seh schon, erst die dicken Sachen aussuchen, und wenn's dann ans Bezahlen geht ...". Kein Wunder, dass ich etwas in Verlegenheit gerate. „Tut mir wirklich leid. Gestern hatte ich sie noch in der Brieftasche. Aber ich fahr sofort heim, hol die Schecks und bin gleich wieder da", versuche ich mich zu rechtfertigen. Wieder dasselbe „Jaja"! Jetzt bin ich sauer. Sollte ich wirklich ein so unglaubwürdiger Kunde sein? Und was nimmt sich der Verkäufer heraus, sich so überheblich zu benehmen? Die Lust, mir in diesem Laden etwas zu kaufen, war mir jedenfalls vergangen. „Nun, obwohl der dänische Möbelverkäufer sicherlich sehr gut deutsch sprach, hat er bei der Betonung von ‚jaja‘ auf das dänische Betonungsmuster zurückgegriffen. Im Dänischen wäre das die höfliche Bestätigungsform gewesen. Das kleine ‚jaja‘ in fallender Betonung gesprochen initiiert beim Käufer also die Annahme, der Möbelverkäufer nähme ihn nicht ernst. Er interpretiert es nicht auf dem Hintergrund, dass der Verkäufer nicht perfekt deutsch spricht, er nimmt nicht das Gesamtverhalten des Verkäufers zum Maßstab, sondern den kleinen Betonungsfauxpas“ (Hinnenkamp 2003: 6). Man kann in der Analyse von jaja noch etwas tiefer gehen, als Hinnenkamp es hier tut: jaja ist von der Semantik her eine affirmative Aussage - weder höflich noch unhöflich. Mit einer fallenden Intonation ausgesprochen ist dieser Diskursmarker im Dänischen hoch frequent und als eine routinemäßige Bestätigung zu verstehen. Solche Routineformeln als Diskursmarker sind uns, den Sprechern, oft nicht sonderlich bewusst und haben ungefähr denselben Bewusstheitsgrad wie die Prosodie selbst. Diskursmarker sind mit ihrer Intonation eng verknüpft, ja oft sind sie sogar nur Träger einer bestimmten Intonation (wie z.B. näh? im <?page no="35"?> Warum klingen die Dänen so unbeteiligt, warum die Deutschen so dominant? 25 Deutschen). Zahlreiche bilinguale Sprecher, die wir in unseren Forschungsprojekten 4 untersucht haben, verwenden nicht nur dieselbe Prosodie für beide Sprachen (siehe Abb. 5), sondern auch nur e in Lexikon für Diskursmarker, die sie unterschiedslos in beiden Sprachen einsetzen. Bei dem deutschen Gesprächspartner, der diese unmarkierte global fallende Intonation im Dänischen nicht kennt, verliert die Aussage jaja gerade durch den fallenden Intonationsverlauf (im deutschen Prosodierahmen interpretiert) den affirmativen Inhalt und wird zu ihrem ironisch gebrochenen Gegenteil - vielleicht so etwas wie: „ist ok, aber ich nehme Ihre Aussage nicht so ernst“. Der deutsche Gesprächspartner müsste also theoretisch die Prosodie des Dänischen kennen, um überhaupt die Aussage interpretieren zu können, sonst kollidieren die eigentliche semantische Bedeutung und das vom Hörer vermutete Gemeinte und lassen den deutschen Gesprächsteilnehmer irritiert oder frustriert zurück. 7 Schlussbemerkungen In der Beschäftigung mit der Prosodie verbergen sich interessante und weitreichende Fragestellungen, die in die Thematiken des Fremd- und Zweitsprachenerwerbs, in die Thematik Mehrsprachigkeit hinein reichen, aber auch für die interkulturelle Pragmatik von Bedeutung sind. Die mit der unterschiedlichen Prosodie verbundenen Fehleinschätzungen des Gesprächspartners sind eine wesentliche Schnittstelle in der interkulturellen Kommunikation. „[S]ince contextualization cues are automatically produced and interpreted, they need to be analyzed by indirect means” schreibt Gumperz (1996: 380). Die wesentliche Aussage ist der erste Teil des Satzes: „automatically produced and interpreted“. Genau dieser Automatismus der Produktion und Interpretation ist das Problem; er fördert nämlich die sub-kognitive Übertragung von dem Intonationsmuster der Erstsprache auf die Zweit- und Fremdsprachen, aber wie schon angedeutet: sowohl auf der produktiven als auch auf der rezeptiven, inferierenden Seite. [S]econd language speakers may have good functional control of the grammar and lexicon of their new language but may contextualize their talk by relying on the rhetorical strategies of their first language (Gumperz 1996: 383). 4 DFG-Projekt: Divergierender Sprachgebrauch bilingualer Jugendlicher (2004-2006), DFG-Projekt: Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2009-2013). <?page no="36"?> 26 Elin Fredsted Wenn wir hier die Wörter „rhetorical strategies“ mit „prosodic habits“ austauschen, haben wir das Problem jedoch nur von der e ine n Seite beschrieben. Die Doppeldimensionalität der Fragestellung in der Interaktion sollte im Blickfeld bleiben. Diese Doppeldimensionalität impliziert nämlich eine begrenzte Urteilskraft über die Einschätzung des Gesprächspartners, und zwar auf beiden Seiten. Es entsteht ein Fehlschluss in der Beurteilung des Anderen: Ein prosodisches Merkmal wird sub-kognitiv und affektiv interpretiert und als eine allgemeine Kategorie zur Beurteilung einer anderen Kultur herangezogen. Dabei entsteht ein sich selbst verstärkender Zirkelschluss, der nur durch Bewusstmachung durchbrochen werden kann. 8 Literatur Bannert, Robert/ Grønnum, Nina (1988): Empirische Studien zur Intonation des Deutschen und Dänischen; Ähnlichkeiten und Unterschiede. In: Kopenhagener Beiträge zur Germanistischen Linguistik 24. S. 26-50. Fredsted, Elin (2003): The decline of a minor language - from a transnational vernacular to an endangered dialect of minorities. In: Stolz, Thomas/ Scherzer, Joel (Eds.): Minor languages - coming to grips with a suitable definition. Bochum. S. 41-58. Fredsted, Elin (2008): Der Ton macht die Musik … oder? In: Helmes, Günther/ Polz, Marianne (Hrsg.): Sprachbilder, Sprachbildung, Sprachhandeln. Siegen. S. 91-96. Fredsted, Elin (2011): Dansk segmental fonologi og prosodi. En lærebog i dansk udtale for sprogstuderende. Ein Studienbuch zur dänischen Aussprache für Sprachstudierende. Flensburg. (Studia Danica; 2). Grønnum, Nina (1992): The groundworks of Danish intonation. København. Grønnum, Nina (1998): Fonetik og Fonologi. Almen og Dansk. København. Gumperz, John J. (1982): Discourse strategies. Cambridge. Gumperz, John J. (1992): ‘Contextualization revisited’. In: Auer, Peter/ Luzio, Aldo di (Eds.): The Contextualization of language. Amsterdam u.a. S. 39-53. Gumperz, John J. (1996): The linguistic and cultural relativity of inference. In: Gumperz, John J./ Levinson, Stephen C. (Eds.): Rethinking linguistic relativity. Cambridge. S. 374-406. Gumperz, John J./ Cook-Gumperz, Jenny (2009): Discourse, cultural diversity and communication. In: Spencer-Oatey, Helen/ Kotthoff, Helga (Eds.): Handbook of intercultural communication. Berlin. S. 13-29. Hinnenkamp, Volker (2003): Die Anderen als Fremde - Wir als Fremde: Missverständnisse und Brücken in der interkulturellen Kommunikation. Vortrag Vlotho 23.06. 2003. (www.fh-fulda.de). Jespersen, Otto (1897-99): Fonetik. København. Jespersen, Otto (1966): Modermålets Fonetik. [1. udg. 1934]. København. Ochs, Elinor (1996): Linguistic resources for socializing humanity. In: Gumperz, John J./ Levinson, Stephen C. (Eds.): Rethinking linguistic relativity. Cambridge. S. 407-437. <?page no="37"?> Warum klingen die Dänen so unbeteiligt, warum die Deutschen so dominant? 27 So, Connie K. (2012): Cross-language categorization of monosyllabic foreign tones: effects of phonological and phonetic properties of native language. In: Stolz, Thomas/ Nau, Nicole/ Stroh, Cornelia (Eds.): Monosyllables. Bremen. Werner, Otmar (1981): Weshalb ist das gesprochene Dänisch für uns so schwierig? In: Paul, Fritz (Hrsg.): Akten der Vierten Arbeitstagung der Skandinavisten des deutschen Sprachgebiets. Hattingen. S. 37-71. Datenkorpora DFG-Projekt: Divergierender Sprachgebrauch bilingualer Jugendlicher (2004-2006). Die hier verwendeten Daten sind von Dr. Karoline Kühl gesammelt und von mir mit dem SIL-speech analyzer bearbeitet. Die beiden Interviews wurden von Sarah Petersen durchgeführt. <?page no="39"?> Semantik der religiösen Motive und Sinnbilder in der Werbung Silvia Gajdošová (Bratislava/ Pressburg) Zusammenfassung In der Werbewelt erleben religiöse Motive eine wahrhaftige Renaissance - himmlisch gute Leckereien, paradiesischer Urlaub, Mode, die göttliches Aussehen verspricht, und teuflisch gute Preise führen die Konsumenten von heute in Versuchung. Alltägliche Güter werden spiritualisiert; das Buch der Bücher, die Bibel, wird zu einem beliebten Prätext, um intertextuelle Bezüge herzustellen, wobei verbale, nichtverbale oder kombinierte Strategien eingesetzt werden. Welche Rolle spielt bei der Vermarktung von Produkten in Zeiten des „global advertising“ die Sehnsucht des Menschen nach einem Ort, der durch seine Gegebenheiten oder seine Schönheit alle Voraussetzungen für ein glückliches und friedliches Dasein erfüllt? Können die beliebten Pro- und Antagonisten der Werbewelt - der Engel und der Teufel - als kulturübergreifende Symbole und interkulturell einsetzbare, effektive Werbemotive fungieren? Der Beitrag zeigt anhand von aktuellen Beispielen aus der deutschen und slowakischen Printwerbung Funktion, Zielgruppen- und Produktorientierung sowie interkulturelle Aspekte von religiösen Sinnbildern und Mythen im Dienst des Marketings. Das Ziel der Arbeit ist die lexikalisch-semantische Analyse des Wortes Bibel im religiösen und säkularisierten Kontext sowie die Analyse der religiösen Motivspender - P ARADIES , S ÜNDENFALL , E NGEL , T EUFEL - im Hinblick auf ihre Erscheinungsformen, ihre Semantik und ihr Interkulturalitätspotenzial im Rahmen der Werbebranche. 1 Einleitung und Forschungslage Religiöse Motive erleben schon einige Jahre in Bereichen wie Film, Musik oder Werbung eine wahrhaftige Renaissance, wobei sich mit dieser interdisziplinären Problematik Forschungsbereiche der Theologie, Religionsdidaktik, Religionspädagogik sowie der Linguistik befassen. In diesem Beitrag werden linguistische Aspekte fokussiert. Unter dem Begriff r e li g i ö s wird c h ri s tli c h r e li g i ö s verstanden, auch wenn in der Werbung noch andere Religionen thematisiert werden. Unter Religiosität in der Werbung versteht man einerseits Religion, Gott, das Transzendente, religiöse Texte (v.a. die Bibel), Symbole, Mythen, aber auch geistliche Vertreter wie Priester oder Nonnen. Des Weiteren existieren literatur- und sprachwissenschaftlich beschreibbare Merkmale christlich-religiöser Spra- <?page no="40"?> 30 Silvia Gajdošová che - z.B. symbolisches, metaphorisches und gleichnishaftes Sprechen, indikatives Reden, spannungsvolle Verbindung von Schweigen und Reden, personale und situationsbezogene Ansprache (vgl. Stöger 2004: 34). Natürlich handelt es sich in der Werbung um eine (Pseudo-)Religiosität, denn religiöse Elemente werden im nichtreligiösen Kontext (säkularisiert und meist verfremdet) dargestellt. Laut Stöger (2004: 86) liegt die „entscheidende Verwandtschaft zwischen Religion und Werbung […] im Erzeugen eines Bewusstseins von einer neuen, besseren Welt“. Im christlichen Glauben aber ist es auf das Jenseits gerichtet, wobei die Werbung Befriedigung aller Sehnsüchte im Hier und Jetzt verspricht. Es wird der wahre Himmel auf Erden verkündet und somit die Erreichbarkeit einer besseren Welt für jedermann proklamiert. Der Beitrag versucht die wissenschaftliche Diskussion in den Forschungsbereichen interkulturelles Marketing, Religionsdidaktik und -pädagogik und Werbesprachenforschung zu berücksichtigen und einen neuen Ansatz, nämlich das Interkulturalitätspotenzial der religiösen Motive in der Werbung, zu präsentieren. Zum interkulturellen Marketing sind zahlreiche allgemein ausgerichtete Publikationen vorhanden, z.B. Müller (1997), Schmidt/ Neuendorff (2004), Hütte (2007), Lindner (2012), weiterhin Publikationen, in denen Vergleiche zwischen Verkaufsstrategien zweier oder mehrerer Kulturen, eventuell in Bezug auf konkrete Produktgruppen, thematisiert werden - z.B. Eschricht (2008), Temath (2010). Im Vordergrund vieler Werke steht die Frage nach der Wahl zwischen einer standardisierten Strategie und einer kostenintensiveren, differenzierten Werbestrategie, die die entsprechenden kulturellen Einflüsse berücksichtigt. Religiöse Motive in der Werbung sind ein beliebtes Thema innerhalb der Religionsdidaktik und Religionspädagogik, es dominieren zahlreiche (kürzere) Aufsätze v.a. in elektronischer Form. Allerdings werden oft nur einige wenige Werbetexte vorgestellt, interpretiert und didaktisiert. Obwohl die didaktische und methodische Bearbeitung der vorgestellten Werbebeispiele den Schwerpunkt bildet, sind die Anschauungen der Theologen bezüglich dieser interdisziplinären Thematik sehr hilfreich, was die thematische Orientierung und fachkundige Interpretation betrifft. Unter diesem Aspekt sind die Arbeiten von Buschmann/ Pirner (2003), Vorkäufer (2005), Buschmann (2006) und Thaler (2008) inspirativ auch für andere Forschungsbereiche. Magdanz (2012) beschäftigt sich mit der Verführung zum Konsum mithilfe des Mythos und der Verbindung urmenschlicher Sehnsüchte mit dem Verlangen nach einem beworbenen Produkt. Die empirische Arbeit von Buschmann (2006) untersucht über 500 Werbeanzeigen aus dem „Spiegel“ aus den Jahren 1995-1999 im Hinblick auf religiöse Zitate und Anspielungen und gibt u.a. Aufschluss über das quantitative Vorkommen der religiösen Motive in der Werbung in Bezug auf Zeitraum, Firma, Branche, Religion, Art des Motivs oder Symbols. Außerdem existiert ein nichtkommerzielles Archiv von Werbematerialien, die religiöse Motive in Text und <?page no="41"?> Semantik der religiösen Motive und Sinnbilder in der Werbung 31 Bild verwenden. Es beinhaltet über 600 Werbeanzeigen aus den 1990er Jahren und früher und ist momentan nur offline als DVD unter dem Titel „glauben + kaufen“ (www.glauben-und-kaufen.de, Stand: 24.02.2013) verfügbar. Nur wenige Werke untersuchen Werbesprache im Hinblick auf religiöse Motive. Stöger (2004) versucht mithilfe der Intertextualitätstheorie religiöse Motive in der Werbung zu erfassen und zu kategorisieren. Bauer (2007) untersucht unter linguistischen Aspekten die Werbewirkung von religiösem Wortschatz, wobei sie auch Gründe für seine Verwendung in den einzelnen Branchen diskutiert. Semester- und Examensarbeiten von Studierenden sowie Fachbeiträge von Wissenschaftlern in den Bereichen Mythosforschung, Ideologieforschung und Erklärende Hermeneutik veröffentlicht seit 2005 das Online-Magazin www.mythosmagazin.de. Auf religiöse Motive in der Werbung ausgerichtete Arbeiten beleuchten unter verschiedenen Aspekten die Engelfigur (Böttcher 2006) und den Paradiesmythos (Grasnick 2004, Völkel 2006). Das Ziel meines Beitrags ist die lexikalisch-semantische Analyse des Wortes Bibel im religiösen und säkularisierten Kontext sowie die Analyse der religiösen Motivspender - P ARADIES , S ÜNDEN- FALL , E NGEL , T EUFEL - in Bezug auf ihre Erscheinungsformen in der Anzeigenwerbung, auf ihre Semantik und ihr Interkulturalitätspotenzial im Rahmen der Werbebranche. 2 Die Bibel Ein hochaktuelles Beispiel für die Säkularisierung religiöser Motive ist das heilige Buch der Christen, die Bibel. Laut Duden Universalwörterbuch hat das Wort Bibel folgende Bedeutungen: 1 a Gesamtheit der von den christlichen Kirchen als offenbartes Wort Gottes betrachteten Schriften des Alten und Neuen Testaments; heiliges Buch der Christen, Heilige Schrift b (jüdische Religion) Gesamtheit der aus Thora u.a. bestehenden Schriften des Judentums 2 Exemplar der Bibel (www.duden.de, Stand: 24.02.2013). In den Buchhandlungen vieler europäischer Länder kann man heutzutage immer öfter einen weiteren Typ der Bibel sehen, der seine Beliebtheit auf der kulturell fest verankerten positiven Wahrnehmung, sogar Autoritätswirkung der klassischen Bibel aufgebaut hat. Beispielsweise „Die ultimative Digital-TV-Bibel“, „Die Karrierebibel“, „Die Bibel der guten Küche“ und im englischsprachigen Raum, <?page no="42"?> 32 Silvia Gajdošová wo die meisten Vertreter dieser Bibelart vorzufinden sind, sogar „The chocolate Bible“. 1 Aus meiner Recherche geht hervor, dass in anderen von mir untersuchten europäischen Sprachen (Slowakisch, Tschechisch, Ungarisch) wenige Beispiele für diesen neuartigen Bibeltyp vorzufinden sind, meist geht es um Übersetzungen der Publikationen aus dem Englischen. Im Englischen gibt es nämlich eine weitere Bedeutung von Bibel im Sinne der oben genannten Beispiele: bible: a book that is considered the most important one for a particular subject (www.macmillandictionary.com, Stand: 24.2.2013). Zusammenfassend könnte man sagen, dass man (im Deutschen) eine Bedeutungsdifferenzierung des Lexems Bibel in Erwägung ziehen sollte, denn keine der Bedeutungsangaben aus dem Duden Universalwörterbuch berücksichtigt diese „Bibeln“. Es geht um ein thematisch orientiertes Buch, welches das Wichtigste in diesem Bereich enthält (z.B. „Kochbibel“); es besteht eine referenzielle synonymische Beziehung zu Titeln wie „Das große Buch ...“, „… von A bis Z“. Es wäre sicher interessant zu erforschen, wie sich dieser Trend in den einzelnen Sprachregionen entwickelt und welche Faktoren seine Verbreitung fördern bzw. bremsen. 3 Paradiesvorstellungen in der Werbung Laut Buschmanns empirischen Forschungsarbeiten (1995-1999) thematisieren knapp 30 Prozent aller religiösen Motive das Paradies (vgl. Buschmann 2006: 39); Paradies und paradiesisch gehören zu den beliebtesten religiösen Schlüsselwörtern. Paradies (Duden Universalwörterbuch) 1 *kein Plural möglich a (Religion) (nach dem Alten Testament) als eine Art schöner Garten mit üppigem Pflanzenwuchs und friedlicher Tierwelt gedachte Stätte des Friedens, des Glücks 1 Die Quellenangaben sind im Literaturverzeichnis (Säkularisierte Bibelarten) zu finden. Abb. 1: Data Becker <?page no="43"?> Semantik der religiösen Motive und Sinnbilder in der Werbung 33 und der Ruhe, die den ersten Menschen von Gott als Lebensbereich gegeben wurde; Garten Eden b (Religion) Bereich des Jenseits als Aufenthalt Gottes und der Engel, in den die Seligen nach dem Tod aufgenommen werden; Himmel 2 Ort, Bereich, der durch seine Gegebenheiten, seine Schönheit, seine guten Lebensbedingungen o.Ä. alle Voraussetzungen für ein schönes, glückliches, friedliches o.ä. Dasein erfüllt (www.duden.de, Stand: 24.02.2013). Die Erläuterungen zeigen, dass bei diesem Lexem bereits eine säkularisierte Bedeutung vorzufinden ist, in der Werbung weist es eine interessante semantische Variabilität auf. 3.1 Urlaubsparadiese Das Paradies verbindet man in der Werbung üblicherweise mit Sommerwetter, Strand, schöner Natur und viel Sonne, außerdem existieren Paradiese für bestimmte Zielgruppen, beispielsweise speziell für Frauen oder für Spaziergänger und Wanderer, wie folgende Fließtexte aus der Anzeigenwerbung zeigen: Willkommen im Paradies der ursprünglichen Ostalgarve. Traumhaft gelegen zwischen [...]. Genießen Sie hier den Spirit der Algarve mit Blick über eine einzigartige Strandlandschaft. Biken durch die nahezu unberührte Natur. Entspannen bei Wellfit oder einer Partie Golf. [...] TUI (Stern 8/ 2012: 139). Baden-Württemberg ist das Paradies für Frauen: Hier leben sie am längsten und glücklichsten. Das sagen mehrere Studien - und auch die Baden-Württembergerinnen selbst. Woran das liegt; bei uns sind überdurchschnittlich viele Frauen im Berufsleben aktiv, die von einer der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Deutschland profitieren. Und laut Prognos Familienatlas gibt es in Baden-Württemberg auch die meisten Top-Regionen für Familien. Ja, bei uns ist es wirklich paradiesisch. Und weil wir dem Himmel so nah sind, schenkt er uns bundesweit die meisten Sonnenstunden - die im Bäderland Nr. 1 auch so richtig ausgekostet werden können. [...] Baden-Württemberg (Brigitte 22/ 2011: 113). [...] Die Kurstadt Meran wird zum Paradies für Spaziergänger und Wanderer. [...] Ferienregion Meraner Land (Stern 17/ 2012: 77). <?page no="44"?> 34 Silvia Gajdošová 3.2 Einkaufsparadiese Stand: 24.02.2013). Paradiese können sogar konkreten Personen gehören: „Maria’s Einkaufsparadies - Der Familien-Shop“ (www. marias-einkaufsparadies.de, Stand: 24.02.2013). Um die Internationalität dieser neuartigen Paradiese zu unterstreichen, werden vier Beispiele aus unterschiedlichen Sprachen zum ähnlichen Thema angeführt. Aus diesen Beispielen geht hervor, dass sogar Paradiese für Tiere angeboten werden, obwohl für den Einlass in diesem Fall die Hundebesitzer sorgen müssen. www.haustierparadies24.de (Deutsch), www.petsparadise.com.au (Englisch), www.psiraj.sk (Slowakisch), www.kutyaparadicsom.com (Ungarisch). 3.3 Produkt als Eintrittskarte ins Paradies Abb. 3: Sheba In der Produktgruppe Nahrungs- und Genussmittel verspricht die Werbung durch ihren Konsum „Jeden Tag ein Stück vom Paradies“ zu erleben, in der Werbung von „Sheba“ beschränkt sich das nicht nur auf Menschen. Abb . 2: Eurovea Ein weiteres Phänomen unserer Zeit sind die Einkaufsparadiese aller Art, das Shoppingcenter „Eurovea“ in Bratislava verspricht eins von ihnen zu sein. Die potenziellen Käufer müssen mit einem Überangebot solcher Paradiese kämpfen und alle gewähren einen freien Einlass, manchmal sogar sekundenschnell nur per Knopfdruck: „Herzlich Willkommen im Einkaufs-Paradies! “ (www.hood. de/ shop/ 9167/ einkaufs-paradies.htm, Stand: 24. 02.2013). Für jeden Geschmack und jedes Portemonnaie gibt es ein maßgeschneidertes Paradies - vom „Schokoladen-Einkaufsparadies“ (www. cacaomundo.com/ dein-schokoladen-paradies/ de/ imprint.html, Stand: 24.02.2013) bis zum „Perücken-Paradies“ (www.perücken-paradies.de,: <?page no="45"?> Semantik der religiösen Motive und Sinnbilder in der Werbung 35 Die in der Parfümwerbung dargestellten Paradiese zeigen schöne, fröhliche und verführerische Menschen, die mithilfe des Duftes einen paradiesischen Zustand erleben können. Bei folgenden Marken ist Paradies sogar im Produktnamen enthalten: Escada: „Pacific Paradise“, Naomi Campell: „Paradise passion“. Eine interessante Kampagne startete die Firma Gilette in ihrer Winterkampagne für ein „Venus Divine Paradise Beauty-Set“ 2 . Welche Verkaufsargumente kann man bezüglich eines Produktes verwenden, welches explizit nach dem Paradies benannt wurde und dessen Kampagne im Winter startet, was der klassischen sonnigen Vorstellung vom Paradies widerspricht? Venus Divine Paradise Beauty-Set: Paradiesische Entspannung im Winter [...] Klirrende Kälte, vorweihnachtliche Hektik und beruflicher Alltagsstress - da fehlt oftmals die Gelegenheit sich voll und ganz auf sich zu besinnen. Entfliehen Sie doch einfach dem Alltag und genießen Sie paradiesische Wohlfühlmomente mit dem Venus Divine Paradise Beauty-Set von Gillette. [...] Das passende Satin Care Floral Passion Rasiergel verwöhnt Sie mit blumigen Düften. Feuchtigkeit spendende Seiden-Extrakte machen die Haut sanft und geschmeidig - für paradiesisch glatte Beine. [...] Gönnen Sie nicht nur sich, sondern auch Ihren Freunden und Bekannten paradiesische Momente. [...] (www.cosmoty.de/ news/ 325, Stand: 24.02.2013). Hier steht das Paradies als Zustand im Kontrast zum Alltagsstress, zur Hektik und zur Kälte. 3.4 Sonstige Paradiesmotive Außer den angeführten Beispielen aus der Werbung, die sich auf das Paradies und das Paradiesische beziehen, gibt es weitere Paradiesmotive und -vorstellungen, die bei ihrer Systematisierung und Analyse einer weiteren Recherche bedürfen, vor allem weil sie nur vereinzelt vorkommen. Ein Beispiel wäre die Werbung von PRO 7 für die Serie „Terra nova“ mit der Schlagzeile: „Willkommen im Paradies“ (Stern 9/ 2012: 93). Das Motiv der ursprünglichen, vom Menschen unberührten, aber zugleich gefährlichen Natur wird durch ein Bild mit einem Tyrannosaurus im Dschungel, einem Totenschädel und einem bewaffneten Mann dargestellt; die Analogie zum Paradies wird sowohl verbal (durch das Wort Paradies) als auch bildlich (durch einen vom Baum hängenden Apfel) vermittelt. 2 Wörtliche Übersetzung: Venus göttliches Paradies Schönheits-Set <?page no="46"?> 36 Silvia Gajdošová 3.5 Christlich-religiöse und säkularisierte Paradiesvorstellungen im Vergleich Die von mir durchgeführte qualitative Analyse der (säkularisierten) Paradiesvorstellungen in der Werbung ergab folgende Resultate im Hinblick auf den Vergleich mit der christlich-religiösen Vorstellung: Das Paradies ist in der christlich-religiösen Auffassung ein abgegrenztes (nicht lokalisierbares) Gebiet, in dem der Mensch völlig geschützt lebt, wo Frieden herrscht und Überfluss an Nahrung besteht, wo ein Zustand des Guten und der Unschuld, aber kein Übel herrscht und welcher durch eine unbelastete Beziehung zu Gott gekennzeichnet ist. In der Werbung gibt es eine große Auswahl an Paradiesen, die meistens lokalisierbar sind. Jeder kann auswählen bzw. mehrere (Urlaubs-, Einkaufsetc.)Paradiese erleben. Sie öffnen ihre Tore nicht nur für (christlich-)religiös lebende Menschen, die Beziehung zu Gott spielt keine Rolle; sie sind für jeden (gegen Geld) erreichbar, sogar verschenkbar, und im Vordergrund steht das private Glück („Kauf dir ein Stück Paradies! “). Das klassische (deutsche) Urlaubs-Paradies ist ein konkreter Ort, im Vordergrund stehen unberührte Natur und das Leben im Einklang mit ihr - oft symbolisiert durch exotische üppige Vegetation, menschenleeren (Palmen-)Strand und blauen Himmel. Die Paradiese der Werbewelt scheinen zahllos zu sein, diese exklusiven (Urlaubs-)Orte stehen offen für jeden, der sich das finanziell leisten kann. Es werden Stimmungen wie Glückseligkeit, Geselligkeit (häufig durch junge, attraktive Menschen), Überfluss, Genuss, Luxus, Komfort und Sicherheit kommuniziert. Oft ist ein solches Paradies hedonistisch ausgerichtet mithilfe der Schlüsselwörter: genießen, sich gönnen, sich verwöhnen lassen, sich verführen lassen und evoziert ein Schlaraffenland. Werbung verführt zum Besuch der Paradiese oder verspricht durch den Kauf bestimmter Produkte paradiesische Zustände zu erreichen. Daraus folgt, dass unserem Alltagsleben eine paradiesische Komponente fehlt und dass wir uns im Zustand des Nicht-Paradiesischen (als Folge des Sündenfalls? ) befinden. Das Paradies kann also auch die Flucht aus dem Alltag, aus der profanen Arbeitswelt darstellen. Ob Ort oder Zustand - das Werbeparadies ist eindeutig ein Konsumgut, durch den Kauf eines Produktes/ einer Dienstleistung gelangt man ins „Paradies“, und hier findet man alles, was das Herz begehrt. Die Paradiesvorstellungen in der Werbung könnten meiner Meinung nach als eine potenzielle interkulturell einsetzbare Werbestrategie fungieren, denn jeder Mensch sehnt sich nach dem Paradies auf Erden. Paradies und paradiesähnliche Orte gibt es auch in anderen Religionen, die Werbung widerspiegelt (oder weckt? ) also die Sehnsucht nach diesen Orten und Zuständen. Der semantische Mehrwert dieses Motivs bietet der Werbewelt einen großen Spielraum, doch ich <?page no="47"?> Semantik der religiösen Motive und Sinnbilder in der Werbung 37 gehe davon aus, dass auch kulturell bedingte Abweichungen in den Paradiesvorstellungen bestehen, beispielsweise in der Darstellung der Urlaubsparadiese. 4 Der Sündenfall 1. Mose, Kapitel 3: Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon eßt, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib schaute an, daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte; und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann auch davon, und er aß. Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schürze. (www.bibel-online.net, Stand: 24.02.2013). Der Sündenfall und sein Resultat, die Vertreibung aus dem Paradies, haben in unserer Kultur einen hohen Bekanntheitsgrad. Daraus abzuleiten sind folgende häufig benutzte Motive christlicher Ikonografie in Diensten der Werbung: A DAM , E VA , B AUM DER E RKENNTNIS , A PFEL (nicht Frucht! ) und S CHLANGE . Im deutschen Sprachraum ist die umstrittene Parfümwerbung der Firma Otto Kern bekannt. Die Werbeplakate zeigen attraktive, halb nackte Männer und Frauen, die mit einer Schlange posieren. Im Vordergrund steht also das Motiv der Verführung, das hier auf das Produkt, also ein Parfüm, übertragen wird - es macht unwiderstehlich und verführt das andere Geschlecht. In einer Kampagne gab es sogar intertextuelle Bezüge nicht nur zur Bibel, sondern es wurde auch das Motiv von Lucas Cranach d.Ä. aus dem Bild „Adam und Eva“ übernommen. In folgenden drei Werbebeispielen wird mit der Semantik von drei Grundfragen innerhalb des Sündenfalles gespielt, nämlich wer wen womit verführt. Der Verführte in der „Brunch“-Werbung ist der Konsument (Adam) oder die Konsumentin (Eva), was auch die Produktnamen suggerieren: Brunch Adam, Brunch Eva. Die Verführung scheint gelungen zu sein, das Produkt steht für den verführerischen Apfel. In der „Camel“-Werbung verführt das Maskottchen der Firma mit einem Apfel, wobei das Kamel durch den zu langen Hals und die Positionierung im Baum an die Schlange erinnert. In der ZDF-Werbung verführt Eva mit einem Apfel, das lange offene Haar verdeckt ihre Nacktheit und fungiert als Anspielung auf den Sündenfall. Alle drei Werbetexte nutzen sowohl verbale als auch nichtverbale intertextuelle Bezüge zum Referenztext aus der Bibel. <?page no="48"?> 38 Silvia Gajdošová Abb. 4: Brunch Abb. 5: Camel Abb. 6: ZDF Ein ähnliches Motiv ist in der Werbekampagne des Shoppingcenters „Avion“ (in Bratislava, Slowakei) vorzufinden. In Abbildung 7 verführt die Schlange die Konsumenten, vordergründig Frauen, weil die slowakische Frauenzeitschrift „Eva“ an der Kampagne partizipiert. Die Schlagzeile lautet: „Nechajte sa opäť zlákať Evou do Auparku“ („Lassen Sie sich von Eva wieder in den Aupark locken“). Hier geht es um eine duale Codierung der semantischen Botschaft (Eva aus dem Paradies, Eva als Zeitschrift). Die Versuchung stellt der Apfel mit der Aufschrift „30 Prozent Rabatt“ dar. Abb. 7: Aupark Abb. 8: Aupark In Abbildung 8 wird in der Oktoberkampagne auf den Sündenfall mit der Schlagzeile „Sündhaft gutes Einkaufswochenende“ eingegangen. Das stark verfremdete Motiv der Schlange symbolisiert der abgerissene Taschenhenkel, welcher die Kriechbewegung einer Schlange zeigt oder welcher als Teufelsschwanz zu interpretieren ist. Die potenziellen Sünder werden an die Sünde auch mit dem Dreizack des Teufels erinnert. Verführung und Versuchung in Bezug auf religiöse Motive erleben eine neue semantische Dimension im Sinne der Bedeutungsverbesserung - in der christlichen Tradition sind beide Wörter negativ konnotiert, in der Werbung bedeutet <?page no="49"?> Semantik der religiösen Motive und Sinnbilder in der Werbung 39 verführerisch etwa ‚unwiderstehlich (gut)‘. Im Vordergrund steht die Reizwirkung der Versuchung, denn verbotene Früchte schmecken am besten. Des Weiteren kommt es zu einem Rollentausch, nicht nur die Schlange verführt, auch Eva (attraktiv, kokett) verführt den Mann, v.a. aber die Rezipienten, sie führt sie durch eine Ware in Versuchung. Dabei wird Eva in verführerischer Pose dargestellt und sie selbst erliegt den angebotenen (meist materiellen) Versuchungen. Wesentlich ist aber, dass es in der Werbewelt um ein freiwilliges Erliegen, ohne Sanktionen geht - der Verführung zu erliegen führt nicht aus dem Paradies, sondern ins Paradies und wird belohnt. 5 (Werbe-)Engel und (Werbe-)Teufel als Ableitungsgrundlage für Stilmittel Der Kampf dieser biblischen Antagonisten repräsentiert ein uraltes Motiv des Kampfes zwischen Gut und Böse. Jetzt kämpfen sie aber in den Diensten der Marken. In der Werbung dominieren die Engel, weil sie anhand ihrer Bedeutung ein größeres Potenzial als Teufel aufweisen, andererseits sind sie nicht nur in christlich-religiösen Kontexten populär, sondern auch durch verschiedene esoterische Bücher und zuletzt auch durch profane Geschenkartikel. Engel werden in der Werbung meist nur durch Darstellung der Flügel als solche erkennbar. Im Layout dominieren Blau (Himmel) und Weiß (Wolken). Laut Heidtmann (2005: 13) bilden die Engelmotive in der Werbung „im Hinblick auf den traditionellen christlichen Engel […] allerdings nur noch eine leere Metapher, deren vordergründige Funktion die Erweckung eines transzendentalen Abglanzes ist, mit dem sich alles verkaufen lässt“. 5.1 Der Schutzengel Abb. 9: Advokaarst Äußerst beliebt ist das Schutzengelmotiv. Es steht meist für Dienstleistungen, die eine Funktion des Schutzes vermitteln wollen: Es symbolisiert Schutz, Hilfe in Notsituationen, Zuverlässigkeit, Geborgenheit, Hoffnung und Verantwortung. Im Vergleich zur Bibel schützt der Werbe-Schutzengel meist vor äußeren Gefahren und steht nicht im Auftrag Gottes, sondern des Produktes. <?page no="50"?> 40 Silvia Gajdošová Der bekannteste slowakische Werbe-Schutzengel heißt Lucka (Koseform des Namens Lucia) und steht für eine gleichnamige Mineralwassermarke, die sich speziell auf Schwangere und Kinder orientiert. Durch den Engel mit Flügeln aus Wasser erhält der Mineralwassermarken-Name einen semantischen Mehrwert und kann sich auf dem Markt gegenüber der Konkurrenz differenzieren, wie auch der Slogan „Lucka - Dein Wasserengel“ suggeriert. 5.2 Der kleine Engel Im Motiv des kleinen Engels vereint sich das in der Werbung konstant beliebte Babymotiv (unschuldiges Kind) mit dem harmonischen Engelmotiv und wertet somit das beworbene Produkt auf. Der kleine Engel ist meist im Baby- oder Vorschulalter und verleiht auch Produkten ohne spezifischen Wiedererkennungswert eine positive Atmosphäre, kann sie von anderen ähnlichen Produkten unterscheidbar machen. In der Werbung von „Angel Soft“ (Toilettenpapier) geht es zum Beispiel um Ähnlichkeitsbeziehungen: Flügel aus Federn, Wolken, Toilettenpapier - alles weich und strahlend weiß. 5.3 Der verführende Engel Abb. 10: Seat Engel gelten in der Religion als asexuelle Wesen; vielleicht auch deshalb ist der verführende Engel ein sehr beliebtes Motiv. Er sprengt alle Konventionen und stellt eine meist kokette, dominante und verführerische Frau dar. Es kommt zur Erotisierung des Motivs - das Rebellische, Verführerische wird dargestellt als Kontrast zum Unschuldsengel. Im äußersten Fall ist dieser Engeltyp ein Zwitterwesen aus Engel und Teufel und zugleich ein Engel mit irdischen Konsum-Sünden. Die Spannung im kulturgeprägten Engelmotiv soll Aufmerksamkeit wecken und provozieren. <?page no="51"?> Semantik der religiösen Motive und Sinnbilder in der Werbung 41 5.4 Der verführte Engel Abb. 11: Axe Der verführte Engel wurde zum Hauptmotiv einer weiteren Parfümmarke: „Axe“. Der Duft dieses Parfums führt selbst Engel in Versuchung, sodass sie massenweise vom Himmel fallen und dem (nach „Axe“ riechenden) Mann hinterherlaufen. Der verführte Engel symbolisiert die auf seinem Duft beruhende starke Anziehungskraft des Mannes. Der Reiz der Verführung basiert auf dem Symbol des Unschuldsengels, welcher an der Spitze der schwer oder nicht zu verführenden weiblichen Wesen der Werbewelt steht. 5.5 Teufel als Kontrastfigur Der Teufel ist ein deutlich weniger gebrauchtes Motiv, symbolisch mit Rot und Schwarz verbunden und verkörpert die Faszinationskraft des Bösen. Der Teufel wird meist als ein älterer, unsympathischer Mann dargestellt, mit Glatze und Sakko. Er führt oft in Versuchung, womit sich das Motiv teilweise mit der Verführung durch Eva deckt. Das menschliche Bedürfnis, klar das Böse dem Guten gegenüberzustellen und siegen zu sehen (vgl. Böhm/ Buschmann 2002: 76), kann durch die gleichzeitige Darstellung der Engel- und Teufelsmotive gewährleistet werden. Nicht zu vergessen sind Werbetexte mit Schlüsselwörtern wie teuflisch und himmlisch/ göttlich, die in deutschen sowie slowakischen Werbeslogans sehr populär sind. Zusammenfassend könnte man sagen, dass Engel in unserer Kultur als interkulturell einsetzbare, effektive Werbemotive fungieren können, doch im Vergleich zum Paradiesmotiv besteht hier eine größere Gefahr, von bestimmten Adressatenkreisen als provozierend angesehen zu werden, und somit könnten diese Motive die religiösen Gefühle der Rezipienten verletzen, vor allem die von der religiösen Vorstellung abweichenden Engeltypen. Die Wahrnehmung der Engel- und Teufelsmotive in der Werbung innerhalb unterschiedlicher Kulturkreise und Religionskreise wäre sicherlich ein interessantes Forschungsthema. <?page no="52"?> 42 Silvia Gajdošová 6 Funktion religiöser Motive in der Werbung Produktnamen haben zunächst rein instrumentelle Funktionen und sind somit „neutral“, erst auf dem Markt werden sie semantisiert und über Prozesse der Zeichenzuordnung mit einer bestimmten Bedeutung verbunden (vgl. Karmasin 2004: 2012). Des Weiteren hebt sie (2004: 212) hervor: „[D]iese Bedeutung nützt in großem Umfang das kulturelle Wissen des Konsumenten aus, sie stützt sich also auf vorgegebene kulturelle und ideologische Ordnungsmuster.“ Aus dieser Sicht ist die Entscheidung für die Nutzung religiöser Motive eine bewusste Entscheidung, die ein bestimmtes Ziel verfolgt und bei der auch kulturelles Wissen in Betracht gezogen wird. Dieser Beitrag beschäftigt sich nur mit einer Auswahl an religiösen Motiven in der Werbung. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, eine pauschale Wertung für alle religiösen Motive vorzunehmen, aber im Allgemeinen sind folgende Funktionen religiöser Motive in der Werbung möglich, sogar oft in Kombinationen vorhanden: • Aufmerksamkeitserregung, Stiftung von Leseanreiz • Unterhaltung und Erheiterung • Schockieren, Provozieren • Emotionalisierung - Weckung positiver Assoziationen und numinoser Begleitgefühle (vgl. Stöger 2004: 85) • Auslösung eines Aha-Effektes (positive emotionale Reaktion auf spontanes Erkennen, Begreifen einer zuvor diffusen oder rätselhaften Botschaft) und anschließende positive Wahrnehmung der Werbung/ des Produktes/ der Fir-ma (vgl. Gajdošová 2010: 208) • „semantische Aufwertung, Aufbauen auf der positiven Wirkung des Prätextes - Übertragung von bereits existierenden positiven Attributen auf den neuen Text oder auf neue Kontexte und Situationen“ (Gajdošová 2010: 208) • Appell an das sakrale Unterbewusstsein des Werbeempfängers (vgl. Stöger 2004: 95) • Identifizierung mit einer Gruppe, Bezug auf Gruppeninteressen und -vorlieben (zielgruppenorientierte Werbung). • Die ersten vier Funktionen überschneiden sich mit den allgemeinen Funktionen von Werbung. Bei Werbung mit religiösen Motiven, die vordergründig schockieren oder provozieren sollen, kann es zur Verletzung religiöser Gefühle der Rezipienten kommen. Der Deutsche Werberat, der Konflikte zwischen sich beschwerenden Rezipienten und den werbenden Firmen regelt, führte für die Zeitspanne 2004-2009 den Beschwerdegrund „Verletzung religiöser Gefühle“ auf Platz 6 (mit 5% von 1421 kritisierten Werbekampagnen) an (vgl. Deutscher Werberat 2009: www.zaw.de/ doc/ Thematische_Schwerpunkte_der_Werbekritik. pdf, Stand: <?page no="53"?> Semantik der religiösen Motive und Sinnbilder in der Werbung 43 24.02.2013). Die Auslösung eines Aha-Effektes und die semantische Aufwertung von Motiven hängen mit dem Intertextualitätskonzept zusammen und betreffen hauptsächlich Werbung mit religiösen Motiven, die einem konkreten Prätext (aus der Bibel) zuzuordnen sind, z.B. dem Sündenfall. Die letzten zwei Funktionen beruhen auf der Zielgruppenansprache mithilfe religiöser Motive. 7 Zusammenfassung In der Werbebranche gibt es eine heftige Diskussion über standardisierte, internationale Werbung, die der Firma/ dem Produkt ein einheitliches Image verleiht; die Dichotomie Standardisierung und Differenzierung bildet das Zentralthema mehrerer Publikationen, z.B. Hütte (2007), Micke (2009). Ist es aber in unserer (christlich-religiösen) Kultur möglich, einheitliche, international identisch akzeptierbare Werbetexte mit religiösen Motiven zu kreieren? Ein idealistischer Werbetexter müsste mit vielen Problemen kämpfen; außer den klassischen Problemen wie Produktlebenszyklusphase (vgl. Schweiger/ Schrattenecker 2005: 273), Wettbewerbssituation oder rechtliche Rahmenbedingungen (vgl. Schweiger/ Schrattenecker 2005: 274) käme eine weitere Ebene hinzu mit der Frage nach einem „kulturfreien“ Produkt und nach der Homogenität der Zielgruppe (demografische und soziografische Merkmale). Die Spitze des Eisbergs würden Themen wie Stellenwert der Religion in der jeweiligen Kultur, Tabus und kulturelle Werte bilden. Müller (1997: 215ff.) meint, dass sich „trotz des intensiv werdenden Kulturaustauschs kaum eine solche interkulturelle Homogenisie-rung abzeichne, die eine interkulturell standardisierte emotionale Werbung ermöglichen würde“. Die vorgestellte qualitative Analyse zeigt lediglich Tendenzen im Bereich der ausgewählten religiösen Motive und Sinnbilder. Eine weitere Analyse könnte die einzelnen Thesen auch in quantitativer Hinsicht überprüfen und den Spielraum dieser Motive in unterschiedlichen Kulturen beleuchten. Ich gehe davon aus, dass das Interkulturalitätspotenzial der vorgestellten religiösen Motivspender - P ARADIES , S ÜNDENFALL , E NGEL und T EUFEL - in den einzelnen Kulturen sehr unterschiedlich ist. Das Paradies als Sehnsuchtsort und -zustand weist die größte Universalwirkung im Werbebereich auf, ohne gegen das religiöse Bewusstsein der Rezipienten zu verstoßen, welches in den europäischen Kulturkreisen als unterschiedlich ausgeprägt anzunehmen ist. Seine Wirkungskraft liegt in der Sehnsucht des Menschen, das Paradies auf Erden zu finden und glücklich und in Harmonie zu leben - unabhängig vom religiösen Kontext. Die anderen drei Motivspender ermöglichen Themen, die anhand ihrer starken Verbundenheit mit der christlich-religiösen Tradition bei bestimmten Adressatenkreisen und stark religiösen Kulturen durch Brechung von Tabus und Provokation ihre Akzeptanz <?page no="54"?> 44 Silvia Gajdošová einbüßen müssen. Der Schutzengel und „der kleine Engel“ dürften aufgrund ihrer positiven Assoziationen einerseits keine negative Wirkung auf die religiös fühlenden Menschen haben, andererseits sind sie durch Profanisierung dieser Motive auch bei nichtreligiösen Adressaten beliebt. Die erste Phase der AIDA-Formel 3 , welche das Werbewirkungs-Prinzip erläutert, heißt „Attention“ - also Aufmerksamkeit (vgl. Janich 2005: 22), und die lässt sich in der Werbung auch durch den Einsatz der thematisierten religiösen Motivspender - P ARADIES , S ÜNDENFALL , E NGEL , T EUFEL - erreichen. Ob aber diese Verkaufsstrategie zum Kauf des Produktes („Action“) führt, entscheidet letztendlich der Kunde selbst. 8 Literatur Bauer, Sabine (2007): Religiöser Wortschatz in der Printwerbung: Analyse aktueller Anzeigen und Plakate aus ausgewählten Branchen. Saarbrücken. Böhm, Uwe/ Buschmann Gerd (2002): Religion in der Werbung und Werbung als Religion. Von Engeln und Teufeln in den Medien. www.mediamanual. at/ mediamanual/ themen/ pdf/ werbung/ 39_Boehm_Buschmann.pdfuschmann.pdf (Stand: 24.02.2013). Böttcher, Carina (2006): Engel in Literatur, Film und Werbung. www.mythos-magazin. de/ mythosforschung/ cb_engel.pdf (Stand: 24.02.2013). Buschmann, Gerd/ Pirner, Manfred L. 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Abb. 7: Aupark: www.aupark.sk/ piestany/ aupark-shopping-center-piestany/ nase-poduja tia/ hriesne-dobre-nakupy-s-evou-v-auparku.html? page_id=5563 (Stand: 23.03.2012). <?page no="56"?> 46 Silvia Gajdošová Abb. 8: Aupark: www.shoppingcentra.webnode.sk/ shopping-centra/ bratislava/ aupark/ ud alosti-novinky-/ 2012 (Stand: 21.10.2012). Abb. 9: Advokaarst: www.anwaltverein.de/ leistungen/ werbung/ werbekampagne/ Anzeige npool (Stand: 24.02.2013). Abb. 10: Seat: www.redbox.de/ news/ kampagnen/ detail.php? nr=35797 (Stand: 24.02.2013). Abb. 11: Axe: beautyblog.ch/ fragrance/ axe-excite-da-konnen-nicht-mal-engel-widerstehen (Stand: 24.02.2012). <?page no="57"?> Wissensakkommodation in gedolmetschten Gesprächen im Krankenhaus 1 Thomas Johnen (Stockholm) Zusammenfassung Vor allem in den urbanen Zentren ist interkulturelle Kommunikation in Krankenhäusern in Deutschland schon seit Jahrzehnten Alltag. Oft reichen die Deutschkenntnisse der Patienten nicht aus, um über medizinische Themen zu kommunizieren und es werden Adhoc-Dolmetscher hinzugezogen (vgl. Bührig/ Meyer 2004). Dieser Beitrag geht anhand ausgewählter Diätberatungsgespräche der Frage nach, welchen Einfluss die Tätigkeit der dolmetschenden Person angesichts kulturbedingt unterschiedlicher semantischer Frames auf den Prozess der Wissensakkommodation zwischen Krankenhauspersonal und Patient hat. Die Analyse basiert auf Gesprächen mit nicht-professionellen Dolmetschern des Corpus des Projekts „Dolmetschen im Krankenhaus“ (vgl. Bührig et al. 2012). Es wird aufgezeigt, wie Frames den Abruf des Wissens durch die Diätberaterinnen strukturieren und die notwendige Wissensakkommodation durch die Pflegekräfte selbst oder die dolmetschende Person initiiert wird. 1 Wissensasymmetrie und Wissensakkommodation in Gesprächen in der Medizin In Gesprächen zwischen Ärzten und Patienten und auch in solchen zwischen anderem medizinischen Personal und Patienten besteht in der Regel eine Wissensasymmetrie, wobei das medizinische Personal über Spezialwissen verfügt, das der Patient nicht besitzt (eine Ausnahme sind die wenigen Fälle, in denen der Patient selbst Experte auf dem Gebiet ist, das Gegenstand des Gesprächs ist). Diese Wissensasymmetrie verstärkt die ohnehin schon bestehende Asymmetrie in Arzt-Patienten-Gesprächen, auf die in der Literatur bereits häufig hingewiesen wurde 2 . Für eine erfolgreiche medizinische Behandlung ist nun jedoch die Kooperation der Patienten notwendig, was ohne ein Mindestmaß an Grundla- 1 Die Vorstudien zu dieser Untersuchung gehen auf die Zeit meiner Mitarbeit (2004- 2005) im Projekt „Dolmetschen im Krankenhaus” im Sonderforschungsbereich 538 „Mehrsprachigkeit” an der Universität Hamburg unter der Leitung von Kristin Bührig zurück. Ich danke Kristin Bührig und Bernd Meyer für die anregenden Diskussionen in dieser Zeit. 2 Für einen Überblick siehe Löning (2001) mit weiteren Literaturhinweisen. <?page no="58"?> 48 Thomas Johnen gen- und Handlungswissen nicht erfolgreich sein kann. Deshalb dienen viele Gespräche im Krankenhaus zwischen medizinischem Personal und Patienten dem Wissensaufbau bei den Patienten 3 . Aufgrund der vorliegenden ungleichen Verteilung des Wissens ist es für einen erfolgreichen Wissensaufbau beim Patienten notwendig, von dem Wissenshorizont des jeweiligen Patienten auszugehen. Dieser Anpassungsprozess soll in der Folge W i s s e n s a k k o m m o d a ti o n genannt werden. Es stellt sich nun die Frage, wie die Wissensakkommodation vonstattengehen kann, wenn das medizinische Personal und die Patienten nicht die gleiche Sprache sprechen und auf die Sprachmittlung durch einen Dolmetscher oder eine dolmetschende Person 4 angewiesen sind, und zwar speziell dann, wenn kulturell unterschiedliche semantische Frames bei dem Gesprächsthema eine Rolle spielen. Bevor nun jedoch die Analyse der Gespräche beginnt, ist es nützlich, als Ausgangspunkt für diese Untersuchung kurz einige wichtige Ergebnisse der internationalen Forschung zum Dolmetschen von Gesprächen in institutionellen Kontexten (wie im Krankenhaus oder vor Gericht) zusammenfassend in Erinnerung zu rufen. Danach soll das Corpus, auf dem diese Untersuchung basiert, näher vorgestellt werden, um im Anschluss daran die besondere Fragestellung dieser Untersuchung zu präzisieren und im nächsten Schritt die Ergebnisse der Corpusanalyse vorzustellen und zu analysieren. 2 Bisherige Forschung zum Gesprächsdolmetschen in Institutionen Es kann an dieser Stelle kein umfassender Überblick auf die mittlerweile recht umfangreiche Forschung zum Gesprächsdolmetschen in Institutionen gegeben werden. Daher sollen hier nur die Ergebnisse, die für diese Untersuchung von Bedeutung erscheinen, vorgestellt werden. Wadensjö (1998: 48f.) zeigt auf, dass beim Gesprächsdolmetschen die Dolmetscheräußerungen die Gespräche in vielfacher Hinsicht beeinflussen, und zwar sowohl was die Gesprächsentwicklung angeht als auch den Gesprächsinhalt. Sie haben Einfluss auf das, was als zum Gespräch zugehörig betrachtet wird und was nicht, und eventuell auch auf das Verständnis der Gesprächssituation 3 Für eine ausführliche Analyse des Wissensaufbaus am Beispiel medizinischer Aufklärungsgespräche vgl. Meyer (2004: 108ff.). 4 Wir folgen hier der terminologischen Differenzierung, die Meyer (2004: 1) einführt, zwischen Dolmetscher (= für die Dolmetschertätigkeit ausgebildete Person) und dolmetschende Person (= andere zweisprachige Personen, z.B. Familienangehörige oder Pflegekräfte im Krankenhaus, die als Dolmetscher fungieren), um damit den Eindruck zu vermeiden, es handele sich bei letzteren um für die Dolmetschtätigkeit ausgebildete Personen. <?page no="59"?> Wissensakkommodation in gedolmetschten Gesprächen 49 durch die Gesprächspartner sowie das Entstehen eines Gemeinschaftsgefühls zwischen beiden. Die Autorin macht deutlich, dass beim Gesprächsdolmetschen die Dolmetscheräußerungen die Interaktion regulieren. Mierop/ Hazeland (2009) zeigen u.a. auf, dass Dolmetscher oft die Expansion von Sequenzen selbst regulieren. Novais Néto (2011: 86ff.) weist in seiner Untersuchung zum englisch-portugiesischen Gerichtsdolmetschen u.a. auf, dass die Dolmetscher häufig auch stilistisch und pragmatisch eingreifen, indem sie quellsprachliche Äußerungen, die nicht normgerecht sind, an die zielsprachliche Norm angleichen. Das gilt auch für Höflichkeitsnormen. Hierzu führt Novais Néto (2011: 87) ein Beispiel an, in dem der Richter den Angeklagten etwas rüde mit der verblosen portugiesischen Äußerung: „Nome.“ („Name.“) nach dem Namen fragt und der Dolmetscher die Frage höflicher, d.h. den allgemeinen Höflichkeitsnormen entsprechend, normgerechter mit „What’s your name? “ wiedergibt. Insgesamt zeigt die Forschung zum Gesprächsdolmetschen in Institutionen, dass Dolmetscher faktisch Gesprächsteilnehmer sind und ihre Rolle nicht auf die Transkodifikation einer quellsprachlichen Äußerung in eine zielsprachliche beschränkt werden kann 5 . Speziell zum Dolmetschen in Aufklärungsgesprächen kommen Bührig/ Meyer (2004) zu dem Ergebnis, dass die Dolmetscher nicht die Autonomie der Patienten erhöhen, sondern die der Diskursform A u fkl ä r u n g s g e s pr ä c h inhärenten Asymmetrien noch verstärken. 3 Zum Corpus Die hier vorgestellte Untersuchung basiert auf dem Corpus des Projekts „Dolmetschen im Krankenhaus (DiK)“, das 1995-2005 am Sonderforschungsbereich 538 „Mehrsprachigkeit“ an der Universität Hamburg unter der Leitung von Kristin Bührig durchgeführt wurde (vgl. Bührig et al. 2012). Das Corpus umfasst 49 gedolmetschte Gespräche (24 Portugiesisch - Deutsch, 21 Türkisch - Deutsch, 4 Portugiesisch - Spanisch - Deutsch 6 ) und ein Vergleichscorpus von 51 monolingualen Gesprächen (Deutsch, Portugiesisch und Türkisch), die alle nach HIAT 5 Vgl. u.a. Novais Néto (2011: 124f.) und Merlini/ Falbo (2011: 203ff.). Dies zeigt sich auch an den Markierungen der Redewiedergabe in gedolmetschten Arzt-Patienten-Gesprächen (vgl. Johnen 2006 und Johnen/ Meyer 2007). Für einen Überblick über die verschiedenen Auffassungen über die Rolle von Dolmetschern vgl. Pöchhacker (2009: 146ff.) mit weiteren Literaturhinweisen. 6 Bei diesen Gesprächen handelt es sich um Gespräche zwischen deutschen Ärzten mit einem spanischsprachigen lateinamerikanischen Patienten, die von einer portugiesischstämmigen Krankenschwester gedolmetscht werden - jedoch nicht ins Spanische, sondern ins Portugiesische (Näheres in Johnen 2010). <?page no="60"?> 50 Thomas Johnen (vgl. Rehbein et al. 2004) transkribiert wurden. Bei den dolmetschenden Personen handelt es sich (wie eingangs erwähnt) nicht um ausgebildete Dolmetscher, sondern um Ad-hoc-Dolmetscher, d.h. zweisprachiges Krankenpflegepersonal oder Angehörige der Patienten. Was die Verteilung der Diskurstypen angeht, so umfasst das Corpus 57 Anamnese- und Befundgespräche, 26 Aufklärungsgespräche sowie 17 andere Gesprächstypen, darunter vier Diätberatungsgespräche (3 Türkisch - Deutsch und 1 Portugiesisch - Deutsch). Bei der Analyse des Corpus zeigte sich, dass in diesen vier Gesprächen die Frage der kulturell unterschiedlichen semantischen Frames eine besondere Rolle spielt. Deshalb sind sie Grundlage dieser Untersuchung. 4 Semantische Frames und ihre Rolle für die Wissensakkommodation Der Ausgangspunkt für die Bildung des Frame-Konzepts bei Minsky (1975), der den Terminus erstmals in die wissenschaftliche Diskussion einführte, war die Fragestellung, was in neuen Situationen Orientierung schafft. Der Autor argumentiert dahingehend, dass es Wissensstrukturen gibt, die Situationen auf stereotypische Weise repräsentieren, und definiert diese als F r a m e : „Frame is a data-structure for representing stereotyped situations, like being in a kind of living room, or going to a child’s birthday party“ (Minsky 1975: 212). Die Orientierung stiftende Funktion von Frames kann man darin sehen, dass durch die Frames Wissenselemente bei Sprecher und Hörer aktiviert werden, die eine gemeinsame Basis schaffen und im Kontext etwa der hier analysierten Diätberatungsgespräche einen Ausgangspunkt für den Wissensaufbau beim Patienten bilden können. Blank (1997: 95) zeigt nun aber auf, dass semantische Frames jedoch nicht universal gelten, sondern kulturell bedingte Unterschiede aufweisen - eine Beobachtung, die übrigens schon bei Minsky (1975: 237) erwähnt wird, ohne jedoch näher verfolgt zu werden. Wenn semantische Frames nun eine Orientierung stiftende Funktion haben und kulturell bedingte Unterschiede besitzen, so wird deutlich, dass in der interkulturellen Kommunikation diese Funktion aufgrund dieser Unterschiede beeinträchtigt werden kann. Für die vorliegende Untersuchung stellt sich nun konkret die Frage, wie semantische Frames zum Wissensaufbau beim Patienten von der jeweiligen Diätberaterin benutzt werden, wie sich dabei das Problem der Wissensakkommodation darstellt, wenn die semantischen Frames, die zur Anwendung kommen, kulturell bedingt unterschiedlich sind, und schließlich, welche Rolle der dolmetschenden Person in diesem Prozess der Wissensakkommodation zukommt. <?page no="61"?> Wissensakkommodation in gedolmetschten Gesprächen 51 5 Analyse der vier Diätberatungsgespräche 5.1 Rollenkonstellationen in den gedolmetschten Gesprächen Wie erwähnt, handelt es sich bei den dolmetschenden Personen im Corpus nicht um professionelle Dolmetscher. Im Falle der drei deutsch-türkischen Diätberatungsgespräche übernehmen zweisprachige Familienangehörige die Sprachmittlungsaufgabe, im Falle des deutsch-portugiesischen Gesprächs ein zweisprachiger Krankenpfleger. Damit besteht zwischen den deutsch-türkischen und dem deutsch-portugiesischen Gespräch ein Unterschied, weil die dolmetschenden Familienangehörigen zusätzlich zu ihrem bi-kulturellen Wissen noch ein Vorwissen über die Ernährungsgewohnheiten der Patienten mitbringen. Auf der Seite der Patienten ist es nun so, dass einige Patienten durchaus Kenntnisse des Deutschen haben. In der Regel werden diese jedoch nicht als ausreichend erachtet, um ein medizinisches Gespräch auf Deutsch führen zu können. Dennoch haben die Deutschkenntnisse (auch die rezeptiven) einen Einfluss auf die Gesprächskonstellation, ermöglichen sie doch den Patienten, in unterschiedlicher Weise unmittelbarer auf den Gesprächsverlauf Einfluss zu nehmen. Insgesamt lassen sich nach Analyse des gesamten Corpus der gedolmetschten Gespräche abgestuft nach den rezeptiven und produktiven Deutschkenntnissen der Patienten vier Haupttypen von Gesprächskonstellationen unterscheiden. Konstellation 1: Der Patient versteht viel und übernimmt weitgehend selbst die Gesprächsinitiative. Konstellation 2: Der Patient versteht einiges und hinterfragt ihm in der Übersetzung Unstimmiges. Konstellation 3: Der Patient versteht einiges, aber benutzt die dolmetschende Person als sein Sprachrohr. Konstellation 4: Der Patient versteht wenig oder nichts. Fast alles wird übersetzt. Diese hier beschriebenen Konstellationen können sich jedoch auch nur auf bestimmte Gesprächsphasen beziehen und in einer anderen Gesprächsphase wechseln. 5.2 Frames in der Diätberatung Die Analyse der einzelnen Diätberatungsgespräche zeigt, dass die Diätberaterinnen ihr Wissen über adäquate und inadäquate Ernährung, das sie den Patienten vermitteln wollen, selbst in Form von durch Frames geordnete Listen abrufen. <?page no="62"?> 52 Thomas Johnen So zum Beispiel die Frames B ROT und O BST 7 . Dabei werden die zu vermeidenden Elemente durch den Negator kein markiert. Das Frame O BST enthält interessanterweise auch industriell verarbeitete Nahrungsmittel, die aus Obst hergestellt werden. B ROT : Brötchen, Vollkornbrot, Graubrot, Schwarzbrot, Knäcke, Zwieback, kein Weißbrot, kein Rosinenbrot, kein Fladenbrot, kein Pumpernickel (vgl. Gespräche TD-Ber-1 und PD-Ber-48). O BST : Äpfel, keine Bananen, keine Weintrauben, kein Dosenobst, keine Marmelade, keine Säfte, Kompott ohne Zucker (vgl. Gespräch TD-Ber-1). Teilweise werden auch durch die Nennung von Frame-Elementen Subframes aktiviert, wie z.B. S ALAT -> Salatmarinade (vgl. Gespräch TD-Ber-46) oder F ISCH - > kein panierter Fisch (vgl. Gespräch TD-Ber-41). Doch die Aktivierung von Frames geschieht nicht nur seitens der Diätberaterinnen. Auch die dolmetschende Person und die Patienten aktivieren Frame-Elemente selbstständig und nehmen diese zum Ausgangspunkt für Gesprächsbeiträge, z.B.: Diätberaterin: M ILCHPRODUKTE -> Dolmetschende Person: Joghurt (vgl. Gespräch TD-Ber-1). 8 Diätberaterin: Margarine -> Patient: Butter? (vgl. Gespräch TD-Ber-41). Die letzten beiden Beispiele zeigen also, dass die semantischen Frames dann, wenn ihre Elemente von den Gesprächspartnern geteilt werden, eine wichtige Ausgangsbasis für den Wissensaufbau und die Wissensakkommodation darstellen. Gerade im Bereich der Ernährung ist es jedoch keinesfalls verwunderlich, dass die aktivierten Frame-Elemente nicht selten kulturell bedingt voneinander abweichen. In den untersuchten Gesprächen gibt es interessante Stellen, die zeigen, dass die Diätberaterinnen zunächst ihr Wissen innerhalb der eigenkulturellen Frames in Form von Listen abrufen, jedoch dann selbst ihr stereotypisches Wissen um die Ernährungsgewohnheiten in der Kultur des Patienten heranziehen und ihre Liste um vermutete Elemente aus dieser Kultur erweitern oder die eigene Liste korrigieren. In Beispiel 1 nennt die Diätberaterin eine Liste von 7 Frames werden im Folgenden durch K APITÄLCHEN gekennzeichnet. 8 Aus Raumgründen ist hier eine detaillierte Analyse dieses Gesprächsabschnittes nicht möglich. In Johnen/ Meyer (2007: 397f.) wird dieses Beispiel, wenn auch unter einer anderen Fragestellung, ausführlicher behandelt. <?page no="63"?> Wissensakkommodation in gedolmetschten Gesprächen 53 Frame-Elementen des Frames B ROT bestehend aus: Vollkornbrot, Schwarzbrot, Knäcke und Zwieback. Nach einer kurzen Gesprächspause von 2,5 Sekunden aktiviert sie jedoch ihr Wissen um die prototypischen Frame-Elemente in der türkischen Kultur und bringt auch Weißbrot und Fladenbrot zur Sprache. Die mentale Aktivität der Aktivierung des fremdkulturellen Wissens zeigt sich zum einen an den zwei Pausen (2,5 und 0,2 Sekunden) vor der Erwähnung des Weißbzw. Fladenbrotes, zum anderen an der Einleitung der Äußerungseinheit durch „Ich weiß jetzt nicht“, an dem Redeplanungsindikator ähm sowie an der abschließend eingefügten Modalpartikel halt. (1) TD-Ber-1: Frame B ROT : „oder Fladenbrot“ [68] A[v] ((1s)) (atmet ein)) Gut. ((0,7s)) Dann halt auch, wenn Sie mögen, so [69] leise A[v] was wie Knäcke, oder mal nen Zwieback. ((0,8s)) Das ist auch erlaubt. [70] A[v] ((2,5s)) Ich weiß jetzt nicht, ähm wenn Sie sich jetzt überhaupt nicht von [71] gedehnt A[v] von (Ihrem) Weiß brot ((0,2s)) oder Fladen brot P[v] Şunu söyle bakalım! ((räuspert sich)) P[de] Sag mal Folgendes! A[k] lachend [72] A[v] halt. Im folgenden Beispiel aktiviert die Diätberaterin im Gespräch mit einem türkischen Patienten das Frame-Element Schweinebauch zum Frame F LEISCH , doch korrigiert sich unmittelbar danach selbst durch die Korrekturmarker oder naja gut und aktiviert ihr Wissen, dass in muslimisch geprägten Kulturen kein Schweinefleisch, jedoch sehr wohl Lamm gegessen wird. (2) TD-Ber-41: Frame: F LEISCH : „Kein Schweinebauch“ [191] A1[v] Das Fleisch sollte mager sein. Also kein • kein Schweine- P[v] Ohne. <?page no="64"?> 54 Thomas Johnen [192] gedehnt A1[v] bauch oder naja gut. ••Das Ess/ das essen Sie eh nicht. ‿ Ja, das P[v] ((unverständlich)) [193] A1[v] essen Sie eh nicht, aber… ••• ((räuspert sich)) ((1s)) Auch das Lamm/ [194] A1[v] • essen Sie Lamm? Ja, ne? Lamm ist manchmal auch… • D[v] Ja. P[v] Lamm, Rind. Gesprächsausschnitt (2) ist ein besonders interessantes Beispiel dafür, wie ein eigenkulturelles Frame zunächst die Wissensaktivierung strukturiert, dann jedoch durch die Gegenwart des Gesprächspartners stereotypisiertes Wissen über seinen kulturellen Hintergrund aktiviert wird und infolgedessen die Relevanz der zuvor vom eigenen kulturellen Horizont gegebenen Information als nicht bestehend deklariert („Das essen Sie ja eh nicht“) 9 und durch ein neues Frame- Element (Lamm) ergänzt wird, wobei nun auf stereotypisiertes Wissen um türkische Essgewohnheiten zurückgegriffen wird 10 . Unmittelbar darauf wird der Diätberaterin jedoch auch die Gültigkeit dieses Wissens im speziellen Fall fraglich, und sie schließt gleich nach der Erwähnung des neuen Frame-Elements Lamm die Vergewisserungsfrage: „Essen Sie Lamm? “ an. In diesen Beispielen wird die Wissensakkommodation von der Diätberaterin selbst initiiert. Die dolmetschenden Personen haben hier in keiner Weise eingegriffen. Bisweilen kommt es jedoch vor, dass in den Listen von Frame-Elementen solche genannt werden, die den Patienten, aber auch der dolmetschenden Person unbekannt sind. Im portugiesisch-deutschen Gespräch gibt es hierfür zwei interessante Beispiele. In Gesprächsausschnitt (3) erwähnt die Diätberaterin bei der Besprechung der Brotsorten, dass die Patientin Pumpernickel vermeiden solle. Die Patientin kann so gut Deutsch, dass sie weitgehend das Gespräch selbst in die Hand nimmt (Gesprächskonstellation 1), wie sich an der einleitenden Äußerung zu Rosinenbrot in Partiturfläche 142-143 zeigt. Der dolmetschende Krankenpfleger wird in der Regel erst einbezogen, wenn Probleme auftreten, wie im Beispiel 3 in Partiturfläche 149-156: 9 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Verwendung der Modalpartikeln ja eh, mit der die Diätberaterin markiert, dass dieses Wissen eigentlich zu ihrem Wissensvorrat gehört (vgl. zu ja Helbig 1990: 165 und zu eh Helbig 1990: 127f. sowie Métrich/ Faucher/ Courdier 1996: 192ff.). 10 Der Gebrauch des bestimmten Artikels bei der Einführung eines neuen Elementes („Auch das Lamm”) ist in diesem Zusammenhang ebenfalls interessant und mag als Verweis auf etabliertes Wissen gedeutet werden. <?page no="65"?> Wissensakkommodation in gedolmetschten Gesprächen 55 (3) PD-Ber-48: Frame B ROT : „Kein Pumpernickel! “ [142] A[v] ((holt Luft)) oder eben auch gezuckerte Brotwaren. Zum Bei- P[v] Hm̌ [143] akzentuiert A[v] spiel Rosinenbrote, ((2,5s)) P[v] Nee, ich esse nix Rosinenbrot, gerne nix. [144] akzentuiert A[v] oder Croissants… Na, P[v] ••• Croissants da/ manchmal ja. ((lacht)) [145] akzentuiert A[v] so gibts ja auch Schokocroissants… P[v] Ja, Aber ohne, ohne. N/ ohne [146] A[v] Ja, sättigen aber nicht… sättigen nicht so wie ein P[v] alles. Ich gerne kein Schokolat. Nee. [147] A[v] Vollkornbrötchen oder Roggenbrötchen. P[v] Hm̌. Schwarzbrot, ne? [148] A[v] Dürfen Sie auch, Schwarzbrot Äh, kein Pumpernickel, sehr leise P[v] Gut ((unverständlich, 1s)) [149] A[v] Kennen Sie das? Gibts bei euch Pumpernickel? gedehnt P[v] • Nee, •• Pumper- D[v] Was ist D[k] ((lachend)) [150] A[v] ((lacht)) P[v] nickel ich glaub nicht. Ich kenne nicht schnell D[v] das? Ich weiß gar nicht was das [151] A[v] Pumpernickel das ist äh so n ganz ganz dunkles Brot mit Sirup D[v] ist. <?page no="66"?> 56 Thomas Johnen [152] A[v] aber versehen, so eingeschweißt Gibts gar P[v] Ich kenne, ich kennen nicht. gedehnt D[v] Nee Gibts… gibts gar nicht. [153] A[v] nicht? P[v] Nee. D[v] Nee. Nee, ((unverständlich, 1,5s)) eine Brotsorte [154] A[v] Nur dunkles Brot, nur helles Brot. D[v] in Portugal. ((holt hörbar Luft)) Nee, [155] A[v] Ja alles hellere. Aber Sie D[v] in Portugal selber nur helleres, so Weiß brot, in Portugal. [156] A[v] nehmen Hier jetzt… sowieso schon dunkleres Brot, P[v] D[v] Aber hier ist es dunkleres ((lacht)). [157] gedehnt A[v] • Mischbrote, […] P[v] Ja. In diesem Auszug wird deutlich, dass der dolmetschende Krankenpfleger das Verständigungsproblem, das durch die Nennung des (norddeutschen) Frame- Elementes Pumpernickel des Frames B ROT entsteht, nicht terminologisch zu lösen vermag. Er kennt ebenfalls den Referenten nicht, doch er greift nun nicht sprach-, sondern kulturmittelnd ein, indem er die Diätberaterin über die in Portugal üblichen Brotsorten aufklärt. In Beispiel (4) kommt ein ähnlich gelagertes Problem auf, als die Diätberaterin bei der Aktualisierung des Frames G EMÜSE das Frame-Element Schwarzwurzeln zur Sprache bringt: (4) PD-Ber-48: Frame G EMÜSE : „Keine Schwarzwurzeln! “ [164] A[v] Also, eine, eine große Menge Gemüse essen. •• Und da P[v] Ja. Gemüse. [165] schneller und gedehnt A[v] •• eigentlich alles, was Sie so kennen. ••• Was man nicht so gerne <?page no="67"?> Wissensakkommodation in gedolmetschten Gesprächen 57 [166] A[v] sieht sind Schwarzwurzeln. • Kennt Ihr Schwarzwurzeln? D[v] ((1s)) A[k] ((zweifelnd)) [167] P[v] Nee, gar nich. D[v] Gibts gar nicht zum Essen. ((unverständlich, 15s)) Schwarzwurzeln [168] A[v] Sieht so aus wie Spargel, ••• ist aber/ hat eine ganz P[v] Kenne ich nich. [169] A[v] dunkle Schale, eine schwarze Schale. Ist länger. P[v] Hm̌. ••• Aber [170] A[v] Doch, das gibts frisch zu kaufen. Schwarz- P[v] Nichts Natur, ne? Doch? Jetzt? Ach [171] laut A[v] Wurzeln. Jetzt über n Sommer. Nee, P[v] so. Ja, ich versuche, ich gucke mal. [172] A[v] Sollten Sie nicht essen! P[v] Ja ((lacht)), ja ich weiß mit/ ig esse nix diese [173] A[v] Also lieber Spargel essen, aber P[v] ((holt hörbar Luft)) diese… Ja, lieber [174] A[v] •• ist es jetzt auch fast vorbei Was grün P[v] Spargel, ne? Oder grün oder weiß, ne? [175] A[v] oder weiß? Spargel? Können Sie beides nehmen. • Sie kön- P[v] Spargel. Grün oder… Hm̌. [176] A[v] nen Möhren nehmen, Sie… ((lacht)) P[v] Alles weiß ig esse nich. [177] A[v] Wie alles weiß? Nein, das stimmt gedehnt P[v] Alles klar. • Ja, Gemüse. [178] A[v] so nicht. •• Das sollen Sie.. Also sie kann alles Gemü- P[v] ((unverständlich, 0,5s)) D[v] Hm̌. <?page no="68"?> 58 Thomas Johnen [179] A[v] se nehmen. Es kann auch ruhig weiß sein. Es dürfen nur keine A[k] ((lachend)) [180] A[v] Schwarzwurzeln sein. Nee, glaub ich nicht. P[v] Ja, ich weiß. Ja, ••• D[v] ((unverständlich, 1s)) D[de] ((unverständlich, 1s)) [181] P[v] Ja, sags in portugiesisch Hm̄ D[v] ((unverständlich, 1s)) (unverständlich, 1,5s)) só D[de] ((unverständlich, 1s)) ((unverständlich 1,5s)) nur [182] P[v] Hm̄. Hm̌. D[v] eh como chama? Schwarzwurzeln, Isso n-o pode D[de] äh wie heißt es? Das dürfen Sie nicht. D[k] ((CS, deutsch)) [183] P[v] ((unverständlich, 0,5s)). D[v] ((unverständlich, 1s)) pode comer, ((1s)) D[de] ((unverständlich, 1s)) dürfen Sie essen, [184] P[v] Ja. Alles verstehen, D[v] sind só os Schwarzwurzeln. N-o. D[de] nur die Nein. D[k] ((CS)) ((CS)) [185] A[v] Ja, das war ja auch Ihre Heimatsprache. P[v] ja. Die Diätberaterin merkt, bald nachdem sie Schwarzwurzeln erwähnt hat, dass diese möglicherweise der Patientin unbekannt sind, und versucht sich dem Wissen der Patientin anzunähern, indem sie direkt fragt, ob die Patientin Schwarzwurzeln kenne. Nun greift auch der dolmetschende Krankenpfleger ein und macht deutlich, dass er auch keine Schwarzwurzeln kenne. Trotz der Umschreibungsversuche der Diätberaterin äußert die Patientin im Laufe des Gesprächs den Wunsch nach einer Übersetzung. Der dolmetschende Krankenpfleger kennt jedoch nicht die portugiesische Entsprechung zu Schwarzwurzel (escorcioneira) und benutzt deshalb auch in seiner portugiesischen Übersetzung den deutschen Terminus, woraufhin sowohl die Patientin („Alles verstehen, ja.“) als auch die Diätberaterin („Ja, das war ja auch in Ihrer Heimatsprache.“) das Problem als gelöst erachten. Der dolmetschende Krankenpfleger konnte das terminologische <?page no="69"?> Wissensakkommodation in gedolmetschten Gesprächen 59 und kulturell bedingte Problem, dass Schwarzwurzeln offenbar zur 2. Jahrtausendwende nicht mehr zum portugiesischen Frame LEGUME (G EMÜSE ) gehören 11 , nicht lösen. Seine Sprachmittlung gab der Patientin jedoch offensichtlich die Sicherheit, dass ihr mit Ausnahme der terminologischen Frage keine wichtige Information entgangen ist. In zwei anderen Gesprächen, die hier aus Platzgründen nicht eingehender analysiert werden können, greifen die dolmetschenden Familienangehörigen jeweils aus eigener Initiative ein. Im Gespräch TD-Ber-1 verweist die Diätberaterin einleitend darauf, dass der Patient Milchprodukte vermeiden solle. Der dolmetschende Sohn ersetzt in der Übersetzung eigenmächtig M ILCHPRODUKTE durch ein in der türkischen Kultur wichtiges Frame-Element, nämlich Joghurt, wobei er auch sein Wissen über den Joghurtkonsum seines Vaters miteinbezieht. Diese Übersetzung erscheint sowohl dem Vater als auch der anwesenden Mutter fraglich, da sie das Wort Joghurt nicht im Beitrag der Diätberaterin gehört haben, und es entsteht darüber eine Diskussion auf Türkisch, die der Diätberaterin natürlich nicht verständlich ist. Nach Beendigung dieser familieninternen Diskussion fährt die Diätberaterin fort, indem sie Frame-Elemente des Frames M ILCHPRODUKTE nennt und dann unter anderem auch auf Joghurt zu sprechen kommt. Im Gespräch TD-Ber-46 ruft die Diätberaterin das Wissen zum für den Patienten adäquaten Abendessen durch das Frame A BENDBROT ab und nennt für die deutsche Kultur typische Elemente. Die dolmetschende Tochter, die sich der kulturell unterschiedlichen Frames von deutsch A BENDBROT und türkisch AKŞAM YEMEĞI (A BENDESSEN ) sehr bewusst ist, übersetzt die Ratschläge der Diätberaterin jedoch nicht sogleich, sondern klärt diese zunächst über die Unterschiede auf. Im Anschluss daran beginnt ein Gespräch zwischen der Diätberaterin und der dolmetschenden Tochter, welche Speisen, die zu den Essensgewohnheiten der Familie gehören, empfehlenswert bzw. zu vermeiden sind. Erst dann gibt die Tochter eine Zusammenfassung aller Informationen auf Türkisch. In beiden Fällen fungieren die dolmetschenden Familienangehörigen also nicht nur als Sprachmittler, sondern auch als Kulturmittler, wobei der Sohn aus Gespräch TD-Ber-1 auf eine Weise handelt, die der Diätberaterin nicht transparent ist, und somit eine Wissensakkommodation zwischen Diätberaterin und Patient verhindert. Die dolmetschende Tochter in Gespräch TD-Ber-46 greift ebenfalls auf eigene Initiative in das Gespräch ein und klärt die Diätberaterin über 11 Dafür spricht etwa das Informationsdossier der Confraria Gastronómica do Alentejo (o.J.) zu Schwarzwurzeln, in dem diese als in Portugal fast ausgestorben bezeichnet werden und dafür geworben wird, sie wieder in die regionale Küche des Alentejo einzuführen. <?page no="70"?> 60 Thomas Johnen den unterschiedlichen Inhalt des Frames, das Gesprächsgegenstand ist, auf. Dabei nutzt sie sowohl bi-kulturelles Wissen als auch Sonderwissen über die Ernährungsgewohnheiten der Familie. Sie initiiert damit die Möglichkeit einer Wissensakkommodation zwischen Diätberaterin und Patientin, jedoch nimmt sie so der Patientin die Möglichkeit, selbst unmittelbar auf die Gesprächsbeiträge der Diätberaterin zu reagieren. 6 Zusammenfassung der Ergebnisse und Ausblick In diesem Beitrag konnte aufgezeigt werden, dass eigenkulturelle Frames den Abruf von Informationen durch die Diätberaterinnen ordnen und so Listen gebildet werden, mit denen sukzessive der Wissensaufbau bei den Patienten vollzogen werden soll. Teilweise wird im Verbalisierungsprozess bereits eigenes stereotypisches Wissen über kulturelle Frames des Patienten aktiviert, wie bei den oben analysierten Beispielen: Fladenbrot (Beispiel 1), Schweinebauch -> Lamm (Beispiel 2). Dies kann als Beginn der Wissensakkommodation ohne Dolmetscherbeteiligung gesehen werden. In anderen Fällen führt der listenweise Abruf von Frame-Elementen zu kulturbedingten Verstehensproblemen, die nicht terminologisch gelöst werden können, wie in den analysierten Fällen der Erwähnung von Pumpernickel (Beispiel 3) und Schwarzwurzeln (Beispiel 4). Hierbei handelt es sich um Frame-Elemente der Frames B ROT bzw. G EMÜSE , die als kulturspezifisch (nord-)deutsch angesehen werden können und nicht Teil der portugiesischen Frames PÃO (B ROT ) und LEGUME (G EMÜSE ) sind. Weder der Patientin noch dem in Deutschland aufgewachsenen, portugiesischstämmigen, dolmetschenden Krankenpfleger waren sie bekannt. Hier zeigt sich, dass das eigenkulturelle Ordnungsprinzip der Frames bei der Diätberaterin zu Kommunikationsproblemen führen kann, die auch von den dolmetschenden Personen nicht unbedingt gelöst werden. In wieder anderen Fällen greifen die dolmetschenden Personen auf eigene Initiative kulturmittelnd ein und wählen selbst prototypische Frame-Elemente aus, wie beim Beispiel M ILCHPRODUKTE - Joghurt, oder sie initiieren Metakommunikation über kulturbedingte Unterschiede, wie beim Beispiel A BENDBROT . Jedoch nur dann, wenn ihr Eingreifen für alle Gesprächspartner transparent ist, trägt es zu einer Wissensakkommodation zwischen Diätberaterin und Patient bei. Im Vorlauf zu dieser Analyse sind auch die anderen Gespräche des Corpus auf die hier zugrunde gelegte Fragestellung hin analysiert worden. Doch im Ergebnis zeigte sich, dass bei den Arzt-Patienten-Gesprächen kulturell bedingt unterschiedliche semantische Frames zumindest nicht so offensichtlich wie in den <?page no="71"?> Wissensakkommodation in gedolmetschten Gesprächen 61 oben aufgezeigten Diätberatungsbeispielen eine Rolle spielen. Von größerer Bedeutung sind institutionelles Handlungswissen und Wissen um institutionelle Diskursformen. Die daraus resultierenden Probleme betreffen aber auch solche deutschen Patienten, die mit der Institution Krankenhaus weniger vertraut sind. Es stellt sich nun die Frage, welche Konsequenzen aus den oben dargestellten Analysen für die Verbesserung von Kommunikationssituationen wie den oben analysierten im mehrsprachigen Krankenhaus gezogen werden sollten. Im deutschen Kontext hat sich besonders die Schulung von zweisprachigem Krankenhauspersonal als eine nützliche Maßnahme erwiesen (vgl. Meyer 2003), zu der auch das Nachfolgeprojekt zu „Dolmetschen im Krankenhaus“, das Projekt „Entwicklung und Evaluierung eines Fortbildungsmoduls für zweisprachige Krankenhausmitarbeiter“, durchgeführt wurde (vgl. Meyer et al. 2010). Es stellt sich angesichts der Art, wie in den Diätberatungsgesprächen das Wissen der Beraterinnen in kulturspezifischen Frames in Form von Listen typischer Frame-Elemente abgerufen wird, die Frage, ob nicht auch eine Schulung des Krankenhauspersonals für Gespräche mit Patienten unter Dolmetscherbeteiligung ein Desiderat wäre, mit dem Ziel, ein größeres Bewusstsein für die spezifischen Probleme einer solchen Gesprächskonstellation zu schaffen und vielleicht zu anderen, adäquateren Formen der Diätberatung zu kommen, die nicht von Listen von Frame-Elementen ausgehen, sondern erfragend von den Essensgewohnheiten der Patienten. 7 Literatur Blank, Andreas (1997): Il senso di una semantica dei prototipi e dei frames: osservazioni decostruttive e ricosstrutive. In: Carapeza, Marco/ Gambarra, Daniele/ Lo Piparo, Franco (Edi.): Linguaggio e cognizione: atti del XXVIII Congresso della Società di Linguistica Italiana, Palermo, 27-29 ottobre 1994. Roma. 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Die Forschung stützt sich auf den Begriff der kulturellen Situation, verstanden als ein Komplex von Einheiten (gewöhnlich organisierten Gesellschaftsgruppen), Funktionssystemen (wie Politik, Wissenschaft, Religion, Sport, Massenmedien, Bildung, Militär usw.), konzeptuellen Systemen (darunter Wertsystemen) sowie ihren Manifestationsformen (insbesondere symbolischen Formen) nebst relevanter ökologischer, wirtschaftlicher, existenzieller usw. Umgebung. Für die interkulturelle Linguistik hat der Autor ein Modell der Sprachkommunikation ausgearbeitet, das vier konfigurierte Elemente - Zeichenkategorien: Semantik, Pragmatik, Sprachform/ Struktur und Kontext - enthält. Im Artikel wird beschrieben, wie die jeweiligen Zeichenaspekte je nach der kulturellen Situation funktional profiliert werden. Besonderes Augenmerk wird auf den pragmatischen Aspekt gerichtet. Der Autor stellt fünf pragmatische Aspekte dar: den Grad der Expressivität der Aussage, den Grad der Ritualisierung des Kommunikationsverhaltens, den Höflichkeitsgrad, Monologisierung/ Dialogisierung und den Grad der stilistischen Differenzierung der Sprache. 1 Einleitung Der vorliegende Artikel hat die Anwendung funktionaler Aspekte des Zeichens zur parametrischen Beschreibung national-kultureller Typen kommunikativen Verhaltens von Individuen und sozialen Gruppen zum Thema (der Begriff des sozialen/ kommunikativen Verhaltenstyps wird nach Sztompka behandelt, vgl. Sztompka 2010: 55ff.). Die Beschreibung (darunter vergleichende Beschreibung) von kommunikativen Verhaltenstypen ist unter Berücksichtigung von bestimmten Parametern möglich, die sich in der Regel in unterschiedlichen Disziplinen aus dem Bereich der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften - in den Arbeiten von Soziologen, Politologen, Gesellschaftspsychologen, Linguisten u.a. - unterscheiden (vgl. Hajrullina 2005: 82f., Földes 2007: 17f., Gesteland 1996, Hofstede 2010, Thomann/ Thun 2006: 20f., Trompenaars 1993). So erfasst z.B. Sztompka <?page no="76"?> 66 Aleksander Kiklewicz einige Typen sozialer Aktivitäten der Menschen aus psychologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive; Sztompka unterscheidet dabei zwischen rationalen und traditionellen Aktivitäten. Aus Sicht der interkulturellen Linguistik sollten kommunikative Verhaltenstypen hinsichtlich der Differenzierung der Sprachverwendung sowie der sprachlichen Organisation von Diskursen und Sprechakten untersucht werden (vgl. Kiklewicz 2011: 66f.). Weil semantische und pragmatische Faktoren für die Typologie der kommunikativen Verhaltenstypen (die gewöhnlich national-kulturell markiert sind) besondere Bedeutung haben, wird ihnen in diesem Artikel erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. 2 Semantik und Pragmatik im semiotischen Diskursmodell Der hier als eine Art kommunikatives Ereignis verstandene Diskurs, der Anspruch auf eine bestimmte Konstruktionsregel, Funktion und Szene hat, kann aus semiotischer Sichtweise als eine Art von Zeichenverwendung beschrieben werden. Das im vorliegenden Artikel vorgeschlagene semiotische Diskursmodell setzt die Konfiguration von vier Aspekten voraus: 1) der Pragmatik, 2) der Semantik, 3) der Form/ Struktur, 4) des Kontextes (in diesem Artikel werde ich mich des Begriffs Kontext bedienen, der im weiten Sinne auch den Begriff Konsituation umfasst). Erstens wird angenommen, dass in der Regel das Handlungsziel des Absenders die Einflussnahme auf den Empfänger, auf seinen kognitiven und emotionalen Zustand oder auf sein Verhalten, ist (vgl. Thomann/ Thun 2006: 236). Wie ursprünglich von Morris (1971) initiiert, wird dieser Aspekt der gesellschaftlichen Kommunikation als Pragmatik bezeichnet. Zweitens erfolgt die Einflussnahme auf den Empfänger in der zwischenmenschlichen Kommunikation in der Regel über eine semantische Information, d.h. durch die Benachrichtigung des Empfängers über die Zustände der Dinge, die - wie von Kommunikationspartnern vorausgesetzt - in der Reaktion des Empfängers berücksichtigt werden sollten. Zum dritten dient für Zwecke der Bekundung der semantischen Information sowie - in geringerem Maße - der pragmatischen Information das System von Sprachformen, mit anderen Worten ein Zeichencode. Nach dem in der Sprachaktivität geltenden Prinzip des sparsamen Umgangs mit Sprachmitteln wird die Verwendung des Zeichencodes immer an die Umgebung der Interaktion angepasst. Der Absender der Mitteilung ist darum bemüht, einen solchen Grad der Spezifikation des Inhalts mit Zeichencodemitteln zu erreichen, der dessen Erkennen durch den Empfänger unter Berücksichtigung aller anderen Faktoren, wie z.B. situationsbezogener, kultureller und kognitiver Faktoren, erlaubt. <?page no="77"?> Semantik und Pragmatik: Dialektik gegenseitiger Relationen 67 Viertens wirkt das Codesystem im Kommunikationsprozess mit dem Kontext zusammen. Die Sprachform in der Kommunikation ist insofern unentbehrlich, als dies die Umgebung des Diskurses erfordert, wobei das Verhältnis des Anteils der beiden Zeichensysteme (des Code- und natürlichen Systems, vgl. Kravčenko 2001: 87ff.) umgekehrt proportional ist: Je höher der „Beitrag” der Umgebung, desto kleiner ist der „Beitrag” des Sprachsystems, d.h., die Sprachform der Mitteilung wird in einem höheren Ausmaß reduziert. Das semiotische Modell der Kommunikation berücksichtigt die Konfiguration ihrer vier Aspekte: Pragmatik, Semantik, Sprachform/ Struktur/ Syntaktik und Kontext und lässt sich in schematischer Weise folgendermaßen darstellen: Form/ Struktur Semantik Pragmatik Kontext Die obige Abbildung zeigt das allgemeine, gegenüber den unterschiedlichen Bereichen und Feldern der Zeichentätigkeit indifferente Modell der Kommunikationsinteraktion. Je nach Kommunikationsbedingungen unterliegt es verschiedenen Modifizierungen (vgl. Kiklewicz 2010: 61f.). Zum Beispiel sind die Diskurse der umgangssprachlichen Kommunikation grundsätzlich der pragmatischen Funktion untergeordnet: Awdiejew/ Habrajska (2006: 191) weisen darauf hin, dass in diesem Fall „die ursprüngliche pragmatische Situation, wenn die Sprache vor allem als Mittel zur Koordinierung des gemeinsamen Handelns und als Ausdruck emotionaler Haltungen dient,” im Vordergrund steht. Andererseits sind wissenschaftliche Diskurse hingegen durch die Dominanz des semantischen Parameters des Textes gekennzeichnet (2006: 191f.). 3 Semantik und Pragmatik in der Perspektive der Interkulturalität Die Realisierung des Kommunikationsmodells ist von dynamischer, veränderlicher Natur, d.h., es nimmt unterschiedliche Formen an, je nach Konfiguration der kulturellen Situation. Infolge der Einwirkung eines kulturellen Faktors können in der Struktur des Diskurses ein Aspekt oder eine miteinander verbundene Gruppe von Aspekten hervorgehoben werden. In dieser Hinsicht verdient die pragmazentrische Einstellung, d.h. das Primat der pragmatischen Textfunktion <?page no="78"?> 68 Aleksander Kiklewicz über die semantische Funktion, als charakteristisches Merkmal der gegenwärtigen postmodernen Kultur (bemerkbar nicht nur in den Medien - Werbung, Journalismus, Public Relations - , sondern auch in akademischen oder Bildungsdiskursen) besondere Aufmerksamkeit. Weil die durch den Kontext erzeugten natürlichen Zeichen sich als das effizienteste Mittel der Realisierung der wirkenden Funktion von Mitteilungen erweisen, ist der Vorrang der pragmatischen Funktion einerseits mit der Belebung des Kontextes verbunden, insbesondere dann, wenn es um einen besonderen Typ der Einwirkung, nämlich um die Einflussnahme auf die emotionalen Zustände der Empfänger, geht. Andererseits bedeutet der Pragmazentrismus - innerhalb bestimmter Grenzen - die Eliminierung der Semantik und Reduktion der Form und Struktur der Mitteilung; vgl. die Dekonstruktion als das Phänomen der Kultur der Postmoderne (in Kiklewicz 2012: 63f. wird bezüglich der Gegenwartsdiskurse die Bezeichnung „Pragmatik ohne Semantik” angewendet). Der Einfluss der Kultur der Postmoderne auf den gegenwärtigen Journalismus kommt u.a. darin zum Ausdruck, dass zurzeit ein radikaler Anstieg der Persuasivität zu beobachten ist. Es ist nicht verwunderlich, dass nach der Definition von Awdiejew/ Habrajska der journalistisch-publizistische Stil auf die persuasive Kommunikation, d.h. auf „das Beeinflussen der Kommunikationspartner”, abzielt (2006: 192). Nach Ansicht der erwähnten Forscher soll die persuasive Kommunikation in Presse, Radio und Fernsehen „Änderungen oder seine Stärkung der Gesinnungssysteme [der Rezipienten - A.K.] veranlassen und ihr Verhalten in der Gesellschaft motivieren”. Obwohl sich der traditionelle Journalismus, so Nowak (2006: 250f.), auf das Modell der Übertragung stützte, das die Trennung in zwei Arten, nämlich den berichterstattenden und publizistischen Journalismus, voraussetzte, so ist die heutige Sphäre der medialen Kommunikation einem Interaktionsmodell untergeordnet, das auf die aktive Reaktion des Empfängers abzielt. Die vorkonfigurierte Struktur der öffentlichen Diskurse ist grundsätzlich auf Effekt und Überzeugungskraft ausgerichtet, in ihr sind Visualisierung, Aufwertung des Autors der Mitteilung und technischer Determinismus (Abhängigkeit der Botschaft und ihrer Interpretation von technischen Mitteln) bedeutsam. Ein solcher Zustand steht in Opposition zur traditionellen Kultur, in der der Journalismus ursprünglich vor allem durch eine Darstellungsfunktion gekennzeichnet wurde und eine Agenda-Setting-Funktion (Entwerfen eines Konzeptsystems und Bewertung der Wirklichkeit) auf dieser Grundlage aufgebaut wurde. Es verwundert daher nicht, dass heutige Medienübertragungen aus Sicht des traditionellen Wertesystems Unbehagen und gar Widerwillen verursachen. Hier haben wir es mit dem in der interkulturellen Kommunikation häufig auftretenden Phänomen des Versagens oder der Frustration zu tun. <?page no="79"?> Semantik und Pragmatik: Dialektik gegenseitiger Relationen 69 Kobrinskij (2008: 422) ist der Meinung, dass die Pragmatik in jeder Form der künstlerischen Avantgarde, unabhängig von der Epoche, die führende Rolle spielt. Der russische Forscher vertritt die Ansicht, dass in diesem Fall nicht der Inhalt, sondern „die Wirkung der Kunst” (d.h. nicht die Semantik, sondern die Pragmatik) im Zentrum der Aufmerksamkeit steht: Das Werk eines Dichters, Malers, Komponisten sollte insbesondere bewegen, begeistern, faszinieren und beim Empfänger eine aktive Reaktion (außer dem emotionalen Erlebnis) hervorrufen. Kobrinskij schreibt, dass das vollständige oder teilweise Unverständnis der Textsemantik vom Avantgardisten vorausgesehen wird, weil der Rezipient (Leser, Zuschauer, Zuhörer) nicht als Subjekt der Wahrnehmung, der Reflexion und des Verständnisses, sondern lediglich als Objekt der Beeinflussung erfasst wird. 4 Pragmatische Parameter des kommunikativen Verhaltenstyps Die unterschiedliche Profilierung der Zeichenstruktur in verschiedenen kulturell markierten kommunikativen Verhaltenstypen steht gewöhnlich mit dem pragmatischen Aspekt im Zusammenhang: Der Abbau der formalen und strukturellen Seite der Mitteilung verursacht gewöhnlich die Höherstufung des Kontextes und Verstärkung der expressiven Mitteilungsfunktion; der semantische Aspekt rückt dabei in den Hintergrund. Ferner gibt es solche Aspekte des kommunikativen Verhaltenstyps, die direkt im Zusammenhang mit der Sprachpragmatik stehen. Am häufigsten wird der Inhalt und das Funktionieren des Sprechakts als einer dieser Aspekte behandelt (vgl. ausführliche Abhandlung von Wierzbicka 1999: 228f.). Ich konzentriere mich im Weiteren auf folgende pragmatische Aspekte: Grad der Expressivität der Aussage, Grad der Ritualisierung von Kommunikationsverhalten, Grad der Höflichkeit sowie Grad der Monologisierung/ Dialogisierung. 4.1 Der Grad der Expressivität von Kommunikationsverhalten In der zwischenmenschlichen Kommunikation, so Nęcki (2000: 130), gilt der Grundsatz der Expressivität, nach dem man danach bestrebt sein soll, „der Aussage möglichst persönlichen und emotionalen Akzent zu verleihen, damit der Empfänger weiß, wie das Verhältnis des Absenders zum gesprochenen Text ist” (vgl. die kommunikative Maxime „Sei spontan! “ nach Watzlawick 2003: 30ff.). Obwohl die Anforderung der Expressivität in Bezug auf die kommunikative Situation von allgemeiner und mehrdeutiger Natur ist, hängt ihre Umsetzung allerdings von den Kommunikationsbedingungen und den eingebundenen Teil- <?page no="80"?> 70 Aleksander Kiklewicz nehmern ab. Und so wurde darauf hingewiesen, dass dem Kommunikationsverhalten der Vertreter niedrigerer Gesellschaftsschichten höhere Rigorosität und Klarheit der Aussagen eigen ist (Nęcki 2000: 48, Bobryk 1995: 28f.). Der russische Schriftsteller Vsevolod Ivanov, Autor einiger Romane zum Thema „Oktoberrevolution von 1917“, machte darauf aufmerksam, dass die Revolutionäre, im Bestreben nach Dominanz und vielleicht teilweise zur Überwindung ihrer Komplexe, überaus laut und suggestiv sprachen. Infolge dieser Differenzierungen in der Kommunikation der Vertreter verschiedener Klassen kommt es zu Störungen, darunter zu besonderen, unvorhersehbaren Reaktionen der Partner, wie z.B. im Fragment des Stücks von Jerzy Szaniawski „Dwa teatry” („Zwei Theater”): Die Mutter: Ihr dort in den Städten, bevorzugt es, ein liederliches Leben zu führen, anstatt Kinder zu haben. Die Frau (belustigt und nicht beleidigt): Sie drücken sich stark aus. Wie wir sehen, „drückt sich” die Mutter als Vertreterin einer niedrigeren Gesellschaftsschicht (sie ist Witwe eines Försters) „stark aus”, was jedoch bei einer in der Stadt lebenden Frau (Lehrerin von Beruf) keine Revanchereaktion hervorruft, weil ihr Verhalten im höheren Maße einem anderen Kommunikationsgrundsatz, der Höflichkeit, untergeordnet ist. Nach der Definition von Nęcki (2000: 130) beruht dies auf dem Formulieren von Aussagen in einer Weise, dass „der Partner sie akzeptieren kann” und keine „unangenehmen Gefühlsempfindungen” hervorgerufen werden (vgl. „tact maxim” in Leech 1983). Gesteland (1996) macht darauf aufmerksam, dass die Einstellung zur Hervorhebung eigener emotionaler Zustände in verschiedenen nationalen Kulturen unterschiedlich ist. Gesteland unterscheidet zwischen expressiven und reservierten Kulturen und betont, dass sich die Unterschiede nicht nur auf den Grad der Akzeptanz von expressivem Verhalten, sondern auch auf die Ausdrucksform der Expression, verbale und nonverbale, beziehen (vgl. auch Müller-Jacquier 2011: 199f.). In den Kulturen des ersten (expressiven) Typus spielt die nonverbale Kommunikation, insbesondere die sogenannte Körpersprache und die spezifische Proxemik, eine besonders große Rolle, was bei den Vertretern der Kulturen des zweiten Typus auf Unverständnis oder sogar auf negative Reaktionen stoßen kann. Zu den expressiven Kulturen zählt Gesteland die Länder des Mittelmeerraumes und die lateinamerikanischen Länder, hingegen zu den reservierten Kulturen die asiatischen Länder (vor allem Ostasiens und Südostasiens) und in Europa die skandinavischen und germanischen Länder. <?page no="81"?> Semantik und Pragmatik: Dialektik gegenseitiger Relationen 71 4.2 Der Grad der Förmlichkeit von Kommunikationsverhalten In Kiklewicz 2004: 244f. habe ich zwei Makrokategorien sprachlicher Aktivitäten unterschieden: 1) voluntative/ intentionale, d.h. - bezogen auf die Perspektive des Sprechaktes - Ziele, die der Sprechende über die Mitteilung umsetzt, und 2) konventionelle - bezogen auf die Retrospektive des Sprechaktes - Gründe und Faktoren, die die sprachliche Handlung des Menschen bedingen. In der Terminologie der Transaktionsanalyse von Berne (1964) hat das intentionale Verhalten einen verfahrensbezogenen Charakter, während dem konventionellen Verhalten Merkmale von Ritualen - formellen bzw. informellen - zu eigen sind. In der zwischenmenschlichen Kommunikation treten beide Typen sprachlichen Verhaltens auf, obwohl sich in verschiedenen kulturellen Situationen ihre Umsetzung ändert. Diese Differenzierung kommt vor allem in verschiedenen Funktionssystemen vor. Im Militär- oder Verwaltungsmilieu gelten die Rangordnung der bekleideten Ämter, die gesellschaftliche Stellung und das definitiv festgelegte System der sprachlichen Umgangsformen, während im Milieu der umgangssprachlichen Kommunikation (insbesondere, wenn es sich um Underground-Erscheinungen handelt) die formelle Ritualiät (nach Auffassung von Berne) marginal und manchmal sogar absichtlich verachtet oder vermieden wird. Die dörfliche Kultur zeichnet sich im Vergleich zur städtischen Kultur durch einen höheren Anteil an konventionellen Verhaltensweisen aus. Die fortschreitende Urbanisierung leistete ihren Beitrag zur allmählichen Regression im Bereich des Funktionierens von vielen Diskursen der Volkskultur, wie z.B. Sprichwörter, Rätsel, Lieder. Und umgekehrt ist der dörflichen Kultur geringere Funktionalität von formellen Ritualen eigen. So erklärt Gura (2008: 92f.) das Vermeiden von Konflikten in der traditionellen Bauernkultur. Die Förmlichkeit ist auch durch ideologische Faktoren bedingt. So ist zum Beispiel eine Besonderheit von Ländern mit totalitärer Staatsordnung die rituelle Kommunikation, die strenge Reglementierung von sprachlichen Situationen und Kommunikationsbereichen, von dort angewandten Sprachformen, insbesondere von Banalitäten, Phraseologismen, rituellen Texten (z.B. rituelle Redewendungen mit Wünschen) und Akronymen (vgl. Bralczyk 2001: 46, Ożóg 2004: 28). Über die totalitäre Sprache schreibt Warchala (2003: 145), dass „die Verkümmerung der informativen Funktion zugunsten der Erfüllung der rituellen Funktion der Texte fortschritt, um purem Konventionalismus und leerem Etikettieren zu weichen”. Ein ähnlicher Schreibstil galt in Polen in den 80er Jahren. Das 20. Jahrhundert war vor allem für die Texte der lokalen Presse charakteristisch und stellte das Werkzeug der politischen Propaganda dar. Gesteland (1996) beschreibt die Differenzierung im Hinblick auf Förmlichkeit/ Formlosigkeit innerhalb nationaler Kulturen. Der Grad der Förmlichkeit des kommunikativen Verhaltens ist zum Beispiel in Europa höher als in Australien <?page no="82"?> 72 Aleksander Kiklewicz oder in den Vereinigten Staaten, in den slawischen Ländern höher als in den skandinavischen Ländern. Sternin (2004: 35) weist darauf hin, dass sich der Kommunikationsstil der Russen (im Vergleich zu den Westeuropäern) durch das Streben nach informeller Kommunikation auszeichnet - Sternin nennt das Kommunikationsdemokratismus: Die Russen ziehen in der Kommunikation die Parität vor - unabhängig vom Bekanntheitsgrad der Partner, daher werden häufig Förmlichkeit und sprachliche Etikette vermieden, um Offenheit und Vertrautheit in der Kommunikation zu betonen. Aus den Beobachtungen von Richmond (1992: 109) ergibt sich, dass der Kommunikationskultur der Amerikaner ein noch höherer Grad von Kommunikationsdemokratismus eigen ist. Differenzierungen/ Unterschiede in Bezug auf die Förmlichkeit kommen in der interkulturellen Kommunikation zum Ausdruck. Die Verwendung der Vornamen bei der Anrede - charakteristisch für die Vertreter der informellen Kultur - sowie verschiedene Körperberührungen werden von den Vertretern der formellen Kultur als unhöflich oder sogar rüpelhaft eingestuft. Die Unfähigkeit der Vertreter der formlosen Kultur, sich des offiziell-amtlichen Stils zu bedienen, ist ein anderes Beispiel. Für die russische Kultur (trotz ihres Merkmals Kommunikationsdemokratismus, siehe oben) ist der Gebrauch von umgangssprachlichen Elementen im Bereich der amtlichen Kommunikation (mit der sogenannten phatischen Funktion) nicht kennzeichnend. Informative, prozedurale und expressive Elemente der Mitteilung sind grundsätzlich separiert. In der japanischen Kultur ist das anders: Die offiziellen und inoffiziellen (persönlichen) Aussagen wechseln sich hier ungezwungen ab, es gilt keine stilistische Einheitlichkeit. In diesem Zusammenhang führt Gudkov (2003: 73) einen offiziellen Brief an, den ein japanischer Korrespondent an einen russischen Empfänger gesendet hat. Die Stilistik dieses Briefes steht im Widerspruch zu den Normen der offiziellen Kommunikation im europäischen Kulturkreis: Der Text ist durch Mischen von offiziellen und nichtoffiziellen, emotional markierten Elementen gekennzeichnet. 4.3 Der Höflichkeitsgrad In Abschnitt 4.1 wurde der in der zwischenmenschlichen Kommunikation geltende Grundsatz der Höflichkeit erwähnt. Dieser Grundsatz funktioniert nach demselben Prinzip wie die anderen: In verschiedenen kulturellen Situationen ändert sich ihr Wahrnehmungsgrad, was in den kommunikativen Gewohnheiten der Vertreter verschiedener kultureller Gemeinschaften zum Ausdruck kommt. In Kiklewicz 2011: 33f. habe ich bereits über den hohen Grad der Honorativität von Sprachverhalten der Polen im Vergleich mit dem der Russen geschrieben. In <?page no="83"?> Semantik und Pragmatik: Dialektik gegenseitiger Relationen 73 der deutschen und polnischen Sprache werden zur Betonung des offiziell-höflichen Charakters der Sprachaktivität (z.B. der Bitte) optative Verben, z.B. wollen und chcieć (wollen), verwendet: Deutsch: Ich bitte Sie außerdem höflichst, mein Schreiben beantworten z u w o l l e n . 1 Ich bitte mich in Gefangenschaft abmelden z u w o l l e n . 2 Ich bitte Sie aber, davon nicht zu viel verstehen z u w o l l e n . 3 Es Ihnen wenigstens anzudeuten ist mir ein Bedürfnis, und so bitte ich Sie, das beifolgende Buch gütigst von mir annehmen z u w o ll e n . 4 Polnisch: Bardzo proszę Pana Profesora, żeby P a n z e c h c i a ł się zgodzić z tym terminem. (Ich bitte Sie, Herr Professor, sich mit diesem Termin einverstanden erklären z u w o l l e n . ) P a n i z e c h c e odpowiedzieć na moje pytanie. ( W o l l e n S i e b i t t e meine Frage beantworten.) N i e c h P a n z e c h c e zwrócić uwagę na dziesiątki i setki przykładów. ( W o l l e n S i e b i t t e auf die Dutzenden und Hunderten von Beispielen aufmerksam werden.) In der englischen Sprache wird das optative Verb in dieser Bedeutung gewöhnlich mit to be so kind as to übersetzt, vgl. die Übersetzung des ersten der angeführten deutschen Sätze ins Englische: Englisch: I would also ask you t o b e s o k i n d a s t o reply. Der russischen Sprache ist ein solcher honorative Gebrauch von voluntativen Verben nicht eigen: Russische Entsprechungen höflicher Bitten sehen „einfacher” aus, ohne mit einer solchen strengen „stilistischen Hülle” wie in den westeuropäischen Sprachen versehen werden zu müssen, vgl. die Übersetzung: Deutsch: Ich bitte Sie höflich, die Sachen zurecht legen z u w o l l e n . Russisch: Ja vas očen’ prošu, čtoby vy praviľno položili vešči. (wortwörtlich: Ich bitte Sie sehr, die Sachen zurecht zu legen.) 1 (http: / / www.linguee.de/ deutsch-englisch/ uebersetzung/ ich+bitte+h%F6flichst.hatml, Stand: 21.12.2013). 2 (http: / / forum.wordreference.com/ showthread.php? t=753551&langid=3, Stand: 05.03. 2014). 3 (http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ 926/ 11, Stand: 21.12.2013). 4 (Die Presse, 03.05.2000; COSMAS II-Server, C2API-Version 4.5, Stand: 21.11.2013). <?page no="84"?> 74 Aleksander Kiklewicz Die sprachlichen Ausdrücke, die die honorative Funktion ausüben, treten in der Regel in Form der sogenannten begleitenden Formeln auf, über die Wierzbicka (1999: 204f.) schreibt, indem sie die polnischen und englischen „Zusätze” mit den Sprechakten, den sogenannten Tags, vergleicht. Die Ausdrücke solcher Art treten nicht selbständig, sondern als Zusatz zur Hauptkonstruktion auf, die z.B. Bewertungshaltungen enthält (es kommt vor, dass die begleitende Formel die emotive Ladung der vorangehenden Aussage wiederholt). Dieses Phänomen tritt in vielen europäischen Sprachen auf, sein Höhepunkt ist allerdings in der irischen Sprache besonders deutlich zu beobachten, wo das Vorkommen von semantisch inhaltslosen begleitenden Formeln mit der benefaktiven Grundbedeutung fast obligatorisch ist. Korosteleva (2009) führt bei der Schilderung dieses Phänomens folgende Beispiele an: Gasúr maith, beannacht air. - Gutes Kind, Gott segne es. Tá fiacla maith agat, bail ó Dhia ort. - Du hast schöne Zähne, Gott segne Dich. Nach maith atá se ag fás, bail ó Dhia air! -Wie wächst er nur, Gott segne ihn! Die begleitenden Formeln können in der irischen Sprache auch im Kontext einer Frage auftreten: Tá tú go maith, bail ó Dhia ort? - Wie geht es Dir, Gott segne Dich? Obwohl die Frage direkt keine positive Bewertung beinhaltet, wird sie jedoch in der Antwort des Empfängers vorausgesetzt (impliziert). Dadurch wird das Auftreten einer Kommunikationsschablone im Dialog erklärt. Mitteilungen mit Bewertungshaltungen werden in der irischen Sprache vom Ausdruck buíochas le Dhia (Gott sei Dank) regelmäßig begleitet. Kulturen, die sich durch einen hohen Höflichkeitsgrad (oder Herzlichkeitsgrad, so Wierzbicka) auszeichnen, stehen im Gegensatz zu Kulturen, die der russischen ähneln, wo fehlende Freundlichkeit gegenüber dem Kommunikationspartner (die manchmal an Grobheit grenzt) und kompromissloses Verhalten eine häufig auftretende Erscheinung ist. Die Forscher schreiben (Sternin 2004: 36, Arjamova 2010), dass die russischen Kulturnormen Unhöflichkeit und Grobheit generell verurteilen, sie werden aber nichtsdestotrotz in verschiedenen Bereichen der Kommunikationspraxis umfassend „gepflegt“. Sternin (2004: 46) weist auf das der russischen Kommunikationskultur eigene Merkmal Vermeiden von „falschem“ Lächeln hin. Die Russen sind es nicht gewohnt, Unbekannte anzulächeln oder ein solches Lächeln zu erwidern. Das Lächeln wird in Russland als Ausdruck der persönlichen Zuneigung zu einem bestimmten Menschen angesehen. <?page no="85"?> Semantik und Pragmatik: Dialektik gegenseitiger Relationen 75 Die Höflichkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen wird im Sozialisierungsprozess, insbesondere durch die Erziehung, erworben, weshalb es verständlich ist, dass Kinder beim Ausdrücken von Achtung gegenüber Anderen im Allgemeinen noch eher zurückhaltend sind - davon zeugt zum Beispiel die Popularität von belehrenden (von Erwachsenen gebrauchten) Phrasen solcher Art wie Sag „Danke” zum Onkel! Eine ähnliche Situation kommt in den ursprünglichen Formen der sozialen Kultur vor, wo sich die Gewohnheit der höflichen Kommunikation noch nicht entwickelt hat. So schreibt Wierzbicka (unter Berufung auf Harris) über australische Aborigines (Yolngu), die nie mit Worten Dank aussprechen, was sich von der Voraussetzung herleitet, dass sich jede Gefälligkeit aus familiären oder gesellschaftlichen, d.h. von naturgegebenem Charakter, quasi von oben aufgezwungenen Verpflichtungen ergibt, anders gesagt, es herrscht die Meinung, dass es keine Notwendigkeit gibt, für irgendetwas zu danken (Wierzbicka 1999: 235). Kulturelle Differenzen im Bereich der Höflichkeitskategorien können zu Missverständnissen oder sogar Konflikten in der interkulturellen Kommunikation führen. Mit Gudkov (2003) untersuchen wir das folgende Beispiel. Der Russe: Ty horošo govoriš‘ po-russki. (Du sprichst gut russisch.) Der Chinese: Ja ne govorju horošo. (Ich spreche nicht gut.) Der Russe drückt eine positive Bewertung der russischen Sprachkenntnisse des Chinesen aus, dieser aber vertritt, nach eigenen kulturellen Normen handelnd, die Ansicht, dass man vor allem bescheiden sein sollte - dadurch bekundet er seine Höflichkeit gegenüber dem Partner. Wie wir sehen, stützt sich die Höflichkeit in der chinesischen Kultur auf den Begriff der Bescheidenheit, während man in der russischen Kultur auf den Begriff des Einverständnisses setzt. Der Chinese und der Russe handeln auf der Basis von verschiedenen pragmatischen Programmen, was (in der von uns untersuchten Situation) zu Missverständnissen und Konflikten führen kann: Der Russe kann in der Antwort des Chinesen keine Höflichkeit erkennen und deshalb meinen, der Chinese sei mit seinem Urteil nicht einverstanden. 4.4 Monologisierung vs. Dialogisierung Je nach Kommunikationszielen und -bedingungen werden die sprachlichen Verhaltensweisen in der Form des Dialogs oder Monologs umgesetzt. Die Verwendung dieser Formen hängt von der kulturellen Situation ab. Im Allgemeinen stellt der Monolog in einem gewissen Sinn das Produkt der Evolution der Gesellschaft dar - davon zeugt die Tatsache, dass die Kommunikation in der Tierwelt <?page no="86"?> 76 Aleksander Kiklewicz und in den Urgesellschaften vorwiegend dialogischer Natur ist. Der russische Sprachwissenschaftler L.V. Ščerba, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Lausitzer Dialekte erforschte, war einer der ersten, der darauf hingewiesen hat. Aus der Analyse des Sprachverhaltens von Dorfbewohnern folgerte er, dass sie sich vorwiegend der dialogischen Sprache bedienen, Monologe treten dort selten auf (vgl. Jakubinskij 1986: 31f.). Ščerba wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Monolog in einem gewissen Grad eine künstliche Form der Sprachumsetzung darstellt, das natürliche Funktionieren von Sprache offenbart sich vor allem im Dialog. Jakubinskij vertritt die Ansicht, dass die dialogische Form des reflektiv orientierten Sprachverhaltens der psychischen Aktivität des- Menschen am ehesten entspricht, sie ist quasi in dessen biologischer Natur verschlüsselt (1986: 32). Auf die Entwicklung der Monologisierung wirken sich das Schrifttum und die Entwicklung solcher Bereiche gesellschaftlicher Tätigkeit, die - z.B. im amtlichen Bereich - auf dem Austausch von geschriebenen Texten beruhen, positiv aus. Obwohl hier kein direkter Zusammenhang besteht, verfügen daher Kulturen mit einer langen Tradition des Schrifttums über ein breiteres Spektrum an Dialoggattungen, weil auf die dialogische bzw. monologische Natur der Sprachverhaltensweisen auch andere Faktoren, z.B. der Grad Förmlichkeit, Einfluss nehmen. Die kasachische Gegenwartskultur kann hierfür als Beispiel dienen. Obwohl das kasachische Schrifttum (im heutigen Sinne) erst im 19. Jahrhundert entstanden ist, kam es in der Sprachkommunikation nicht - wie man vermuten könnte - zu einer vorrangigen Ausrichtung auf den Dialog. Jeder, der zum ersten Mal mit dieser nationalen Kultur in Berührung kommt, ist über die notorische Neigung der Kasachen zu Auftritten, Reden und Vorlesungen aller Art überrascht. Die Vertreter dieser Nation lieben es, Toasts auszusprechen und Reden zu halten - von denen manche sogar bis zu einer halben Stunde dauern! Im kasachischen Fernsehen ist die Gattung talk show sehr populär, jedoch spezifisch modifiziert: Die Gäste im Studio ergreifen das Wort, sprechen lange und in einer besonders ruhigen und lockeren Manier. Dieses Phänomen kann mit einem hohen Grad der Förmlichkeit der kasachischen Kultur erklärt werden: Der Hang zu Monologen gilt als spezifischer Ausgleich der fehlenden Tradition des Schrifttums, wird in die Kommunikationskultur „einmontiert”. Die monologischen und dialogischen Redeformen treten in unterschiedlicher Intensität je nach der gesellschaftlich-politischen Situation auf. Ożóg (2004: 28) weist auf die ausgebauten Systeme rituellen Verhaltens in den autokratischen Ländern hin, wobei betont werden muss, dass „Ritualismen im Zusammenhang mit der Macht” vorwiegend in monologischen Formen umgesetzt werden, d.h. nach dem Grundsatz: Die Regierenden sprechen - die Regierten schweigen (und wenn sie sprechen, dann im Namen der Regierenden). Das erklärt, dass „die Neusprache“ des Totalitarismus einen dominanten monologischen Charakter hat <?page no="87"?> Semantik und Pragmatik: Dialektik gegenseitiger Relationen 77 (Warchala 2003: 137). Und umgekehrt - die Demokratisierung der Gesellschaft bedeutet ihre Offenheit für den Dialog und für den Standpunkt- und Meinungsaustausch, weshalb Forscher auf die Erweiterung der Dialogisierung in den heutigen Massenmedien aufmerksam machen (Neščimenko 2003: 89). Die Einstellung auf Dialog und Interaktion in der Massenkommunikation unter dem Einfluss von Demokratisierung kommt in der Zunahme von auf Interaktion beruhenden Gattungen, wie z.B. Interview oder talk-show, zum Ausdruck (Majkowska 2000: 242). 4.5 Grad der stilistischen Differenzierung der Sprache Jede kulturelle Situation verfügt über einen bestimmten Komplex von Funktionssystemen (in der Terminologie von Fleischer, siehe 2007: 56ff.), denen funktionale Sprachstile untergeordnet werden. Je komplexer der Charakter des Kultursystems ist, desto zahlreicher und differenzierter sind die Stile (Vinogradov wies auf die Wechselhaftigkeit der Stilkomplexe in verschiedenen Epochen der Entwicklung der Nationalsprache hin, siehe 1981: 23). Des Weiteren hängt das Besprochene von der Dauer der Tradition des Schrifttums ab. Der am stärksten ausgeprägte Unterschied zwischen dem Bereich der offiziellen, geschriebenen Kommunikation und dem Bereich der mündlichen, alltäglichen Kommunikation, zwischen der Norm und dem Usus kommt in den Ländern vor, in denen die geschriebene Literatur seit langer Zeit existiert, z.B. in Tschechien, wo geschriebene Sprache („spisovná čeština”) und gesprochene Sprache („obecná čeština”) teilweise verschiedene Bestände lexikalischer Einheiten, sich unterscheidende Flexions- oder sogar phonetische Systeme enthalten. In der polnischen oder russischen Sprache ist die Distanz zwischen der Norm und dem Usus nicht so stark, aber auch hier tritt ein Unterschied auf: Für die russische Kultur ist die höhere Spezialisierung des wissenschaftlichen (oder akademischen) Stils kennzeichnend, daher überschreiten - nach Meinung der Polen - manche wissenschaftlichen Texte russischer Autoren, wie ich in Kiklewicz 2011: 29 gezeigt habe, die Grenzen des guten Geschmacks, sie sind allzu gekünstelt und unverständlich. In den Kulturen, deren Schrifttum keine lange Tradition aufweist (entstanden in der 2. Hälfte des 19. oder im 20. Jahrhundert), ist die Grenze zwischen der Sprache der offiziellen und der umgangssprachlichen Kommunikation sowie zwischen der literarischen Norm und dem Dialekt verschwommen. Einen solchen Charakter hatte die Sprache in den ersten Ausgaben von „Nasha Niva” - der weißrussischen Zeitung, herausgegeben seit 1906. In den informativen und publizistischen Texten treten viele Elemente des umgangssprachlichen Stils, z.B. diminutive Wörter wie zjameľka (Diminutivform von Erde), vestachka (Diminutiv- <?page no="88"?> 78 Aleksander Kiklewicz form von Neuigkeit), karoŭka (Diminutivform von Kuh), chalavechak (Menschlein) u.a. auf. Weil damals noch kein gesonderter Stil der Werbung entstanden war, wurde in den Werbetexten die allgemeine und teilweise umgangssprachliche Sprachvarietät mit einem geringen Grad von Persuasivität gebraucht. 5 Schlussfolgerungen Einer der oft vorkommenden Grundsätze der interkulturellen Kommunikation lautet: „Gang nach unten”. Der Partner, der sich des ausgebauteren Zeichensystems bedient, passt sich an den Partner an, der über ein begrenztes Zeichensystem verfügt. Anders gesagt - der sozio-kulturell Höhersituierte ahmt die dem niedrigeren Partner eigene Kommunikationsweise nach. Die Träger des begrenzten Codes sind - innerhalb gewisser Grenzen - auch für eine Umcodierung offen; in Bezug auf die Kommunikation der Tiere schreibt Fleischer (2003: 224), dass eine Entwicklung von „inaktivierten Veranlagungen [...] gemäß neuen Bedürfnissen” möglich ist. Es muss jedoch zugegeben werden, dass solche Situationen nicht verbreitet sind. Eine Umcodierung (nach dem Prinzip „Gang nach unten”) ist deshalb möglich, weil bei den Personen, die über den entwickelten Code verfügen (nach der Theorie von Bernstein), die Fähigkeit (zumindest teilweise) des Gebrauchs des begrenzten Codes, der in den ersten Stadien der Sozialisierung erworben wird und gewissermaßen angeboren ist, erhalten bleibt. Daher bemüht sich der Erwachsene, mit dem Kind zu sprechen, indem er es nachahmt (vgl. eine solche Erscheinung wie „motherese”), der Hundebesitzer ahmt den Hund nach (zur Aktivierung des mimischen, gestischen und olfaktorischen Systems des Menschen in der artübergreifenden Kommunikation, d.h. mit dem Tier, siehe Fleischer 2003: 229). Auf eine ähnliche Art nehmen sich die heutigen Massenmedien mittels desselben Kommunikationsmechanismus das Kommunikationssystem der niedrigeren Gesellschaftsschichten mit ihrer praktischen, konsumbezogenen, merkantilen Lebenseinstellung zum Vorbild. In diesem Zusammenhang schreibt Uściński (2010: 30): „Die Tatsache, dass die heutigen Medien einen äußerst breiten Kreis von «Konsumenten» erreichen, erzwingt notwendigerweise die Senkung deren Niveaus auf den Geschmack [...] der meisten Massenempfänger.” Daraus folgt, dass dem auf Minimalisierung oder sogar Beseitigung der Kategorie der Semantik und des Kriteriums der Wahrheit beruhenden Phänomen des Pragmazentrismus in den gegenwärtigen öffentlichen Diskursen die Mechanismen der interkulturellen Kommunikation zugrunde liegen. Das bedeutet, die Grundsätze der interkulturellen Kommunikation werden mehr und mehr universal, „umarmen“ das ganze System der modernen Kultur. <?page no="89"?> Semantik und Pragmatik: Dialektik gegenseitiger Relationen 79 6 Literatur Arjamova, Julija A. (2010): Analiz interpretacii anglofonami kommunikativnogo povedenija rossijskih sotrudnikov v sfere obsluživanija passažirov. In: Vestnik MGOU 2. S. 124-128. 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Es kommt bei einer gegenständlich-glokalen Kommunikation zu oft dokumentierten interkulturellen Missverständnissen. Methodische Instrumente wie das Diskursergänzungsverfahren, das Rollenspiel und die Netzwerkanalyse können helfen, bestehende Desiderata zu untersuchen. So kann es gelingen, eine interkulturelle Pragmatik für Tourismus-Websites mithilfe eines adäquaten Knowledge Media Designs (KMD) zu entwickeln. Es bietet sich dabei als Synthese letztlich das semiotic web mitsamt passender Methodik an. 1 Einleitung und Problemstellung Wenn eines der bekanntesten semiotischen Modelle der synchronen Sprachwissenschaft, wie dasjenige von Morris (1972: 94), auf das Forschungsfeld der Computerlinguistik angewandt wird, dann lässt sich hier ein dreifaches Verhältnis zwischen einem sprachlichen Zeichen zu einem anderen Zeichen (Syntaktik/ Syntax), zu den bezeichneten Referenten (Semantik) und zum Zeichenbenutzer (Pragmatik) erkennen. Es soll nun versucht werden, auf einige Probleme und Schwierigkeiten bei der Analyse von touristischen Websites mitsamt ihren Web-2.0-Social-Software- und neuerdings auch Social-Semantic-Web-Applikationen (Martin 2008), welche Kommunikation, Interaktion und Kooperation im Internet unterstützen (Brückmann 2007: o.S.), mit speziellem Fokus auf deren semantisch-pragmatischen Beziehungen aus interkultureller Sicht etwas näher einzugehen. Dieser gegenständliche Diskurs ist noch nicht abgeschlossen (Ja- <?page no="92"?> 82 Annikki Koskensalo szczolt 2011a: 2333-2360, 2011b: o.S., 2010/ 11: o.S.). Somit sollten in Zukunft interkulturelle Missverständnisse in diesen Anwendungsfeldern der Computerlinguistik (Bátori/ Lenders/ Putschke 1989: 481ff.) wenn schon nicht komplett vermieden, aber doch mindestens minimiert werden. Hierbei wird der Terminus Interkulturelle Kommunikation mit Verständigungsschwierigkeiten verknüpft, welche in ganz diversen Lebensbereichen und Berufsfeldern immer mehr zunehmen. Von dieser Sichtweise her figurieren kulturelle Differenzen als eine fast unerschöpfliche Quelle von gegenständlichen Problemen, resultierend aus kommunikativer Verständigung, praktischer Kooperation und Koexistenz (Straub/ Weidemann/ Weidemann 2007: 1). Infolgedessen ist auch ein adäquates interkulturelles KMD (Thissen 2006: 281ff.) gefordert, um eine ergänzende, oben schon angesprochene Missverständnis-Minimierung zu erreichen. Ein integrativer Ansatz zur pragmatisch-semantischen Analyse interkultureller Handlungs- und Bedeutungszusammenhänge (Weidemann 2009) ist nötig, um dieses Phänomen empirisch untersuchen zu können. 2 Interkulturelle Pragmatik und Semantik im Internet: ein problematisches Verhältnis 2.1 Zur Problematik einer interkulturellen Pragmatik im Internet bzw. bei Tourismus-Websites Vorausgeschickt sei hier, dass es sich prototypisch um eine spezielle Form eines Reiseverkaufsgesprächs (Brysch/ Castelo 2011: 102f.) im E-Commerce mitsamt den wie folgt skizzierten pragmatischen Internet-Bedingungen, also denen von Mensch-Maschinen-Kommunikation (MMK) oder auch informations and communication technologies (ICTs), handelt. Wenn semantisch-pragmatische Relationen im Bereich von Tourismus-Websites existieren, dann sind diese aufgrund ihrer Web-2.0- und Web-3.0-Applikationen Social Semantic Web (Berners-Lee/ Hendler/ Lassila 2001: 34-43) und damit in ihrer Multi-Modalität und Medialität hybrid und different. Warum dies so ist, liegt in fundamentalen Veränderungen oder big ideas bzw. sechs Aspekten begründet, wobei diese insgesamt wie folgt Web 2.0 konstituieren: 1.Individual Data and User Generated Content, 2. Harness the power oft he crowd, 3. Data on an epic scale, 4. Architecture of Participation, 5. Network Effects, 6. Openness (Anderson 2007: 14ff.). Der letztere Aspekt der Offenheit bzw. die Bereitschaft dazu, die Bereitschaft zum Dialog zwischen ProduserInnen und ProsumerInnen (Toffler 1980: 12), der gegenseitige Austausch bzw. die Rückmeldung sowie Partizipation, Transparenz, Verlust der Deutungshoheit und Kritikfähigkeit sind wichtige Vorbedingungen und geistige <?page no="93"?> Zur Theorie und Methodik interkultureller Missverständnisse 83 Einstellungen (Gebhardt 2011: 11) für Web 2.0 bzw. zu deren Social Software. Inwiefern sich die These, wonach der Hypertext das Ende der Linearität bedeute (Heßler 2012: 140), verifizieren lässt, werden langfristige empirische Forschungen zeigen. Der Hypertext eröffnet zudem eine neue Form des nicht-linearen Schreibens. Dies bedeutet eine Befreiung vom Ordnungsprinzip des linearen Textes, also von der Strukturierung, welche aus einer linearen und kausal argumentierenden Folge von Wörtern resultierte. Ebenso ermöglicht der Hypertext neue Interaktionsformen. Dieser strukturiert bspw. das Autor-Leser-Verhältnis neu, indem der Leser zugleich Autor und dieser frei in der Art und Weise der Lektüre wird. Was die Bedeutung sozialer Praktiken von Internet-UserInnen für Gesellschaft und Politik anbelangt, so hebt Turkle (1995) etwa das positive Potenzial einer Möglichkeit des Rollenwechsels hervor. Sie sieht darin eine therapeutische Funktion. Allerdings beobachtet Turkle (2011) neuerdings eine zunehmende Unverbindlichkeit und Verantwortungslosigkeit in menschlichen Beziehungen. So weist sie auf die Tendenz hin, dass sich UserInnen einen unkomplizierten, flüchtigen und stets zu erneuernden Ersatz im virtuellen Raum (Heßler 2012: 141) anstatt einer face-to-face-Kommunikation suchen. Hinter der steigenden Nutzung von Weblogs, Social Software, Social Web, RSS (Really Simple Syndication = News-Abo, angezeigt auf RSS-Reader), Podcasting, Peer-to-Peer(P2P)-Netzwerken, Word-of-Mouth-Marketing, Chat-Foren, Weblog-Marketing und User-generated Advertising verbirgt sich ein essenzieller Wandel in der touristischen Kommunikation. Dieser Wandel zeigt sich am Phänomen der digitalen Individualisierung (= Synthese der Megatrends Digitalisierung und Individualisierung; Stichwort Wikinomics) des touristischen Produsers und Prosumers. In der Praxis des Social Web bzw. dessen Applikationen ergibt sich ein jeweils verschiedener Mix von pragmatischen Rahmenbedingungen. Es kristallisieren sich hier bestimmte Prototypen heraus, nach denen sich jeweilige Plattformeinteilungen ergeben: Wikis haben die kollaborative Verfassung von Texten im Blick. Das Ziel der jeweiligen Community besteht darin, Texte bzw. Inhalte gemeinsam zu schreiben. Dabei steht die Sache im Mittelpunkt. Der einzelne Autor ist allerdings kaum erkennbar. Bei Wikis darf jeder Teilnehmer Inhalte editieren. Die Beiträge können je nach Konfiguration des Systems anonym oder nur nach Registrierung erfolgen. Die Daten liegen hier nicht in strukturierter Form vor. Den UserInnen wird komplett die Ordnung der Inhalte übertragen. So können sie auch neue Seiten anlegen und zudem die Verweisstruktur verändern. Das Procedere ist resultatorientiert. Das bedeutet, dass man die jeweils neueste Version sieht. Der/ Die UserInnen rücken dabei in den Hintergrund (Ebersbach/ Glaser/ Heigl 2008: 33, 37). Hingegen sind Blogs persönlich gefärbte Journale. Meistens werden diese von einzelnen Personen geführt. Sie befassen sich oft mit tagesaktuellen Themen. Die Community entsteht durch <?page no="94"?> 84 Annikki Koskensalo Vernetzung einzelner Blogs. Blogs besitzen eine chronologisch umgekehrte Reihenfolge. Nur berechtigte Personen können diese schreiben. Die Kommentierfunktion steht allen UserInnen offen. Weblogs bestehen vom Genre her aus kürzeren Texten. Ihre Authentizität weist sich durch Subjektivität aus. Sie sind leicht bedienbar und können durch Vernetzung schnell verbreitet werden (Ebersbach/ Glaser/ Heigl 2008: 33, 57). Die Social-Network-Dienste haben die Aufgabenstellung, Beziehungsnetzwerke aufzubauen und zu pflegen. Es gibt hier diverse Plattformen mit jeweils verschiedenen Zielgruppen, wie etwa Geschäftsleute und Studenten. Social Networks sind durch folgende Merkmale charakterisiert: 1. Es ist eine Registrierung nötig. 2. Es gibt Profilseiten mit Interessen und Tätigkeiten. 3. Die Daten liegen durchweg strukturiert vor. 4. Menschliche Beziehungen werden graphisch dargestellt. 5. Das bedeutet, dass dadurch über fünf Ecken Internet-Bekanntschaften rekonstruiert werden können. 6. Es existiert eine starke Referenz zu tatsächlichen, wirklichen sozialen Bindungen (Ebersbach/ Glaser/ Heigl 2008: 33, 79). Das Social Sharing, auch objektzentrierte Software benannt, bezeichnet eine Anwendungsgruppe, welche sich mit der Bereitstellung bzw. dem Tausch von digitalen Inhalten, wie bspw. Videos, Bilder oder Bookmarks, beschäftigt. Das Social Sharing hat folgende Charakteristika: 1. Die Personalisierung ist optional. 2. Dabei werden Ressourcen verfügbar gemacht, wobei diese 3. geordnet und bewertet werden können. 4. Hierbei ist eine Unterteilung in öffentliche und private Bereiche möglich (Ebersbach/ Glaser/ Heigl 2008: 33, 101). Touristische Konsumenten haben einen hohen Servicebedarf, Mobilitätsgrad und Organisationsaufwand. Sie sind in großer Zeitnot, eigenzeitorientiert, vernetzt und informationsabhängig. Sie erwarten von (neuen) Medien mehr Aufrichtigkeit, Authentizität, Emotionalität, Partizipation, Steuerungsmöglichkeit, Convenience und Kundennähe. Sie wollen das touristische Produkt nach ihren Bedürfnissen mitgestalten, anpassen, an dessen Weiterentwicklung beteiligt sein und (semi-)professionell mitarbeiten. Internet-UserInnen kreieren bei Mitmach-Web-2.0-Portalen ihre Reisen selbst. Sie nutzen von anderen Usern erhaltene Bezugspunkte und speisen ihre Erfahrungen wieder ins Netz ein (= P2P- Netzwerke, Word-of-Mouth-Marketing). Im Fazit bleiben Wikipedia und You- Tube weiterhin wichtige Säulen des Social Web, wobei die UserInnen vorwiegend passiv bleiben. Generell schreitet die Habitualisierung von Web-2.0-Anwendungen voran. So wird vermehrt davon Gebrauch gemacht, eigene Inhalte einer potenziell größeren Personenanzahl zugänglich zu machen. Es deutet sich hier ein Wandel im Umgang mit der Community an: Neben One-to-onewird verstärkt One-to-many-Kommunikation gebraucht (Busemann/ Gscheidle 2012: 389). Im Gegensatz zu einer teils eher flüchtigen Informationsrezeption bei Linearmedien existiert normal eine aktivere, intensivere Informationsrezeption <?page no="95"?> Zur Theorie und Methodik interkultureller Missverständnisse 85 von Hypertextmedien wie beim Internet. Es wäre daher lohnenswert, bei künftigen empirischen Untersuchungen auf diverse Rezeptionsmodalitäten, mit denen die einzelnen Medien im Internet-Verbund strukturell verknüpft sind und auf welche sich jeweilige Angebotsformen der Inhalte längst beziehen, näher einzugehen (Mende/ Oehmichen/ Schröter 2012: 17). Diese jeweils situativ-verschieden gemischten Kommunikationsformen haben Auswirkungen auf ihre semantisch-pragmatischen Relationen. Dies erst recht unter glokalen Bedingungen des Internets und interkulturellen Kommunikationsbedingungen. Wegen dieser Kommunikationsformen und -bedingungen kann es zu interkulturellen Missverständnissen kommen. Diese gilt es zu analysieren, um in fremd(fach)sprachlich-didaktischer Konsequenz eine interkulturelle Kompetenz von touristischen ProduserInnen und ProsumerInnen (= intercultural computer literacy) entwickeln und aufbauen zu können. Die interkulturellen Missverständnisse werden im nächsten Teilkapitel mit dem Thema „Interkulturelle Semantik“ näher beleuchtet. Im Gegensatz zur kontrastiven Sprachanalyse, welche traditionell phonologische, syntaktische und semantische Differenzen und Gemeinsamkeiten diverser Sprachsysteme untersucht, hat die Interkulturelle Pragmatik (IP) kulturspezifische und kontextabhängige Sprachverwendung im Fokus. Ihr zentraler Forschungsgegenstand ist die kontrastive Analyse der Realisierung spezieller Sprechakte in diversen Sprechergemeinschaften. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf kulturspezifische Direkt- und Indirektheitsgrade, sprachliche Routinen, syntaktische und lexikalische Modifizierung zur Intensivierung oder Abschwächung von Sprechakten. Die IP geht davon aus, dass Missverständnisse in interkultureller Kommunikation hauptsächlich auf Interferenzfehlern, also auf einer inadäquaten Übertragung gewohnter sprachlicher Kommunikationsmuster und Verhaltensweisen von der Muttersprache in die Zielsprache, beruhen. Dies geschieht in einer Situation, wo sie mitunter keine oder nicht die gleiche Gültigkeit haben (Siebold 2008: 8f.). Wichtig ist die Unterscheidung zwischen pragmatisch-linguistischem und soziopragmatischem Transfer. Erstere Transferprozesse implizieren formale und funktionale Aspekte sprachlichen Ausdrucks. Letztere Prozesse hängen mit sozialen Kontextbedingungen zusammen (Siebold 2008: 9, Meyer 2007: 29ff.). Ihre methodischen Instrumente sind das Diskursergänzungsverfahren und das Rollenspiel (Siebold 2008: 9f.). Die Netzwerkanalyse in der Internetforschung weist ein beträchtliches Potenzial auf. Sie hat aber auf der Ebene der Vernetzung von Textinhalten noch Nachholbedarf. Diese würde sich als weitere Auswertungshilfe eignen mit dem Vorteil, dass der Forscher zunächst einmal strukturelle Informationen über den relevanten Kommunikationsraum erhält. Der Forscher kann somit eine gezielte Menge an Informationen einer qualitativen Analyse zuführen (Neubarth/ Nuernbergk 2011: 11, Friemel 2005: 32). <?page no="96"?> 86 Annikki Koskensalo Singh (2002: 7) schreibt treffend, dass das "semantic web will be the easier to realize if we follow it pragmatically“. Es stellt zwei Aufgaben an die Pragmatik bzw. das pragmatic web: "providing contextually, relevant information […] providing more relevant, adequate ways of using the web“. Das Pragmatische Web ist mit dem Semantischen Web auf zwei Arten verbunden: "firstly, helping to reduce the probably inherent context dependence of the semantic web and, secondly, by helping to make the web a more natural and flexible medium for human communication“ (Allwood 2008: 38). Zwar schreiben Baumer/ Rensburg (2011: 35): "The occurrence of cross-cultural misunderstandings in CMC is common and occurences are well documented“. Es gibt aber trotzdem noch genügend Desiderata. So müsste sicherlich noch eine gegenständliche interkulturelle Pragmatik von Tourismus-Websites mitsamt den Web-2.0- und -3.0-Applikationen ohne Anspruch auf Vollständigkeit bei diesem hochdynamisch-innovativen Feld beschrieben werden. Es weiß ja niemand wirklich, wohin die Reise einer viral und augmented society (Ruffing 2009: 138) hinführt. 2.2 Zur Problematik von interkultureller Semantik bei Tourismus-Websites Bei dieser Art von Websites ist hauptsächlich ein Mix von Internet- und Tourismussprache von Interesse. In der Sprache des Internets (Crystal 2011, 2006) kommt es zur Neubildung von sprachlichen Elementen. Diese weisen Ähnlichkeiten mit solchen der Werbesprache auf. Sie sind durch Eigenschaften wie Originalität, Kreativität und eine spezielle Regellosigkeit gekennzeichnet, welche ursächlich auf konzeptionelle Eigenschaften des Publikationsmediums rückführbar sind. Hierbei wirken sich besonders hypertextuelle Strukturen und multimediale Konditionen auf sprachliche Merkmale von (Tourismus-)Websites aus. Die Internet-Sprache ist durch einen neuen Wortschatz, eine zunehmende Konvergenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Vermischung von sprachlicher und nonverbaler Kommunikation, den Einsatz von speziellen Orientierungs- und Navigationshilfen sowie einen für das WWW spezifischen Gebrauch von Metaphern gekennzeichnet. Der Wortschatz des WWW ist durch Anglizismen, internettypische Wort- und Rubriktitelbildungen, wie schon angemerkt, Ähnlichkeit zur Werbe- und Marketingsprache und imperativische Konstruktionen sowie den Nutzer ansprechende Formulierungen charakterisiert (Gawronsky 2002: 37f.). Internetsprache ist in einem multi-medialen Umfeld eingebettet. Dies bedeutet, dass schriftliche Texte im Falle von Tourismus-Websites in multimediale Kontexte eingebettet und daher von Bildern und anderen grafischen Elementen umgeben sind bzw. von Ton- und Videosequenzen unterstützt werden (Gawronsky 2002: 40). Die Konsequenzen multimedialer Applikationen wirken sich natürlich auf die Textproduktion aus. Das heißt, dass Texte durch <?page no="97"?> Zur Theorie und Methodik interkultureller Missverständnisse 87 den mit Bildern und Grafiken geteilten Platz kürzer und das Schriftbild bewusster gestaltet werden. Somit sind kurze Texte, kurze Absätze und Sätze, klare und anschauliche Formulierungen, Ersetzung von Substantiven durch Verben, Emotionalität, Infotainment, Dialog und UserInnen-Orientierung in gleichem Maße (Straub 2011: 15f.) gefragt. Die visuellen Sinne werden stärker stimuliert. Die Rezeption erfolgt nicht mehr durch Lesen, sondern vielmehr durch Betrachten, Hinschauen und Erfassen (Gawronsky 2002: 41). Die Tourismussprache als Fachsprache ist durch die Verwendung englischer Termini sowie Bezeichnungen aus der Informatik bzw. dem Internet, der kaufmännischen Terminologie, des beruflichen Sonderwortschatzes und diversen Termini aus verschiedensten Gebieten gekennzeichnet. Natürlich besteht sie auch aus Wortschatz der Gemeinsprache. Signifikant sind der touristische Stil und bestimmte Wendungen aus einer für diese Textsorte typischen Terminologie. Dieser Stil ist durch eine Knappheit der Formulierung bis hin zur Stichworthaftigkeit gekennzeichnet. Es gibt bestimmte Besonderheiten der Formulierung des Empfangs bzw. der Begrüßung der User- Innen sowie Informationen über das touristische Produkt und seine Vorzüge, speziell was die Kultur und Historie des touristischen Objekts anbelangt. User- Innen werden direkt angesprochen (Gawronsky 2002: 170ff., Cappelli 2008: 4ff.). Via Wortgebrauch werden oft soziokulturell geprägte Einstellungen, Wertungen, Stereotypien, Ideologien etc. transportiert. Derartige kulturspezifische semantische Probleme werden unter dem Begriff Interkulturelle Semantik subsumiert und diskutiert (Kühn 2006: 8). Interkulturelle Missverständnisse entstehen dann, wenn UserInnen aus diversen Kulturen innerhalb des Rezeptionsprozesses Signale unterschiedlich interpretieren (Broszinsky-Schwabe 2011: 35). Was die Justierung von Bedeutungen anbelangt, ist als Tatsache zu sehen, dass derartige Sinnjustierungen stets vorläufig bzw. instabil sind, weil ja Bedeutungen mindestens partiell vieldeutig bleiben (Dollinger/ Urban 2012: 1). Semantische Konflikte treten immer dann auf, wenn Kommunikationsakteure auf Basis diverser soziokulturell beeinflusster Bedeutungskonventionen miteinander interagieren. Diese Bedeutungsdivergenzen können sowohl intraals auch interkulturell bedingt sein (Kühn 2006: 9). Guldner (2006: 31) spricht von unterschiedlichen kognitiven Schemata als Ursache von (interkulturellen) Missverständnissen. Dypedahl (2001: 127) weist darauf hin, dass die meisten Missverständnisse auf Fehleinschätzungen der Zielkultur beruhen und diese auf schon falsche Einschätzungen der Quellkultur rückführbar sind. Stereotype spielen als Ursache von interkulturellen Missverständnissen eine spezielle Rolle. Einerseits wirken sie komplexitätsreduzierend. Sie üben eine wichtige Orientierungs-, soziale Anpassungs- und Identitätswahrungsfunktion aus. Andererseits sind sie wegen ihrer übergeneralisierenden „Grobschlächtigkeit“ immer provokativ. Gerade deswegen sind sie oft der Ausgangspunkt für Ärgernisse, Missverständnisse und für die Rekonstruktion und Revitalisierung von Denk- und Handlungsstrukturen. <?page no="98"?> 88 Annikki Koskensalo Diese sind eigentlich von keiner Seite - weder von der zuschreibenden noch von der zugeschriebenen - gewollt (Bolten 2006: 2). Welche zentralen Kategorien als Quellen für Missverständnisse im Falle interkultureller Kommunikation (Guldner 2006: 33ff.) aufgelistet werden können, ist problematisch, weil es sich um eine spezielle Kommunikationsform der Hypertextmedien, MMK bzw. IKTs mitsamt Web-2.0- und -3.0-Applikationen (s. Kap. 2.1) handelt. Jedenfalls stehen nach wie vor das Lexikon und die soziale Bedeutung von Begriffen, Tabu-Themen, Sprechakte, Argumentationsmuster, Direktvs. Indirektheit und Inkongruenz von Kommunikationskanälen (Guldner 2006: 33f., 37) zur Disposition. Desgleichen kann Inkongruenz beim Layout, was formale und grafische Elemente, wie etwa Grafiken, Verwendung von Typografie (Gawronsky 2002: 135), aber auch Symbole (z.B. Icons), Bilder und Farben (Thissen/ Wingert 2004: 4f.), anbetrifft, zu gravierenden interkulturellen Missverständnissen führen. Potentielle kulturspezifische Elemente wie Telefonnummern, Zahlenangaben, Öffnungszeiten, Maßeinheiten, Adress- und Datumsformate bilden ebenfalls Grund für derartige Missverständnisse (Thissen/ Wingert 2004: 4f.). Auf lexikalischer Ebene sind etwa Eigennamen und kulturspezifische Metaphern weitere Gründe für solche Missverständnisse (Thissen/ Wingert 2004: 4f.). Wichtig ist hier im Zusammenhang mit kulturspezifischen Zeichen, dass diese zwei Arten von Bedeutungen aufweisen. Die erste Art bezieht sich auf die emotionale Ebene, welche das Zugehörigkeitsgefühl und die Identität mit der Kultur anspricht. Die zweite Art ist eine semantische, weil Zeichen ja für etwas stehen. Man sollte daher diese Ebenen nicht verwechseln und als gleich behandeln (Thissen/ Wingert 2004: 5). Barber/ Badre (1998: 1) verwenden für die oben angesprochenen Kulturspezifika den Begriff Cultural Marker und definieren diese wie folgt: "cultural markers can directly impact user performance, hence the merging of culture and usability“. Eine Möglichkeit, derartige cross-cultural interactive spaces (Heimbürger 2006: 1ff.) empirisch zu untersuchen, zeigt Barna (1994: 337-346) mit seinen sechs Stolpersteinen in der interkulturellen Kommunikation auf: 1. Angenommene Gemeinsamkeiten, 2. Sprachunterschiede, 3. Nonverbale Missinterpretation, 4. Vorurteile und Stereotype, 5. Tendenz zum Bewerten und 6. hohe Unsicherheit/ Ängstlichkeit. Thissen/ Wingert (2004: 1ff.) schlagen eine dreistufige Analyse-Methode des interkulturellen Interface-Designs vor, welche durchaus interessant und diskutabel erscheint. Wenn es auch schon vielversprechende Ansätze von Verbesserungen im Bereich Cross-Lingual, Cross-Media Semantic Web Applications (Buitelaar/ Sintek/ Kiesel 2005: 1ff.) und auch Ideen für Anforderungen an ein Multilingual Web of Data (Gracia et al. 2012: o.S.) bzw. andere wichtige Artikel zum Semantic Web, welche leider erst im Druck sind, gibt, so bestehen zudem im Bereich der interkulturellen Semantik von Tourismus-Websites noch viele Desiderata. <?page no="99"?> Zur Theorie und Methodik interkultureller Missverständnisse 89 3 Schluss In dieser kursorischen Skizze kann wegen der nur angedeuteten Probleme und damit verbundenen Defizite und Desiderata als synthetischer Ausweg lediglich auf ein semiotic web (Pietarinen 2003: 981ff.) mitsamt passender Methodologie verwiesen werden. Wegen Zeit- und Geldmangel (Ansuchen um Forschungsprojekt noch nicht möglich gewesen) konnte eine Erforschung der gegenständlichen Empirie bis jetzt nicht durchgeführt werden. Die Relevanz der Problematik ist jedenfalls gerechtfertigt. Der Ertrag für den aktuellen, noch sehr rudimentären Forschungsstand und das eigentlich Innovative dieses Beitrags sollen darin bestehen, dass am Fallbeispiel von touristischen Websites mit Fokus auf deren semantisch-pragmatischen Relationen mit der beschriebenen Methodik explorativ - trotz methodologischer Probleme (Crystal 2010: 229-251) - gezeigt werden kann, welche verschiedenen interkulturellen Missverständnisse evident werden und wie diese, wenn schon nicht komplett zu vermeiden, dann mindestens zu minimieren sind. Ein weiterer Gewinn besteht darin, dass damit bei der Analyse der gegenständlichen Internetseiten eine Klassifikation mittels einer Debzw. Re-Konstruktion der hier jeweils existenten hybriden Medien und Formate erstellt werden kann. 4 Literatur Allwood, Jens (2008): Some Remarks on the Relationship between the Semantic and the Pragmatic Web. In: ICPW. 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Unser Ziel dabei ist, die Textsorten selbst sowie ihre Titel und ihre Subtexte - Gliederung, Einleitung und Hauptteil - und die Anleitungen zum Prozess des kreativen Schreibens vergleichend zu untersuchen. In einem Pilotprojekt wurden 50 deutschsprachige Arbeiten und ebenso viele Arbeiten russischer Studierender bewertet sowie einige Anleitungen zum wissenschaftlichen Arbeiten analysiert. 1 Problemstellung und Forschungsstand Interkulturelle Unterschiede im Bereich der wissenschaftlichen Kommunikation sind so groß, dass Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern, auch wenn sie ähnliche Forschungsgebiete haben, einander nicht immer verstehen. Die Unterschiede betreffen nicht nur die Terminologie, sondern auch die Darstellungs- und Argumentierungsart. Für Russland ist dieses Problem besonders aktuell, weil unser Land zu lange für den internationalen Verkehr geschlossen war. Wir schreiben anders und werden oft nicht verstanden. Welche Konsequenzen daraus gezogen werden müssen, versuchen wir in unserem Beitrag zu zeigen. Wir betrachten die Anfänge des wissenschaftlichen Schreibens, wo der wissenschaftliche Stil erst geübt wird und die Grundlagen für die spätere Forschungsarbeit geschaffen werden. Somit wollen wir eine Art „etymologische Analyse“ des wissenschaftlichen Arbeitens in Russland und Deutschland vornehmen. Unser Ziel ist es, schriftliche Arbeiten der Studierenden in Russland und Deutschland als selbständige Textsortennetze, die spezifische Besonderheiten in russischer und deutscher Tradition aufweisen, vergleichend zu charakterisieren. Wir stützen uns dabei einerseits auf Lakoffs Idee, dass man Alternativen von <?page no="104"?> 94 Olga Kostrova/ Elena Tarasova spezifischen Konzeptualisierungssystemen im Kopf haben muss, um objektiv urteilen zu können (2011: 344). Andererseits berücksichtigen wir die These, dass die wissenschaftlichen Texte nicht kontextfrei betrachtet werden können, sondern dass das wissenschaftliche Schreiben eine soziale Aktivität ist. Wir teilen die Auffassung Bazermans (2000: 18), der hervorbebt, „that close attention to the textual form of written knowledge will tell us much about what kind of thing knowledge is, that the written form matters“, und möchten ergänzend hinzufügen, dass eben die Spezifik der konzeptuellen und formalen Gestaltung der schriftlichen Texte in verschiedenen Kulturen Wege zum geteilten Wissen andeuten kann. Kritisches Beurteilen des wissenschaftlichen Schreibens wird als eine n e u e Di s z i plin betrachtet, deren Ziel es ist, „a system of checks-and-balances on scientific writing similiar to that which exists in the relationship between literature and literary criticism“ (Ahmad 2002: 123) zu erarbeiten. Wir versuchen, ein solches System anhand von schriftlichen Arbeiten der Studierenden zu entwerfen. Diese Arbeiten werden als besondere Textsorten angesehen. T e xt s o rt e n verstehen wir mit Fandrych/ Thurmair (2011: 25) als „eine Abstraktion über eine Menge von Texten, die mehr oder weniger stark musterhaft ausgeprägt sind und vergleichbare kommunikative Zielsetzungen und/ oder thematische Ausrichtungen und soziale bzw. kommunikative Einbindungen aufweisen“. Der Vorteil eines solchen Textsortenbegriffs besteht darin, dass er sich „an der realen Kommunikationspraxis und dem Sprecherwissen orientiert“ und auch aus Sicht der Sprachdidaktik benutzt werden kann (Fandrych/ Thurmair 2011: 25.). Doch die Textsorte „schriftliche studentische Arbeit“ kommt dabei nicht zur Diskussion. Aus unserer Sicht entsprechen schriftliche studentische Arbeiten den erwähnten Kriterien sowohl in Deutschland als auch in Russland: Sie haben eine bestimmte Form und Zielsetzung und weisen vergleichbare soziale bzw. kommunikative Einbindungen auf. Außerdem haben sie in bestimmten Wissensbereichen vergleichbare thematische Ausrichtungen. Genauer gesagt, man kann schriftliche Arbeiten zu G ro ßt e xt s o rt e n zählen, die eine bestimmte Ar c hit e ktu r besitzen (vgl. Fandrych/ Thurmair 2011: 26). In verschiedenen Kulturen bilden diese Großtextsorten bestimmte T e xt s o rt e n n e t z e , die Adamzik (2001: 30ff.) als komplexe interaktive Rahmen versteht, die die Kommunikation organisieren. Bei der Produktion sowie Rezeption dieser kulturellen Entitäten orientiert man sich an bestimmten Textmustern, die man für prototypisch hält (vgl. Fix 2011: 117). Die kulturelle Spezifik der Textsorten hängt in hohem Maße davon ab, inwieweit sie innerhalb des Netzes aufeinander abgestimmt sind (Adamzik 2001: 44). Der interkulturelle Vergleich der Realisierungsmöglichkeiten sowohl dieser Textsorten als auch der von ihnen gebildeten Netze bedarf einer empirischen Untersuchung, deren Ergebnisse wir hier vorstellen wollen. Wir gehen dabei in drei Schritten vor. Da schriftliche Arbeiten der Studierenden eine Anfangsstufe des wissenschaftlichen Schreibens sind, nehmen wir an, <?page no="105"?> Schriftliche Arbeiten deutscher und russischer Studierender 95 dass sich sowohl im Prozess des Schreibens als auch in den fertigen Produkten - wissenschaftlichen Artikeln und studentischen Arbeiten - dieselben Gesetzmäßigkeiten auswirken. Deshalb wenden wir uns zuerst der vergleichenden Analyse der wissenschaftlichen Artikel zu, die dann dem Vergleich der studentischen Arbeiten zugrunde gelegt werden kann. Diesen Schritt halten wir deshalb für nötig, da er ermöglicht, die Besonderheiten der Strukturierung der wissenschaftlichen Arbeit in verschiedenen Schreibkulturen zu verstehen. Der nächste Schritt besteht im Vergleich von Textsortennetzen, wie sie in universitären Systemen Deutschlands und Russlands vertreten sind. Danach wenden wir uns dem Vergleich der einzelnen Großtextsorten zu, indem wir ihre Subtexte, die ihre Architektur gestalten, kurz charakterisieren. Das sind Gliederungen, Einleitungen, Hauptteile und Fazits. Eine besondere Beachtung gilt den Titeln. Unser wichtigstes Untersuchungsverfahren ist also die vergleichende Analyse, darüberhinaus haben wir aber auch deutsche Hochschullehrer und Studierende interviewt. Unser Untersuchungskorpus umfasst 50 Semester- und Diplomarbeiten russischer und ebenso viele Arbeiten deutscher Studierender. 1.1 Interkultureller Vergleich von wissenschaftlichen Artikeln Beim Vergleich der wissenschaftlichen Artikel der deutschen und russischen Autoren fällt sofort auf, dass sie markante Unterschiede in ihrer Struktur aufweisen. Die russische Wissenschaftlerin Baženova (1999: 74f.) beschreibt diese Struktur als eine polytextuelle, die aus mehreren S u bt e xt e n besteht. Unter Subtexten versteht sie Textfragmente, die verschiedene Seiten des wissenschaftlichen Schreibens widerspiegeln. Das sind Subtexte über altes und neues Wissen, Präzedenzsubtexte, reflexive und methodologische Subtexte, Einschätzungssubtexte und andere. Dabei ist die Darstellungsart dieser Subtexte diskontinuierlich, das bedeutet, dass sie im ganzen Text als ‚Einsprengsel‘ verstreut sind. Nur Subtexte über altes und neues Wissen werden in der Regel kontinuierlich entwickelt. Deutsche Autoren strukturieren ihre Artikel durchsichtiger. Die Artikel enthalten gewöhnlich solche - um den gleichen Terminus zu gebrauchen - Subtexte wie Darstellung des Forschungsstands, Beschreibung des Experiments, Diskussion der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Ausblick. Als autonomer Subtext wird die Problemstellung gestaltet. Eine besondere Beachtung gilt den ebenfalls wichtigen Bestandteilen des wissenschaftlichen Textes, dem Titel und der Bibliographie, die in russischer Tradition (beispielsweise bei Baženova) als periphere Textsegmente angesehen werden. <?page no="106"?> 96 Olga Kostrova/ Elena Tarasova Die beschriebenen Unterschiede gehen zum Teil auf die Unterschiede in der Mentalität der Russen und Deutschen zurück. In der Literatur zur Interkulturalität wird auf die Rationalität der Amerikaner und der Westeuropäer einerseits und die Emotionalität der Russen andererseits hingewiesen (vgl. Bauer/ Inkeles/ Kluckhohn 1956: 141, Sternin 2002: 266ff., Labašuk 2004: 9). Die mentalen Unterschiede wirken sich aus unserer Sicht auf die Textstrukturierung aus: Die Rationalität bewirkt eine detaillierte Gliederung des Textes, die Emotionalität führt zu einer Darstellungsart, die Gedankensprünge zulässt. 1.2 Vergleich der didaktischen Vorbereitung auf den Schreibprozess Weitere Unterschiede liegen im didaktischen Prozess begründet. Wie lehrt man das wissenschaftliche Schreiben in Russland und in Deutschland? In Westeuropa wird der Standardisierung des Schreibprozesses große Aufmerksamkeit geschenkt. Die Didaktiker stützen sich auf die Modellierung des Schreibprozesses von Hayes und Flower (1980). In diesem Modell wird die Strategie des Schreibens dekomponiert, wobei taktische Schritte expliziert werden: solche wie Planen, Formulieren und Überarbeiten. Es ist wichtig hervorzuheben, dass der Schreibprozess als eine Problemlösung angesehen wird, wobei das Ziel und Wege zu ihrer Realisierung erst im Prozess des Schreibens deutlich werden. Das heißt, dass der Prozess des Schreibens als Erkenntnisstimulus anerkannt wird (Fix 2008: 225 ff.). In der russischen Didaktik wird die Lösung der Problemsituation mit der Ausgliederung der minimalen Texteinheiten verbunden (Anisina 2002). Hier muss man noch mit einer qualitativen Änderung rechnen: Die rezeptiven Fertigkeiten sollen sich in produktive verwandeln (Černjavskaja 2009: 76). Die didaktische Unterentwicklung, die in Russland zu beobachten ist, wirkt sich, wie wir weiter zeigen, auf die Qualität der schriftlichen Arbeiten der russischen Studierenden aus. Nach der kurzen Übersicht über die vergleichenden Aspekte, die die Strukturierung der wissenschaftlichen Texte und die Didaktik des Schreibprozesses betreffen, soll nun die Analyse der studentischen Arbeiten folgen. 2 Vergleich der schriftlichen Arbeiten der Studierenden 2.1 Textsortennetze in Deutschland und in Russland Der Vergleich des russischen universitären Systems mit dem deutschen zeigt, dass weder die Anzahl noch die Art von schriftlichen Arbeiten übereinstimmen, <?page no="107"?> Schriftliche Arbeiten deutscher und russischer Studierender 97 die Studierende im Laufe des Studiums als Prüfungsleistungen anfertigen. In beiden Systemen haben sich spezifische Textsortennetze etabliert. Die deutschen Universitäten sind viel älter als die russischen. Dementsprechend ist die geisteswissenschaftliche Tradition in Deutschland viel tiefer verwurzelt als in Russland. Dies sehen wir heute in wissenschaftlichen Texten, darunter auch in den schriftlichen Arbeiten der Studierenden. Selbst die Vielfalt der geschriebenen Arbeiten kann als Beweis dienen. Heute besteht das T e xt s o rt e n n e t z an Universitäten Deutschlands u.a. aus folgenden Textsorten (vgl. DAAD 2010: 17): Exzerpt, Protokoll, Referat, Hausarbeit (Semesterarbeit, Seminararbeit), Studienarbeit und Diplomarbeit. In Russland ist die Anzahl von schriftlichen Arbeiten geringer. Im Großen und Ganzen gehören zum Textsortennetz nur drei Arten: Referat, Semesterarbeit und Diplomarbeit. In diesem Netz fehlen völlig solche Textsorten wie Exzerpt und Protokoll, die als Vorbereitung auf selbständiges Schreiben eingestuft werden können. Im russischen Textsortennetz beschränkt sich die Vorbereitungsstufe auf eine Textsorte - das Referat. Im Folgenden führen wir unsere verallgemeinerten Vorstellungen von einzelnen Textsorten des Textsortennetzes an, das an deutschen Universitäten üblich ist. Wir beginnen mit einem „Relikt spezifisch deutscher - geisteswissenschaftlicher - Universitätstradition der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ 1 - der S e min a r a r b e it, die auch Anfang des 21. Jahrhunderts aktuell ist. Der Sinn dieser Arbeit liegt darin, sich in der selbständigen Bearbeitung eines wissenschaftlichen Problems und seiner schriftlichen Darstellung zu üben. Im russischen universitären System endet das Seminar in der Regel mit einer mündlichen Vorprüfung oder Prüfung, ohne dass ein schriftliches Zeugnis der Seminarleistungen verlangt wird. Eine Art der schriftlichen Arbeit wie P r o to k o ll (Ergebnisprotokoll) ist für russische Studierende auch unbekannt. Protokolle beruhen auf Mitschriften, also Notizen während einer Seminarsitzung. Sie sollen den Verlauf und/ oder die Ergebnisse eines Vortrags bzw. einer Diskussion dokumentieren. Der Protokollant muss zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden, darf den Text nicht durch persönliche Einschätzungen (Urteile, Vorwissen, Kritik) prägen. Da die russischen Studierenden in einer solchen Schreibweise nicht geübt sind, fällt es ihnen schwer, einen objektivierten Text zu schreiben. Ein R e f e r a t im deutschen Sinn ist ein Vortrag über ein Thema, der in einer begrenzten Zeit (etwa 10-30 Minuten) gehalten wird. Die häufigsten Formen sind mü n d li c h e Berichte, Fachvorträge auf Tagungen, Kurzreferate in Seminaren oder Übungsreferate in der Schule. In Russland ist das Referat eine s c h riftli c h e Arbeit, die mit der deutschen Textsorte Exzerpt in einigen Zügen vergleichbar 1 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung bei Wehler, Deutsche Seminararbeitsgeschichte, bes. Bd. 1, München 1987, S. 215-256. <?page no="108"?> 98 Olga Kostrova/ Elena Tarasova ist. Doch die Anforderungen an die Darstellungsart eines Referats sind in Russland lockerer als die an das Exzerpt gestellten. An deutschen Universitäten gibt es in jedem Jahr bestimmte Termine, zu denen die Studierenden eine wissenschaftliche H a u s a r b e it einreichen können. Die schriftliche Hausarbeit gilt der vertiefenden Diskussion einer präzisen fachwissenschaftlichen Fragestellung, die in einem begrenzten Umfang zu leisten ist (z.B. im Grundstudium 15 Seiten, im Hauptstudium 20 Seiten). Die Erarbeitung der jeweiligen Frage oder des Problems geschieht als eigenständiger Beitrag im Kontext der repräsentativen Forschung zum gewählten Thema. In Russland ist das Schreiben von Hausarbeiten möglich, doch nicht obligatorisch. Solche schriftlichen Arbeiten sind weder in Lehrplänen noch in Bildungsstandards fixiert, auch wenn den Hochschullehrern ein bestimmtes Stundenlimit für die Kontrolle schriftlicher Arbeiten zugestanden wird. Doch die Arbeiten selbst sind nicht reglementiert, und ihre Anzahl ist auch nicht festgelegt. Die Hausarbeiten kommen in zwei Arten vor: der Seminar- und der Studienarbeit. Eine S e min a r a r b e it , die - wie erwähnt - geschichtlich wohl die traditionellste ist, ist eine meist schriftliche Studienarbeit, die im Rahmen eines wissenschaftlichen Hochschulstudiums eine (Teil-)Prüfungsleistung darstellt. Die Thematik entstammt im Regelfall einem an der Hochschule gehaltenen Seminar. Die Seminararbeit ist eine gute Übung für das Erlernen der Techniken wissenschaftlichen Arbeitens und für das Kennenlernen der Anforderungen, die die Anfertigung einer wissenschaftlichen Arbeit stellt. Wichtig ist, dass die Seminararbeit eine Leistung ist, bei der sich mündliche Diskussion und schriftliche Darlegung treffen. In mündlichen Diskussionen wird der Informationskreis umrissen, wobei die Kenntnisse abgeklärt werden; bei der schriftlichen Darlegung werden die Kenntnisse konsolidiert und in Verbindung mit Vorkenntnissen gebracht. Die Experimente zur Überprüfung der Wirksamkeit dieser Arbeit in studentischen Gruppen zeigen, dass dies die beste Form ist, die erworbenen Kenntnisse in die Praxis umzusetzen (Bazerman/ Little/ Bethel/ Chavkin/ Fouquette/ Garu 2005: 41). In Russland sind Seminararbeiten nicht üblich. In den Seminaren werden die Studierenden gewöhnlich mündlich geprüft. Deshalb bleiben die Seminarkenntnisse oft im Unklaren. Eine S tu d i e n a r b e it ist eine wissenschaftliche Arbeit, die Studenten an Hochschulen im Rahmen ihres Studiums abfassen müssen. Studienarbeiten dienen u.a. der Vorbereitung auf Diplom- oder Magisterarbeiten und sind oft zugleich eine Zulassungsvoraussetzung für diese. Bisweilen werden in Studienarbeiten auch theoretische Grundlagen erörtert und erarbeitet, die später der Diplomarbeit zugrunde liegen und sogar in eine Doktorarbeit einfließen können oder darin erwähnt werden. <?page no="109"?> Schriftliche Arbeiten deutscher und russischer Studierender 99 Eine besondere Großtextsorte bildet der P r a ktik u m s b e ri c ht, der auf die Diplomarbeit vorbereitet. Auf der Web-Site einer deutschen Universität heißt es in Bezug auf diese Textsorte: „Die Bezeichnung Praktikumsbericht ist irreführend, da es sich hierbei nicht um einen Bericht der Tätigkeiten während des Praktikums handelt, sondern um eine wissenschaftliche Arbeit, in der die Theorie in Bezug zur Praxis gesetzt werden soll“ (http: / / www.uni-stuttgart.de/ pae/ praktiku m/ WebHelp/ Praktikum/ Praktikumsbericht.htm). Eine Di pl o m a r b e it ist in Deutschland die schriftliche Abschlussarbeit eines Diplom-Studiengangs an einer Hochschule oder Berufsakademie. Die Diplomarbeit ist schriftlicher Bestandteil einer Diplomprüfung und führt zusammen mit weiteren Leistungen, wie schriftlichen Prüfungen (Klausuren) und/ oder mündlichen Prüfungen sowie der Verteidigung, an Hochschulen zur Erlangung des akademischen Diplomgrades und an Berufsakademien zur Erlangung des Diploms als staatlicher Abschlussbezeichnung. Im Rahmen des Bologna-Prozesses treten an die Stelle der Diplomarbeit die Bachelor- und die Masterarbeiten. Das Textsortennetz von studentischen Arbeiten, das an deutschen Universitäten besteht, kann man sich als eine hi e r a r c hi s c he d r e i s tu f i g e S tr u kt u r vorstellen. Auf der niedrigsten Stufe befinden sich vorbereitende Großtextsorten wie das Exzerpt, das Protokoll und die Seminararbeit. Auf der zweiten Stufe sind solche Großtextsorten positioniert, die das schöpferische Element voraussetzen, das sind Haus- und Studienarbeiten sowie Praktikumsberichte. Das Netz wird von der Diplomarbeit „gekrönt“. In Russland sind nur drei Arten schriftlicher Arbeiten vom Lehrplan vorgesehen: das Referat, die Semesterarbeit und die Diplomarbeit. Somit ist das hierarchische Textsortennetz reduziert, so dass jede Stufe nur noch von e in e r Art Ar b e it vertreten ist. Auf der Vorbereitungsstufe ist das das Referat, auf der Übergangsstufe ist das die Semesterarbeit und auf der höchsten Stufe ist das die Diplomarbeit. Der Praktikumsbericht wird eben als Bericht und nicht als wissenschaftliche Arbeit angesehen. Das Referat ist eine selbständige Arbeit, in der Studierende wissenschaftliches Material zu einem Thema referieren, das mit dem Kursthema verbunden ist. Die zu referierenden Bücher oder Artikel werden in der Regel vom Hochschullehrer vorgegeben. Zwar besteht die Möglichkeit, dass die Studierenden selbst das Material wählen, sie wird aber nur selten genutzt. An pädagogischen Hochschulen schreiben Studierende drei Semesterarbeiten. Eine S e m e s t e r a r b e it wird im Laufe eines Semesters geschrieben und setzt voraus, dass die Studierenden die einschlägige Literatur referieren und auch die Ergebnisse selbständiger Forschung darlegen. Sie werden während drei Semestern geschrieben: eine in der Pädagogik oder Psychologie, eine in der Didaktik des entsprechenden Faches und eine im gewählten Fachbereich. An den Fakultäten für Fremdsprachen sind es Didaktik des Fremdsprachenunterrichts und <?page no="110"?> 100 Olga Kostrova/ Elena Tarasova Philologie. Die Semesterarbeit soll auf das Schreiben der Diplomarbeit vorbereiten, die oft das Thema dieser Arbeit fortsetzt. Die Di pl o m a r b e it gilt als qualifizierende Abschlussarbeit, die nach den Staatsprüfungen verteidigt wird. Mit dem Übergang zum Bachelor/ Master-System entstehen für Russland neue Arten der Abschlussarbeiten: Bachelor- und Magisterarbeit. Die letztere wird der Magisterdissertation gleichgesetzt. Bis jetzt ist dabei das Verhältnis zwischen Magister- und Kandidatendissertation nicht besonders klar. Die Übersicht zeigt, dass weder die Arten noch Zielstellungen der schriftlichen Arbeiten an deutschen und russischen Universitäten zusammenfallen. In Deutschland wird dabei mehr geübt, in Russland will man gleich das Resultat sehen. Wenn man die beiden Textsortennetze auf die sozialen Situationen in Deutschland und Russland projiziert, so könnte man zum Schluss kommen, dass die gesellschaftlichen Bedürfnisse in beiden Ländern nicht identisch sind. In Deutschland wird auf die Techniken geachtet, während in Russland das Referieren den Vorzug hat, das fremde Erfahrungen sammeln hilft. Ein weiterer Unterschied betrifft den Praxisbezug der wissenschaftlichen Arbeiten, was am Praktikumsbericht besonders deutlich zum Ausdruck kommt. 2.2 Interkulturelle Schwierigkeiten im Schreibprozess Nach den Beobachtungen, die im Bereich des universitären Schreibens gemacht worden sind, wirken sich kulturspezifische Unterschiede im Aufbau der Texte und in einigen anderen Aspekten, wie der subjektiven vs. objektiven Haltung des Schreibers, besonders deutlich aus (vgl. Portmann-Tselikas 2001). Bei der Erstellung von wissenschaftlichen Texten müssen gewisse Regeln beachtet werden. Oft werden die Studierenden mit diesen Regeln im Rahmen eines speziellen Kurses „Wissenschaftliches Arbeiten“ bekannt gemacht. Im Unterschied zu Russland, wo ähnliche Kurse im letzten oder vorletzten Semester angeboten werden, haben deutsche Studierende die Möglichkeit, diesen Kurs am Anfang des Studiums zu besuchen. Schon früh eignen sie sich an, dass eine wissenschaftliche Arbeit eine stereotype Struktur hat und bestimmte Teile beinhalten soll. Es wird eingeprägt, dass im Laufe der Arbeit konsequent argumentiert („roter Faden! ”) werden muss. Mit Russland verglichen, sind die Techniken des wissenschaftlichen Schreibens in Deutschland viel besser entwickelt. In deutschen Quellen sind der Umfang und das geforderte Format ausführlicher dargestellt. Jede Hochschule oder Universität bietet ausführliche Leitfäden zur Abfassung schriftlicher Arbeiten an. Außerdem stellen die Professoren den Studierenden Muster-Hausarbeiten <?page no="111"?> Schriftliche Arbeiten deutscher und russischer Studierender 101 zur Verfügung. Die Idee der Musterarbeiten wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert (Klein 1900: 110, 116). Auch gegenwärtig wird sie häufig verwendet. Die Universitätslehrkräfte nutzen Hausarbeiten, die ihrer Lehrtätigkeit entstammen, als Beispiele. Musterhafte Arbeiten, die die Ansprüche an äußere Korrektheit, sprachliche Gewandtheit und argumentative Differenziertheit erfüllen, werden ins Internet gestellt. Manche Universitäten erstellen im Internet Schreibzentren, wo Professoren individuelle Schreibberatung anbieten. In Russland sind die erwähnten Schritte, die die technische Seite des Schreibprozesses explizieren, didaktisch schwach aufgearbeitet. Die Lehrwerke, die diesem Problem gewidmet sind, entstammen in der Regel einer bestimmten Hochschule bzw. Universität, sind in lokalen Verlagen herausgegeben, so dass sie außerhalb dieser Lehranstalt kaum bekannt sind (Antonova 2005, Šuvalova 2010 u.a.). Nur selten kann man Lehrwerke finden, die zentral herausgegeben sind (vgl. Berežnova 1999). Es gibt u.E. nur ein einziges Lehrbuch, in dem die Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens in der Linguistik erörtert werden (Arnold 1991). 2.3 Sprachliche Analyse der schriftlichen Arbeiten im Vergleich 2.3.1 Themenformulierung Um erfolgreich wissenschaftliche Hausarbeiten verfassen zu können, benötigen Studierende Strategien zum Finden und Eingrenzen eines passenden Themas. In Deutschland (Redder 2002: 2f.) wählen sie selbstständig ein Thema aus. Selbst wenn beispielsweise durch das Halten eines Referats oder durch den Seminarkontext ein Thema vorgegeben wird, obliegt es häufig dem Studierenden, dieses Thema zu spezifizieren und einzuschränken. Dasselbe gilt für Praktikumsberichte. Das Ergebnis ist, dass die Themen der deutschen studentischen Arbeiten allgemein verständlich formuliert sind und in der formalen Gestaltung variieren können. Es werden Formulierungen zugelassen, die aus zwei Sätzen bestehen, was in Russland praktisch nicht vorkommt. Es ist - auch im Unterschied zu Russland - möglich, den Titel auf Englisch zu formulieren. Viele Titel enthalten Eigennamen. Aus russischer Perspektive scheinen die Themen populärwissenschaftlich zu sein, was die Distanz zwischen Lebenspraxis und Wissenschaft verringert. Dies zeigen folgende Beispiele: • Rollenspiel - eine Möglichkeit, um Schülerinnen und Schülern einer neunten Realschulklasse grundlegende Marktformen zu veranschaulichen 2 2 www.hausarbeiten.de, Stand: 13.02.2013. <?page no="112"?> 102 Olga Kostrova/ Elena Tarasova • Psychiatrie und Kloster in E. T. A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels” 3 • There are no absolute rules which determine how a particular noun forms its plural: Ein Vergleich von Grammatiken für englische DaF-Lernende im In- und Ausland In Russland werden die Themen für die Semesterarbeiten vorgegeben; die Themenformulierungen enthalten oft eine spezielle Terminologie und sind daher nicht allgemein verständlich. Es ist deshalb manchmal ein Problem, Studierende für solche Themen zu gewinnen. Die Formulierungen müssen einen wissenschaftlichen Charakter haben und ein Problem explizieren. Sie haben oft einen g l o b a l e n Charakter, der durch das in Klammern angegebene Material eingeschränkt werden kann. Dies kann einen Hinweis darauf geben, was in Russland für Wissenschaft gehalten wird (vgl. Bazerman 2000: 20). Es wird gemeint, dass die Wissenschaft fundamental ist und allgemeine Probleme umfassen muss. So kann eine Diplomarbeit in der Didaktik, in der es um spielerische Methoden in der Anfangsstufe des Fremdsprachenunterrichts geht, den Titel haben „Fremdsprachenunterricht in der Anfangsstufe“. Zum Vergleich einige Titel von Semesterarbeiten in Philologie: • Linguistische Besonderheiten der deutschen kriminalen Chronik • Textsorte Erörterung im deutschen populärwissenschaftlichen Text • Kategorie der Modalität im Deutschen (am Beispiel des Romans „Ansichten eines Clowns“) 2.3.2 Architektur der Großtextsorte Haus- oder Semesterarbeit Die studentischen Arbeiten sind in der Regel großformatig, gehören also zu Großtextsorten mit einer bestimmten Architektur. Diese ergibt sich aus m e hr e r e n S u bt e xt e n , d i e verschiedene Textfunktionen (vgl. Fandrych/ Thurmair 2011: 26) und - im Unterschied zu russischen wissenschaftlichen Artikeln - besondere Titel haben. Diese Subtexte sind: Gliederung oder Inhaltsverzeichnis, Einleitung, Hauptteil und Fazit. Die Funktion der G li e d e r u n g e n sehen wir mit Fandrych/ Thurmair (2011: 28) darin, dass sie die Textprogression bestimmen. Der Vergleich der Inhaltsverzeichnisse der deutschen und russischen Diplomarbeiten zeigt, dass sie verschieden strukturiert sind. Wichtige Anforderungen an eine Gliederung, die deutsche Studierende kennen müssen, sind beispielsweise in Garhammer/ Trapp (2010: 10ff.) formuliert. Diese Anforderungen werden nach unseren Beobachtungen 3 Mayer, Patrick (2005): Psychiatrie und Kloster in E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“. Freie Universität Berlin. <?page no="113"?> Schriftliche Arbeiten deutscher und russischer Studierender 103 auch berücksichtigt. Eine Besonderheit in der Gliederungsgestaltung, die aus russischer Perspektive auffällt, ist, dass in den Kapitel- oder Abschnittstiteln Fragen üblich sind, die das Problem explizieren, was in Russland praktisch nicht vorkommt: • Die Türkei - Europa oder Asien? • Warum mehr tun als „nötig“? • Warten auf ein „Europäisches Zivilgesetzbuch“? 4 Der Vergleich zeigt, dass die Gliederungen der deutschen Hausarbeiten in der Regel ausführlicher sind; in manchen Hausarbeiten umfassen sie mehr als eine Seite. Bei russischen Studierenden können sie nur in Diplomarbeiten mehr als eine Seite ausmachen. Manchmal gibt es Probleme mit dem Durchnummerieren, das nicht immer konsequent ist. Die Ursache dafür kann man darin sehen, dass in Russland die durchgehende Nummerierung weder in wissenschaftlichen Artikeln noch in Lehrbüchern üblich ist. Traditionell ist die Gliederung in Paragraphen, die in jedem Teil neu ansetzen kann. Andere Unterschiede betreffen das Vorhandensein bzw. Fehlen eines A u s b li c k s . In Russland geht es dabei um Perspektiven der weiteren Forschung, die durch das erarbeitete Thema eröffnet werden. Diese werden aber, wenn überhaupt, nur spärlich beleuchtet. Die E inl e itu n g ist ein wichtiger Subtext, in dem die Motivierung der Themenwahl und methodologische Fragen für den Hauptteil formuliert werden. In deutschen Arbeiten wird die Einleitung kurz gefasst und in einer freien Form dargestellt. Dabei ist wichtig, dass die Einstellung des Autors zum dargelegten Problem klar zum Ausdruck kommt. Ein Beispiel dafür: Ohne Gesellschaft definieren zu wollen, ist es die Position dieser Arbeit, dass […] In Russland sind die Anforderungen an die Einleitung formalisiert (Šuvalova 2010: 59ff.). Es wird gefordert, dass sie solche Teile enthält wie Beschreibung der Aktualität, der Neuheit, des theoretischen Werts und der praktischen Anwendbarkeit. Es müssen auch O b j e kt und G e g e n s t a n d der Untersuchung expliziert werden. Es wird verlangt, das untersuchte Material zu charakterisieren und die angewandte Methode zu begründen. Man nimmt sich das Autorreferat der Dissertation zum Muster. Nur selten kann ein Studierender das alles selbst formulieren; der wissenschaftliche Betreuer muss ihm dabei Hilfe leisten. Der H a u ptt e il ist der größte Subtext, in dem das neue selbständig gewonnene Wissen relevant umgesetzt werden muss. In russischen Arbeiten enthält 4 www.hausarbeiten.de, Stand: 13.02.2013. <?page no="114"?> 104 Olga Kostrova/ Elena Tarasova dieser Subtext im Allgemeinen zwei Teiltexte. Der erste Teiltext erfüllt die „konstatierend-assertierende wissensbereitstellende Funktion“ (Fahndrych/ Thurmair 2011: 30), wobei eine Übersicht über die einschlägige Sekundärliteratur gegeben wird und das gewählte Thema in ein umfassenderes Problem eingeordnet wird. Im zweiten Teiltext muss die Forschungsrelevanz deutlich werden; hier werden die Resultate der durchgeführten Arbeit vorgestellt. Der Umfang des zu analysierenden Korpus beschränkt sich in einer Semesterarbeit auf 100, in einer Diplomarbeit auf 500 sprachliche Einheiten (Lexeme oder Sätze). In diesem Teiltext verflechten sich beschreibende und argumentative Strategien. Eine Diskussion erzielter Ergebnisse wird nicht praktiziert. In den analysierten deutschen Arbeiten hat der Hauptteil keine Überschrift, sondern nur eine formale Bezeichnung für alles, was zwischen Einleitung und Schluss zu finden ist. In Russland wird dagegen verlangt, dass jeder Teil betitelt wird, wenn er auch eine bestimmte Nummerierung hat. Dabei dürfen die Titel nicht identisch sein. Die innere Strukturierung des Hauptteils ist in deutschen Arbeiten ausgeprägter. Dieser Teil enthält gewöhnlich mehrere Teiltexte, darunter solche, die in russischen Arbeiten fehlen. Das ist vor allem der Teiltext Di s k u s s i o n , in dem argumentative Strategien vorherrschen. Dieser Teiltext wird für das eigentliche Kernstück der wissenschaftlichen Arbeit gehalten. In den Anforderungen an Diplomarbeiten heißt es: „Hier werden die Daten bewertet. Im Idealfall erfolgt eine Gegenüberstellung mit Literaturergebnissen (sofern vorhanden). […] Die Diskussion soll die am Ende des Einleitungsteils aufgeworfenen Fragen im Hinblick auf die Ergebnisse erörtern. Am Ende des Diskussionsteils sollte ein Fazit stehen“ (http: / / orient.phil-fak.uni-koeln.de/ 5079.html? &L=7). Der Titel für den Schlussteil kann in deutschen Arbeiten variieren, er kann S c hl u s s oder auch Zusammenfassung und Ausblick, Bilanz, Fazit o.ä. heißen. In russischen Arbeiten heißt er immer „Schlussfolgerungen“ (Zaključenie). 2.3.3 Sprache der wissenschaftlichen Arbeit Die deutschen Studierenden scheinen in der akademischen Sprache geübter zu sein. In der Regel verwenden sie eine objektivierende Ausdrucksweise. Die Konstruktionen mit dem Pronomen ich werden vermieden, doch nicht ausgeschlossen; an deren Stelle erscheinen Konstruktionen mit Passiv: • Im ersten Teil dieser Arbeit werden zwei Theorien vorgestellt. 5 5 Bonners, Nikolas: Hausarbeit im Rahmen des Seminars „Textwerkstatt von Herrn Gans im WS 2008/ 09. PH Ludwigsburg. <?page no="115"?> Schriftliche Arbeiten deutscher und russischer Studierender 105 • In diesem Zusammenhang soll auch die Frage beantwortet werden. 6 • Diesen Fragen gehe ich in der vorliegenden Arbeit nach. 7 Wenn russische Studenten eigene Meinungen darlegen, gebrauchen sie die Pluralform des Personalpronomens wir. In der russischen Kulturtradition wird das als Bescheidenheitszeichen empfunden, das mit dem kollektivistischen Bewusstsein koordiniert. Stichproben aus wissenschaftlichen Artikeln russischer Autoren ergeben, dass dieses Bewusstsein auch da zum Ausdruck kommt (ausführlicher dazu Kostrova 2005: 255f.). Mit russischen Arbeiten verglichen, fällt in den Arbeiten der deutschen Studierenden auf, dass darin nicht selten auch Unsicherheit und Zweifel ausgedrückt werden. Wir beurteilen das als Zeugnis einer bestimmten Reife, denn es wird dabei kritisch Stellung genommen. • Hier bin ich natürlich nicht in der Lage, die ganze Wahrheit zu finden und die Antwort zu geben. 8 • Diese Arbeit kann keine endgültige Antwort finden. 9 Die Analyse der russischen Semesterarbeiten lässt erkennen, dass die Studierenden zu einer „gedehnten“ Ausdrucksweise greifen, die den wissenschaftlichen Stil nachahmt. Die Studierenden scheuen sich oft, eine eigene Ausdrucksweise zu nutzen. In den deutschen Arbeiten sieht man einen viel leichteren Stil, der die Persönlichkeit des Autors durchblicken lässt. Die Sätze sind viel kürzer; das Fachvokabular wird erklärt. 3 Fazit Der interkulturelle Vergleich der schriftlichen Arbeiten der deutschen und russischen Studierenden kann zeigen, woraus unterschiedliches Wissen resultiert. 6 Heitmann, Sabine: Hausarbeit im Seminar Psycholinguistik „Stadien des Erstspracherwerbs“. Universität Leipzig. 7 Lehr, Dorothee: Methodismus in den USA. Ursprünge, Methode und Organisation einer protestantischen Kirche. Universität Leipzig. 8 Schmitz, Christian (2000): Nichtlineare Regression. Ausgewählte Methodenprobleme der Statistik. Universität Köln. 9 Geiken, Andreas (2008): Gestaltung, Erprobung und Evaluation eines berufspraktischen Lehr-/ Lernarrangements im BVJ: Herstellung eines Bauteils durch Umformen. Universität Hannover. <?page no="116"?> 106 Olga Kostrova/ Elena Tarasova Das ist nicht nur für den Studentenaustausch wichtig, der im Laufe der Zeit immer intensiver wird. Das ist vor allem für die Vervollkommnung des Studiums und für das gegenseitige Verständnis von Bedeutung. Die Hierarchie der Textsortennetze ist in Deutschland und Russland identisch, doch die Netze selbst sind in Deutschland viel differenzierter. Die Textsortenvielfalt von deutschen schriftlichen Arbeiten erlaubt verschiedene Schreibstrategien zu entwickeln. Es ist eine gute Übung, die zur technischen Vervollkommnung des Schreibprozesses sowie zur Herausbildung des wissenschaftlichen Stils im Allgemeinen beiträgt. Beides ist für die heutige Berufsqualifikation relevant. Unserer Meinung nach könnten manche Textsorten in das russische Bildungssystem eingeführt werden. Wir meinen vor allem die Seminararbeit, die eine Brücke zwischen Studium und Forschung schlägt. Der Praktikumsbericht könnte in Russland nach deutschem Muster durch wissenschaftliche Elemente bereichert werden, was den Zusammenhang zwischen Forschung und Praxis verstärken sollte. Es ist auch wichtig, die Selbständigkeit der russischen Studierenden bei der Themenwahl zu fördern, um ihr Verantwortungsgefühl für die eigene Arbeit zu stärken. Was noch übernommen werden könnte, ist die didaktische Begleitung des Schreibprozesses, die in Russland viel seltener praktiziert wird als in Deutschland. Was für die deutsche Seite an russischen Erfahrungen wertvoll ist, lassen wir hier offen. Wir möchten nur auf zwei Aspekte aufmerksam machen, die u.E. manches in der Schreibweise der Russen erklären können. Diese Aspekte wurzeln in der historischen Entwicklung unserer Länder. Zum einen sind es demokratische Diskussionstraditionen, die in Deutschland viel früher entstanden, viel ausgiebiger ausgearbeitet wurden und viel öfter praktiziert werden. Zum anderen ist es das kollektivistische Bewusstsein, das für russische Wissenschaftler auch heute typisch ist und sogenannte wissenschaftliche Bescheidenheit untermauert. Die Folge davon ist, dass die Einschätzung der Resultate dem Leser überlassen wird. Wir hoffen, dass die hier erfolgte Vorstellung russischer Schreibstrategien, bei denen nicht auf die Diskussion der Ergebnisse, sondern auf die Resultate selbst geachtet wird, die deutschen Kollegen nachdenklich macht und bestimmte Schlussfolgerungen ziehen lässt. Wir sind überzeugt davon, dass die Untersuchungen in diesem Bereich fortgesetzt werden müssen. <?page no="117"?> Schriftliche Arbeiten deutscher und russischer Studierender 107 4 Literatur Adamzik, Kirsten (2001): Grundfragen einer kontrastiven Textologie. In: Adamzik, Kirsten: Kontrastive Textologie: Untersuchungen zur deutschen und französischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Roger Gaberell und Gottfried Kolde. Tübingen. S. 13-48. Ahmad, Khurshid (2002): Scientific texts and the evolution of knowledge - the need for a critical framework? 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Verantwortung kann entsprechend seiner Etymologie (von antworten) die Zurechnung von Schuld (zur Verantwortung ziehen) oder die Rechtfertigung (etwas verantworten können) von Handlungen und Folgen in einer Art Gerichtssituation meinen. Verantwortung haben kann aber auch einfach ‚Macht haben‘ bedeuten. Verantwortung übernehmen kann sich auf konkrete Sachverhalte oder Personen beziehen, aber auch bloße Absichtserklärung für gute Taten sein. Diese semantischen Differenzierungen lassen sich drei Modellen zuordnen: dem G ERICHTS -, dem E NTSCHEIDUNGS - und dem F ÜRSORGEMO- DELL . Behandelt wird der Gebrauch von Verantwortung im deutschen religiösen und politischen Diskurs, in Reden von Barack Obama, François Hollande, Václav Havel und Vladimir Putin, in der Rhetorik von Wirtschaftsunternehmen sowie im deutschen und russischen Recht. 1 Zweifel an „Verantwortung“ In der FAZ vom 25. Januar 2013 war gleich auf der ersten Seite eine Glosse zum Thema „Verantwortung“ zu lesen, in der der Autor, Reinhard Müller, feststellt, dass Sätze wie „Ich übernehme die Verantwortung.“, die in Politik und Wirtschaft immer wieder bei Pannen und größeren Katastrophen vorgebracht werden, häufig genau das Gegenteil ihres Inhalts bedeuteten, nämlich „leugnen, aussitzen, weitermachen. Eigentlich geht es in der Praxis um das Abwälzen von Verantwortung“ (Müller 2013). Schon vier Jahre zuvor titelte das „Handelsblatt“ in der Ausgabe vom 13. Mai 2009 mit Blick auf die damalige Finanzkrise und ihre Akteure: „Verantwortung als leere Worthülse“ (Knauss 2009). Solche Pressebei- <?page no="120"?> 110 Holger Kuße träge zeigen, dass die Berufung auf einen hohen gesellschaftlichen Wert in Misskredit zu geraten droht oder schon in Misskredit geraten ist und seine rhetorische Verwendung Zweifel an der Aufrichtigkeit des Sprechers aufkommen lassen kann. Das spricht zwar nicht gegen den Wert „Verantwortung“ als solchen, doch heute zeige sich, so Müller, Verantwortung vor allem darin, auf das „aufgeblasene Wort“ zu verzichten (Müller 2013). Mit dieser Empfehlung, die Ethik und Sprachkritik verknüpft (vgl. Jacob 2013), wird an prominenter publizistischer Stelle nichts weniger vorgeschlagen, als die erstaunliche globale Karriere eines Wertbegriffs zu beenden, der in den vergangenen Jahrzehnten in den europäischen Gesellschaften ebenso wie in den USA (und vermutlich auch darüber hinaus) zu einem Schlüsselbegriff öffentlichen Handelns geworden ist (Heidbrink 2003: 17f.). Besonders in Wirtschaft, Politik und Religion dient er ebenso der Legitimation und Rechtfertigung wie der Ankündigung von Handlungen und er hat mittlerweile in verschiedenen Bedeutungen auch Eingang in das Recht gefunden (im deutschen Grundgesetz in der Präambel, in der Definition von Ämtern und im Paragraphen 20a zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere; s.u. Abschnitt 4). Wie ist es jedoch zur Schieflage des Wertbegriffs in der öffentlichen Kommunikation gekommen? Was sind die semantischen Voraussetzungen und kommunikativen Gründe sowohl für die Karriere als auch für den chronischen Missbrauch - wenn er, wie journalistisch diagnostiziert, tatsächlich vorliegt - des Werts der „Verantwortung“ in Statements, Rechtfertigungen, Handlungsankündigungen usw.? Der Grund ist außer in aufrichtigen oder unaufrichtigen Sprecherintentionen vor allem im semantischen und argumentativen Potential des Begriffs selbst zu suchen, und genau diesem möchte ich im folgenden Beitrag nachgehen. Es geht um die unterschiedlichen Modelle und argumentativen Konzeptualisierungen des Begriffs in den verschiedenen Kommunikationskontexten des politischen, religiösen, ökonomischen und juristischen Diskurses, die ich an deutschen, französischen, russischen und englischen Beispielen aufzeigen werde. 1 1 Zum hier verwendeten Diskursbegriff siehe Kuße (2011: 125) und Kuße (2012b: 112ff.), wo Diskurs institutionell, d.h. als politisch, religiös, wirtschaftlich usw. bedingte Kommunikation, definiert wird - im Unterschied zu thematischen Diskursen wie ökologischer Diskurs, Genderdiskurs usw., die im Zentrum der Diskurslinguistik von Warnke/ Spitzmüller (2007, 2011) stehen. Dieser Diskursbegriff liegt auch einigen Arbeiten zu Verantwortung im Russischen sowie im Deutschen und Tschechischen zugrunde, die diesem Beitrag bereits vorausgegangen sind: Kuße (2007, 2009, 2010, 2012a); vgl. auch Kuße (2012b: 203ff.). <?page no="121"?> Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte 111 2 Modelle von Verantwortung Verantwortung ist im vollen Umfang vier- und im Kern dreigliedrig. Die Dreigliedrigkeit folgt dem Muster ‚X antwortet Z auf eine Frage Y‘. Der Ausdruck Verantwortung haben bedeutet: ‚ein Aktant X verantwortet einen Sachverhalt Y gegenüber einer Instanz Z‘ oder auch ‚X ist verantwortlich für Y gegenüber Z‘, woran als viertes Glied noch ‚mit a‘ zur Bezeichnung der Konsequenz, die sich für X ergibt, wenn er seiner Verantwortung nicht oder schlecht nachkommt, angeschlossen werden kann (vgl. Kuße 2012a: 297f.). Semantisch ist der vierte Aktant aber nur Teil der Semantik des Begriffslexems, wenn Verantwortung auch ‚Haftung’ einschließt, wie das bei französisch responsabilité, russisch ответственность (otvetstvennosť) oder zum Beispiel auch polnisch odpowiedzialność der Fall ist (vgl. Frolova 2009a: 215f., Bartmiński/ Grzeszczak 2010: 87f.), nicht aber bei deutsch Verantwortung oder englisch responsibility. In der Optionalität der Konsequenz ‚mit a‘ ist - das sei schon hier gesagt - ein nicht unwesentlicher Grund für den möglichen rhetorischen Missbrauch des Begriffs zu sehen. 2 Je nachdem, ob der Fokus mehr auf dem Handlungssubjekt X, dem Objekt Y oder der Instanz Z liegt, lassen sich drei miteinander verbundene Modelle von Verantwortung unterscheiden: das am Akt des Antwortens gegenüber einer Verantwortungsinstanz orientierte G ERICHTSMODELL (Verantwortung ist: ‚antworten können/ müssen‘), das am Subjekt orientierte E NTSCHEIDUNGSMODELL (Verantwortung ist: ‚entscheiden können/ müssen‘) und das an den Objekten der Verantwortung orientierte F ÜRSORGEMODELL (Verantwortung ist: ‚für andere/ anderes sorgen können/ müssen‘). Das G ERICHTSMODELL mit dem zweiten Glied (‚gegenüber einer Instanz Z‘) als semantischer Dominante erfasst die ursprüngliche Bedeutung von Verantwortung, die sich auch in den übereinstimmenden Wortwurzeln des Begriffs in den europäischen Sprachen wiederfindet. Enthalten ist wie im Deutschen immer Antwort: Im Englischen und in den romanischen Sprachen handelt es sich um die lateinische Wurzel respons: responsibility (engl.), responsabilité (frz.), res- 2 Weitere Aktanten wie vor allem der Bezug auf bestimmte Normen (Wittwer 2002: 575) und/ oder Wertmaßstäbe, an denen Handeln als verantwortungsvoll oder verantwortungslos bzw., wenn es sich um Gesetze handelt, schuldhaft oder nicht schuldhaft eingestuft wird, können in aktuellen Äußerungen wirksam sein und werden wie bei jedem Wertbegriff im Gebrauch von „Verantwortung“ auch pragmatisch vorausgesetzt (Bayertz 1995: 13f.). Im Unterschied zu „Schuld“ oder „Pflicht“ und ihren sprachlichen Realisationen gehören sie aber nicht zur invarianten Bedeutung der einzelsprachlichen Begriffslexeme und ihrer Ableitungen wie verantwortlich, responsable usw. (vgl. dazu die valenzsyntaktische Klassifikation von Verantwortung und verantwortlich im Deutschen bei Jacob 2011: 82ff.). <?page no="122"?> 112 Holger Kuße ponsabilità (it.), responsabilidad (sp.). In den skandinavischen Sprachen ist die Wurzel svar (Antwort) enthalten, z.B. ansvar (schw.), in den slavischen odpoved bzw. otvet (ebenfalls beides Antwort): ответственность (otvetstvevennosť) (russ.), odpowiedzialność (poln.), odpovědnost (tsch.) (vgl. z.B. Bartmiński/ Grzeszczak 2010: 81). In der direkten Bedeutung des ‚Antwortgebens‘ wird Verantwortung in der gegenwärtigen öffentlichen Kommunikation durchaus gebraucht. Ein eindeutiges Beispiel war die Reaktion des Vorstandsvorsitzenden des Mainzer Universitätsklinikums Norbert Pfeiffer auf den Tod dreier Babys an seiner Klinik, die an verunreinigten Nährlösungen starben. In einem Gespräch mit dem evangelischen Magazin „Chrismon“ im Jahr 2010 bezeichnete sich Pfeiffer rückblickend als Verantwortlichen, allerdings nicht im Sinne eines ‚Schuldigen‘, sondern als denjenigen, der dafür sorgt, dass Antwort gegeben, d.h. richtig informiert wird: 1. Natürlich gab es in dem Krisenstab eine Diskussion darüber, ob wir alle so offen informieren sollen. Ich habe das aber entschieden, ich bin der Verantwortliche. Ich habe gesagt: Nein, wir können nicht noch ein, zwei Tage rauszögern, das ist verkehrt. Wir müssen das jetzt den Eltern sagen. Die haben ein Recht darauf. (Chrismon 03.2011, 14; kursiv: H.K.). Die Redaktion des Magazins griff die Verknüpfung von Verantwortung und Antworten gleich zweimal positiv auf, indem sie auf dem Titel neben das Porträt Pfeiffers ein Zitat aus dem Text: „Es ist etwas Schlimmes passiert“ und darunter den Kommentar setzte: „Keine Ausflüchte! Klinikchef Dr. Pfeiffer hat sich seiner Verantwortung gestellt.“ In der Einleitung zum Gesprächsprotokoll werden Verantwortung und Offenheit aufeinander bezogen: 2. Als in seiner Uni-Klinik drei Babys starben, musste der Vorstandsvorsitzende Norbert Pfeiffer in Sekunden entscheiden: Erst mal abwiegeln? Oder selbst die Verantwortung übernehmen, bis die Schuldfrage geklärt ist? Pfeiffer entschied sich für Offenheit in jedem Moment. (Chrismon 03.2011, 13). Das G ERICHTSMODELL ist primär mit den Akten des Antwortens und dem Verlangen nach Antworten verbunden und muss, wie die Beispiele 1 und 2 zeigen, keine Schuldzuweisung implizieren. Die Verwendung von Verantwortung im Rahmen dieses Modells kann aber genau darauf zielen - explizit zum Beispiel in der Kollokation jemanden zur Verantwortung ziehen. In ihren Kommentaren und Appellen während des ägyptischen Frühlings gebrauchte Angela Merkel 2011 mehrfach das Lexem Verantwortung, besonders als Derivat verantwortlich sein, und verband damit auch Schuldzuweisungen: <?page no="123"?> Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte 113 3. Diejenigen, die für die Übergriffe, die es gestern und wahrscheinlich auch heute gegeben hat, verantwortlich sind, müssen sehr schnell und entschieden zur Rechenschaft gezogen werden. (http: / / www.bundeskanzlerin.de/ Webs/ BK/ De/ Aktuell/ Pressekonferenzen/ pressekonferenzen.html, Stand: 07.07.2011, kursiv: H.K.). In dieser Verwendung meint verantwortlich axiologisch ‚schuldhaftes Handeln‘. Es kann aber auch nicht axiologisch als bloße Verursachung verstanden werden. In diesem rein kausalen Sinne kann verantwortlich sein (allerdings nicht Verantwortung) nicht personale Kausalverhältnisse ausdrücken: 4. Ein mehr als zehn Kilometer dicker Meteorit sei vor 66 Millionen Jahren in den Golf von Mexiko gekracht. Der Einschlagkrater war bekannt, doch der Zeitpunkt des Einschlags umstritten. Manche Geologen zweifeln, dass er tatsächlich mit dem Massensterben zusammentraf - mithin wären andere Ursachen für das Aussterben der Dinosaurier verantwortlich. (http: / / www.spiegel.de/ wissenschaft/ natur/ massensterben-und-aufstieg-dersaeugetiere-meteorit-wohl-ausloeser-a-882159.html, Stand: 25.02.2013, kursiv: H.K.). Die kausale, nicht axiologische Verwendung, in der der Aktant X kein Handlungssubjekt ist, soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden 3 , sie zeigt aber, dass das semantische Spektrum von Verantwortung und seiner Derivate auch Bedeutungen jenseits des G ERICHTSMODELLS umfasst. Bleiben wir in der personalen und axiologischen Begrifflichkeit von „Verantwortung“, so ist eine mögliche Verwendung außerhalb des G ERICHTSMODELLS bereits in Beispiel 1 mit angesprochen. Mit „Ich habe das aber entschieden, ich bin der Verantwortliche.“ gibt hier der Sprecher zu verstehen, wie die Krisenstabsitzung in seinem Klinikum beendet wurde oder besser: wie er sie beendet hat. „Ich bin der Verantwortliche.“ kann hier nicht nur im bisherigen Sinne von ‚ich bin der, der antwortet‘, sondern auch als ‚ich bin der, der entscheidet‘ verstanden werden, und gemeint ist sicher beides. Verantwortlich sein, Verantwortung haben, seiner Verantwortung nachkommen usw. bedeutet so viel wie ‚entscheiden können oder müssen’, ‚Entscheidungskompetenz haben’ usw. Ich spreche in diesem Falle vom E NTSCHEIDUNGS- MODELL der Verantwortung. Eindrückliche Beispiele aus dem jüngeren politischen Diskurs stellen die Selbstprädikationen von François Hollande als président responsable oder auch premier responsable dar, die auch zeigen, dass „Verantwortung“ als europäischer (oder auch globaler Wert) fungiert. 3 Vgl. etwas ausführlicher und mit weiteren Beispielen aus dem Deutschen und Tschechischen Kuße (2012a: 299f.). Diese Möglichkeit der rein kausalen Verwendung von verantwortlich ist nicht in allen Sprachen gegeben; z.B. nicht im Russischen. <?page no="124"?> 114 Holger Kuße 5. Le premier responsable, c’est moi, car les Français m’ont élu. Der erste Verantwortliche, das bin ich, denn die Franzosen haben mich gewählt. (http: / / www.lefigaro.fr/ politique/ 2012/ 11/ 13/ 01002-20121113LIVWWW00378-di rect-suivez-la-conference-de-presse-de-francois-hollande.php, Stand: 25.02. 2013). 6. Je suis responsable de l’avenir de la France. (http: / / www.leparisien.fr/ politique/ en-direct-suivez-la-conference-de-pressede-francois-hollande-13-11-2012-2317525.php, Stand: 25.02.2013). Ich bin verantwortlich für die Zukunft Frankreichs. (FAZ 13.11.2012, http: / / www.faz.net/ aktuell/ wirtschaft/ frankreich-in-der-kri se-arbeitslosigkeit-setzt-hollande-unter-druck-11959738.html, Stand: 25.02. 2013). 7. Je veux être un président qui d’abord respecte les Français, qui les considère. Un président qui ne veut pas être président de tout, chef de tout et en définitive responsable de rien. Ich möchte ein Präsident sein, der zuerst die Franzosen respektiert, der sie achtet. Ein Präsident, der nicht Präsident von allem sein will, Chef von allem, und der definitiv für nichts verantwortlich ist. (http: / / tempsreel.nouvelobs.com/ election-presidentielle-2012/ 20120503OBS4 589/ verbatim-hollande-moi-president-je-serai.html, Stand: 25.02.2013). Aussagen wie „Le premier responsable, c’est moi.“ (Beispiel 5) lassen sich mit ihrer Anspielung an Ludwig XIV. und hinsichtlich der Rolle des Präsidentenamtes zwar nicht aus dem französischen Kontext lösen, die Bedeutung von Verantwortung im Sinne einer Entscheidungskompetenz ist aber direkt übertragbar (Beispiel 6). Rhetorisch wirksam war auch das Zusammenspiel von E NTSCHEI- DUNGSMODELL und G ERICHTSMODELL in Hollandes Wahlkampf 2012, in dem der Präsidentschaftskandidat mit dem Verantwortungsbegriff einen Gegensatz zum damaligen Amtsinhaber Nikolas Sarkozy aufbaute. Er, Hollande, wolle kein Präsident von allem sein, der definitiv für nichts verantwortlich sei, d.h. - wie sein Gegner - auf nichts antworte und nichts entscheide (Beispiel 7). Im E NTSCHEIDUNGSMODELL bezeichnen Verantwortung, Verantwortung haben, Verantwortung tragen usw. die Wichtigkeit eines Subjekts (denn wer entscheidet, ist wichtig). Ausdrücke wie gewachsene Verantwortung lassen sich auch als größere Rolle paraphrasieren. Als sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am 16. November 2001 vor dem Bundestag für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aussprach (Beispiel 8), verwendete er Verantwortung primär in diesem Sinne: <?page no="125"?> Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte 115 8. Die Entscheidung, die für die Bereitstellung deutscher Streitkräfte zu treffen sind [sic! ], nimmt niemand auf die leichte Schulter, auch ich nicht. Aber sie ist notwendig, und deshalb muss sie getroffen werden. Wir erfüllen damit die Erwartungen unserer Partner, und wir leisten das, was uns objektiv möglich ist und was politisch verantwortet werden kann. Aber mehr noch, durch diesen Beitrag kommt das vereinte und souveräne Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt nach. (http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ dokumentation-schroeders-redezur-vertrauensfrage-a-167955.html, Stand: 22.02.2103, kursiv: H.K.). Im E NTSCHEIDUNGSMODELL kann „Verantwortung“ zur Machtfrage werden. Mit Übernehmen von Verantwortung als ‚Übernehmen von Entscheidungskompetenz’ kann auch das Wegnehmen von Entscheidungsgewalt von anderen und damit ein Wechsel von Machtverhältnissen ausgesprochen sein. In diesem Sinne deutete Angela Merkel mögliche Verstaatlichungen im Bankensektor auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 an: 9. Die Politik muss in einer sehr schwierigen Situation Verantwortung übernehmen. (http: / / de.reuters.com, Stand: 17.10.2008, kursiv: H.K.). „Macht und Verantwortung sind untrennbar miteinander verbunden.“ lautet ein gerne kolportiertes Zitat Konrad Adenauers. Der Zusammenhang ist nicht auf die Politik beschränkt. Besonders in ökonomischen Kontexten ist - allerdings in der Umkehrung des Adenauerzitats - Verantwortung als Synonym zu Macht frequent. Die Funktion von Kollokationen wie Verantwortung tragen ist die eines Euphemismus, um Hierarchien diskret auszudrücken. In einem Businessratgeber habe ich diesen Zusammenhang sogar explizit ausgesprochen gefunden: 10. Macht ist bei uns ein eher negativ besetztes Wort. Es wird oft mit „Verantwortung tragen“ umschrieben. (Knauer 2010: 35). Bei Verantwortung im E NTSCHEIDUNGSMODELL steht das erste Glied, d.h. das Subjekt der Verantwortung, im Zentrum, während das Gegenüber, die Instanz, der zu antworten ist, semantisch in den Hintergrund tritt. Darin ist sicher ein zweiter Grund zu sehen, warum Verantwortung auch in einer ethisch irritierenden Weise gebraucht werden kann, die in der eingangs zitierten Kritik an der öffentlichen Wertinszenierung zum Ausdruck kommt: Die Instanz, der gegenüber Rechenschaft geschuldet wird, kann vom Sprecher regelrecht ignoriert oder sogar implizit negiert werden. Das ist beim Subjekt der Verantwortung nicht möglich, weshalb das E NTSCHEIDUNGSMODELL eine Voraussetzung für den sinnvollen Gebrauch des Verantwortungsbegriffs ist. Wer sich nicht für eine Handlung entscheiden kann, weil er/ sie unter Zwang steht und noch mehr, weil er/ sie <?page no="126"?> 116 Holger Kuße sich der Handlung und ihrer Folgen nicht bewusst ist - etwa Kleinkinder oder gar Tiere - kann für sein/ ihr Tun nicht verantwortlich gemacht werden (vgl. Höffe 1979: 319, Wittwer 2002: 574, Frolova 2009b: 141, Bartmiński/ Grzeszczak 2010: 90). Die Voraussetzung des E NTSCHEIDUNGSMODELLS gilt auch für das dritte Modell, in dem das Objekt der Verantwortung in den Fokus rückt. Dieses Modell, dass ich als F ÜRSORGEMODELL bezeichne, wandte Gerhard Schröder in der bereits zitierten Rede zur Afghanistan-Debatte 2001 an, als er den Afghanistan-Einsatz mit der Vertrauensfrage verknüpfte und das mit dem Amt des Bundeskanzlers und seiner „Verantwortung für das Gemeinwohl“ begründete. Die Notwendigkeit der Entscheidungskompetenz ist hier ebenfalls impliziert, aber das Objekt der Verantwortung ist mit Gemeinwohl explizit genannt. 11. Ich habe bewusst die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes und den Antrag über die Bereitstellung deutscher Streitkräfte für den Kampf gegen den Terrorismus miteinander verknüpft. Denn der Bundeskanzler kann seinem Amt und kann seiner Verantwortung für das Gemeinwohl nur dann entsprechen, wenn seine Person und wenn sein Programm das Vertrauen und die Zustimmung der ihn tragenden Mitglieder des Hohen Hauses finden. (http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ dokumentation-schroeders-redezur-vertrauensfrage-a-167955.html, Stand: 22.02.2103; kursiv: H.K.). In der Kollokation Verantwortung für das Gemeinwohl verdichtet sich Verantwortung als F ÜRSORGEMODELL . Sie ist im bundesdeutschen politischen Diskurs nicht singulär. Anfang der achtziger Jahre verwendete sie Helmut Schmidt in einer Ansprache vor Zeitungsverlegern (Marbach/ Nober 2008: 119). 2011 hat er sie in einer Rede vor der Max-Planck-Gesellschaft wieder aufgegriffen und dort sogar von der „Gemeinwohl-Verantwortung“ gesprochen (Schmidt 2011). Angela Merkel sah in ihrer Rede zum 60. Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts die Gemeinsamkeit von Politik und Verfassungsgericht in dieser Verantwortung: „Uns eint die gemeinsame Verantwortung für das Gemeinwohl“ (Merkel 2011). Mit diesen Verwendungen von Verantwortung ist weder die Notwendigkeit, gegenüber einer Instanz Antwort auf Fragen zu Handlungen und Ereignissen zu geben, noch die Kompetenz, Entscheidungen zu fällen, fokussiert, vielmehr lässt sich Verantwortung hier auch als Sorge, oder verbal als sich bemühen um, sich kümmern um paraphrasieren und mit einem anderen aktionalen Wertbegriff in Verbindung bringen, dem Begriff „Pflicht“. Im G ERICHTSMODELL bezieht sich Verantwortung auf Vergangenes - es ist retrospektiv -, was zu einer Berührung mit dem Begriff „Schuld“ führt. Das E NT- SCHEIDUNGSMODELL , das die Möglichkeit der Zurechnung von Handlungen zu einer Person enthält, steht dagegen semantisch in der Nähe zum Begriff „Macht“. <?page no="127"?> Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte 117 Im F ÜRSORGEMODELL hingegen, das auf gegenwärtige und vor allem zukünftige Handlungen gerichtet, also im Kern prospektiv ist, rückt „Verantwortung“ in die Nähe von „Pflicht“ (vgl. Seeger 2010, 141ff.). Ein berühmtes Beispiel für diesen Zusammenhang ist Barack Obamas Inauguralrede zur ersten Präsidentschaft, in der er mit seiner Forderung einer „new era of responsibility“ ganz im Rahmen des F ÜRSORGEMODELLS responsibility und duty explizit miteinander verband. 12. What is required to us now is a new era of responsibility - a recognition, on the part of every American, that we have duties to ourselves, our nation, and the world. (http: / / inaugural.senate.gov/ history/ chronology/ bhobama2009.cfm, Stand: 08.02.2011). Die Objekte der Fürsorge, um die zu kümmern jedem Amerikaner zur Pflicht werden sollte, sind hier sehr umfangreich. Sie reichen vom Selbst bis zur ganzen Welt. Aber dieses umspannende Verantwortungsverständnis ist kein ausschließliches Merkmal US-amerikanischer Präsidentenrhetorik. Sie war ebenso eine Leitmaxime Václav Havels, der in seinem Verständnis von „politischer Verantwortung“ auch die Zukunft ausdrücklich mit einbezog 4 : 13. Odpovědnost, kterou neseme, přesahuje tuto chvíli. Není to jen odpovědnost k našim současníkům, ale i k těm, kdo byli před námi, a především k těm, kdo přijdou po nás. (Havel 1999: 415). Die Verantwortung, die wir tragen, reicht über das Heute hinaus. Es ist dies nicht nur die Verantwortung unseren Zeitgenossen gegenüber, sondern auch denen gegenüber, die vor uns waren, und vor allem denen gegenüber, die nach uns kommen. (Havel 1994: 29). 14. Skutečná politika […] je prostě službou bližnímu. Službou obci. Službou i těm, kteří přijdou po nás. Její prapůvod je mravní, protože je to jen uskutečňovaná odpovědnost k celku a za celek. (Havel 1999: 521). Wirkliche Politik […] ist schlicht der Dienst am Nächsten. Der Dienst an der Gemeinde. Der Dienst auch an denen, die nach uns kommen. Ihr Ursprung ist sittlich, weil sie nur die verwirklichte Verantwortung gegenüber dem Ganzen und für das Ganze ist. (Havel 1994: 131). In diesem Sinne, d.h. im F ÜRSORGEMODELL , ist „Verantwortung“ ein typischer Begriff des politischen Diskurses der Gegenwart. Auch die oben zitierten Statements von François Hollande - besonders Beispiel 6 - sind für diese Interpretation offen. Auf der Internetseite von Angela Merkel (www.angela-merkel.de) ließ 4 Zum Verantwortungsbegriff Václav Havels vgl. Kuße (2012a: 306f., 310f.); vgl. auch Baer (1998: 238ff.). <?page no="128"?> 118 Holger Kuße sich eine Zeit lang unter der Rubrik „Überzeugungen“ eine Sammlung von Reden zum Thema „Verantwortung für die Welt“ anklicken, in der die Bildleiste die Kanzlerin zeigte, wie sie zwischen einem übermächtigen Barack Obama und Nicolas Sarkozy 5 mit ausgestreckter Hand den Weg nach vorn weist. Der parteipolitisch programmatische Leittext profiliert klar die Vorstellung von Verantwortung als ‚sich kümmern, sich bemühen um‘ oder wie hier: ‚sich engagieren‘. 15. Die CDU steht zur Verantwortung Deutschlands in der Welt. Ob für Frieden und Sicherheit, Klima- und Umweltschutz oder für eine Weltwirtschaft mit Vernunft - mehr denn je brauchen wir möglichst gute internationale Zusammenarbeit. Deshalb engagieren wir uns so stark in den Organisationen der Staatengemeinschaft - ob in der UNO, in der Gruppe der G-8 oder der G-20. Wir pflegen die transatlantische Freundschaft und einen offenen Dialog mit Russland und China. 3 Zur Geschichte von Verantwortung Die Modelle des Begriffs „Verantwortung“ mit seinen einzelsprachlichen Begriffslexemen und deren Derivaten - G ERICHTSMODELL , E NTSCHEIDUNGSMODELL und F ÜRSORGEMODELL - haben jeweils ihre Geschichte. Es lassen sich in historischen Kontexten besondere Präferenzen von Modellen zeigen, die zum Teil mit expliziten Theoriebildungen einhergehen. Ursprünglich ist sicher das G ERICHTS- MODELL , das schon aufgrund der Antwort-Wurzel des Begriffslexems nahe liegt (Wisser 1967: 5; vgl. auch Seeger 2010: 44). Der Begriff der „Verantwortung“ im heutigen Sinne ist nicht sehr alt (Bayertz 1995). Aus dem Lexikon der klassischen Sprachen lässt er sich nicht unmittelbar ableiten, auch wenn zum Beispiel officium im Lateinischen kontextuell in dieser Richtung interpretiert werden kann (Seeger 2010: 141f.). Auch biblisch ist der Begriff nicht direkt verankert. Hier sind es am ehesten Stellen, in denen die Situation des Antwortens gegeben ist, die sich modern im Sinne von ‚Verantwortung übernehmen‘ verstehen lassen, stark im Rechtswesen verankert sind und in große Nähe zum Pflichtbegriff stehen (vgl. Würthwein/ Merk 1982; vgl. auch Frolova 2009a: 214 zur russischen Bibel). In Fällen, in denen im Neuen Testament in der Lutherbibel Verantwortung als Übersetzung auftaucht (Apg. 26, 24; 2. Kor. 7, 11; Phil. 1, 16; 1. Petr. 3, 15), steht im Griechischen eine Form von άπολογία (Ver- 5 So noch nach dem Stand vom 25.02.2013. Mittlerweile ist die Seite zu einer Fotogalerie mit einigen kurzen Statements umgestaltet worden. Reden sind unter www.bun deskanzlerin.de abrufbar (Stand: 04.01.2014). <?page no="129"?> Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte 119 teidigungsrede), die auch andere Übersetzungen zulässt. In der lateinischen Vulgata sind das rationem reddere (Rechenschaft ablegen; Apg. 26, 24) und defensio (Verteidigung; 2. Kor. 7, 11; Phil. 1, 16; 1. Petr. 3, 15). In der letzten Revision der Lutherbibel ist nur noch bei 1. Petr. 3, 15 Verantwortung geblieben, bei den anderen Stellen wurde nun Verteidigung als Übersetzung gewählt. In der Einheitsübersetzung ist sich verteidigen (Apg. 26, 24), Entschuldigung (2. Kor. 7, 11), Verteidigung (Philipper 1, 16) und Rede und Antwort stehen (1. Petrus 3, 15) zu lesen. Das Grimm‘sche Wörterbuch datiert die ersten Belege von Verantwortung in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts, es handelt sich aber durchweg um Antwortsituationen, in der Regel in eindeutig gerichtlichem Kontext. Der erste Beleg von Verantwortung in abstrakter Bedeutung wird aus dem Simplicissimus zitiert, stammt also immerhin aus dem 17. Jahrhundert, alle weiteren Zitate beginnen jedoch mit dem 19. Jahrhundert (DWB 1999: Sp. 82-83). Die explizite Ausformung des Verantwortungsbegriffs im E NTSCHEIDUNGS- MODELL ist mit dem Namen Max Webers verbunden und seiner Gegenüberstellung von Verantwortungsethik und Gewissensethik (Weber 1988), in der er Handeln danach unterscheidet, ob es primär vorgegebenen Werten folgt, an denen sich das Gewissen des Subjekts ausrichtet, oder ob für Handlungsentscheidungen die prognostizierten positiven oder negativen Folgen des Handelns ausschlaggebend sind. Wichtige Verantwortungsethiken, die die Verantwortungsobjekte und die Sorge des Subjekts um diese Objekte in den Vordergrund rücken, sind Emmanuel Lévinas’ Postulat der ursprünglichen Verantwortung eines jeden für den Anderen in der Begegnung (Lévinas 1961, 1987, Wetz 2005: 117, Haardt 2011: 68ff.) und ganz besonders Hans Jonas’ „Das Prinzip Verantwortung“ (1979). Jonas verbindet „Verantwortung“ und „Pflicht“, indem er „Verantwortung“ als „die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur ‚Besorgnis‘ wird“, definiert (Jonas 1979: 391). Von der ursprünglichsten Form der Verantwortung von Eltern für ihre Kinder weitet Jonas dieses F ÜRSORGEMODELL der „Verantwortung“ aus auf alles Handeln, das im Blick auf seine Folgen geschieht, jedoch (im Unterschied zur Verantwortungsethik Max Webers) nicht nur für die unmittelbare Gegenwart und ihre Lebensverhältnisse, sondern für die gesamte Lebensumwelt des Menschen und für zukünftige Generationen. Dieses Modell des Verantwortungsbegriffs als ‚Sorge um etwas‘ verbindet sich bei Jonas mit dem G ERICHTSMODELL , denn für ihn sind die Verantwortungsobjekte zugleich jene Instanz, gegenüber der das Verantwortungssubjekt sich zu verantworten hat, d.h., bei „ihm fällt dasjenige, wofür wir verantwortlich sind, und dasjenige, wovor wir verantwortlich sind, zusammen“ (Wetz 2005: 116). Das F ÜRSORGEMODELL erfreut sich in den modernen Gesellschaften der Gegenwart einer hohen Popularität. Es hat jenes hohe ethisch-moralische Prestige, <?page no="130"?> 120 Holger Kuße das seinen vielleicht bekanntesten Ausdruck in Antoine de Saint-Exupérys seit nunmehr 70 Jahren anhaltend populärem „Le petit prince“ (1943) gefunden hat: 16. Tu deviens responsable pour toujours de ce que tu as apprivoisé. Tu es responsable de ta rose [...] - Je suis responsable de ma rose [...] répéta le petit prince […] (http: / / www.odaha.com/ antoine-de-saint-exupery/ maly-princ/ le-petit-prince, Stand: 26.02.2013). Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich [...] - Ich bin für meine Rose verantwortlich [...], wiederholte der kleine Prinz […] (http: / / www.odaha.com/ antoine-de-saint-exupery/ maly-princ/ der-kleineprinz, Stand: 26.02.2013). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Transformation eines Dostoevskij-Zitates in der russischen Sprache und Kultur. In Aphorismen- Sammlungen, Foren, Blogs und nicht zuletzt auch auf Unternehmenswebseiten findet sich heute im russischen Internet folgendes Bekenntnis Dostoevskijs zur weltumspannenden Verantwortung: 17. Каждый человек несет ответственность перед всеми людьми за всех людей и за все. Федор Михайлович Достоевский. (http: / / smi2.ru/ Ejk/ c534433/ , Stand: 26.02.2013). Jeder Mensch hat Verantwortung vor allen Menschen für alle Menschen und für alles. Fedor Michajlovič Dostoevskij. Das Zitat, das bibliographisch nicht weiter aufgeschlüsselt wird, hat seinen Ursprung in den „Braťja Karamazovy“ („Die Brüder Karamazov“) und lautet dort: 18. […] воистину всякий пред всеми за всех и за всё виноват. (http: / / ilibrary.ru/ text/ 1199/ p.41/ index.html, Stand: 26.02.2013). […] in Wahrheit ist jeder gegenüber allen für alle und für alles schuldig. Der Ausdruck виноват (vinovat, schuldig) kann durchaus auch als verantwortlich oder Verantwortung tragend übersetzt bzw. im Russischen entsprechend paraphrasiert werden, doch wird mit der Umformung der Gedanke der Schuldigkeit deutlich zurückgenommen. Das Verhältnis des Menschen zur Welt wird nun weniger unter dem Aspekt der notwendigen Rechtfertigung und Rechenschaft gesehen. Es erscheint vor allem als Pflicht, sich um alle und um alles zu kümmern. Die Veränderung des Zitats weist also eine klare und m.E. symptomatische Bewegung vom G ERICHTSMODELL zum F ÜRSORGEMODELL auf. <?page no="131"?> Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte 121 4 Verantwortung in Religion und Recht In Zitaten wie dem beliebten Pseudo-Dostoevskij-Aphorismus, aber auch in den aufgeführten politischen Verwendungen von Verantwortung, verantwortlich usw. im F ÜRSORGEMODELL - „a new era of responsibility“ (Beispiel 12), „Verantwortung, die wir tragen, reicht über das Heute hinaus“ (Beispiel 13), „Verantwortung gegenüber dem Ganzen und für das Ganze“ (Beispiel 14), „Verantwortung Deutschlands in der Welt“ (Beispiel 15) oder „Je suis responsable de l’avenir de la France“ (Beispiel 6) - kann sich das mit Verantwortung und seinen Derivaten Gemeinte nicht auf positive oder (bei Unterlassungen) negative Kausalhandlungsverantwortung von Handlungen mit überschaubaren Handlungsfolgen (vgl. Lenk 1994: 247ff., 1998: 261ff.) beschränken, die für das ursprüngliche G E- RICHTSMODELL von Bedeutung sind. Es handelt sich in diesen Verwendungen im F ÜRSORGEMODELL vielmehr um eine „generelle Verantwortung“, die sich auf „langfristige Handlungsdispositionen und -folgen“ bezieht (Lenk 1998: 261ff.). Und in genau dieser Qualität ist Verantwortung heute in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Diskurse eingegangen: in den religiösen Diskurs ebenso wie in den ökonomischen und sogar ins Recht (s. Kuße 2012a). Auch wenn „Verantwortung“ kein ursprünglich religiöser Begriff ist, so spielt er dennoch eine nicht geringe Rolle im gegenwärtigen christlichen religiösen Diskurs, wenn es darum geht, die Rolle der Gläubigen in der Welt zu bestimmen. Die folgenden Zitate aus einer Predigt Benedikts XVI., gehalten in Regensburg im September 2006 (Beispiel 19), und aus der Ansprache der damaligen Präsidentin des Evangelischen Kirchentages auf dem Kirchentag 2011 in Dresden (Beispiel 20) unterscheiden sich zwar im eher sakralen und allgemeinen und eher weltlichen Duktus der Rede, die Verwendung von Verantwortung als ‚genereller Verantwortung’ im F ÜRSORGEMODELL ist aber gleich: 19. Der Glaube will uns nicht angst machen, aber er will uns zur Verantwortung rufen. […] Wir müssen unsere Sendung in der Geschichte wahrnehmen und versuchen, dieser unserer Sendung zu entsprechen. Nicht Angst, aber Verantwortung - Verantwortung und Sorge um unser Heil, um das Heil der ganzen Welt ist notwendig. Jeder muß seinen Teil dazu beitragen. (http: / / www.vatican.va/ holy_father/ benedict_xvi/ homilies2006/ documents/ hf_ ben-xvi_hom_20060912_regensburg_ge.html; Stand: 26.02.2013; kursiv: H.K.). 20. Die Welt sollte nicht so bleiben, wie sie ist. Unsere Botschaft ist: Christinnen und Christen übernehmen Verantwortung, sie treibt der Traum von einer anderen Welt, sie wollen verändern, die Welt gerechter gestalten und sie stehen an der Seite der Schwächsten. (http: / / www.kirchentag.de/ service/ presse/ pressemitteilungen/ 23-juni-progr ammschwerpunkte-fuer-den-evangelischen-kirchentag-2011-stehen-fest/ the <?page no="132"?> 122 Holger Kuße mentableau-statement-von-katrin-goering-eckardt.html; Stand: 26.02.2013; kursiv: H.K.). Das F ÜRSORGEMODELL hat in der Bundesrepublik mit dem Artikel 20a von 1994 und seiner Erweiterung von 2002 (vgl. http: / / lexetius.com/ GG/ 20a#2) auch Eingang ins Grundgesetz gefunden. Bereits im ersten Satz der Präambel des Grundgesetzes wird zwar Verantwortung in einem sehr generellen Sinne gebraucht, aber in der Formulierung „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen […] hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ indiziert die Präposition vor semantisch das G ERICHTSMODELL . In allen weiteren Verwendungen - z.B. „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ (Grundgesetz, Art. 65) - wird das E NTSCHEIDUNGSMODELL rea-lisiert. In Artikel 20a (hier in der geltenden Fassung von 2002) wird mit Verantwortung dagegen eine generelle Willenskundgebung formuliert, für jemanden (die zukünftigen Generationen) Sorge zu tragen und sich deshalb um etwas (die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere) zu kümmern (sie zu schützen). Der Indikator ist nun die Präposition für - im Unterschied zum vor der Präambel. 6 Die zukünftigen Generationen sind im Unterschied zu Gott und den Menschen in der Präambel keine Frager und Richter, sondern Empfänger. 21. Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. (Grundgesetz, Art. 20a). 5 Argumentative Konzepte von „Verantwortung“ Die drei Modelle von „Verantwortung“ und seiner Lexeme sind eng miteinander verbunden und setzen zum Teil einander voraus. So ist „Verantwortung“ im G E- RICHTSMODELL nur möglich, wenn das Verantwortungssubjekt entscheidungsfähig ist (s.o.). Das gleiche gilt grundsätzlich auch für das F ÜRSORGEMODELL , allerdings kann hier die tatsächliche Entscheidungskompetenz auch recht fraglich sein (Wer kann kompetent Entscheidungen für die ganze Welt treffen? ). Der 6 Präpositionen sind zusammen mit den Begriffslexemen und ihren Ableitungen Mittel der sprachlichen Realisation der Modelle von „Verantwortung“; vgl. die Darstellungen zum Deutschen bei Jacob (2011) oder zum Polnischen bei Bartmiński/ Grzeszczak (2010). <?page no="133"?> Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte 123 fließende Übergang zwischen den Modellen im Gebrauch der Lexeme Verantwortung, verantwortlich usw. kann die Zuordnung einer konkreten Verwendung zu einem Modell diffus werden lassen und er macht Mehrfachzuordnungen möglich. So lässt sich der Gebrauch von responsabilité und responsable bei François Hollande (Bsp. 5-7) primär als Realisation des E NTSCHEIDUNGSMODELLS einordnen, aber ebenso im Rahmen des F ÜRSORGEMODELLS interpretieren. Trotz dieser Unsicherheiten sind die pragmatischen Funktionen der Verwendung von Verantwortung oder verantwortlich in diskursiv abgegrenzten Kontexten in der Regel eindeutig. Sie bilden in der Interaktion mit Diskurskontexten argumentative Konzepte, die sich teilweise in bestimmten sprachlichen Formen verdichten. Werner Holly (1993) hat das in Bezug auf den politischen Diskurs an der Formel „Ich übernehme die politische Verantwortung.“ gezeigt. Politische Verantwortung bedeutet im Unterschied zu parlamentarische Verantwortung mehr als einen durch Verfahren geregelten institutionellen Akt. Die Formel, mit der politische Verantwortung übernommen wird, impliziert aber kein persönliches Verschulden, sondern kann eine Form von Stellvertretung für Fremdverschulden sein, in der die Verantwortung für ein negatives Ereignis quasipersönlich interpretiert wird (Kuße 2012a: 308f.; vgl. auch Bartmiński/ Grzeszczak 2010: 107ff.). Eine andere Funktion im G ERICHTSMODELL ist wie in Beispiel 3 die Zuschreibung von Verantwortung zur Abwertung eines politischen Gegners, die eine der kommunikativen Grundfunktionen des politischen Diskurses darstellt (Kuße 2012b: 141, 149). Zur Aufwertung der eigenen Position, des eigenen politischen Lagers, des eigenen Landes spielt „Verantwortung“ dagegen im E NTSCHEI- DUNGS - und im F ÜRSORGEMODELL eine wichtige Rolle. Mit ihr werden die eigene Bedeutung (das Ziel der Macht) und gute Handlungsabsichten hervorgehoben (bes. Bsp. 5-7, 8, 11, 15). Verantwortung im F ÜRSORGEMODELL ist zudem eine Form, den politischen Diskurs als handlungsauslösenden Diskurs zu realisieren (Kuße 2012b: 128, 148), indem gerade die zum Teil recht diffusen und globalen Verantwortungsobjekte (die Welt, die Zukunft usw.) ganz konkrete Handlungsentscheidungen mit dem Wert „Verantwortung“ legitimieren können. Das ist sehr gut an Beispiel 8 zu sehen, in dem eine bestimmte politische Entscheidung (der Afghanistan-Einsatz) mit dem globalen Wert der „gewachsenen Verantwortung in der Welt“ (zugleich ein Ausdruck des E NTSCHEIDUNGSMODELLS ) begründet wird. Wie dieses Beispiel auch zeigt, kann in gleicher Funktion auch das Verantwortungssubjekt diffus bleiben, denn „das vereinte und souveräne Deutschland“ ist schwerlich zu personalisieren. Noch deutlicher wird dies im folgenden Beispiel aus einem nun schon zehn Jahre zurückliegenden Beitrag Angela Merkels in der Monatszeitschrift des Evangelischen Arbeitskreises der CDU „Evangelische Verantwortung“: <?page no="134"?> 124 Holger Kuße 22. Es führt nichts an dieser abschließenden Erkenntnis vorbei: Deutschland ist jetzt neu im Hinblick auf sein Selbstverständnis gefragt. […] Wir müssen nun nicht überall die Ersten sein, aber ab und an können wir auch mal wieder die Ersten sein. Und ich möchte ein Deutschland, das sich für die Generationen in seinem eigenen Land verantwortlich fühlt und das sich genauso verantwortlich fühlt für eine Welt, in der Menschen auch außerhalb Deutschlands in Freiheit und Würde leben können. (Merkel 2003: 7; kursiv: H.K.). Eine deutlich größere Rolle als im politischen Diskurs spielt der Aufbau diffuser Verantwortungssubjekte jedoch im Wirtschaftsdiskurs, zumindest in der externen Unternehmenskommunikation und ganz besonders im Marketing (Kuße 2007, 2009, 2010, 2012a). Das Thema „Verantwortung“ ist schon lange Standard in Gestalt von Responsibility Reports, die allerdings in jüngerer Zeit nach und nach von Sustainability Reports (Nachhaltigkeitsberichten) abgelöst werden - sicher auch in Reaktion auf die Kritik an öffentlich zur Schau getragener Verantwortung (Kuße 2012b: 318). Verantwortung tritt in diesem Diskursrahmen nahezu ausschließlich im F ÜRSORGEMODELL auf, wie im folgenden typischen Beispiel: 23. Verantwortung übernehmen, das prägt unsere Kultur seit vielen Generationen. Wir verstehen uns als Teil der Gesellschaft - an den einzelnen Standorten wie global. Verantwortung nehmen wir für alle unseren Tätigkeiten wahr, ob dies unsere Produkte oder Mitarbeiter betrifft, die Umwelt oder Gesellschaft. (http: / / germany.merck.de/ de/ unternehmen/ die_merck_gruppe/ verantwortu ng/ verantwortung.html, Stand: 23.01.2012). Das Verantwortungssubjekt bleibt unklar, denn wer ist mit wir gemeint (alle Mitarbeiter, der Vorstand, die Betriebsleitungen? ) und wer könnte im Falle einer Panne auf seine Verantwortung hin angesprochen werden? Es ist deutlich, dass es in dieser Verwendung von Verantwortung im F ÜRSORGEMODELL nicht um ein Verständnis von Verantwortung im G ERICHTSMODELL gehen soll. Das argumentative Konzept zielt vielmehr darauf, Handlungsentscheidungen im Konzern einen öffentlichen Legitimationsrahmen zu geben und ein positives Image des Unternehmens aufzubauen. Dazu gehört, wie das Beispiel auch illustriert, die Harmonisierung von Verantwortungsobjekten. Das eigentliche Problem ist ja, dass der Nutzen für Kunden, Mitarbeiter, Umwelt und Gesellschaft ein jeweils ganz anderer sein kann und tatsächlich Konflikte und Entscheidungsdilemmata in der Wahrnehmung von Interessen auftreten, die jedoch mit der bloßen Akkumulation der Fürsorgeobjekte unter dem Hochwert „Verantwortung“ rhetorisch nivelliert werden. Auf dieser Linie kann das Begriffslexem Verantwortung als <?page no="135"?> Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte 125 Marketinginstrument zum reinen Imagemarker werden, wofür der aktuelle französische Auftritt von IKEA ein gutes Beispiel darstellt (http: / / www.ikea.com/ ms/ fr_FR/ jobs/ simply_ikea/ responsibility.html, Stand: 23.01.2012). Hier wird responsabilité als façon d’être (die Art, wie man ist) und sentiment d’appartenance et de valorisation (Gefühl des Dazugehörens und der Wertschätzung) bezeichnet und damit zur bloßen positiven Mentalitätszuschreibung: ‚Wir sind verantwortliche Menschen’ (s. auch Kuße 2012b: 206). Im positiven Sinne dient Verantwortung im Rahmen des Unternehmensmarketings als Merkzeichen für gute Taten (konkret: Sponsoring im gesellschaftlichen, kulturellen oder ökologischen Bereich usw.). Daran ist nichts auszusetzen. Die eingangs vorgestellte Kritik an diesem Gebrauch von Verantwortung im F ÜR- SORGEMODELL zielt jedoch auf die damit einhergehende Verschleierung oder sogar Negierung des Verantwortungssubjekts und der möglichen Konsequenzen, die Verantwortung im Falle von Pannen und Katastrophen nach sich zieht. Der Begriff droht dadurch semantisch leer zu werden und seinen Wert als Kriterium des Handelns und der Handlungsbewertung zu verlieren (vgl. Wittwer 2002: 576). Müller zitiert in seiner Glosse die satirische Firmenphilosophie des Kabarettisten Gerhard Polt: „Wir übernehmen jedwede Verantwortung - ideeller Art und natürlich ohne finanzielle Konsequenzen, weil die übernimmt sowieso der Steuerzahler“ (Polt zit. bei Müller 2013). Allerdings sind das Verschwinden von Verantwortungssubjekten in der Rede von Verantwortung und die implizite Negation von Konsequenzen aus der Verantwortung nicht nur bewusste Irreführungen oder gar sublime Formen der Lüge. Sie haben auch etwas mit der Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, zu tun, institutionellen und kooperativen Subjekten Verantwortung zuzuschreiben (Lenk 1994, 1998) und mit der Komplexität moderner Gesellschaften, in denen die Kausalität von Handlungsabsichten, Handlungen und Handlungsfolgen nicht ohne weiteres überschaubar ist (Deetz 1996: 23, Heidbrink 2003: 19) - und das nicht nur bei Verantwortungsobjekten von globalem Ausmaß wie in den Beispielen 6, 12-15, 22, 23. Ein Ausweg aus diesem Dilemma bietet, wenn Verantwortung als Wert nicht aufgegeben werden soll (und das sollte er nicht), die bereits in den neunziger Jahren diskutierte Weiterentwicklung des Verantwortungsverständnisses zu einem dialogischen Konzept, in dem Verantwortung tragen, Verantwortung haben usw. nicht nur eine Subjekt-Objekt-, sondern eine Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation darstellt, d.h., dass verantwortliches Handeln als ein in Absprache mit anderen, als im Dialog ausgehandeltes Handeln verstanden wird (vgl. z.B. Deetz 1996 und die Beiträge im Symposiumsband Becker u.a. 1996; vgl. Kuße 2012b: 202f.). 7 7 In diese Richtung zielen auch Konzepte der „reziproken“ oder „kooperativen Verantwortung“, die zum F ÜRSORGEMODELL zu rechnen sind (z.B. Apel 1992: 196f., Nida-Rümelin 2007: 80ff.). <?page no="136"?> 126 Holger Kuße Dem nachzugehen wäre jedoch ein neues Thema, das hier nur angesprochen, aber nicht weiter behandelt werden soll. Stattdessen sei zum Abschluss die Frage gestellt, inwieweit die jeweilige Wortsemantik die Verwendung von Verantwortung bzw. responsibility, responsabilité, ответственность (otvetstvennosť) usw. in bestimmten Modellen und argumentativen Konzepten beeinflusst. Die Herauslösung des Verantwortungsbegriffs aus dem G ERICHTSMODELL in einer extensiven Verwendung im F ÜRSORGEMODELL wird, so steht zu vermuten, durch Sprachen wie das Deutsche und Englische begünstigt, in denen Verantwortung/ responsibility und Haftung/ liability lexikalisch unterschieden werden, was, wie oben bereits erwähnt, im Französischen und Russischen nicht der Fall ist, wo responsabilité bzw. ответственность (otvetstvennosť) jeweils beide Bedeutungen abdeckt. Die Selbstprädikation François Hollandes als président responsable erhält dadurch auch mehr Gewicht und Ernst als dies im Deutschen oder Englischen der Fall wäre. Im russischen politischen Diskurs auf präsidialer Ebene ist auffällig, dass Vladimir Putin ответственность (otvetstvennosť) überwiegend im G ERICHTSMODELL verwendet, um politische Gegner oder andere missliebige Personengruppen anzuklagen - in markigen Äußerungen wie „Die Marodeure müssen zur Verantwortung gezogen werden. Unerbittlich, nach dem Gesetz“ („Мародеров нужно привлекать к ответст-венности. Жестко, по закону“) (http: / / www.kp.ru/ daily/ 25912.5/ 2867010/ , Stand: 26.02.2013). Das F ÜR - SORGEMODELL kommt am ehesten in patriotischen Inhalten zum Tragen, wie etwa in einem Statement zur Frage der „patriotischen Erziehung der Jugend“ („вопрос о патриотическом воспитании моло-дёжи“), das im Internetforum „Patriot“ zu lesen ist. Die aus dem Text genommene Überschrift lautet: „Verantwortung für das eigene Land und dessen Zukunft“ („Ответственность за свою страну и её будущее“) (http: / / forumpatriot.ru/ news/ 319.html, Stand: 26.02. 2013). Mit dieser Formel wird die Präambel der russischen Verfassung aufgegriffen, die eine ähnliche Formulierung aufweist (und in der Verwendung von Verantwortung für auch der Präambel des Grundgesetzes gleicht): 24. Мы, многонациональный народ Российской Федерации […] исходя из ответственности за свою Родину перед нынешним и будущими поколениями […] принимаем КОНСТИТУЦИЮ РОССИЙСКОЙ ФЕДЕ- РАЦИИ. (http: / / www.constitution.ru/ , Stand: 26.02. 2013, kursiv: H.K.). Wir, das multinationale Volk der Rußländischen Föderation […] ausgehend von der Verantwortung für unsere Heimat vor der jetzigen und vor künftigen Generationen […] geben uns die VERFASSUNG DER RUSSLÄNDISCHEN FÖDERATION. (http: / / www.constitution.ru/ de/ index.htm, Stand: 26.02. 2013, kursiv: H.K.). <?page no="137"?> Verantwortung - Modelle und argumentative Konzepte 127 Die sprachliche Differenz allein führt also nicht zu einem unterschiedlichen Gebrauch des Verantwortungsbegriffs. Das zeigt sich auch im Marketing großer Unternehmen in Russland, dessen Untersuchung vor einigen Jahren eine gewisse Scheu vor der Verwendung von ответственность (otvetstvennosť, Verantwortung) erkennen ließ (Kuße 2007). Diese ist heute jedoch nicht mehr gegeben. Der Wert findet sich im F ÜRSORGEMODELL auf den Seiten von Gasprom, Lukoil und anderer großer russischer Unternehmen (Kuße 2010). Auch die argumentative Konzeptualisierung (Subjektverschleierung, Harmonisierung von Verantwortungsobjekten usw.) unterscheidet sich nicht von vergleichbaren Strategien westeuropäischer oder US-amerikanischer Unternehmen. Das Marketing mit dem Begriff „Verantwortung“ und seinen Lexemen ist ein globales Phänomen. 6 Literatur Apel, Karl-Otto (1992 2 ): Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt am Main. Baer, Josette (1998): Politik als praktizierte Sittlichkeit. Zum Demokratiebegriff von Thomas G. Masaryk und Václav Havel. Sinzheim. 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Gleichzeitig besteht aber auch eine Wechselbeziehung - sehr oft werden Eigennamen von bekannten Helden als Gattungsnamen für Personen mit bestimmten Eigenschaften gebraucht, wie z.B. Schweik oder Pljuschkin. Der Beitrag untersucht die in den Namen versteckte Bedeutung, die „sprechenden“ Namen und die damit beabsichtigte Botschaft des Autors in den Kurzerzählungen des deutschsprachigen Sammelbandes des aus Bulgarien stammenden Autors Dimitré Dinev „Ein Licht über dem Kopf“. Soweit die Protagonisten von Dinev Immigranten in einem fremden Land sind, ist es interessant zu untersuchen, in welchem Zusammenhang ihre bulgarischen Namen zur europäischen Realität stehen, ob Namen auch im heutigen globalisierten Europa ein Indiz für Fremdheit und ein Anlass für Anfeindungen bleiben oder als Beweis eines kulturellen Zusammenwachsens längst ungehindert die Grenzen überschritten haben. 1 Die Bedeutung der Namenwahl bei Dimitré Dinev Die Semantik der Eigennamen der Figuren in literarischen Texten ist ein beliebtes Forschungsobjekt, denn gewöhnlich haben sie eine besondere Beziehung sowohl zum Namengeber als auch zum Namenträger und tragen dazu bei, die Intention des Autors zu verdeutlichen. Gewöhnlich sind es die Eltern oder die Paten, die dem neugeborenen Kind einen schönen Namen geben müssen. In der Realität entsprechen die Eigennamen nicht unbedingt den persönlichen Eigenschaften des Trägers (Lauer 2010: 3f.). Keine Familie hat so viele Kinder und muss so viele Namen finden wie ein Schriftsteller. Durch die Namen bleiben die literarischen Gestalten im Gedächtnis der Leser und in der Literaturgeschichte. Meistens entsprechen sie entweder den Charakterzügen des Helden oder seiner Herkunft, seinen Talenten und Hoffnungen oder seiner Lebensweise. Gleichzeitig besteht aber auch eine Wechselbeziehung - sehr oft werden Eigennamen von bekannten Helden der schöngeistigen Literatur mit wenigstens einer Charakter- <?page no="142"?> 132 Antoaneta Mihailova/ Kalina Minkova eigenschaft des Trägers identifiziert und als Gattungsnamen für Personen mit diesen Eigenschaften gebraucht. Oft genannte Beispiele sind Schweik oder Pljuschkin. Die Schriftsteller wählen bewusst einen passenden Namen für jede literarische Gestalt. Fragt man [...] Dichter danach, wie sie die Namen für ihre literarischen Figuren (er)finden und welche Gesichtspunkte dabei entscheidend sind, so bekommt man wiederholt die Antwort: Die Namen müssen „passen“ (Debus 2004: 2). Die Namen der Literaturhelden sind nicht zufällig. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Idee des Autors. Im Gegensatz zu wirklichen Namen sind viele von ihnen fiktiv. Sie stehen im Zusammenhang mit dem sie umgebenden Text und haben dort bestimmte Aufgaben zu erfüllen (Elsen 2007: 151). Die Wahl der literarischen Namen soll die Botschaft des Verfassers noch eindeutiger machen. Im vorliegenden Beitrag wollen wir die Wahl der Eigennamen der Gestalten in den Kurzerzählungen des aus Bulgarien stammenden, aber Deutsch schreibenden Dimitré Dinev in seinem 2005 bei Deuticke im Paul Zsolnay Verlag in Wien erschienenen Sammelband „Ein Licht über dem Kopf“ analysieren, indem wir sie als kulturspezifische Symbole betrachten und auf dieser Basis beweisen, dass die Namenwahl Dinevs das interkulturelle Verständnis erschwert, statt es zu erleichtern, dass der Autor tief im bulgarischen Milieu verwurzelt bleibt und dass die oben erwähnten Erzählungen wegen der bewussten und kategorischen Wahl der deutschen Sprache bei der Wiedergabe typisch bulgarischer Realität an Suggestionsreichtum und an Einwirkungskraft auf den deutschsprachigen Leser verlieren. Dimitré Dinev stammt aus der zweitgrößten bulgarischen Stadt Plovdiv. Er ist 1990 nach Österreich ausgewandert, wo er sich im Laufe der Zeit als Schriftsteller etabliert hat. Nach Meinung einiger Kritiker gilt er als Gründer der Migrantenliteratur in Österreich 1 . Er selbst leugnet es mit der Erklärung, dass es so etwas wie Immigrantenliteratur nicht gebe, weil keine Immigrantensprache existiere (Interview 2012). In einer „Kosmopolitenstadt“, in der - wie im alten Babylon - viele Nationalitäten (Bulgaren, Griechen, Türken, Armenier, Russen, Juden und Zigeuner) vertreten sind, die fast ein Jahrhundert lang konfliktlos und in guter Nachbarschaft 1 So schreibt z.B. Daniela Strigl: „Mit Dimitré Dinev hat endlich auch Österreich eine Immigranten-Literatur.“ <?page no="143"?> Literarische Namen 133 miteinander gelebt haben, spielen sich die Schicksale von Dinevs Helden ab, bevor sie sich für eine Emigration entscheiden. Die Gestalten in seinen Erzählungen (wie übrigens auch in seinem Roman „Engelszungen“) tragen typisch bulgarische Eigennamen (soweit sie nicht einer anderen Nationalität angehören), deren Bedeutung entweder im Einklang mit oder im Gegensatz zu dem Fabelverlauf steht. Seltener weisen sie auch auf die Charakterzüge der Helden hin. Alle seine Helden sind Migranten, was a priori die Namenwahl einschränkt, d.h., sie müssen bulgarische Namen tragen. In Anlehnung an Debus (2004: 5) können wir feststellen, dasss in diesem Fall hauptsächlich die Gruppe der „redenden oder sprechenden“ Namen in Frage kommt. Da ist zunächst zu nennen die recht komplexe Funktion der Charakterisierung. Sie erfolgt vornehmlich durch die redenden oder sprechenden Namen. Diese sind in der Regel auf Grund ihrer bedeutungsmäßigen Durchsichtigkeit für jedermann als Signale erkennbar, sie sprechen meistens direkt den Leser/ Hörer an - eben deshalb sind sie vom Namengeber gewählt worden. Es handelt sich um Menschen, die aus verschiedenen Gründen ihr Heimatland verlassen haben in der Hoffnung, im gelobten Land (in diesem Falle Österreich) ein besseres Leben zu finden. In den meisten Erzählungen spielt die Handlung in Wien. Gemeint ist aber nicht die Stadt Wien mit ihren Sehenswürdigkeiten, Theatern, Schlössern, Parks, Lichtern; gemeint ist die Stadt der Arbeitslosen, der Rechtlosen, der Verzweifelten, das nicht gastfreundliche Wien (es handelt sich aber auch nicht um Gäste! ), das zu jeder Jahreszeit den nicht eingeladenen Ausländern gegenüber fremd und feindlich bleibt. Die erzählten Geschehnisse sind dem realen Leben entnommen und bilden somit einen glaubwürdigen Hintergrund für die Irrwege der Helden. Anzumerken wäre, dass fast alle Helden Dinevs Einzelgänger sind. Sie fliehen aus verschiedenen Gründen vor der neuen, nicht zu bewältigenden Realität im Heimatland, verlassen Familie und Freunde auf der Suche nach dem imaginären besseren Leben. Keine einzige Erzählung handelt von einer vollständigen Familie mit Eltern und Kindern - weder in der Heimat noch in der Immigration. Keine einzige Erzählung hat als Zentralfigur einen erfolgreichen Emigranten. Nirgendwo ist direkt die Rede von Politik und Kultur. Es scheint, dass in der Kulturstadt Wien die Kultur für die aus anderen Ländern Gekommenen keine Bedeutung hat. Der Leser fragt sich, wie groß die Hoffnungslosigkeit der Helden sein muss, dass sie nur an das tägliche Brot denken, dass ihre Existenz von einem einzigen Wort abhängt: Arbeit. Nur wer Arbeit hat, kann sich als Mensch fühlen. Arbeit zu finden ist aber das Schwierigste. In dieser Situation ziehen natürlich das Verhalten und die Schicksale sowie die Anpassungsmöglichkeiten der Helden Dinevs die Aufmerksamkeit des ausländischen „Sprachbenutzers“ an. <?page no="144"?> 134 Antoaneta Mihailova/ Kalina Minkova 2 Vereinbarkeit von Vergangenheit und Zukunft in literarischen Namen Die generelle semantische Spezifik der Eigennamen liegt darin, dass durch ihren Gebrauch ein Referenzobjekt eindeutig identifiziert und individuiert wird. [...], ich gehe davon aus, dass durch die Verwendung eines Eigennamens auch eine Verbindung zu den Eigenschaften des Namenträgers, also des identifizierten Individuums hergestellt wird, d.h. dass mit Eigennamen ein Wissen um Charakteristika oder Eigenschaften des Namenträgers verbunden ist und dass dieses Wissen, das natürlich je nach Sprachbenutzer unterschiedlich ausgeprägt ist, Voraussetzung für den erfolgreichen Gebrauch von Eigennamen ist (Thurmair 2002: 86). Der Protagonist in der Erzählung „Lazarus“ trägt einen biblischen Namen. Viele kennen aus der Bibel die Geschichte des von Jesus Christus zu neuem Leben auferweckten Mannes. Diesem Namen entspricht im Deutschen Gott hat geholfen. Nicht aber dem Helden Dinevs. Er führt ein so verpfuschtes Leben, dass sich seine „Rettung“ als eine sinnlose Scheinrettung erweist. Dinevs Lazarus ist Sohn einer Zigeunerin namens Sneshana. Der Name Sneshana ist die bulgarische Entsprechung von Schneewittchen. In der Bedeutung des Namens ist eine Vorstellung von „weiß und rot“, von Reinheit und Unschuld vorhanden, die bei Dinev durch ihr Gegenteil ersetzt ist, denn hier geht es eigentlich um eine Hure. Sie hat vor der Hochzeit viele Männer gehabt, ist auch ihrem bulgarischen Mann untreu. „In der Schule hatte es Lazarus schwer. Dort erfuhr er zum ersten Mal, daß er ein Zigeuner, seine Mutter eine Hure und sein Vater ein blinder Trottel sei“ (Dinev 2005: 63). Der Vater heißt Svesdomir Kjossev. Der Vorname ist ein Kompositum aus den bulgarischen Wörtern für Stern und Frieden. Lazarus heiratet Nedjalka - der Name lautet übersetzt Sonntag/ Feiertag. Die Frau ist ganz einfach, gewöhnlich und langweilig und hat mit Lazarus auch wenig Anlässe zum Feiern. Als später im Leben von Lazarus eine Geliebte erscheint, findet der Schriftsteller auch für sie einen „passenden“ Namen - Slatitza, welcher die deutsche Entsprechung Golda, mit der Bedeutung ‚glänzend wie Gold‘, hat. Slatitza bestiehlt Lazarus und verschwindet aus seinem Leben. Ohne Familie, ohne Freunde, ohne Geliebte und ohne Arbeit geblieben, wählt Lazarus den Weg eines Emigranten. Fast in jedem Absatz dieser Geschichte stellt Dinev ein Problem dar, das typisch für Bulgarien war, z.B. die Zigeunersitte mit der Mitgift, das Verhältnis zu den Zigeunern, die Fließbandarbeit in Plovdiv (die Arbeiter werden den unzähligen gleichen Zigaretten, die sie herstellen, ähnlich) usw. Sein Held verlässt das Land in einem Sarg versteckt. An der österreichischen Grenze wird er mit den Worten „Lazarus, komm heraus! “ (in Assoziation mit „Lazarus, steh auf! “) (Dinev 2005: 92) geweckt. Und im Unterschied zu seiner Erfahrung bei der Geburt, als „für ihn Licht und Muttermilch das gleiche waren. Also trank er. <?page no="145"?> Literarische Namen 135 Durch seinen zahnlosen Mund floß die Welt“ (Dinev 2005: 59), bekommt er diesmal mit dem Licht ein Stückchen trockenes Brot von einem Bosnier. Lazarus ist der einzige Name eines Protagonisten in Dinevs Erzählungen, der seine Bedeutung im Bulgarischen wie auch im Deutschen beibehält und allen gläubigen Christen aus dem Neuen Testament bekannt sein dürfte. In diesem Falle könnten wir von der mythisierenden Funktion der literarischen Namen sprechen: Dabei geht es [...] um die in der Menschheitsgeschichte weit zurückgehende Vorstellung, dass dem Namen geheimnisvoll-magische Kräfte innewohnen und dass durch die wirkmächtige Entfaltung dieser Kräfte die Einheit von Name und Person bewirkt wird [...] Der gegebene „passende“ Name für eine literarische Figur erweist sich als Verwirklichung der mythischen Vorstellung (Debus 2004: 7). Der Hauptheld der Erzählung „Wechselbäder“ heißt Stojan Vetrev. Beide Namen beinhalten schon einen Widerspruch in sich. Stojan entspricht fest, beständig und Vetrev - windig. Dieser Widerspruch steht in unübersehbarer Beziehung zu den Wechselbädern am Ende der Geschichte. Vetrev ist ehemaliger Mitarbeiter einer Lottostube, raubt nach der Wende eine Bank aus, angeblich um die ärztliche Behandlung seiner mit einem kürzeren Bein geborenen Tochter zu ermöglichen, was er aber nicht tut. Zusammen mit seinem Freund wird er Besitzer dreier Wechselstuben in der Hauptstadt, handelt mit Ukrainern, von denen er betrogen wird, und muss fliehen. Das alles sind typische kriminelle Beschäftigungen aus der Übergangszeit (nach 1989) in Bulgarien, die auch ziemlich riskant sind. Deshalb kommt der Held über Prag nach Wien, wo er als Fensterputzer arbeitet, bis er - nach dem Rat einer Wahrsagerin - zurück nach Bulgarien geht, um in einer psychiatrischen Heilanstalt zu enden. Von Natur aus ist Stojan ein Abenteurer. Das Unglück in der Familie nutzt er nur als Ausrede für alles, was er anstellt. Er liebt die Abwechslung, ändert oft die Beschäftigung und den Wohnort, auch seine Überzeugungen und die Heimat. In die Heilanstalt geraten, erkennt er den Irrtum, den er begangen hat, und möchte wieder der Mann sein, der er früher gewesen ist. Er schreit aber vergebens: „Gebt mir meine alte Seele zurück! Ich will meine alte Seele wieder! “ (Dinev 2005: 15). Es wird allerdings nicht deutlich, wo und wann er seine Seele verloren hat. Die Semantik des Eigennamens des Helden in der Erzählung „Spas schläft“ ist auch sehr aufschlussreich. Der Held heißt Spas Christov. Beide Namen wecken eine Assoziation mit dem Erlöser Jesus Christus - Spas heißt auf Deutsch Retter und der Familienname Christov ist abgeleitet von dem Eigennamen Christo (= Christus); Christo ist übersetzbar mit Guter, Ehrlicher, Sanfter, Gesalbter. „Gerettet“ wird Spas erst am Ende der Erzählung, als er nach vielen Jahren als Immigrant in Wien eine Arbeitsstelle findet. Spas und sein Freund sind die einzigen Gestalten in den hier behandelten Erzählungen Dinevs, die Versuche unternehmen, sich in die neue Umgebung zu integrieren. Sie besuchen einen Sprachkurs, <?page no="146"?> 136 Antoaneta Mihailova/ Kalina Minkova weil sie studieren wollen. Sie sind anders, sie stellen höhere Ansprüche an das Leben, sie möchten etwas erreichen und aus der Armut herauskommen. Die Antworten auf die einfachsten Fragen aber sind für sie und die anderen (illegalen) Immigranten schwierig und ungewöhnlich: Woher kommen Sie? - Aus der Not. Wie heißen Ihre Eltern? - Elend und Hunger. Wo wohnen Sie? - In einem Luxus-Privat-Express. 2 Wohin fahrt ihr? - Am großen Geld vorbei (Dinev 2005: 110f.). Der als Hausaufgabe improvisierte Dialog stellt eine stimmig synthetisierte Charakteristik der Immigrantenexistenz mit ihren Ursachen und Enttäuschungen und ihrer Hoffnungslosigkeit, so wie sie Dinev sieht, dar. In dieser Erzählung werden die Namen der Personen direkt thematisiert. Als das kleine rumänische Mädchen Anka mit trauriger Stimme sagt, dass ihre Mutter Irina heiße, beruhigt sie einer der Emigranten: Deine Mutter ist ja etwas ganz anderes. Schreib ihren Namen mit dem Finger aufs Fenster. Durch die Buchstaben kannst du dann hinaussehen. Nur deine Mutter hat solche Buchstaben (Dinev 2005: 110). Mit diesen Worten bekennt sich Dinev zur Einmaligkeit des Namens eines Menschen, der ihn auf besondere Art und Weise individuiert. Irina heißt Ruhe, Friede. Durch den Namen wird die Idee verdeutlicht, dass das kleine Mädchen, mit dem Vater allein in der Emigration lebend, das ruhige Leben mit der Mutter vermisst, es aber auch verdient. Die Geschichte „Ein Licht über dem Kopf“, die dem ganzen Band den Titel gegeben hat, hat zum Haupthelden den einfachen Bürger Plamen Svetlev. Plamen heißt Flamme und Svetlev - Licht, Helligkeit. Seinem Sohn gibt er den Namen Wesselin - Lustiger, Fröhlicher. Das Los Plamen Svetlevs entspricht nicht der Semantik der Namen. Beim Zusammenbruch des sozialistischen Systems verliert auch er seine Arbeit als Taxifahrer. „Jeder erwartete die Ankunft heller Zeiten. Doch es kam die Inflation“ (Dinev 2005: 158). Nach dem Versuch, die Ikone der Heiligen Mutter Gottes aus einer Kirche zu stehlen, kommt Plamen für fünfeinhalb Jahre ins Gefängnis. Während der Haft lässt er sich das Wort Taxi auf das Geschlechtsorgan tätowieren. Als er zu Weihnachten für drei Tage Hafturlaub erhält, kehrt er nicht ins Gefängnis zurück. Dank der Hilfe eines Passfälschers verwandelt er sich in den Griechen Pyros Putakis, geboren in Thessalo- 2 Während des Intensivkurses wohnen die Freunde gemeinsam mit anderen Emigranten verschiedener Nationalitäten im verlassenen Wagen eines alten Zuges. <?page no="147"?> Literarische Namen 137 niki, „freier Bürger der Europäischen Union“ (Dinev 2005: 167). Plamen wird Taxifahrer in Wien, bis er wegen des gefälschten Passes wieder verhaftet wird. Auf dem Polizeirevier wird er so lange mit einem Telefonbuch auf den Kopf geschlagen, bis er „ein Licht über dem Kopf“ sieht. Die Wörter Licht und hell zusammen mit dem Namen des Helden bilden das Leitmotiv dieser Geschichte, die wieder nur von Bulgarischsprachigen in ihrer ganzen Tragikomik erfasst werden kann. Hier werden auch ohne logischen Zusammenhang kuriose Gefängnissitten erwähnt, die die Erzählintention keinesfalls braucht. In der Erzählung „Die Totenwache“ 3 spielt die Semantik der Eigennamen nur teilweise eine Rolle. Die Erzählung hat einen verbreiteten bulgarischen Brauch zum Thema: Die Nacht nach dem Tod eines Menschen verbringen die Verwandten und Freunde an der Leiche des Verstorbenen, erzählen von ihm, nehmen Abschied von ihm. Fünf Freunde halten Wache bei der Leiche des unerwartet bei einem Arbeitsunfall gestorbenen Emigranten Nikodim Stavrev. In der Übersetzung aus dem Griechischen ins Deutsche entspricht der Vorname Sieger über Völker, Besieger der Völker. Das ist aber kein bulgarischer Name, er klingt Deutschen wie Bulgaren gleich fremd. Der Familienname ist abgeleitet aus dem griechischen Wort für Kreuz. Diese Erzählung ist die einzige, in der ein Österreicher mit einem Namen benannt wird (abgesehen von den namenlos gebliebenen Polizisten, Beamten, Abfuhrleuten). Es geht um den Baumeister Walter Schutt. Auch hier wählt Dinev einen sinnbeladenen Namen. Wenn ein Baumeister Schutt heißt, ist die Ironie für den Leser evident. Gleichzeitig wird hier der Kontakt der Migranten mit dem „Gastland“ personifiziert. Die professionelle Klagefrau, eine Bulgarin, hat den Namen Sacharina Srebreva. Sacharina wird im Volksmund von Sachar = Zucker abgeleitet und Srebreva von Srebro = Silber. In der Übersetzung aus dem Hebräischen aber (was nur wenigen Lesern bekannt sein dürfte) ist Sacharina mit Gottes Gedächtnis wiederzugeben. So kann der erfahrene Leser auch bei diesem Namen einen beabsichtigten Widerspruch feststellen. Die Ehefrau des verstorbenen Nikodim trägt den Namen Pavlina = Kleine. Es ist anzumerken, dass die Frauengestalten bei Dinev eine eher untergeordnete Rolle spielen. Sie sind höchstens Ehefrauen oder Geliebte, aber nie Hauptheldinnen. Entweder tragen sie Namen, die zu ihrer Natur in Widerspruch stehen, oder aber sie bleiben namenlos, wie z.B. das junge Mädchen in der Erzählung „Die neuen Schuhe“. Aufschlussreich ist aber die Namensemantik des Helden in der Erzählung „Laß uns Radio hören“. Sarko ist die Diminutivform von Sachari (= Zacharias - ein biblischer Name) und heißt auf Deutsch Gott erinnert sich. In der Geschichte von Dinev erinnert sich Sarko nach sieben Jahren in der Immigration an den 3 Aus dieser Geschichte entwickelt Dinev das Theaterstück „Eine heikle Sache, die Seele“, in dem der Held an dem „vom Heimweh geschwächte[n] Herz[en]“ stirbt. <?page no="148"?> 138 Antoaneta Mihailova/ Kalina Minkova Spruch, den er und sein Mädchen verwendeten, wenn sie intim miteinander sein wollten. Da man im sozialistischen Bulgarien wegen der schlechten Plattenbauten immer von den Nachbarn belauscht wurde, konnte man Ruhe haben und Zweisamkeit genießen, nur wenn das Radio eingeschaltet war, egal welche Sendung lief. Auf die Frage des Mädchens in Wien (übrigens auch eine Immigrantin), warum er sie zu sich einlädt, antwortet Sarko: „Laß uns Radio hören.“ Das gleiche Motiv findet der Leser im Roman „Engelszungen“, wo es aber auf natürliche Weise aus dem politischen Kontext des Schicksals des Helden folgt. 3 Eigennamen und Politik Die Erzählung „Die Handtasche“ enthält drei voneinander unabhängige Geschichten. Was sie verbindet, ist nur ein Gegenstand - eine Handtasche, angefertigt aus der Haut eines eines politischen Attentats verdächtigten jungen Dichters. Er ist Opfer eines eifersüchtigen Polizeiinspektors geworden, der der Meinung ist, er sei ein Liebhaber seiner Geliebten Vera. Dem Namen Vera entspricht Glaube. Der Polizeiinspektor trägt den eher seltenen Namen Evlogi Ditschev. In der Übersetzung aus dem Griechischen heißt Evlogi gesegnet, beredsam, vernünftig, klug. Der griechische Name klingt für die meisten Bulgaren und sicher alle Deutschsprachigen gleich fremd. Gesegnet ist der Held von Dinev keinesfalls. Er „hatte eine Seele, die verwüstet war. Zertreten von seiner Geliebten und angeödet von seiner Frau. Alles nur Staub und Asche in ihm“ (Dinev 2005: 16). Beredsamkeit kann man ihm auch nicht zuschreiben. Nur einige, sich immer wiederholende Worte kommen aus seinem Munde. Seine Taten im Beruf und im privaten Leben zeugen nicht von Vernunft oder Klugheit, eher von Grausamkeit und Rachsucht. Für den bulgarischsprachigen Leser semantisch wichtiger in Bezug auf die Idee des Autors ist in diesem Teil der Name Vera, der eine direkte Beziehung zum Schluss der Erzählung hat. Der Held der zweiten Geschichte, ein gewisser Michal Halata, ist eine der überzeugendsten Figuren Dinevs. Sein Vorname ist eine Kurzform des hebräischen Namens Michael, was so viel heißt wie Gott ähnlich, Gott nahe stehend. Sein Familienname ist übersetzbar mit Sturm oder rasender Wind. Michal ist ein Pferdedieb, hat keinen festen Wohnort, ist bereit, Seinesgleichen zu töten, um sich aus einer Notlage zu retten. Gleichzeitig hat er eine wunderschöne Gestalt, ist der schnellste Reiter, der beste Pferdedieb, der beste Liebhaber, der auch tiefe Gefühle empfinden kann. Erst in der dritten Geschichte erscheint ein österreichisches (kein bulgarisches! ) Mädchen, namens Sophie, als eine positive Gestalt. Sophie spricht seit dem Tod ihrer Mutter, also schon acht Jahre lang, nicht mehr. Das ändert sich, als sie am Ende der Erzählung von ihrem Vater als Geschenk eine Handtasche <?page no="149"?> Literarische Namen 139 bekommt und in der Gestalt des russischen Immigranten Nikolai die Liebe findet. Die Tasche symbolisiert Liebe und Schmerz zugleich. Sophie hat das Ziel, den Schmerz zu überwinden, indem sie die Liebe auskostet, weil nur auf diese Weise das Leben weitergehen kann. Dieser Frauengestalt hat der Autor unserer Meinung nach einen sehr passenden Namen gegeben, dessen Bedeutung den meisten Bulgaren bekannt ist. In der Übersetzung aus dem Griechischen lautet er heilige Weisheit. Auch die römisch-katholische Kirche kennt die Märtyrerin Sophia, die am 15. Mai gefeiert wird. Außer den Namen sind in dieser Geschichte die historischen Ereignisse interessant, die den Hintergrund der Erzählung bilden. Es geht um den Terror gegen linksorientierte Intellektuelle nach dem Attentat 1925, der die Idee von der Grauen erregenden Tasche bietet - sensationell, fantastisch, grausig. Der Autor wählt viele wichtige Geschehnisse aus der bulgarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts (und nicht nur) - die beiden Balkankriege, den Ersten Weltkrieg, das Attentat 1925 in der Kirche der heiligen Sofia. Sie werden in allen Erzählungen erwähnt, kritisch und/ oder ironisch eingeschätzt und als Ideenkern in die Erzählungen eingebaut. Obwohl Dinev in seinen Erzählungen keine persönlich erlebten Begebenheiten und Ereignisse verarbeitet, vermag er allein durch die persönliche Empfindung für die Umgebung und für die Atmosphäre die beabsichtigte Stimmung hervorzurufen. Der Name Sophie steht nicht zufällig im letzten Teil dieses „Triptychons“. Die Namen bei Dinev tragen zu einer zweiten, meistens intensiveren Suggestion bei, die aber nur für den bulgarischen Leser mühelos erkennbar ist. Die Helden der letzten und gleichzeitig kürzesten Erzählung im Band mit dem Titel „Kein Wunder“ sind drei Schwarzarbeiter aus Osteuropa: ein Tscheche, ein Rumäne und ein Moldawier. Für die Ziele dieser Arbeit ist der Name der Straße, wo der Tscheche in seiner Heimat gewohnt hat: Pobedastraße = Siegesstraße/ Straße des Sieges, von Bedeutung und die Situation, in der von dieser Straße die Rede ist. Der Tscheche Karel Nemetz hat früher in Italien gearbeitet. Mit seinem Vater und seinem Sohn hat er dort gearbeitet. Äpfel haben sie gepflückt. Schwere Arbeit sei das gewesen. Auf die Bäume hätten sie klettern müssen. Auf dem einen sein siebzigjähriger Vater, auf dem anderen sein zweiundzwanzigjähriger Sohn und in der Mitte er, Karel. Nicht nur die Männer der Familie Nemetz, alle Männer der Pobedastraße in Brno hingen in italienischen Apfelbäumen. Hinauf und hinunter hatte man sie gehetzt, für vier Euro die Stunde. Schlimm. Sehr schlimm (Dinev 2005: 185). Ein „Sieg“, der jemanden eine solche Erniedrigung völlig auskosten lässt, kann natürlich kein Sieg sein. Die Erzählung „Von Haien und Häuptern“ berücksichtigen wir nicht, nicht weil dort keine Namenvieldeutigkeit vorhanden ist (Blagovesta = frohe Botschaft; <?page no="150"?> 140 Antoaneta Mihailova/ Kalina Minkova Krastjo - abgeleitet von krast = Kreuz), sondern weil sie von der Emigrantenthematik ziemlich abweicht, ein Spiel der Fantasie darstellt, das mit historischen und geografischen Fakten bedenkenlos umgeht. Gleichzeitig möchte sie eine Idee der Glaubens- und Identitätssuche vermitteln, der es wegen der extremen Ausschweifungen an Überzeugungskraft fehlt. Festzustellen ist nur eine vage Verbindung mit der Thematik der anderen Erzählungen des Sammelbandes durch die Gestalt des siebzigjährigen Ukrainers Eugen Korablev, der im Wiener Stadtpark übernachtet. Thematisiert wird in dieser Erzählung wahrscheinlich das ewige Streben des Menschen nach mehr Kenntnis und Wissen, das nie gestillt wird. Seit jeher versucht der Mensch die Welt zu erforschen und zu ergründen, ihre Geheimnisse zu entdecken. Egal aber, was für Mittel dafür verwendet werden, die Versuche bleiben erfolglos. Dieses ungestillte Streben ist im Stande, verschiedene unangenehme Gefühle hervorzurufen, Schmerz, Scham, Angst, und könnte zu Irrtum oder Tod führen. Falls mit dieser Erzählung die Entstehung eines neuen Mythos beabsichtigt war bzw. die Nacherzählung eines schon vergessenen Mythos, so muss gesagt werden, dass diese Ansicht eher widerlegt wird. Sogar die Redewendung Du hast nur noch Haifische im Kopf (Dinev 2005: 147), von der der Autor behauptet, sie wurde aus der Situation geboren, in der ein russischer Fischer namens Pregorenko einer Hafendirne so verfallen war, dass er Freunde und Familie völlig vergaß, ist in keinem Wörterbuch zu finden. Ob sie überhaupt existiert und unter welchen Umständen sie verständlich ist, sei dahingestellt. 4 Fazit Dinevs Helden gehören den niedrigsten Gesellschaftsschichten an. Es sind Arbeiter ohne feste Arbeitsstelle, die bereit sind, in verschiedenen Berufen zu arbeiten, ohne unbedingt dazu ausgebildet zu sein. Es sind Zigeuner, die einerseits an ihren Sitten und Bräuchen hängen, andererseits durch die Umwälzungen in der Gesellschaft gezwungen sind, verschiedene Rollen zu übernehmen, um zu überleben. Es sind arbeitslose Emigranten auf ständiger Suche nach dem täglichen Brot. Es sind junge Menschen, die im Ausland studieren wollen, denen aber die notwendigen finanziellen Mittel dafür fehlen. Dinev zeigt, wie seine Helden, bulgarische Immigranten, in der unbekannten Umgebung im Ausland bei jedem Vorhaben scheitern, obwohl der Immigrant Dinev selbst sich in demselben Ausland erfolgreich durchgesetzt hat. Diese absichtliche Distanzierung des Autors von den realistischen Gestalten seiner Erzählungen steht im krassen Gegensatz zur bulgarischen Realität, zu den bulgarisch „sprechenden“ Namen, zu den bulgarischen Sitten und Kuriositäten, die die Struktur seiner Erzählungen ausmachen. Die sprechenden Namen Dinevs <?page no="151"?> Literarische Namen 141 lassen sich logischerweise von der Themenwahl herleiten. Das ändert aber nichts an der Schlussfolgerung, dass man außer bei den Namen Lazarus, Sophie und Schutt bei keinem anderen eine interkulturelle Botschaft feststellen kann, weil der Autor selbst ihre Bedeutung geografisch und sprachlich eingegrenzt hat. Leider schränkt diese Tatsache die Autorensuggestion für den deutschsprachigen Leser ein, was die präzise Wahl der Namen wie auch die sehr aufmerksam und gelungen überlegte Wort- und Ausdruckswahl bei Dinev entwertet. 5 Literatur Debus, Friedhelm (2004): Funktionen literarischer Namen. In: Sprachreport 1. S. 2-8. Elsen, Hilke (2007): Die Aufgabe der Namen in literarischen Texten - Science Fiction und Fantasy. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 147. S. 151-163. Lauer, David (2010): Wittgenstein und die Gewalt des Namens. http: / / www.geisteswis senschaften.fu-berlin.de/ we01/ mitarbeiter/ wimi/ dlauer/ docs/ DavidLauer_Wittgenstei nGewaltdesNamens_final_preprint.pdf (Stand: 20.02.2013). Strigl, Daniela (2009): „Ist dieser Balkan nicht pittoresk! “ http: / / www. cicero.de salon/ istdieser-balkan-nicht-pittoresk/ 45306 (Stand: 24.01.2012). Thurmair, Maria (2002): Eigennamen als kulturspezifische Symbole oder: Was Sie schon immer über Eigennamen wissen wollten. In: Anglogermanica online. http: / / epub.uniregensburg.de/ 25138/ 1/ thurmair1.pdf (Stand: 24.01.2012). Quellen Dinev, Dimitré (2005): Ein Licht über dem Kopf. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag. Wien. Interview (2012): Arnaudova, Olga: Interview mit Dimitre Dinev. http: / / www.ckcufm. com/ uploads/ pod/ litnews3pod69.mp3 (Stand: 05.05.2012). <?page no="153"?> Identitätswandel unter Sprachinselbedingungen Alexander Minor (Saratow) Zusammenfassung In diesem Beitrag werden einige wichtige Komponenten der ethnisch-kulturellen Identität der Volksgruppe der Wolgadeutschen und der Einfluss der Überdachungskultur und der Mehrheitssprache auf diese behandelt. Von 1764 bis 1941 lebten die Wolgadeutschen in Russland in geschlossenen Siedlungen, dann wurden sie grundlos der Kollaboration mit den deutschen Eindringlingen beschuldigt und in die östlichen Gebiete des Landes deportiert. Vor allem geht es um interkulturelle Kontakte in der Zeit bis 1941, da sich die Einflüsse des Russischen und der russischen Kultur auf die Kolonistensprache und -kultur dokumentarisch belegen lassen. Einige Gesichtspunkte werden mit der Gegenwart korreliert. Im Bereich der Namengebung werden Umstände erörtert, die sich auf die offizielle Namenpolitik in Russland ausgewirkt haben, und die Resultate dieser Politik dargestellt. Außerdem wird der Wandel auf dem Gebiet Sitten und Bräuche, im Verhältnis zur Natur und im Liedgut der Wolgadeutschen behandelt. 1 Geschichtlicher Rückblick Im Zeitraum zwischen dem letzten Viertel des 18. und Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich in Russland zwei große geschlossene Siedlungsgebiete der Russlanddeutschen etabliert, in denen eine neue, in der Welt bisher unbekannte landwirtschaftliche Kultur entstanden war. Das erste und älteste Gebiet lag an der Unteren Wolga mit dem Zentrum Saratow, das zweite, das im Zuge der weiteren Einwanderungen Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden war, lag am Schwarzen Meer. Bis zum Jahre 1870 entstanden dann noch weitere deutsche Sprachinseln; vor allem in der Westukraine und im Kaukasus. Die deutschen Kolonisten hatten in Russland unter Sprachinselbedingungen eine eigenartige kolonistische Kultur geschaffen. Im Beitrag geht es vor allem um die Kultur der Wolgadeutschen, die sowohl mitgebrachte deutsche als auch im Laufe der Zeit angenommene russische Elemente aufwies. Für den wolgadeutschen Bauern sei nach den Worten von Pfarrer und Lehrer Johannes Kufeld das Festhalten an allem Gestrigen typisch. Kufeld erklärt diesen Konservatismus der Kolonisten mit dem Übel der Unwissenheit bzw. der mangelhaften Bildung, die unstrittig zwar höher als bei den russischen Bauern, aber trotzdem längst nicht mehr zeitgemäß sei (Kuhfeld 2000: 19). <?page no="154"?> 144 Alexander Minor Jede Kolonie hatte in der Regel eine Kirche und eine Schule. Deren institutionelle Vertreter kümmerten sich um die geistige Entwicklung der Kolonisten und pflegten das Hochdeutsche. Da die einzelnen Kolonien ziemlich abgeschieden voneinander lebten und die deutschen Bauern praktisch keine regen Kontakte sowohl mit ihren russischen Nachbarn als auch mit ihren deutschen Landsleuten pflegten, kam es im 19. Jahrhundert zu keinem intensiven kulturellen Austausch unter ihnen. Der Einfluss der Geistlichen, die das Hochdeutsche beherrschten, konnte aus rein physischen Gründen (weite Entfernungen zwischen einzelnen Dörfern, schlechte Straßen u.a.m.) nicht ausreichend sein. Der russlanddeutsche Sprachwissenschaftler Dinges hat im Beitrag „Über unsere Mundarten“ sehr treffend den Zustand der Sprache der wolgadeutschen Bauern etwa in den 1920er Jahren charakterisiert. Er bezieht sich auf einen Pastor, der aus Livland stammte und der Meinung war, dass „die Sprache der deutschen Bauern an der Wolga gar keine richtige deutsche Sprache sei, sondern eine verdorbene, platte Sprache, ein Plattdeutsch, und das niemand in Deutschland so spreche oder jemals gesprochen habe“ (Dinges 1923: 60ff.). Unter solchen Umständen konnten in den wolgadeutschen Kolonien weiterhin der Aberglauben und die zahlreichen Mundarten bestehen (Minor 2011: 140ff.). Die wolgadeutschen Kolonien existierten in der russischsprachigen Umgebung bis zum Jahre 1941. Kurz nach dem Beginn des Krieges wurden alle Wolgadeutschen in die östlichen Regionen des Landes deportiert. Die zwanghafte Aussiedlung aus ihren Heimatorten an der Wolga und die zerstreute Ansiedlung in Sibirien und Kasachstan sowie das allgemeine Verbot ihrer Muttersprache in der Öffentlichkeit und das Fehlen von Bildungseinrichtungen, in denen sie in ihrer Muttersprache lernen konnten, waren Gründe dafür, dass die natürliche Genesis der deutschen Sprache abgebrochen und die Muttersprache allmählich aufgegeben wurde. Das Russische war zum wichtigsten Kommunikationsmittel der Wolgadeutschen in der Öffentlichkeit geworden. Diese Tatsache wirkte sich auf den Inhalt ihrer ethnisch-kulturellen Identität aus. Durch die zerstreute Ansiedlung verengte sich der Kommunikationsradius der deutschen Muttersprache bis auf den familiären Kreis. Einige Ausnahmen waren die älteren deutschen Siedlungen in Sibirien und im Altai, aus denen die Deutschen nicht deportiert wurden. Auf diese Weise wurde die Muttersprache als Instrument der Identitätsbildung und Identitätserhaltung praktisch ausgeschlossen. Mit der Aussiedlung begann auch die Zeit des Schweigens der wolgadeutschen Schriftsteller und Dichter. So konnte zum einen die Muttersprache der Deutschen in Russland auch nicht durch die Schriftsprache der deutschen Intellektuellen unterstützt werden, da die meisten von ihnen im Gulag und in der <?page no="155"?> Identitätswandel unter Sprachinselbedingungen 145 Arbeitsarmee umkamen. Und zum anderen war die Literatur als identitätsbildendes Instrument aus dem Leben der Wolgadeutschen auch praktisch ausgeschlossen. Erst 1956 begann sich die Situation der Russlanddeutschen allmählich zu bessern. Die erste deutschsprachige Zeitung im Altai durfte erscheinen, später wurde die Zentralzeitung der Sowjetdeutschen „Neues Leben“ in Moskau gegründet, Schulen mit muttersprachlichem Deutschunterricht wurden gegründet, erste literarische Werke, die „linientreu“ waren, durften erscheinen; dies war schon eine Verbesserung im Vergleich zu früheren Jahren. In den Studien zum Stand der Sprache der Wolgadeutschen vor ihrer Deportation (Minor 2012: 28-34) wird betont, dass Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts an der Wolga in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen alle Bedingungen vorhanden waren, die zur Herausbildung einer ziemlich einheitlichen Verkehrssprache beitragen konnten. Es gab ein wohlstrukturiertes Bildungsnetz, das aus Kindergärten, Grund- und Mittelschulen, Technika (technische Fachschulen) sowie zwei Hochschulen bestand. Es gab deutschsprachige Zeitungen und deutsches Radio, einige deutsche Theater, darunter das Republikanische Theater in Engels. Die Schriftsteller durften einen Schriftstellerverband gründen. Der Staatsverlag in Engels gab nach German (1994: 212) viele deutsche Lehrbücher und Werke der schöngeistigen Literatur heraus. Als Amtssprache durfte Standarddeutsch benutzt werden. Die meisten Orte hatten ihre alten deutschen Namen zurückbekommen. Auf diese Weise entstand an der Wolga ein ziemlich kompaktes Gebiet, wo die deutsche Sprache und die deutsche Kultur gepflegt werden konnten, wo Deutsch das wichtigste Kommunikationsmittel war. Das war wahrscheinlich die günstigste Zeit für die Entwicklung des Deutschtums in Russland. Die vielen Mundarten hatten durch den Einfluss der Massenmedien, der Bildungseinrichtungen, des Kinos und des Theaters allmählich ihre primären Merkmale aufgegeben und die neue standarddeutsche Aussprache und den neuen Wortschatz aufgenommen. Das lässt sich durch zahlreiche Interviews mit Wolgadeutschen belegen, die vom Autor in den 90er Jahren aufgenommen wurden. Besonders intensiv schritt der Prozess des Wandels der Dialekte zu Halbdialekten, städtischen Koines und Hochdeutsch bei den Akademikern voran, da die Studiengänge an den deutschen Bildungseinrichtungen in der hochdeutschen Sprache angeboten wurden. <?page no="156"?> 146 Alexander Minor 2 Bereiche der interkulturellen Kontakte 2.1 Wandel der Identität Bei der Behandlung des Begriffs Identität im Allgemeinen und der ethnisch-kulturellen Identität im Einzelnen sollte man nach Mader (2013: 12) zwischen personaler, subjektbezogener Identität und kollektiver, gruppenbezogener Identität unterscheiden. Ferner ist zu berücksichtigen, dass Identität nach Straub (1998: 73-104) ein gebildetes Konstrukt ist, das sich auf Wissen, Bewusstsein und Reflexionen gründet. Außerdem wird in der einschlägigen Literatur betont, dass Identität als eine Praxis der Differenz gesehen werden kann (Assmann/ Friese 2002: 11-23). Nach Phinney (2013) ist die kulturelle Identität „ein komplexes dynamisches Zugehörigkeitsgefühl zu einer oder mehreren Kulturgruppen einschließlich der Werte, Einstellungen und Bedeutungen, die mit einem Zugehörigkeitsgefühl zu diesen Gruppen verbunden sind. Sie definiert die Art und Weise, wie Einzelpersonen sich selbst in Beziehung zu unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen wie der ethnischen Zugehörigkeit und Nationalität positionieren oder identifizieren, in denen sie leben. Sie umfasst viel mehr als die Selbstkategorisierung oder das Etikett, das man zur eigenen Identifizierung als Finne, Vietnamese oder mexikanischer Amerikaner verwendet“. In der russischen linguistischen Literatur zu Identitätsfragen wird betont, dass man unter der ethnischen Identität die ethnische Orientierung einer Volksgruppe bzw. eines Volkes versteht. Vor allem wird angenommen, dass die ethnische Identität aus der kognitiven und der affektiven Komponente besteht (Stefanenko 1999: 223ff.). Dazu gehört zum einen das Wissen über andere ethnische Gruppen, das heißt das Wissen über die eigene und die fremden ethnischen Gruppen, über ihre Geschichte, ihre Sitten und Bräuche, die Besonderheiten ihrer Kultur. Und zum anderen gehört dazu ihre ethnische Selbstbezeichnung. Auf der Grundlage dieser Kenntnisse bildet sich mit der Zeit eine Gesamtheit von ethnisch-differenzierenden Merkmalen. Unter den letzteren ragen solche Merkmale wie Sprache, Werte und Normen, historisches Gedächtnis, Religion, das Bild von der Heimat, die Mythen von den Vorfahren, Märchen und Sagen, der nationale Charakter, Volkskunst, Folklore und viele andere heraus. Darunter können auch Gegenstände der materiellen Kultur sowie Begriffe sein, die auf den ersten Blick ganz unwesentlich zu sein scheinen. Mit der Zeit und unter Einfluss einer oder mehrerer Überdachungskulturen und Sprachen können diese ethnisch-differenzierenden Merkmale einen Wandel durchmachen, wobei sich die neuen Konstellationen wesentlich auf die Gesamtheit dieser Merkmale und ihre Beschaffenheit auswirken können (Stefanenko 2013). <?page no="157"?> Identitätswandel unter Sprachinselbedingungen 147 Eine unabwendbare Folge der interkulturellen Kontakte einer Volksgruppe ist in der Regel der allmähliche Wandel ihrer ethnisch-kulturellen Identität, der je nach den Konstellationen mehr oder weniger intensiv vor sich geht. Die Deutschen wanderten in einigen Wellen in das Zarenreich ein. Die Ansiedlung der Auswanderer aus vielen deutschen Ländern an der Wolga und ihren Nebenflüssen (1764-1767) hat den angekommenen Kolonisten ihre Selbstbezeichnung gegeben, von nun an identifizierten sie sich als Wolgadeutsche. Diese Volksgruppenbezeichnung haben auch die nach 1874 aus Russland nach Argentinien und in andere amerikanische Staaten ausgewanderten Wolgadeutschen inoffiziell beibehalten (Kopp 1957: 369-379). Die meisten Nachkommen der deutschen Kolonisten, die bis zur Deportation an der Wolga lebten, nennen sich heute noch Wolgadeutsche, obwohl sie schon in Sibirien oder in Kasachstan geboren wurden. Ethnosoziologischen Forschungen von Smirnova zufolge sieht das ethnische Selbstbewusstsein der Russlanddeutschen heute wie folgt aus: Sie empfinden sich in erster Linie als Deutsche. Nach dem Ansiedlungsort nennen sie sich Sibiriendeutsche, Altaideutsche, Wolgadeutsche, ukrainische Deutsche, Wolhyniendeutsche, Petersburger Deutsche, Moskauer Deutsche. Nach dem Geburtsort ihrer Eltern empfinden sie sich als Wolgadeutsche, Schwarzmeerdeutsche, Krim- oder Wolhyniendeutsche, Moskauer oder Petersburger Deutsche. Nach ihrer Sprache identifizieren sie sich als Schwaben, Hessen oder Franken. Manchmal bezeichnen sie sich als Lutheraner, Katholiken oder Mennoniten (Smirnova 1996: 488f.). In der Zeit der Sowjetunion wurden die Deutschen im Land offiziell als Sowjetdeutsche bezeichnet, aber als Selbstbezeichnung hatte sich dieses künstlich gebildete Ethnonym nicht behaupten können. Seit der Perestroika-Zeit gelten wieder die alten Bezeichnungen Wolgadeutsche und Russlanddeutsche sowohl offiziell als auch inoffiziell. Eine weitere Identifizierung der Wolgadeutschen basiert auf der Bezeichnung der beiden größeren Ansiedlungsgebiete an der Wolga. Mit der Zeit haben sich die Toponyme die Bergseite (das rechte Ufer) und die Wiesenseite (das linke Ufer) der Wolga durchgesetzt. Die meisten Kolonien wurden an den kleineren und größeren Nebenflüssen der Wolga angelegt: am Großen Karaman, am Karamisch, am Jeruslan, an der Ilowlja, an der Grjasnucha und anderen Flüssen. Das war der Grund für eine weitere Identifizierung der Kolonisten. Das Leben an diesen Flüssen und ihre Namen wurden und werden in Gedichten und in der Prosa der wolgadeutschen Dichter mit Sehnsucht nach der verlorenen Heimat besungen. So schreibt Reinhold Keil (1982-1984: 99) in seinem Gedicht „Spätes Wiedersehen“: „An meinen Jeruslan kam ich wieder / ´s war d´r alte Jeruslan noch, / doch uf dr Gass´ die naie Lieder / klinga en ´ra fremde Sprouch.“ Das Leitmotiv „dort, wo meine Wiege stand“ ertönt in vielen Dichtungen der wolgadeutschen Schriftsteller und in der Volkspoesie, und das ist ein Bekenntnis zu ihrer kleinen <?page no="158"?> 148 Alexander Minor Heimat an der Wolga. Das Motiv des langersehnten Wiedersehens mit der Heimat, die metaphorisch mit der Wolga verflochten ist, kommt am deutlichsten im Lied „Schifflein“ zum Ausdruck: „Schifflein, ach Schifflein, / Schifflein auf blauer Flur, / schaukle, schaukle, / schaukle der Heimat zu“. Der wolgadeutsche Dichter Waldemar Ekkert (Djatlova 2011: 395f.) schildert in einem Gedicht den Verlust der Heimat, seines Heimatdorfes an der Wolga: „Und manchmal sehe ich den schwersten aller Träume: / Ich such mein Elternhaus, das ich nicht finden kann. / […] Und ich schrei auf im Traum! / […] Und du, mein Köppental, / Dich grüß ich tausendmal.“ 2.2 Naturempfindung als Identitätsmerkmal Da die meisten Kolonisten Bauern waren, spielte die Natur in ihrem Leben eine besonders wichtige Rolle. Land und Klima an der Wolga unterschieden sich grundsätzlich von denen in Deutschland, deshalb kam die Liebe zur Wahlheimat, zu ihrer Natur erst viel später, als sich die Kolonisten hier schon einigermaßen eingelebt und an das raue Klima gewöhnt hatten. Im Versepos „Das Lied vom Küster Deis“ schildert David Kufeld einige Bilder aus dem Alltag der Kolonisten in den ersten Jahrzehnten ihres Lebens in der neuen Heimat: Wo bei Sturm die Hexen toben, / auf dem Kirchturm tanzen oben, / Reisende vom Wege führ´n, / Pferde in den Ställen reiten, / klopfen wütend an den Tür´n; / Die Vampir‘ mit grünen Augen / an den jungen Müttern saugen, / und der Alp die Männer drückt, / und die alten Weiber brauchen, / wenn ein Wiegenkind erstickt […] (Minor 2011: 81). In diesem Auszug wird der Aberglauben geschildert, der praktisch für alle Bauern christlichen Glaubens typisch war, und das beweist das gemeinsame Empfinden der unbekannten und unerklärlichen Naturerscheinungen, das in der Urzeit angesetzt ist (Minor 2006). In demselben Poem finden sich aber auch Bilder aus der späteren Zeit, wo die Wolgadeutschen ihre neue Heimat schon kennengelernt und liebgewonnen haben. Da sieht man Ehrfurcht, Liebe und Treue der Bauern der Natur gegenüber, die sie umgibt: Aus den fernen Wolgawiesen / wehten leise milde Brisen; / Tief versteckt im Blütentraum / des geheimnisvollen Gärtchens / sang ein Vögelchen im Traum. / […]. / Plötzlich durch die Macht der schönen / Nacht brach Deischen aus in Tränen, / süß erwürgt vom heil ‘gen Schmerz. / Zitternd schlug in seinem Brüstchen / laut das große treue Herz (Engel-Braunschmidt 1993: 62f.). <?page no="159"?> Identitätswandel unter Sprachinselbedingungen 149 Das Element Natur widerspiegelt sich in vielen poetischen und prosaischen Werken der wolgadeutschen Dichter. Bezeichnend für das Bekenntnis zur neuen wolgadeutschen Identität ist das Poem in prosaischer Form „Die Wolgasteppe“ von Reinhold Keil (1982-1984: 78f.). Die Schönheit der Steppe nimmt mit dem Jahreszeitenwechsel zu: Schön ist sie im Vorfrühling, wenn sie mit einem filzdichten, saftigen, smaragdgrünen Grasteppich überzogen, von tausendfachem silberklaren Lerchengesang durchschmettert ist. Herrlich ist sie, wenn sie Anfang Mai über und über mit einem farbenreichen, blau-rot-weiß-gelben Tulpen- und Lilienflor überstreut ist und ihren wundervollen Wohlgeruch nach allen Seiten hin ausströmt […]. Im Juni wogt und wiegt der Erntesegen auf den Feldern, dass einem das Herz vor Freude lacht. Etwas später während der Grasmahd und Ernte saust und furrt die Steppe, und die unzähligen Garbenhaufen stehen da in Reih und Glied wie die Soldaten. Im Spätsommer ist sie so kahl und blank wie die flache Hand, während man am Horizont nur die Luftwellen flimmern und in der Ferne hin und wieder Trappenherden grasen sieht. Und im Winter ist sie erhaben und schauerlich-großartig, wenn der Schneesturm über sie braust, wenn er in wütender Wucht dahinströmt, alles vernichtend, was ihm in den Weg kommt. Der Autor (1982-1994: 79) findet eine ganz simple Erklärung, warum man die Steppe liebt: weil man hier geboren und aufgewachsen ist: Aber man muss in der Wolgasteppe geboren sein, darin gelebt haben, um ihren vollen Reiz zu kennen; man muss ihre Weite mit dem eigenen Auge aufgenommen, mit jedem Atemzug eingesogen haben, um ihre Zauberkraft, ihre überwältigende Macht zu erfassen. Und wer diese Macht über sich hat ergehen lassen, der ist auf ewig an die Wolgasteppe gekettet, der ist und bleibt in ihrem Zauberbann. Diese Verbundenheit mit der neuen Heimat, die Liebe zu ihr, der Verlust der Wolgaheimat wurden zu einem der führenden Motive im Schaffen der wolgadeutschen Literaten nach der Deportation. Es sei nur auf einige Überschriften ihrer Gedichte hingewiesen: „O teure Heimat …“ von August Lonsinger, „Daheim“ von Peter Sinner, „Heimweh“ von Victor Klein. Andere Titel sind zum Beispiel: „Daheim“, „Heimweh“, „Spätes Wiedersehen“ von Reinhold Keil und viele andere. Der Einfluss der Überdachungskultur und der russischen Sprache auf den Wandel der Identität manifestiert sich auch in Sprichwörtern und Redensarten, in Schwänken und Liedern, im Brauchtumsdiskurs, also in allen sprachlichen Formen, die das Leben der Deutschen in der neuen Heimat begleiteten. Besonders wichtig, ja überlebensnotwendig war für die Bauern das Wissen über das Wetter. Die Wolgadeutschen sind in eine Gegend gekommen, die in <?page no="160"?> 150 Alexander Minor Bezug auf das Wetter keiner Region in Deutschland ähnlich war. Peter Sinner (1922: 122-124) beschreibt sie folgendermaßen: Die weite Wolgasteppe ist in klimatischer Hinsicht unstet und unberechenbar, wie vielleicht kein zweites Steppengebiet auf unserem Planeten. Einmal schüttet sie ihre Reichtümer gleichsam aus einem Füllhorn, übermütig und verschwenderisch über ihre Bewohner aus: herrliche Ernten an Getreide, Obst, Gemüse, Heu, bewirkt durch große Schneemassen im Winter und reichliche Regen und milde Wärme im Sommer. Das andere Mal zeigt sie nur, was sie könnte, wenn sie wollte: im Frühling ein Wachsen und Sprossen, ein Treiben und Blühen, dass sich das Auge nicht genug freuen kann; nach reichlichen Winterniederschlägen wechselt häufiger Regen mit gedeihlichem Sonnenschein; auf einmal setzt dann unerträgliche Hitze und Dürre mit Höhenrauch ein, und in wenigen Tagen ist die ganze Herrlichkeit dahin - verwelkt, verdorrt, verbrannt [ ...]. Ein drittes Mal bringt schon der Winter keinen Schnee und der Frühling keinen Regen. Dann liegt die Wolgasteppe schon im Mai als öde Wüstenei da […]. Das unberechenbare Wetter hatte sich auch auf die Kleidung der Kolonisten ausgewirkt. Einiges Praktisches haben die Kolonisten von den russischen Bauern übernommen. So ist der Kaftan (so etwas wie eine lange Jacke) entstanden, den man sich für alltägliche Zwecke oder für den Besuch des Jahrmarkts in der nächsten Stadt angeschafft hat: Karotzker Kaftan (Ditz 1997: 381) (vom russischen Wort gorodskoj kaftan). Für den Winter hatte man sich lange Schafpelze schneidern lassen, dabei wurde der Schneider in ein Wirtschaftshaus eingeladen, wurde von der Familie versorgt, ihm wurde eine Schlaf- und Arbeitsgelegenheit eingerichtet. Auf diese Weise lebte er, solange er brauchte, um die ganze Familie mit Schafpelzen oder anderer Kleidung auszustatten. Diese Kleidung konnte man sich im Deutschland jener Zeit kaum vorstellen. Unter solchen Bedingungen hatten auch die aus Deutschland mitgebrachten Bauernregeln ihre Gültigkeit verloren. Der Bauer musste seine Beobachtungsgabe schärfen, um sich das ganze Arsenal an Mitteln, die an der Wolga das Wetter vorhersagen konnten, aufs Neue aufzubauen. Es ist anzunehmen, dass dabei interkulturelle Entlehnungen nicht ausbleiben konnten. Im 1. Friedensboten-Kalender auf das Jahr nach Ch. Geburt 1908, erschienen in Talowka bei Saratow, sind Bauernregeln für jeden Monat angeführt. So heißt es unter anderem: Januar warm, dass Gott erbarm. Viel Regen, wenig Schnee tut Ackern und Bäumen weh. Ein feuchter März ist der Bauern Schmerz. Heiterer März ist der Lämmer Scherz. Trockener März, nasser April, kühler Mai, füllet Keller, Boden und macht viel Heu. Blüte schnell und ohne Regen, verspricht beim Obste reichen Segen. <?page no="161"?> Identitätswandel unter Sprachinselbedingungen 151 Brachmonat [Juni - A.M.]) allzu nass, leert Scheunen und Fass. Mariä Himmelfahrt Sonnenschein, bringt viel und guten Wein. In den Schwänken wurden zunehmend Motive aus dem Leben unter neuen Bedingungen, aus dem Kontakt mit den nichtdeutschen Nachbarn übernommen. In ihren Inhalt wurden handelnde russische Personen eingeführt, jedoch waren die Bilder der Fremden nicht nationalistisch. In keinem Schwank würde man etwas finden können, das die Russen kränken könnte. Obwohl die Kolonisten ziemlich abgeschieden von ihren russischen Nachbarn lebten, konnte der Einfluss der russischen Kultur und Sprache nicht vermieden werden, besonders nach den Russifizierungsmaßnahmen des Zaren Alexander III. von 1874, die unter die Kolonisten eine politische Verstimmung gebracht hatten. Die Selbstverwaltung wurde aufgehoben, die allgemeine Wehrpflicht wurde eingeführt. Der Russischunterricht in den Schulen wurde erweitert. Die russische Sprache gewann immer mehr an Prestige. Sie war nun als Kommunikationsmittel im Wehrdienst notwendig geworden. Von einem, der Russisch sprechen konnte, hieß es „er kennt die Sprouch“. Über einen jungen Mann, der in der Stadt eine Bildungseinrichtung besucht hat, sagte man „er ist ein Stutierter“. 2.3 Einfluss der russischen Kultur auf die Namen der Kolonisten Das Prestige der Überdachungssprache und die zunehmenden Kontakte zu den Nachbarvölkern färbten sich auch auf den Gebrauch der Vornamen der deutschen Kolonisten ab. Sie wurden immer häufiger auf russische Art und Weise zusammen mit dem Vatersnamen verwendet. Besonders angesehene Leute im Dorf nannte man nicht einfach Vetter Heinrich, sondern Andrej Iwanowitsch. In der Amtspraxis in der Wolgadeutschen Republik wurden die Namen in die Geburtsurkunden zwar ohne das russische Patronymsuffix -witsch bzw. -owna eingetragen, sondern der Vatersname wurde durch die Form des Genitivs angegeben, z.B. Filipp des Jakob Schreiner. Untereinander nannten sich die Bauern nach wie vor auf die alte vertraute Weise Philipp-Vetter, Vetter Manel, Wäs oder mit Varianten je nach dem Dialekt Bäs, Bäsle: zum Beispiel Sofibäsele oder Sophiebäsle wie in „Sophiebäsle und die neie Moß“ - Titel einer Humorgeschichte von Hermann Bachmann (1974) aus seinem Buch „Kolonischtegschichtla“. Die zunehmenden interkulturellen Kontakte beeinflussten die deutschen Namen immer mehr. Dieser Einfluss gestaltete sich in folgende Richtungen. Deutschen Namen wurden russische diminutive Suffixe angehängt, wie zum Beispiel Andrej - Antrjushe, Truschje (Andrjuscha), Kunrat, Kondrat - Kondraschke, Karl - Karlusche u.a. Von den deutschen Namen wurden russische diminutive Rufformen abgeleitet: Alexander - Sascha ‒ Saschje, Adolf, Adam - Adik, Ädik, Jakob - <?page no="162"?> 152 Alexander Minor Jaschje, Wilhelm - Wasje. Deutsche Namen, die ihre Entsprechungen im Russischen hatten, wurden in russische Namen verwandelt: Johannes - Iwan, Oswald - Iosif, Reinhold - Roman, Heinrich - Andrej, Friedrich - Fjodor, Emilie - Ludmila, Wilhelmine, Mine - Nina u.a. Die zunehmenden interkulturellen Kontakte und die disperse Ansiedlung der Deutschen in Russland sowie das praktische Verbot des Deutschen in der Öffentlichkeit haben zu einer weiteren Assimilation der Wolgadeutschen geführt. Deutsche Namen wurden den Kindern immer seltener gegeben. Man bediente sich lieber russischer oder internationaler Namen. Als Beispiel können die Namen der Kinder angeführt werden, die in einer katholischen Familie von 1933 bis 1959 geboren wurden: 1933 bis 1941 vier Kinder: Ewald, Viktor, Oswald, Reinhold. Nach dem Krieg haben in dieser Familie noch fünf Kinder das Licht der Welt erblickt: Wassilij, Alexander, Josip, Lidija und Wladimir. Die Tendenz ist eindeutig. 2.4 Interkulturelle Kontakte im Bereich der Sitten und Bräuche Die Folgen der interkulturellen Kontakte haben sich auch auf Sitten und Bräuche der Wolgadeutschen ausgewirkt. Besonders deutlich sieht man den Wandel der Identität der Wolgadeutschen im Hochzeitsdiskurs. Der deutschen Hochzeit an der Wolga ging in der Regel die Einladung der Hochzeitsgäste durch die Hochzeitsbitter voran. Das waren gewöhnlich zwei redegewandte Männer, die die Häuser der Reihe nach besuchten und ihre gereimte Einladung vortrugen. Ende der 1920er Jahre wurden einige Expeditionen in den wolgadeutschen Dörfern unter der Leitung von Georg Dinges unternommen, deren Aufgabe es war, mundartliches Material zu sammeln. Dieses Material sollte dann aufgearbeitet und als Lehrmittel in den Schulen im Heimatkundeunterricht verwendet werden. Eine Sammlung der Hochzeitseinladungen ist im Buch „Andreas Dulsons ethnolinguistische Studien“ zu lesen (Minor 2011: 178ff.). Die Anführung des vollen Textes einer Hochzeitseinladung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, denn der vollständige Text konnte aus 130 Zeilen bestehen, aber einige Zeilen sind hier doch angebracht. Das ist der Text von Vetter Jakob („feddr Jaschke“) aus der Kolonie Preiß: Got kris aich, eir liwe lait, / meir prenge aich aine naie frait: / Praut un praidigam habn uns gsant, / das seit eir hir an schtok un bant. / / Meir komn gegangn un nicht geridn, / wole aich tsur hochtsait bidn. / / Eir sait ale gants heiflich aingeladn / fon den härn hochtsaidrn: / Peidr frits un Andan Minor. Diese Texte beweisen mindestens zwei Tendenzen in Bezug auf die Sprache und Identität der Wolgadeutschen. Einmal zeugen sie davon, dass die alten Sitten <?page no="163"?> Identitätswandel unter Sprachinselbedingungen 153 und Bräuche der Wolgadeutschen auch noch Ende der 1920er Jahre lebendig waren, das heißt nach den grundsätzlichen Wandlungen, die die Oktoberrevolution 1917 mit sich gebracht hatte. Bis zur Kollektivierung der Landwirtschaft wurden üppige Hochzeiten gefeiert. Es gab Hochzeitsbitter, die mit Stock und Hut die Gäste einluden. Bei der Beschreibung des künftigen Hochzeitsmahls wurde in den Einladungen gewöhnlich stark übertrieben und der Ironie freier Raum gegeben: „alle Kübel sind voll vom Branntwein, ein Kalb von sieben Wochen hat dreißig Pud [1 Pud = 16 Kilo - A.M.] fast ohne Knochen, im Keller liegt ein starkes Bier, glaubt nur, mir graut es selbst dafür“ u.v.a. Auch wenn in den Texten russische Wörter vorkamen, bezeichneten sie Speisen, die die Deutschen von den Russen übernommen hatten: Dule (eine Birnensorte, die an der Wolga weit verbreitet ist), Salawalnik (Weinschenker), Kwas (ein russisches süßsaures Getränk), Kopn (Heuhaufen): „Kesselkuchen in einer Reih, die sitzen da wie Kopn Heu“. Die übrigen Namen der Gerichte, die in den Einladungen vorkommen, beweisen, dass der deutsche Bauer an der Wolga an seinen traditionellen Speisen festhielt: Merbekuchen, Bier, Fleisch, Bratwurst, Spanferkel, Honig, Branntwein, Schnaps, Hirsebrei, Galra, fauler Käse, Tee, Kaffee, Nudelsuppe, Klöße u.a. Im Unterschied zur russischen Hochzeit wurden bei den Kolonisten auf der Hochzeit Musikinstrumente gespielt mit Bezeichnungen wie Dudelsack, Hackbrett, Geige, Pfeife, Trompete, Schermete, Flöte. Zum anderen enthalten diese Wörter schon Hinweise auf den Wandel der Sprache und der Identität der Wolgadeutschen. Mit der Oktoberrevolution 1917 begann die atheistische Propaganda, die weder orthodoxe noch katholische oder lutherische Kirchen und Geistliche verschonte. Alte Hochzeitsbräuche, die mit der Kirche verbunden waren, gingen zurück. Es wurden sogenannte Komsomolzenhochzeiten (Komsomol = kommunistischer Jugendverband) gefeiert. Der Segen vom Pater konnte nicht mehr eingeholt werden, weil die meisten Geistlichen verhaftet oder ausgesiedelt wurden. Die Kirchen wurden geschlossen und zu anderen Zwecken umfunktioniert. Der traditionelle Lebenslauf der Bauern wurde zwangsweise geändert, ihre Äcker und Haustiere wurden zum Gemeineigentum der Kolchose, das heißt der Kollektivwirtschaft übergeben. 2.5 Entwicklung des Liedguts der Kolonisten unter Sprachinselbedingungen Die Lieder eines Volkes sind wichtige Dokumente, aus denen man viel über die Mentalität dieses Volkes, seine Geschichte, seine Lebensweise erfahren kann. Das Liedgut der Wolgadeutschen ist ziemlich gut erforscht (Schünemann 1923, Vindgoľc 1996 u.a.). Es ist interessant und aufschlussreich zu sehen, wie die interkulturellen Kontakte den Inhalt, die Struktur und die Melodie der Lieder beeinflusst haben. Vor allem sind es kolonistische Lieder, die an der Wolga im 19. <?page no="164"?> 154 Alexander Minor und 20. Jahrhundert entstanden sind. Die Thematik der meisten Lieder ist mit dem Leben und den wichtigsten Ereignissen der Kolonisten verbunden. Unter den kolonistischen Liedern finden sich viele mit politischem Inhalt. So reagierte ein anonymer Autor auf die Liquidation der Privilegien, die im Manifest der Kaiserin Katharina II. proklamiert und 1874 von Zar Alexander III. aufgehoben wurden, mit dem Lied „Manifest“, das sehr schnell in allen russlanddeutschen Kolonien gesungen wurde: Das Manifest der Kaiserin, / es dachte nach den Deutschen hin: / sie sollten pflanzen Brot und Wein / und sollten auch Kolonisten sein. / / Wir verließen unser Vaterland / und zogen in das Russenland. / Die Russen hab´n uns sehr beneid´t, / und weil wir waren so lang befreit, / / So brachten sie´s dahin mit List, / dass wir nicht mehr sollten sein Kolonist./ Ei keine Kolonisten sind wir mehr / und müssen tragen das Gewehr. / / Ja, was doch durch den Neid geschieht! / Hat man das Manifest vernicht! / Wir stammen aus dem Deutschen Reich, / und jetzt sind wir den Russen gleich. Das Singen und die Lieder der Wolgadeutschen weisen auch in der Tonfärbung und Klangfarbe russischen Einschlag auf. Schünemann (zitiert nach John 2003: 133-161) charakterisiert die Vortragsweise der Wolgadeutschen wie folgt: „Der Wolgadeutsche hat sich den Stimmklang der russischen Bauern angeeignet sowie auch alle Manieren, die den russischen Vortrag bestimmen. Er variiert und koloriert, schwelgt in den höchsten überhaupt erreichbaren Höhen, dehnt und verschleppt das Zeitmaß und gibt sich ganz dem elegischen Ton hin, der so viele russische Weisen durchzieht.“ Unter dem Einfluss der interkulturellen Kontakte sind bei den Wolgadeutschen auch neue Formen der Lieder entstanden, gemeint sind die sogenannten Scherzreime (častuški). Sie wurden zu bestimmten Anlässen gereimt und hatten einen humorvollen oder scherzhaften Inhalt: Hast du nicht mein´ Mann g´sehe / hast ´n nicht sehe reite? / Hat ein blau Kartüschen an / und Schnupftuch auf der Seite. / / Ja, ja ich hun ´n gesehe, / hun ihn sehe reite. / Driewe in der Retschka-Gass hängt er auf der Weide. / / Driewe kommt ein Mann gefahre / mit der Rukawiza, / hot ´n zerrissenes Pelzje an. / Eto ne goditza. / / Uns geht es gut, uns geht es gut, / mir lewe ohne Sorge, / wenn die Leit zu Mittag esse, / esse mir zu Morge. / / Ich habe eine Tante, / die wohnt in Altenau. / Sie nimmt´s mit ihrer Wirtschaft / ja gar nicht so genau. / / Mit einem Eimer Wasser / wascht sie das ganze Haus, / und was davon noch übrig bleibt, / kocht sie noch Borschtsch daraus. Oft enthalten die Texte der Scherzreime russische Wörter, wie in den angeführten Beispielen: Kartüschen (Kartus - Schirmmütze), Rukawiza - Handschuh, Retschka - Fluss. Eto ne goditza - das geht nicht, das schickt sich nicht. Borschtsch - eine russische Krautsuppe mit Rote Beten. <?page no="165"?> Identitätswandel unter Sprachinselbedingungen 155 Russische Wörter wurden auch in andere Lieder eingeflochten. Darauf hat schon Schirmunski (1992: 297) hingewiesen. Er nannte sie „makkaronische“ deutschrussische „Mischlieder“. Dem Inhalt nach sind sie wohl nicht unter den Kolonisten, sondern in kleinbürgerlichen städtischen Kreisen entstanden. Diese Lieder erfreuten sich unter den Kolonisten einer großen Beliebtheit und waren in den abgelegensten Gebieten deutscher Siedlung in stark abweichenden Fassungen bekannt, zum Beispiel das bekannte „Sommerlied“: „Die angenehme Sommerzeit / ist selten hier tjeplo [warm - A.M.]. / Doch zum Ersatz ist das dafür / die Nächte durch swetlo [hell - A.M.].“ 3 Schlussbemerkungen Abschließend wäre es wichtig, noch kurz auf den deutschen Einfluss auf die Russen einzugehen. Besonders intensiv haben sich die Kolonien im 19. Jahrhundert entwickelt. Die wichtigsten Richtungen der wirtschaftlichen Entwicklung waren der Tabakanbau, die Mehlindustrie, die Tuchherstellung, der Handel und andere. Weltberühmt waren die harten Weizensorten, solcher Weizen konnte nur unter den extremen Klimabedingungen an der Wolga gedeihen. Bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) jedoch hatte es für die russischen Bauern auch wenig Sinn, die landwirtschaftliche Arbeit der Deutschen nachzuahmen, denn sie besaßen kein eigenes Land und mussten ihren Frondienst beim Großgrundbesitzer leisten. Abgesehen von den wirtschaftlichen Leistungen der Kolonisten, die beachtlich waren, und worauf hier aus verständlichen Gründen nicht eingegangen werden kann, lohnt es sich, über den Einfluss der deutschen Kolonistenkultur zu reflektieren. Was die materielle Kultur der Kolonisten angeht, so gibt es heute in Saratow und anderen Wolgastädten viele Baudenkmäler, die im neuklassizistischen und pseudogotischen Stil von deutschen Architekten gebaut worden sind. Reste der kolonistischen Baukultur findet man heute in vielen ehemaligen deutschen Siedlungen an der Wolga. Das sind vor allem Wohnhäuser der wohlhabenden Kolonisten und Gebäude von Fabriken und Schulen. Auf dem Lande sind noch verfallene Gebäude von Kirchen und öffentliche Bauten zu sehen. Was die sprachlichen Einflüsse des Deutschen auf das Russische angeht, werden hier nur Wörter betrachtet, die für die Wolgaregion typisch sind. Aus der deutschen Kochkunst wurden von den Russen Gerichte übernommen und ihre Benennungen wie Kuchen (Kuch), Strudel, Streusel, Pfannenkuchen, Selz, Kartoffeln, Kröppel, Klöße u.a. entlehnt. Im Bereich der Kleidung sind in die russische Sprache Wörter wie Tuch und Sarpinka eingegangen. Das russische Wort lebeziť (untertänig schmeicheln) kommt vom deutschen Ich liebe Sie. Leider sind heute <?page no="166"?> 156 Alexander Minor einige Entlehnungen nicht mehr zu belegen, weil die Jugendlichen diese Wörter nicht mehr gebrauchen, die Zeugen jener Zeit sind fast alle nicht mehr am Leben. Abschließend kann festgestellt werden, dass sich die interkulturellen Kontakte auf beide Völker ausgewirkt haben. Zum 150. Jahrestag der Ansiedlung der deutschen Kolonisten an der Wolga (1914) schrieb Jakob Ditz (1997: 377) über den Wandel ihrer Mentalität unter den Bedingungen ihrer neuen Heimat, dass der Kolonist kein Deutscher im Sinne der alten Teutonen ist, aber auch kein Russe. Die Kolonisten sind eine neue, eigenartige Volksgruppe, die sich unter extremen Bedingungen behaupten konnte. Heute sind die meisten Wolgadeutschen nach Deutschland ausgewandert, wo sie sich Mühe geben, sich in die bundesdeutsche Gesellschaft zu integrieren. Das bringt einen neuen Identitätswandel mit sich. 4 Literatur Assmann, Aleida/ Friese, Heidrun (1999): Einleitung. In: Assmann, Aleida/ Friese, Heidrun (Hrsg.): Identitäten. 2. Aufl. Frankfurt am Main. (Erinnerung, Geschichte, Identität; 3). S. 11-23. Bachmann, Hermann (1974): Durch die deutschen Kolonien des Beresaner Gebietes. Kolonischtegschichtla. Bearbeitet und mit einem Vorwort versehen von Joseph Schnurr. Stuttgart. Dinges, Georg (1923): Über unsere Mundarten. Beiträge zur Heimatkunde des deutschen Wolgagebiets. Mit einer Karte und einer Tabelle. Pokrowsk an der Wolga. Ditz, Jakob (1997): Istorija povoľžskih nemcev-kolonistov. Moskva. Djatlova, Valentina (2011): Tema vojny v proizvedenijah nemcev Krasnojar‘ja (na materiale stihov V. Ėkkerta). In: Graždanskaja identičnosť i vnutrennij mir rossijskih nemcev v gody Velikoj Otečestvennoj vojny i v istoričeskoj pamjati potomkov. Materialy XIII meždunarodnoj naučnoj konferencii. Мoskva, 21-23 oktjabrja 2010. S. 395-396. 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Bei der Sichtung der Belege aus Belletristik und Informanten-Aussagen fällt auf, dass typische Äußerungsmuster - trotz prinzipiell gleicher Ausdrucksmöglichkeiten in beiden Sprachen - z.T. sehr unterschiedlich genutzt und bewertet werden. Zu den markantesten Unterschieden gehört die Verwendung von Handlungsanweisungen (imperativischen Äußerungen) und von Möglichkeitserkundungen (modalisierten Fragen). Da sich die Konzepte des Bittens und der Höflichkeit in beiden Kulturen nicht wesentlich unterscheiden, stellt sich die Frage, inwieweit die formale Gleichheit der Äußerungsmuster in diesen Fällen mit der pragmatischen Äquivalenz einhergeht. Die Analyse zeigt, dass die grammatische Bedeutung der Sprachelemente, d.h. die Bedeutung, die durch grammatische Kategorien getragen wird, sowie die noch transparente Etymologie bestimmter Lexeme zu einer unterschiedlichen pragmatischen Wirkung der entsprechenden Äußerungen führen. Wird dies in fremdsprachiger Kommunikation übersehen, so kann es leicht zu Missinterpretationen auf der sozialen Ebene führen. 1 Begriffsbestimmung In den Arbeiten zu direktiven Sprechakten bzw. konkret zu Bitthandlungen ist eine gewisse Unklarheit hinsichtlich der Verwendung des Begriffs Bitte zu beobachten. Dies liegt zum einen am Einfluss der anglo-amerikanischen Forschung, wo eine strikte Abgrenzung des Konzepts aus sprachlichen Gründen nicht möglich ist. Zum anderen ist dies durch die intuitive Verständlichkeit des Begriffs bedingt, weswegen in vielen Arbeiten eine Definition fehlt. Ausgehend von der lexikographischen Beschreibung des Begriffs, seiner Interpretation durch Muttersprachler sowie der sprechakttheoretischen Klassifikation der Aufforderungen wird folgende Definition vorgeschlagen 1 : Unter einer Bitte wird eine Willensbekundung des Sprechers an den Adressaten verstanden, eine Handlung auszuführen, zu der dieser in der Lage, zu deren Ausführung er 1 Die genannten Datenquellen weisen zwar Unterschiede in der Präzision und Systematisierung der Angaben auf, widersprechen sich aber grundsätzlich nicht. <?page no="170"?> 160 Olha Popovych aber nicht verpflichtet ist. Mit anderen Worten gesagt, gelten die Entscheidungsfreiheit des Adressaten und das Interesse des Sprechers an der Handlung als wesentliche Merkmale einer Bittsituation. Darüber hinaus wird das Bitten vor allem mit Höflichkeit assoziiert. Da sich Bitthandlungen primär aufgrund situativer Merkmale konstituieren, kann bei ihrer sprachlichen Realisierung auf unterschiedliche Äußerungsmuster zurückgegriffen werden. Diese Muster - die auch als Strategien bezeichnet werden - stellen alternative Ausdrucksmöglichkeiten einer Bitte dar, die jeweils einen Aspekt der Bittsituation verbalisieren. Es handelt sich dabei also um syntaktisch-semantische Grundstrukturen, die noch zusätzlich erweitert und modifiziert werden können. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen zwei solche Strategien: Handlungsanweisungen, die v.a. durch Imperativsätze realisiert werden und lediglich die erwünschte Handlung verbalisieren, und Möglichkeitserkundungen, d.h. Fragen nach der Möglichkeit bzw. der Fähigkeit des Adressaten, der Bitte zu entsprechen. Auch das Konzept der Höflichkeit wird in beiden Kulturen ähnlich verstanden: Laut DDUw (2011: 875) ist Höflichkeit „höfliches, gesittetes Benehmen; Zuvorkommenheit“, wobei höflich als „(in seinem Verhalten anderen Menschen gegenüber) aufmerksam u[nd] rücksichtsvoll, so, wie es die Umgangsformen gebieten“ definiert wird. Das deutsche Wort Höflichkeit hat im Ukrainischen zwei Entsprechungen: ввічливість und чемність, die ebenso über entsprechende Adjektive definiert werden. Ввічливий ist dabei als „der sich an die Regeln des Anstands hält, sich aufmerksam, liebenswürdig verhält, artig“ (СУМ 1970; 1: 301) und чемний als „respektvoll, ehrerbietig, höflich“ (СУМ 1980; 11: 293) definiert. In beiden Sprachen wird hier also gleichermaßen auf Umgangsnormen, Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft Bezug genommen. Das zweite ukrainische Adjektiv spezifiziert darüber hinaus eine Form der Höflichkeit, die eher Befolgung von Regeln und Gehorsam impliziert und die etwa Erwachsene von Kindern erwarten. 2 Einige empirische Befunde Um die vorgestellten deduktiv erarbeiteten Definitionen und die damit zusammenhängende Auswahl der Sprachdaten für die Untersuchung empirisch zu stützen, wurde im Sommer und Herbst 2012 eine Umfrage durchgeführt. Das Ziel der Befragung war, das metasprachliche Wissen der Sprachbenutzer um soziopragmatische Merkmale von Aufforderungen und ihre Abgrenzung voneinander sowie die Höflichkeitskonzepte in den beiden Sprachen zu erfassen. An der Befragung nahmen 60 Muttersprachler der jeweiligen Sprache teil, vorwiegend Studenten an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Lwiw (Lemberg). Folglich <?page no="171"?> Einfluss grammatischer Semantik auf die pragmatische Wirkung 161 weisen die Stichproben einen hohen Anteil von Informanten aus der entsprechenden Region (34 aus Bayern, 39 aus der Region Lwiw) auf. Diese Beschränkung war aufgrund des größeren Umfangs der Fragebögen und der dadurch bedingten geringen Rücklaufquote unumgänglich. Im Folgenden wird nur auf ausgewählte Umfrageergebnisse Bezug genommen, die den Ausgangspunkt für die linguistische Analyse in den Abschnitten 3 und 4 bilden. Die empirische Basis für diese Analyse bildet ein manuell zusammengestelltes Korpus von Bitthandlungen. Die Daten stammen hauptsächlich aus belletristischen Texten und sind durch Belege aus elektronischen Korpora (DWDS, КУМ), Internetforen und privater Korrespondenz ergänzt. Einige wenige Belege wurden aus anderen Studien übernommen, soweit sie sprachlich relevantes Material enthielten. Die Belege wurden entsprechend den im Abschnitt 1 angeführten Kriterien ausgewählt. Die Befragungsergebnisse validieren die oben angenommenen konstitutiven Merkmale einer Bitthandlung relativ zu anderen Aufforderungstypen und weisen auch eine deutliche Parallelität im interkulturellen Vergleich auf: Entscheidungsfreiheit des Adressaten bezüglich der Befolgung der Bitte (41 Nennungen von Deutschen, 35 von Ukrainern) und Interesse des Sprechers an der Handlung (45 und 36 Nennungen entsprechend). Trotz der beschriebenen konzeptuellen Konvergenz werden auf die Frage nach den typischen Bittformulierungen sehr unterschiedliche Äußerungsmuster angegeben. Für das Deutsche am häufigsten genannt werden Würdest du/ Würden Sie bitte …? und Könntest du/ Könnten Sie bitte …? sowie ihre Varianten. Es handelt sich hierbei um Formulierungen, die in der traditionellen Sprechakttheorie als konventionell indirekte Sprechakte gelten (vgl. z.B. Blum-Kulka 1987: 142). Ein vollkommen anderes Bild ergibt sich im Ukrainischen. Als typische Formulierungen werden hier folgende genannt: Будь ласка + Imperativ (Bitte + Imperativ), Прошу + Infinitiv ((Ich) bitte + Infinitiv), я б хотів тебе попросити … (Ich möchte dich bitten …), Чи не міг би ти …? (Ob du nicht … könntest? ). Während die Möglichkeitserkundungen (Könntest du …? ) in den beiden Sprachen gleichermaßen als unaufdringliche und höfliche Bitten bewertet werden, lassen sich wesentliche Unterschiede in der Interpretation der imperativischen und performativen Äußerungen feststellen. Im Deutschen wirken sie sehr direkt. Die ersteren gelten in ihrer abgetönten Variante als lediglich für den Familien und Freundeskreis bzw. als Bitten an Unterstellte geeignet. Die letzteren werden als eindringlich und auf die unbedingte Zusage ausgerichtet beschrieben. Dagegen werden diese Muster im Ukrainischen als höflich und für viele private und öffentliche Situationen angemessen aufgefasst. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind. Bisherige Untersuchungen erklärten solche Differenzen in Anlehnung an die Höflichkeitstheorie von Brown/ Levinson (1987/ 2007: 70) durch kulturspezifische Präferenzen für die sogenannte positive politeness und <?page no="172"?> 162 Olha Popovych negative politeness. 2 Demnach werden slawische Kulturen als solidaritäts- und germanische Kulturen als distanzorientiert bezeichnet (vgl. Rathmayr 1996a, 1996b, Schlund 2009). Diese Interpretation lässt sich vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Befragung nicht aufrechterhalten. Sowohl der Respekt vor der Privatsphäre des Gegenübers als auch das Interesse und die Aufmerksamkeit ihm gegenüber gehören in den kontrastierten Sprachgemeinschaften gleichermaßen zum Verständnis der Höflichkeit: Interesse und Aufmerksamkeit für das Gegenüber als Merkmal von Höflichkeit wurden von deutschen Informanten 34 Mal und von ukrainischen 20 Mal genannt; für das Respektieren der Privatsphäre des Gegenübers gab es entsprechend 47 und 35 Nennungen. Darüber hinaus muss auch die These von Höflichkeit als einer Plus-Kategorie, d.h. etwas, was über das normale, unmarkierte Verhalten hinausgeht, aufgegeben werden (zu dieser Interpretation vgl. z.B. Watts 2004, Locher/ Watts 2005). Vielmehr bekräftigen die Informantenaussagen eine der neueren Höflichkeitstheorien, die sie als ein für die jeweilige Situation konventionelles, unmarkiertes kommunikatives Verhalten ansehen (vgl. Terkourafi 2003, 2005). Insbesondere die Beispiele aus dem Ukrainischen und Kommentare dazu machen deutlich, dass nicht nur elaborierte, sondern auch recht lakonische, funktionale Äußerungen als angemessene Bitten aufgefasst werden. In diesem Sinne fassen lexikographische Beschreibungen (s.o.) das Konzept der Höflichkeit adäquater als die traditionelle Höflichkeitstheorie. Angesichts dieser Befunde liegt der Schluss nahe, dass andere Faktoren für die Unterschiede im kommunikativen Verhalten in den beiden Sprachen verantwortlich sind. In den folgenden Abschnitten wird daher aufgrund des oben vorgestellten Korpus der Frage nach sprachlichen Gründen dafür nachgegangen. 3 Handlungsanweisungen Wie bereits gesagt, beinhaltet die Strategie der Handlungsanweisung eine bloße Nennung der gewünschten Handlung ohne zusätzliche modale Komponenten der Möglichkeit, Notwendigkeit o.Ä. Die prototypische Form dieser Strategie stellen Imperativäußerungen dar: Komm mal schnell her! , Reich mir bitte das Salz! usw. Im Deutschen sind solche Bitten lediglich in der Kommunikation im 2 „Negative politeness“ umfasst nach Brown/ Levinson kommunikative Strategien, die auf das Bedürfnis des Adressaten nach Privatsphäre und Handlungsfreiheit gerichtet sind. „Positive politeness“ adressiert dagegen seinen Wunsch nach Anerkennung und Wertschätzung. In der Slawistik werden die besprochenen Höflichkeitsformen auch gerne nach Rathmayr (1996a: 22) als Distanz- und Solidaritätshöflichkeit bezeichnet. <?page no="173"?> Einfluss grammatischer Semantik auf die pragmatische Wirkung 163 Familien- und Freundeskreis anzutreffen. Sie werden bei kleinen Bitten verwendet, deren Befolgung keinen ernsthaften Zeit- und Energieaufwand vom Adressaten erfordert. Außerdem werden nach diesem Muster Bitten formuliert, die untergeordnete Illokutionen im Rahmen einer komplexen Sprechhandlung darstellen und - zusammen mit weiteren Stützhandlungen - den kommunikativen Erfolg sichern sollen. Sie haben einen floskelhaften Charakter und sind beispielsweise beim Überreden, in argumentativen Kontexten oder auch als Einleitung von Fragen anzutreffen. Im Ukrainischen ist der Verwendungsbereich dieses Äußerungsmusters wesentlich größer. In der Kommunikation mit der Familie und Freunden werden Handlungsanweisungen bei einem breiteren Spektrum von Bittanlässen verwendet. Dies können auch zeitaufwendigere Anliegen sein, wie z.B. jemandem beim Lernen helfen o.Ä. Handlungsanweisungen sind auch bei kleinen Bitten im öffentlichen Bereich anzutreffen. Typische Beispiele hierfür sind Bitten um Auskunft oder Bitten im öffentlichen Verkehr, das Geld für die Fahrkarte an den Fahrer weiterzureichen. Generell werden Handlungsanweisungen gerne bei Bitten verwendet, die üblicherweise befolgt werden. Im Deutschen wird hier eher auf andere Äußerungsmuster - v.a. Befolgungsfragen (Gibst du mir bitte …? ) - zurückgegriffen. 3 Betrachtet man morphosyntaktische Besonderheiten der zugrunde liegenden Sätze, so sind hier eine Reihe Unterschiede festzustellen. Der wichtigste ist wohl die Variation der ukrainischen Verben nach dem Aspekt. Das heißt konkret, dass jedem deutschen Verb im Ukrainischen zwei Verben gegenüberstehen, die die gleiche lexikalische Bedeutung haben und sich lediglich durch die Aspektbedeutung unterscheiden. Der perfektive Aspekt beschreibt eine Handlung oder (eine ihrer Phasen) als ein abgeschlossenes Ereignis. Der imperfektive Aspekt beschreibt dagegen eine in Bezug auf Anfang und Ende offene bzw. sich wiederholende Handlung. Für die aktuelle Fragestellung sind vor allem Kontexte interessant, in denen prinzipiell beide Aspektformen auftreten können und in Konkurrenz zueinander treten. In Bittsituationen besteht eine eindeutige Präferenz für die Verwendung des perfektiven Aspekts. Imperfektive Imperative kommen v.a. zum Ausdruck von Bedeutungen zum Einsatz, die der perfektive Aspekt nicht hat. Dies betrifft Bitten um die Fortsetzung einer unterbrochenen Handlung und iterative Handlungen bzw. wenn der prozessuale Charakter der Handlung hervorgehoben werden 3 Befolgungsfragen werden auch im Ukrainischen in den besprochenen Situationen verwendet. Im Gegensatz zum Deutschen handelt es sich hier um weitgehend äquivalente Ausdrucksweisen einer Bitte, die keinen wesentlichen Unterschied im empfundenen Höflichkeitsgrad aufweisen. <?page no="174"?> 164 Olha Popovych soll. Der perfektive Aspekt bringt die Resultativität bzw. den punktuellen Charakter (implizite temporale oder lokale Eingrenzung) der Handlung zum Ausdruck. Somit fungiert bereits die obligatorische Aspektwahl im Ukrainischen als eine Art interne Abschwächung, die entsprechende Bitten stilistisch neutral und in vielen Fällen situationsadäquat erscheinen lässt. Durch den Aspektwechsel würde die Bitte sehr nachdrücklich, ungeduldig oder salopp wirken und wäre nur in dringlichen Situationen oder scherzhafter Kommunikation akzeptabel. Belege für den Gebrauch der beiden Aspektformen in der gleichen Situation finden sich im vorhandenen Korpus eher selten. Ein solcher Aspektwechsel ist jedoch vorstellbar und im Alltag in Situationen zu beobachten, wenn der Sprecher bei Verzögerung der Befolgung seiner Bitte die Geduld verliert und den Adressaten bedrängt. Hier wird die Wirkung der Aspektwahl an vergleichbaren Situationen veranschaulicht, in denen um eine Auskunft gebeten wird. Das erste Beispiel stellt eine neutrale Äußerung aus einem informell gehaltenen Interview dar. Erwartungsgemäß kommt hier der perfektive Imperativ zum Einsatz. Олесю, скажи, будь ласка, до того як з'явився „Час’ник", у Запоріжжі було таке явище, як самвидав? (КУМ). Olesja Vok , sag pf bitte, bevor „Čas´nyk“ erschien, gab es in Zaporižžja so etwas wie Selbstverlag? 4 Im folgenden Beispiel ist der Sprecher gerade verstimmt und über den Besuch nicht erfreut. Die Frage nach dem Grund für den Besuch fällt entsprechend schroff aus, wobei hier der imperfektive Aspekt verwendet wird. „Я телефонував, а в тебе весь час було зайнято.“ „Знаєш, я не в гуморi“, - попереджаю я Алекса. „А ти хiба в ньому колись буваєш? “ Якщо такi приємнi розмови припали на день, можу собi уявити, на яке страхiття перетвориться моє вечiрнє побачення. „Слухай, кажи лишень, чого треба, бо менi невдовзi йти.“ (Денисенко 2005: 156). „Ich habe angerufen, aber bei dir war die ganze Zeit besetzt.“ „Weißt du, ich bin schlecht drauf“, - warne ich Alex. „Bist du denn irgendwann gut drauf? “ Wenn sich schon so angenehme Gespräche am Tag ergeben, kann ich mir vorstellen, was für ein Desaster meine Verabredung am Abend wird. „Hör imp , sag imp bloß, was du willst, denn ich muss bald los.“ 4 Alle Übersetzungen ukrainischer Quellen sind von mir. Da die Übersetzungen vor allem Strukturen und Ausdrucksweisen der Ausgangssprache widerspiegeln sollen, wird hier weder stilistische Äquivalenz noch grammatische Wohlgeformtheit im deutschen Text angestrebt. Wichtige morphologische Kategorien ohne Äquivalente im Deutschen werden zusätzlich kodiert. Verwendete Abkürzungen: ipm - imperfektiv, pf - perfektiv, Vok - Vokativ und Dim - Diminutiv. <?page no="175"?> Einfluss grammatischer Semantik auf die pragmatische Wirkung 165 Ein direkter zwischensprachlicher Vergleich gestaltet sich in diesem Fall schwierig. Aufgrund der Bewertung der Handlungsanweisungen durch deutsche Informanten liegt der Schluss nahe, dass der deutsche Imperativ eher dem imperfektiven Imperativ im Ukrainischen entspricht. Korpusbeispiele und Informantenaussagen lassen ebenfalls vermuten, dass die Modalpartikel mal - auch in Kombination mit anderen Partikeln oder Angaben wie kurz, einen Moment u.Ä. - die passendsten Entsprechungen des perfektiven Imperativs sind (vgl. auch Hentschel 1991). 5 Ein weiterer Faktor, der die unterschiedliche Verwendung der Handlungsanweisungen in den beiden Sprachen bedingt, sind Besonderheiten der Routineformeln bitte und будь ласка. Sie gelten in beiden Sprachen als ein wichtiger Indikator der Höflichkeit sowohl aus der Sprecherals auch aus der Adressatenperspektive und dürfen in einer angemessenen Formulierung einer Bitte nicht fehlen. Auch wenn die beiden Formeln auf den ersten Blick 1: 1-Entsprechungen sind und übersetzungstechnisch keine Probleme bereiten, unterscheiden sie sich etymologisch, was auch ihre Verwendung prägt. Bitte - eine Verkürzung von ich bitte - wird lexikographisch als eine Höflichkeitsformel beschrieben (vgl. DDUw 2011: 324). Seltener wird es als eine Modalpartikel betrachtet (Thurmair 1989: 186), was angesichts seiner Ähnlichkeit und häufigen Kombination mit den Abtönungspartikeln 6 auch berechtigt ist. Trotz des klaren Bezugs zum Sprechaktverb ist bitte syntaktisch eigenständig. Wie auch andere Abtönungspartikeln sind Restriktionen im Gebrauch von bitte durch die Sprechereinstellungen bedingt, die jeweils ausgedrückt werden sollen. Mit anderen Worten: Für die Formel bitte gibt es keine Verwendungsrestriktionen hinsichtlich des Satzmodus, solange mit der betreffenden Äußerung eine höfliche Aufforderung ausgedrückt werden soll. 7 Ein anderes Bild ergibt sich für die ukrainische Höflichkeitsformel будь ласка. Es handelt sich hier um eine feste Wortverbindung, die aus der 2. P. Sing. Imperativ des Verbs sein und der gekürzten Form des Adjektivs ласкавий (freundlich, nett) besteht. Trotz der fortgeschrittenen Lexikalisierung ist die ursprüngliche Bedeutung der Formel immer noch transparent. Dies äußert sich in der Möglichkeit, die Formel grammatisch abzuwandeln, indem man ungekürzte Adjektivformen verwendet, ein Demonstrativpronomen einfügt oder die Formel nach dem Numerus flektiert. Von ihrem semantischen Gehalt her entspricht die 5 Es handelt sich hierbei jedoch nicht um Bedeutungsäquivalenz im engeren Sinn, sondern um pragmatische Äquivalente. 6 Die Begriffe Modalpartikeln und Abtönungspartikeln werden synonym verwendet. 7 Selbstverständlich kann es sich dabei sowohl um eine aufrichtig gemeinte höfliche Einstellung zum Adressaten als auch um eine rein äußerliche, formale Höflichkeit handeln. <?page no="176"?> 166 Olha Popovych Formel somit eher dem deutschen sei so nett bzw. seien Sie so freundlich. Sie steht den sogenannten Befolgungsbewertungen nahe, die eine prospektiv positive Bewertung der erbetenen Handlung oder des Adressaten der Bitte beinhalten. Die genannten Besonderheiten bedingen die eingeschränkte Kombinierbarkeit der Routineformel mit möglichen Äußerungsmustern: Будь ласка ist ausschließlich mit imperativischen Äußerungen uneingeschränkt kombinierbar. Außerdem kann die Formel - allerdings nur in der zentralen Position - bei unmodifizierten Befolgungsfragen verwendet werden. Ähnliche Restriktionen sind auch bei Befolgungsbewertungen im Deutschen zu beobachten. Ein kurzer Vergleich soll dies verdeutlichen. Deutsch: Sei so nett und mach mir einen Kaffee. *Sei so nett und machst du mir einen Kaffee? (Aber: Bist du so nett und machst mir einen Kaffee? ) *Sei so nett, könntest du mir einen Kaffee machen? Ukrainisch: Будь ласка, зроби мені кави. *Будь ласка, зробиш мені, кави? (Aber: Зробиш мені, будь ласка, кави? ) *Чи не міг би ти, будь ласка, зробити мені кави? Die Höflichkeitsfunktion der Routineformel kommt im Deutschen und Ukrainischen folglich unterschiedlich zustande. Im Ukrainischen verhindert die (ursprüngliche) Imperativform der Routineformel ihre Verbindung mit anderen syntaktischen Strukturen. Die besondere Stellung, die будь ласка als Höflichkeitsmarker zukommt, führt ihrerseits zur häufigeren Verwendung von Handlungsanweisungen. Handlungsanweisungen werden in beiden Sprachen oft durch eine gebundene oder freie Anrede des Adressaten begleitet. Auch hier lassen sich neben vielen Ähnlichkeiten interessante Unterschiede in ihrem Gebrauch und ihren Funktionen ausmachen. Im Bereich der pronominalen Anrede ist v.a. die Du-Anrede interessant, da sie fakultativ verwendet wird und pragmatische Funktionen ausübt. Im Deutschen wird durch die gebundene Anrede in einem Imperativsatz der Adressat der Aufforderung mit dem Sprecher oder anderen Kommunikationsteilnehmern kontrastiert und so als Agens der erbetenen Handlung hervorgehoben. So wird in der folgenden Bitte die Kompetenz des Angesprochenen thematisiert, die ihn zum besonders geeigneten Adressaten der Bitte macht: <?page no="177"?> Einfluss grammatischer Semantik auf die pragmatische Wirkung 167 Hugo, bitte, gieß du [Hervorhebung: O.P.] Wein nach - ich hoffe, es kränkt dich nicht, wenn wir hier im Familienkreis deine erworbenen Fähigkeiten zu schätzen wissen und uns ihrer bedienen (Böll 1959/ 1963: 303). Die gebundene Anrede im Ukrainischen kann neben der Kontrastauch die Emphasefunktion erfüllen. Das pronominale Subjekt - wie auch die Anrede mit dem Eigennamen - ist im folgenden Telefonat gewissermaßen überflüssig. Im Hinblick auf die Informationsstruktur des Satzes stellt es ein thematisches Element dar, das in einer monorhematischen Äußerung auftritt. Dadurch entsteht eine markierte Struktur, die die entsprechende Bitte wiederum eindringlicher wirken lässt. Die postverbale Stellung der freien Anrede unterstützt diesen Mechanismus noch zusätzlich. (Dies kann ebenso durch die postverbale Stellung der gebundenen Anrede oder den Partikelgebrauch geschehen, wodurch die Intensität der Emphase variiert werden kann.) […] ти не дивуйся, Радочко [Hervorhebung: O.P.], що я так одверто розповідаю, ти ж мене розумієш, я ж бачу […] (Забужко 1992/ 2002: 132). […] du wundere dich nicht, Radotschka Dim Vok , dass ich so offen erzähle, du verstehst mich doch, ich sehe es doch […]. In den bis jetzt besprochenen Fällen war das Personalpronomen in der syntaktischen Subjektfunktion in den Satz integriert. Im Deutschen besteht in der Umgangssprache außerdem die Möglichkeit, das Personalpronomen bei Voranstellung - ähnlich wie die freie Anrede - zur Aufmerksamkeitssteuerung einzusetzen. Interessanterweise ist hier auch ein zwischensprachlicher Unterschied festzustellen: Während sie im Deutschen recht neutral wirkt und mitunter auch in der distanzierten Sie-Form anzutreffen ist, gilt ein ähnlicher Gebrauch der Pronominalanrede im Ukrainischen als unhöflich und herausfordernd. Im Bereich des Anredeverhaltens ist ein weiterer Aspekt zu nennen, der zu den Divergenzen bei der Verwendung der Handlungsanweisungen in beiden Sprachen beiträgt, nämlich der Gebrauch der Diminuierung im Ukrainischen. Für beide Sprachen gilt, dass Handlungsanweisungen häufig in Begleitung einer freien Anrede auftreten. Das Ukrainische weist hier im Unterschied zum Deutschen eine ausgeprägte Affinität zur Diminuierung auf. Tatsächlich hat die Mehrheit der Eigennamen und der Appellativa in der Anredefunktion eine diminuierte Form oder nicht selten auch Diminutiva zweiten Grades, die durch Kumulation der Diminutivsuffixe gebildet werden. Zum Vergleich die folgende eindringliche Bitte der Mutter an ihren kleinen Sohn, der zum Mähen mitfahren will: - […] Сашечко, останься дома, - благає мене мати. - Tам так страшно в кущах! <?page no="178"?> 168 Olha Popovych - Не страшно, мамо. - Там же ями в озерах! - Я не полізу в яму. - Та гадюки там у лісі, ой! - Ну, мамо, годі ... ат! - Не їдь-бо, синочку. Не пускайте його! [...] (Довженко 1955/ 1986: 456). - […] Sašečka DimDimVok , bleib pf zu Hause, - fleht mich die Mutter an. - Da ist es doch so gruselig im Gebüsch! - Nicht schrecklich, Mutti. - Da gibt es doch tiefe Stellen in den Seen! - Da gehe ich nicht hin. - Da gibt es doch Schlangen im Wald, oje! - Nun reicht es aber Mutti … so! - Fahr ipf doch nicht, Sohn Dim Dim . Lasst ipf ihn nicht [fahren]. Auch wenn Diminutiva sowohl eine quantifizierende als auch eine affektive Funktion ausüben können, kommt in den besprochenen Kontexten vor allem die letztere zum Tragen. (In dem zitierten Beispiel kann man bei den auf den Sohn referierenden Diminutiva auch die denotativ-quantifizierende Funktion annehmen, aber auch hier steht sie eindeutig im Hintergrund.) Es handelt sich hier also um eine Ausprägung der positiven Höflichkeit nach Brown/ Levinson (1987/ 2007). Durch den Gebrauch der diminuierten Formen wird die Vertrautheit und Emotionalität der Sprecher-Adressaten-Beziehung zum Ausdruck gebracht. Damit wird der unfreundliche Charakter der kaum abgetönten Imperativäußerungen vollständig neutralisiert. Als Ergebnis wird eine eindringliche, mit positiven Affekten besetzte Bitte hervorgebracht. Die indizierte Nähe der Beziehung suggeriert gleichzeitig, dass die Erfüllung von nicht unangemessenen Bitten erwartet werden kann. Insgesamt wird bei dem Vergleich deutlich, dass imperativische Äußerungen in den verglichenen Sprachen zwar strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, ihre einzelnen Komponenten auf unterschiedlichen Ebenen sich jedoch semantisch oder morphologisch unterscheiden. Diese Unterschiede führen wiederum dazu, dass auf der Sprechaktebene abweichende pragmatische Effekte zustande kommen, die den Gebrauch der besprochenen Äußerungen unterschiedlich prägen. 4 Möglichkeitserkundungen Wie in der Einleitung ausgeführt, werden unter Möglichkeitserkundungen Fragen nach der Möglichkeit bzw. der Fähigkeit des Adressaten, die genannte Handlung auszuführen, verstanden. Syntaktisch ist dieses Äußerungsmuster durch <?page no="179"?> Einfluss grammatischer Semantik auf die pragmatische Wirkung 169 Entscheidungsfragen mit dem Modalverb können oder seinen Umschreibungen repräsentiert. Eine spezielle Art dieses Musters bilden Erlaubnisfragen wie Darf ich …? Ähnliche Muster finden sich auch im Ukrainischen. Anzumerken ist hier nur, dass das entsprechende Verb могти und das modale Adverb можна semantisch den beiden deutschen Modalverben können und dürfen entsprechen. Eine präzisere Differenzierung geschieht hier erst im Verwendungskontext. Bei der Erlaubnisfrage wird außerdem nicht selten auf imperativische Äußerungen wie Дозвольте … (Erlauben/ Gestatten Sie …), Давай(те) … (Lass(t)/ Lassen Sie …) zurückgegriffen, was - nebenbei bemerkt - den Anteil der Handlungsanweisungen im Ukrainischen im Vergleich zum Deutschen erhöht. Wie bei der Diskussion der Umfrageergebnisse bereits angedeutet wurde, zählen Möglichkeitserkundungen in beiden Sprachgemeinschaften zu den häufig genutzten Ausdrucksmöglichkeiten einer Bitte. Sie werden sowohl für freundliche Bitten im privaten Rahmen als auch für sehr höflich formulierte Bitten im öffentlichen und institutionellen Bereich verwendet, d.h., sie stellen ein beinahe universales Mittel einer Bittstellung dar. Die erwähnte Universalität ist vermutlich der Flexibilität der Möglichkeitserkundungen hinsichtlich der Abtönung zu verdanken. Im Deutschen ist hier die Verwendung von Abtönungspartikel(kombinationen) und Modaladverben üblich. Weitere Abtönungsvarianten kommen durch die Variation im Modus und die Perspektive der Äußerung (Besetzung der Agensrolle) zustande. Vergleiche: Entschuldigung, ich muss unbedingt meinen Zug erwischen. Können Sie mich vielleicht schon mal aussteigen lassen? (Cho 2005: 291). Im Ukrainischen bestehen prinzipiell die gleichen Abtönungsmöglichkeiten wie im Deutschen, ausgenommen die Abtönungspartikeln, die ausschließlich mit dem Imperativ kompatibel sind. Ein interessanter zwischensprachlicher Unterschied im Bereich der Möglichkeitserkundungen betrifft die Verwendung der Negationspartikel nicht im Deutschen und ihrer ukrainischen Entsprechung не. Für das Deutsche ist die Verwendung der Negation in den diskutierten Kontexten eher untypisch. Als gemeinsames Merkmal der Bittsituationen, in denen die Negation eingesetzt wird, lässt sich eine geringe Erwartung des Sprechers an die Erfüllung seiner Bitte festhalten: Der Sprecher scheint in diesen Situationen eher mit einer Ablehnung der Bitte zu rechnen und äußert diese eher probeweise. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der folgende Dialog zwischen Mutter und Tochter. - Komm bitte um 22 Uhr wieder nach Hause! <?page no="180"?> 170 Olha Popovych - Könnte ich nicht vielleicht bis 23 Uhr bleiben? Ich könnte dann mit Petra nach Hause fahren (Cho 2005: 206). Die Tochter bemüht sich um eine Ausnahme für die erlaubte Ausgehzeit. Die Position der Mutter in dieser Frage wird aus der vorausgehenden Anweisung deutlich und die Erfolgschancen der Bitte sind nicht als sehr hoch einzuschätzen. Die vorsichtige Haltung der Tochter kommt vielfach zum Ausdruck: in der Wahl der Konjunktivform des Modalverbs, in der Verwendung des Modaladverbs vielleicht und in der Negation der Frage. Während die ersten beiden Elemente der Bitte die Bedeutung der Potentialität/ Eventualität verleihen, könnte für die Partikel nicht eine kontrastierende Funktion angenommen werden - gegenübergestellt werden die negative Einstellung des Adressaten und die positive Einstellung des Sprechers zur genannten Handlung. Ganz anders gestaltet sich der Einsatz der Negation im Ukrainischen. Vor allem ist festzuhalten, dass sie ein in Fragesätzen häufig vorkommendes Element darstellt. Genau genommen, ist es plausibler, in diesen Fällen von einer Abtönungspartikel zu sprechen. Ihre Funktion besteht darin, der Fragehandlung oder einer interrogativ formulierten Aufforderung einen unverbindlichen, beiläufigen Charakter zu verleihen bzw. das Interesse des Sprechers am betreffenden Sachverhalt zu signalisieren. Die Interpretation von не als einer bestätigungsheischenden Partikel, wie sie mitunter für das deutsche nicht in einigen älteren Arbeiten (vgl. Fränkel 1974: 308f., Burkhardt 1982: 153) vorgeschlagen wurde, lässt sich auf die ukrainische Partikel nicht übertragen. Die analysierten Belege zeugen davon, dass der Sprecher mit dem Gebrauch von не eher die Entscheidungsfreiheit des Adressaten gewährleistet, indem er eine positive und eine negative Antwortmöglichkeit zulässt. Die besprochene Zulassung von gegensätzlichen Möglichkeiten führt im Ukrainischen regelmäßig zur Entstehung von Textstrukturen, die aus deutscher Sicht u.U. unlogisch erscheinen. Dazu ein Beispiel aus einer Wikipedia-Besprechung 8 : Вітаю, пане, чи не траплялося останнім часом в Українській Вікіпедії курйозів, масштабних протистоянь прихильників тієї чи іншої думки та подібного. Усе-таки, ви тут достатньо довго. Якщо є, то чи не могли б ви дати кілька посилань на те, що дійсно є курйозним і може навіть посміхне. Дякую. 8 (http: / / uk.wikipeia.org/ wiki/ %D0%9E%D0%B1%D0%B3%D0%BE%D0%B2%D0%BE %D1%80%D0%B5%D0%BD%D0%BD%D1%8F_%D0%BA%D0%BE%D1%80%D0%B 8%D1%81%D1%82%D1%83%D0%B2%D0%B0%D1%87%D0%B0: Deineka, Stand: 18.02.2013). <?page no="181"?> Einfluss grammatischer Semantik auf die pragmatische Wirkung 171 Hallo, Herr, gab es nicht in letzter Zeit in der ukrainischen Wikipedia witzige Vorfälle, heftige Auseinandersetzungen von Vertretern der einen oder der anderen Meinung oder Ähnliches. Sie sind ja recht lange hier. Wenn ja, ob Sie dann nicht einige Verweise zu Sachverhalten geben könnten, die wirklich witzig oder vielleicht sogar lächerlich sind. Danke. Im zitierten Text ist ein mehrfacher Wechsel von affirmativen und (formal) negativen Äußerungen zu beobachten, die in einem konditionalen Verhältnis zueinander stehen: Zuerst wird in einer negierten Form nach dem Vorkommen witziger Vorfälle gefragt. Im nachfolgenden Konditionalsatz wird die Präferenz für die positive Alternative angezeigt, die im zweiten Teilsatz - der eigentlichen Bitte - wieder zugunsten beider Möglichkeiten zurückgenommen wird. Schließlich impliziert der antizipierende Dank wiederum die Erwartung des Erfüllens der Bitte. Die konditionale Beziehung besteht im letzteren Fall nicht auf der grammatischen Textebene, sondern konstituiert sich in der Kommunikationssituation auf der Handlungsebene. Somit werden hier durch die Partikel не die Annahmen des Sprechers über den Wahrscheinlichkeitsgrad der in der Proposition dargestellten Sachverhalte zum Ausdruck gebracht. Die Partikel wäre im Deutschen folglich durch eventuell, vielleicht wiederzugeben. 5 Zusammenfassung und Ausblick Die Untersuchung hat gezeigt, dass neben den kulturellen Normen auch eine Reihe sprachinterner Faktoren Verwendungsfrequenzen von alternativen Äußerungsmustern bestimmen. In Bezug auf die untersuchten Bitthandlungen sind hier v.a. die grammatische Semantik des verbalen Aspekts, die Etymologie und die ursprüngliche morphologische Form einzelner Elemente sowie die Flexibilität in der Kombinatorik der syntaktischen Grundmuster mit weiteren Elementen zu nennen. Die Analyse hat ebenfalls deutlich gemacht, dass von der Oberflächenstruktur her durchaus parallele Äußerungsformen unter dem Einfluss der oben genannten Faktoren mitunter recht unterschiedliche pragmatische Effekte erzielen. Diesbezügliche zwischensprachliche Unterschiede sind den Sprechern meist nicht bewusst. Dies kann zur Enkodierung - und auf der Rezipientenseite auch zur Zuschreibung - von falschen Einstellungen führen und im nächsten Schritt auch zu unberechtigten Urteilen über die interpersonelle Beziehung führen. <?page no="182"?> 172 Olha Popovych 6 Literatur Blum-Kulka, Shoshana (1987): Indirectness and politeness in requests: Same or different? In: Journal of Pragmatics 11. S. 131-146. 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Es handelt sich dabei einmal um P h r a s e m e ( vor allem die sogenannten p r a g m a t i s c h e n P h r a s e m e ), zum anderen um k u lt u r s p e z i f i s c h e W ö rt e r , die im Kontext der interkulturellen Fremdsprachendidaktik bisher vergleichsweise weniger beachtet worden sind. Die Probleme, die Lernende von Deutsch als Fremdsprache bei der Bedeutungserschließung von P h r a s e m e n und k u l t u r s p e z i f i s c h e n W ö rt e r n haben und die daraus resultierenden Schwierigkeiten, diese in der interkulturellen Interaktion adäquat zu verwenden bzw. auszuhandeln, werden aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive als ein Problem kulturspezifischer Konzeptualisierung sowie Abrufbarkeit aus dem mentalen Lexikon erörtert. In Bezug auf das Verstehen und die adäquate Verwendung von P h r a s e m e n und k u lt u r s p e z i f i s c h e n W ö rt e r n rücken hierbei die jeweils unterschiedlichen, weil ebenfalls kulturspezifischen, Wissensrepertoires der Sprachbenutzer als Zugriffsdomäne ins Blickfeld. Den Abschluss bilden Überlegungen zur didaktischen Einbettung von P h r a s e m e n und k u lt u r s p e z i f i s c h e n W ö rt e r n in den DaF-Unterricht. 1 Vorüberlegungen Die interkulturelle Orientierung des heutigen Fremdsprachenunterrichts steht bekanntermaßen seit vielen Jahren im Zentrum der Auseinandersetzung um die veränderten Bedingungen und Möglichkeiten der Fremdsprachenausbildung im Zeichen von Migrationsprozessen, Mobilität sowie der zunehmenden Vernetzung unserer Gesellschaften (vgl. exemplarisch Bausch/ Christ/ Hüllen/ Krumm 1989, Roche 2001, Apfelbaum 2007, Götze/ Helbig/ Henrici/ Krumm 2010). L a ng u a g e A w a r e n e s s (vgl. Schmidt 2010), eine der Zielsetzungen des Fremdsprachenunterrichts, wird in diesem Zusammenhang auch als C ultu r a l A w a r e n e s s begriffen. Darauf bezugnehmend fordert etwa der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001: 105f.) die Entwicklung eines sogenannten interkulturellen Bewusstseins. Es muss in diesem Zusammenhang <?page no="186"?> 176 Ulrike Reeg reflektiert werden, „welches Bewusstsein der Beziehung zwischen der eigenen und der Zielkultur die Lernenden haben müssen, um eine angemessene interkulturelle Kompetenz zu entwickeln“, die sie in die Lage versetzt, „als kultureller Mittler zwischen der eigenen und der fremden Kultur zu agieren und wirksam mit interkulturellen Missverständnissen und Konfliktsituationen umzugehen“ (Müller-Jacquier 2008: 26). Fremdsprachenunterricht wird heute zunehmend auch als ein Praxisfeld int e r k ultu r e ll e r K o m m u nik a ti o n angesehen (vgl. Reeg 2006: IXff.), wobei die int e r k ultu r e ll e K o m p e t e n z zur Schlüsselqualifikation erhoben wird. Dem liegt letztlich ein Verständnis von Int e r k ultu r a lit ä t zugrunde, das diese nicht als etwas Statisches, Vorgegebenes begreift, sondern als etwas, das „im kommunikativen Geschehen als interaktiver Aushandlungsprozess konstituiert wird“. Interkulturalität stellt somit eine „Interpretationsleistung“ dar (Földes 2009: 512). 1 2 Untersuchungsgegenstand 2.1 Bausteine der Kommunikation: P h r a s e m e Zunächst muss festgehalten werden, dass sich in vielen P h r a s e m e n „das versprachlichte kollektive Wissen und damit das sprachliche ‚Weltbild‘ [einer Diskursgemeinschaft] in anschaulicher und aufschlussreicher Weise“ manifestiert (Földes 2005: 324), was sie zu einem zwar sehr interessanten, aber gleichermaßen auch schwierigen Lerngegenstand im DaF-Unterricht macht. P h r a s e m e werden in der Rede als „Bausteine“ eingesetzt und können folglich bei Bedarf als fertige Konstruktion im Gespräch wiederholt werden (Donalies 2009: 63). Es handelt sich somit um „potientiell vorgeformte, polylexikale Einheiten“, mehr oder weniger konventionalisierte Verbindungen, deren Form und Reihenfolge weitgehend festgelegt ist. Sie umfassen ein breites Spektrum von „relativ transparenten Wendungen“, die von nativen Sprechern als typisch empfunden werden, „präferierten Wortverbindungen“, teilidiomatischen und „semantisch opaken“ Verbindungen (vgl. 1 Vgl. Günthner (2010: 332): „Bezeichnend für die sprachwissenschaftlichen Studien der letzten Jahre ist, dass sie sich von dem vereinfachten Modell der Übertragung eigenkultureller Konventionen auf Interaktionen mit Angehörigen anderer Kulturgemeinschaften ebenso verabschiedet haben wie von der Aufstellung kontextgelöster Aussagen über das scheinbar fremdkulturelle Verhalten.“ <?page no="187"?> Phraseme und kulturspezifische Wörter 177 Handwerker 2010: 246f.), 2 wobei es zu den besonderen semantischen Eigenheiten vieler stark idiomatischer P h r a s e m e gehört, dass sie sich auf textueller Ebene „in ihren festen Bestandteilen den üblichen Verfahren der Kohäsionsbildung widersetzen“ (Burger 2010: 157) 3 . Darüber hinaus ist ihre b il d li c h m e t a p h o ri s c h e M o ti v i e rth eit auf unsere metaphorische Wahrnehmung der Welt zurückzuführen. 4 M it P h r a s e m e n kann außerdem in eindrücklicher Weise Gefühlen Ausdruck verliehen werden, wobei - wie auch für einzelne Wörter - gilt, dass sie „ihr emotionales, konnotatives Potenzial erst in der Interaktion von spezifischer Verwendung und kontextueller Einbettung“ entfalten (Schwarz-Friesel 2007: 170). Generell gibt es über die Art der Speicherung im mentalen Lexikon sowie die der Abrufbarkeit unterschiedliche Annahmen (vgl. Hallsteinsdóttir 2011). Dass es sich dabei jedoch durchaus auch um „weniger solides Baumaterial“ handeln kann, wird immer dann deutlich, wenn man sich vom standardsprachlichen Gebrauch des Deutschen entfernt. So betont beispielsweise Ehrhardt (2007: 259) in seiner Untersuchung zu jugendsprachlichen P h r a s e m e n , dass diese über ein gewisses „Innovationspotenzial“ verfügen und dass es darüber hinaus „in der Natur von geprägten Wortgruppen angelegt sei, dass sie eine gewisse Sprachwandel-Dynamik entfalten und bevorzugte Objekte kreativer Bemühungen von Sprachbenutzern sind“. Dies kann einerseits zu erhöhten Verständnisproblemen bei DaF-Lernenden führen, eröffnet jedoch andererseits auch für den didaktischen Kontext nutzbare Zugänge zu einem eher individuell geprägten, spielerischen Umgang mit der Fremdsprache Deutsch. Für den hier diskutierten Problemzusammenhang wird im Besonderen Bezug genommen auf die sogenannten pr a g m a ti s c h e n P h r a s e m e , die zwar die oben erwähnten Charakteristika aufweisen, deren Bedeutung jedoch nur „auf der Grundlage einer Analyse ihrer pragmatischen Funktion“ in bestimmten Handlungskontexten erfasst werden kann. Dazu zählen im Wesentlichen die sogenannten R o utin e f o r m e l n , die als unverzichtbare, kommunikative Handlun- 2 Handwerker (2010: 246) führt dazu aus, dass die jeweilige Position der sprachlichen Wendungen in diesem Spektrum „durch den Grad der Festigkeit, der Lexikalisierung und der Idiomatizität“ bestimmt sei. 3 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Überlegung von Jesenšek (2006), dass die „idiomatische Ausdrucksweise zu den Eigenschaften natürlicher Sprachen gehört“. Dies habe u.a. zur Folge, dass relativ viele P h r a s e m e zwischensprachlich hochgradig konvergent sind. 4 Vgl. dazu den von Lakoff/ Johnson (2004: 11) postulierten Ansatz von der metaphorischen Wahrnehmung und Konzeptualisierung der Welt. Sie gehen davon aus, dass Metaphern unser Alltagsleben, d.h. nicht nur die Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln durchdringen. <?page no="188"?> 178 Ulrike Reeg gen symbolisch auf ein gegebenes, kulturspezifisches Ordnungs- und Wertesystem verweisen und in der Interaktion verschiedene Funktionen erfüllen können, wie etwa Höflichkeitsformeln, „Entgegnungs- und Erwiderungsformeln (Tu, was Du nicht lassen kannst), Erstaunensformeln (Mir fehlen die Worte), Schelt- und Fluchformeln (Hol’s den Henker), Kommentarformeln (Langt kräftig zu)“ (Beckmann/ König 2002: 421ff.), deren Form und Verwendungsweise durch den jeweiligen kulturellen Kontext bestimmt werden, so dass die Frage der „pragmatischen Divergenzen zwischen Ausgangs- und Zielsprache“ vor allem hinsichtlich kultureller Kontaktsituationen äußerst relevant ist (vgl. Lüger 2007: 453). 2.2 links zur Kultur: k ultu r s p e z ifi s c h e W ö rt e r K ultu r s p e z i fi s c h e W ört e r sind bisher von der Forschung weniger beachtet worden als P h r a s e m e . Eine unverbindliche Umfrage meinerseits hat zu folgendem Ergebnis geführt: Zwei Kollegen italienischer Herkunftssprache nannten folgende, für sie relevante k ultu r s p e z ifi s c h e W ö rt e r : a) Weltanschauung, Mauerfall, Gastarbeiter, Ordnung, pünktlich, Fleiß, Sehnsucht, multikulti, Heimat und b) Weltanschauung, Stimmung, Bierseligkeit, Feierabend, Mahlzeit, geselliges Beisammensein, Heimat. Zwei deutschsprachige Kolleginnen kamen zu diesem Ergebnis: a) Treue, Freundschaft, Gemütlichkeit, vernünftig (vernünftige Schuhe), feuchtfröhlich, Heimat/ Fremde, Kaffeeklatsch und b) Wandern, Klassentreffen, Frauenquote, Wald, Schrebergarten, Stammtisch, Weihnachtsgans, Osterhase, Bierzelt, Kaffekränzchen. Die 2004 in Italien erstmals erschienene Studie der beiden Journalistinnen Vanna Vannuccini und Francesca Predazzi, mit dem Titel „Piccolo viaggio nell’anima tedesca“ 5 kann demgegenüber als eine vergleichsweise reflektierte Zusammenstellung kultu r s p e z ifi s c h e r W ö rt e r aus italienischer Perspektive gelten. Unter Bezug auf den kulturhistorischen Kontext ausführlich kommentierte Wörter sind: Weltanschauung, Nestbeschmutzer, Querdenker, Schadenfreude, Zweisamkeit, Vergangenheitsbewältigung, Männerfreundschaft, Zweckgemeinschaft, Mitläufer, Feierabend, Rechthaber, Quotenfrauen, Wanderweg, Unwort, Zeitgeist. 6 5 „Kleine Reise in die deutsche Seele“ (Übersetzung: U.R.). 6 Vannuccini/ Predazzi (2012: 8) schreiben dem Deutschen grundsätzlich die einzigartige Leistung zu, für jede nur denkbare Situation ein Wort zu kreieren - eine aus italienischer Sicht oft äußerst seltsame Vorgehensweise. Auf das Wort Nachmieter anspielend, fragen sie sich beispielsweise, in welcher Kultur, wenn nicht in der deutschen, es für nötig befunden wird, eine Person zu bezeichnen, die eine Wohnung mietet, in der man vormals gewohnt hat. <?page no="189"?> Phraseme und kulturspezifische Wörter 179 Bereits diese erste Zusammenstellung offenbart zweierlei: erstens das Problem einer gewissen Beliebigkeit bei der Auswahl und Zuordnung eines Wortes zu der Klasse der zunächst nicht näher definierten k ultu r s p e zifi s c h e n W ö rt e r . Dies lässt sich sicherlich auf die jeweils individuelle Spracherfahrung bzw. Sprachbiografie zurückführen, wobei unterschiedliche Personen durchaus auch zu gleichen Ergebnissen kommen können (vgl. etwa die Wörter Weltanschauung, Heimat, Kaffeeklatsch bzw. das als Synonym zu bewertende Wort Kaffeekränzchen). Zweitens deutet sich bereits bei diesen Aufzählungen die Schwierigkeit an, die Wörter grundsätzlich zu kategorisieren, d.h. sie bestimmten Domänen zuzuordnen. Kühn (2006: 27f.) stellt in seiner Studie zur interkulturellen Semantik für die k ultu r s p e zi fi s c h e n W ö rt e r zwei Klassen fest. Zur ersten Klasse der sogenannten „kultursemantisch auffälligen“ Wörter zählt er: institutionenspezifische Wörter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft (z.B. Bundestag, Hammelsprung […]), kulturelle Schlüsselwörter, die oft im Zentrum semantischer Netze stehen und zu Typisierungen und Stereotypisierungen verwendet werden (Heimat, Ordnung, Arbeit, Umwelt), Eigennamen von Personen oder geographische Bezeichnungen mit besonderem Symbolwert (z. B. Goethe-Institut, Preußen […]), nuancierende Wörter, mit deren Hilfe bestimmte Wortschatzbereiche besonders ausdifferenziert werden ([…] z. B. im Malaisischen die lexikalische Differenzierung von Reis in padie (‚ungeschälter Reis‘), beras (‚ungekochter, ungeschälter Reis‘), nasi (‚gekochter Reis‘), traditionsspezifische Wörter, die typisch sind für deutsche Sitten und Gebräuche, Lebensformen, Gewohnheiten, Gepflogenheiten usw. (z.B. Oktoberfest, siezen, […] Heimat). Auch ein solcher Kategorisierungsversuch verdeutlicht jedoch die Schwierigkeit einer kategorialen Trennung auf Grund von (zu erwartenden) Überschneidungen. 7 Eine zweite Klasse von Wörtern bezeichne, laut Kühn (2006: 27f.), einen „kultursemantisch brisanten Wortschatz“. Dabei handele es sich um Wörter, „die im interlingualen Vergleich auf der Ebene der Signifikanten direkt übersetzbar sind“, die sich jedoch „semantisch interkulturell“ unterscheiden würden. 8 Es 7 Vgl. dazu das Wort Heimat. Es kann als kulturelles Schlüsselwort oder als traditionsspezifisches Wort verstanden werden. 8 Kühn (2006: 25f.) führt in diesem Zusammenhang den Begriff der „interkulturellen Polysemie“ ein. Als Beispiel zitiert er frühe, von Müller-Jaquier durchgeführte Studien zu interkulturellen Verstehensproblemen, insbesondere zum Gebrauch des Wortes Familie mit Bezug auf das Sprachenpaar Deutsch - Französisch. <?page no="190"?> 180 Ulrike Reeg konnte herausgearbeitet werden, dass nicht nur eine jeweils kulturspezifische Bedeutung für Sprecherinnen und Sprecher relevant ist, sondern dass diese, etwa mit dem Wort Familie in dezidierter Weise unterschiedliche Einstellungen, Wertungen und Haltungen zum Ausdruck bringen. Aus der Perspektive der int e r k ultu r e ll e n K o m m u nik a ti o n entwickelt Heringer (2004: 162ff.) in Anlehnung an das von Agar entwickelte Konzept der „rich points“ das der sogenannten „Hotwords“. Richpoints indizieren (nicht nur) in der interkulturellen Kommunikation eine Schwierigkeit. Sie ermöglichen Einsichten in Kulturen, verhelfen dazu, eigene Erwartungen zu überprüfen, und man kann sie „kommunikativ bearbeiten“. Sie sind, meist „kristallisiert in Wörtern“, die demzufolge „kulturell extrem aufgeladen“ und „heiß“ sind, „brennende“, aktuelle Fragen einer Kultur behandeln, „strittig“ sein können und über ein hohes Identifikationspotential für „Muttersprachler“ verfügen. In interkulturellen Kontaktsituationen sind sie schwer zu verstehen, was sie in diesem Punkt von den von Kühn angenommenen, kultursemantisch brisanten Wörtern unterscheidet. 9 Um Hotwords adäquat verstehen zu können, müsse man, laut Heringer, „in die Zielkultur eintauchen“. Hinzu kommt, dass die vielen, kulturspezifischen Bedeutungskomponenten, die ein Hotword enthält, oft ein sogenanntes „kulturelles Muster“ bilden, das entschlüsselt werden muss. 10 3 Phr a s e m e und kultu rs p e z ifi s c h e Wörte r als Lerngegenstand Im Folgenden wird das Problem des besonderen Nutzens von P h r a s e m e n und k ultu r s p e z i fi s c h e n W ö rt e r n für Fremdsprachenlernende erörtert. Dabei stellt sich die Frage, welche (Teil-)Kompetenzen erworben werden, wenn Lernende sich intensiv mit Ph r a s e m e n und k ultu r s p e zifi s c h e n W ö rt e r n beschäftigen und lernen, diese angemessen zu verwenden. Grundsätzlich muss die besondere kulturelle Markierung von P h r a s e m e n und kultu r s p e z ifi s c h e n W ö rt e r n als Chance begriffen und im Lernprozess 9 Heringer (2004: 162ff.) zitiert in diesem Kontext in Anlehnung an Agar das der österreichischen Varietät des Deutschen entnommene, sehr gebräuchliche Wort Schmäh als Beispiel. 10 Das von Heringer (2004: 175) angeführte kulturelle Muster enthält u.a. die Wörter Gefühl, Dorf, Liebe, Sprache, zurück, heimatlos, alt, Recht. Beachtenswert ist m.E. auch, dass sowohl k u l t u r s p e z i f i s c h e W ö rt e r als auch Hotwords zentrale semantische Komponenten von P h r a s e m e n sein können (z.B. Damit ist jetzt Feierabend! , Da hört (sich) die Gemütlichkeit auf! , jemand ist schwer in Ord nung, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen), was deren Bedeutungserschließung für Nicht-Muttersprachler zusätzlich erschwert. <?page no="191"?> Phraseme und kulturspezifische Wörter 181 genutzt werden, um in neue und wenig bekannte Domänen der Zielkultur einzudringen. Dadurch kann in kondensierter Form kultur- und landeskundliches Wissen aufgebaut und für die interkulturelle Interaktion genutzt werden. Dies bedeutet ggf. eine nachhaltige Erweiterung des kulturspezifischen Wissensrepertoires sowie die damit verbundene Steigerung der C ultu r a l A w a r e n e s s (vgl. Kap. 1). Eine zentrale Kompetenz, die im Fremdsprachenunterricht gefördert werden muss, ist die des situationsadäquaten und sprachlich gelungenen kommunikativen Verhaltens. Es darf angenommen werden, dass vor allem die pr a g m a tis c h e n P h r a s e m e in besonderer Weise zur Steigerung der hierfür erforderlichen Int e r a kti o n s k o m p e t e n z beitragen können (vgl. Kap. 2.1), da sie als „fertige Problemlösungen zur Verfügung“ stehen und somit die Grundlage dafür bilden, dass sich verschiedene kommunikative Aufgaben zügig und ohne allzu großen Aufwand bewältigen lassen (Lüger 2007: 445). Wer diese gebraucht, so Donalies (2009: 99), „hält sich an das Erprobte, Bewährte, an das Gewohnte“ und ist zu „ritualisierter Kommunikation“ (Lüger 2007: 445ff.) in der Lage. Ein zweiter grundlegender Aspekt von Int e r a kti o n s k o m p e t e n z ist die G e s pr ä c h s r o utin e , die Lernende sukzessive aufbauen müssen. Auch hierbei ermöglicht ihnen der situationsadäquate Gebrauch von pr a g m a ti s c h e n P h r a s e m e n , Gespräche zu steuern, d.h. beispielsweise Gliederungssignale zu setzen (z.B. ich denke), die Sprecherrolle zu übergeben (oder nicht? ), Kontakt/ Zustimmung zu sichern (nicht wahr? ), die Aufmerksamkeit zu steuern (pass mal auf), Äußerungen metakommunikativ zu kommentieren (wie schon gesagt wurde) und dergleichen mehr (vgl. Burger 2010: 56). Der sinnvolle Einsatz von Phrasemen ermöglicht zudem Sprecher/ inne/ n ihre Sprechweise zu m o d a li s i e r e n . Fremdsprachenlernende können sich beispielsweise die „Pufferfunktion“ von pr a g m a ti s c h e n P h r a s e m e n (im Großen und Ganzen, sagen wir mal, wie heißt es doch gleich) vergegenwärtigen und diese in solchen kulturellen Kontaktsituationen sinnvoll einsetzen, die eine indirektere Sprechweise erfordern oder in denen eine durch momentane Formulierungsschwierigkeiten bedingte Verzögerung hilfreich ist (vgl. dazu exemplarisch Schwitalla 2006: 152ff., Lüger 2007: 448). Mit k ultu r s p e z ifi s c h e n W ö rt e r n und mit P h r a s e m e n können in der Interaktion generell Emotionen ausgedrückt werden. Damit verfügen sie über einen sogenannten „pragmatischen Mehrwert“ „gegenüber quasi-synonymen nicht-phraseologischen Formulierungen“ (Burger 2010: 81f.). Sie sind auch dann nützlich, wenn negative Äußerungen vorgenommen werden sollen und Sprecher/ innen einer Fremdsprache, die nicht genau wissen, welche Äußerung in einem bestimmten Moment die adäquate wäre, auf in der Sprachgemeinschaft bewährte Äußerungen zurückgreifen können (vgl. Donalies 2009: 50f.). <?page no="192"?> 182 Ulrike Reeg Ein weiterer, die interaktionale Kompetenz betreffender Aspekt ist die Fähigkeit zur S e l b s t- P o s iti o ni e ru n g im Gespräch. Kompetente Sprecher/ innen können mit P h r a s e m e n , aber auch mit k ultu r s p e z ifi s c h e n W ö rt e r n wichtige „Kontextualisierungshinweise“ 11 geben. Mit Bezug auf Gumperz erläutert Auer (1999: 170, vgl. auch Günthner 2010: 334), dass jede interpretierbare sprachliche Struktur ein indexikalisches Element transportieren, d.h. in einer genauer zu bestimmenden Weise auf den Kontext verweisen könne. Beim sprachlichen Handeln sind Sprecher/ innen grundsätzlich auf dieses indexikalische Potential der Sprache angewiesen, um signalisieren zu können, „wie das Gesagte gemeint ist.“ Die Kenntnis von P h r a s e m e n und k ultu r s p e zifi s c h e n W ö rt e r n - so darf angenommen werden - ermöglicht Lernenden, Kontext aktiv zu schaffen. 12 Ein m.E. oft zu wenig beachteter Aspekt im Verlauf von Lernprozessen ist die Entwicklung von S e l b s tb e w u s s t s e in und I d e ntit ä t in der Fremdsprache. Der situationsadäquate Einsatz von pr a g m a ti s c h e n P h r a s e m e n , aber durchaus auch der korrekte Gebrauch von zunächst „unauffälligen“, kultursemantisch brisanten Wörtern (vgl. Kap. 2.2) wirkt sich vorteilhaft auf die Beziehungsdynamik und den Interaktionsverlauf von Interaktant/ inn/ en aus, auf Grund der zu vermutenden positiven Beurteilung von fremdsprachlichen Sprecher/ inne/ n seitens ihrer jeweiligen herkunftssprachlichen Interaktionspartner/ innen. Die kommunikativ-situative Angemessenheit von k ultu r s p e z ifi s c h e n W ö rt e r n und P h r a s e m e n gilt dabei gemeinhin als Indiz für die Fähigkeit, „kulturell angemessen zu kommunizieren“ (Donalies 2009: 51). 13 Die hier lediglich skizzierte Bedeutung von P h r a s e m e n und k ultu r s p e z ifi s c h e n W ö rt e r n als Träger landes- und kulturkundlicher Informationen, als Komponenten der (interkulturellen) Interaktion sowie als Komponenten für den Aufbau (fremd)sprachlicher Identität sollte bereits ausreichen, um deren besondere Beachtung in einem dezidiert interkulturellen DaF-Unterricht nachdrücklich einzufordern. Dass dies - mit Blick auf die gängigen Lehrmaterialien - nicht in der erforderlichen Art und Weise geschieht, ist in den letzten Jahren mehrfach kritisch angemerkt worden. 14 11 Dazu zählen etwa Hinweise auf die Art der Beziehung, die soziale Positionierung, die Gruppenzugehörigkeit und anderes mehr. 12 Denkbar wäre etwa, dass Lernende durch den adäquaten Einsatz von Phrasemen in kulturellen Kontaktsituationen den Verstehensrahmen aktiv mitgestalten und somit zur Herstellung einer symmetrischen Interaktionssituation beitragen. 13 Mit Bezug auf Goffmann betont Donalies (2009: 51), dass der Grad der Beherrschung außerordentlich wichtig ist, um „Peinlichkeit und Unstimmigkeit“ zu vermeiden. 14 Vgl. dazu die Hinweise von Simon (2012: 136). <?page no="193"?> Phraseme und kulturspezifische Wörter 183 4 Kognitive Voraussetzungen für den Erwerb von Phra s e m e n und kultu r sp e zifi s ch e n Wörte rn Grundlage für gelungene Interaktion ist die Fähigkeit von Interaktant/ inn/ en, den jeweils anderen zu verstehen, also die Bedeutung seiner sprachlichen (und nicht-sprachlichen) Äußerungen zu erschließen. Dabei handelt es sich um den schwierigen Prozess der B e d e utu n g s e r s c hli e ß u n g auf allen Ebenen der Sprache bzw. der verbalen und nonverbalen Interaktion, dessen Komplexität in Kulturkontaktsituationen auf Grund vorhandender „Wissensasymmetrien“ (vgl. Günthner/ Luckmann 2002: 213) eher zunimmt. B e d e utu n g s e r s c hli e ß u n g kann generell als ein mentaler Prozess von K o n z e ptu a li s i e r u n g aufgefasst werden (vgl. exemplarisch Schwarz 1996, Rickheit/ Sichelschmidt/ Strohner 2002, Ziem 2008). Sprachverstehen bedeutet demnach, dass ausgehend von einer sprachlichen Äußerung sogenannte Konzepte, bei denen es sich um mentale Strukturen handelt, gebildet werden. Sie sind im Langzeitgedächtnis gespeichert und stellen einerseits operative Einheiten des Geistes dar, die Erfahrungs- und Erkenntniswerte aufeinander beziehen und repräsentieren. Andererseits handelt es sich um mentale Organisationseinheiten, die die Funktion haben, Wissen über die Welt zu speichern (Schwarz 1996: 87). Im Prozess der B e d e utu n g s e r s c hli e ß u n g werden diese Konzepte in übergeordnete Wissensstrukturen integriert, die in Anlehnung an Fillmore (2006: 375) auch als F r a m e bezeichnet werden. Sprachliche Bedeutungen können konzeptualisiert, d.h. als k o n z e ptu e ll e S tr u ktu r e n verstanden und schließlich nur vor dem Hintergrund dieser F r a m e s im Sinne übergeordneter Wissensstrukturen erfasst werden, die das W i s s e n s r e p e rt o ir e von Sprecher/ inne/ n konstituieren. Ein F r a m e ist „Einheit von Vielheit“, was an folgendem Beispiel exemplifiziert werden kann: Wenn man das Wort Wochenende verstehen will, muss man einen (Hintergrund-)F r a m e aktivieren, der Konzepte wie T AG , S AMSTAG , S ONNTAG , A RBEIT und F REIZEIT umfasst, denn „nur vor dem Hintergrund, dass eine (zyklisch wiederkehrende) Woche sieben Tage hat, von denen fünf als Arbeitstage gelten, kann verständlich werden, was das Wort Wochenende bedeutet“ (Ziem 2008: 22f.). Ähnliches darf auch für k ultu r s p e z ifi s c h e W ö rt e r angenommen werden. Aus kognitiver Perspektive können etwa die bereits erwähnten „kulturellen Muster“ (vgl. Kap. 2.2), als eine Reihe von Konzepten begriffen werden, die einem bestimmten, kulturell markierten Wort mental zugeordnet werden und für die Bedeutungserschließung relevant sind. Verstehensprozesse und die damit einhergehende Bedeutungserschließung werden durch sprachliche Ausdrücke ausgelöst, die als „kognitive Stimuli“ fungieren (Ziem 2008: 10). Werden diese interpretiert, rekonstruiert man Frames, anders formuliert, man greift auf dieses kulturell geprägte Vorwissen zurück. <?page no="194"?> 184 Ulrike Reeg Dies geschieht mittels zahlreicher Inf e r e n z b il d u n g e n ( vgl. Rickheit et al. 2002: 104) in konkreten Interaktionssituationen, wie auch bei Leseprozessen. Dieser Prozess verläuft automatisch, d.h., dass normalerweise weder die einzelnen Schritte des Inferierens bewusst sind noch dass es zu einer Rekonstruktion der einzelnen Wissensdomänen kommt, die abgerufen worden sind, um eine sprachliche Äußerung zu verstehen. Das verstehensrelevante Wissen, das abgerufen werden muss, ist dabei äußerst vielschichtig: Es handelt sich u.a. um „Wissen über gesellschaftliche Handlungs- und Interaktionsformen“, „Wissen über alltagspraktische Handlungs- und Lebensformen“, „Wissen über Emotionen der Kommunikationsbeteiligten“ und „Wissen über Bewertungen, Einstellungen, Absichten, Ziele, Motive“ (vgl. Ziem 2008: 167ff.). In Anlehnung an die Untersuchung von Hallsteinsdóttir (2003) müsste beispielsweise mit Bezug auf P h r a s e m e u.a. folgendes Wissen abgerufen werden: Wissen um die Verortung eines Wortes in paradigmatischen und syntagmatischen Relationen, Wissen um mögliche Bildhaftigkeit, Vagheit, Polysemie sowie das Wissen um die Kontextbedingtheit sprachlicher Äußerungen. Unzweifelhaft ist jedoch, dass es sich jeweils um mentale und individuelle Konstruktionsprozesse handelt. Obwohl Sprecher/ innen wissen, dass es generell im „Sprachsystem festgelegte und lexikographisch kodifizierte konventionelle phraseologische Bedeutungen“ gibt, bleibt jedoch die Bedeutung ein „Bewußtseinsphänomen, das je einmalig, unwiederholbar, prozesshaft, situativ und subjektiv ist. Die Bedingungen der Konstruktion werden durch das bewusste und unbewusste Gesamtwissen des jeweiligen Individuums gesetzt“ (vgl. Hallsteinsdóttir 2001: 51ff.). Dies bedeutet schließlich auch, dass das Resultat der Interpretation einer sprachlichen Äußerung von den Äußerungsabsichten des jeweiligen Interaktionspartners erheblich abweichen kann, was für die interkulturelle Kommunikation in besonderem Maße relevant ist. 15 15 In späteren Studien (Hallsteinsdóttir 2003: 358) konnte z.T. nachgewiesen werden, dass einzelne Phrasemkomponenten beim Verstehen eine große Rolle spielen. Bei L1- und L2-Äquivalenzen führt nicht die Analyse der einzelnen Komponenten zu einer wörtlichen Bedeutung, sondern die in dieser Konstellation bekannte, d.h. dominante phraseologische Bedeutung in der L1. Vor allem bei sinnäquivalenten P h r a s e m e n und solchen ohne muttersprachliches Äquivalent übt außerdem der Kontext einen großen Einfluss auf die adäquate Bedeutungserschließung aus. Die Annahme jedoch, dass Sprecher/ innen grundsätzlich in der Lage sind, „sinnkonstante, phraseologische Bedeutung mit Hilfe des eigenen Wissens und durch die Interpretation von Kontextinformationen zu konstruieren“, erscheint mir angesichts der komplexen mentalen Prozesse im Verlauf von Verstehensprozessen als zu optimistisch. Dafür spricht auch die Annahme, dass L2-Lerner/ innen nur sehr begrenzt die P h r a s e o l o g i z it ä t einer Wortverbindung wahrnehmen können, vor allem auch weil in <?page no="195"?> Phraseme und kulturspezifische Wörter 185 Hinzu kommt der in diesem Zusammenhang wichtige Aspekt, dass das im Gedächtnis gespeicherte, frameartige Wissen bestimmte Erwartungshaltungen der Interaktant/ inn/ en provoziert. Man erwartet nämlich grundsätzlich, dass sich Interaktionspartner/ innen in einer bestimmten Weise verhalten oder dass Ereignisse in einer ganz bestimmten Weise verlaufen, denn „Menschen nehmen normalerweise an, dass andere Menschen grundsätzlich wie sie selbst sind“ (Günthner/ Luckmann 2002: 214). Zu diesem Ergebnis kamen auch Forschungen zur inte r k ultu r e ll e n K o m m u nik a ti o n bzw. Kommunikationskompetenz. So konnte beispielsweise aufgezeigt werden, dass „die Wahrnehmung anderskultureller Kommunikationspartner sowie die Interpretation interkultureller Kommunikationsereignisse von kognitiven Konstrukten, die sich als schematisch organisierte Normalitätserwartungen charakterisieren lassen, geprägt sind.“ Gerade in diesem Bereich habe sich, so Knapp-Potthoff (1998: 98), „deutlich erwiesen, wo die Grenzen purer Erfahrung liegen, sofern die Erfahrung nicht durch adäquate kognitive Strukturen organisiert wird“. Ausgehend von der Annahme, dass sprachliche Äußerungen auf kulturell geprägte Wissensstrukturen verweisen bzw. nur im Rückgriff auf diese adäquat erschlossen werden können, muss mit erheblichen Schwierigkeiten in interkulturellen Kommunikationssituationen immer dann gerechnet werden, wenn kulturell geprägte P h r a s e m e und k ultu r s p e z fi s c h e W ö rt e r verwendet werden. Vorstellbar ist, dass hierbei möglicherweise Wissen inferiert wird, welches nicht oder nur teilweise relevant ist, dass die Interaktant/ inn/ en ggf. Erwartungen aufbauen, denen nicht entsprochen wird, oder dass sie Schlüsse ziehen, die nicht angemessen sind. Das Misslingen des Verständigungsprozesses oder sogar der Abbruch der Interaktion bedeutet schließlich aus kognitiver Sicht, dass eine potenzielle Möglichkeit der Reorganisation und Modifikation von Wissensstrukturen verspielt wurde. Die mentale Repräsentation eines Sachverhalts kann durch Inferenzen nicht erweitert und angereichert werden. Der Kommunikationsprozess ist dann, auch als gegenseitiger Lernprozess, misslungen (vgl. Reeg: im Druck). der Regel die muttersprachliche Wissensrepräsentation auf die Fremdsprache übertragen wird. Beim Verstehen unbekannter P h r a s e m e muss davon ausgegangen werden, dass zuerst eine wörtlich-kompositionelle freie Bedeutung der einzelnen Komponenten konstruiert wird. Diese Bedeutung verstößt jedoch häufig gegen semantische Selektionsregeln oder sie ist logisch nicht üblich bzw. möglich. In der Sprachverarbeitung führen solche Abweichungen zu einem syntaktischen, inhaltlichen oder stilistischen „Bruch“ (Hallsteinsdóttir 2001: 58). <?page no="196"?> 186 Ulrike Reeg 5 Ausblick: Parameter für die Entwicklung von didaktischen Aktivitäten und Lehr-/ Lernmaterialien Grundsätzlich ist eine gezieltere Auseinandersetzung mit kulturell markierten sprachlichen Äußerungsformen wie P h r a s e m e n und k ultu r s p e zifi s c h e n W ö rt e r n im interkulturellen DaF-Unterricht (besonders auch an Hochschulen außerhalb des deutschsprachigen Raums) einzufordern. Diese sollte vor allem nicht reduziert werden auf die von vielen Lehrbüchern geleistete Vermittlung standardisierter Routinen oder auf die Fokussierung ausgewählter, mehr oder weniger evidenter, kulturspezifischer Wörter. Das Wort Heimat kann dafür als ein Paradebeispiel gelten. Dies bedingt notwendigerweise, dass didaktische Zusatzmaterialien sowie alternative Aufgabenstellungen und Trainingsformen in den didaktischen Kontext integriert werden müssen. Folgende didaktische Prinzipien und Zielsetzungen sind dabei besonders relevant: Aus l e r n p s y c h o l o g i s c h e r P e r s p e kti v e handelt es sich zunächst darum, durch regelmäßige Reflexionsphasen im Unterricht das „metakognitive Bewusstsein“ der Lernenden zu stärken, dadurch ihr Bewusstsein für das eigene Lernen zu fördern und individuelle Lernstrategien auszubilden (Hallet/ Königs 2010: 328, vgl. Edmondson 2009, Schmidt 2010). Zum anderen sollte ein „vernetzendes Sprachenlernen“ durch den systematischen Rückgriff auf Wissen aus der jeweiligen Herkunftssprache im didaktischen Lehr-/ Lernkontext in Betracht gezogen werden, denn „die Lernenden müssen befähigt werden, ihr reiches kulturelles Schema- und Begriffswissen in der Mutter- und in anderen Sprachen (im Bewusstsein möglicher interkultureller Differenzen) für das Verstehen fremdsprachiger Texte und Äußerungen zu aktivieren und es für das Sprachenlernen zu nutzen“ (Hallet/ Königs 2010: 306). Ein dritter, entscheidender Faktor bezieht sich auf die Förderung der „natürlichen Sprachgenerierung“ im Hinblick auf interkulturelle Handlungssituationen. Dies basiert auf der Annahme, dass „die Speicherungswahrscheinlichkeit im Langzeitgedächtnis immer dann ganz erheblich [steigt], wenn die tonalen, visuellen, emotional-affektiven, episodischen und kognitiven Parameter in einer dialogischen Situation erfolgreich zusammenspielen und die erworbenen Fähigkeiten so besser auf variable Domänen transferiert werden können“ (Hallet/ Königs 2010: 39). Aus k o g niti v e r P e r s p e kti v e (vgl. dazu Kap. 4) ist zu beachten, dass Lernende u.a. dazu befähigt werden müssen, eigen- und fremdkulturelle Konzeptualisierungen in Bezug auf P h r a s e m e und k ultu r s p e z ifi s c h e W ö rt e r und die damit verbundenen Vorerwartungen zu erkennen. Ein weiteres Ziel ist, die Beschaffenheit kulturspezifischer F r a m e s und S c ri pt s als komplexe mentale Wissensrepräsentation und deren grundsätzliche Modifizierbarkeit durch inferentielle Leistungen zu erkennen und für den eigenen Lernprozess zu nutzen. <?page no="197"?> Phraseme und kulturspezifische Wörter 187 Ein Unterrichtsszenario, das diesen Vorgaben gerecht wird, verfügt grundsätzlich über ein sogenanntes ri c h l e a r nin g e n v ir o n m e nt , das den Lernenden Zugang zu Medien aller Art ermöglicht. Erst durch den Einbezug von u.a. auch literarischen Texten und Videoaufzeichnungen sowie mit Hilfe von Online-Recherchen sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Lernende die Kulturspezifik des Sprachmaterials in angemessener Weise erkunden können (vgl. dazu Roche 2001: 212ff.). 16 Ein erster wichtiger methodischer Schritt ist dabei die S e l b s tb e fr a g u n g der Lernenden (z.B.: Was verstehe ich unter Wald? Woran denke ich, wenn ich dieses Wort verwende? Wie verstehe ich Phraseme mit der Komponente Wald? ), um sich der K o n z e ptu a li s i e r u n g e n bewusst zu werden bzw. (Hintergrund-) F r a m e s zu verdeutlichen. Dies dient auch der Selbstbewusstwerdung über erwartbare, durch unterschiedliche kulturspezifische Konzepte ausgelöste Verständnisschwierigkeiten in der interkulturellen Interaktion. Die Auffindung möglicher Äquivalente in der Herkunftssprache ist in dieser Phase eine weitere sinnvolle Aufgabenstellung, vor allem dann, wenn es sich um kulturell brisante „unauffällige“ Wörter handelt (vgl. Kap. 2.2). Dem folgt eine vertiefende Recherche mit dem Ziel, „kulturelle Muster“ zu erkennen. Beim Wort Wald käme es dann zu Zuordnungen wie Wandern, Wanderweg, Wandervögel etc., die jeweils in gleicher Weise in Bezug auf mögliche Konzeptualisierungen hinterfragt werden können. Die Ergebnisse werden in M in d M a p s , Assoziogrammen und dergleichen konkretisiert, wodurch die „Verlinkung“ der Konzepte bzw. die kulturellen Muster deutlicher erkannt werden können (vgl. dazu auch Moraldo 2008: 198). Im Anschluss daran werden P h r a s e m e und k ultu r s p e z ifi s c h e W ö rt e r in der Interaktion erprobt. Aus dem Materialpool gewonnene kulturell signifikante Szenen, für die der Gebrauch von P h r a s e m e n konstitutiv ist, werden im szenischen Spiel erarbeitet mit dem Ziel, die mentale Repräsentation von Handlungsabläufen sichtbar zu machen. Improvisierendes Spielen bzw. Nachspielen eignet sich auch für das Erkennen möglicher Inferenzziehungen und vor allem auch für das Erproben von Bedeutungsaushandlung, die für eine gelungene Interaktion von großer Bedeutung ist. Den Abschluss bildet eine umfassende Phase der Reflexion. Im Rahmen einer detaillierten Situationsanalyse hinterfragen die Lernenden die Verhaltensweisen 16 Diese unterrichtsmethodischen Überlegungen entsprechen der Erkenntnis, dass interkulturelle Prozesse „nicht losgelöst von ihrem sozialen Auftreten und ihrer kontextuellen Einbettung“ untersucht werden können, „denn kulturelle Zugehörigkeiten und Differenzen äußern sich indexikalisch in kontextuell verorteten Interpretationsvorgängen“ (Günthner 2010: 339, vgl. dazu auch Deppermann 2006). <?page no="198"?> 188 Ulrike Reeg der Interaktionspartner/ innen, versuchen inferiertes, kulturspezifisches und kulturübergreifendes Wissen sowie die gegenseitigen Erwartungen der Interaktant/ inn/ en herauszufiltern. 6 Literatur Apfelbaum, Birgit: (2007): Interkulturelle Fremdsprachendidaktik. In: Straub, Jürgen/ Weidemann, Arne/ Weidemann, Doris (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe - Theorien - Anwendungsfelder. Stuttgart. S. 154-163. 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Der Gebrauch dieser Partikeln wird schließlich auch bei anderen Sprachen untersucht, wobei insbesondere kulturelle Unterschiede bei der Verwendung litotischer Ausdrucksweisen am Beispiel des englischen Understatement diskutiert werden. 1 Einleitung In diesem Beitrag möchte ich einige v e r d e c kt e F e h l e r vorstellen und aus kontrastiver und interkultureller Sicht analysieren. Ein v e r d e c kt e r F e hl e r wird von Kleppin (1998: 137) definiert als ein Fehler, der in der Äußerung nicht unbedingt erkennbar ist. Ein Lernender will z.B. etwas ganz anderes ausdrücken, als seine Äußerung vermuten lässt. Dies gelingt ihm aber nicht, weil z.B. ein lexikalischer Fehler seine Äußerung verfälscht. Es kann also eine grammatisch-lexikalisch durchaus korrekte und situationsangemessene Äußerung vorliegen, die aber nicht der Äußerungsabsicht des Sprechers entspricht. Derlei Fehler bringen mehrere, miteinander zusammenhängende, Probleme mit sich: • Der Hörer gelangt zu falschen Schlüssen über die Mitteilungsabsicht des Sprechers. Die Verständigung wird somit unter Umständen erheblich beeinträchtigt. • Der Fehler wird gar nicht als solcher erkannt, weder vom Sprecher noch vom Hörer. • Der Fehler bleibt somit unkorrigiert und wird damit fossiliert, d.h., der Lerner gewöhnt sich diesen Fehler dauerhaft an. <?page no="202"?> 192 Karsten Rinas Kleppin (1998: 27f.) hebt die Wichtigkeit der Bestimmung solcher Fehler hervor, verweist aber auch auf die hiermit verbundenen Schwierigkeiten: Sie können sich natürlich vorstellen, dass verdeckte Fehler häufig äußerst schwer aufzuspüren sind und dass man dazu schon detektivische Arbeit leisten muss. Im Grunde wird man sie vor allem über Nachfragen herausbekommen. Es kann äußerst wichtig sein, solche Fehler aufzudecken, weil sonst möglicherweise der Lernende über die Bestätigung der an sich ja richtigen Äußerung falsche Schlussfolgerungen ziehen kann. V e r d e c kt e F e hl e r sind auch und gerade aus interkultureller Sicht von Interesse, und zwar zum einen deshalb, weil sie die interkulturelle Verständigung erschweren können. Darüber hinaus gilt in einigen Fällen auch, dass solche Fehler erst durch kulturelle Differenzen hervorgerufen werden. Auf ein solches Beispiel werde ich hier zu sprechen kommen (vgl. Abschnitt 3). Zunächst sollen jedoch einige „überschaubarere“ v e r d e c kt e F e hl e r behandelt werden, die primär durch sprachliche Differenzen hervorgerufen werden. Dabei werde ich zunächst vorwiegend solche Fehler im Deutschen behandeln, die regelmäßig bei tschechischen Deutschlernern auftreten. 1 Im weiteren Verlauf der Darstellung werden auch andere Sprachen einbezogen. 2 Fallbeispiele 2.1 Referenzunterschiede Zunächst soll kurz auf zwei Beispiele eingegangen werden, bei denen die scheinbar direkt einander entsprechenden Konstruktionen im Deutschen und Tschechischen ein unterschiedliches Referenzverhalten aufweisen. 2.1.1 „Attraktion“ von Person und Numerus Das erste Phänomen, das hier genannt werden soll, findet sich in diversen Sprachen; bereits Lyons (1968: 279f., 1972: 283f.) hat es als „‚Attraktion’ von Person und Numerus” beschrieben. Hier sei es an einem tschechischen Beispielsatz illustriert: 1 Diese Wahl ist dadurch motiviert, dass ich als ein in Tschechien tätiger Germanist in diesem Bereich Erfahrungen sammeln konnte. <?page no="203"?> Verdeckte Fehler aus interkultureller Sicht 193 (1) Šli jsme s Petrou do kina. (Wir sind mit Petra ins Kino gegangen. = ‚Petra und ich sind ins Kino gegangen.‘) ‚(wir) sind‘: Petra Ganz wörtlich wäre dieser Satz als Wir sind mit Petra ins Kino gegangen. ins Deutsche zu übersetzen. Dieser Satz kann im Tschechischen nun auch in dem Sinne gebraucht werden, dass nur zwei Personen (Petra und der Sprecher) ins Kino gegangen sind. Das (hier implizite) Subjekt ‚wir‘ kann also dahingehend interpretiert werden, dass es auf den Sprecher sowie Petra und niemanden sonst referiert. Diese Lesart ist beim wörtlich entsprechenden deutschen Satz nicht möglich: ( 2) Wir sind mit Petra ins Kino gegangen. (= ‚Petra, ich + mind. eine weitere Person‘) ‚wir‘: já osoba x... + Petra (wobei Petra ≠ Person X) Satz (2) kann im Deutschen nur so interpretiert werden, dass das Subjekt wir auf den Sprecher sowie mindestens eine weitere Person verweist, welche aber nicht mit Petra identisch sein kann. Folglich bringt Satz (2) zum Ausdruck, dass mindestens 3 Personen ins Kino gegangen sind. Es liegt auf der Hand, dass diese Konstellation zu Interferenzfehlern führt: Tschechische Deutschlerner gebrauchen häufig einen Satz wie (2), wenn sie eigentlich sagen wollen: ‚Petra und ich sind ins Kino gegangen.‘ 2.1.2 Konstruktionen mit wollen/ chtít (Referenz des impliziten Subjekts) Das zweite hier interessierende Phänomen sei an einem tschechischen Satz illustriert, der vor einigen Jahren regelmäßig im Fernsehen zu hören war, und zwar in der tschechischen Ausgabe der Sendung „Who Wants to Be a Millionaire? “ („Wer wird Millionär? “; tschechisch: „Chcete být milionářem? “). Der ich Petra ich Person X <?page no="204"?> 194 Karsten Rinas erste Moderator dieser Sendung, Vladimír Čech, pflegte jedem neuen Kandidaten folgende Frage zu stellen: (3) Chcete něco říci k pravidlům? (wörtlich: Wollen Sie etwas zu den Regeln sagen? ) Genau genommen ist dieser Satz im Tschechischen ambig; er erlaubt die folgenden beiden Interpretationen: (3a) ‚Wollen Sie, dass ich (Vladimír Čech) Ihnen (dem Kandidaten) etwas zu den Regeln sage? ‘ (3b) ‚Wollen Sie (der Kandidat) selber etwas zu den Regeln sagen? ‘ Im Kontext dieser Show war der Satz (3) allerdings eindeutig im Sinne von (3a) gemeint: Der Moderator Čech bietet dem Kandidaten eine Erläuterung der Regeln an. Aus kontrastiver Sicht ist es nun problematisch, dass die direkte, „wörtliche“ Übersetzung von Satz (3) ins Deutsche ausschließlich die Interpretation (3b) erlaubt: 4) ‚Wollen etwas zu den Regeln sagen? ‘ Anders als im Tschechischen muss hier also das Subjekt von wollen (= Sie) zugleich als implizites Subjekt der Infinitivkonstruktion (mit dem Verb sagen) interpretiert werden. Wenn hingegen die Bedeutung (3a) im Deutschen realisiert werden soll, kann hierfür nicht Satz (4) gebraucht werden. Dieser Unterschied in der Subjektkontrolle bei Volitiva führt recht häufig zu Äußerungen tschechischer Deutschlerner, die irreführend sind. Hierzu gehören etwa Hilfsangebote wie das folgende: (5) Wollen Sie die Tasche tragen? (gemeint: ‚Wollen Sie, dass ich die Tasche trage? ‘/ ‚Soll ich Ihnen die Tasche tragen? ‘) Bei den hier behandelten Referenzunterschieden kann allerdings unter Umständen der Kontext dazu beitragen, die durch die fälschlichen Äußerungen hervorgerufenen Missverständnisse zu beseitigen. Bei den im folgenden Abschnitt zu Sie <?page no="205"?> Verdeckte Fehler aus interkultureller Sicht 195 behandelnden Problemen ist allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass die Fehler als solche identifiziert werden, wesentlich geringer. 2.2 Intensitätspartikeln In diesem Abschnitt sollen einige Lexeme behandelt werden, die der Klasse der Intensitätspartikeln 2 zugeordnet werden können. In diese Klasse gehören etwa die unterstrichenen Wörter in den folgenden Beispielen: (6) Das war sehr/ ziemlich/ recht interessant. (7) Wir fuhren sehr/ äußerst/ ganz schnell. Die Intensitätspartikeln stehen unmittelbar vor Adjektiven oder Adverbien und spezifizieren das mit diesen Adjektiven/ Adverbien „zum Ausdruck Gebrachte vor dem Hintergrund einer mit dem Bezugsausdruck gegebenen Norm, die über- oder unterschritten werden kann“ (IDS-Grammatik 1997: 56). Sie bringen also zum Ausdruck, in welchem Maße die von dem Adjektiv/ Adverb ausgedrückte „Eigenschaft“ einem Gegenstand oder einem Vorgang zukommt. Eine Intensitätspartikel, die Deutschlernern regelmäßig Schwierigkeiten bereitet, ist ganz. Diese Schwierigkeiten liegen darin begründet, dass ganz zwischen einer abschwächenden und einer verstärkenden Lesart oszilliert: (8) Die Arbeit ist ganz GUT. (‚ziemlich‘) (9) Die Arbeit ist GANZ vorzüglich. (‚absolut‘) Hierbei ist die verstärkende Lesart - wie in (9) - mit einer Betonung von ganz korreliert. Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass allein die Betonung in allen möglichen Kontexten bereits eine verstärkende Lesart gewährleistet. Vielmehr sind es auch semantische Eigenschaften der mit ganz verbundenen Adjektive/ Adverbien, die die Interpretation dieser Partikel steuern. Dies wird jedoch von DaF-Lernern nicht immer berücksichtigt, so dass sie häufiger irreführende Äußerungen wie die folgende tätigen: (10) ? ? Das Buch ist GANZ interessant. (gemeint: ‚ist sehr interessant‘; gesagt: ‚ist ziemlich interessant‘) 2 Vgl. IDS-Grammatik (1997: 56). In der einschlägigen Literatur schwankt die Terminologie allerdings erheblich. Andere Autoren sprechen auch von „Steigerungspartikeln“, „Graduierungspartikeln“ oder „Intensivpartikeln“. <?page no="206"?> 196 Karsten Rinas Dieser Fehler wurde bereits von Pusch (1981) eingehender analysiert. Pusch hat zugleich auch die wichtigsten semantischen Restriktionen für den Gebrauch von ganz in abschwächenden und verstärkenden Kontexten bestimmt. Die genannten Schwierigkeiten mit ganz haben wohl nahezu alle Ausländer, die das Deutsche als Fremdsprache erlernen. Aus tschechisch-deutscher kontrastiver Sicht verschärft sich dieses Problem allerdings noch, da es im Tschechischen eine Intensitätspartikel (docela) gibt, die ein sehr ähnliches Oszillationsverhalten aufweist wie ganz: (11) Je docela hezká. (Sie ist ziemlich hübsch.) (12) To je docela něco jiného. (Das ist etwas völlig anderes.) Es überrascht somit nicht, dass in allen gängigen tschechisch-deutschen Wörterbüchern docela als direktes Äquivalent zu ganz aufgeführt wird. Dies hat zur Folge, dass tschechische Deutschlerner dazu tendieren, docela pauschal mit ganz zu übersetzen. Dies ist jedoch nicht immer adäquat, da docela zwar sehr ähnlich wie ganz oszilliert, sich jedoch nicht in allen Kontexten gleich verhält. Dies führt mitunter zu Übersetzungsinadäquatheiten, wie etwa in dem folgenden Beispiel, das einem tschechisch-deutschen Konversationsführer (Halm/ Michalus 1991: 49) entnommen ist: (13) Ich bin ganz unabhängig. (‚völlig‘) (14) Jsem docela nezávislý. (‚relativ‘) Die in diesem Konversationsführer vorgenommene direkte Zuordnung von (13) und (14) ist inadäquat. Anstelle der Abschwächung im tschechischen Satz (14) induziert der deutsche Satz (13) eindeutig die verstärkende Lesart. Auf eine eingehendere Analyse der semantischen Restriktionen für den Gebrauch von ganz und docela soll hier verzichtet werden (vgl. hierzu Rinas 2002 und 2013). Stattdessen soll hier kurz auf eine weitere Intensitätspartikel eingegangen werden, die sich im tschechisch-deutschen Sprachkontakt als problematisch erwiesen hat: die Partikel recht. Tatsächlich bereitet diese schon innerhalb der deutschsprachigen Lexikographie Probleme, denn die Ausführungen zu dieser Partikel sind oft widersprüchlich. Es herrscht nicht einmal Einigkeit darüber, ob recht verstärkend oder abschwächend sei. 3 Diese Schwierigkeiten resultieren offenbar daraus, dass hier ein semantischer Wandel stattgefunden hat. Bereits 3 So wird im Partikellexikon von Helbig (1994) recht als verstärkend bestimmt (S. 195), ziemlich hingegen als einschränkend (S. 243). An anderer Stelle (S. 244) wird jedoch behauptet, dass recht und ziemlich weitgehend synonym seien. - Eine detailliertere Kritik hierzu findet sich in Rinas (2011: 88f.). <?page no="207"?> Verdeckte Fehler aus interkultureller Sicht 197 Hermann Paul (1920: 101) konstatiert, dass recht sich von einer ursprünglich verstärkenden zu einer abschwächenden Partikel gewandelt habe. In den deutschen Wörterbüchern wird dieser Umstand aber bis heute nur halbherzig reflektiert - und in den deutsch-tschechischen Wörterbüchern überhaupt nicht. Dort wird recht grundsätzlich mit eindeutig verstärkenden tschechischen Partikeln glossiert, was aber der heutigen Bedeutung dieser deutschen Partikel nicht entspricht. Dies hat zur Folge, dass recht von tschechischen Deutschlernern falsch gebraucht wird, dass es also zu verdeckten (Produktions-)Fehlern von der Art kommt, wie sie in der Einleitung (1) definiert wurden. Es kommt aber auch zu verdeckten Rezeptionsfehlern, d.h., deutschkundige Tschechen verstehen diese Partikel fast grundsätzlich falsch. Dies lässt sich daran zeigen, dass diese Partikel selbst in anspruchsvollen tschechischen Übersetzungen deutscher Prosa fast immer inadäquat wiedergegeben wird. Hierzu ein Beispiel aus Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“. Im Rahmen eines Streitgesprächs zweier Kontrahenten über ästhetische Fragen macht einer der beiden folgendes Zugeständnis: (15) „Andererseits ist es recht originell, was er da macht, und auch dekorativ.” (Plenzdorf 1976: 76). Im Kontext dieses Streitgesprächs kann diese Äußerung nur als halbwegs wohlwollendes Zugeständnis gedeutet werden, nicht aber als uneingeschränktes Lob (vgl. hierzu ausführlicher Rinas 2011: 92ff.). In der tschechischen Übersetzung wird diese Äußerung jedoch folgendermaßen wiedergegeben: (16) „Na druhou stranu to, co tady dělá, je opravdu originální, a taky dekorativní.” (Plenzdorf 1986: 50). (ist wirklich originell) Durch den Gebrauch des eindeutig verstärkenden opravdu (wirklich) wird die kommunikative Funktion dieser Äußerung in irreführender und verzerrender Weise wiedergegeben, so dass der diese Äußerung tätigende Protagonist als eine Art Opportunist erscheint, der seine zuvor geäußerte sehr kritische Haltung ins Gegenteil verkehrt. Derlei Fehlübersetzungen von recht lassen sich in der Literatur massenhaft nachweisen (vgl. Rinas 2011: 94f.). Es handelt sich somit um einen weit verbreiteten verdeckten Rezeptionsfehler. <?page no="208"?> 198 Karsten Rinas 3 Understatement als Übersetzungsproblem? Auch in diesem Abschnitt soll es um die Übersetzung von Intensitätspartikeln gehen, wobei allerdings auch andere Sprachen einbezogen werden und auch der Gesichtskreis erweitert werden soll. Generell soll hier die Frage interessieren, wie das englische „Understatement“ adäquat in andere Sprachen übersetzt werden kann. Exemplifiziert wird das Problem am Beispiel der englischen Intensitätspartikel rather, die in Standardwörterbüchern mit abschwächenden Partikeln wie ziemlich glossiert wird (vgl. etwa Klatt 1982: 438). Als Quelle dient hier ein Auszug aus J.K. Rowlings „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“ sowie dessen Übersetzungen in diverse Sprachen: (17) Englisch: „It certainly seems so“, said Dumbledore. „We have much to be thankful for. Would you care for a lemon drop? “ „A what? “ „A lemon drop. They're a kind of Muggle sweet I'm rather fond of.“ (S. 17). Deutsch: Eine Nascherei der Muggel, auf die ich ganz scharf bin. (S. 15f.). Lateinisch: citrinam fervescentem. genus est bellarioli Mugglensis quod admodum amo. (S. 8). (das ich äußerst liebe) Französisch: C'est une friandise que fabriquent les Moldus et je dois dire que c'est plutôt bon. (S. 17). (dass es sehr gut ist) Tschechisch: To je jeden z mudlovských pamlsků, který mám docela rád. (S. 16). (das ich ziemlich mag) Slowakisch: Túto muklovskú sladkosť priam zbožňujem. (S. 16f.). (vergöttere ich geradezu) Polnisch: Na cytrynowego dropsa. To takie cukierki mugoli, które bardzo lubię. (S. 15). (die ich sehr liebe) Bei diesem Beispiel wurde in nahezu allen Übersetzungen eine nicht-wörtliche, nämlich verstärkende, Übersetzung gewählt. Lediglich die tschechische Übersetzung fällt hier aus dem Rahmen; hier wurde die abschwächende Intensitätspartikel docela (im Sinne von ziemlich) gewählt, so dass diese Übersetzung dem englischen Original wörtlich entspricht. <?page no="209"?> Verdeckte Fehler aus interkultureller Sicht 199 Ist es nun angemessener, die abschwächende englische Äußerung mit einer Abschwächung wiederzugeben, oder sollte man eine Verstärkung wählen? Anders gefragt: Wie übersetzt man englisches Understatement? 4 Im Hinblick auf diese Frage dürfte die lateinische Übersetzung besonders aufschlussreich sein, da diese von einem englischen Muttersprachler verfertigt wurde, so dass man diesem eine besondere Sicherheit bei der Interpretation der Äußerung mit rather attestieren können sollte. Insofern erscheint es empfehlenswerter, die englische abgeschwächte Äußerung als eine „eigentlich verstärkte“ Äußerung zu interpretieren. Beim folgenden Beispiel aus Rowlings Roman sind die Befunde der Übersetzungen wesentlich uneinheitlicher: (18) Englisch: Next morning at breakfast, everyone was rather quiet. Dudley was in shock. He'd screamed, whacked his father with his Smelting stick, been sick on purpose, kicked his mother, and thrown his tortoise through the greenhouse roof, and he still didn't have his room back. Harry was thinking about this time yesterday and bitterly wishing he'd opened the letter in the hall. Uncle Vernon and Aunt Petunia kept looking at each other darkly. (S. 46). Deutsch: Am nächsten Morgen beim Frühstück waren alle recht schweigsam. Dudley stand unter Schock. Er hatte geschrien, seinen Vater mit dem Smelting-Stock geschlagen, sich absichtlich übergeben, seine Mutter getreten und seine Schildkröte durch das Dach des Gewächshauses geworfen, aber sein Zimmer hatte er trotzdem nicht zurückbekommen. Harry dachte darüber nach, was gestern beim Frühstück geschehen war. Hätte er den Brief doch nur schon im Flur geöffnet, dachte er voll Bitterkeit. Onkel Vernon und Tante Petunia sahen sich unablässig mit düsterer Miene an. (S. 45). Lateinisch: postridie mane hora ientaculi, omnes admodum tranquilli erant. (S. 29). (alle waren äußerst schweigsam) Französisch: Pendant le petit déjeuner du lendemain, tout le monde resta silencieux. (S. 46). (alle waren schweigsam) Tschechisch: Dalšího dne u snídaně všichni seděli zamlkle. (S. 41). (alle saßen schweigsam da) 4 Natürlich wäre hierbei genau genommen auch noch zu berücksichtigen, dass die Konventionen des Gebrauchs von „Understatement“ in den hier berücksichtigten Zielsprachen variieren können. Dies würde allerdings eine wesentlich differenziertere Diskussion erfordern, als sie hier gegeben werden kann. Die vorliegenden Ausführungen sind jedoch ohnedies nicht als „erschöpfende Abhandlung“ intendiert, sondern vielmehr als Beitrag dazu, für ein sprachlich-kulturelles Problem zu sensibilisieren. <?page no="210"?> 200 Karsten Rinas Slowakisch: Na druhý deň sedeli všetci pri raňajkách akosi nezvyčajne ticho. (S. 44). (saßen alle irgendwie ungewöhnlich ruhig da} Polnisch: Następnego dnia przy śniadaniu było dość spokojnie. (S. 43). (war es ziemlich ruhig) Bereits der Kontext lässt erkennen, dass hier Understatement vorliegen muss: Von den beim Frühstück anwesenden Personen steht eine unter Schock, die zweite grübelt über gestrige Ereignisse nach, und die beiden übrigen sehen sich mit düsterer Miene an. In einer solchen Situation erscheint die Feststellung, dass alle recht schweigsam waren, doch reichlich untertrieben. Die Übersetzungen verfahren sehr uneinheitlich: Nur in der lateinischen Übersetzung wird eine eindeutig verstärkende Partikel gewählt, zwei Übersetzungen (Deutsch, Polnisch 5 ) wählen die Abschwächung, und die restlichen Übersetzungen verzichten entweder auf eine Intensitätsmodifikation (Französisch, Tschechisch) oder gebrauchen recht vage umkreisende Modifikatoren (Slowakisch). Man wird hieraus schließen können, dass sich die Übersetzer bei der Wiedergabe dieser Abschwächung unsicher waren. Das hier beschriebene Problem ist keineswegs eine Neuentdeckung. „Understatement“-Phänomene sind etwa auch schon in der mittelhochdeutschen Philologie diskutiert worden. So verweist Saran (1975: 9ff.) auf eine Eigenheit „der alten Dichtungssprache”, „die beim Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen sorgfältig zu beachten” ist, nämlich den Litotes: Litotes ist gedämpfter Ausdruck. Man sagt etwa ‚lützel‘ (bzw. ‚węnec‘ oder ‚kleine‘) und meint: nichts, ‚selten‘ und meint: nie, ‚manchmal‘ und meint: immer. An diesen Bedeutungsunterschieden kann mitunter der Gesamtsinn einer Dichtung hängen. Wer z.B. Reinmar, MF XX, 150, 6: ‚an dem muote wil ich mangiu jâr belîben‘ wörtlich übersetzt, verfehlt die Aussage dieses Dichters, dem es hier darum geht, die durch nichts zu gefährdende, immerwährende Treue seiner Minne nachdrücklichst zu bezeugen: mein ganzes Leben lang will ich in diesem Minnedienst ausharren. [...] Nicht selten ist Litotes auch eine Form der Ironie, so wenn zum Beispiel ein Habenichts seine völlige Besitzlosigkeit darlegt und diese Aufzählung aller seiner Nöte und Mängel in der Aussage gipfeln läßt: diese meine himmelschreiende Armut bringt es mit sich, daß ‚ich leider selten slâfe bî einem schoenen wîbe‘. Auch das englische Understatement ist als Kommunikationsproblem bereits häufiger thematisiert worden, so etwa in der Übersetzungswissenschaft, und 5 Die polnische Partikel dość dürfte allerdings ähnlich „schillernd“ sein wie die tschechische Partikel dost. Zu letzterer vgl. Rinas (2002: 77ff). <?page no="211"?> Verdeckte Fehler aus interkultureller Sicht 201 zwar bereits in einem Klassiker dieser Forschungsrichtung, nämlich in dem Standardwerk von Levý, welches 1963 erstmals im tschechischen Original erschien, 1969 in deutscher und 2011 in englischer Übersetzung veröffentlicht wurde. Levý (1969: 93) konstatiert: Theoretisch ist heute bereits durchgekämpft, daß die zurückhaltenden, abgeschwächten englischen Ausdrücke (understatement) durch volle, stärkere Wendungen ersetzt werden - auch wenn in der Praxis noch viele Fehler auftauchen: I am afraid I cannot übersetzt man nicht mit ich befürchte, daß ich nicht kann, sondern mit leider kann ich nicht, das englische rather öfter mit ziemlich als mit einigermaßen. Diese Erläuterung in der deutschen Übertragung lässt den Leser allerdings stutzig werden: Bei der Übersetzung von rather soll anstelle von einigermaßen lieber ziemlich gebraucht werden? Inwiefern unterscheiden sich denn diese beiden deutschen Intensitätspartikeln? Sofern hier überhaupt ein semantischer Unterschied besteht, ist er jedenfalls sehr subtil und kaum zu fassen. Auch die englische Übertragung gibt hier keine weiteren Aufschlüsse. Hier wurde zwar auch die deutsche Übertragung berücksichtigt, doch wird damit auch derselbe schwer verständliche Ratschlag (Levý 2011: 90).übernommen: ‚I am afraid I cannot‘ is not to be translated literally but changed to ‚unfortunately I cannot‘ (e.g. in German not ‚ich befürchte‘ but ‚leider kann ich nicht‘), and ‚rather‘ is more commonly equivalent to ‚ziemlich‘ than ‚einigermassen‘. Die Frage klärt sich jedoch, wenn man einen Blick ins tschechische Original (Levý 1998: 121) wirft: ‚I am afraid I cannot‘ se nepřekládá ‚obávám se, že nemohu‘, ale ‚bohužel nemohu‘, angl. ‚rather‘ častěji ‚hodně‘ než ‚poněkud‘. (hodně = sehr anstelle von poněkud = ziemlich/ einigermaßen! ) Levý gibt hier die Empfehlung, bei der Übersetzung von rather anstelle der eindeutig abschwächenden Partikel poněkud (ziemlich/ einigermaßen) die eindeutig verstärkende Partikel hodně (sehr) zu gebrauchen. Diese Empfehlung ist klar und nachvollziehbar. Die deutsche (und englische) Übertragung hingegen ist hier unglücklich, missverständlich, ja im Grunde sogar falsch. Und dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Selbst hier, bei dieser metasprachlichen Anweisung zur korrekten Übersetzung einer Intensitätspartikel, ist es bei der Übertragung aus dem Tschechischen zu Übersetzungsfehlern gekommen. Dies illustriert sehr eindrücklich, dass Intensitätspartikeln im Sprachkontakt eine besonders „heikle“ Kategorie darstellen. <?page no="212"?> 202 Karsten Rinas 4 Schluss In diesem Beitrag sollte gezeigt werden, dass v e r d e c kt e F e hl e r auch und gerade aus Sicht der interkulturellen Kommunikation ein Problem darstellen, das beachtet werden sollte. Besondere Aufmerksamkeit wurde hier solchen v e r d e c kt e n F e hl e r n gewidmet, die sich beim Gebrauch von Intensitätspartikeln ergeben. Dass Fehler in diesem Bereich aus kommunikativer Sicht ernst genommen werden sollten, lässt sich leicht einsehen: Intensitätspartikeln werden oft in Kontexten gebraucht, in denen es um Beurteilungen geht, und gerade hierbei können Missverständnisse unangenehm sein. Man stelle sich etwa vor, dass ein ausländischer Wissenschaftler die neueste Publikation seines deutschen Kollegen beurteilen möchte und hierbei eine Äußerung im Sinne von (19) tätigen möchte, aber in Wirklichkeit eine Äußerung im Sinne von (20) tätigt: (19) ‚Ihr neuer Aufsatz ist sehr interessant.’ (20) ‚Ihr neuer Aufsatz ist ziemlich interessant.’ Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der solchermaßen Beurteilte seinen ausländischen Kollegen beim Wort nimmt, ja dass ihm nicht einmal der Gedanke kommt, dass sein Kollege nicht das sagen wollte, was er faktisch gesagt hat. Und wenn dieser Fehler unerkannt bleibt, wird das wahrscheinlich Folgen für die Beziehungsebene haben. Der deutsche Wissenschaftler könnte seinen ausländischen Kollegen etwa als aggressiv oder arrogant einschätzen. Fehler beim Gebrauch von Intensitätspartikeln sind somit aus kommunikativer Sicht besonders unangenehm und störend. Leider dürften sie ziemlich frequent sein, und hierfür gibt es gleich zwei Gründe: i) Die wörtliche Übersetzung von Intensitätspartikeln gelingt oft nicht, weil Wörter- und Lehrbücher diesbezüglich irreführende Auskünfte geben. Dies liegt einerseits darin begründet, dass die semantische Analyse dieser „unscharfen“ Ausdrücke ohnedies problematisch ist, 6 andererseits aber auch darin, dass die Bedeutung solcher Partikeln sich regelmäßig wandelt, wobei die verstärkenden Partikeln zu abschwächenden „abgenutzt“ werden (vgl. etwa Hentschel/ Weydt 2002: 648). Gerade solche Veränderungen werden aber in den Wörterbüchern häufig nur unzureichend oder auch gar nicht reflektiert, und dies kann insbesondere in der zweisprachigen Lexikographie zu Fehlern führen (wie am Beispiel der Partikel recht in Abschnitt 2.2 illustriert wurde). 6 Ein bekannter Versuch, diese „Unschärfe“ in den Griff zu bekommen, wurde im Rahmen der sogenannten „fuzzy logic“ entwickelt; vgl. etwa Zadeh (1965) und Lakoff (1973). <?page no="213"?> Verdeckte Fehler aus interkultureller Sicht 203 ii) Beim Gebrauch derart „abwägender“ Urteile kann es kulturelle Gebrauchsdifferenzen geben, und zwar insbesondere bei litotischen Verwendungen wie dem englischen Understatement. Ob bzw. inwieweit derlei kulturelle Differenzen im Sinne von ii) wirklich systematisch und erschöpfend erfasst werden können, ist eine Frage, die hier offen bleiben muss, obwohl eine diesbezügliche Untersuchung zweifellos lohnend wäre. So legen die in Abschnitt 3 behandelten Understatement-Beispiele unter anderem folgende Fragen nahe: • Ist ein solches Understatement eine generelle Erscheinung des Englischen, oder gibt es hier individualstilistische Unterschiede? • Ist Understatement textsortenspezifisch? • Gibt es in diesem Bereich Unterschiede zwischen dem britischen und amerikanischen Englisch? Zu diesen - zweifellos interessanten - Fragen kann ich hier leider keine Antworten geben. Stattdessen muss ich mich damit begnügen, auf die mit dem Understatement verbundenen interlingualen Interpretationsprobleme hinzuweisen. Dies hat freilich auch schon Levý (1963) getan. 7 Dennoch erscheint es mir wichtig, weiterhin für dieses Problem zu sensibilisieren. Dass dies keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, zeigt etwa eine neuere Publikation von König/ Gast (2012), welche englisch-deutschen Kontrasten gewidmet ist. Diese kontrastive Darstellung ist zweifellos hilfreich und verdienstvoll. Sehr zu begrüßen ist, dass gerade auch den Partikeln einige Aufmerksamkeit gewidmet wird, wobei vorwiegend Abtönungs- und Gradpartikeln behandelt werden (Kap. 17). Auf Unterschiede im Gebrauch der Intensitätspartikeln wird hingegen nicht eingegangen, und es findet sich auch keine umfassendere Behandlung des Understatement. Dieses Ausblenden kulturell-pragmatischer Faktoren ist bedauerlich, denn es kann schwerlich bezweifelt werden, dass es auch in diesem Bereich grundlegende Kontraste gibt. In diesem Beitrag sollte illustriert werden, dass v e rd e c kt e F e hl e r den interkulturellen Austausch beeinträchtigen können. Insofern verdienen diese Fehler besondere Aufmerksamkeit. Die Beschäftigung mit dieser Fehlerquelle kann - im wahrsten Sinne des Wortes - dazu beitragen, dass Angehörige verschiedener Sprach- und Kulturgemeinschaften einander besser verstehen. 7 Unlängst hat etwa auch Broszinsky-Schwabe (2011: 114) das Problem aus Sicht der interkulturellen Kommunikation angesprochen. <?page no="214"?> 204 Karsten Rinas 5 Literatur Broszinsky-Schwabe, Edith (2011): Interkulturelle Kommunikation. Missverständnisse - Verständigung. Wiesbaden. Helbig, Gerhard (1994): Lexikon deutscher Partikeln. 3., durchges. Aufl. Leipzig u.a. Hentschel, Elke/ Weydt, Harald (2002): Die Wortart ‚Partikel’. In: Cruse, Alan et al. (Hrsg.) Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. 1. Halbbd. Berlin/ New York. S. 646-653. IDS-Grammatik (1997) = Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin/ New York. Klatt, Edmund (1982): Langenscheidts Taschenwörterbuch der englischen und deutschen Sprache. 6. Neubearb. Berlin u.a. Kleppin, Karin (1998): Fehler und Fehlerkorrektur. Berlin u.a. König, Ekkehard/ Gast, Volker (2012): Understanding English-German Contrasts. 3., neu bearb. und erw. Aufl. Berlin. Lakoff, George (1973): Hedges: A Study in Meaning Criteria and the Logic of Fuzzy Concepts. In: Journal of Philosophical Logic 2.4. S. 458-508. Levý, Jiří (1969): Die literarische Übersetzung. Theorie einer Kunstgattung. Übers. v. Walter Schamschula. Frankfurt am Main/ Bonn. Levý, Jiří (1998): Umění překladu. Praha. [První vyd. 1963]. Levý, Jiří (2011): The Art of Translation. Übers. v. Patrick Corness. Amsterdam/ Philadelphia. Lyons, John (1968): Introduction to theoretical linguistics. Cambridge. Lyons, John (1972): Einführung in die moderne Linguistik. 2., durchges. Aufl. München. Paul, Hermann (1920): Prinzipien der Sprachgeschichte. Tübingen. Pusch, Luise F. (1981): Ganz. In: Weydt, Harald (Hrsg.): Partikeln und Deutschunterricht. Abtönungspartikeln für Lerner des Deutschen. Heidelberg. S. 31-43. Rinas, Karsten (2002): Interferenzfehler deutschsprechender Tschechen. 2. Teil: Verdeckte Fehler. In: Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik; 7. S. 33-93. Rinas, Karsten (2011): Übersetzungskritik und Intuition im Rahmen korpusbasierter kontrastiv-lexikalischer Untersuchungen. Methodologische Überlegungen am Beispiel der Partikeln. In: Káňa, Tomáš/ Peloušková, Hana et al.: Deutsch und Tschechisch im Vergleich. Korpusbasierte linguistische Studien II. Brno. S. 85-99. Rinas, Karsten (2013): Nicht so GANZ einfach: Zur Semantik der ‘schillernden’ Intensivpartikeln ganz und docela. In: Nekula, Marek/ Šichová, Kateřina/ Valdrová, Jana (Hrsg.): Bilingualer Sprachvergleich und Typologie: Deutsch - Tschechisch. Tübingen. S. 223-244. Saran, Franz (1975): Das Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen. 6., erg. Aufl. Neubearb. von Bert Nagel. Tübingen. Zadeh, Lofti (1965): Fuzzy sets. In: Information and Control 8. S. 338-353. Quellen Harry Potter-Ausgaben Potter-cz: Joanne K. Rowling: Harry Potter a kámen mudrců. Übers. v. Vladimír Medek. Praha 2000. <?page no="215"?> Verdeckte Fehler aus interkultureller Sicht 205 Potter-de: Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Stein der Weisen. Übers. v. Klaus Fritz. Hamburg 1998. Potter-en: Joanne K. Rowling: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. London 2000. Potter-fr: Joanne K. Rowling: Harry Potter à l’école des sorciers. Übers. v. Jean-Francois Ménard. Paris 2007. Potter-lat: Joanne K. Rowling: Harrius Potter et Philosophi Lapis. Übers. v. Peter Needham. London 2003. Potter-pl: Joanne K. Rowling: Harry Potter i kamień filozoficzny. Übers. v. Andrzej Polkowski. Poznań 2000. Potter-sk: Joanne K. Rowling: Harry Potter a kameň mudrcov. Übers. v. Jana Petrikovičová. Bratislava 2000. Halm, Wolfgang/ Michalus, Štefan (1991): Sätze aus dem Alltagsgespräch/ Vety na každý deň/ Věty pro každý den. Bratislava. Eschbach, Andreas (2003): Das Jesus Video. Augsburg. Eschbach, Andreas (2004): Video s Ježíšem. Übers. v. Eva Pátková. Praha. Plenzdorf, Ulrich (1976): Die neuen Leiden des jungen W. Frankfurt am Main. Plenzdorf, Ulrich (1986): Nová utrpení mladého W. Übers. v. Petr Karlach. Praha. <?page no="217"?> Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Brasilianern im Lichte von Strategien der (Un-)Höflichkeit, divergierenden Konfliktstilen und Formen des Beziehungsmanagements Ulrike Schröder (Belo Horizonte) Zusammenfassung Anhand konkreter Kommunikationssituationen, in denen Brasilianer und Deutsche Bedeutungen aushandeln und Spannungen auftreten, illustriert die folgende Studie, wie komplex die Faktoren sind, im Rahmen derer wechselseitige Auslegungsprozesse verlaufen. Die Auswahl der analysierten Kommunikationssituationen erfolgt auf der Basis einer Videoaufzeichnung, bei der vier Brasilianer mit vier Deutschen interagieren. Dabei wird ein Zusammenspiel von verbalen, nonverbalen und paraverbalen Kontextualisierungshinweisen, (Un-)Höflichkeitsstrategien, Formen des Beziehungsmanagements und metareflexiv gewonnenen Strategien im Umgang mit dem „Fremden“ zutage gefördert, in dem sich sowohl die individuellen Prädispositionen der Akteure als auch die kulturellen Präsuppositionen des Standorts widerspiegeln. Folglich muss danach gefragt werden, inwiefern in extrakommunikativer Sicht gewonnene skalare Kategorien, wie z.B. d i r e k t versus i n d i r e k t , aus der Perspektive der Handelnden tatsächlich haltbar und ausreichend sind, um dem Kommunikationsgeschehen als Ganzem gerecht zu werden. 1 Einleitung In den vergangenen zehn Jahren lässt sich ein verstärkter Einzug linguistischer Fragestellungen in die bis dato überwiegend der Soziologie und Psychologie vorbehaltene interkulturelle Kommunikationsforschung beobachten, was u.a. auch eine Metadiskussion um neue Forschungskonzepte wie int e r k ultu r e ll e L in g ui s tik (Földes 2003), int e r k ultu r e ll e S e m a n ti k (Kühn 2006) und int e rk ultu r e ll e P r a g m a tik (Herrlitz/ Koole/ Loos 2003); 1 initiiert hat. Dennoch gilt für den Großteil der empirischen Untersuchungen immer noch das, was Clyne 1 Vgl. hierzu auch die seit 2004 vom De Gruyter Verlag herausgegebene Zeitschrift „Intercultural Pragmatics“. In der anglo-amerikanischen Forschung gibt es im Vergleich zu einem hohen Anteil an empirischen Studien wenige grundlagentheoretische Reflexionen. <?page no="218"?> 208 Ulrike Schröder (1996: 3f.) vor mehr als fünfzehn Jahren zum Forschungsstand der interkulturellen Kommunikation festgestellt hat: Während kontrastive Untersuchungen stark vertreten sind, ist die Zahl der Studien mit Fokus auf der Interaktion selbst eher spärlich. So zieht man etwa im Zusammenhang mit problembehafteter Kommunikation in interkulturellen Begegnungen in der Forschung nach wie vor vergleichsweise unkritisch skalare Dimensionen heran und unterscheidet mit extrakommunikativ gewonnenen Dichotomien wie d ir e kt versus in d ir e kt Kulturen hinsichtlich ihrer Kommunikationsstile (House 2003, Kohnen 1987, Spencer-Oatey 2008) und bringt diese dann etwa in Zusammenhang mit in d i v i d u a li s ti s c h e n und k o ll e kti v i s ti s c h e n Kulturen, wie u.a. die Arbeiten von Hofstede (1983) oder Ting-Toomey/ Oetzel (2007) belegen. Immer wieder jedoch stieß ich im Laufe meiner eigenen Forschungspraxis auf Schwierigkeiten, sobald es darum ging, im Rahmen solch skalarer Konstrukte brasilianischen Kommunikationsformen im Gegensatz zu deutschen einen Platz zuzuweisen, was den Anstoß für ein Pilotprojekt bildete, in dessen Zentrum die Aufnahme von authentischen, nicht-institutionellen Gesprächen zwischen Deutschen und Brasilianern stand, auf deren Grundlage dann der aufgeworfenen Fragestellung von interaktional-prozessuraler Seite her nachgegangen werden sollte, die sich stärker der kommunikativen wie extrakommunikativen Perspektive der Handelnden 2 selbst zuwendet. Den theoretischen Ausgangspunkt bildet dabei eine Zusammenführung der (Un-)Höflichkeitstheorie mit den Theorien der Konfliktstile und des Beziehungsmanagements. 2 Theoretischer Rahmen Unter Rückbezug auf den von Goffman (1967) geprägten f a c e -Begriff erarbeiten Brown/ Levinson (1978/ 1987) eine Höflichkeitstheorie, welche die goffmansche Unterscheidung von p o s iti v e f a c e als Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung durch andere und n e g a ti v e f a c e als Bedürfnis nach freier Handlungsentfaltung ohne Behinderung oder Eingriff durch andere aufnimmt und weiterentwickelt. Unter f a c e th r e a t e n in g a c t s , kurz F T A s genannt, verstehen Brown/ Levinson potentiell gesichtsbedrohende Akte, z.B. das Äußern einer gegenläufigen Meinung oder einer Kritik, die jedoch normalerweise entlang von Höflichkeitsstrategien abgeschwächt wird, um die soziale Harmonie nicht zu gefährden. Die Autoren unterscheiden dabei zwischen fünf „Superstrategien“: Zunächst kann der potentielle Angreifer sich dazu entscheiden, den Akt ob des hohen Risikos für das soziale Miteinander erst gar nicht auszuführen. Beschließt er 2 Vgl. zu der auf Ungeheuer zurückgehenden Unterscheidung von kommunikativer und extrakommunikativer Perspektive Schmitz (1998). <?page no="219"?> Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Brasilianern 209 das Gegenteil, so kann dies o n r e c o r d oder o ffr e c o r d geschehen: Während mit o ffr e c o r d indirekte Strategien gemeint sind, z.B. Andeutungen, Ironie, doppeldeutige Äußerungen, Metaphern, rhetorische Fragen oder Vagheiten, verläuft die Entscheidung für einen o nr e c o r d- Angriff über die Frage, ob dies unverblümt, d.h. with o ut r e d r e s s i v e a c ti o n , b a l d l y - wie bei militärischen Kommandos und Notrufen - oder in abgeschwächter Form verlaufen soll. In diesem Fall aktiviert der Angreifer kompensierende Strategien, die entweder positive oder negative Höflichkeit betreffen: Positive Höflichkeit bezeichnet die Anwendung einer optimistischen Strategie, die von gemeinsamen Interessen ausgeht, welche es nun zu fokussieren gilt. Die Frage danach, ob das Gegenüber mir ein Buch leihen kann, würde man optimistisch, z.B. unter Zuhilfenahme einer Modalpartikel formulieren: „Hey, du kannst mir doch sicherlich das Buch X leihen! “ Entscheidet sich der Sprecher für eine negative Höflichkeitsstrategie, so geht er davon aus, dass ein FTA grundsätzlich ein Eindringen in das Territorium des anderen impliziert und würde daher dieselbe Bitte eher indirekt, z.B. in Form eines Interrogativsatzes, mit einem Modalverb im Konjunktiv II und einer Abtönungspartikel formulieren: „Könntest du mir vielleicht das Buch X bis übermorgen leihen? “ Neben einer Vielzahl von Kritiken an Brown/ Levinson hinsichtlich ihres Universalitätsanspruchs sowie ihrer kontextentbundenen, Sätze isolierenden Vorgehensweise etabliert Bousfield (2008) als Reaktion auf ein besonders markantes Defizit dieser Theorie, dem Außenvorlassen gewollter Gesichtsangriffe, im Anschluss an die Vorarbeiten von Culpeper (1996) eine Theorie der Unhöflichkeit und differenziert hinsichtlich eines gewollten Gesichtsangriffs (f a c e a tt a c k ) zwischen zwei elementaren Strategien: (a) o n r e c or d i m p o lit e n e s s als Gebrauch von expliziten, unverhohlenen Strategien, die eingesetzt werden, um das Gesicht des Gegenübers zu verletzen, das Gesicht des anderen in einer nachteiligen Weise darzustellen oder die an Gesichtsbedürfnisse gekoppelten Erwartungen offenkundig zu enttäuschen und (b) o ff r e c or d i m p o lit e n e s s als Gebrauch von indirekten Strategien mit Hilfe einer Implikatur, so dass der Angriff auch geleugnet werden könnte. Hierzu zählen Sarkasmus oder vorenthaltene Höflichkeit, indem z.B. anstelle einer erwarteten positiven Rückmeldung einfach geschwiegen wird. Spencer-Oatey (2008) dehnt die Höflichkeitstheorie aus und bezieht sich mit dem Terminus r a p p o rt m a n a g e m e nt generell auf die Art und Weise, wie Menschen in der interpersonellen Begegnung Harmonie und Dissens managen. Sie beschreibt vier Typen von R a p p o rt- Orientierung, wobei die potentielle Trennung von Höflichkeit und Unhöflichkeit zusammenfällt: (a) r a p p o rt e nh a n c e m e nt o ri e nt a ti o n bezieht sich auf den Wunsch, harmonische Beziehungen zwischen den Teilnehmern entweder herzustellen oder zu verstärken; (b) r a p p o rt m a int e n a n c e o ri e nt a ti o n darauf, harmonische Beziehungen <?page no="220"?> 210 Ulrike Schröder zwischen den Teilnehmern aufrechterhalten oder bewahren zu wollen; (c) r a p p o rt n e g l e c t o ri e nt a ti o n auf fehlendes Interesse an der Beziehungsqualität zwischen den Teilnehmern und (d) r a p p o rt c h a ll e n g e o ri e nt a ti o n auf die Tendenz, harmonische Beziehungen in Frage zu stellen oder herauszufordern. Das Modell impliziert zum ersten Mal auch situationale Faktoren sowie kulturelles Hintergrundwissen, etwa um konventionalisierte Kommunikationsgenres, bleibt aber bisher noch eine interaktionsnahe empirische Prüfung schuldig. Schließlich diskutieren Ting-Toomey/ Oetzel (2007) aus makrologischer Sicht zwei Konfliktstiltypen, die sich aus dem Zusammenspiel von s e lff a c e c o nc e r n und o th e r f a c e c o n c e r n ergeben, ein Dualismus, der an die Differenzierung von int e r d e p e n d e nt und in d e p e n d e nt s e lf nach Markus/ Kitayama (1990) anschließt: Ting-Toomey (1999: 107) spricht von einem s e lfe n h a n c e m e nt und einem s e lfe ff a c e m e nt v e r b a l s t yl e : The self-enhancement verbal style emphasizes the importance of boasting about one’s accomplishments and abilities. The self-effacement verbal style, on the other hand, emphasizes the importance of humbling oneself via verbal restraints, hesitations, modest talk, and the use of self-deprecation concerning one’s effort or performance. Demnach findet sich ersterer besonders in individualistisch ausgerichteten, westlichen Kulturen und bezieht sich auf eine selbstverteidigende, kontrollierende, dominante und kompetitive Konfliktform, wogegen Angehörige kollektivistisch orientierter, ostasiatischer Kulturen eher dazu neigen, integrativ, zuvorkommend, vermittelnd oder gar konfliktvermeidend zu agieren. Komparative Studien zu deutschen und/ oder brasilianischen Höflichkeitsformen und Kommunikationsmustern im Gegensatz zu verschiedenen anderen Kulturen 3 legen die Hypothese nahe, dass sich der brasilianische Konfliktstil im Vergleich mit dem deutschen eher als kollektivistisch und am int e r d e p e n d e nt s e lf orientiert, der deutsche Stil demgegenüber als individualistisch und an ein in d e p e nd e nt s e l f gekoppelt beschreiben lassen müsste, was im Folgenden zu prüfen ist. 3 Vgl. die Untersuchungen von Günthner (2008), House (2003), Markowsky/ Thomas (1995), Pearson/ Stephan (1998), Carvalho/ Trevisan (2003), Schröder (2010) und Meireles (2001). <?page no="221"?> Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Brasilianern 211 3 Methodische Vorgehensweise Die nachfolgenden empirischen Daten entstammen dem Pilotprojekt einer inzwischen auf weitere Kulturen ausgedehnten Forschung, bei der „homileische Diskurse“ (Ehlich/ Rehbein 1980) zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, die einen Schüler- oder Studentenaustausch in Brasilien realisieren, aufgezeichnet und unter semantisch, pragmatisch und interaktional relevanten Fragestellungen analysiert werden. In einem ersten Schritt wurde im Juni 2010 eine Videoaufzeichnung einer sogenannten e li c it e d c o nv e r s a ti o n (Kasper 2008: 287f.) zwischen vier Deutschen und vier Brasilianern angefertigt. Alle Teilnehmer waren männlich, studierten an verschiedenen Fakultäten und verfügten im Hinblick auf die je andere Sprache über ein Mindestsprachniveau von A2 nach dem europäischen Referenzrahmen. Die Diskussion betrug knapp zwei Stunden, wobei Karten mit auf Deutsch und Portugiesisch formulierten Fragen als Redestimulus dienten. Die Fragen waren absichtlich allgemein gehalten, z.B. „Welche sind deine beruflichen Zukunftserwartungen und -pläne? “ Außerdem wurde den Teilnehmern freigestellt, ob sie sich auf Portugiesisch, Deutsch oder in einer Lingua Franca wie Englisch verständigen. Das Gespräch wurde unter den gleichen Voraussetzungen ein Jahr später mit acht weiblichen Teilnehmern - vier Brasilianerinnen und vier Deutschen - wiederholt. Abb. 1 V=Versuchsleiter, K=Kamera, B=Brasilianer, D=Deutsche: 4 4 Mein Dank geht an Mariana Carneiro Mendes, die für diese Skizze verantwortlich ist. <?page no="222"?> 212 Ulrike Schröder Beide Aufnahmen wurden im Software-Programm EXMARaLDA 5 transkribiert, wobei eine gemeinsam vorgenommene Selektion der Konventionen GAT-2 6 (Selting et al. 2009) transkriptionsleitend wurde. In beiden Fällen wurde im Verlauf des anschließenden Monats mit jedem Teilnehmer ein retrospektives Interview durchgeführt, wobei dem Probanden die Aufnahme gezeigt wurde, so dass er einerseits frei kommentieren konnte, was ihm zu der Situation nachträglich einfiel; andererseits haben die Interviewer auch spezifische Fragen zu bestimmten Gesprächssequenzen vorbereitet. 4 Analyse In einem ersten Schritt wurde der Versuch unternommen, eine Distributionsanalyse im Hinblick auf eine mögliche Klassifizierung der verschiedenen FTAs im Sinne von Brown/ Levinson vorzunehmen, um eventuelle Unterschiede zwischen den deutschen und brasilianischen Teilnehmern aufzuspüren, was zu dem folgenden Ergebnis führte: FTAs Off record On record (negative Höflichkeit) On record (positive Höflichkeit) Bald on record D T . → B R . 07 11 05 12 D T . → D T . 03 14 12 08 B R . → D T . 04 07 05 08 B R . → B R . 01 06 06 04 Total D T . 10 25 17 20 Total B R . 05 13 11 12 Tabelle 1: Distributionsanalyse der FTAs 7 Obwohl sich auf den ersten Blick eine Tendenz zu einem höheren Gebrauch von FTAs durch die deutschen Teilnehmer abzeichnet, was sich mit den Ergebnissen der erwähnten empirischen Studien decken würde, zeigt ein tiefer gehender Blick, dass eine solche Tabelle letztlich wenig aussagekräftig ist: So bildet die Tabelle nicht die Distribution der Redeanteile ab, bei denen die Deutschen mit einem Anteil von 870 Gesprächsschritten im Gegensatz zu 590 Gesprächsschrit- 5 http: / / www.exmaralda.org/ 6 Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2. 7 FTA = Face Threatening Act; D T .→ B R . = deutsche Äußerung, gerichtet an einen Brasilianer etc. <?page no="223"?> Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Brasilianern 213 ten im brasilianischen Fall weit vorne liegen. Hinzu kommt die ungleiche Verteilung zwischen den einzelnen Teilnehmern. So hatte etwa von den 870 deutschen Gesprächsschritten ein Teilnehmer alleine 378 inne; er ist auch für 37 der 72 FTAs verantwortlich. Daher scheint es plausibler, bei dieser qualitativ ausgerichteten Studie aufgrund der dargelegten Faktorenvielfalt eher mikroanalytisch vorzugehen, um der komplexen Interaktionskonstellation sowie der Multimodalität der Kommunikationssituation gerecht zu werden. Ein weiteres Problem hinsichtlich einer Klassifizierung nach Brown/ Levinson stellt die mangelnde Trennschärfe zwischen den Kategorien dar, ein Dilemma, das sich umso mehr verstärkt, desto mehr nonverbale und paraverbale Elemente bei der Bestimmung der FTAs hinzukommen, die von Brown/ Levinson in ihrer Analyse isolierter Sätze des Sprachsystems nur am Rande Erwähnung finden. Das gilt z.B. für die Kategorie b a l d o n r e c o r d , die in der untersuchten Diskussion unter rein verbaler Betrachtung häufiger von Brasilianern als von Deutschen verwendet wird. Demnach wären die Brasilianer direkter als Deutsche. Allerdings werden die negativen syntaktischen Elemente auf prosodischer Ebene häufig durch Intonation und Stimmhöhe relativiert und stellen so offenbar keinerlei gesichtsbedrohenden Akt dar. Hier ein Beispiel, wo ein Brasilianer einem Deutschen, der behauptet, Japanisch sei eine der schwierigsten Sprachen der Welt, direkt widerspricht, sich dabei jedoch eines prosodischen do w n g r a d e r s bedient, so dass die gewählte Strategie schwer kategorisierbar wird: Beispiel 1: Diskussion Brasilianer - Deutsche, 44: 59-45: 06 01 D3: ent-o você fala japonês de verdade? 02 B2: ((com m-o na nuca)) ºhh 03 <<afirmando com a cabeça> é: : > 04 D3: n-o porque: japonês é uma: ah: das línguas mais difíceis do mundo: - 05 B2: ↑n-o,=n-o é: ; 06 D3: n-o é? 01 D3: also sprichst du richtig japanisch? 02 B2: ((mit der Hand im Genick)) ºhh 03 <<nickt> ja: : > 04 D3: nee wei: l japanisch ist ei: ne de: r ah: der schwierigsten sprachen der we: lt- 05 B2: ↑nee,=isses nich; 06 D3: isses nich? Verlassen wir also das starre Klassifikationsschema von Brown/ Levinson und betrachten eine Situation, in der es zu Dissens kommt, aus der Perspektive der Theorien der Konfliktstile und des Beziehungsmanagements. Hier zeichnen sich <?page no="224"?> 214 Ulrike Schröder tatsächlich Tendenzen ab, welche die Ergebnisse der genannten Vergleichsstudien grundsätzlich zu bestätigen scheinen: Beispiel 2: Diskussion Brasilianer - Deutsche, 53: 04-53: 49 01 B1: ah; 02 (-) 03 B1: lugar que eu por exemplo eu conheci; (-) 04 e achei MUIto bonito qualidade de vida Ó: tima- (.) 05 buenos aires 06 D3: TA: - 07 B1: custo de vida lá [embaixo-] 08 D3: [odeio; ] 09 B1: cidade LIN: da 10 (-) 11 D3: fiquei lá quatro [quatro semanas ] 12 B1: [lá é maravilhO: so.] 13 D3: odeio. 14 B1: lá é pra passar 15 D3: só tem <<zeigende Geste auf den Boden mit offenen Händen> coco lá: -> 16 (xxx) coco de cachorros (.) lá na ru: a. 17 (-) 18 B4: só merda de cachorro, 19 D3: você só precisa desvia: r lá- 20 B1: hahaha 21 D1: buenos aires? 22 B1: buenos aires. 23 D3: buenos aires é (o/ a) cidade MAIS- 24 B1: <<p> n-o n-o é n-o-> 25 D3: ah=sujo que eu já vi. 26 B3: esse é brasileiro. ((zeigt auf D3)) 27 D3: ahn? 28 B3: [esse é brasileiro.] 29 D2: [você num foi ] em muita cidade ainda,=né? 30 D3: ah; =mu: itas cidades (.) também na á: frica: , 31 é: =(outras) cidades. 32 muitas [(also) ] mais mais sujo do rio, 33 B1: [eu achei-] 34 B1: é mesmo? 35 D3: mais sujo do s-o paulo- 36 é mE: smo. 37 (.) a cidade sujo demais. 38 B1: <<lächelt> eu n-o sei se é porque eu fui lá em lua de mel,> 39 ent-o eu tava com outro clima assim- <?page no="225"?> Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Brasilianern 215 40 D2: ((lacht laut)) 41 ((die anderen lachen)) 42 B4: <<lacht> com certeza foi isso.> 01 B1: ah; 02 (-) 03 B1: der ort den ich zum beispiel kennen gelernt hab; (-) 04 und der SEHR schön is SU: per lebensqualität- (.) 05 buenos aires 06 D3: TA: - 07 B1: lebenshaltungskosten da sind [niedrig- ] 08 D3: [ich hasses; ] 09 B1: SCHÖ: ne stadt 10 (-) 11 D3: ich war da vier [vier wochen ] 12 B1: [da isses WU: Nderschön.] 13 D3: ich hasse. 14 B1: da kann man zeit verbringen 15 D3: da: gibts <<zeigende Geste auf den Boden mit offenen Händen> nur scheiße-> 16 (xxx) hundescheiße (.) da auf der stra: ße. 17 (-) 18 B4: nur hundescheiße, 19 D3: du musst nur au: sweichen da- 20 B1: hahaha 21 D1: buenos aires? 22 B1: buenos aires. 23 D3: buenos aires is (der/ die) SCHMU 24 B1: <<p> nee nee isse nich-> 25 D3: ah=schmutzigste stadt die ich jemals gesehn hab 26 B3: das is brasilianisch. ((zeigt auf D3)) 27 D3: ahn? 28 B3: [das is brasilianisch.] 29 D2: [du warst noch nich] in vielen städten,=né? 30 D3: ah; =vie: le städte (.) auch in á: frika: , 31 is=(andre) städte. 32 viele [(also) ] viel viel schmutziger als rio, 33 B1: [ich find-] 34 B1: ah ja? 35 D3: schmutziger als s-o paulo- 36 ah ja: 37 (.) die stadt zu schmutzig. 38 B1: <<lächelt> ich weiß nich ob es so is weil ich da in den flitterwochen war,> 39 also war ich inna andren stimmung so- <?page no="226"?> 216 Ulrike Schröder 40 D2: ((lacht laut)) 41 ((die anderen lachen)) 42 B4: <<lacht> das wars mit sicherheit.> Während zwei Brasilianer ihr Kommunikationsverhalten an einer r a p p o rt e nh a n c e m e nt o ri e nt a ti o n ausrichten, zeichnet sich das Verhalten des deutschen Teilnehmers eindeutig durch eine r a p p o rt n e g l e c t o ri e nt a ti o n aus (Spencer-Oatey 2008). Das heißt, der Teilnehmer nimmt in seiner offenen Kundgabe hinsichtlich seiner Abneigung der Stadt Buenos Aires gar nicht zur Kenntnis, dass diese zunächst in Z06 durch eine emotive Interjektion (TA: ) eröffnete, dann lexikalisch in Z13 (ich hasse) und grammatisch durch die Verwendung des Superlativs in Z25 (schmutzigste) fortgeführte b a l d o n r e c o r d Strategie Einfluss auf die Beziehungsebene haben könnte. Hier stehen sich ganz klassisch ein in d e p e n d e t s e lf mit s e lff a c e c o n c e r n s und ein int e r d e p e n d e n t s e lf mit o th e r f a c e c o n c e r n s gegenüber, denn der brasilianische Teilnehmer beschließt seine Begeisterung für Buenos Aires mit einer Strategie der positiven Höflichkeit, nämlich mit einer anekdotenhaften Verteidigung, dass seine Sicht durch die dort verlebten Flitterwochen möglicherweise verstellt sei, womit er in der gesamten Runde einen Lacher erzielt. Die Sequenz schließt dann bezeichnenderweise mit einem zusammenfassenden Kommentar eines anderen Brasilianers, welcher der Meinungsrelativierung des ersten Nachdruck verleiht, indem er ihr in Z42 mit den Worten das wars mit sicherheit zustimmt. Beide Teilnehmer bemühen sich hier also um Deeskalation entlang von Strategien, die am treffendsten mit den von Ting-Toomey/ Oetzel (2007) benannten Charakteristika des Konfliktstils für Kulturen mit kollektivistischer Grundausrichtung beschrieben werden können: integrativ, zuvorkommend, vermittelnd und konfliktvermeidend. Die Vielschichtigkeit des Kommunikationsprozesses zeigt sich im letzten Auszug. Nachdem der brasilianische Teilnehmer unter Rückbezug auf einen Briefwechsel zwischen Manuel Rodrigues Lapa und Celso Cunha erklärt, wie sehr ihm das Schriftportugiesisch vergangener Zeiten gefällt, wendet sich ein deutscher Teilnehmer, der im Gegensatz zu den anderen Deutschen bereits seit acht Jahren in Belo Horizonte lebt, mit einer Erklärungsaufforderung an ihn: Beispiel 3: Diskussion Brasilianer-Deutsche, 82: 52-84: 03 01 D2: <<dreht sich zu B2> pois é; (.) 02 eu queria> eu queria que você me explicasse um pouquinho; 03 qual que é o <<rhythmische Bewegung beider Hände von innen nach außen heraus> praZE: R,> 04 de ver por exemplo um português que é utilizado dessa maneira assim literá: : ria <?page no="227"?> Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Brasilianern 217 05 com uma certa=né? 06 com todo esse registro literário em VOLta, 07 (1.7) 08 D2: <<Schulterzucken> por que> que isso invalida aquilo que é falado? 09 B2: n-o n-o invaLI: da, 10 D2: <<acc> n-_n-o> mas eu falo assim- 11 porque isso é bonito e o outro n-o é? 12 B2: sonoridade 13 D2: sonoriDAde 14 B2: <<nickt> sonoridade.> 15 D1: mas ent-o dá um exemplo você conhe 16 vocês têm- 17 B2: ah: : n-o vou lembrar n-o [hahaha ] 18 D2: [mas peraí n-_n-o] mas (porque) é interessante- 19 você liga a sonoridade a uma coisa que você LÊ, 20 e n-o a alguma coisa que foi realmente falada, 21 porque você n-o VÊ o diálogo entre eles você vê uma coisa escrita; 22 B1: igual latim vulgar e [latim padr-o] 23 B2: [aí eu leio ] em voz alta e SINto assim a sonoridade. 24 D2: ah você (fala/ você) lê em voz alta- 25 [mas você LÊ. ] (.) 26 B2: [é mas é lógico que sozinho-] 27 D2: você n-o FALA, 28 ninguém fala assim. 29 B2: é ninguém fala; 30 ((bewegt sich auf dem Stuhl hin und her)) 31 D2: <<lacht laut> ué mas ent-o-> 32 ((Händeklatschen)) 33 B2: mas que é bonito é- 34 ((lacht)) que é bonito é; 35 D2: ^AH: : : - 36 isso é que é interessante; 37 a oralidade e a escrita 38 uma coisa é uma coisa e outra coisa é outra coisa. 01 D2: <<dreht sich zu B2> eben; (.) 02 ich würde gern> ich hätte gern dass du mir ein wenig erklärst; 03 was ist das <<rhythmische Bewegung beider Hände von innen nach außen heraus> verGNÜ: Gen,> 04 zum beispiel ein portugiesisch zu sehn das so verwendet wird also litera: : risch 05 mit so einem richtigen=né? 06 mit all diesem schriftlichen Register drumRUM, 07 (1.7) 08 D2: <<Schulterzucken> warum> wertet das das ab was gesprochen wird? <?page no="228"?> 218 Ulrike Schröder 09 B2: nee das wertet nicht A: B, 10 D2: <<acc> nee_nee> aber ich mein- 11 warum is das schön und das andre nicht? 12 B2: sonorität. 13 D2: sonoriTÄT? 14 B2: <<nickt> sonorität.> 15 D1: aber okay gib ein beispiel das du kenn 16 habt ihr 17 B2: ah: : ich erinner mich nich [hahaha ] 18 D2: [aber moment ne_nee] aber (denn) das ist interessant- 19 du verbindest sonorität mit etwas was du LIEST, 20 und nicht mit etwas was wirklich gesagt wurde, 21 denn du SIEHST den Dialog zwischen ihnen nicht du siehst was geschriebenes; 22 B1: wie vulgärlatein und [standardlatein] 23 B2: [also ich lese ] mit lauter stimme und FÜHle so die sonorität 24 D2: ah du (sprichst/ liest) laut- 25 [aber du LIEST. ] (.) 26 B2: [ja aber es ist klar dass alleine-] 27 D2: du SPRICHST nicht, 28 niemand spricht so. 29 B2: ja niemand spricht; 30 ((bewegt sich auf dem Stuhl hin und her)) 31 D2: <<lacht laut> ué aber also-> 32 ((Händeklatschen)) 33 B2: aber dass das schön ist- 34 ((lacht)) dass das schön ist; 35 D2: ^AH: : : - 36 das ist es was interessant ist; 37 das gesprochene und das geschriebene. 38 eine sache ist eine sache und die andere ist eine andere sache. Die Gesichtsangriffe sind in diesem Abschnitt klar erkennbar: In Z01-07 fordert der deutsche Teilnehmer den brasilianischen dazu auf, das von ihm Vorgetragene zu erläutern, wobei in Z13 die erzielte Antwort von dem Deutschen als rhetorische Frage wiederholt und durch die entsprechende ungläubige Intonation ironisiert wird. In Z24 verwendet er eine k o g niti v e Int e rj e kti o n (Wierzbicka 2003: 285ff.) - ah -, mit der er das Gegenüber zu steuern sucht, da er den darin mitschwingenden Aha-Effekt für den Angesprochenen antizipiert. Gerade das macht seinen Gesprächsbeitrag für das Gegenüber so arrogant. In Z31 schließlich kulminiert die Reaktion in einem lauten Lacher, nachdem der Deutsche die Tautologie - das Schriftportugiesisch vergangener Jahrhunderte aufgrund seines <?page no="229"?> Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Brasilianern 219 Klangs zu bevorzugen - ein weiteres Mal als Konklusion des Gedankengangs des Brasilianers verbalisiert. Dadurch stellt er den Brasilianer bloß. Wir haben es hier also mit dem Phänomen der kommunikativen Sozialhandlung als P s y c h a g og i e , d.h. als Seelenführung, zu tun, wie es etwa von Ungeheuer (1983/ 2010: 73) beschrieben wurde: Primär sind die verbalen Formulierungen des Sprechers nicht sprachliche Ausdrücke, sondern sprachliche Anweisungen an den Hörer zur Steuerung seiner Verstehenshandlungen: der Sprecher sagt weniger, was er meint, er weist vielmehr an, was der Hörer meinen soll. Der Kommunikation zugrunde liegt nicht die Proposition, sondern die Praezeption, nicht die Präsentation, sondern die Evokation, nicht der Indikativ, sondern der Imperativ. Werfen wir einen Blick über diesen Abschnitt hinaus: In der gesamten Interaktion bittet der schon seit seinem 16. Lebensjahr in Belo Horizonte lebende Deutsche insbesondere die brasilianischen Teilnehmer häufig um Erläuterung des Gesagten und gibt sich mit Antworten, die sich eines Allgemeinplatzes verdächtig machen, nicht zufrieden. Das illustriert die wiederholt verwendete Strategie, eine ganze Aussage oder einen Teil als rhetorische Frage zu reformulieren, womit der Effekt erzielt wird, die Polarität zwischen den beiden Positionen zu verstärken. Bedeutsam scheint dabei die metakommunikative Ebene zu sein, die hier ins Spiel kommt. Schon Schwitalla (1979) hat darauf aufmerksam gemacht, dass die kommunikative Funktion metakommunikativer Äußerungen weitaus seltener als gemeinhin angenommen im kommunikativen Gelingen als vielmehr in bewusst intendierter Provokation liegt. So handelt es sich bei der kognitiven Interjektion ah und dem nonverbalen und paraverbalen Verhalten - das Händeklatschen und simultane laute Lachen in Z31-32 - um eine metakommunikative Äußerung, die der Abqualifizierung des vorgetragenen Arguments dient. Während Brown/ Levinson o ffr e c o r d -Strategien als weniger gesichtszerstörend betrachten als andere Strategien, scheint es in diesem Fall so zu sein, dass die rhetorische Frage gerade als schwerwiegender FTA empfunden wird, denn der brasilianische Teilnehmer äußert sich zu diesem Vorfall in dem retrospektiven Interview sehr wütend: Er habe sich durch diese ironische Art „angegriffen“ und „unangenehm“ gefühlt, so als ob der Deutsche ihn „herausfordern“, „provozieren“ und ihm seinen „Freiraum nehmen“ wollte. Daran kann man ablesen, wie schwierig und vielleicht sogar überflüssig es ist, zwischen Höflichkeits- und Unhöflichkeitstheorie zu trennen. Denn in der Terminologie Bousfields (2008) bedient sich der Deutsche hier einer o n r e c o r di m p o lit e n e s s - Strategie, genauer einer r e s p o n s e s e e kin g c h a ll e n g e , deren Absicht der Autor wie folgt beschreibt: „[they] do require an answer but an answer which is ‚controlled’ to the extent that, ultimately, the answer is face-dama- <?page no="230"?> 220 Ulrike Schröder ging to the individual uttering it“ (Bousfield 2008: 241). Gegenüber dieser r a p p o rt c h a ll e n g e o ri e nt a ti o n (Spencer-Oatey 2008: 32) reagiert der Brasilianer wie in dem ersten Beispiel: konfliktvermeidend, wofür er allerdings im retrospektiven Interview eine Erklärung abgibt: „was ich gern geantwortet hätte war […] denn was ich mache, ist nicht dein Problem, hat nichts mit dir zu tun. Aber ich hab das nicht gesagt [...] denn das war nicht der Ort für Großkotzigkeit“. Gleichzeitig bezeichnet er sein ausweichendes Verhalten als typisch für Brasilianer gegenüber Kulturvertretern der Ersten Welt. Generell decken besonders die retrospektiven Interviews mit den Brasilianern eine auffällige Diskrepanz zwischen den dem Forscher durch die Videoaufzeichnung zugänglichen äußeren Handlungen und den in der extrakommunikativen Rückschau von den Beteiligen selbst konstatierten inneren Handlungen auf. Anscheinend werden von den Brasilianern weitaus weniger der während der Diskussion ablaufenden metakognitiven Akte auch in metakommunikative Akte überführt als von den deutschen. So sprechen in der Nachbetrachtung drei Brasilianer davon, welche Stereotype Deutsche von Brasilianern haben und Brasilianer von Deutschen, sowie davon, wie der stereotype Umgang der Brasilianer mit beiderseitigen Stereotypen ist. 8 Darin spiegelt sich ein hohes Reflexionspotenzial 3. Ordnung wider, das in den retrospektiven Interviews der Deutschen nicht zu finden ist. Solche Metakognitionen irritieren die Kommunikationsebene in höchstem Maße, sind aber im brasilianischen Fall für das fremde Gegenüber nicht einsehbar. Fraglich bleibt nun allerdings, ob sich diese augenscheinlich vorhandenen Präferenzen beim Konfliktstil tatsächlich wie im idealtypischen ostasiatischen Fall mit dem Schlagwort „kollektivistische Kultur“ hinlänglich erklären lassen. Die Äußerung „es war nicht der Ort für Großkotzigkeit“ sowie auch weitere von Brasilianern vorgetragene Gründe für ihre anscheinend bewusste Zurückhaltung könnten auch darauf verweisen, dass die Brasilianer das für alle Teilnehmer neue Kommunikationsgenre (Günthner 2009) einfach anders definieren als die Deutschen. 8 B2 etwa meint, das deutsche Verhalten sei typisch für Repräsentanten der Ersten Welt. Allerdings fügt er im Anschluss ebenfalls hinzu, dass die Reaktion der Brasilianer (sein eigenes Verhalten eingeschlossen) wiederum typisch sei: Der Brasilianer dürfe zwar selbst sein Land kritisieren, aber andere hätten eben kein Recht dazu. Neben B2 beschreibt auch B4 das Verhalten von A2 als typisch und empfindet es als „nervig“ und „egozentrisch“. B3 sagt an einer Stelle des Interviews, er sei nicht so extrovertiert wie die Deutschen, sondern eher ein bisschen schüchtern und wolle bestimmte Themen und persönliche Erfahrungen lieber nicht in der Runde erzählen. Bis auf A2, der schon seit acht Jahren in Brasilien lebt, nimmt von den deutschen Teilnehmern demgegenüber keiner Bezug auf kulturelle Tendenzen, sondern attribuiert wahrgenommene Verhaltensweisen eher auf die Persönlichkeit des anderen. <?page no="231"?> Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Brasilianern 221 Was aber sagt uns in diesem Zusammenhang gerade das auffällige metakommunikative Verhalten des schon seit acht Jahren in Brasilien lebenden Teilnehmers über den interkulturellen Charakter der Interaktionssituation? Es drängt sich der Schluss auf, dass dieses Kommunikationsmuster ein Resultat der intensiven Kulturbegegnung darstellen könnte. Mitnichten verlaufen die sogenannten Adaptionsprozesse dergestalt, wie uns viele makroanalytisch orientierte Phasenmodelle der interkulturellen Kommunikationsforschung weismachen wollen (Thomas 2003, Müller-Jacquier 2004, Bennett 1993, Kim 2002). Während dieser Teilnehmer fließend und akzentfrei Portugiesisch spricht und auf der Inhaltsebene Brasilien in verschiedenen Momenten wiederholt vor negativen Evaluierungen verteidigt, zeigt sich andererseits auf der Beziehungsebene ein spezifisches Kommunikationsmuster der Ausgangskultur, das sich in der reflexiven Anverwandlung der neuen Kultur zu verstärken scheint. So wirkt das häufige Bemühen, stereotypisierte und floskelhaft vorgetragene Meinungen von Brasilianern zu hinterfragen, fast als missionarischer Aufruf, sich über das Gesagte einen tiefer gehenden Gedanken zu machen. Es ist diese von dem Deutschen wahrgenommene „Oberflächlichkeit“, gegen die er sich kommunikativ zur Wehr setzt, was im Übrigen auch im retrospektiven Interview zur Sprache kommt. Hier kritisiert er, wie höflich Brasilianer bei gegenseitigen Besuchen sind und wie schlecht sie dann übereinander reden, sobald sich der Besuch verabschiedet hat. Schon 1944 hat Schütz in seinem Aufsatz über den Fremden auf einen unhintergehbaren Aspekt der Kulturbegegnung hingewiesen: Während die Einheimischen ihre Welt nicht hinterfragen, sind dem Fremden die neuen Kulturmuster bewusst. Sein Bezugsschema ist und bleibt seine eigenkulturell erworbene „relativ natürliche Weltanschauung“. 5 Schlussfolgerungen Deutlich geworden ist, dass die pragmatischen Theorien der Höflichkeit und Konfliktstile lediglich einen Teil der komplexen Kommunikationszusammenhänge offenzulegen vermögen. Zwar bieten sie einen grundlegenden Einstieg in das Verständnis des ablaufenden Kommunikationsprozesses, sind aber schon im Rahmen pragmatischer Fragestellungen auf wechselseitige Komplementarität angewiesen. Ein wesentlicher Befund betrifft in diesem Zusammenhang die Relevanz der nicht codierten, indexikalisch-prozessuralen, meist nonverbalen und prosodischen Kontextualisierungshinweise (Gumperz 1982, Auer 1986), die in der interkulturellen Kommunikation subtile und oft unbewusste Verstehensanleitungen für den Kommunikationspartner darstellen. Daneben gelangen die rein pragmatisch verankerten Theorien nicht über ihre spezifische Fragestellung hinaus. Fragen nach den Akteuren, die bereits in der <?page no="232"?> 222 Ulrike Schröder Interaktionssituation selbst stets zwischen teilnehmendem, d.h. kommunikativem, und beobachtendem, d.h. extrakommunikativem, Umgang mit dem konkreten Kommunikationsgeschehen oszillieren, bleiben außen vor. Denn tatsächlich verhalten sich die Beteiligten unentwegt gegenüber der im Interaktionsprozess emergierenden Sinnebene zustimmend, ablehnend oder modifizierend, wobei die dabei gedeuteten Resultate als Handlungen in den Kommunikationsprozess zurückfließen (Srubar 2007). Unter anderem wurde das an der Art und Weise deutlich, wie sich der brasilianische Teilnehmer durch nonverbales Verhalten aus der Kommunikation mit dem Deutschen zurückzieht. Gleichermaßen gehen auch die bereits früher schon aus extrakommunikativem Umgang abstrahierten wie sozialisierten alltäglichen Kommunikationstheorien und Kulturprojektionen wiederum in das konkrete kommunikative Verhalten ein, etwa die von dem Deutschen suggerierte Maxime der Kommunikationstiefe oder die von einem Brasilianer retrospektiv erörterte Untertänigkeit vieler Brasilianer gegenüber einem „Erste-Welt-Land“ wie Deutschland. Dementsprechend kommt es zu einer wechselseitigen Irritabilität von kommunikativer und extrakommunikativer Ebene. Für die Kommunikation selbst hat das eine erhöhte Tendenz zum Ebenen- und Perspektivenwechsel zur Folge, der sich in Einschüben metakommunikativer Äußerungen niederschlagen kann. Um diesen Aspekt beleuchten zu können, muss man sich von der zielgerichteten Mikroanalyse distanzieren und die gesamte Interaktionssituation mit ihrer kontextuellen Einbettung in den Blick nehmen, wofür sich die Realisierung retrospektiver Interviews als unverzichtbar herausstellte, zum einen, da sie dem Forscher die reflektierte, extrakommunikative Sicht der Teilnehmer näher bringen, zum anderen, weil sie Hintergrundinformationen zu der individuellen Welttheorie der Teilnehmer, ihrer soziokulturellen Verortung in einer bestimmten Gesellschaft, ihren Überzeugungen, Interessen und Deutungsmustern liefern, so dass bestimmte Kommunikationsweisen plausibler werden. 6 Literatur Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19. S. 22-47. Bennett, Milton J. 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Da Illokutionszuordnungen von äußerungswertigen Phrasemen stark kontextabhängig sind, werden im Anschluss Funktionspotenziale von Sprichwörtern fokussiert und Merkmale reflektiert, die für die Ermittlung kontextspezifischer (Be-)Deutungen signifikant sind. Abschließend werden vor der Folie phraseodidaktischer Forschungserkenntnisse Überlegungen zum Aufbau und zur Unterstützung phraseologischer Kompetenz im Rahmen von Fremdsprachenerwerbsprozessen angestellt. 1 Einleitung Die zahlreichen Studien zur interkulturellen Kommunikation, die seit den 1980er Jahren verstärkt in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (Linguistik, Psychologie, Soziologie etc.) durchgeführt wurden, bestätigen bekanntlich, dass kulturell bedingte Aspekte des Sprachhandelns von Interaktionspartner/ inne/ n mit unterschiedlich kulturell geprägtem Hintergrund zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen führen können. Vor allem im Bereich der Phraseologie, als wesentlichem Teilbereich des Wortschatzes, bei dem K ultu r und S pr a c h e auf besondere Weise miteinander verflochten zu sein scheinen (vgl. Földes 2005: 323, 2007: 432), kann es zu derartigen Störungen kommen. Dabei spielen vor allem semantische und pragmatische Aspekte eine zentrale Rolle, die besonders bei Phrasemen schwer voneinander zu trennen sind (vgl. Burger 2007: 107). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird im Rahmen dieses Beitrags in erster Linie folgender Fragenhorizont reflektiert: 1. Inwiefern sind bestimmte, mithilfe von Phrasemen vollzogene illokutive Sprachhandlungen anfällig für Fehlinterpretationen in der interkulturellen Kommunikation? <?page no="236"?> 226 Ulrike Simon 2. Wie kann die Bedeutung von derart semantisch und pragmatisch komplexen Wortverbindungen in interkulturellen Kommunikationssituationen erschlossen werden? 3. Auf welche Weise können DaZ- und DaF-Lerner/ innen für die komplexe Bedeutungsstruktur und die damit verbundene Polyfunktionalität von Phrasemen sensibilisiert werden? Analog zu diesem Fragenhorizont stehen folgende Aspekte im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags: Einleitend werden im Rahmen einer kurzen Begriffsbestimmung die wesentlichen Merkmale von Phrasemen beschrieben. Diese Darstellung mündet in die Durchleuchtung des Problemfelds auf semantischer und pragmatischer Ebene. Im Bereich der Pragmatik werden dann mit der Polyfunktionalität von Sprichwörtern verbundene Aspekte erörtert, um schließlich der Frage nachzugehen, welche Faktoren bei einer kontextspezifischen Deutung von Sprichwörtern relevant sind. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zur Didaktik. Dabei wird ein Abriss phraseodidaktischer Forderungen als Folie für weiterführende Reflexionen in Bezug auf den Aufbau phraseologischer Kompetenz in der Fremdsprache dienen. 2 Zur Merkmalbestimmung von Phrasemen 1 Als Phraseme bezeichnet man Wortverbindungen, deren Wörter nicht einmalig im Wortverbund auftreten, sondern „es handelt sich um Kombinationen von Wörtern, die uns als Deutschsprechenden genau in dieser Kombination (evtl. mit Varianten) bekannt sind, ähnlich wie wir die deutschen Wörter (als einzelne) kennen“ (Burger 2010: 11). Eines der wichtigsten Merkmale von Phrasemen ist folglich die P o l yl e xik a lit ä t, die sich in kleinen Einheiten von mindestens zwei Komponenten oder auch in ganzen Sätzen manifestieren kann. Demnach zählen zu Phrasemen relativ kurze, feste Wortverbindungen mit satzgliedwertiger Funktion wie schwarze Liste oder unter Beschuss geraten gleichermaßen wie ganze Sprichwörter wie Alle Wege führen nach Rom. 2 1 Vgl. zu einer ausführlicheren Merkmalbestimmung von Phrasemen: Simon (2012). 2 Im Rahmen von Fremdsprachenerwerbsprozessen muss bezüglich satzgliedwertiger Phraseme beachtet werden, dass diese in einen Satz eingebettet, d.h. morphosyntaktisch an den sprachlichen Kontext angepasst werden müssen. <?page no="237"?> Zu Deutungsproblemen von Phrasemen 227 Als weiteres wesentliches Kennzeichen von (lexikalisierten) phraseologischen Wortverbindungen wurde vor allem in der älteren Phraseologieforschung die F e s ti g k e it bestimmt, d.h., dass ihre einzelnen Komponenten weder umgestellt noch - oder nur begrenzt - ausgetauscht werden können (vgl. Balsliemke 2005: 5f., in Anlehnung an Burger). Burger (2010: 16ff.) differenziert diesbezüglich zwischen psycholinguistischer und struktureller Festigkeit und weist explizit darauf hin, dass strukturelle Festigkeit sehr stark zu relativieren sei, da die jüngere Phraseologieforschung verdeutlicht habe, „dass absolute lexikalische Festigkeit nur bei wenigen Phraseologismen (vor allem bei denjenigen mit unikalen Komponenten) tatsächlich zu beobachten ist, dass die Mehrheit jedoch in bestimmten Grenzen Ersetzungsmöglichkeiten aufweist“ (Burger 2010: 23f.). De facto sind zahlreiche Phraseme mit unterschiedlichen Komponenten im Wörterbuch verzeichnet, die austauschbar sind, ohne eine Bedeutungsveränderung zu implizieren, wie etwa bei jmdm. Kopfschmerzen/ Kopfzerbrechen machen/ bereiten oder einen Korb bekommen/ erhalten/ kriegen. In diesen Fällen spricht man von V a ria ti o n . Neben diesen lexikalisierten Varianten stößt man im Alltag vor allem in den Massenmedien häufig auf sogenannte okkasionelle Abweichungen von Phrasemen, die in den Bereich der M o d ifik a ti o n fallen (vgl. Kap. 3). Neben der Polylexikalität und der Festigkeit gehört die I d i o m a ti z it ä t zu den in der Forschung beschriebenen Merkmalen von Phrasemen. Dieses Merkmal verweist darauf, dass die einzelnen Komponenten eines Phrasems häufig ihre eigentliche Bedeutung zugunsten einer Gesamtbedeutung der Wortverbindung verlieren. Dies kann erhebliche Auswirkungen auf den Prozess der Bedeutungserschließung in interkulturellen Kommunikationssituationen haben, wobei vor allem voll-idiomatische Wortverbindungen als Stolpersteine wahrgenommen werden. Man denke etwa an Sprichwörter wie Die Katze lässt das Mausen nicht. und Der Fisch stinkt vom Kopf her. oder an die Redewendung nicht alle Tassen im Schrank haben. In engem Zusammenhang mit der Idiomatizität von Phrasemen steht ihr s e m a nti s c h e r G e h a lt, der bei Burger (2010) auch als semantische „Potenzen“ beschrieben wird und u.a. die möglichen Lesarten von Wortverbindungen betrifft. Dieser wirkt sich auf den Prozess der Bedeutungserschließung erschwerend aus, da mitunter innerhalb eines Kontextes zwei mögliche Lesarten, d.h. eine wörtliche (nicht-idiomatische) und eine übertragene (idiomatische), gleichzeitig aktiviert werden können, wie das folgende Beispiel zu dem Sprichwort Wir sitzen alle in einem Boot. aus dem Internetauftritt eines Ludwigsburger Turnvereins verdeutlicht: <?page no="238"?> 228 Ulrike Simon Unser Motto - Wir sitzen alle in einem Boot Abb. 1 Doch Phraseme sind nicht nur auf rein semantischer, sondern auch auf pragmatischer Ebene äußerst komplexe sprachliche Zeichen. Wie Kühn (1994: 420) erläuterte, stellen Phraseme „kompakte sprachliche Zeichen“ dar, „mit denen ein Sprecher/ Schreiber referieren, prädizieren und/ oder illokutive Handlungen durchführen oder modifizieren kann und gleichzeitig gegenüber den nicht-phraseologischen Entsprechungen ein Bündel weiterer evaluativer Handlungen, Einstellungen, Imagebezeugungen usw. ausdrücken kann. Phraseologismen sind also pragmatisch ‚besonders geladen‘ und zeichnen sich durch einen semantischen Mehrwert aus“. Verdeutlicht werden kann dieser zentrale Aspekt anhand des Phrasems eine bescheidene Frage, das laut der Angaben im Duden (Band 11, zu Redewendungen) die Funktion hat, eine Frage einzuleiten, „mit der man Kritik oder Skepsis ausdrücken will“ (Duden 2002: 235). Insofern impliziert die Verwendung dieses Phrasems bereits eine kritische bzw. skeptische Einstellung der Sprechenden bzw. Schreibenden. Mit Phrasemen vollziehen Sprecher/ innen bzw. Schreiber/ innen folglich häufig in d ir e kt e S pr e c h a k t e , durch die laut der Grice‘schen Implikaturtheorie die konventionellen und konversationellen Implikaturen entstehen, die die nicht direkt ausgedrückten Folgerungen, das M it g e m e int e betreffen (vgl. Filatkina 2007: 136). In diesem Kontext sei daran erinnert, dass im Fokus der Implikaturtheorie die Frage steht, „wie man mit einer sprachlichen Äußerung etwas anderes zu verstehen geben kann (to implicate), als es die Bedeutung der einzelnen, in der Äußerung verwendeten Konstituenten eigentlich nahelegt“ (Filatkina 2007: 136). Dabei ist wesentlich, dass die Bedeutungsübertragung bzw. die figurative Bedeutung solcher Äußerungen durch den Sprachgebrauch lexikalisiert wird, wobei diese konventionelle Implikatur das Verständnis und das Gelingen der Kommunikation sichern soll. Aus der Perspektive der Rezeption schließt sich <?page no="239"?> Zu Deutungsproblemen von Phrasemen 229 hier fast unweigerlich die Frage an, welche Faktoren im Prozess der Bedeutungserschließung von indirekten Sprechakten - vor allem in interkulturellen Kommunikationssituationen - besonders relevant sind. Da auf diese Frage erst später ausführlicher eingegangen wird (vgl. Kap. 3), sei an dieser Stelle lediglich auf die tragende Rolle des sprachlichen und situationellen Kontextes verwiesen, der in der Interaktion der Kommunikationsteilnehmer/ innen den Sprechakt konstituiert (vgl. Filatkina 2007: 138, in Anlehnung an Schemann). 3 Da Überlegungen zur Bedeutungserschließung von Phrasemen eng verbunden sind mit der Frage nach den Funktionen solcher Wortverbindungen, werden zunächst dazu einige grundlegende Aspekte dargelegt. 3 Zur Polyfunktionalität von Sprichwörtern Der Frage nach den Funktionen von Phrasemen wird im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung von Sprichwörtern nachgegangen, die zu den Phrasemen im weiteren Sinne zählen. Diese Auswahl begründet sich u.a. dadurch, dass Sprichwörter „ein reiches Lehrpotential“ umfassen. Als „Träger des kulturellen Gutes, als Träger der nationalen Kultur und Spezifik stellen die bildhaften Wortverbindungen eine Brücke bei der Vermittlung der sprachlichen und der interkulturellen Kompetenz dar“ (Ďurčo 2005: 132). 4 Darüber hinaus sind Sprichwörter beim Aufbau interkultureller Kompetenz vor allem aufgrund ihres semantischen und pragmatischen Mehrwerts relevant, durch den sie für Missverständnisse und Fehlinterpretationen besonders anfällig zu sein scheinen. In Bezug auf die Funktionen von Phrasemen muss grundsätzlich betont werden, dass diese - wie die meisten an Sprache und Kultur gebundenen Phänomene - nicht als statische Konstrukte beschrieben werden können. Entsprechend ist für den Bereich der Sprichwörter ein deutlicher Funktionssowie Domänenwandel zu konstatieren. Lewandowska/ Antos (2004: 171f.) zeigen diesbezüglich auf, dass Sprichwörtern in mündlichen Gesellschaften überwiegend eine wissensorientierende Funktion zugeschrieben werden kann, während sie in literalen Kulturen u.a. als Mittel der moralischen Erziehung und vor allem seit der Romantik der Verdeutlichung von „nationaler Identität“ dienen. Heute haben 3 In Anlehnung an Koller unterstreicht auch Eismann (1995: 107) im Rahmen seiner Überlegungen zu Pragmatik und Äquivalenz von Phrasemen, dass es „um potentielle Funktionen“ gehe, die den „isolierten Redensarten“ selten eindeutig zugeschrieben werden könnten und „immer erst aus dem betreffenden Kotext/ Kontext zu bestimmen sind“. 4 In diesem Kontext sei angemerkt, dass sich „Nation“ als Referenz u.a. im Hinblick auf multiethnische Gesellschaften als äußerst problematisch darstellt, weshalb dieser Begriff in der interkulturellen Kommunikation zunehmend durch den des „Kulturkreises“ o.Ä. ersetzt wird. <?page no="240"?> 230 Ulrike Simon Sprichwörter dagegen als Mittel der Alltagsrhetorik (man denke etwa an ihren Gebrauch im Bereich der Werbung, Politik und in den Massenmedien) ihren Platz in zeittypischen Kommunikationsdomänen und neuartigen Textsorten gefunden. Wie Umurova (2005: 171) in ihrer Untersuchung zum Sprichwortgebrauch in Internettexten unterstreicht, sind vor allem drei Aspekte für den heutigen Sprichwortgebrauch charakterisierend: P o l y s e m a nti zit ä t , man denke an den zuvor erwähnten semantischen Gehalt von Phrasemen und die damit verbundenen möglichen Lesarten (vgl. Kap. 2), H e t e r o s itu a ti v it ä t, d.h. die Tatsache, dass Sprichwörter vor allem heutzutage in vielfältigen Situationen und Kommunikationskontexten verwendet werden, und schließlich P o l yf u nkti o n a lit ä t, die bezeichnet, dass ein Sprichwort sogar in einem einzigen Kontext mehrere textinterne oder pragmatische Funktionen erfüllen kann, d.h. „in seinem Äusserungskontext ein ganzes Bündel von Funktionswerten“ verbindet, „die sich gut miteinander korrelieren lassen“ (Umurova 2005: 171). Insofern bestätigt Umurova (2005: 173) die von Mieder und Röhrich bereits in den 1970er Jahren formulierte These, dass Sprichwörter aus pragmatischer Sicht verschiedene illokutive Funktionen haben können. Da bei Sprichwörtern wie auch bei anderen äußerungswertigen Phrasemen folglich keine kontext-unabhängige Illokutionszuordnung möglich ist (vgl. Beckmann/ König 2002), lassen sich verallgemeinernd lediglich Funktionspotenziale beschreiben. Je nachdem, wo Sprichwörter in einem Text verortet werden, d.h. im Titel, am Textanfang oder -ende bzw. in der Textmitte, können sie als Textbausteine der Einführung bzw. dem Abschluss eines Themas oder auch der Themenentfaltung dienen; sie können die Kernfrage eines Textes widerspiegeln, aber auch eine kritische Beurteilung gegenüber dem Gesprächsgegenstand zum Ausdruck bringen. Vor allem bei ihrer Verwendung im Titel von Texten sollen Sprichwörter oftmals die Neugier der Leser wecken, eine gewisse Spannung erzeugen und damit die Aufmerksamkeit der Rezipienten steuern (vgl. Umurova 2005: 171f.). In zahlreichen Textsorten, z.B. in Werbetexten, werden Sprichwörter darüber hinaus bewusst zur Verstärkung bestimmter Argumentationen eingesetzt. Als Spiegel kollektiver, allseits bestätigter Erfahrungen fungieren sie in argumentativen Kontexten zusätzlich als „Konsensressource“ u.a. zur Akzeptanzsicherung einer formulierten These (vgl. Lüger 1999: 186, in Anlehnung an Kopperschmidt). Ferner dienen Sprichwörter als stilistisches und ästhetisches Mittel häufig der Selbstdarstellung, Beziehungsorganisation oder der Unterhaltung (vgl. Lewandowska/ Antos 2004: 173). Ein relativ leicht zu deutendes Beispiel für die Verwendung von Sprichwörtern im Titel stellt das folgende Titelblatt einer im Internet veröffentlichten Fachzeitschrift für Fluidmanagement dar, ein Bereich, der u.a. im Maschinenbau relevant ist. Hier wird das Sprichwort Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und <?page no="241"?> Zu Deutungsproblemen von Phrasemen 231 wenn er auch die Wahrheit spricht. zitiert, um die Aufmerksamkeit der Leser zu wecken und eine gewisse Spannung für den thematischen Schwerpunkt der Ausgabe zu erzeugen. Abb. 2 Als problematischer stellt sich die Interpretation von Phrasemen in Titeln vor allem im Falle von idiomatischen Wortverbindungen heraus, wie das folgende Beispiel zum Sprichwort Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn. verdeutlicht. Dabei handelt es sich um den Titel einer Arbeitsgruppe zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, die an der Universität Erlangen tagte. <?page no="242"?> 232 Ulrike Simon Abb. 3 In diesem Fall stellt sich der Bedeutungserschließungsprozess als ausgesprochen komplex dar, da der Leser nicht nur die kontextfreie Bedeutung des Sprichworts (‚auch dem Unfähigsten gelingt mal etwas‘) kennen oder erschließen muss, sondern diese Bedeutung auch auf den Kontext der Überlegungen zu Algorithmen übertragen muss. Erschwert wird die Bedeutungserschließung für nicht deutsche Muttersprachler/ innen in diesem Beispiel zusätzlich durch eine Karikatur, die mit der Mehrdeutigkeit der Komponente Korn spielt, d.h. neben der eigentlichen, für das Sprichwort relevanten Bedeutung ‚Getreidekorn’ auch die Bedeutung von Korn als ‚Kurzform für Kornbranntwein’, also ‚Schnaps’ aktiviert. Der Verwendung des Sprichworts in diesem Titel können mehrere Funktionen zugeschrieben werden, die für eine umfassende Bedeutungserschließung relevant sind: Auf unterhaltsame Weise lenkt es die Aufmerksamkeit der Leser auf das sehr fachspezifische Thema der Arbeitsgruppe und weist gleichzeitig auf das dort vorgeschlagene Verfahren hin, bei Algorithmen nach einem Zufallsprinzip vorzugehen, statt aufwändige Berechnungen zu betreiben. Darüber hinaus ist denkbar, dass der Autor des Textes zu selbstdarstellerischem Zweck mithilfe des Sprichworts eine ironische Distanz gegenüber dem beschriebenen Verfahren einnimmt. Auf rein pragmatischer Ebene lassen sich zahlreiche weitere Funktionen von Sprichwörtern in Texten bestimmen. Umurova (2005: 172f.) ermittelt im Rahmen ihrer Untersuchung von Internettexten hauptsächlich folgende Sprachhandlun- <?page no="243"?> Zu Deutungsproblemen von Phrasemen 233 gen bzw. illokutive Funktionen von Sprichwörtern: (Kauf-)Aufforderung, Information, Rechtfertigung, Anweisung, Charakterisierung, Begründung, Ironie, Tipp, Unterhaltung, Drohung, Warnung, Überzeugung, Zurechtweisung, Ratschlag und Rückzug. Als dominierende Funktion des Gebrauchs von Sprichwörtern eruiert sie in ihrem Korpus bestimmte verdeckte Aufforderungshandlungen. Umurova (2005: 139ff.) illustriert die Polyfunktionalität von Sprichwörtern anhand mehrerer Beispiele. Dem Sprichwort Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. schreibt sie z.B. innerhalb ihres Korpus’ drei Funktionen zu, d.h. die einer Aufforderung, einer Empfehlung sowie einer Vorschrift. Das Sprichwort Stille Wasser gründen tief. deckt in ihren Textbelegen ganze vier Funktionen ab, d.h. die einer Überredung, einer Zurechtweisung, einer Charakterisierung sowie einer Rechtfertigung. Vor der Folie der Polyfunktionalität von Sprichwörtern soll nun die oben aufgeworfene Frage danach wieder aufgegriffen werden, welche Merkmale bei der Ermittlung kontextspezifischer (Be-)Deutungen als relevant angesehen werden können, d.h. welche Faktoren den Prozess der Bedeutungserschließung unterstützen können. Dazu zählen laut Umurova (2005: 170) vor allem folgende: die Position des Sprichwortes im Text, begleitende Ausdrücke, der umgebende Kontext, die jeweilige konkrete Situation, der Originalton, die Textsorte und das Thema. Inwiefern diese Faktoren tatsächlich für die Bedeutungserschließung von Phrasemen signifikant sind, soll anhand des folgenden Belegs zu der Redewendung Wer viel fragt, kriegt viel Antwort. illustriert werden. Dabei handelt es sich um einen Beitrag aus einem Internetforum für Studierende in Deutschland (Hervorhebungen im Text: U.S.). Von: HD Student | 13.08.2008 21: 01: 31 Re: Philosophie als Beifach? Hi Max, ein Beifach im Rahmen eines Lehramtsstudiums ist ein freiwilliges drittes Fach, entweder im Umfang eines Hauptfaches oder eines Nebenfaches. M.E. muss man im Begleitfach keine Orientierungsprüfung und keine Zwischenprüfung machen. Sonst sind die Anforderungen identisch mit denen eines „Nichtbegleitfachs". Unbedingt vor Studienbeginn zur Studienberatung des Fachs gehen. Du hast wie ich Dich verstehe eine Zulassung für Ger und Phil. Latein ist, glaube, zulassungsfrei. Wenn Du Dich jetzt also immatrikulierst für Ger und Lat verfällt Deine Zulassung für Phil. Die Auskunft, dass eine 3 Fach Kombi im Lehramtsstudium nicht möglich sein soll, höre ich zum Ersten mal. Es gibt sogar einige Fächerkombis, in denen das erwünscht ist. Ich habe mich (vor vielen) Semestern auch für drei Fächer immatrikuliert. Geh einfach hin und schreib Dich für die drei Fächer ein. Wer viel <?page no="244"?> 234 Ulrike Simon fragt kriegt viel Antwort. Und wenn sie bei der Immatrikulation Schwierigkeiten machen, einfach darauf bestehen und begründen, dass würde Deine Berufschancen erhöhen. Nicht aufgeben, einfach durchsetzen. Im Endeffekt ist es Deine Verantwortung, nicht die des Studentensekretariats, ob Du es schaffst. Sei mutig und überzeugend. Es wird schon gehen. Abb. 4 In dem initiierenden Beitrag, auf den hier geantwortet wird, fragt ein angehender Student u.a., ob die Information stimme, dass man bei Lehramtsstudiengängen nicht mit drei Fächern gleichzeitig beginnen könne. In seinem respondierenden Beitrag verwendet der Schreiber die Redewendung Wer viel fragt, kriegt viel Antwort. Obwohl man dieses Phrasem scheinbar leicht verstehen kann, ist gut vorstellbar, dass es möglicherweise vor allem von nicht deutschen Muttersprachler/ inne/ n falsch interpretiert wird. Naheliegend sind etwa Interpretationen, die sich an der wörtlichen Bedeutung orientieren, also des Typs ‚wenn ich viele Fragen stelle, dann muss ich auch damit rechnen, ausführliche Antworten zu erhalten‘. In Wirklichkeit geht die Bedeutung dieser Redewendung jedoch deutlich über diese erste mögliche Interpretation hinaus. Laut Duden (2002: 236) bedeutet sie, dass man sich „(überflüssige) Fragen sparen und stattdessen lieber selbständig handeln“ soll. Diese Bedeutung lässt sich im Rahmen einer Textanalyse u.a. anhand der folgenden Faktoren leicht herausarbeiten: In erster Linie durch den umgebenden (sprachlichen) Kontext, d.h. die Äußerungen, die der Redewendung direkt voranbzw. nachgestellt sind, also Geh einfach hin und schreib Dich für die drei Fächer ein, einfach darauf bestehen, Nicht aufgeben, einfach durchsetzen und Sei mutig und überzeugend. Derart lässt sich die eigentliche Bedeutung des Phrasems über den sprachlichen Kontext erschließen, wobei die mehrfache Verwendung von Imperativformen darauf hindeutet, dass die Sprachhandlung als Aufforderung zu verstehen ist. Darüber hinaus suggeriert die Position der Redewendung in dem den Beitrag abschließenden Textabschnitt, dass das Phrasem hier argumentationsverstärkend als eine Art Schlussregel fungiert, die eine Handlungsaufforderung impliziert. Für den Bedeutungserschließungsprozess von Phrasemen kommt neben den zuvor dargelegten Problematiken erschwerend hinzu, dass sie im Bereich der Alltagsrhetorik vor allem in den Massenmedien häufig modifiziert anzutreffen sind; d.h., dass Phraseme oft zu spezifischen, meistens der Aufmerksamkeitssteigerung dienenden Zwecken, kontextbezogen abgeändert werden. Von muttersprachlichen Rezipient/ inn/ en sind solche okkasionellen Abweichungen aufgrund der Bekanntheit der ihnen zugrunde liegenden Phraseme noch meistens als solche erkennbar und leicht entschlüsselbar. Dagegen stellen sie für Nicht- Muttersprachler/ innen im Rahmen interkultureller Kommunikationssituatio- <?page no="245"?> Zu Deutungsproblemen von Phrasemen 235 nen eine zusätzliche Verständnishürde dar. Ein Beispiel dafür ist die okkasionelle Abweichung Einem geschenkten Gaul schaut der Zoll ins Maul., mit der ein deutschsprachiger Beitrag des tschechischen Radiosenders „Radio Praha“ betitelt ist, 5 der über das Hochzeitsgeschenk der tschechischen Regierung an Prinz William und Kate Middleton, einen Hengst, berichtet. Erleichtert wird die Bedeutungserschließung dieses modifizierten Gebrauchs des Sprichworts Einem geschenkten Gaul sieht/ schaut man nicht ins Maul. zwar dadurch, dass die eigentlich voll-idiomatische Komponente Gaul hier seine ursprüngliche Bedeutung ‚Pferd’ beibehält; dennoch ist die Ironie, die durch die Modifikation im gegebenen Kontext zum Ausdruck kommt, nur entschlüsselbar, wenn der/ die Rezipient/ in das zugrunde liegende Sprichwort im Originalton sowie seine Bedeutung kennt. Darüber hinaus ist an diesem Beispiel interessant, dass der Autor seinen Beitrag mit einer Variante der für den Titel geschaffenen okkasionellen Abweichung schließt: Einem geschenkten Gaul schaut offenbar nicht nur der Zoll ins Maul., deren Bedeutung sich selbstredend nur aus dem Kontext erschließen lässt, d.h., wenn ein Bezug zu der in dem Beitrag erwähnten vermeintlichen Nachfrage des Prinzen nach einem „genetischen Hufabdruck“ des Tieres vor dessen eventueller Überführung nach England hergestellt wird. Zum großen Bereich der Modifikation zählen auch sogenannte Antisprichwörter, d.h. „ins Abwegige verwandelte Sprichwörter“ (Donalies 2009: 95) sowie die von Lüger als Zusatzsprichwörter bezeichneten Formen, die durch einen ergänzten Zusatz „eine etablierte Aussage in überraschender Weise modifizieren“ (Lüger, zitiert nach Donalies 2009: 96), wie es bei dem folgenden Geflügelten Wort von Bertolt Brecht der Fall ist: „Wer A sagt, der muß nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.“ 6 4 Überlegungen zur Didaktik Will man sich nun im Rahmen der Fremdsprachendidaktik mit der Frage auseinandersetzen, wie der Aufbau einer (passiven und aktiven) phraseologischen Kompetenz im Allgemeinen sowie der Prozess der Bedeutungserschließung von 5 http: / / www.radio.cz/ de/ rubrik/ tagesecho/ einem-geschenkten-gaul-schaut-der-zoll-in s-maul (Stand 19.02.2013). 6 Brecht, Bertolt: Der Jasager. Der Neinsager, 2. Bild (Der Knabe). In: Brecht, Bertolt (1997): Ausgewählte Werke in sechs Bänden. (Erster Band: Stücke 1.) Frankfurt am Main. S. 317. <?page no="246"?> 236 Ulrike Simon Phrasemen im Besonderen gefördert werden kann, so muss dies vor dem Hintergrund der Erkenntnisse phraseodidaktischer Forschung geschehen. 7 Zu den wichtigsten, von Seiten der Phraseodidaktiker in den letzten Jahrzehnten gestellten Forderungen zählen folgende Aspekte: 1. Das Erlernen der fremdsprachlichen Phraseologie muss parallel mit dem Erlernen einzelner Wörter verlaufen (vgl. Jesenšek 2007: 20). Dies impliziert, dass der Aufbau phraseologischer Kompetenz kontinuierlich im Fremdsprachenunterricht verfolgt werden muss. Phraseme sollten folglich nicht nur vereinzelt in Sonderstunden als „exotischer“ Bestandteil des Wortschatzes behandelt, sondern dauerhaft in Fremdsprachenerwerbsprozesse eingebunden werden (vgl. Balsliemke 2005: 12, in Anlehnung an Lüger). 2. Lernende müssen mit einschlägigen Möglichkeiten des autonomen (Weiter-)Lernens vertraut gemacht werden, um ihren phraseologischen Wortschatz auch außerhalb des Fremdsprachenunterrichts gezielt erweitern zu können (vgl. Ettinger 2007: 901f.). 3. Semantische und pragmatische Besonderheiten von Phrasemen können nur in „umfassenden Kontexten, d.h. in textuellen und somit funktionalen Zusammenhängen“ erfasst werden (Jesenšek 2006: 144). Dies impliziert, dass solche Wortverbindungen im Unterricht, aber auch in Übungsmaterialien für autonomes Lernen nicht isoliert, sondern nur in umfangreichen Kontexten eingeführt werden sollten (vgl. Kühn 1996). 4. Methodisch ist vor allem der von Kühn entwickelte und von Lüger erweiterte phraseologische Dreibzw. Vierschritt zu beachten, der folgende Aktivitäten für Lernende vorsieht: Phraseme erkennen, entschlüsseln, festigen und verwenden (vgl. Kühn 1996, Lüger 1997: 101f.). 5. Muttersprachliche Kompetenzen sollten beim Aufbau des fremdsprachlichen Wortschatzes genutzt werden. Wie Studien von Ďurčo (2005) u.a. zur Bekanntheit von deutschen Sprichwörtern bei slowakischen Studierenden beweisen, hängt die Merk- und Interpretationsfähigkeit von Lernenden stark davon ab, ob es für den zu erlernenden phraseologischen Wortschatz eine direkte Entsprechung in der Muttersprache gibt. Auch wenn es durch negativen Transfer bei partiellen Äquivalenzen auf formaler, semantischer und/ oder pragmatischer Ebene zu Interferenzstörungen kommen kann, muss die Chance eines positiven Transfers vor allem bei Phrasempaaren mit absoluter Äquivalenz als gewinnbringend verstanden und dementsprechend für den Fremdsprachenerwerb ausgeschöpft werden. 7 Vgl. zu einer detaillierteren Darstellung phraseodidaktischer Forschungsdiskussion: Simon (2012). <?page no="247"?> Zu Deutungsproblemen von Phrasemen 237 Zur Umsetzung dieser phraseodidaktischen Forderungen stehen Lehrenden und Lernenden trotz der defizitären Behandlung von Phrasemen in Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache 8 eine breite Palette an Möglichkeiten zur Verfügung. Daraus seien exemplarisch nur folgende genannt: Denkbar ist eine anhand von Arbeitsblättern angeleitete Textanalyse, bei der mithilfe des methodischen Instrumentariums der Textlinguistik sowie der Sprechakttheorie der Fokus u.a. auf pragmatische Aspekte bei der Verwendung von Phrasemen in Texten gerichtet wird (vgl. Kap. 3). Im Bereich des E-Learnings wurden in den letzten Jahren vor allem unter Berücksichtigung osteuropäischer Sprachen Materialien entwickelt, die den Anforderungen phraseodidaktischer Forschung gerecht werden. Dazu zählen das im Rahmen des Forschungsprojekts EPHRAS erstellte mehrsprachige phraseologische Lehrmaterial auf CD-Rom für die Niveaustufen B1-C1, das die Sprachen Deutsch, Slowenisch, Slowakisch und Ungarisch umfasst. 9 Vielfältige Übungsmöglichkeiten bietet auch die Sprichwort-Plattform, 10 die im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts erarbeitet wurde, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede im heutigen Sprichwort-Gebrauch verschiedener Sprachen und Kulturen, d.h. Deutsch, Slowenisch, Slowakisch, Tschechisch und Ungarisch, zu verdeutlichen. Sie verfügt neben konkreten Aufgaben und Übungen über eine reichhaltige mehrsprachige Datenbank, die für jeden Eintrag Angaben zu Äquivalenten, Erklärungen zur Bedeutung, Hinweise zu Gebrauchsbesonderheiten, Varianten, Angaben zu typischen Verwendungskontexten sowie zahlreiche Belege liefert. 5 Schluss Der vorliegende Beitrag verfolgte vorrangig das Ziel, das Problem der Bedeutungserschließung von Phrasemen insbesondere vor dem Hintergrund der Polyfunktionalität von Sprichwörtern zu beleuchten. Denn gerade im Kontext interkultureller Kommunikation ist ein erfolgreich verlaufender Bedeutungserschließungsprozess von einzelnen Lexemen, aber auch von festen Wortverbindungen sowohl auf semantischer als auch auf pragmatischer Ebene unabdingbar zur Verständnissicherung bzw. zum Vermeiden von Fehlinterpretationen. Dabei 8 Vgl. zur Lehrwerkkritik u.a. Kühn 2005, Jesenšek 2006, Hessky 2007 und Ettinger 2007. 9 http: / / www.ephras.org (Stand: 19.02.2013). 10 http: / / www.sprichwort-plattform.org/ sp/ Sprichwort-Plattform (Stand: 19.02.2013). <?page no="248"?> 238 Ulrike Simon wurde aufgezeigt, inwiefern Phraseme als äußerst komplexe Konstrukte verstanden werden müssen, deren vielschichtige Bedeutung sich oftmals erst in einem konkreten Verwendungskontext erfassen lässt. Abschließend wurden die Relevanz phraseologischer Kompetenz im Fremdsprachenerwerbsprozess unterstrichen und entsprechende Reflexionen im Bereich der Fremdsprachendidaktik angerissen. Damit sollte betont werden, dass dem Bereich der Phraseologie, als signifikantem Teilbereich des Wortschatzes, im Rahmen eines interkulturell ausgerichteten Fremdsprachenunterrichts größere Bedeutung beigemessen werden muss, um Fremdsprachenlernende dazu zu befähigen, auch zwischen den Zeilen zu lesen. Diesbezüglich sind m.E. in erster Linie folgende Desiderate relevant: Zum einen sollte die Forschung zu semantischen und pragmatischen Aspekten von Phrasemen vorangetrieben werden, insbesondere unter Berücksichtigung damit verbundener Probleme der Bedeutungserschließung in fremdsprachlichen Kontexten. Entsprechende Erkenntnisse müssten dann zum anderen verstärkt im Rahmen der Lehr- und Übungsmaterialentwicklung nutzbar gemacht werden, um Lehrenden und Lernenden adäquate Hilfsmittel an die Hand zu reichen. 6 Literatur Balsliemke, Petra (2005): Was noch auf eine Kuhhaut geht … Traditionen, Ergebnisse und Perspektiven der Phraseologieforschung. In: Der Deutschunterricht 5. S. 4-14. Beckmann, Susanne/ König, Peter-Paul (2002): Pragmatische Phraseologismen. In: Cruse, D. Alan/ Hundsnurscher, Franz/ Job, Michael/ Lutzeier, Peter Rolf (Hrsg.): Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Berlin/ New York. S. 421-428. 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Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Berlin/ New York. S. 893-908. <?page no="249"?> Zu Deutungsproblemen von Phrasemen 239 Filatkina, Natalia (2007): Pragmatische Beschreibungsansätze. In: Burger, Harald/ Dobrovoľskij, Dimitrij/ Kühn, Peter/ Norrick, Neal R. (Hrsg.): Phraseologie. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Berlin/ New York. S. 132-158. Földes, Csaba (2005): Kulturgeschichte, Kulturwissenschaft und Phraseologie: Deutschungarische Beziehungen. In: Hausner, Isolde/ Wiesinger, Peter (Hrsg.): Deutsche Wortforschung als Kulturgeschichte. Wien. (Beiträge des Internationalen Symposiums aus Anlass des 90-jährigen Bestandes der Wörterbuchkanzlei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien, 25.-27.09.2003). S. 323-345. Földes, Csaba (2007): Phraseme mit spezifischer Struktur. In: Burger, Harald/ Dobrovoľskij, Dimitrij/ Kühn, Peter/ Norrick, Neal R. (Hrsg.): Phraseologie. 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Münster. (Interkulturelle Perspektiven in der Sprachwissenschaft und ihrer Didaktik; 3). S. 121-144. Umurova, Gulnas (2005): Was der Volksmund in einem Sprichwort verpackt … Moderne Aspekte des Sprichwortgebrauchs anhand von Beispielen aus dem Internet. Bern u.a. <?page no="250"?> 240 Ulrike Simon Quellen Abb. 1: http: / / kinderturnen.tsv-ludwigsburg.de/ 28.html (Stand: 11.02.2013). Abb. 2: http: / / www.amedes.de/ fileadmin/ PDF/ fm-fluidmanager-02.pdf (Stand: 11.02.2013). Abb. 3: http: / / www12.informatik.uni-erlangen.de/ people/ rwanka/ Ftan2010/ (Stand: 11.02.2013). Abb. 4: http: / / www.studis-online.de/ fragen-Brett/ read.php? 52,626010 (Stand: 11.02.2013). <?page no="251"?> Semantische Sensibilität als Interkulturalität. Verständigungsorientierte interkulturelle Kommunikation in kommunikativen Gattungen der projektförmigen transnationalen Zusammenarbeit in Europa Bärbel Treichel (Erfurt) Zusammenfassung Der Beitrag ordnet sich in die Interkulturelle Linguistik ein, und er verwendet I n t e r k u lt u r a l it ä t als sensibilisierendes Konzept. Untersucht werden Darstellungen von Projektzusammenarbeit in interkulturellen europäischen Kontexten, auf die in biographischen Interviews Bezug genommen wird. Interkulturalität wird verstanden als Produkt verständigungsorientierter interkultureller Kommunikation, das emergente Eigenschaften aufweist. Neben Perspektivenübernahme, der Gelegenheit zur Falldarstellung, der Beachtung von Verletzungsdispositionen, aber auch der zeitweisen Suspendierung von Vorbehalten zugunsten des Projekterfolgs ist es in besonderer Weise der sensible Umgang mit lexikalischen Ausdrücken, der Interkulturalität hervorbringt. Dieses umsichtige Handeln mit Begriffen und Bezeichnungen wird in diesem Beitrag als semantische Arbeit bezeichnet und in verschiedenen Projektzusammenhängen beschrieben. 1 Einleitung: Interkulturalität, Genres und Verständigung Die Interkulturelle Linguistik ist ein derzeit sehr dynamisches Arbeitsgebiet der Linguistik, das sich speziell interkulturellen Konfigurationen widmet (vgl. Földes 2011). Diese zeichnen sich durch situativ angelegte (vgl. Schütze 1987) und auf einen inhaltlichen Gegenstand fokussierte Interaktion zwischen Angehörigen zweier oder mehrerer Sprach- und Kommunikationskulturen aus, und es kommt dabei sowohl zu „Berührung als auch Austausch und Vermittlung zwischen verschiedenen kulturellen Horizonten und Ansprüchen“ (Földes 2009: 512). Interkulturalität wird diskurslinguistisch als emergentes Produkt interkultureller Konfigurationen betrachtet: „Unter einem handlungstheoretischen bzw. prozessorientierten Blickwinkel, der die diskursive Einbettung des Phänomens im Blick hat, kann man davon ausgehen, dass Interkulturalität nicht etwas ‚Fertiges‘, ‚Vorgegebenes‘ ist, sondern im kommunikativen Geschehen als interaktiver Aushandlungsprozess konstituiert wird. Schließlich stellt ‚Interkulturalität‘ eine Interpretationsleistung dar“ (Földes 2009: 512). <?page no="252"?> 242 Bärbel Treichel Entsprechend kommt es der Interkulturellen Linguistik darauf an, dass in solchen interkulturellen Konfigurationen Kommunikation zwischen authentischen Interaktionspartnern und in echten sozialen Situationen stattfindet (vgl. Scollon/ Scollon 1997). In der konkreten Interaktion entstehen Sinnstrukturen sui generis, die als Aushandlungsprodukte aus der Interaktionssituation erwachsen und die auf keine der beteiligten Kulturen isoliert zurückführbar sind. Interkulturalität gilt als Orientierungskonzept, welches es gestattet, „das produktive Besondere in spezifischen kulturellen Begegnungsbzw. Überschneidungskontexten“ (Földes 2009: 517) herauszuarbeiten. Bezug nehmend auf Elias (vgl. Elias 1970, Elias/ Scotson 1965) lässt sich Interkulturalität als ein Verflechtungszusammenhang konzeptualisieren, der auf Komplementarität basiert, als F i g u r a ti o n also. Eine solche interkulturelle Konfiguration oder Figuration ist die Zusammenarbeit in transnationalen europäischen Projekten. Hier ist ein Ort in Europa, wo Interkulturalität gegenständlich wird, nämlich als E n c o u nt e r (vgl. Goffman 1961, 1974), das heißt als fokussierte soziale Situation, die in ihrem Ablauf hinsichtlich sozialer Rahmen und beteiligter Akteure und vor allem auch in ihren symbolischen Bedeutungen interpretiert werden muss und beschrieben werden kann. Gegenstand dieses Artikels ist eine erste Analyse der Beschreibungen von Interaktionsanlässen in länderübergreifenden Zusammenarbeitsprojekten, wie sie in autobiographischen Erzählungen in solchen Projekten engagierter Europäer vorkommen. Konkret geht es um länderübergreifende europäische Umweltprojekte und um die beiden länderübergreifenden Schulbuchprojekte, das französisch-deutsche und das polnisch-deutsche Geschichtsbuchprojekt. Es handelt sich bei den Daten um einen kleinen Ausschnitt aus einem Erzählkorpus, das in einem von der Europäischen Kommission geförderten internationalen Projekt zu europäischen Identitätskonstruktionen entstanden ist und das etwa 200 Interviews umfasst (vgl. Miller 2012). 1 Es gibt ein breites Interesse an interkultureller Kommunikation, das von verschiedenen mit Interkulturellem befassten Fächern getragen wird. Überwiegend wird der Gegenstand von der Kulturseite her angegangen, wie dies etwa in den weithin bekannten Arbeiten von Hofstede (2006), Hall (1966, 1983) und Maletzke (1996) auf je eigenständige Weise geschieht. Kulturen werden als Ganzes in den Blick genommen und hinsichtlich ihrer Unterschiede bei wichtigen Parametern - etwa dem Umgang mit Zeit und Raum - beschrieben. In biographischen Interviews hingegen kommt die Informantenperspektive zum Ausdruck, und es ist die Kommunikationsseite von interkultureller Kommunikation, die dann zentral 1 VII. Rahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft, Fördernummer 213998. <?page no="253"?> Semantische Sensibilität als Interkulturalität 243 betrachtet wird: Informanten müssen sich in der Projektzusammenarbeit, die eine lebensweltliche Realität für alle Beteiligten darstellt, mit dem kommunikativen Handeln selbst als wichtigem Teil der Zusammenarbeit auseinandersetzen. Dazu widmen sie sich den kommunikativen Dimensionen interkultureller Situationen und beschreiben diese hinsichtlich ihrer thematischen Verläufe, der beteiligten Akteure, der Beziehungsgestaltung und der symbolischen Bedeutungen für kollektive Identitäten. Der handlungstheoretische und prozessorientierte Blickwinkel, den Földes fordert, lässt sich anhand solcher Diskursbeschreibungen in biographischen Interviews herstellen (auch wenn es sich dabei nicht um Konversationsaufzeichnungen des Interaktionsgeschehens handelt). Europäische Zusammenarbeitsarenen sind grenzüberschreitend-europäisch; sie profitieren von Einzelerfahrungen der beteiligten Länder, müssen aber hinsichtlich der transnationalen Zusammenarbeit als neu und innovativ angesehen werden. Einzelerfahrungen der Länderbeteiligten können nicht einfach übertragen werden; stattdessen setzen komplizierte Aushandlungsprozesse ein, die eine wirklich transnationale Zusammenarbeit entwickeln helfen. Die Produkte interkultureller Konfigurationen unterscheiden sich ihrem Charakter nach von der Summe der eingebrachten Einzelerfahrungen. Entsprechend ist die Zusammenarbeit gekennzeichnet durch: ein hohes Maß an Interaktivität, die Bereitschaft zur Perspektivenübernahme und produktive Formen der wechselseitigen Bezugnahme, wie etwa der Falldarstellung und -diskussion. Beteiligte müssen Gemeinsamkeiten herausarbeiten und nationale Verletzungspotentiale ernst nehmen, sie müssen aber auch in der Lage sein, zeitweise über nationale Verletzungsdispositionen zugunsten des zielorientierten Problemlösens hinwegzusehen. Immer wieder stellen Beteiligte fest, dass sie nur Interesse an einer egalitären Kooperation haben. Sobald einzelne Partner dominant auftreten, droht das Projekt zu scheitern. Transnationale Zusammenarbeit steht und fällt aber mit dem besonderen Engagement ihrer Beteiligten. In diesem Sinne behindern Majoritäts-Minoritäts-Figurationen die Zusammenarbeit in ihren Wurzeln. Gelingende Kommunikation in interkulturellen Konfigurationen ist an V e r s t ä n d i g u n g orientierte Kommunikation. Dies ist diejenige Form von Kommunikation, die der Handlungskoordinierung dient und die Habermas (1981) als kommunikatives Handeln bezeichnet hat. „Die sprachlich vermittelte Interaktion, die durch die funktionale Einbettung des verständigungsorientierten Sprachgebrauchs in einen Handlungskontext zustande kommt, nenne ich ‚kommunikatives Handeln‘“ (Habermas 2009: 10). An Verständigung orientierte Kommunikation stellt Weltbezüge her und dient der Aushandlung gemeinsamer Situationsdefinitionen. Es handelt sich um kooperative Deutungsprozesse über lebensweltlich Relevantes. <?page no="254"?> 244 Bärbel Treichel Aufgrund des innovativen Charakters europäischer Kooperationsprojekte, die ja trotz der Neuartigkeit ihrer Gegenstände und der bis dahin für die Beteiligten überwiegend unerprobten kommunikativen Praktiken dennoch prozesshaft entstehen, ist noch einmal ein fokussierter Blick auf deren kommunikative Gestalt zu richten, die man aus der Perspektive der Interkulturellen Linguistik und mit Bezug auf einen an Verständigung orientierten Begriff kommunikativen Handelns durchaus zentral verantwortlich für ihr Gelingen überhaupt sehen kann. Hier bieten sich bestimmte Potentiale des Genre-Begriffs an, auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte. Der Begriff des G e nr e oder der k o m m u nik a ti v e n G a ttu n g ist zunächst aus der Literaturwissenschaft bekannt. Er thematisiert kodifizierte Textformen, die wiederkehrende Muster zum Ausdruck bringen, etwa das Ausdrucksmuster der Tragödie oder der Komödie, des Romans oder der Kurzgeschichte. Nimmt man Legenden und Sprichwörter hinzu, so scheint der Aspekt der Unveränderlichkeit auf. Bei Genres der Volksdichtung, wie Märchen und Fabeln, tritt zudem die erzieherische Komponente hervor, die dafür sorgt, dass bestimmtes soziales Wissen nicht in Vergessenheit gerät. In der Kommunikationssoziologie werden solche Redeformen als kommunikative Gattungen beschrieben, die in engem Zusammenhang mit den sozialen Kontexten, auf die sie bezogen sind, stehen (vgl. Luckmann 1986). Gesellschaften sind damit konfrontiert, dass es wiederkehrende kommunikative Aufgaben gibt. Zu deren Lösung entwickeln sie kommunikative Muster, auf die immer dann zurückgegriffen werden kann, wenn die so typisierte kommunikative Aufgabe erneut zur Bearbeitung ansteht. Kommunikative Probleme brauchen nicht jedes Mal, wenn sie auftreten, von Grund auf neu durchdacht zu werden. Man hat Muster zuhanden, die schon bestehende Problemlösungen bereithalten. In diesem Sinne vermitteln kommunikative Gattungen sozusagen vergesellschaftetes Wissen, also vergangene Erfahrungen, die sich zu Gattungswissen verdichtet haben. Im Kern der Gattungsanalyse steht nun einerseits das Aufspüren der als ähnlich typisierten kommunikativen Vorgänge; 2 anderseits geht es um die Handhabung des Gattungswissens in der Interaktion. Ist die Gattungsnähe einer bestimmten Kommunikation nämlich erst einmal erkannt, sind Interaktionspartner weitgehend orientiert hinsichtlich des Ablaufmusters, des Umfangs, der Partizipationsmöglichkeiten bis hin zu Kenntnissen über Register und Stile. Bakhtin (1986) sieht kommunikative Gattungen als Bindeglied zwischen der 2 Hier ist die Gattungsanalyse besonders in ihrer kommunikationssoziologischen Ausprägung zum sprachsoziologischen Begriff der d o m a i n s o f l a n g u a g e u s e von Fishman anschlussfähig. <?page no="255"?> Semantische Sensibilität als Interkulturalität 245 Sprache und der Lebenswelt. Wenn sich das lebensweltliche Wissen weiterentwickelt, wächst und differenziert sich auch das Gattungswissen. Spannt man den Bogen weiter, so lässt sich nicht nur das gegenwärtige Handeln anhand von Gattungswissen strukturieren; letztlich verweisen Gattungen auf den Horizont des Möglichen. „What we learn when we learn a genre is not just a pattern of forms or even a method for achieving our own ends. We learn, more importantly, what ends we may have” (Miller 1984: 165, zit. nach Swales 1990: 44). Kommunikative Gattungen stellen einen Aktionsradius zur Verfügung, der neben den Umrissen eines Handlungswissens sogar auch eine Projektion auf mögliche Handlungen leistet. In dieser Hinsicht bestimmt das Repertoire an Genres den Denkhorizont oder den Rahmen der linguistischen Aufgaben, die man überhaupt in Angriff nehmen kann. Bei Bakhtin (1986) kommt noch der Aspekt hinzu, dass je besser ein Genre beherrscht wird, desto umfassender der Benutzer seine Individualität darin zum Ausdruck bringen kann. In dieser Hinsicht sind unsere Informanten Vorreiter europäischer Interkulturalität: Sie entwickeln Kommunikation in interkulturellen Figurationen als Genre, erringen Meisterschaft darin, sie entwickeln sich selbst als Persönlichkeiten weiter und erweitern Denkhorizonte, dies sowohl in der interkulturellen Konfiguration als auch darüber hinausweisend für Europa. 2 Semantische Arbeit: Begriffsbildung, Bezeichnungen, Beziehungsarbeit und Visionen Im Folgenden werden Ausschnitte aus biographischen Interviews betrachtet, in denen sich Informanten mit kommunikativen Situationen in europäischen Projekten auseinandersetzen. Die Informanten zeigen auf, wie sich die beteiligten Akteure verstärkt dem Interaktionsgeschehen selbst widmen. Gleichzeitig entwickeln sie das Genre der interkulturellen Projektarbeit, das heißt, sie identifizieren wiederkehrende kommunikative Aufgaben, bestimmen die soziale Einbettung und leiten aus der Gestalt als Genre einen Aktionsradius ab, der Neues entstehen lässt. Man kann sicher sagen, dass unsere Informanten in Situationen der transnationalen Projektzusammenarbeit wiederkehrende kommunikative Vorgänge sehen, die sie als ähnlich typisieren würden. In ihren Darstellungen informieren sie über die Entstehung und die Handhabung des Gattungswissens. Zum Gattungswissen zählt, dass Sensibilität hinsichtlich der Semantik der zu thematisierenden Begriffe und Bezeichnungen notwendig ist, um verständigungsorientiert zu arbeiten. Dieser verständigungsorientierte Umgang mit lexikalischen Ausdrücken soll im Folgenden als s e m a nti s c h e Ar b e it bezeichnet und genauer be- <?page no="256"?> 246 Bärbel Treichel trachtet werden. Bakhtin thematisiert das Problem der Einfachheit und Aufrichtigkeit semantischer Kategorien als „candor of speech“ (1986: 97). Diese offene Thematisierung von Wirklichkeit anhand bestimmter treffender Bezeichnungen, die jedoch nur in vertrauensvollen Interaktionssituationen möglich ist, habe die Kraft, Wirklichkeit zu verändern. Auch davon soll im Folgenden mit Bezug auf interkulturelle Situationen die Rede sein. Europäische Zusammenarbeit wird durch innovative Projekte vorangetrieben. Dazu zählen zweifellos die gemeinsamen Schulbuchkommissionen und eine Reihe von Umweltprojekten, die schon aufgrund der Sachlage nur transnational zu betreiben sind. Es sind Menschen mit Visionen notwendig, die die Projektarbeit erst auf den Plan rufen. Dies zeigt sich vielfach in Stellungnahmen dazu in den biographischen Interviews, wenn etwa von einer „fixen Idee“ die Rede ist, „ein richtiges deutsch-französisches Schulbuch“ (Prof. Leinenweber 22/ 42) zu schreiben, oder wenn der Plan formuliert wird, „eine Vision für den Rhein auszuarbeiten“ (Jeanne 8/ 12). Informanten begreifen ihr europäisches Projekt oft als zentrales Lebensprojekt, der Projektauftakt wird als Kristallisationspunkt einer biographischen Transformation thematisiert. So stellt Prof. Lewandowski zur Schulbucharbeit fest: 3 Und dann kam die eh Wende, auch eine Wende in meinem Leben. Das war die Schulbuchkommission. […] Aber ich würde sagen, dass es vielleicht das beste Werk meines Lebens war, diese Schulbuchkommission. … Das war eine sehr ….. na, wie sagt man das, ereignisvolle Tätigkeit. … Macht viel Freude, dass sie bis jetzt besteht. (L 20/ 6-50). Im Kontrast zum biographischen Stellenwert der Projektarbeit für die Beteiligten steht die zunächst zurückhaltend zu strukturierende Arbeit selbst. Sowohl in der Schulbucharbeit als auch in der Umweltarbeit geht es um umfassende Problemlagen, die viele Domänen europäischer Wirklichkeit tangieren. Jedoch können diese Problemlagen in der konkreten Projektzusammenarbeit anfangs nur bescheiden angegangen werden. Wie Prof. Lewandowski anmerkt: Und haben wir über die Schulbuchverbesserung in beiden Ländern gesprochen. (L 20/ 16-17). 3 Es handelt sich um maskierte Transkripte. Folgende Transkriptionszeichen wurden verwendet: Satzzeichen imitieren Intonationsverläufe und Sprechpausen; … = längere Pausen; / / = markierte Redeabbrüche; # = Redeüberlappung; Unterstreichung = bes. Betonung; [in eckigen Klammern] = Anmerkungen zum Transkript; […] = Auslassung; I = Interviewer; Zitierweise ist Seite/ Zeile. <?page no="257"?> Semantische Sensibilität als Interkulturalität 247 Die Bezeichnung Schulbuchverbesserung verschleiert sicher die Tragweite des Projekts der Entwicklung eines polnisch-deutschen Geschichtsbuchs; auf der anderen Seite macht die Bescheidenheit in der Begrifflichkeit eine Zusammenarbeit nach den Leiden des zweiten Weltkriegs auf schmerzvollem und symbolisch aufgeladenem Terrain erst möglich. Bezeichnungen verweisen nicht nur auf einen Bedeutungskern, sondern erfassen auch den Symbolgehalt lexikalischer Ausdrücke. Schulbuchverbesserung steht in diesem Sinne für den Versuch eines semantischen Neuanfangs. Auch das Verb sprechen in „über die Schulbuchverbesserung in beiden Ländern gesprochen“ blendet die zu erwartenden Komplikationen in den Verhandlungen über ein solches Schulbuch aus. Es gilt zunächst, in der Projektzusammenarbeit das Fundament für eine gelingende Verständigung zu legen und die Modi der Zusammenarbeit zu besprechen. Dazu zählt auch die Reflexion über zu thematisierende Begriffe und Bezeichnungen, welche sozusagen die Basis für jede Art der Verständigung stellen. Auch die transnationale Umweltarbeit weist komplexe Problemlagen auf. Wenngleich erfolgreiche Umweltarbeit auf nationaler Ebene durchaus akzeptiert wird und Anerkennung findet, so lassen sich etablierte Konzepte dennoch nicht einfach auf transnationale Kontexte übertragen. Für die Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg muss das Genre der Projektzusammenarbeit über Umweltthemen neu etabliert und den neuen transnationalen Bedürfnissen entsprechend modifiziert werden. Dazu zählt, dass relevante Themen im interkulturellen Dialog identifiziert und Formen der Zusammenarbeit verhandelt werden müssen. Dazu die Umweltaktivistin Miriam: Also, man hat da schon gemerkt, dass da irgendwie so ein bisschen so ähm ja Ressentiments bestehen. Also, was wiederum kein Wunder ist, weil ich hab’s teilweise auch erlebt, dass einfach ähm … ja aus dem Verband dann auch wiederum ältere Kollegen … gegenüber den ja tschechischen Verbänden oder tschechischen Kollegen sehr bestimmt auftreten. Also wieder mit dem, „ja, wir kommen ja aus dem Westen und wir wissen ja wie es besser geht und wir zeigen euch jetzt mal“. (I: mhm). Also, das ging hin bis zu/ / zu solchen Überlegungen wie dass man in Tschechien einen neuen Naturschutzbund gründet. Also, sozusagen ein Pendant zum [Umweltschutzorganisation] in [Bundesland]. Und, das waren dann schon solche Überlegungen, wo ich mir dachte, also, wenn ich jetzt/ / wenn ich jetzt Tschechin wäre und würde mir überlegen, da aus dem aus/ / aus nem anderen Land ein Verband und will in meinem Land ein/ / einen sozusagen Tochterverband gründen, ähm dann fände ich das, glaube ich, auch nicht so ganz Klasse. Aber, solche wie soll ich sagen, mit so was muss man sich auch ganz stark auseinandersetzen. (M 18/ 48-19/ 12). <?page no="258"?> 248 Bärbel Treichel Es ist ein Topos in der Ost-West-Zusammenarbeit, dass sich der Westen aufspielt und westliche Kollegen versuchen, den Kollegen aus dem Osten ihre Verfahren einfach aufzudrängen. Im Osten stößt dies auf Ablehnung, und nicht immer verstehen die Westkollegen, weshalb sich die Kollegen aus dem Osten bei der Zusammenarbeit eher zurückhaltend zeigen. Im zitierten Beispiel spricht die Informantin, die aus Westdeutschland stammt, zunächst ein Generationenproblem an: Es gibt ältere Kollegen aus den westdeutschen Umweltverbänden, die sich gegenüber osteuropäischen Umweltverbänden, deren Mitglieder meist jünger sind, überheblich zeigen. Zum anderen stellt sich ein Ost-West-Konflikt ein, dergestalt, dass Westkollegen dominieren wollen. In Form von zitierter Rede macht die Informantin Miriam auf diesen systematischen und für die Zusammenarbeit als abträglich empfundenen Tatbestand aufmerksam: „ja, wir kommen ja aus dem Westen und wir wissen ja wie es besser geht und wir zeigen euch jetzt mal“. Es muss also neu darüber verhandelt werden, wie man die Zusammenarbeit fortan strukturieren möchte, und damit gehören auch Interaktionspraktiken und Grundannahmen über Kernwissensbestände sowie selbstverständlich lang gepflegte Hegemonieansprüche auf den Prüfstand. Indem die Informantin aus der Perspektive der Partner aus Tschechien schaut, erkennt sie als ein zentrales Problem die Frage nach der Definitionsmacht, die die beginnende Zusammenarbeit in ihren Grundfesten bedroht. Für die polnisch-deutsche Schulbuchkommission gilt in ähnlicher Weise zunächst die Anforderung, vertrauensvolle Beziehungen innerhalb der Arbeitsgruppe herzustellen. Trotzdem mussten wir uns alle kennen lernen. (I: Ja.) Das war die erste Aufgabe. Und ich muss sagen, dass das wunderschön gelungen ist, ja. Wir haben nie in der Kommission selbst eh Streitereien oder eh Unannehmlichkeiten eh gehabt. Das, das funktionierte alles sehr gut. Sogar auch die Stellvertreter des eh Außenministeriums oder der, des, des Ministereh Bildungsministerium. Obwohl die haben sich überhaupt nicht engagiert. Trotzdem waren sie wenigstens loyal uns gegenüber. Uns, das heißt den Wissenschaftlern. (I: Ja.). Dann die zweite Frage war natürlich die Frage der Beziehungen mit der deutschen Kollegen. (I: Ja.) Und hier muss ich sagen, haben wir eigentlich mit einem Wunder zu tun gehabt. Denn es gab überhaupt keine Schwierigkeiten mit den eh also rein menschlichen Beziehungen. Das klappte von Anfang an ideal. Nie - obwohl wir wussten, dass wir verschiedener polnische, politischer Meinungen sind. Auch innerhalb der polnischen Gruppe war das der Fall. (I: Ja.) Die eh Feinde der eh Kommission in Deutschland haben unter anderem uns, der polnischen Kommission eingeredet versucht eh wir sind Partei alle, wir sind Parteimitglieder natürlich und eh Parteiprominente. (I: Aha.) Kein einziger in der polnischen Kommission war Mitglied der Zentralkomitees. (L 21/ 15-38). <?page no="259"?> Semantische Sensibilität als Interkulturalität 249 Auch für die Schulbucharbeit ist wichtig, dass zunächst die Konstellation der Gruppe analysiert wird, damit eine Zusammenarbeit bewusst eingeleitet werden kann. In der Schulbucharbeit wird die Interaktion selbst thematisch: Man muss sich „kennen lernen“ und es handelt sich um eine „Frage der Beziehungen“ zwischen den Menschen aus unterschiedlichen Nationen, mit unterschiedlicher professioneller Einbindung und unterschiedlichen politischen Einstellungen und Loyalitäten. Im Zuge der beginnenden Verständigung muss man sich auch mit Anfeindungen von außen auseinandersetzen: Man versucht, der Kommission „einzureden“, dass nur „Parteiprominente“ aus Polen nominiert worden seien. Gelingende Verständigung setzt Beziehungsarbeit voraus: Es gab keine „Streitereien“ oder „Unannehmlichkeiten“ in der Kommission selbst. Der Informant leistet Perspektivenübernahme, indem er sich die Konsequenzen des Vorwurfs der Parteizugehörigkeit der Polen auf die deutschen Beteiligten vorstellt und nicht selbst angesichts solcher Zuschreibungen verärgert ist. Sowohl in der Umweltarbeit als auch in der Schulbucharbeit macht erst ein Vertrauensvorschuss die Zusammenarbeit möglich. Der Informant Prof. Lewandowski spricht von einem „Wunder“, dass die Zusammenarbeit von Anfang an harmonisch verlief, es gibt einen „will to believe“ (James 1896). Noch zum Zeitpunkt des Interviews drückt der Informant sein Erstaunen über das Gelingen Jahrzehnte währender Zusammenarbeit aus. Im Kern der Projektzusammenarbeit steht nun der Umgang mit Begriffen und Bezeichnungen, den ich als semantische Arbeit thematisiere. Am Beispiel der Schulbuchkooperation kann gezeigt werden, dass nur ein differenzierter Umgang mit existierenden Bezeichnungen und die sensible Verständigung über neue Bezeichnungen die Arbeit überhaupt voranbringen. Begriffe im Zusammenhang von Flucht und Vertreibung stechen hier hervor. Also politisch war sie verschieden profiliert. Aber wissenschaftlich haben wir ein von Anfang an, keine Schwierigkeiten. Hier waren wir alle sowohl die polnische als auch die deutsche eh Gruppe einig. Zum Beispiel nie haben wir das Wort eh für Wiedervereinigte Gebiete benutzt. (L 22/ 7-8). Dann haben wir auch die schwerste Sache, das war die Sache der Vertreibung. (I: Hm. Hm.) Ja, also der Begriff Vertreibung ist immer noch in Deutschland also ein eh Gesamteh -namen betrachtet. (I: Hm.) Und genutzt. Und in der Wirklichkeit war es so, dass es verschiedene Vertreibungen, so genannte Vertreibungen gab. Erstens und zuerst waren die polnische, war die polnische Bevölkerung vertrieben. (I: Ja richtig, sicher, ja.) Von den Deutschen. […] Und mit der Umsiedlungen hat, haben doch Naziverbrechen angefangen. Von Westpommern bis Wroclaw, Pommern. Sogar nicht weit von Lublin wurden die, wurde die polnische Bevölkerung nach eh Generalgouvernement vertrieben. Nee, <?page no="260"?> 250 Bärbel Treichel wir haben nie das Wort Vertreibung benutzt. Ausgesiedelte. Obwohl sie waren einfach vertrieben. (I: Ja natürlich.) War, meistens in zwei Stunden musste man die Wohnung eh eh# (I: #räumen.) lassen. Verlassen. (I: Wahnsinn, ja.). Also nicht, und das ist uns doch gelungen nach einer großen Streiterei, dass man nicht also eh Gesamtnamen benutzen darf, sondern man muss unterscheiden verschiedene eh Sorten auch von Vertreibung, so genannter Vertreibung. Also es gab vor allen Dingen in Ostpreußen eh die eh der Teil der Bevölkerung, der vor dem Frontvor der deutsch-eh-sowjetischen Front eh freiwillig eh weggelaufen sind. Also das waren keine Vertriebenen, wenn schon# (I: #Naja, ja.) nicht eh von den Alliierten oder den Polen vertrieben. Und, aber das ist uns auch doch gelungen ausgewogene eh# (I: #Kategorien#) #Namen zu finden. (L 22/ 40-23/ 31). In dieser Gruppe von Wissenschaftlern, die nicht nur binational, sondern auch interdisziplinär besetzt war und zu der auch Parteipolitiker zählten, besteht ein hohes Maß an semantischer Sensibilität und ein Gefühl für die wechselseitigen Verletzungsdispositionen. Der Begriff der Vertreibung ist hochgradig problematisch. Er ist in Polen und Deutschland mit unterschiedlichen historischen Verbrechen assoziiert und deshalb national unterschiedlich geprägt und auf bestimmte Weisen konnotiert. Hier gilt es, die nationalen Geschichten von Flucht und Vertreibung in den Blick zu bekommen und schon bei der Begriffsbildung die genauen Kontexte anzugeben und zu differenzieren. Semantische Sensibilität ist auch hinsichtlich der Bezeichnung derjenigen Territorien vonnöten, die nach dem zweiten Weltkrieg zurück an Polen fielen. In der lexikalischen Semantik gibt es (in Bezug auf politische Kommunikation) eine Debatte zur Frage, ob man Begriffe besetzen kann. Ich glaube, Vertreibung ist ein solcher Begriff, in dessen Kontext sich sehr stark das Leiden der Deutschen artikulieren konnte und der dadurch das Leiden der deutschen Kriegsflüchtlinge stärker fasst als das der anderen im Krieg ihrer Heimat beraubten Menschen in Europa. Bemerkenswert an der Schulbucharbeit ist, dass am Begriff der Vertreibung Versöhnungsarbeit geleistet werden kann, indem Leiden nicht gegeneinander aufgewogen, sondern historisch kontextualisiert und differenziert betrachtet wird und indem das Leiden thematisierende Bezeichnungen sorgfältig und jeweils mit Blick auf den Anderen gewählt werden. Den verschiedenen Stimmen Gehör zu verschaffen, darin besteht das Verdienst der Kommission. Prof. Lewandowski spricht von „ausgewogenen Namen“, die für das Verbrechen an den Bevölkerungen gefunden werden müssen. Er meint damit, dass die Bezeichnung Vertreibung oder eine andere dafür zu findende Bezeichnung nicht nur das deutsche, sondern auch das polnische Leiden fassen muss. Diese Bezeichnung darf den Blick für die unterschiedlichen Ausprägungen des Leidens unter Flucht und Vertreibung nicht verdunkeln. <?page no="261"?> Semantische Sensibilität als Interkulturalität 251 Ich möchte noch ein Beispiel aus der Umweltarbeit nennen, wo in ähnlicher Weise semantische Sensibilität verlangt wird. Auch hier gibt es ein Ringen um Begriffe und Bezeichnungen, das in der transnationalen und interdisziplinären Zusammenarbeit innovative neue Bezeichnungen und damit verbunden auch Einsichten hervorbringt. In der grenzübergreifenden Zusammenarbeit tauchen zwangsläufig neue Themen auf. Beim naturschutzbezogenen Umgang mit den ehemals stark abgesicherten Grenzregionen kommt die konkrete historische Dimension hinzu: Man muss sich nun damit auseinandersetzen, wie das Gebiet zu dem geworden ist, was es ist, und wie man es als kollektives Kulturgut in Zukunft pflegen möchte. Dabei reichen allein erprobte Kategorien aus der professionellen Arbeit des Naturschutzes, wie etwa bezogen auf Landschaftsarten die von der Informantin Miriam genannten etablierten Kategorien „Waldarten“, „Offenlandarten“ und „halboffene Landschaften“, nicht aus. Angesichts der Konstitution der besonderen Landschaften im Grenzraum tritt der Begriff der „naturnahen Kulturlandschaft“ hinzu. Damit setzt sich die Informantin im folgenden Abschnitt auseinander. Also das war, … was ich sehr interessant finde und womit ich mich heute auch ähm oder versuche zu beschäftigen. Also das immer hinterfragen, also warum schützen wir jetzt eigentlich diese Natur? Warum sind das irgendwelche Offenlandschaften? Warum sind das spezielle Arten? Also warum schützen wir die Offenlandarten, aber nicht die Waldarten? Also ähm einfach ähm muss sich immer bewusst sein, dass dieser ganze Naturschutz `nen sehr starken kulturellen Überbau hat. Und mir ist es aufgefallen, dass viele Naturschützer das nicht wahrhaben wollen. Also die sich dann sehr stark auf so ne wissenschaftliche Ebene, beziehen also ökologische Ebene, dass man eben mit vielen Zahlen, mit vielen Tabellen arbeitet. Aber, dass man sich überhaupt nicht fragt, ja aber aus welchem Grund mach ich das jetzt? Und ist es gut oder ist es schlecht? Also ähm dass es da einfach schon Bewertungsschritte gibt … im Naturschutz, die eben ganz klar kulturell ähm beeinflusst sind und eben nichts mit Naturwissenschaft zu tun haben. […] Und da war natürlich auch die ganze Diskussion, ja was soll jetzt? Und warum Biosphärenreservate? Und da hieß das dann auch immer, ja wir wollen diese naturnahe Kulturlandschaft erhalten und schützen und pflegen? Und da hab ich mich halt auch gefragt was ähm also was heißt das eigentlich: naturnahe Kulturlandschaft? Also ist das jetzt ne Naturlandschaft oder ist es ne Kulturlandschaft? Und was ist jetzt naturnahe an dieser Kulturlandschaft also das waren alles so Sachen, die ich ähm … also wo ich halt auch Bilder im Kopf hatte. (M 10/ 30-11/ 7). In diesem Beispiel geht es um semantische Sensibilität hinsichtlich der im Umweltschutz etablierten Fachtermini. Angesichts besonderer Problemlagen muss der zu behandelnde Gegenstand auf neue Weisen gesehen werden. <?page no="262"?> 252 Bärbel Treichel Etablierte Kategorien wie diejenigen für Landschaftsarten bezeichnen die ehemals befestigten Grenzregionen nicht treffend. Im Zuge der fachlichen Benennung in Termini der Ökologie stellt sich auch die Frage des fachlichen Umgangs mit dem so Bezeichneten. Die Bezeichnung naturnahe Kulturlandschaft wird in der interkulturellen projektbezogenen Zusammenarbeit entwickelt. Sie identifiziert ein bisher übersehenes Problem, ordnet es in den Rahmen der professionellen Arbeit eines Fachs ein und fordert zu einem bestimmten Umgang damit auf: Als „naturnahe Kulturlandschaften“ sind die ehemaligen Grenzgebiete als Biosphärenreservate schützenswert, auch wenn sie ihre Struktur ihrer Formung als Grenzen verdanken. Erst in der interkulturellen Kommunikation und Zusammenarbeit tritt die kulturelle Dimension wissenschaftlicher Arbeit an der Umwelt und wissenschaftlicher Kategorien konturiert hervor. Auch Naturwissenschaft wird so zu einer Kulturwissenschaft: Mit Blick auf die neuen Problemlagen ist es nicht länger möglich, sich auf Zahlen und übliche Fakten zurückzuziehen. Historische Themen und Naturschutz gehen Hand in Hand. Auf diese Weise hilft die europäische interkulturelle Kommunikation gar, die in die Projektarbeit involvierten Fächer weiterzuentwickeln. Der semantischen Arbeit zuträglich ist weiterhin ein Sinn für Paradoxien, die sich in begrifflich verfassten Identitätsbildern verbergen. Im folgenden Beispiel spricht die Umweltaktivistin Jeanne über den in Deutschland quasisakralen Begriff „Vater Rhein“. Dessen Abgehobenheit und kulturelle Aufladung verhindere, dass man sich mit dem Rhein wissenschaftlich beschäftigen und über ein Umweltkonzept sprechen könne. Das alles habe sich mit dem Chemieunfall bei Sandoz 1986 geändert. Die Franzosen hatten schon eine bessere Konzept in Wassermanagement als eh in Deutschland. Und wir haben festgestellt, dass die Grenzen zwischen Ländern, deutschen Ländern, war viel stärker und dichter als die Grenzen zwischen Frankreich und Deutschland. (I: Ja.). Und das war ein riesiges Problem. Für gerade den armen Rhein. „Vater Rhein.“ Eh weil es gab, es war fast unmöglich eh Daten von den verschiedenen Ländern zu bekommen. Eh das für uns ein riesiges Erlebnis auch. Ehm nicht nur für die Franzosen, auch für die Deutschen. (I: Mhm.). Und das war eine gute Sache. Eh diese Sandoz-Geschichte war natürlich für den Fluss nicht gut. Aber für die Flussauen schon. Für Wassermanagement in Deutschland sehr. Und es hat die internationale Kommission zum Schutz des Rheins sehr geholfen. Weil diese Kommission hatte kaum gelebt, konnte fast nichts tun und so weiter. (I: Aha.) Und plötzlich waren alle Regierungen einig, um einen Plan für den Rhein zu zu zu auszuarbeiten. (I: Ja.) Und ehm danach hat diese Kommission mit eh/ / Gut die Kommission war nur ein Sekretariat, ja. Das waren die Regierungen, die zusammen beschlossen haben, eine Vision für den Rhein auszuarbeiten. (J 7/ 42-8/ 12). <?page no="263"?> Semantische Sensibilität als Interkulturalität 253 Die Informantin weist auf das Paradoxe in großen Identitätsbildern hin: Der Überhöhung des Rheins als nationales Identifizierungssymbol besonders in Deutschland („Vater Rhein“) steht die totale Ignoranz in Bezug auf den Naturschutz gegenüber. Der Sandoz-Unfall ist bezogen auf den sorglosen Umgang mit dem Rhein geradezu als Glücksfall zu bezeichnen, bringt er doch einen Prozess des Umdenkens in Gang, der 1999 in ein „Übereinkommen zum Schutz des Rheins“ mündet, das alle fünf Länder des Einzugsgebiets unterschrieben haben. In der Folge wurden Kommissionen zum Schutz des Rheins und anschließend zum Schutz anderer grenzüberschreitender Flüsse wie der Donau und der Elbe gegründet, die von der Arbeit zum Rhein profitiert haben. Diese Hellsichtigkeit in Bezug auf Bezeichnungen - im gerade genannten Beispiel gibt es überhöhte Begriffe, die den Blick verdunkeln - ist auch charakteristisch für die konkrete inhaltliche Arbeit, die deshalb wiederum als semantische Arbeit begriffen werden kann. 3 Zusammenfassende Bemerkungen: Europa in verständigungsorientierter Kommunikation und Interkulturalität „All the diverse areas of human activity involve the use of language. Quite understandably, the nature and forms of this use are just as diverse as are the areas of human activity” (Bakhtin 1986: 60). Bakhtin verknüpft in seiner Stellungnahme Sprechen und Handeln, und er stellt die Diversität und Variabilität beider heraus. Der Genre-Begriff, den er im selben Artikel entwickelt, stellt Sprache in einen Handlungskontext. Er ist geeignet, Variabilität und Gestaltorientierung menschlichen Sprechens, Handelns und Sprechhandelns gleichermaßen zu erfassen. In diesem Beitrag wird die projektbezogene Kommunikation in interkulturellen Konfigurationen als Genre betrachtet. Untersucht werden Beschreibungen solcher Projektinteraktionen in biographischen Interviews. Gerade in der transnationalen europäischen Umwelt- und Schulbucharbeit sind solche kommunikationsstrukturierten interkulturellen Konfigurationen zentral; Informanten widmen ihnen detaillierte Situationsbeschreibungen - dies auch deshalb, weil die interkulturelle professionelle Arbeit von vielen unserer Informanten als biographisch überaus relevant eingestuft wird. In diesem Sinne betätigen sich unsere Informanten als Quasi-Ethnographen der Kommunikation: Sie liefern ganz im Sinne von Geertz (1973) dichte Beschreibungen solcher Interaktionen, indem sie die eigene und die Perspektive der anderen darlegen und die Interaktionen nicht lediglich als Chronik und Ergebnisprotokoll, sondern sehr differenziert hinsichtlich der Motivlagen der beteiligten Akteure und mit Bezug auf entstehenden sozialen Sinn präsentieren. <?page no="264"?> 254 Bärbel Treichel Das Genre der interkulturellen Projektkommunikation ist der diskursive Ort, an dem das Interkulturelle als Figuration gegenständlich wird, an dem Interkulturalität entsteht. Es ist der Herstellungsaspekt der Figuration des Interkulturellen, der in den Kommunikationsbeschreibungen besonders zum Ausdruck kommt. Wird interkulturelle Projektkommunikation von den Akteuren als Genre verstanden, zeigen sich Emergenzpotenziale, weil das Genre dann als Gestaltmuster wirkt und den Erfolg des gemeinsamen Handelns begünstigt. Im Einzelnen weist das Genre folgende Eigenschaften auf: Es handelt sich um verständigungsorientierte Kommunikation. Die Akteure sind an der Sichtweise des jeweils Anderen interessiert, das heißt, sie leisten Perspektivenübernahme. Im Interaktionsprozess werden Beziehungskonstellationen analysiert, Hegemonieansprüche zurückgewiesen, Falldarstellungen zugelassen, wird Differenzierung der Problemlagen anstelle von Vereinfachung angestrebt, werden Grundannahmen über Kernwissensbestände in Frage gestellt, Verletzungsdispositionen ernst genommen und Interaktionspraktiken selbst zum Gegenstand der Reflexion. Als prominente Facette der verständigungsorientierten Kommunikation in Figurationen des Interkulturellen erweist sich die umsichtige Arbeit an etablierten Begriffen und verwendeten Bezeichnungen. Um eine Verständigung auf den Weg zu bringen, kann es zunächst sinnvoll sein, bescheidene Bezeichnungen zu wählen, wenn diese auch der Tragweite des Projekts kaum gerecht werden (Bsp. Schulbuchverbesserungen). Im Zuge der Verständigung können dann auf der Basis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit in einem geschützten Raum Kernbegriffe des Transnationalen erhoben und diskutiert werden - etwa das kollektive Leiden unter Flucht und Vertreibung, und zwar in einer Weise, wie sie für alle Beteiligten akzeptabel ist. Solche Kernbegriffe sind symbolisch aufgeladen und verweisen auf kollektive Identitäten. Die Bezeichnung Vertreibung erweist sich im Prozess der Verständigung als problematisch für alle Beteiligten. Dabei kann auch das Paradoxe an nationalen Identifikationssymbolen aufgedeckt werden (Bsp. „Vater Rhein“). Semantische Arbeit heißt unter anderem: a) alte Begriffe und Bezeichnungen werden in ihren nationalen Kontexten betrachtet und ausdifferenziert (Bsp. Vertreibung) und b) neue Problemlagen werden erkannt, anerkannt und begrifflich besser gefasst und bezeichnet (Bsp. naturnahe Kulturlandschaften). Verständigungsorientierte interkulturelle Kommunikation ist am Verstehen der kulturellen Symboliken interessiert, deshalb sind zu besprechende Begriffe und Bezeichnungen von zentraler Relevanz für die Interaktion. In der interkulturellen Figuration gerät kommunikatives Handeln selbst in den Aufmerksamkeitshorizont. Es ist nicht unerheblich, sich darüber zu verständigen: Was genau ist gemeint und wie soll man es bezeichnen. <?page no="265"?> Semantische Sensibilität als Interkulturalität 255 4 Literatur Bakhtin, Mikhail (1986): Speech Genres and Other Late Essays. Austin. Elias, Norbert (1970): Was ist Soziologie. München. Elias, Norbert/ Scotson, John (1993): Etablierte und Außenseiter. [ursprüngl. 1965]. Frankfurt. Földes, Csaba (2009): Black Box ‚Interkulturalität’. Die unbekannte Bekannte (nicht nur) für Deutsch als Fremd-/ Zweitsprache. Rückblick, Kontexte und Ausblick. In: Wirkendes Wort 59.3. S. 503-525. Földes, Csaba (2011): Vorwort. In Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik im Aufbruch. Zum Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode. Tübingen. S. VII-VIII. Geertz, Clifford (1973): The Interpretation of Cultures. New York. Goffman, Erving (1961): Encounters. Two Studies in the Sociology of Interaction. London. Goffmann, Erving (1974): Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. New York. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt. Habermas, Jürgen (2009): Rationalitäts- und Sprachtheorie. (Philosophische Texte. Bd. 2). Frankfurt. Hall, Edward (1966): The Hidden Dimension. New York. Hall, Edward (1983): The Dance of Life. The Other Dimension of Time. New York. Hofstede, Geert (2006): Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management. 3., vollst. überarb. Aufl. München. James, William (2010): The will to believe and other essays in popular philosophy, and human immortality. Digireads.com Publishing. [ursprüngl. 1896]. Luckmann, Thomas (1986): Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens. Kommunikative Gattungen. In: Neidhardt, Friedhelm/ Lepsius, Rainer/ Weiss, Johannes (Hrsg.): Kultur und Gesellschaft. Opladen. S. 191-211. Maletzke, Gerhard (1996): Interkulturelle Kommunikation. Zur Interaktion zwischen Menschen verschiedener Kulturen. Opladen. Miller, Carolyn (1984): Genre as social action. In: Quarterly Journal of Speech 70. S. 151- 167. Miller, Robert (Ed.) (2012): The Evolution of European Identities. Biographical Approaches. Houndmills. Schütze, Fritz (1987): Situation. In: Ammon, Ulrich/ Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus (Hrsg.): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. Berlin. S. 157-164. Scollon, Ron/ Scollon, Suzanne (1995): Intercultural Communication. A Discourse Approach. Oxford. Swales, John (1990): Genre Analysis. English in Academic and Research Settings. Cambridge. <?page no="267"?> Interkulturelle semantische und pragmatische Parallelen im modernen Mediendiskurs: der funktionale Aspekt Marina R. Zheltuchina (Wolgograd) Zusammenfassung In diesem Artikel werden einige interkulturelle semantische und pragmatische Hauptparallelen des modernen deutschen und russischen Mediendiskurses unter funktionalem Aspekt beschrieben. Im Einwirkungssystem A BSENDER → A DRESSAT lassen sich kognitive (Heuristik, Monitoring, Information), kulturelle und kreative Funktionen unterscheiden. Im Einwirkungssystem A BSENDER können repräsentative, expressive und regulatorische (Translation, Differenzierung, Einwirkung) Funktionen differenziert werden. Im Einwirkungssystem A DRESSAT treten hedonistische, harmonisierende, integrative und inspiratorische Funktionen auf. Aus der Zahl der allgemeinen Funktionen kann die regulatorische/ motivierende Funktion als eine der wichtigsten Funktionen für den deutschen und den russischen Mediendiskurs genannt werden. 1 Einleitung Der Mediendiskurs wird als zusammenhängender, verbaler oder nonverbaler, mündlicher oder schriftlicher Text, von pragmatischen, soziokulturellen, psychologischen und anderen Faktoren beeinflusst, von den Massenkommunikationsmitteln geäußert, Ereignisse und Handlungen darstellend, an der soziokulturellen Interaktion teilnehmend und den Mechanismus des Bewusstseins von Kommunikationspartnern widerspiegelnd, definiert (Želtuhina 2003: 69). Als Feldstruktur hat der Mediendiskurs ein Zentrum, in dem sich die prototypischen Genres befinden, und eine Peripherie, die von den marginalen Genres gebildet wird, die sich aufgrund ihrer heterogenen Natur unterscheiden und verschiedenen Typen des Diskurses zugeordnet werden können. Der Mediendiskurs trägt einen vermittelten Charakter, d.h., zwischen dem Adressanten und dem Adressaten gibt es eine räumliche und/ oder zeitliche Distanz. Die die Sprache und die Kultur durchdringenden Medienkonstanten lassen zu, linguokulturelle, zeitliche und räumliche, nationale und internationale Grenzen zu bestimmen. Die Grenze zwischen den Blöcken wird dort festgestellt, wo die semantischen und formalen Beziehungen zwischen Sätzen und Texten minimal sind, die auf beiden Seiten dieser Grenze liegen. Die Durchlässigkeit der Grenzen des Mediendiskurses ermöglicht die Analyse von Parametern verschiedener Genres in verschiedenen <?page no="268"?> 258 Marina R. Zheltuchina Typen des Diskurses. Es ist besonders interessant, bestimmte Aspekte des modernen Mediendiskurses in unterschiedlichen Sprachkulturen zu untersuchen, um die Besonderheiten und die Gemeinsamkeiten des Mediendiskurses und der Medienpolitik im Kulturvergleich zu ermitteln. Im vorliegenden Beitrag sollen die interkulturellen Medienparallelen betrachtet werden. Interkulturell bedeutet: „die Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen […] betreffend; verschiedene Kulturen umfassend, verbindend“ (http: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ interkulturell, Stand: 14.02.2014). Nach Földes (2007, 2009) verstehen wir unter der Interkulturalität ein Phänomen (auf der Objektebene), das eine Art Beziehung darstellt; ein dynamisches und disziplinenübergreifendes Konzept (auf der Metaebene als Ebene der Reflexion), das sich auf eine Erschließung von Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen einer Interaktion zwischen Kulturkreisen richtet, einschließlich ihrer Wahrnehmung. Unterschiedliche Kulturen sind nicht so stark voneinander getrennt, dass ein Austausch unmöglich wäre. Es gibt grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen allen Menschen aus verschiedenen Ländern, auch Gemeinsamkeiten von Diskursen der Vertreter von unterschiedlichen Sprachkulturen (gleiche Ziele, Funktionen, Mittel usw.). Die Frage nach den Funktionen des Massenmediendiskurses, der als einer der institutionellen Typen des Diskurses gilt, kann man als Realisierung dieser oder jener allgemeinen sprachlichen Funktion oder unter dem Gesichtspunkt seiner systembildenden Intention (kooperativen, konträren, neutralen) im Vergleich zu anderen Diskurstypen (dem politischen, dem ökonomischen, dem religiösen, dem wissenschaftlichen Diskurs usw.) untersuchen. Der kategoriale Ansatz, der die Grundlage der funktionalen Klassifikation von Vinogradov (1927: 90-118) bildet - Funktionen der Kommunikation, Nachrichten und Einflusseffekte -, ist auf jede sprachliche Tatsache anwendbar und ist ausreichend für diese Studie. Eine Analyse der wissenschaftlichen Literatur (Wright 1986, Šejgal 2000, Demjankov 2000: 26-136) und des Untersuchungsmaterials identifizierte die folgenden interkulturellen semantischen und pragmatischen Hauptparallelen des modernen deutschen und russischen Mediendiskurses unter funktionalem Aspekt: im Einwirkungssystem A BSENDER → A DRESSAT : kognitive (Heuristik, Monitoring, Information), kulturelle und kreative Funktionen; im Einwirkungssystem A BSENDER : repräsentative, expressive und regulatorische (Translation, Differenzierung, Einwirkung) Funktionen; im Einwirkungssystem A DRESSAT : hedonistische, harmonisierende, integrative und inspiratorische Funktionen. <?page no="269"?> Semantische und pragmatische Parallelen im Mediendiskurs 259 In diesem Artikel sollen diese von der Verfasserin festgestellten funktionalen Kulturparallelen behandelt und mit Beispielen aus der deutschen und der russischen Mediensprache illustriert werden. 2 Interkulturelle semantische und pragmatische Hauptparallelen des modernen Mediendiskurses im Einwirkungssystem A BSENDER → A DRESSAT unter funktionalem Aspekt 2.1 Kognitive Funktion Die kognitive Funktion besteht darin, dass der Massenmediendiskurs als Mittel zum Verständnis der Welt und deren Entwicklung dient. Es wird mit Gedanken und Sprache, Analyse und Synthese, Interpretation und Beeinflussung des Bewusstseins gearbeitet. In die kognitive Funktion können heuristische, Überwachungs- und Informationsfunktionen implementiert sein: 1. Die heuristische Funktion (Halliday 1973: 17) steht im Zusammenhang mit der Frage, warum in der Wirklichkeit alles nach bestimmten Regeln passiert, vermittelt eine grobe Vorstellung von den Ursachen der Ereignisse. 2. Die Monitoringbzw. Marketing-Funktion (auch die Varianten: experimentelle, analytische, kumulative, interpretierende, vorausschauende Funktionen) beinhaltet die Überwachung des Weltgeschehens (Nachrichten), die Korrelation und Interpretation der beobachteten Phänomene und Empfehlungen für die Reaktion darauf (Bearbeitung und Diskussion), die Definition von Erwartungen und Interessen, die Wahrung der sozialen Gemeinschaft. 3. Die Informationsfunktion basiert auf der Behandlung von Ereignissen, Gegenständen und Erscheinungen der Realität (z.B. aktuelle politische Ereignisse, Sportgeschehen, Wetter). Mit der Informationsfunktion verbunden ist die Absicht, die Adressaten zu bilden und zu erziehen (Sozialisierung, Vermittlung und Popularisierung von Werten). 2.2 Kulturelle Funktion Die kulturelle Funktion/ die Kulturfunktion/ die kulturell-soziale Funktion befindet sich an der Grenze zu kognitiven Funktionen und knüpft an diese an. Sie beinhaltet das Bekanntmachen von anderen Kulturen, von besonderen Errungenschaften auf dem Gebiet der Kultur, trägt zur Erhaltung der Identität der kulturellen Traditionen von ethnischen Minderheiten bei, was in Form von ästhetischen (Leech 1981: 39), sozialen und individuell-kreativen Interaktionen (Vinogradov 1927: 90-118) widergespiegelt wird. <?page no="270"?> 260 Marina R. Zheltuchina 2.3 Kreative Funktion Die kreative Funktion (Norman 1997) bzw. die illusorische Funktion (Solomonik 1995) bzw. die imaginative Funktion (Halliday 1973: 17) bzw. die emotionale Funktion bzw. die emotive Funktion (Ogden/ Richards 1927: 226f., Šahovskij 1988: 24) bzw. die affektive Funktion (Kant 1979: 139) bzw. die referenzielle Funktion bzw. die Funktion der Konstruktion der Sprachwirklichkeit verdeutlicht den Ersatz der Wirklichkeit auf der Grundlage des Primats der Sprache in der Reihe der außersprachlichen Entitäten (НЕП/ NEP - Neue ökonomische Politik, Subbotnik - Samstagsarbeit, Perestrojka - Umwandlungsprozess usw.). Aus objektiven (Relativität des Wissens über die Welt, Einfachheit des Wissens) und subjektiven (bewusste Art der Verzerrung, „Gehirnwäsche") Gründen schafft sie ein effektives Image von Regierungen, Politikern, Geschäftsleuten, Unternehmern, Organisationen, Gesellschaften und Unternehmen. Diese Funktion führt zur Bildung einer „Als-ob-Welt", zur Wiedergabe einer „Als-ob-Realität“, also zu einer nicht wirklichkeitsadäquaten Widerspiegelung wie bei der Darstellungsfunktion. Eine Verbindung mit der subjektiven Welt des Adressaten, mit seinen Erfahrungen, mit seiner Beziehung zur Rede, mit seinem Selbstwertgefühl, mit seinem Wunsch, gehört und verstanden zu werden, stellt die Emotionalität her. Zu den prototypischen emotiven Mitteln gehören die Intonation, die Metaphern (Ricœur 1976: 49) und Interjektionen (Stankiewicz 1984: 163). Emotionen können kognitive und andere mentale Prozesse anregen und fördern oder behindern, die spontan oder beabsichtigt auftreten. Metaphern dienen sowohl der kognitiven als auch der affektiven Funktion (Brandes 1980: 8), aufgrund ihrer Vagheit wecken sie Emotionen und nicht nur Vorstellungen. Beispiel 1: Flughafen Orlando: App überführt Beamten als iPad-Dieb Bei den Sicherheitskontrollen auf US-Flughäfen geht einiges verloren. Ein Fernsehsender hat nun einen Sicherheitsbeamten beim Diebstahl gefilmt und den Weg des iPads bis in sein Haus verfolgt. Der dreiste Klau ist kein Einzelfall. Berlin - Es war eine Falle, die der US-Sender ABC gestellt hatte. Ein Beamter der Transportation Security Administration (TSA), auf Flughäfen zuständig für die Kontrolle von Passagieren und Gepäck, tappte hinein. Zehn iPads ließ der Fernsehsender nach den Sicherheitskontrollen auf großen US-Flughäfen bewusst zurück. Eins davon steckte sich ein TSA-Mitarbeiter am Airport Orlando ein und nahm es mit nach Hause. Beschwerden über die TSA gibt es in den USA immer wieder. Mal ist es die ruppige Art der Beamten, die Passagiere erbost, mal sind es verloren gegangene Gegenstände. Der Sender ABC hatte bei seinem Test Namen und Telefonnummern der angeblichen Besitzer deutlich sichtbar auf den iPad-Hüllen angebracht. In neun von zehn Fällen hielten sich die Beamten auch an die Vorschrift und kontaktierten die Besitzer. <?page no="271"?> Semantische und pragmatische Parallelen im Mediendiskurs 261 Nur am Flughafen Orlando nicht. Die mit versteckter Kamera gemachten Aufnahmen zeigen, wie ein Beamter das zurückgelassene iPad aus einer Plastikschale nimmt, nachdem es gescannt worden war wie alles Handgepäck beim Check-in. Eine Verlustmeldung am Airport brachte kein Ergebnis. Das Gerät blieb verschwunden. "Eine Schande für unsere Luftfahrtbranche" Doch die Fernsehjournalisten konnten den Weg des iPads nachverfolgen mit der App "Mein iPhone suchen", die auch für iPads funktioniert. Solange das Gerät eingeschaltet ist, kann sein Besitzer es lokalisieren und die aktuelle Position auf einer digitalen Landkarte anzeigen lassen. Das bewusst zurückgelassene iPad befand sich inzwischen nicht mehr auf dem Flughafen, sondern in 50 Kilometern Entfernung im Privathaus des TSA-Beamten. Zwei Wochen nach dem Diebstahl besuchte ein ABC-Team den Mann zu Hause und informierte ihn darüber, dass sich ein am Flughafen verlorenes iPad in seinem Haus befinden muss. Der Beamte bestritt dies zunächst, beschuldigte dann aber seine Frau. Sie habe das Gerät ohne sein Wissen vom Airport nach Hause gebracht. Laut den Recherchen von ABC wurden in den letzten zehn Jahren fast 400 TSA- Mitarbeiter wegen Diebstahl gefeuert. In diesem Jahr seien elf Fälle offiziell bekannt geworden. Auch der Beamte vom Flughafen Orlando wurde entlassen. Die TSA bestritt jedoch, dass es sich um ein weit verbreitetes Phänomen handelt. Die Zahl der entlassenen Beamten liege unter 0,5 Prozent. John Mica, Kongressabgeordneter der Republikaner aus Florida und Chef des Verkehrsausschusses, hält die Diebstähle nur für die Spitze eines Eisbergs. Er kritisiert die TSA immer wieder. "Das ist eine Schande für die Öffentlichkeit und für unsere Luftfahrtbranche." (http: / / www.spiegel.de/ netzwelt/ apps/ flughafen-orlando-beamter-nimmt-verlore nes-ipad-mit-nach-hause-a-858720.html, Stand: 29.09.2012). Beispiel 2: Зачем Украина втягивает Россию в новую «холодную войну»? К разочарованию Киева, Европа с самого начала «газовой войны» придерживается ворчливого нейтралитета Владимир ВОЛОШИН Очередной газовый конфликт России с Украиной сводится к простой вещи украинцы воруют газ. Кстати, уже не в первый раз [...]. После январского «газового побоища» Украина понесет прежде всего репутационный ущерб. Киев мировое сообщество будет рассматривать как ненадежную транзитную страну, причем склонную к рецидиву. Но сейчас на повестке более актуальный вопрос: кто от происходящего больше выиграет? При пессимистическом раскладе окоченевший от холода Запад все-таки продавит заключение «компромиссного» соглашения, которое законсервирует проблему без ее системного решения до декабря 2009-го. На Украине как раз будет в разгаре президентская кампания, и поэтому из Киева приедут еще менее вменяемые переговорщики. При оптимистическом стороны все-таки придут к соглашению, которое не потребует переговоров на будущий год. <?page no="272"?> 262 Marina R. Zheltuchina Это когда цена газа и его транзита все-таки, как того требуют сегодня российская сторона и просто здравый смысл, рыночная [...] (Komsomoľskaja pravda, 11.01.2009). Diese Beispiele zeigen die interkulturellen semantischen und pragmatischen Hauptparallelen des modernen Mediendiskurses im Auswirkungssystem A BSEN- DER → A DRESSAT unter funktionalem Aspekt. In beiden Textfragmenten aus dem deutschen und dem russischen Mediendiskurs sieht man die Realisierung der kognitiven, kulturellen und kreativen Funktionen. Die kognitive Funktion ist in den Heuristik-, Überwachungs- und Informationsfunktionen implementiert. Man versteht die Situation, die aktuellen Ereignisse, kann die Analyse, die Korrelation und die Interpretation der Autoren nachvollziehen, erkennt die Ursachen und die Folgen des Geschehens, kulturelle Traditionen, Argumente, Gefühle und Emotionen. Die kreative Funktion ermöglicht es, ein effektives Image von Regierungen, Politikern, Geschäftsleuten, Unternehmern, Organisationen, Gesellschaften und Unternehmen zu schaffen. Metaphern unterstützen sowohl die kognitive als auch die affektive Funktion („die Diebstähle nur für die Spitze eines Eisbergs“ [kursiv: M.Z.] halten; „gazovoj vojny“, „gazovogo poboišča“ [kursiv: M.Z.]), weil sie Emotionen und Vorstellungen beim Adressaten wecken. 3 Interkulturelle semantische und pragmatische Hauptparallelen des modernen Mediendiskurses im Einwirkungssystem A BSENDER unter funktionalem Aspekt 3.1 Repräsentative Funktion Die repräsentative Funktion, die Betonung der Darstellung, besteht in der Selbstpräsentation und der psychischen/ kommunikativen Unterstützung vor allem durch Tropen und nonverbale Mittel. 3.2 Expressive Funktion Die expressive Funktion (Telija 1980: 250ff.) bzw. die manifeste Funktion (Volek 1987: 9) beinhaltet die Verstärkung von Expressionen. Mit Expressivität sind die subjektive Modalität, die Wertung, die Meinung des jeweiligen Autors verbunden (Nord 1997: 57). Die Auswahl der für den Absender relevanten Elemente bildet den Hintergrund seiner Installation oder seines emotionalen Beteiligtseins am Inhalt seiner Rede, die ironisch, skeptisch, sentimental usw. sein kann (Lyons 1990: 583). <?page no="273"?> Semantische und pragmatische Parallelen im Mediendiskurs 263 3.3 Regulatorische Funktion Die regulatorische Funktion beinhaltet die Organisation und das Management von Prozessen, die Beeinflussung der Rezipienten, die Kontrolle über die öffentliche Meinung (erkannt und abgelehnt - nach Roždestvenskij 1990), das wichtigste Instrument der Sozialisation, die soziale und kulturelle Kontrolle durch die Sprache (Halliday 1973: 17): die Schaffung, die Organisation und die Kontrolle des Marktes von Konsummustern und auch der politischen, sozialen und (mit Werbung) physischen „Waren“ (Russland); den Ausdruck von und die Suche nach Sachinformationen (Identifikation, Kommunikation, Änderung, Frage usw.), nach dem intellektuellen (Zustimmung/ Ablehnung, Annahme/ Ablehnung von Angeboten oder Einladungen usw.), emotionalen (Lust/ Unlust, Überraschung, Hoffnung, Absicht usw.) und moralischen (eine Entschuldigung, die Zustimmung/ Ablehnung und andere) Gehalt; die Erklärung oder die Proklamation der Grundsätze der Regierung (Šejgal 2000), die Nicht-Regulierung, die fehlende Einstellung, den Vorschlag zur Reflexion, die Topoi für Schulden (Muss, Pflicht, Verantwortung: Bill Clinton: „Wir müssen stark sein! “ für es gilt, viel zu wagen) und für Arbeit (Aufgabe, Anstrengung, Service, Arbeit, Herausforderung: Clinton: „ Lassen Sie uns arbeiten, bis unsere Arbeit getan ist! “). Besonders problematisch ist eine spezielle Aktivität der Mehrheit der Medien, die übertriebene „Effekthascherei" (auf dem Bildschirm dominieren Katastrophen, Skandale, ständige Verletzungen der kulturellen Normen und Tabus, Sex, Aggression, Gewalt, Horror; die globalen, sinnvollen Ereignisse bleiben dagegen im Schatten). Zu den Varianten der regulatorischen Funktion gehören folgende Funktionen: 1. Die Translationsfunktion bzw. die Funktion der Interpretation bzw. Transportfunktion zielt auf eine Übersetzung und Interpretation der Realität, auf eine Reihe von allgemein anerkannten Normen und sozialen Verhaltensweisen und das Leben mit bestimmten Positionen (philosophischen, ethischen, politischen, ideologischen usw.) und auf den schnellen Transfer von massenhafter Reproduktion von Wort-, Bild- und Musikinformationen, fördert Ideen, Produkte, Personen auf dem Gebiet von Politik und Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt, im Bereich der Bildung und Kultur. Als Beispiel seien das Bild von Macht, von „Machtnormen", das Oppositionsbild und die „Oppositionsnormen" genannt. Inhärente Regelungen und Darstellungen setzen für <?page no="274"?> 264 Marina R. Zheltuchina den Adressaten bevorzugte Ziele und Werte, die verschiedene Oppositionen bestimmen: „gut - böse", „unser - fremd" usw. 2. Die differenzierende Funktion/ die Identifikationsfunktion zeugt von der Heterogenität der Gesellschaft (Weltbild, soziale Situation usw.). Die Performativität (Šejgal 2000), das Statusspiegelbild, die Demonstration der Rolle des Anführers (Jamieson/ Campbell 1997) wird in Topoi des Amtsantritts, der gesetzestreuen und anständigen Führung, der interpersonellen Kennung umgesetzt (Halliday 1970: 143, Bernstein 1973: 63). 3. Die Einflussfunktion realisiert sich in der direkten und indirekten Propaganda und Agitation: die Vorherbestimmung der bürgerlichen politischen Wahl und das Angebot einer Reihe von Standards des Lebensstils und des Konsumverhaltens, die die Motivation bestimmen; mangelnde Unabhängigkeit der Wahl (die imaginäre Freiheit der Wahl von Informationen, Verhaltensweisen und Werten vor dem Hintergrund der Unsicherheit und der Unterordnung unter das Diktat der Mediengestalten). Der Mediendiskurs ist gekennzeichnet durch eine breite Palette von Zielen und Aufgaben des überzeugenden und inspirierenden Einflusses. Dazu gehören die Bildung von Überzeugungen, Impulse zum Handeln und die Entwicklung von Gewohnheiten. In verschiedenen historischen Perioden hat der Adressant (Staatsmänner, Ideologen, Redner, Politiker und Journalisten) eine Vielzahl von Einwirkungsvarianten: Appell an die Vernunft, an die edlen Entscheidungen, verschiedene Provokationen, Mechanismen der logischen Überzeugungen (Demokratie). Dabei können ideologische und politische Auswirkungen auf das Bewusstsein der Masse, die Beeinflussung ästhetischer, psychischer und physischer Prozesse festgestellt werden. Ziel der Medien ist, eine bestimmte öffentliche Meinung herauszubilden, strategische und operative Ziele und Aufgaben von Behörden, Organisationen, Unternehmen und Führungspersönlichkeiten in Politik und Wirtschaft zu „bewerben“. Einerseits soll gesellschaftlich nützliches Verhalten als moralische Instanz aufgebaut werden, andererseits kann die Beeinflussung auch eine Eskalation von Massenhysterie zur Folge haben. Als Varianten der Einflussfunktion können magische, symbolische, religiöse, pragmatische, Werbungs-, konative, appellative, argumentative, evaluative, überzeugende, suggestive, politische, ideologische, propagandistische und manipulative Funktionen festgestellt werden. Im Folgenden sollen einige Varianten der Einflussfunktion besprochen werden. a) Die Meinungsmanipulation (überreden, abraten usw.) unterscheidet sich durch folgende Kriterien (Stati 1990: 31ff.): a) Reflexivität: Die Formulierung der Mitteilung des Absenders hilft dem Adressaten, ihren Zweck zu identifizieren (die Sprachtäuschung und die Sprachmanipulation werden nicht als <?page no="275"?> Semantische und pragmatische Parallelen im Mediendiskurs 265 pragmatische Funktionen betrachtet); b) Objektivität: Barrierefreiheit im Prinzip für jeden Adressaten, der die Sprache beherrscht und bei vollem Verstand ist; c) Unabdingbarkeit: Äußerungen sind pragmatisch. Ich bin der Meinung, dass Sprachtäuschung und Sprachmanipulation nur auf der Grundlage des Kriteriums der Reflexivität zu keiner pragmatischen Funktion gehören. Natürlich bedeutet es nicht, dass der Absender seinen Plan offenbaren will. Allerdings sendet er eine doppelte Intention: 1) ein Ziel, das der Adressat nicht erkennen soll, und 2) ein Pseudoziel der Aussage, das der Adressat ausgliedern und zur Grundlage seines Handelns machen soll. Deswegen sind Sprachtäuschung und Sprachmanipulation als pragmatische Funktionen im Rahmen der Einflussfunktion aktualisiert. b) Die magische/ beschwörende Funktion (Barth 1994: 526, Ključarev 1995: 215, Cassirer 1996: 206ff., Mečkovskaja 1996: 14ff.) zeigt die Einwirkungen auf die Erscheinungen der Wirklichkeit, die hinter dem Wort stehen, auf nicht-konventionellen sprachlichen Zeichen beruhen, wie der Name des Objekts, d.h., mit der Abschaffung des Wortes wird der Referent entfernt (Tabu, tabuisierter Ersatz, Euphemismen, Zaubersprüche, Gebete, Gelübde und Schwüre, Vergötterung der heiligen Texte). Die magischen Sprechakte werden durch zwei Adressaten charakterisiert: der wirkliche Adressat (die Anhörung als Mitschuld an Magie) und der formale, übernatürliche Adressat, dessen Teilnahme nicht erwünscht ist, weil die realen Teilnehmer keine Bestätigung des Kontaktvorkommens erhalten. Die Magie der Mediensprache liegt auf der technischen Ebene, ein Journalist oder ein Politiker nimmt eine gezielte Behandlung im Fernsehen vor, die unbewusst einen starken Einfluss hat, als ob sich diese Person an den Betrachter oder Hörer wenden würde, der ein Ereignis bestimmt. Der Absender spielt die Rolle eines Schamanen oder eines Zauberers, eines Retters vor dem Bösen, eines Prädiktors für die Zukunft. Um die Wirkungen der Exposition zu verstärken, braucht man eine Ritualienbekräftigung durch neue Wörter, wie z.B. Privatisierung (Cassirer 1996: 206). Die magische Funktion wird im Gegensatz zur rationalen, intelligenten Sprachverwendung in der Propaganda also durch rituelle Handlungen, Zeremonien, Fahnen, Plakate, Slogans, Musik, Paraden und Machtdemonstrationen (Bosmajian 1983: 17, Šejgal 2000) manifestiert. c) Die symbolische Funktion spiegelt auch die Funktion der Erkenntnis oder der kognitiven Bedeutungsfunktion (Husserl 1913: 32) wider, die Verbindung mit den mnemonischen Wirkungen des Stimulus (Ogden/ Richards 1927), die symbolische Effizienz, die Macht der Worte und die Macht, das Unterbewusstsein zu verwandeln (Levi-Strauss 1958: 224). d) Die konative Funktion implementiert einen Zusammenhang mit der Einstellung zum Adressaten, mit dem Wunsch, ihn zu beeinflussen, eine bestimmte Art der Beziehung zu bilden. In dieser Funktion gibt es eine Orientierung der <?page no="276"?> 266 Marina R. Zheltuchina menschlichen Bedürfnisse, bestimmte Ziele zu erreichen, auf andere Menschen einzuwirken. Die konative Funktion wird in der strukturellen Organisation des Gesprächs offenbar, im Targeting der Rede. Die konative Funktion (conative function) = präskriptive Funktion (prescriptive function) ist z.B. im normativen Diskurs aufgrund der Auswirkung der Macht der Worte auf das Verhalten anderer (Berrendonner 1982: 23, 28) vorhanden. Eine solche Macht wird als legitime und berechtigte Macht dargestellt, kann aber durch eine Meinungsäußerung (z.B. als feststellende Aussage) maskiert werden. e) Die appellative Funktion äußert sich in bestimmten Formen der Behandlung (Stankiewicz 1984: 163) und basiert auf der Tatsache, dass der „Adressat“ für den Absender wie das Ziel zugänglich ist. Deshalb gibt es eine Möglichkeit, ein Feedback zu diesem Ziel zu bekommen, aber die Notwendigkeit für den Adressanten mit sich bringt, das Hintergrundwissen des Adressaten zu berücksichtigen (Nord 1997: 58). f) Die argumentative Funktion (Toulmin 1958) hat sechs Aspekte: Daten, Schlussfolgerung (der Inhalt der Behauptung), Begründung, erste Ideen, qualifizierte Argumente und Bedingungen mit Ausnahmen. Die meisten dieser Aspekte sind im realen Argumentationstext in der Regel nicht vorhanden (Eberenz 1981: 197), so dass bei der Beschreibung des Diskurses folgende Parameter genannt werden sollten: a) Daten, b) Behauptung, c) Qualifizierung, d) argumentative Aspekte wie semantische Zusammenhänge innerhalb des Textes, die durch Beweise oder Argumente, nämlich Bedingung, Implikation, Kausalität, Diagnose, Zugeständnis, Zielsetzung, Folge, Vergleich, Berichtigung und Kontrast, hergestellt werden. Die letzteren Elemente kann man in der folgenden Definition (Meyer 1983: 104) finden: Die argumentative Funktion ist eine Funktion von Sprachausdrücken im Text, die auf den argumentativen Status eines bestimmten Textstücks verweist. Die Arten der argumentativen Funktion bilden das Grundangebot der Interpretation für den Rest der illokutionären Funktionen im Text, den argumentativen Status der Darstellung der Situation im Text zu zeigen. Eine schlecht umgesetzte argumentative Funktion kann die Verteidigung der Sicht stören, manchmal sogar die These kompromittieren. g) Die Bewertungsfunktion (Roždestvenskij 1990: 68f.) ist im Mediendiskurs sehr wichtig. Für das Verständnis der Rede ist es nicht nur notwendig, den Plan des Adressaten in Bezug auf seinen Inhalt und die Ansichten und Absichten des Autors zu verstehen, zu bewerten, sondern auch die Zielstellung dieses Plans, um seine Nützlichkeit zu beurteilen. Der Massenmediendiskurs stellt der Öffentlichkeit eine bestimmte Reihe von Fragen, ist für die Befriedigung bestimmter sozialer Bedürfnisse von Interesse, beeinflusst die primäre Einstellung (positiv oder negativ) zu Fakten, bietet verschiedene Arten von <?page no="277"?> Semantische und pragmatische Parallelen im Mediendiskurs 267 Bewertungen: „gut“, „schlecht“, „nützlich“, „gesundheitsschädlich“, „positiv“, „negativ“ usw. Die Einschätzungen können komplex sein, „nützlich, aber gefährlich“, „erreichbar, aber unter bestimmten Bedingungen“, „nützlich, aber mit Kosten verbunden“. Die Evaluation enthält in diesem Fall nicht nur eine Behauptung und ein Urteil, sondern auch Elemente des rationalen Wissens, die als notwendiges Mittel der Argumentation dienen. Beispiel 3: Steinbrücks Nominierung Kür ohne Würde 28.09.2012. Nach Monaten der Hahnenkämpfe in der Troika blieb Peer Steinbrück als einziger übrig. Steinmeier hätte nur die Hand heben müssen, doch er zauderte. Die SPD hat in dieser quälenden Zeit an Würde verloren. Von Majid Sattar Wenn die SPD im Herbst 2013 ihr Bundestagswahlergebnis analysieren sollte, dann dürfte sie an dem 28. September 2012 nicht vorbeikommen. Denn eines steht schon jetzt und unabhängig vom Resultat fest. Ein Troika genanntes Dreigestirn wird die Partei bei der Nominierung ihrer künftigen Kanzlerkandidaten wohl für längere Zeit nicht mehr bemühen. Dieses Hilfskonstrukt hat eine unbeherrschbare Dynamik freigesetzt und die Partei in eine unmögliche Lage gebracht: Informationen wurden durchgestochen und im Brustton der Überzeugung dementiert, falsche Fährten gelegt, und es wurde nach allen Regeln der Kunst getäuscht. Das erste Opfer der Kanzlerkandidatenkür der SPD, die nach dem Verlust der Regierungsmacht im Jahr 2009 aus der Opposition heraus ihre Glaubwürdigkeit wiedergewinnen wollte, war die Wahrheit. Grund dafür waren die Hahnenkämpfe derjenigen, die sich bisher die drei möglichen Kanzlerkandidaten nannten. Drei Sozialdemokraten hatten 2011 vereinbart, ein Kandidatenteam zu bilden und sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen. Der Parteivorsitzende Gabriel bat denn auch den ehemaligen Bundesfinanzminister Steinbrück in die Riege der potentiellen Kandidaten, weil er fürchtete, das Führungsduo mit Fraktionschef Steinmeier werde über die K-Frage zum Führungsduell. Die Belobigungen des Männerbündnisses wurden immer wieder konterkariert Mit Verabredungen unter Parteifreunden ist es aber so eine Sache. Die Zweifel, die in allen dreien schlummerten, wie die Angst, einer könnte am Ende von den anderen ausgetrickst werden, verleitete sie oder ihre Entourage immer wieder dazu, den Belobigungen des Männerbündnisses noch ein, zwei Bemerkungen hinzuzufügen, die alles vorher Gesagte konterkarierten. Als der Nebel der Desinformation sich verzog, weil einem Mitglied jenes Dreigestirns das Spiel zuwider geworden war, saß Peer Steinbrück auf dem Kutschbock, die Zügel in der Hand. Steinmeier hatte ihm zugerufen, ich möchte es nicht, von Gabriel wusste er schon lange, er könne es nicht. Übrig blieb er. <?page no="278"?> 268 Marina R. Zheltuchina Die Bundeskanzlerin Merkel hatte schon recht, als sie nach dem Rücktritt des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, der 2008 Opfer einer anderen Kanzlerkandidatenkür geworden war, auch mit Blick auf ihre eigenen Erfahrungen sagte, es gehe bei der Nominierung derjenigen Person, die potentiell Deutschland regieren solle, auch um die „Würde einer Volkspartei“. Diese Würde ist der SPD zwischenzeitlich abhandengekommen. Steinbrück sind Selbstzweifel eher unbekannt Steinbrück tritt sein Amt mit einer Gewissheit und einer Bürde an. Die Gewissheit: Er ist der einzige der drei Männer, dem Selbstzweifel eher unbekannt sind. Für einen Kandidaten kann das von Vorteil sein, für einen Kanzler ein gefährliches Handicap. Doch was auch immer, der frühere Finanzminister und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen kann es sich und anderen in den kommenden zwölf Monaten noch einmal beweisen. Was hat der bald 66 Jahre alte Politiker noch zu verlieren? Die Bürde: Steinbrücks Nominierung weckt Fragen, die nicht ihn betreffen, sondern Steinmeier. Wer nämlich erklären will, warum Gabriel Steinbrück nominiert hat, muss zunächst erklären, warum er Steinmeier nicht als Kanzlerkandidaten ausrufen konnte. Der Fraktionsvorsitzende hätte den Sommer über einfach die Hand heben müssen, dann wäre er es geworden. Er hat es zum Leidwesen der Parteilinken und großer Teile der Parteirechten nicht getan und seine Unterstützer mit seinem Zögern an den Rand der Verzweiflung gebracht. Mit Zaudern aber gewinnt man keine Wahl, erst recht nicht gegen Frau Merkel. Dann, so selbst die Freunde Steinmeiers, lieber Steinbrück. In einer großen Koalition würde Steinmeier wohl Vizekanzler Steinmeier hat eine Rechnung aufgemacht, bei der ein Verzicht das größere Plus ergibt. Als Kandidat hätte er seiner gesundheitlich angeschlagenen Frau Strapazen zugemutet. Er hätte es wohl auch mit einem unkontrollierbaren Parallel- Wahlkämpfer Gabriel zu tun bekommen. Gerade dessen sommerliches Potpourri aus Interviews, Thesenpapieren und Zwitschereien dürfte ihn in seiner Skepsis bestärkt haben. Vor allem aber hätte Steinmeier fürchten müssen, im Nachhinein einen falschen Eindruck zu bestätigen: Das 23-Prozent-Ergebnis im Herbst 2009 hatte viele Ursachen. Die geringste hieß Frank-Walter Steinmeier. Würde er aber 2013 umständehalber nicht mehr als 28 Prozent erringen, wäre sein Name auf ewig mit den beiden schlechtesten Nachkriegsergebnissen für die SPD verbunden. Holte Steinbrück aber mehr für die SPD heraus, wären andere Regierungskonstellationen als eine große Koalition denkbar - und damit ein Ministerposten für Steinmeier. Käme es zur Neuauflage der Koalition von Union und SPD, würde Steinmeier nicht nur Minister, sondern wohl auch Vizekanzler. Denn Steinbrück hat mehrfach erklärt, er werde unter keinen Umständen einem Kabinett Merkel III beitreten. Gabriel würde so oder so Fraktionsvorsitzender auch im Falle einer schwarz-gelben oder schwarz-grünen Koalition. Nur wenn letztere Varianten Wirklichkeit würden, könnte Steinmeier seinen Verzicht auf die Kandidatur nachträglich noch bereuen. Er stünde nämlich mit leeren Händen da. (http: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ inland/ steinbruecks-nominierung-kuer-ohnewuerde-11907754.html, Stand: 29.09.2012). <?page no="279"?> Semantische und pragmatische Parallelen im Mediendiskurs 269 Beispiel 4: Тезисы „вашингтонского обкома“ и их исполнение Америка вступила в информационную войну на стороне Киева Чтобы убедиться, как просто и незамысловато работает пропаганда в США, и насколько „свободны“ американские СМИ, достаточно внимательно почитать газеты. Мы решили перепечатать выдержки из двух словно бы написанных под копирку редакционных статей, опубликованных в авторитетной и уважаемой The Wall Street Journal. Публикации вышли с интервалом всего в сутки, 6 и 7 января. Первая называется „Уроки ‚Газпрома‘ - Европа их так и не выучила“, вторая - „Зимняя газовая война“. Сличив два текста, мы без труда сформулировали примерные тезисы „вашингтонского обкома“, которые могли исполнить журналисты газеты. Тезис 1: „Показать, что это не коммерческий, а политический конфликт: Россия хочет свергнуть на Украине демократию и мстит ей за поддержку Грузии“ Исполнение WSJ: 6 января - „Реальные причины отключения, впрочем, сугубо политические - Москва наказывает Киев за поддержку Грузии во время августовской войны и стремится сыграть на ме ждоусобице, развернувшейся в среде прозападных украинских политиков.“ 7 января - „Цели Кремля на Украине прозрачны. Поддержка, оказанная Киевом Грузии во время августовской войны - это колючка в лапе медведя: Вот очевиднейший факт о конфликте между Россией и Украиной: безжалостный российский лидер пользуется энергетической дубинкой, чтобы ослабить прозападное правительство в Киеве и, запугав ЕС, принудить его к подчинению: Мотивы у Кремля чисто политические, а не коммерческие.“ Тезис 2: „Надо заставить Евросоюз немедленно назвать конфликт не коммерческим, а политическим (см. Тезис 1) и отвергнуть позицию ‚Газпрома‘“ Исполнение WSJ: 6 января - „На этот раз Европа не выступает против российской политики ‚игры на трубе‘, а заявляет, что имеет место, как вчера выразился официальный представитель Союза, ‚коммерческий спор‘, который должен быть разрешен самими его сторонами. Даже в ‚Газпроме‘ не смогли бы сказать лучше.“ 7 января - „Официальный представитель ЕС на этой неделе словно излагал тезисы ‚Газпрома‘, заявив, что блок считает, что это ‚коммерческий спор‘, который должен быть решен двумя сторонами.“ Тезис 3: „Евросоюз должен поддержать Украину и осудить Россию“ Исполнение WSJ: 6 января - „Европа, видимо, предпочитает не замечать, что претензии России к Украине, включая газовые, носят политический характер: Часть вины лежит и на Европе - уж очень она прохладно приняла страну, которая попыталась однозначно двинуться навстречу Западу.“ 7 января - „Немецкий истеблишмент охотно раболепствует перед Россией и призывает ЕС делать то же самое, за счет Украины.“ Тезис 4 (балансирующий): „Украина тоже немного виновата, совсем чутьчуть“ <?page no="280"?> 270 Marina R. Zheltuchina Исполнение WSJ: 6 января - „Впрочем, нельзя говорить и о том, что в нынешнем газовом споре Украина - невинная жертва. Учитывая, какая неразбериха царит в тамошнем правительстве, вполне вероятно, что украинцы, как заявляет Москва, действительно не заплатили за газ вовремя. Что же до энергетической отрасли Украины, то она представлена в основном какими-то непонятными посредническими конторами.“ 7 января - „Украина тоже не безупречна. В 2006 году правительство в Киеве слишком охотно согласилось на создание непрозрачной структуры для перечисления платежей за транзит газпромовского газа. Ее капризные лидеры сопротивлялись попыткам сделать энергетический рынок прозрачным или ослабить зависимость экономики страны от относительно дешевого российского газа.“ (Izvestija, 09.01.2009). Die Beispiele 3 und 4 illustrieren die interkulturellen semantischen und pragmatischen Hauptparallelen des modernen Mediendiskurses im Einwirkungssystem A BSENDER unter funktionalem Aspekt. In den deutschen und den russischen Texten soll nun die Realisierung der repräsentativen, expressiven und der regulatorischen Funktionen betrachtet werden. Als Varianten der regulatorischen Funktion können die Interpretationsfunktion, die Identifikationsfunktion und die Einflussfunktion erschlossen werden. Dabei liegen magische, symbolische, religiöse, pragmatische, Werbungs-, konative, appellative, argumentative, evaluative, überzeugende, suggestive, politische, ideologische, propagandistische, manipulative Entwicklungen vor. In den Texten wird eine Betonung der Darstellung deutlich, die Präsentation und Selbstpräsentation und die psychische/ kommunikative Unterstützung vor allem durch die Tropen. Man kann eine Verstärkung der Expression durch die subjektive Modalität, die Wertung, die Ironie, die Meinung des Autors feststellen. Die Textfragmente zeigen die Prozessorganisation, die Beeinflussung der Rezipienten, die Kontrolle über die öffentliche Meinung usw. 4 Interkulturelle semantische und pragmatische Hauptparallelen des modernen Mediendiskurses im Einwirkungssystem A DRESSAT unter funktionalem Aspekt 4.1 Hedonistische Funktion Die hedonistische Funktion äußert sich in der Unterhaltung des Adressaten, der die Prozess- und Ergebnisqualität genießt (Talkshows, Sport, Unterhaltungsprogramme, Konzerte usw.). <?page no="281"?> Semantische und pragmatische Parallelen im Mediendiskurs 271 4.2 Harmonisierende Funktion Die harmonisierende Funktion besteht im Abbau des psychischen Stresses und in der Konfliktlösung - Unterhaltungsgenres wie Pop-Musik, Comics, Krimis, Komödien, der Konsum der standardisierten, laufend aktualisierten und variablen Lebensart (Jerasov 1996: 412) als Bestimmung der menschlichen Sozialisation. 4.3 Integrative Funktion Die integrative Funktion (Šejgal 2000) fördert die Integration, die Vereinheitlichung, die nationale Einheit, was die expliziten Markierungen aktualisieren: Zeichen der Integration ist die Nutzung von Formulierungen wie: die Menschen, meine Mitbürger, unsere, wir, beide, vereint, wir, unser Haus - Russland usw.; Topoi der gegenseitigen Verpflichtungen, der Einheit der Nation (Zeleneckij 1997: 34ff., Šejgal 2002: 205f.) usw. 4.4 Inspirative Funktion Die inspirative Funktion (Šejgal 2000) ermutigt die Nation zu weiteren großen Taten und verherrlicht traditionelle Werte mit dem Topos der Kontinuität (der Rückgriff auf historische Traditionen und Erfahrungen aus der Vergangenheit), mit dem Topos der Verherrlichung der Größe einer Nation (die Behauptung der traditionellen Werte), mit dem Topos der Erneuerung und erhabenen Gefühle wie Freude, Dankbarkeit, Liebe, z.B. die Rede von B. Clinton (http: / / www.book wolf.com/ Wolf/ pdf/ BillClintonsInauguralAddress.pdf, Stand: 12.02.2014) mit der Metapher Frühling als Symbol der Hoffnung auf die Erneuerung: „This ceremony is held in the depth of winter. But, by the words we speak and the faces we show the world, we force the spring.” Die Toposentwicklung endet mit der Metapher der Wiederbelebung der amerikanischen Demokratie: „То renew America, we must revitalize our democracy.“ In dieser Rede von B. Clinton sind fast in jedem Absatz Wörter mit der Semantik ‚Neuheit‘ und ‚Veränderung‘ zu finden (new, renew, change, revitalize, refresh, reinvent, reborn, dawn usw.). Die Mediensprache wird im Allgemeinen von einem extrem hohen Grad der emotionalen Sättigung, die mit Hilfe einer Fülle von verschiedenen Stilmitteln und der Konzentration der verschiedenen Arten von Emotiven als Einheiten, die einen emotionalen Teil in der Semantik (Šahovskij 1988: 85) haben, gekennzeichnet. <?page no="282"?> 272 Marina R. Zheltuchina Beispiel 5: Berlusconi im Rausch der Deutschland-Schelte Silvio Berlusconi ist wieder da: Der italienische Milliardär gibt den Populär-Ökonomen und will Deutschland aus dem Euro drängen. Ginge es nach ihm, sollte die EZB unbegrenzt Geld verteilen dürfen. Von Florian Eder Mit dieser Woche sollte also geklärt sein, was in den nächsten Monaten über Silvio Berlusconis Fernsehsender laufen wird: Deutschland-Schelte. Der ehemalige Premierminister gab bei einer Buchvorstellung einen Blick frei auf Tonlage und Argumentation seiner Partei im anstehenden Wahlkampf. Alles könne gut werden, rief er denen zu, die es hören wollten - alles wäre längst gut geworden, wenn nicht die anderen wären, wenn nicht Angela Merkel Europa immer tiefer in die Krise zwinge. Ein „Klima der Unsicherheit und der Angst“ schaffe die Sparpolitik, diese fixe deutsche Idee, die „uns immer weiter verarmen lässt angesichts einer Krise, deren Ende nicht abzusehen ist“. Berlusconis Schluss ist simpel: Deutschland halte die Euro-Zone nur auf und sei „ein Hegemonialstaat, kein solidarisches Land“. Daher wäre es nicht nur „keine Katastrophe“, wenn Berlin den Euro aufgäbe und zur D-Mark zurückkehre, es wäre sogar wünschenswert, sagte er. […] Die Bundesregierung sah sich veranlasst, Berlusconi ernst zu nehmen: Einen Austritt nannte der deutsche Botschafter eine „Tragödie für uns alle“. [ …] (http: / / www.welt.de/ politik/ ausland/ article109541391/ Berlusconi-im-Rausch-der- Deutschland-Schelte.html, Stand: 29.09.2012) Beispiel 6: Паразиты на сердце Социальные сети и форумы как мощный инструмент для призыва о помощи стремительно теряют доверие общественности «Если бы я просил денег на брошенных котят или больных детей, уже бы был миллионером, а когда до настоящей необходимости доходит, оказывается, что аферисты уже добрых людей обобрали. Ужас охватывает от того, что в современной России слово «благотворительность» по смыслу стоит рядом со словом «мошенничество»», - сетует организатор акции по выдаче горячего питания бездомным и малоимущим Станислав Горяинов. Не стоит думать, что сетевая милостыня - пустячные суммы. Именно в интернете на лечение ребенка или спасение собаки отдельные пользователи могут пожертвовать несколько десятков тысяч рублей. При этом исконно русская традиция «скромного жертвования», когда не принято афишировать свой взнос и его размер, часто играет на руку аферистам, к тому же пойти в полицию и признать себя обманутыми готовы далеко не все. Лишь в единичных случаях к прекращению сбора средств мошенниками приводят по-настоящему крайние меры, когда подозреваемых просто ловят и бьют без вмешательства полиции. Но все же от липовых благотворительных фондов и выдуманных несчастных больных больше всего страдают не те, кто нуждается в помощи, и не самоотверженные волонтеры, берущие на себя бремя проверки информации, а культура благотворительности в целом, <?page no="283"?> Semantische und pragmatische Parallelen im Mediendiskurs 273 само понятие веры в людей и традиция помогать слабому. А в это время подростки со смехом «лайкают» в соцсетях правдоподобные «волонтерские» листовки: «Мальчику 18 лет, срочный сбор средств на БМВ», «Найден трицератопс Стасик» или «Яванскому шелкопряду требуется срочная операция по восстановлению прядущих сосочков». (Moskovskij komsomolec, 26.02.2013). In diesen Beispielen werden die interkulturellen semantischen und pragmatischen Hauptparallelen des modernen Mediendiskurses im Einwirkungssystem A DRESSAT unter funktionalem Aspekt gezeigt. Hier wird die Realisierung der hedonistischen, harmonisierenden, integrativen, inspirativen Funktionen deutlich. Die deutschen und die russischen Texte enthalten Informationen, die zur Unterhaltung des Adressaten beitragen, aber auch solche, die die Konfliktlösung nachvollziehbar machen. Die Mitteilungen befördern die Integration, die nationale Einheit, spornen die Nation zu weiteren großen Taten an und verherrlichen traditionelle Werte. 5 Fazit In diesem Artikel wurden die wichtigsten interkulturellen semantischen und pragmatischen Hauptparallelen des modernen Mediendiskurses unter funktionalem Aspekt herausgearbeitet. Aus der Zahl der allgemeinen Sprachfunktionen kann man die regulatorische/ motivierende Funktion (insbesondere solche ihrer Erscheinungsformen wie z.B. das Verbot und die Inspiration) als eine der wichtigsten Funktionen für den russischen (89% des analysierten Materials) und den deutschen (91% des analysierten Materials) Mediendiskurs nennen. Als Besonderheit der Referenzfunktion der Sprache kann eine ausgeprägte Kreativität der deutschen und der russischen Massenmediensprache gesehen werden, die von der Vereinigung der referenziellen und magischen Funktionen der Sprache im Massenmediendiskurs beider Medienkulturen zeugt. Nach dem Grad der Übereinstimmung von Interessen und Bedürfnissen des Medienadressaten unterscheidet man sechs Aspekte (Head 1986: 95, 332): 1) Information, 2) Bildung, 3) Kultur, 4) Religion, 5) Unterhaltung/ Hedonismus und 6) Werbung. In der heutigen Zeit sieht man eine deutliche Zunahme des Anteils der Informationsprogramme, der Unterhaltungs- und Werbesendungen und der religiösen Programme vor dem Hintergrund eines starken Rückgangs von Bildungs- und Kulturprogrammen. Die Analyse des Sprachmaterials erlaubt es, eine führende Position der regulatorischen Funktion, und zwar der Wirkungsfunktion, zu postulieren. Dabei bildet die informative Funktion einen bestimmten Kontext für die Realisierung der regulatorischen Funktion. Die in den Texten <?page no="284"?> 274 Marina R. Zheltuchina analysierten Daten bestätigen, dass der Mediendiskurs nicht nur auf eine Übermittlung von bestimmten Informationen beschränkt ist, sondern dass er die Zusammenarbeit von Menschen organisiert bzw. steuert und die Adressaten beeinflusst. 6 Literatur Barth, Roland (1994): Izbrannye raboty: Semiotika. Poetika. Мoskva. Bernstein, Basil (1973): Class, Codes and Control. Vol. l: Theoretical Studies Towards a Sociology of Language. St. Albans. Berrendonner, Alain (1982): L'eternel Grammairien: Etude du Discours Normatif. Berne/ Frankfurt am Main. Bosmajian, Haig (1983): The Language of Oppression. New York/ London. Brandes, Stanley (1980): Metaphors of Masculinity: Sex and Status in Andalusian Folklore. Philadelphia. Cassirer, Ernst (1996): Filosofija simvoličeskih form. Antologija kuľturologičeskoj mysli. Мoskva. 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Csaba Földes | Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft, Nordhäuser Str. 63, D-99089 Erfurt/ Deutschland; E-Mail: csaba.foeldes@uni-erfurt.de Prof. Dr. Elin Fredsted | Universität Flensburg, Institut für Dänische Sprache und Literatur und ihre Didaktik, Auf dem Campus 1, D-24943 Flensburg/ Deutschland; E- Mail: fredsted@uni-flensburg.de Mgr. Silvia Gajdošová, PhD. | Univerzita Komenského, Pedagogická fakulta, Katedra nemeckého jazyka a literatúry, Račianska 59, SK-81334 Bratislava/ Slowakei; E-Mail: silvia.gajdosova@gmail.com Prof. Dr. Thomas Johnen | Stockholms Universitet, Romanska och Klassiska Institutionen, SE-10691 Stockholm/ Schweden; E-Mail: thomas.johnen@isp.su.se Prof. Dr. Aleksander Kiklewicz | Uniwersytet Warmińsko-Mazurski w Olsztynie, Wydział Humanistyczny, Instytut Dziennikarstwa i Komunikacij Społecznej, ul. K. Obitza 1, pok. 236, PL-10-775 Olsztyn/ Polen; E-Mail: akiklewicz@gmail.com Prof. Dr. Annikki Koskensalo | University of Turku, Faculty of Education, Department of Teacher Education, Assistentinkatu 5, FIN-20014 Turku/ Finnland; E-Mail: annikki.koskensalo@utu.fi Prof. Dr. Olga Kostrova | Akademie für Sozial- und Geisteswissenschaften zu Samara, Lehrstuhl Deutsch, Maxim-Gorki-Str. 65/ 67, RU-443099 Samara/ Russland; E-Mail: Olga_Kostrova@mail.ru <?page no="288"?> 278 Herausgeber und Beiträger(innen) Prof. Dr. Holger Kuße | Technische Universität Dresden, Institut für Slavistik, Zeunerstr. 1d, D-01062 Dresden/ Deutschland; E-Mail: holger.kusse@tu-dresden.de Ass.Prof. Antoaneta Mihailova, PhD. | Süd-West-Universität „Neofit Rilski“, Lehrstuhl für Germanistik und Romanistik, Ivan-Michaylov-Str. 66, BG-2700 Blagoevgrad/ Bulgarien; E-Mail: amihailovabg@yahoo.de Ass.Prof. Kalina Minkova, PhD. | Süd-West-Universität „Neofit Rilski“, Lehrstuhl für Germanistik und Romanistik, Ivan-Michaylov-Str. 66, BG-2700 Blagoevgrad/ Bulgarien; E-Mail: kalinaminkova@abv.bg Prof. Dr. Alexander Minor | Staatliche Tschernischewski-Universität, Fakultät für Fremdsprachen und Linguodidaktik, Lehrstuhl für Deutsch und Deutschdidaktik, Astrachanskaja Str. 83, RU-410012 Saratow/ Russland; E-Mail: a-minor27@yandex.ru Olha Popovych, M.A. | Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Department Germanistik und Komparatistik, Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft, Bismarckstr. 1 , D-91054 Erlangen/ Deutschland; E-Mail: olha.popovych@ger.phil.uni-erlangen.de Prof. Dr. Ulrike Reeg | Università degli Studi di Bari Aldo Moro, Dipartimento di Lettere lingue arti. Italianistica e culture comparate, Via Garruba 6/ B, I-70121 Bari/ Italien; E-Mail: ulrikemarie.reeg@uniba.it Doc. Dr. PhDr. Karsten Rinas | Palacký-Universität, Philosophische Fakultät, Lehrstuhl für Germanistik, Křížkovského 10, CZ-77180 Olomouc/ Tschechien; E-Mail: K.Rinas@seznam.cz Prof. Dr. Ulrike Schröder | Universidade Federal de Minas Gerais, Faculdade de Letras, Av. Antônio Carlos, 6627, BR-31270-901 Belo Horizonte/ Brasilien; E-Mail: schroederulrike@gmx.com Prof. agg. Ulrike Simon | Università degli Studi di Bari Aldo Moro, Dipartimento di Lettere lingue arti, Italianistica e culture comparate, Via Garruba 6/ B, I-70121 Bari/ Italien; E-Mail: ulrikerosemarie.simon@uniba.it Elena Tarasova, Doktorandin | Akademie für Sozial- und Geisteswissenschaften zu Samara, Lehrstuhl Deutsch, Maxim-Gorki-Str. 65/ 67, RU-443099 Samara/ Russland; E-Mail: elenatarasova@yandex.ru <?page no="289"?> Herausgeber und Beiträger(innen) 279 Doz. Dr. József Tóth | Pannonische Universität Veszprém, Institut für Germanistik und Translationswissenschaft, Füredi u. 2, H-8200 Veszprém/ Ungarn; E-Mail: jozsef.toth@btk.uni-pannon.hu PD Dr. Bärbel Treichel | Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Lehrstuhl für Sprachlehr- und -lernforschung, Nordhäuser Str. 63, D-99089 Erfurt/ Deutschland; E-Mail: baerbel.treichel@uni-erfurt.de Prof. Dr. Marina R. Zheltuchina | Wolgograder Staatliche Sozialwissenschaftlich- Pädagogische Universität, Lehrstuhl für Englische Philologie, Pr. Lenina 27, RU-400131 Wolgograd/ Russland; E-Mail: zzmr@mail.ru <?page no="291"?> B EITRÄGE ZUR I NTERKULTURELLEN G ERMANISTIK (BIG) Hrsg. von Csaba Földes ISSN 2190-3425 Bd. 1: Földes, Csaba (Hrsg.): Deutsch in soziolinguistischer Sicht. Sprachverwendung in Interkulturalitätskontexten. 2010 (BIG-Sammelbände); VIII + 158 S.; ISBN 978-3-8233-6571-6. Bd. 2: Németh, Attila: Dialekt, Sprachmischung und Spracheinstellungen. Am Beispiel deutscher Dialekte in Ungarn. 2010 (BIG-Monographien); VI + 246 S.; ISBN 978-3-8233-6572-3. Bd. 3: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik im Aufbruch. Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode. 2011 (BIG-Sammelbände); VIII + 359 S.; ISBN 978-3-8233-6682-9. Bd. 4: Fáy, Tamás: Sekundäre Formen des Foreigner Talk im Deutschen aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht. 2012 (BIG-Monographien); VIII + 176 S.; ISBN 978-3-8233-6714-7. Bd. 5: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturalität unter dem Blickwinkel von Semantik und Pragmatik. 2014 (BIG-Sammelbände); IX + 279 S.; ISBN 978-3-8233-6905-9. <?page no="292"?>